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Plenarprotokoll 14/14

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

14. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Inhalt:

Benennung von Prof. Richard Schröder als b) Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Mitglied im Kuratorium „Wissenschaftszen- Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter
trum Berlin für Sozialforschung“..................... 803 A und der Fraktion der F.D.P.
Erwartungen an das Treffen des Euro-
Erweiterung der Tagesordnung........................ 803 B päischen Rates in Wien am 11./12. De-
Absetzung des Punktes 9 von der Tagesord- zember 1998 (Drucksache 14/90 (neu)) .... 818 C
nung ................................................................. 803 B c) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
Nachträgliche Ausschußüberweisung .............. 803 B NIS 90/DIE GRÜNEN
Vorschau auf den Europäischen Rat in
Tagesordnungspunkt 3: Wien am11./12. Dezember 1998 und
Ausblick auf die deutsche Präsident-
Vereinbarte Debatte schaft in der ersten Jahreshälfte 1999
50 Jahre Allgemeine Erklärung der (Drucksache 14/181) .................................. 818 C
Menschenrechte
d) Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Präsident Wolfgang Thierse............................. 803 D Festigung und Fortentwicklung der Eu-
ropäischen Union während der deut-
Rudolf Bindig SPD .......................................... 806 A schen Ratspräsidentschaft im 1. Halb-
Hermann Gröhe CDU/CSU ............................. 807 D jahr 1999 (Drucksache 14/159)................. 818 C

Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE e) Antrag der Fraktion der PDS
GRÜNEN......................................................... 810 B Forderungen an die deutsche EU-
Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. ... 811 D 1999 (Drucksache 14/165) ......................... 818 D
Fred Gebhardt PDS.......................................... 813 B f) Antrag der Fraktion der PDS
Zukunft der EU-AKP-Entwicklungszu-
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- sammenarbeit (Drucksache 14/164)......... 818 D
rin BMZ ........................................................... 814 A
Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 819 A
Monika Brudlewsky CDU/CSU ...................... 815 D
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 824 B
Joseph Fischer, Bundesminister AA ................ 817 A
Dr. Peter Struck SPD ....................................... 828 D
Tagesordnungspunkt 4: Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ........................ 831 A
a) Abgabe einer Regierungserklärung des Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 832 C
Bundeskanzlers
Vorschau auf den Europäischen Rat in Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 835 D
Wien am 11./12. Dezember 1998 und Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 836 D
Ausblick auf die deutsche Präsident-
schaft in der ersten Jahreshälfte 1999 .... 818 C Dr. Norbert Wieczorek SPD ............................ 838 D
II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Ilja Seifert PDS.......................................... 840 A b) – Zweite und dritte Beratung des von den
Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE
Horst Seehofer CDU/CSU ............................... 842 B GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten
Karl Hermann Haack (Extertal) SPD............... 844 D Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Stasi-Unterlagen-Ge-
Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzes (Drucksachen 14/92, 14/149)...... 857 A
NEN ................................................................. 845 B
– Zweite und dritte Beratung des von den
Ernst Burgbacher F.D.P. .................................. 846 A Abgeordneten Hartmut Büttner (Schö-
Günter Gloser SPD .......................................... 847 B nebeck), Günter Nooke und der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
Peter Hintze CDU/CSU ................................... 848 C wurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
Rolf Hempelmann SPD ................................... 849 D derung des Stasi-Unterlagen-Geset-
zes (Drucksachen 14/91, 14/149) .......... 857 A
Monika Griefahn SPD ..................................... 851 A
Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Norbert Lammert CDU/CSU (Erklärung GRÜNEN (Erklärung nach § 31 GO).............. 857 B
nach § 31 GO).................................................. 851 D
c) Beschlußempfehlung und Bericht des
Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD (Erklä- Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
rung nach § 31 GO) ......................................... 852 C logie zu der Verordnung der Bundesregie-
Namentliche Abstimmung zu dem Entschlie- rung
ßungsantrag der Fraktionen der SPD und Aufhebbare Vierundvierzigste Verord-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache nung zur Änderung der Außen-
14/182 .............................................................. 853 A wirtschaftsverordnung (Drucksachen
13/11417, 14/69 Nr. 2.1, 14/95)................. 858 A
Ergebnis ........................................................... 853 B
d) Beschlußempfehlung und Bericht des
Namentliche Abstimmung zu dem Entschlie- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung
Drucksache 14/166 .......................................... 853 A durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
Ergebnis ........................................................... 859 B
zur Schaffung eines Ordnungsrahmens
Zusatztagesordnungspunkt 2: für Maßnahmen der Gemeinschaft im
Bereich der Wasserpolitik (Drucksachen
Überweisung im vereinfachten Verfah- 13/7867 Nr. 2.14, 14/155 Nr. 2.1, 14/154). 858 B
ren
e) Beschlußempfehlung des Rechtsausschus-
Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul ses
Krüger, Ulrich Adam und der Fraktion der
CDU/CSU Übersicht 11
Ansiedlung einer Produktionsstätte für über die dem Deutschen Bundestag
den Airbus A 3 XX in Mecklenburg- zugeleiteten Streitsachen vor dem
Vorpommern (Drucksache 14/161) .......... 856 A Bundesverfassungsgericht (Drucksache
14/67) ......................................................... 858 C
Tagesordnungspunkt 11: f) Beschlußempfehlung des Rechtsausschus-
Zweite und dritte Beratung des von den ses
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE Übersicht 12
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines über die dem Deutschen Bundestag
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über zugeleiteten Streitsachen vor dem
die Rechtsverhältnisse der Parlamenta- Bundesverfassungsgericht (Drucksache
rischen Staatssekretäre (Drucksachen 14/68) ......................................................... 858 C
14/30, 14/150) ............................................ 856 B
g) bis l)
Tagesordnungspunkt 13: Beschlußempfehlung des Petitionsaus-
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung schusses
des von der Bundesregierung eingebrach- Sammelübersichten 6 bis 11 zu Peti-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- tionen (Drucksachen 14/129, 14/130,
kommen vom 18. September 1998 zwi- 14/131, 14/132, 14/133, 14/134) .... 858 D, 859 A, C
schen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Europäischen Tagesordnungspunkt 5:
Zentralbank über den Sitz der Europäi-
schen Zentralbank (Drucksachen 14/70, a) – Zweite und dritte Beratung des von den
14/168) ....................................................... 856 D Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 III

eines Gesetzes zu Korrekturen in der Namentliche Abstimmung über den Entwurf


Sozialversicherung und zur Siche- eines Gesetzes zur beschäftigungswirksamen
rung der Arbeitnehmerrechte (Druck- Änderung des Kündigungsschutzgesetzes ....... 899 A
sachen 14/45, 14/151, 14/152)............... 862 A
Ergebnis........................................................... 903 D
– Zweite und dritte Beratung des von den
Namentliche Abstimmung über den Entwurf
Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer,
eines Gesetzes zur Änderung des Versor-
Rainer Brüderle, weiteren Abgeordne-
gungsreformgesetzes 1998 .............................. 899 C
ten und der Fraktion der F.D.P. ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ergebnis........................................................... 906 B
zur beschäftigungswirksamen Ände-
rung des Kündigungsschutzgesetzes Tagesordnungspunkt 6:
(Drucksachen 14/44, 14/151, 14/152).... 862 A Zweite und dritte Beratung des von den
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Solidarität
Gesetzes zur Änderung des Versor- in der gesetzlichen Krankenversicherung
gungsreformgesetzes 1998 (Drucksachen – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz –
14/46, 14/145, 14/146) ............................... 862 B (Drucksachen 14/24, 14/157) ..................... 902 A
Walter Riester, Bundesminister BMA ............. 862 C Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD ............... 902 B

Ina Lenke F.D.P. ........................................ 864 C Dr. Hermann Kues CDU/CSU......................... 909 A

Dirk Niebel F.D.P. .............................. 865 B, 870 A Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN ........................................................ 910 D
Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU.............. 866 B
Dr. Dieter Thomae F.D.P........................... 913 A, 916 D
Walter Hirche F.D.P................................... 866 D
Dr. Ruth Fuchs PDS ........................................ 915 A
Johannes Singhammer CDU/CSU.............. 868 B
Dr. Wolfgang Wodarg SPD............................. 916 C
Klaus Wiesehügel SPD.................................... 869 B
Gudrun Schaich-Walch SPD ........................... 917 B
Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU ............... 869 C Wolfgang Zöller CDU/CSU ............................ 919 C
Gerd Andres SPD............................................. 871 A Dr. Ilja Seifert PDS .................................... 919 D
Ulrike Merten SPD..................................... 871 B Rudolf Dreßler SPD................................... 920 B
Peter Dreßen SPD ...................................... 872 B Horst Seehofer CDU/CSU ......................... 921 A
Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Andrea Fischer, Bundesministerin BMG......... 922 A
GRÜNEN......................................................... 873 B
Wolfgang Zöller CDU/CSU....................... 922 C
Heinz Schemken CDU/CSU ...................... 874 A
Dr. Wolf Bauer CDU/CSU .............................. 925 C
Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P......................... 878 A
Regina Schmidt-Zadel SPD............................. 926 D
Dr. Heidi Knake-Werner PDS ......................... 880 C
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/CSU. 928 C
Ute Kumpf SPD ............................................... 882 B
Dr. Margrit Spielmann SPD ............................ 930 A
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU...... 884 B
Namentliche Abstimmung ............................... 931 B
Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. ............................ 886 D
Ergebnis........................................................... 933 A
Petra Bläss PDS ............................................... 888 B
Tagesordnungspunkt 7:
Klaus Brandner SPD........................................ 888 D
Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
Andreas Storm CDU/CSU ............................... 890 D Deutschland in der Parlamentarischen
Klaus Wiesehügel SPD.................................... 894 C Versammlung des Europarates (zu-
gleich Vertreter in der Versammlung
Adolf Ostertag SPD ......................................... 896 D der Westeuropäischen Union) gemäß
Namentliche Abstimmung über den Entwurf Artikel 1 und 2 des Gesetzes über die
eines Gesetzes zu Korrekturen in der Sozial- Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
versicherung und Sicherung der Arbeitneh- Deutschland zur Parlamentarischen
merrechte ......................................................... 898 D Versammlung des Europarates (Druck-
sachen 14/176, 14/177, 14/178, 14/179,
Ergebnis ........................................................... 899 B 14/180) ....................................................... 931 B
IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Tagesordnungspunkt 8: Tagesordnungspunkt 12:


Zweite und dritte Beratung des von den a) Zweite und dritte Beratung des von den
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr.
DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
wurfs eines Steuerentlastungsgesetzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
1999/2000/2002 (Drucksachen 14/23, zur Anpassung der wohngeldrechtlichen
14/158, 14/167) .......................................... 931 D Regelungen – Wohngeldanpassungsge-
setz – (Drucksachen 14/19, 14/142)........... 957 A
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin
BMF................................................................. 932 A b) Antrag der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/ Wolf, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion
CSU ................................................................. 935 B
der PDS
Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 937 D
Fortführung des Wohnraum-Moder-
Jörg-Otto Spiller SPD ...................................... 938 D nisierungsprogramms der Kreditanstalt
für Wiederaufbau bis zum Jahr 2000
Carl-Ludwig Thiele F.D.P. .............................. 940 A (Drucksache 14/126) .................................. 957 B
Heidemarie Ehlert PDS.................................... 941 A c) Antrag der Abgeordneten Christine
Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried
GRÜNEN ................................................... 941 B Wolf und der Fraktion der PDS
Namentliche Abstimmung ............................... 942 A Verbesserte Förderung der Woh-
nungsmodernisierung im Altbaube-
Ergebnis ........................................................... 943 B stand und bei Wohnhochhäusern nach
dem Investitionszulagengesetz 1999
Zusatztagesordnungspunkt 3:
(Drucksache 14/127) .................................. 957 B
Aktuelle Stunde betr. Haltung der
Christine Ostrowski PDS................................. 957 C
Bundesregierung zur öffentlichen Ver-
unsicherung in der Euro-Region Neiße Dr. Christine Lucyga SPD ......................... 958 C
infolge der Verurteilung von Taxifah-
rern und Haltung der Bundesregierung Nächste Sitzung ............................................... 959 C
zum Vorgehen des Bundesgrenzschut-
Anlage 1
zes in diesem Zusammenhang
Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 960 A
Christine Ostrowski PDS ................................. 942 C
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI. 946 A Anlage 2
Günter Baumann CDU/CSU............................ 946 D Erklärung des Abgeordneten Friedhelm Ost
(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 948 B über den Entschließungsantrag der Fraktion
Dr. Guido Westerwelle F.D.P. ......................... 949 C der F.D.P. auf Drucksache 14/140) ................. 960 B
Barbara Wittig SPD ......................................... 950 B Anlage 3
Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
GRÜNEN......................................................... 951 B Paul K. Friedhoff, Hans-Joachim Otto (Frank-
Petra Pau PDS.................................................. 952 C furt), Jörg van Essen, Walter Hirche, Dirk
Niebel, Hans-Michael Goldmann, Marita
Hans-Peter Kemper SPD ................................. 953 B Sehn, Ulrike Flach, Dr. Dieter Thomae,
Dr. Max Stadler, Sabine Leutheusser-
Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU...................... 954 B
Schnarrenberger, Klaus Haupt, Ernst Burgba-
Otto Schily, Bundesminister BMI.................... 955 B cher, Dr. Klaus Kinkel, Gisela Frick (alle
F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über
Günter Graf (Friesoythe) SPD ......................... 956 C den Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Fe-
Tagesordnungspunkt 10: stigung und Fortentwicklung der Europäi-
schen Union während der deutschen Ratsprä-
Beschlußempfehlung und Bericht des sidentschaft im 1. Halbjahr 1999 (Drucksache
Rechtsausschusses zu der Verordnung der 14/159) (Tagesordnungspunkt 4 d), sowie
Bundesregierung über den Antrag der Fraktionen SPD und
Verordnung zur Verlängerung der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorschau auf
Frist in § 27 des Investitionsvorrangge- den Europäischen Rat in Wien am 11./12.
setzes (Drucksachen 14/50, 14/69 Nr. 2.2, Dezember 1998 und Ausblick auf die deut-
14/94) ......................................................... 956 D sche Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 V

1999 (Drucksache 14/181) (Tagesordnungs- Hans-Jochen Hacker SPD ............................... 962 C


punkt 4 c) ......................................................... 960 C
Andrea Voßhoff CDU/CSU.............................. 963 D
Anlage 4 Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten GRÜNEN ......................................................... 965 A
Annette Faße (SPD) zur Abstimmung über Gerhard Jüttemann PDS ................................. 965 C
die Beschlußempfehlung des Ausschusses für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Jürgen Türk F.D.P........................................... 966 A
zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates Anlage 8
zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Zu Protokoll gegebene Reden zum
Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der
Wasserpolitik (Tagesordnungspunkt 13 d) ...... 960 D a – Entwurf eines Gesetzes zur Anpas-
sung der wohngeldrechtlichen Regelungen
Anlage 5 – Wohngeldanpassungsgesetz – ...................... 966 C
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten b – Antrag der Abgeordneten Christine
Karl-Josef Laumann, Rainer Eppelmann, Ing- Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried
rid Fischbach, Dr. Rita Süssmuth, Eva-Maria Wolf, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion
Kors, Cajus Caesar, Renate Diemers, Dr.-Ing. der PDS: Fortführung des Wohnraum-
Rainer Jork, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Modernisierungsprogramms der Kreditanstalt
Heinz Wiese (Ehingen), Franz Romer, Peter für Wiederaufbau bis zum Jahr 2000............... 966 C
Weiß (Emmendingen), Dr. Maria Böhmer, c – Antrag der Abgeordneten Christine
Walter Link (Diepholz), Heinz Schemken, Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf
Ulf Fink (alle CDU/CSU) zur namentlichen und der Fraktion der PDS: Verbesserte Förde-
Abstimmung über den von den Fraktionen rung der Wohnungsmodernisierung im Alt-
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- baubestand und bei Wohnhochhäusern nach
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Kor- dem Investitionszulagengesetz 1999 (Tages-
rekturen in der Sozialversicherung und zur ordnungspunkt 12)........................................... 966 C
Sicherung der Arbeitnehmerrechte (Tages-
ordnungspunkt 5 a) .......................................... 961 B Dr. Christine Lucyga SPD............................... 966 C
Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU .... 967 C
Anlage 6
Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/
Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung
DIE GRÜNEN.................................................. 968 A
über den von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. ................... 969 A
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der So-
lidarität in der gesetzlichen Krankenversiche- Gert Willner CDU/CSU................................... 969 D
rung – GKV-Solidaritätsgesetz (Tagesord- Wolfgang Spanier SPD.................................... 970 D
nungspunkt 6)
Hans-Ulrich Klose SPD................................... 961 C Anlage 9
Monika Heubaum SPD .................................... 962 B Amtliche Mitteilung ........................................ 972 A

Anlage 7 Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden zu der Be- Antwort des Parl Staatssekretärs Dr. Eckhart
schlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Pick auf die Frage des Abgeordneten Dr.
der Verordnung der Bundesregierung zur Wolfgang Götzer (CDU/CSU) (Drucksache
Verlängerung der Frist in § 27 des Investiti- 14/143, Frage 54) (Plenarprotokoll 14/13,
onsvorranggesetzes (Tagesordnungspunkt 10) Seite 797 A) ..................................................... 972 A
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 803

(A) (C)

14. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, mei- Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur
Mitberatung überwiesen werden.
ne Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr.
Zunächst möchte ich einige Mitteilungen machen. Edzard Schmidt-Jortzig, Hildebrecht Braun (Augsburg), wei-
Die Fraktion der SPD hat als Nachfolger für den ver- teren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. zum Zuwan-
storbenen früheren Kollegen Dr. Gerhard Jahn Herrn derungsbegrenzungsgesetz (ZuwBegrG) – Drucksache
14/48 –
Professor Richard Schröder als Mitglied im Kuratori-
um „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ überwiesen:
Innenausschuß (federführend)
benannt. Ich gehe davon aus, daß Sie damit einverstan- Rechtsausschuß
den sind. Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste Haushaltsausschuß
vorliegenden Punkte zu erweitern: Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
(B) ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (D)
Pflicht zur Vorlage eines Bundeshaushalts 1999 in den
verfassungsrechtlichen Fristen angesichts der wider-
sprüchlichen Aussagen zur Finanz- und Haushaltspolitik Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
in der Bundesregierung
(Hat in der 13. Sitzung bereits stattgefunden) Vereinbarte Debatte
50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
ZP2 Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Krüger, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Ulrich Adam und der Fraktion der CDU/CSU: Ansiedlung Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre auch
einer Produktionsstätte für den Airbus A 3 XX in Meck-
lenburg-Vorpommern – Drucksache 14/161 – hierzu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal- Es ist vereinbart, daß ich vor Beginn der Aussprache
tung der Bundesregierung zur öffentlichen Verunsiche- im Namen des ganzen Hauses eine Erklärung abgebe.
rung in der Euro-Region Neiße infolge der Verurteilung
von Taxifahrern und Haltung der Bundesregierung zum Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heuti-
Vorgehen des Bundesgrenzschutzes in diesem Zusam-
menhang ge Tag der Menschenrechte ist zugleich der 50. Jahres-
tag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Darüber hinaus soll von der Frist für den Beginn der – also ein doppelter Anlaß, über die historische Bedeu-
Beratung, soweit dies bei einzelnen Tagesordnungs- tung dieser Erklärung zu sprechen und Bilanz zu ziehen.
punkten erforderlich ist, abgewichen werden.
Des weiteren ist vereinbart worden, den Tagesord- Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte legte
nungspunkt 9 – es handelt sich um die Überlassung der vor 50 Jahren die damals 56 Staaten der Generalver-
Akten der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeri- sammlung der Vereinten Nationen auf die Einhaltung
ums für Staatssicherheit – abzusetzen und den Tages- der Menschenrechte fest. Damit war es endlich gelun-
ordnungspunkt 11 – Änderung des Gesetzes über die gen, eine Einigung mit weltweitem Geltungsanspruch zu
Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretä- erzielen. Das war, mit den Worten von Norberto Bobbio
re – ohne Debatte aufzurufen. – ich zitiere –,

Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus- ... etwas völlig Neues in der Geschichte der
schußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste Menschheit, denn hier wurde zum ersten Mal ein
aufmerksam: System von grundlegenden Prinzipien des mensch-
Der in der 11. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-
lichen Zusammenlebens in freier Entscheidung an-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem genommen, explizit von der Mehrheit der auf der
804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Präsident Wolfgang Thierse

(A) Erde lebenden Menschen vertreten durch ihre je- Frauen. Sie finden zumeist im privaten, persönlichen (C)
weiligen Regierungen ... Umfeld statt; sie geschehen subtil, aber sind nicht min-
der demütigend. Anklagend, aber eben oft auch hilflos
Die großartige Idee der Menschenrechte wurde end- steht die Weltgemeinschaft vor diesen Vergehen und
lich berücksichtigt und artikuliert. Denn sie spricht das- Verbrechen. Schwerwiegende Konflikte und Widersprü-
jenige des Menschen an, das ihn als humanes Wesen che werden dabei deutlich.
ausmacht, das ihn zum Bewußtsein seiner Würde, seiner
Einzigartigkeit, seiner Freiheit und seiner Gleichheit mit Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
allen anderen Menschen gelangen läßt. Die Allgemeine hat ein philosophisch begründetes und abgeleitetes Ideal
Erklärung der Menschenrechte war nicht nur ein Mei- den Rang einer Rechtsnorm erhalten, legitimiert aus der
lenstein in der Entwicklung der Menschenrechtsidee, Übereinkunft der internationalen Staatengemeinschaft.
sondern sie war und ist Fundament für viele darauffol- Die Umsetzung in das positive Recht der nationalen
gende Vereinbarungen, wie den Internationalen Pakt Staaten und in ihre unterschiedlichen Kulturen sowie die
über bürgerliche und politische Rechte – den Bürger- Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte er-
rechtspakt – und über wirtschaftliche, soziale und kultu- weisen sich jedoch als schwierig. Hinzu kommt, daß die
relle Rechte – den Sozialpakt – oder die Wiener Welt- Menschenrechte selbst keine homogene Einheit bilden.
menschenrechtskonferenz im Jahre 1993. Immer wieder kollidieren die einzelnen Schutzbereiche,
wenn es um die Auslegung von Menschenrechten geht.
Sie war und ist Motor für viele, die trotz widriger Wir haben eine Balance zu finden, die im Leben gerecht
Umstände und Androhung von Gewalt weltweit den ist und Bestand hat.
tagtäglichen Kampf für die Verwirklichung dieser ele-
mentaren Rechte führen. Ob Andrej Sacharow oder Der Deutsche Bundestag hat sich oftmals selbst vor
Mutter Teresa, ob die Mütter auf der Plaza de Mayo in solchen Zielkonflikten gesehen und diese Herausforde-
Buenos Aires, die das Verschwinden ihrer Angehörigen rungen angenommen. Ich erinnere hier nur an die De-
anklagen, ob die Soldatenmütter im Tschetschenien- batten über das Asylrecht und über die Unverletzlich-
Krieg oder die Streetworker in Brandenburg in ihrem keit der Wohnung. In beiden wie in vielen anderen
Einsatz gegen rechtsextremistische Gruppen – sie alle Fällen rang dieses Hohe Haus um eben jene Balance im
stehen für ein mutiges und erschütterliches Engagement Konflikt zwischen verschiedenen, gleichgewichtigen
im Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte. Menschenrechten und den sich daraus ergebenden staat-
lichen Aufgaben.
(Beifall im ganzen Hause)
Die Gleichwertigkeit der Menschenrechte muß in die-
Menschenrechte sind zum Gradmesser des Fort- sem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich betont
schritts und des Zivilen in Politik und Gesellschaft ge- werden. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe in
(B) worden. Bei der Überwindung des kommunistischen Sy- einem Staat gelebt, der jahrzehntelang kollektive und (D)
stems in Mittel- und Osteuropa 1989/90 spielte die Idee individuelle, vor allem aber soziale und politische Men-
der Menschenrechte, die Einforderung der elementaren schenrechte gegeneinander auszuspielen trachtete. Nicht
Bürger- und Freiheitsrechte eine entscheidende Rolle – zuletzt im Deutschen Bundestag ist die Unterdrückung
für die Charta 77, die Helsinki-Gruppen, für Solidarnosc elementarer Menschenrechte in der DDR immer wieder
und die Initiative für Frieden und Menschenrechte wie kritisiert und zurückgewiesen worden. Das war gut und
auch für die anderen Oppositionsgruppen in der DDR. richtig so. Es war und bleibt eine Pflicht, die Menschen-
Dennoch: Diesen unbestrittenen Erfolgen stehen rechte als unteilbar zu begreifen und sie so auch wirk-
schwere Rückschläge und immer wieder auftauchende sam werden zu lassen.
Widersprüche entgegen. Seit der Erklärung der Men- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem
schenrechte nehmen die Menschenrechtsverletzungen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.
nicht ab, nein, sie nehmen zu. Gerade heute früh war die sowie bei Abgeordneten der PDS)
Nachricht von der Ermordung des iranischen Schrift-
stellers Mohari zu hören. Das ist nur ein Beispiel. Die Verpflichtung, Menschenrechte einzuhalten, be-
deutet auch, diejenigen zu sanktionieren, die sie verlet-
Willkür und Unterdrückung, Folter, Terror und Mas- zen. Deshalb treffen die britischen Entscheidungen über
senvergewaltigungen sind nach wie vor in den verschie- den Ex-Diktator Pinochet auf so große, ja begeisterte
densten Ländern der Welt an der Tagesordnung. Oppo- Zustimmung. Sie sind ein wichtiger und, wie ich hoffe,
sitionelle und Minderheiten werden gewaltsam unter- folgenreicher Vorgang.
drückt oder manipuliert. Meinungsfreiheit, Versamm-
lungsfreiheit und Demonstrationsrecht sind in vielen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Regionen dieser Welt fragile, ja oft nur scheinbare GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei
Rechte, die entweder nur auf dem Papier stehen oder Abgeordneten der CDU/CSU)
nicht von dauerhaftem Bestand sind. Politische oder re-
Die Interventionen der UNO und die Einrichtung
ligiöse Gründe führen zu Verfolgung und Ausgrenzung.
eines internationalen Gerichtshofes zur Aburteilung
Existenzielle Nöte, kriegerische Auseinandersetzungen,
von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind große
Vertreibung aus der Heimat – all dies gehört zum Alltag
Erfolge der Menschenrechtspolitik der 90er Jahre. Aber
unserer Welt.
auch hier tun sich Widersprüche auf, die noch nicht all-
Es gibt aber auch die weniger spektakulären Men- gemein oder endgültig gelöst sind. Wo sind die Kriteri-
schenrechtsverletzungen wie die Unterdrückung der en? Wo liegen die Grenzen eines im internationalen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 805
Präsident Wolfgang Thierse

(A) Recht verankerten humanitären Eingreifens? Wer be- mir nachdrücklich vor Augen geführt, daß wir in unse- (C)
stimmt die Balance zwischen nationalem Selbstbestim- ren Anstrengungen für eine aktive, internationale Men-
mungsrecht und individuellen Menschenrechten? Ist der schenrechtspolitik nicht nachlassen dürfen. Ich hätte bei
Kollektivanspruch einer Nation höher zu bewerten als diesem Gespräch gerne auch den chinesischen Dissi-
der universal gültige Schutz jedes einzelnen vor staatli- denten Wei Jingsheng empfangen. Leider konnte sein
cher und kollektiver Willkür? Flugzeug in München nicht starten. Ich möchte aber an
dieser Stelle nochmals betonen, daß derartige Treffen
Bei allen Rückschlägen und Widersprüchen: Als De- ungeachtet des Protestes der chinesischen Diplomatie
mokraten stehen wir in der Verantwortung, eine aktive eine Selbstverständlichkeit sein sollten.
Menschenrechtspolitik zu gestalten. Wir sind verpflich-
tet, auf den Ruf nach Freiheit und Anerkennung dieser (Beifall im ganzen Hause)
menschlichen Rechte zu antworten. Es gilt, die mit den
Zielkonflikten entstehenden Spannungen auszuhalten Sie werden verstehen, daß eine solche Bemerkung gera-
und die Frage der Menschenrechte immer im Auge zu de für mich als ehemaligen DDR-Bürger von einer be-
behalten. Wie dies letztendlich geschieht, ob durch lau- sonderen Bedeutung ist.
ten Protest oder durch stille Diplomatie, hängt vom Ein- Die Zeiten der sogenannten „Nichteinmischung in die
zelfall ab. inneren Angelegenheiten“ sind vorbei und müssen vor-
Zu einer aktiven Menschenrechtspolitik gehört auch, bei sein.
aufmerksam und sensibel für neue Entwicklungen und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
deren Auswirkungen auf die Menschenrechte zu sein. GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Menschenrechte werden nie abschließend geregelt wer-
den können. Sie sind eine lebendige Materie. Sie sind Menschenrechte dürfen nicht an Grenzen, auch nicht an
letztendlich das Resultat von ausgetragenen Konflikten diplomatischen Grenzen, Halt machen. Es sollte zu den
und gefundenem Konsens, von konstruktiven Diskus- selbstverständlichen Gepflogenheiten gehören, daß Ab-
sionen, von Fortschritten und Rückschlägen – eben von geordnete dieses Hauses, die in andere Länder reisen,
menschlichen Erfahrungen. dort auch mit Vertreterinnen und Vertretern von Men-
schenrechtsorganisationen, mit Dissidenten und Ver-
Neben den alten individuellen, sozialen und politi- folgten sprechen. Dies ist eine Selbstverständlichkeit.
schen Menschenrechten, die immer noch nicht überall
auf der Welt verwirklicht sind, kommen zum Beispiel (Beifall im ganzen Hause)
im Zuge der Einführung innovativer Techniken auf die
Wir sollten uns auch heute erneut an die bewegenden
Menschenrechtspolitik neue Herausforderungen zu. Ob
Bilder von 1989 aus dem Garten der Deutschen Bot-
durch die moderne Datentechnik, durch neue Medien,
(B) durch die Auswirkungen der Gentechnik oder der fort- schaft in Prag erinnern. Ich war gerade dort. Ich würde (D)
mich freuen, wenn es zu einem Markenzeichen für deut-
geschrittenen Transplantationstechnik: Vieles wird sich
sche Politik würde, daß man ihr im Ausland nachsagt,
verändern, aber die Würde des Menschen muß unantast-
daß ihre Botschaften offene, gesprächsfähige Orte auch
bar bleiben.
für diejenigen sind, die in ihren Ländern mit Menschen-
(Beifall im ganzen Hause) rechtsverletzungen zu kämpfen haben.
Der Deutsche Bundestag hat der besonderen Bedeu- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
tung der Menschenrechtspolitik durch die Einsetzung GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord-
des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre neten der CDU/CSU und der PDS)
Hilfe Rechnung getragen. Das ist ein wichtiger Schritt.
Im Namen aller Parlamentarier dieses Hauses danke
Aktive Menschenrechtspolitik kann vor allem nicht ich Amnesty International und anderen Organisationen
auf die Arbeit der Nicht-Regierungsorganisationen ver- in diesem Bereich für das unermüdliche und vor allem
zichten. Beispielhaft für alle anderen nenne ich an dieser auch unerschrockene Engagement; denn die Streiter für
Stelle Amnesty International. Menschenrechte werden zunehmend selbst Opfer von
Menschenrechtsverletzungen. Einzelne Mitglieder wer-
(Beifall im ganzen Hause)
den inhaftiert, gefoltert oder getötet, Büros vor Ort wer-
Die Nicht-Regierungsorganisationen waren schon vor den geschlossen, oder die Arbeit wird systematisch un-
der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Men- terbunden. Deshalb muß heute internationale Menschen-
schenrechte aktiv. Immer dann, wenn Verstöße gegen rechtspolitik immer auch und besonders Schutz der ge-
die Menschenrechte drohen oder geschehen sind, erhe- fährdeten Menschenrechtler sein.
ben sie ihre Stimme, klagen an und leisten Hilfe. Sie ar-
Am heutigen Tage debattiert auch die Vollversamm-
beiten gleichermaßen im Stillen, vor Ort, kooperieren
lung der Vereinten Nationen das Thema der Menschen-
mit staatlichen Institutionen und sorgen für humane Le-
rechte. Amnesty International und andere Organisatio-
bensbedingungen der Ärmsten und Schwächsten.
nen haben dazu erneut eine Erklärung vorgelegt. Ich
Vor wenigen Tagen habe ich im Namen des Deut- wünsche mir, nein ich bin sicher, daß von unserer heuti-
schen Bundestages eine Gruppe der Preisträger des Am- gen Debatte das Signal ausgeht, daß die Parteien des
nesty-International-Menschenrechtspreises empfangen. Deutschen Bundestages sich trotz all ihrer sonstigen
Die Schilderung der bedrohlichen Situation in ihren je- politischen Differenzen einig sind in ihrem Eintreten für
weiligen Ländern auf verschiedenen Kontinenten hat die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte.
806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Präsident Wolfgang Thierse

(A) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Beim Einsatz für die Menschenrechte in der Außen- (C)
politik geht es neben der Frage, wie die politisch Füh-
(Beifall im ganzen Hause) renden eines Landes bzw. die Machthaber in einem Staat
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege durch Einflußnahme von außen – sei es über bilaterale
Rudolf Bindig, SPD-Fraktion. Maßnahmen, sei es über multilaterale Aktivitäten – dazu
gebracht werden können, die Menschenrechte zu be-
achten, darum, wie innerstaatliche Prozesse unterstützt
Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Verehrte und sogar angeregt werden können, welche die Aner-
Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident hat für den kennung und Respektierung der Menschenrechte im je-
ganzen Deutschen Bundestag die von der Generalver- weiligen Land fördern.
sammlung der Vereinten Nationen proklamierte Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte gewürdigt. Wahr- Neben dem von außen kommenden interventionisti-
lich, sie ist ein Basisdokument der Menschheit. Zusam- schen Ansatz ist ein Ansatz, der auf die innere Ent-
men mit den sie konkretisierenden Menschenrechtsab- wicklung in den Staaten abstellt, von ganz besonderer
kommen und -pakten stellt sie das globale Ethos der Bedeutung. Gerade in Problemländern sollten deshalb
Menschheit dar. die Menschenrechtsverteidiger, die nichtstaatlichen
Menschenrechtsorganisationen, noch stärker beachtet,
Die Erklärung ist zugleich Meßlatte für den Grad der unterstützt und mit allen Möglichkeiten beschützt wer-
Durchsetzung der Menschenrechte und Programm für den.
die aktive Menschenrechtspolitik. Oft heißt es, Men-
schenrechte müßten gewährt werden. Da klingt so etwas (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
wie Großzügigkeit mit, als müßten die Menschenrechte 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
den Menschen erst zugestanden werden. In Wirklichkeit der CDU/CSU und der PDS)
beschreibt die Allgemeine Erklärung der Menschen- Diese Vorkämpfer für die Menschenrechte sind es, de-
rechte die dem Menschen innewohnenden Rechte. Sie ren Menschenrechte als erste verletzt werden, die an
müssen anerkannt und respektiert und für ihn durchge- Leib, Leben und Freiheit bedroht werden. Die deutsche
setzt und nicht gewährt werden. Außenpolitik sollte sich künftig noch stärker darum be-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mühen, diese Menschen und Einrichtungen zu unterstüt-
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- zen.
neten der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Grundlage für einen besseren Schutz der Men-
Sie sind ein Handlungsauftrag für die Staaten, die Ge- schenrechtsverteidiger bietet die UN-Erklärung, welche
sellschaften und die internationale Gemeinschaft. heute von den Vereinten Nationen angenommen werden
(B) soll. Diese Erklärung zum Schutz von Menschen- (D)
Ein Blick auf die brutale Realität zeigt, daß zahlrei- rechtsverteidigern kann für die Praxis der Durchset-
che Staaten diesem Auftrag nicht gerecht werden. Viele zung der Menschenrechte eine ähnlich wichtige Bedeu-
Menschen müssen in Angst und Not leben; ihre Men- tung bekommen wie die vor 50 Jahren verkündete All-
schenrechte werden aufs schwerste verletzt. Die UN- gemeine Erklärung der Menschenrechte für die Definiti-
Menschenrechtskommissarin Mary Robinson hat vor on von Menschenrechten.
zwei Tagen in Paris von der „bitteren Wahrheit“ gespro-
chen, daß fast jeder der 1948 beschlossenen 30 Artikel Die heutige Erklärung stellt nämlich eine wertvolle
seither fast systematisch verletzt worden sei. Ergänzung dar, indem sie das Recht, für die Umsetzung
der Menschenrechte und Grundfreiheiten einzutreten,
Aktuelle operative Menschenrechtspolitik findet selbst zum Menschenrecht erklärt. Jeder Mensch soll das
eine große Zahl von Problemen und Ansatzpunkten: der Recht haben, sich frei über Wissen, andere Standpunkte
Kampf gegen Folter, politische Verfolgung und Ver- und Ansichten, über alle Menschenrechte und Grund-
schwindenlassen, Bemühungen um die Abschaffung der freiheiten zu informieren und diese Erkenntnisse frei zu
Todesstrafe, Kampf gegen Zwangsarbeit und Kinderar- veröffentlichen und zu verbreiten. Menschen sollen sich
beit, Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, zum Zweck der Beförderung und des Schutzes der Men-
Schutz von Frauen vor Genitalverstümmelung. Schließ- schenrechte und Grundfreiheiten treffen und friedlich
lich gehören der Ausbau des nationalen und internatio- versammeln können und nichtstaatliche Organisationen,
nalen Menschenrechtsinstrumentariums genauso dazu Verbindungen oder Gruppen gründen oder ihnen beitre-
wie stärkere Bemühungen um Präventivmaßnahmen ten können oder sogar das Recht erhalten, dies, wenn es
zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Zu vielen ihnen nicht gewährt wird, mit Rechtsmitteln durchzuset-
dieser Themen haben wir hier im Deutschen Bundestag zen. Den Staaten soll auferlegt werden, in „oberster
Initiativen ergriffen, und wir werden weiter daran ar- Verantwortung und Pflicht“ die Menschenrechte zu
beiten. schützen, zu fördern und umzusetzen.
Da nicht in jeder Rede zum Tag der Menschenrechte Zwar handelt es sich hier wiederum nur um ein Pro-
das ganze Spektrum unserer menschenrechtlichen Akti- grammdokument, das als Erklärung gestaltet worden ist,
vitäten und Bemühungen dargestellt werden kann, also nicht durch Ratifizierung zu verbindlichem Kon-
möchte ich aus Anlaß dieser besonderen Debatte zwei ventionsrecht werden soll. Aber in dieser Form kann
Problembereiche der Menschenrechtspolitik besonders auch eine Stärke liegen, die darin besteht, daß sie eben
herausstellen, eines aus der Außenpolitik und eines aus nicht langer Ratifizierungsverfahren bedarf, sondern
der Innenpolitik. umgehend zum Maßstab dafür werden kann, wie Men-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 807
Rudolf Bindig

(A) schenrechtsaktivisten zu schützen sind und in welcher menschliche und unwürdige Behandlung, egal von wem (C)
Form Staaten die Durchsetzung der Menschenrechte zu sie ausgeht.
organisieren haben.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Deshalb stellt diese neue Erklärung eine sehr wichti- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord-
ge Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Men- neten der F.D.P.)
schenrechte dar. Vielleicht kann sie sich weltweit zu Während auf der gesellschaftlichen Ebene durchaus
dem entwickeln, was der Korb III der KSZE- über dieses Problem diskutiert wird, ist es auf der poli-
Vereinbarung über die menschliche Dimension für die tisch-parlamentarischen Ebene fast zu einem Tabu ge-
Staaten Mittel- und Osteuropas gewesen ist. – Dies zu worden, darüber zu sprechen. Wann, wenn nicht heute,
dem außenpolitischen Problemkreis. am Tag der Menschenrechte, besteht Anlaß, dieses „Ei-
Mit Blick nach innen muß man bei der Diskussion sen“ anzufassen und hier, im Deutschen Bundestag, dar-
über das Thema Menschenrechte in Deutschland fest- über zu reden? Für die menschenrechtliche Diskussion
stellen, daß auf der politisch-parlamentarischen Ebene darf nicht gelten, daß dieses Problem „zu heiß“ ist, gera-
bisher noch wenig über Menschenrechtsfragen diskutiert de weil es für etliche Betroffene bereits „heiß“ gewor-
wird, die im Zusammenhang mit dem Flüchtlings- und den ist. Alle Fraktionen in diesem Hause müssen das
Asylrecht stehen. Diese Rechtsgebiete werden in der Thema um der Menschenrechte willen endlich aufgrei-
politischen Diskussion in Deutschland vielfach nicht als fen und nach Lösungen suchen. Es geht hier keinesfalls
integraler Bestandteil des Menschenrechtsschutzes und darum, auf diesem Wege ein neues Tor der Zuwande-
damit einer umfassenden Menschenrechtspolitik behan- rung zu öffnen, sondern es geht darum, einzusehen, daß
delt, und dies, obwohl es gerade hier ein Problem gibt, es hier ein Problem gibt, das noch einer Regelung be-
über welches unter menschenrechtlichen Gesichtspunk- darf. Hier ist eine Schieflage entstanden, die in eine Ba-
ten politisch diskutiert werden muß. lance zwischen menschenrechtlich Gebotenem und in-
nenpolitisch Notwendigem gebracht werden muß.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, dem BÜND- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Durch innenpolitische Regelungen und durch die PDS)
Rechtsprechung zum Asyl- und Flüchtlingsrecht sind Die Art, wie wir dieses Thema künftig behandeln, wird
Kategorisierungen und Interpretationen bzw. herrschen- zeigen, ob wir in schwierigen Situationen nur Men-
de Lehren darüber entstanden, von wem und in welcher schenrechtsrhetorik betreiben oder ob wir zu einer ver-
Form und Intensität Verfolgung vorliegen kann und tretbaren Menschenrechtspraxis kommen.
(B) muß, um daraus asyl- und ausländerrechtliche Rechts- (D)
folgen abzuleiten. So wird bei der staatlichen Verfol- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
gung zwischen unmittelbarer staatlicher, mittelbarer (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
staatlicher und quasistaatlicher Verfolgung unterschie- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord-
den. Diese lösen bestimmte Rechtsfolgen des Asyl- und neten der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ausländerrechts aus.
Es bleiben dann aber noch die Bereiche von partieller
oder totaler Anarchie in einem Gebiet, das heißt von Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun
Ländern, in denen es keine staatlichen Strukturen gibt, Kollege Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.
und das Problem von nichtstaatlicher Verfolgung und
Bedrohung oder Situationen, in denen Folter und Miß-
handlung so zahlreich und – man mag es kaum ausspre- Hermann Gröhe (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver-
chen – gewöhnlich geworden sind, daß sie kein indivi- ehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! 50 Jahre Allge-
duelles Risiko mehr darstellen. meine Erklärung der Menschenrechte – viel ist in diesen
Tagen über die Frage veröffentlicht worden, ob der Ge-
Diese Begriffs- und Rechtskonstruktionen mögen burtstag dieser Erklärung ein Grund zum Feiern sei.
sich innenpolitisch so entwickelt haben und/oder von ei- Kaum ein Dokument wird zwar so häufig zitiert, aber
nigen bewußt so gewollt worden sein; sie mögen recht- gleichzeitig auch immer wieder in so dramatischer Wei-
lich so abgeleitet worden sein oder sogar zur herrschen- se mißachtet. Dennoch wird ganz überwiegend die Fra-
den Linie geworden sein. Das ändert aber nichts daran, ge, ob denn dieser Geburtstag einen Anlaß zum Feiern
daß sie, menschenrechtlich gesehen, in Einzelfällen zu biete, mit „Ja, aber“ beantwortet. Ich denke, das ge-
unakzeptablen Ergebnissen führen können. schieht zu Recht. Dies gilt allerdings nur, wenn wir nicht
zulassen, daß die hehren Worte am heutigen Tage die
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Hilfeschreie der Unterdrückten, der Gefolterten und
GRÜNEN und der PDS) Ausgebeuteten übertönen. Wir müssen vielmehr die
Lautsprecher dieser Menschen sein, uns zu ihrem An-
Dem betroffenen Menschen – und er ist derjenige, für walt machen.
den die Menschenrechte formuliert worden sind – ist es
in seiner Not egal, wer der Verursacher seiner Peinigung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ist. Folter ist Folter, Verfolgung ist Verfolgung, un- ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE
menschliche und unwürdige Behandlung bleibt un- GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Hermann Gröhe

(A) Deshalb zu Beginn eine ernüchternde Bilanz. Der beginnen. Diese Universalität macht die Allgemeine Er- (C)
Jahresbericht von Amnesty International enthält In- klärung der Menschenrechte zum Ausgangspunkt des
formationen über 140 Staaten, in denen die Menschen- Menschenrechtskatalogs, wenn bereits im ersten Satz
rechte verletzt werden. In 55 Ländern gibt es staatlich von der „Anerkennung der allen Mitgliedern der
angeordnete Morde; in 87 Ländern befinden sich politi- menschlichen Familie innewohnenden Würde“ die Rede
sche Gefangene in Gefängnissen; Folter, Mißhandlun- ist. Menschenrechte sind Geburtsrechte, die allen politi-
gen, Vergewaltigungen in Gefängnissen und Polizeista- schen Ordnungen vorgegeben sind.
tionen gibt es in 117 Staaten dieser Erde; in ungefähr 50
(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)
Staaten sterben Menschen infolge systematischer Folter;
hunderttausende Menschen erleiden ohne Anklage und Ihre Achtung darf auch nicht unter Hinweis auf kul-
Verfahren Haft, zumeist in Arbeits- und Umerziehungs- turelle Besonderheiten relativiert werden. Zu Recht
lagern. Das Verschwindenlassen mißliebiger Personen, heißt es daher im Schlußdokument der Wiener Men-
auf das die Mütter der Verschwundenen in Buenos Aires schenrechtskonferenz von 1993:
die Welt erstmals aufmerksam machten, hält in einer
Reihe von Ländern an. Hunderttausende Schicksale ver- Zwar ist die Bedeutung nationaler und regionaler
schwundener Menschen sind bis heute unaufgeklärt. Besonderheiten und unterschiedlicher historischer,
Noch immer werden in etwa 40 Ländern der Welt – dar- kultureller und religiöser Voraussetzungen im Auge
unter in den USA, der Volksrepublik China, Nigeria und zu behalten, doch ist es die Pflicht der Staaten, oh-
dem Iran – Menschen zum Tode verurteilt und hinge- ne Rücksicht auf ihre jeweilige politische, wirt-
richtet. Dabei will ich nicht unerwähnt lassen, daß es in- schaftliche und kulturelle Ordnung alle Menschen-
zwischen die Mehrheit der Staaten ist, in der die Todes- rechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu
strafe abgeschafft wurde oder seit vielen Jahren nicht schützen.
mehr vollstreckt wird. Sicherlich zeigen gerade die in ihrer Schlichtheit und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Klarheit eindrucksvollen Formulierungen der Allgemei-
nen Erklärung der Menschenrechte ihre Verwurzelung
Ich erwähne dies gerade deshalb, weil der Einsatz in westlichen Traditionen. Längst haben wir jedoch ge-
gegen die Todesstrafe seit Jahren ein Schwerpunkt der lernt, daß es menschenrechtsfreundliche und menschen-
bundesrepublikanischen Menschenrechtspolitik ist. Ich rechtsfeindliche Traditionslinien in allen Kulturkreisen
erinnere nur an das von Deutschland initiierte zweite und Religionen gibt.
Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bür-
gerliche und politische Rechte zur Abschaffung der To- (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
desstrafe. NEN]: Sehr gut!)
(B) Trotz der ernüchternden Bilanz gilt heute aber auch: Ich nenne nur die Geltung der goldenen Regel „Was du (D)
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat Mil- nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern
lionen Menschen in aller Welt inspiriert, sich für die zu“ in praktisch allen Kulturkreisen.
Menschenrechte einzusetzen, sich mit den Opfern von Die menschenrechtsfreundlichen Traditionslinien in
Menschenrechtsverletzungen zu solidarisieren, sich für allen Kulturen haben ihre Wurzeln in den Leistungen
die Prävention von Menschenrechtsverletzungen und für der menschlichen Vernunft. Vor allem aber sind es die
die Schaffung von Strukturen zum Schutz der Men- konkret erlittenen Unrechtserfahrungen, die Menschen
schenrechte einzusetzen. in allen Kulturkreisen zur Berufung auf die unveräußer-
lichen Menschenrechte führten. So hat es Schillers Wil-
Der mit der Allgemeinen Erklärung der Menschen-
helm Tell formuliert:
rechte bewirkte Stellenwert der Menschenrechte in der
Weltöffentlichkeit trug wesentlich dazu bei, daß sich die Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
um ihr Ansehen so besorgten Diktatoren dieser Erde Wenn unerträglich wird die Last – greift er
immer wieder unter Rechtfertigungsdruck sehen, ein Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Effekt, der sich im Zeitalter globaler Nachrichtenüber- Und holt herunter seine ewgen Rechte,
tragung im Internet oder im Fernsehen weiter verstärkt Die droben hangen unveräußerlich ...
und dessen Wirkung wir in der umfangreichen Propa-
gandatätigkeit ihrer Botschaften in vielen Hauptstädten Wer heute die Universalität der Menschenrechte ver-
spüren. teidigen will, darf nicht den Eindruck einer eigenen Re-
lativierung dieser Universalität der Menschenrechte ent-
Es blieb aber nicht bei einer völkerrechtlich unver- stehen lassen.
bindlichen feierlichen Erklärung. Es folgte die zuneh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
mende Verrechtlichung durch die beiden Menschen-
wie bei Abgeordneten der SPD, des BÜND-
rechtspakte und eine Reihe weiterer Menschenrechts-
NISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
übereinkommen. Es läßt sich heute wohl sagen, daß die
Normbildung im Bereich der Menschenrechtsstandards Diese Gefahr aber sehe ich, wenn unter dem Vorzei-
weit fortgeschritten ist. Jetzt gilt es vor allem, um die chen, Kritik aus dem asiatischen Raum an unseren men-
Durchsetzung und Schaffung wirkungsvoller Durchset- schenrechtlichen Positionen ernst nehmen zu wollen, ei-
zungsinstrumente zu ringen. Dabei muß auch heute ne Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten an-
noch das Ringen um die Durchsetzung der Menschen- geregt wird, wie das durch das sogenannte Interaction
rechte bei der Verteidigung ihrer universellen Geltung Council geschah.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 809
Hermann Gröhe

(A) Wer der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hen, machten in jüngster Zeit die Morde an dem kolum- (C)
eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten bianischen Anwalt Eduardo Umana Mendoza und an
gleichsam als Zwilling an die Seite stellt, wird trotz aller der russischen Parlamentsabgeordneten Galina Sta-
vorbeugenden Klauseln nicht verhindern können, daß rowoitowa deutlich.
sich Unterdrücker unter Berufung auf die Nichterfüllung
Die beste Art, wie die Völkergemeinschaft den muti-
von Pflichten die Nichtgewährung von Rechten anma-
gen Menschenrechtsverteidigern danken und ihnen Un-
ßen.
terstützung zukommen lassen kann, ist die Verabschie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- dung einer „Erklärung zum Schutz von Menschen-
wie bei Abgeordneten der SPD, des BÜND- rechtsverteidigern“ durch die Generalversammlung der
NISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vereinten Nationen am heutigen Tage. Über ein Jahr-
zehnt ist um diese wichtige Erklärung gerungen worden.
In der Universalität der Menschenrechte gründet auch Gerade die deutsche Delegation bei der Menschen-
unsere Überzeugung, daß dem Einsatz für die Achtung rechtskommission der Vereinten Nationen hat beharrlich
der Menschenrechte nicht mit dem Hinweis auf das auf diese Erklärung hingearbeitet. Dafür gebührt ihr un-
Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angele- ser aller Dank.
genheiten entgegengetreten werden kann. Nationale
Souveränität ist niemals eine taugliche Legitimierung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
für Unterdrückung, Folter und Mord. ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Tragen wir jetzt alle dazu bei, diese so wichtige Erklä-
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) rung zu verbreiten und auf einen besseren Schutz der
Menschenrechtsverteidiger zu drängen!
Die Menschenschinder müssen vielmehr wissen: Wer
mordet, foltert und unterdrückt, muß mit unserer Einmi- Zentral für die Menschenrechtspolitik in der vor uns
schung rechnen. liegenden Zeit muß die Weiterentwicklung der Durch-
setzungsmechanismen sein. Die Verabschiedung des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs im Juli
ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE dieses Jahres in Rom durch 120 Staaten, also immerhin
GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) zwei Drittel der Staatengemeinschaft, stellt einen ganz
Bereits im Text der Allgemeinen Erklärung der Men- wichtigen Fortschritt dar, zu dem der frühere Außenmi-
schenrechte spielen die politischen Rahmenbedingungen nister Klaus Kinkel und die deutsche Delegation in Rom
für die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlich- wesentlich beigetragen haben.
(B) keit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit, eine wichtige (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so-
Rolle. Schon daraus wird deutlich, daß die weltweiten wie bei Abgeordneten der SPD und des
Demokratiebewegungen für die Achtung der Men- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schenrechte von besonderer Bedeutung sind. Diese De-
mokratiebewegungen gilt es zu stärken. Dies gilt trotz schmerzhafter Kompromisse im Hinblick
auf die Zuständigkeit des Gerichtshofes und die Inter-
Wir alle sollten daher in diesem Zusammenhang jede ventionsmöglichkeiten des Sicherheitsrates, den sicher-
chinesische Kritik an dem richtigen Gespräch des Au- lich noch einige Jahre dauernden Ratifikationsprozeß
ßenministers mit dem chinesischen Bürgerrechtler und die bedauerliche offensive Ablehnung des Interna-
Wei Jingsheng zurückweisen. tionalen Strafgerichtshofs durch die USA. Dagegen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der möchte ich ausdrücklich die starke Unabhängigkeit des
SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gerichts und der Anklagebehörde positiv hervorheben.
und der F.D.P.)
Einen ganz wichtigen weiteren Fortschritt zur Ver-
Die Demokratiebewegungen, die Menschenrechts- besserung des Menschenrechtsschutzes stellt das am 1.
verteidiger und die zahlreichen Nichtregierungsorgani- November dieses Jahres in Kraft getretene 11. Zusatz-
sationen leisten einen großartigen Beitrag im Ringen protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention
um die Achtung der Menschenrechte. Dies gilt für die dar, insbesondere die Ausgestaltung des Europäischen
Nichtregierungsorganisationen in unserem eigenen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg als
Land, deren großer Sachkunde und im Regelfall ehren- ständiger Gerichtshof und die Möglichkeit einer Indivi-
amtlichem Einsatz unser Dank gilt. Die wichtige Arbeit dualbeschwerde vor diesem Gericht. Dies hat gerade an-
dieser Nichtregierungsorganisationen ist nicht erfolglos. gesichts von heute über 40 Mitgliedern des Europarats
Amnesty International erreichte in einem Drittel der als Folge der Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa
Fälle von Menschen, für die man sich einsetzte, eine eine besondere Bedeutung.
Verbesserung der Lage: die Aussetzung der Todesstrafe,
ein Ende von Mißhandlungen, einen fairen Prozeß oder Im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Men-
gar die Haftentlassung. schenrechte ist in den letzten Monaten, nicht zuletzt
durch den Fall Pinochet, immer wieder das Problem der
Dank und Bewunderung verdienen vor allem auch die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen dis-
Menschenrechtsverteidiger, die in Unrechtsregimen mit kutiert worden. Lange war die Überzeugung vorherr-
hohem eigenen Risiko für die Menschenrechte eintreten. schend, zugesicherte Straffreiheit könne das friedliche
Welch hohes Risiko Menschenrechtsverteidiger einge- Ende einer Diktatur oder eines Bürgerkrieges beschleu-
810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Hermann Gröhe

(A) nigen. Heute überwiegt dagegen zunehmend die Auffas- ohne Unterdrückung, ohne Verfolgung verankern, auf (C)
sung, die Straffreiheit von Menschenrechtsverletzungen den Dreiklang von Freiheit, Gerechtigkeit und Partizi-
erschwere den rechtsstaatlichen Neubeginn. Zudem pation. Natürlich ist es ein Anlaß zur Freude, einfach die
werde eine eindeutige Strafbewehrung von Menschen- Nichtregierungsorganisationen aufzuzählen, die es da-
rechtsverletzungen präventiv wirken. mals gab und die es heute gibt: 1948 waren es 15 Men-
schenrechtsorganisationen; 1993, auf der Menschen-
Einen interessanten Weg geht dabei sicherlich die rechtskonferenz in Wien, waren es 1 500. Also: Die Sor-
„Wahrheitskommission“ in Südafrika, die die Amne- ge um die Menschenrechte hat sich verhundertfacht.
stie mit dem Schuldeingeständnis verknüpft. Dagegen ist
es geradezu entsetzlich, wenn sich etwa im argentini- Trotzdem: Feierstunden sind gefährlich für die Men-
schen Fernsehen einstige Folterknechte – geschützt schenrechte, weil sie dem Irrglauben Nahrung geben
durch eine Amnestie – ihrer schrecklichen Verbrechen können, Menschenrechtspolitik sei ein feierlicher Luxus,
rühmen. Solches Verhalten macht Aussöhnung nahezu den man sich nur an besonderen Tagen leisten kann –
unmöglich. nach dem Motto: Was wir gestern, was wir vorgestern,
was wir in den vergangenen Wochen gemacht haben,
Es ist auch die präventive Wirkung der Bestrafung das ist Realpolitik, und das, was wir wie heute morgen
von Menschenrechtsverletzungen, um derentwillen zu in gehobener feierlicher Stimmung tun, das ist Men-
wünschen ist, daß Pinochet, aber – bei aller Andersar- schenrechtspolitik.
tigkeit des Konfliktes – auch Öcalan vor Gericht gestellt
werden. In beiden Fällen würde dies zugleich der not- (Beifall der Abg. Heidi Lippmann-Kasten
wendigen Sachaufklärung, aber auch der Rehabilitierung [PDS])
der Opfer dienen. Wer so denkt – ich fürchte, daß nicht wenige so denken
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- –, der tut so, als sei Menschenrechtspolitik das Reservat
NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) für Moralisten und für Romantiker, als seien die Men-
schenrechte zwar etwas ganz besonders Wunderbares,
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der völker- aber nicht tauglich als Maßstab und Anspruch für die
rechtlichen Entfaltung der Menschenrechte und ihres politisch-parlamentarische Arbeit. Wer so denkt, der
Schutzes sind wichtige Erfolge erreicht worden. Ein macht Menschenrechtspolitik zur Irrealpolitik und setzt
Anlaß zur Genugtuung besteht indes nicht, liest sich die sie in Gegensatz zur vermeintlichen Realpolitik. Das ist
Fülle der speziellen Menschenrechtsübereinkommen auf gefährliche Weise falsch.
primär doch nicht als diplomatische Erfolgsgeschichte,
sondern als menschliches Sündenregister schrecklichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der SPD und der PDS sowie des Abg. Her-
Ausmaßes. Und noch immer gilt, daß die Völkergemein-
mann Gröhe [CDU/CSU] und der Abg. Sabine
(B) schaft – wie in Bosnien und in Ruanda erneut überdeut- (D)
lich wurde – häufig unfähig war, trotz vorhandener Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])
Warnungen rechtzeitig zu reagieren. Gerade um Prä- Menschenrechtspolitik ist Realpolitik. Menschen-
vention muß es daher gehen, wenn wir uns am heutigen rechtspolitik ist Demokratiepolitik, weil Menschenrechte
Tage vornehmen, in unserem Bemühen um eine konsi- nur dort gedeihen, wo Demokratie funktioniert. Demo-
stente Menschenrechtspolitik als Ausdruck einer kratie aber setzt die Unteilbarkeit der Menschenrechte
wertorientierten Außenpolitik nicht nachzulassen. voraus. Der Versuch, die bürgerlichen, die politischen
Freiheits- und Abwehrrechte zu trennen von den sozia-
Ich danke Ihnen. len, wirtschaftlichen, kulturellen Rechten und dem
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem Recht auf Entwicklung ist gänzlich untauglich und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. ideologisch geprägt. Die sozialen Rechte sind nämlich
sowie bei Abgeordneten der PDS) die Voraussetzung dafür, die politischen, bürgerlichen
Rechte überhaupt wahrnehmen zu können. Das gilt, wie
Präsident Thierse heute morgen gesagt hat, auch umge-
Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun kehrt.
Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Menschenrechte sind universell gültig. Die Frage ist
also nicht, ob, sondern was wir dazu beizutragen bereit
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE sind, daß die Kluft zwischen Anspruch und Men-
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schenrechtsrealität überwunden wird. Wie und wo
Kollegen! Feierstunden sind gefährlich für die Men- Menschenrechte geknebelt und geknechtet werden, das
schenrechte. Daß wir uns nicht falsch verstehen: Natür- kann man nachlesen: in den künftig noch realitätsnähe-
lich ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, ren Lageberichten des Auswärtigen Amtes oder in den
die heute vor 50 Jahren geboren wurde, eine Feier wert. Jahresberichten von Amnesty International. Dort kann
Und ich empfehle allen, die sie noch nicht oder sie nicht man über die handgreiflichen Torturen lesen.
mehr kennen, nachdrücklich ihre Lektüre.
Es gibt aber auch andere, sehr subtile Gefährdungs-
Natürlich ist es beeindruckend, wie in diesen 50 Jah- formen. Wer nämlich die Menschenrechte nur zu be-
ren die Menschenrechte juristisch verfestigt wurden, wie sonderen Gelegenheiten anzieht, so wie man einen Frack
sie verbindlich gemacht wurden. Natürlich dürfen wir oder ein Abendkleid nur zu besonderen Gelegenheiten
stolz sein auf diese wirklich große Erklärung, in der anzieht, der macht aus Menschenrechten Maskerade,
Millionen von Menschen ihre Hoffnung auf ein Leben weil er sie instrumentalisiert und selektiv anwendet.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 811
Claudia Roth (Augsburg)

(A) Dieses Jubiläum ist also nicht nur Anlaß zu einer Fei- Erste Zeichen sind gesetzt: der eigenständige Men- (C)
er, sondern auch Anlaß zu einer Demaskierung. Das schenrechtsausschuß, der parteiisch sein wird, partei-
heißt, wir müssen uns fragen: Wie stabil ist das Funda- isch im wahrsten Sinne des Wortes für die Menschen-
ment für die Menschenrechte? Welchen Beitrag leisten rechte, die Benennung des Menschenrechtsbeauftrag-
die deutsche Außenpolitik, die deutsche Entwicklungs- ten des Auswärtigen Amtes, die Gründung eines unab-
politik, die deutsche Wirtschaftspolitik, die deutsche hängigen Menschenrechtsinstituts, das Ja zum Inter-
Rüstungsexportpolitik, um das Fundament für die Men- nationalen Strafgerichtshof, der Vorschlag für eine
schenrechte wirklich stabiler zu gestalten? EU-Grundrechtecharta. Ein weiteres gutes, wichtiges,
notwendiges Zeichen wäre die Rücknahme des deut-
Dieser Tag ist auch ein Tag gegen Doppelbödigkeit schen Vorbehalts zur Kinderkonvention.
oder Heuchelei. Ist es in Wahrheit nicht so, daß nicht der
kurdische Flüchtling das Problem ist, sondern vielmehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die Tatsache, daß Deutschland auf Platz zwei bei den bei der SPD und der PDS sowie der Abg. Sa-
Rüstungsexporten in die Türkei steht und daß dort bine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.])
auch mit deutschen Waffen ein Krieg erst möglich wur- Wir Politiker und Politikerinnen können aus der
de? Menschenrechtsarbeit der letzten 50 Jahre lernen: ler-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nen, nicht wegzusehen, nicht zu verdrängen, nicht zu
bei der SPD und der PDS) verschweigen. Schweigen tötet. Qui tacet, consentire vi-
detur – so haben es schon die Juristen im alten Rom
Wir müssen uns gerade heute fragen: Genügt unsere formuliert –: Wer schweigt, stimmt zu. Das gilt nicht nur
Innenpolitik? Genügt unser Umgang mit Flüchtlingen, im bürgerlichen Recht, sondern das gilt vor allem auch
mit Asylbewerbern, mit Behinderten, mit den Armen in der Menschenrechtspolitik. Schweigen wird nicht da-
dieser Gesellschaft den Ansprüchen, die die Erklärung durch geadelt, daß es uns lukrative Handelsverträge ein-
formuliert, die wir heute morgen feiern? Wo sind die bringt. Solche Verträge sind unsittlich. Gewinn – auch
Menschenrechte im Flughafenverfahren? Wo sind die im wahrsten Sinne des Wortes – werden einklagbare
Menschenrechte in den Abschiebegefängnissen unseres Menschenrechtsklauseln und die Globalisierung der
Landes? Wo sind sie, wenn sich ein indischer Junge aus Menschenrechte bringen.
Verzweiflung, aus Angst vor seiner Abschiebung in sei-
ner Einzelzelle erhängt? Wir müssen uns ernsthaft fra- Menschenrechtspolitik ist also eine Kultur des Ein-
gen: Sperren wir nicht manches Mal auch in unserem mischens auch in sogenannte innere Angelegenheiten;
Land die Menschenrechte hinter Gitter? denn Menschenrechtsschutz kennt keine Grenzen. Sie
braucht Beharrlichkeit; sie braucht beharrliche Wider-
Natürlich könnten wir uns jetzt beruhigen und sagen, ständigkeit. Amnesty hat bewiesen, daß damit Erfolge
(B) das seien nur bedauerliche Einzelfälle. Einzelfälle? Was und Veränderungen erzielt werden können. So verstan- (D)
passiert denn an den Außengrenzen? Welche Not wird den, ist Menschenrechtspolitik wirkliche Sicherheitspo-
an der Grenze abgewiesen, an der früher der Eiserne litik. Sie ist Stabilitätspolitik. Sie ist Politik der interna-
Vorhang war? Wie geht man in der Europäischen Union tionalen Prävention. Das ist keine Utopie. Vielleicht ist
mit Einwanderern um? Entspricht die Hierarchisierung es eine Vision. Aber eine Vision haben ist das Gegenteil
der Bevölkerung in Menschen erster, zweiter und dritter von untätig sein, und eine Gesellschaft ohne Vision geht
Klasse wirklich Art. 1 der Menschenrechtserklärung, zugrunde.
wonach alle Menschen frei und gleich an Würde und
Rechten geboren sind? Freilich, selbst dann, wenn man Ich danke Ihnen.
all diese Defizite einräumt, läßt sich sagen, die Verstöße (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
seien relativ weniger schlimm als die Menschenrechts- bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeord-
verletzungen zum Beispiel im Sudan oder in Algerien. neten der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Aller-
dings!)
Präsident Wolfgang Thierse: Dies war die erste
Doch woran messen wir das? Ich glaube, die Relativi- Rede der Kollegin Roth im Bundestag. Meine herzliche
tätstheorie gehört in die Physik und nicht in die Men- Gratulation!
schenrechtspolitik.
(Beifall)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der Nun erteile ich das Wort der Kollegin Sabine
SPD) Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Fraktion.

Bert Brecht hat gesagt: Jeder rede von seiner Schan-


de. Verstecken wir uns also nicht, wenn es um Men- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.):
schenrechte geht, hinter Menschenrechtsverbrechen an- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
derswo. Glaubwürdig wird unsere Politik nicht dadurch, Wir tun gut daran, uns heute des 10. Dezembers 1948 zu
daß wir andere anklagen, sondern dadurch, daß wir an erinnern, jenes Datums also, an dem im Palais de
die eigene Politik hohe und höchste Maßstäbe anlegen. Chaillot in Paris ohne Gegenstimme bei nur 8 Enthal-
tungen von 48 Staaten die Allgemeine Erklärung der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte verabschiedet wurde. Erstmals in der
sowie bei Abgeordneten der SPD) Geschichte erreichte mit diesem Dokument die Völker-
812 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

(A) gemeinschaft über religiöse, kulturelle und politische periode auch bei uns gelänge, ein unabhängiges Men- (C)
Unterschiede hinweg einen Konsens über die Grund- schenrechtsinstitut einzurichten. Deshalb möchte ich
werte und Grundrechte, die allen Menschen zukommen. auch von dieser Stelle aus, die deutsche Öffentlichkeit
aufrufen, dem Kreis der Förderer von Amnesty Interna-
Ist dadurch die Welt nun besser geworden? Man tional beizutreten.
könnte daran zweifeln, angesichts der politisch moti-
vierten Morde, der Folter, des Verschwindenlassens, der Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, was müssen
Unterdrückung und – vor unserer Haustür – der ethnisch wir unterlassen, um das Erreichte nicht zu gefährden?
motivierten Vertreibung und Vergewaltigungen, die Wir müssen alles das unterlassen, was den universellen
auch 50 Jahre danach, wohl mit steigender Tendenz, zu Verbindlichkeitscharakter der Menschenrechte
beklagen sind. Dennoch müssen wir uns fragen: Wie sä- schwächt oder geeignet ist, die menschenrechtlichen
he unsere Welt heute ohne die Erklärung von 1948 und Übereinkommen zu unterlaufen. Wir dürfen es nicht
die daraus hervorgegangenen Konventionen, Institutio- zulassen, daß auch bei uns partikularistisch-
nen und menschenrechtlichen Schutzsysteme aus? neopragmatische Gedanken Platz finden, wie sie etwa in
Teilen des amerikanischen Kommunitarismus oder in
Trotz aller Defizite und Rückschläge muß der seit 50 Huntingtons „Kampf der Kulturen“ zum Ausdruck
Jahren laufende Menschenrechtsprozeß positiv be- kommen.
wertet werden. Wie könnten wir auch in Resignation
verfallen, wenn uns Menschen, die im Kampf um ihre Der KSZE-Prozeß und 50 Jahre Menschenrechte zei-
Rechte Unvorstellbares erlitten haben, eine zuversichtli- gen uns, daß sich unterdrückte Menschen gegen Verlet-
che, optimistische Bewertung dieses Prozesses nahele- zung ihrer Grundrechte in allen Kulturen auflehnen. Es
gen? Würden wir uns nicht einem mickrigen Kleinmut ist also nicht wahr, daß die Grundwerte und Grundrechte
hingeben, wenn wir das Plädoyer von Wei Jingsheng für kulturrelativ sind. Deshalb ist es schädlich – dies sage
Engagement und Optimismus ungehört verhallen ließen? ich mit Blick auf die bei uns anläßlich des Kruzifix-
Wie jämmerlich müßten wir erscheinen, wenn uns der Urteils des Bundesverfassungsgerichts geführte Diskus-
Appell der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin sion –, von unserer Verfassung als einer christlichen zu
„Setzt Eure Arbeit fort! Verzweifelt nie!“ nicht errei- reden.
chen würde? Mit welch kleiner Münze würden wir Poli-
tik betreiben, wenn uns das Bild des nach 27jähriger (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des
Haft ungebrochenen Nelson Mandela in Resignation und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Skepsis belassen würde? Es ist in 50 Jahren gelungen, PDS)
einen Kanon von ihrem Anspruch nach universell gülti- Mit einer solchen kulturrelativen Fassung der Grund-
gen Verbürgungen und Verpflichtungen zu schaffen, auf rechte laufen wir in das sprichwörtliche Messer jener
(B) den sich in ihren Grundrechten verletzte Menschen beru- (D)
Machthaber und Despoten, die mit der Definitionsgewalt
fen können und berufen. Darin liegt die entscheidende über das, was bei ihnen Religion und Kultur ist, die
Bedeutung der Menschenrechtsarbeit der vergangenen Menschenrechte mit Füßen treten. Auch in Zukunft
50 Jahre. Kein Machthaber wird sich auf Dauer dem werden die Fronten des Kampfes um die Durchsetzung
durch die Menschrechtsdeklarationen erzeugten öffentli- der Menschenrechte nicht zwischen, sondern innerhalb
chen Druck entziehen können. der Kulturen verlaufen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Wir dürfen es nicht zulassen, daß auch bei uns eine
ten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNIS-
schleichende Umdeutung der – ihrer wesentlichen
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Funktion nach – als Abwehrrechte gegen staatliche
Was bleibt zu tun? Noch vieles, aber vor allem, den Gewalt gefaßten Grund- und Menschenrechte stattfindet.
politischen und moralischen Druck auf all jene, die Es ist für den Menschenrechtsprozeß schädlich, und es
Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, ist falsch, etwa aus Art. 3 der Allgemeinen Erklärung
nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern zu verstärken. Da- der Menschenrechte oder aus Art. 5 der Europäischen
zu ist es erforderlich, für alle Formen von Menschen- Menschenrechtskonvention nicht nur das dort verankerte
rechtsverletzungen breitestmögliche Öffentlichkeit her- Abwehrrecht auf Freiheit, sondern auch ein an den Staat
zustellen. Es ist deshalb gut, daß auf der heute tagenden gerichtetes Anspruchsrecht auf Sicherheit herauszule-
Vollversammlung der Vereinten Nationen die Erklä- sen. Daß dies schädlich und falsch ist, dessen ist man
rung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern sich in den Kommentierungen und in der Rechtspre-
verabschiedet wird. Deshalb wäre es gut, wenn die Bun- chung zur Europäischen Menschenrechtskonvention
desregierung sich nachdrücklich für eine Verbesserung bewußt. Danach ist das dem Recht auf Freiheit beige-
des Finanzrahmens des derzeit mit mageren 20 Millio- stellte Recht auf Sicherheit eben nicht ein auf die innere
nen DM ausgestatteten Hochkommissars für Menschen- Sicherheit zielendes Anspruchsrecht – wie auch hier
rechte einsetzen würde. schon behauptet wurde –, sondern ein Recht, das die Si-
cherheit gegen willkürliche Eingriffe seitens der staatli-
(Beifall bei Abeordneten der F.D.P., der SPD, chen Gewalt garantieren soll.
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P.)
Deshalb wäre es gut, wenn es nach jahrelangen Forde- Nicht zuletzt sollten wir es nicht zulassen, daß die
rungen des Deutschen Bundestages in dieser Legislatur- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch eine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 813
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

(A) noch so gutgemeinte „Allgemeine Erklärung der res als die von meiner Fraktion in der vorigen und in der (C)
Menschenpflichten“ ergänzt und verbessert wird. gegenwärtigen Legislaturperiode eindeutig abgelehnte
Forderung nach Entschädigung für die in diesem Zu-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie sammenhang verbüßten Strafen.
der Abgeordneten Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Ich möchte dennoch eine Frage wiederholen, die ich
Dr. Gregor Gysi [PDS]) bereits bei der Eröffnung des 14. Bundestages stellte:
Man stellt die in einem politischen Gemeinwesen beste- Es ist allgemein bekannt, daß die Aufarbeitung der
henden rechtlichen und sittlichen Pflichten des einzelnen Geschichte nach 1945 gerade auch in der alten
nicht in Abrede, wenn man darauf hinweist, daß den in Bundesrepublik widersprüchlich verlief. Ich bin
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garan- mißtrauisch gegenüber der These, daß bei der Auf-
tierten Rechte symmetrisch – also auf derselben Ebene – arbeitung der Geschichte der DDR die Fehler von
keine Pflichten gegenübergestellt werden können. Wür- damals nicht wiederholt werden dürfen. Könnte es
de man dennoch die Menschenrechte um Menschen- nicht auch so sein, daß viele damals so inkonse-
pflichten ergänzen, wäre im Hinblick auf ihre Durchset- quent waren, weil es fast alle von uns betraf, wäh-
zung nichts gewonnen, wohl aber den Machthabern und rend heute im Westen eine gründliche Aufarbeitung
Despoten die Möglichkeit eröffnet, die Beachtung der der Geschichte der DDR gefordert wird, weil man
Menschenrechte – da nicht justiziabel – an beliebig ge- meint, davon nicht betroffen zu sein?
staltbare Pflichten zu binden. Zum 50. Jahrestag der Er-
Das Verhältnis zu Menschenrechten in der alten Bun-
klärung der Menschenrechte wäre dies ein Danaer-
Geschenk. desrepublik war nie frei von politischen und ökonomi-
schen Interessen, unterlag in bestimmten Fällen der In-
Wenden wir uns deshalb intensiv der Bekämpfung strumentalisierung und war damit keinesfalls immer
von Menschenrechtsverletzungen zu und ermutigen und glaubwürdig. Wie sollte man nachträglich die guten Be-
unterstützen all diejenigen, die unerschrocken und auf- ziehungen führender Politiker unseres Landes zum Re-
richtig ihre Menschenrechte einfordern. gime von Pinochet in Chile oder zum rassistischen Re-
gime in Südafrika rechtfertigen? Diese Politiker stan-
Vielen Dank. den eindeutig auf der falschen Seite.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
ten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) War es nicht so, daß die alte Bundesregierung Men-
schenrechte dort besonders betonte, wo die politischen
Differenzen groß und die ökonomischen Interessen ge-
(B) Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat der (D)
ring waren, während die Frage eher vernachlässigt wur-
Alterspräsident des Hauses, der Kollege Fred Gebhardt, de, wenn es politisch und ökonomisch ratsam erschien?
PDS-Fraktion. Die alte Bundesregierung ist mit Menschenrechtsverlet-
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wie lange zungen in der Türkei, in Indonesien, im Iran oder in Ku-
ist man Alterspräsident?) ba sehr unterschiedlich umgegangen. Ich sehe deshalb
diesen 50. Jahrestag als Gelegenheit, um an die neue
Bundesregierung zu appellieren, Menschenrechte als
Fred Gebhardt (PDS): Herr Präsident! Meine Da- universell und unteilbar zu begreifen, sie im eigenen
men und Herren! In meiner Rede zur Eröffnung des 14. Lande wirksamer zu sichern, für Westdeutsche und Ost-
Bundestages führte ich unter anderem aus: deutsche und vor allem auch für Nichtdeutsche ein-
schließlich der Flüchtlinge und Asylbewerber, und
In der DDR gab es Unrecht, Verletzung von Men- zwar in einer Einheit von politischen und sozialen
schenrechten und einen Mangel an Demokratie. Rechten.
Das muß aufgearbeitet werden.
(Beifall bei der PDS)
Deshalb möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, um
darauf hinzuweisen, daß dieser vor sechs Wochen ge- Ich appelliere an die Regierung, für die Durchsetzung
sprochene Satz von der gesamten PDS-Fraktion getra- der politischen und sozialen Menschenrechte weltweit
gen wird. unabhängig davon einzutreten, wie nah oder wie fern ein
politisches Regime ist, wie groß oder klein ökonomische
Menschenrechtsverletzende Taten, wie zum Beispiel und kommerzielle Interessen sind. Nur bei einer solchen
Gewaltanwendung und der Gebrauch von Waffen gegen Herangehensweise kann sie eine glaubwürdige Men-
das Recht der eigenen Bürger auf Freizügigkeit, Ein- schenrechtspolitik vertreten. Daran und an ihren eigenen
schränkungen von Meinungs- und Versammlungsfrei- Ansprüchen werden wir die Regierung messen. Die
heit, Inhaftierung und Verfolgung von Menschen aus NGOs werden uns hoffentlich so, wie es bisher der Fall
nicht zu rechtfertigenden politischen Gründen, waren war, kritisch bei dieser Arbeit begleiten.
und sind zu verurteilen.
Danke schön.
Die Forderungen nach Beendigung der Strafverfol-
gung für hoheitliches Handeln in der DDR im Interes- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
se von Rechtssicherheit, Rechtskultur und wirklicher der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
politischer und moralischer Aufarbeitung ist etwas ande- GRÜNEN)
814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ich will darauf hinweisen, daß in rund 30 afrikani- (C)
Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. schen und asiatischen Ländern jeden Tag mehr als 6 000
Mädchen und Frauen an ihren Genitalien verstümmelt
werden. Insgesamt sind 130 Millionen Frauen Opfer
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für dieser massiven und lebensgefährlichen Form von Ge-
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr walt gegen sie. Sie tragen dadurch körperliche und seeli-
Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es sche Wunden davon, die sie ihr ganzes Leben lang emp-
ist heute morgen mehrfach daran erinnert worden, daß finden. Zu lange hat die Weltgesellschaft, zu lange ha-
die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Men- ben auch wir diese Situation verdrängt und verschwie-
schenrechte, Mary Robinson, gesagt hat: Das 50. Jubilä- gen. Wir müssen alle Möglichkeiten auch unserer Politik
um der Menschenrechtserklärung ist kein Grund zum einsetzen, damit solche Verletzungen der Menschen-
Feiern, es bietet uns aber die Möglichkeit, die Vision rechte von Frauen keine Chance mehr haben, damit ih-
von 1948 wiederzubeleben. Man muß betonen – es ist nen Einhalt geboten wird.
heute morgen bereits vom Herrn Präsidenten angespro-
(Beifall im ganzen Hause)
chen worden –, daß die Macht der Menschenrechte frü-
her Unvorstellbares heute zu scheinbar Selbstverständli- Genauso unerträglich sind aber auch Verletzungen
chem gemacht hat. Sie erinnern sich: Hier hat Nelson der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte.
Mandela gesprochen. Es ist einfach ein unglaublicher UNICEF hat daran erinnert: 130 Millionen Kindern wird
Fortschritt und ein unglaubliches Ergebnis, daß es mög- der Schulbesuch, wird das Recht auf Bildung verwei-
lich war, die Apartheid in Südafrika zu beseitigen. gert. Fast die doppelte Zahl, mehr als 250 Millionen
Jungen und Mädchen unter 15 Jahren, müssen täglich
(Beifall im ganzen Hause) bis zu 14 Stunden arbeiten. Auch der Hunger ist eine
Und wenn wir ehrlich sind, liebe Kolleginnen und Kol- der größten Geißeln unserer Zeit und stellt eine Verlet-
legen, hätten es doch viele von uns vor wenigen Mona- zung der Menschenrechte dar. Nach neuesten Zahlen der
ten auch kaum für möglich gehalten, daß ein Diktator Welternährungsorganisation, der FAO, bleibt über 820
wie Pinochet heute ernsthaft damit rechnen muß, für Millionen Menschen das Recht auf ausreichende Nah-
seine Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. rung verwehrt. Täglich – ich wiederhole: täglich – ster-
ben 40 000 Menschen aus diesem Grund.
Aber auch hier gilt: Erst wenn es einen funktionie-
renden internationalen Strafgerichtshof gibt, vor dem Solange diese Zahlen bestehen, liebe Kolleginnen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord und Kollegen, dürfen wir nicht ruhen. Denn – es ist ge-
abgeurteilt werden können, ist ein entscheidender Schritt sagt worden – Menschenrechte sind unteilbar, individu-
elle und soziale. Die Hoffnung und die Vision, auch die-
(B) erreicht und verwirklicht. se Zahl eines Tages nur noch in den Geschichtsbüchern (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zu finden, sind für uns die gemeinsame große Heraus-
90/DIE GRÜNEN) forderung, der wir uns am Ende dieses Jahrhunderts
wirklich stellen sollten, aus der wir Schlußfolgerungen
Wir fordern deshalb noch zögernde Staaten zur Ratifi- ziehen und auf die wir die praktische Politik ausrichten
zierung auf – vorhin sind die USA genannt worden –; sollten.
denn erst wenn 60 Staaten das Statut ratifiziert haben,
kann der Strafgerichtshof seine Tätigkeit aufnehmen. Es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
ist also entscheidend, das an diesem Tag zu betonen. 90/DIE GRÜNEN)

Menschenrechtsverletzungen gelangen heute öfter, Eine solche Diskussion sollte ja auch Anlaß sein, dar-
schneller – auch das ist gesagt worden – und umfangrei- zustellen, was wir in diesem Bereich tun. Frau Roth hat
cher ans Licht der Weltöffentlichkeit. Das Abwehrar- nachgefragt: Was tut die Politik dieser Regierung in die-
gument der Nichteinmischung hat an Kraft verloren. ser Hinsicht? Ich will die Überzeugung und auch meine
Auch wirtschaftlich und strategisch bedeutende Länder Entschlossenheit ausdrücken, die Möglichkeiten, die uns
müssen sich immer mehr dem öffentlichen Druck auf unsere Entwicklungspolitik zur Respektierung der
Einhaltung der Menschenrechte stellen. Die Globalisie- Menschenrechte in den Partnerstaaten bietet, entschlos-
rung der Kommunikation – häufig wird ja nur von den sen einzusetzen.
Nachteilen der Globalisierung gesprochen – hat offen- Vor allen Dingen sind wir, liebe Kolleginnen und
sichtlich auch eine Globalisierung von Werten, eine Kollegen, aufgefordert, Rahmenbedingungen dafür zu
Verbreitung der Werte zur Konsequenz gehabt, und das schaffen, daß Art. 28 der Menschenrechtsdeklaration
ist gut. auch Realität wird. Darin heißt es: Jedermann hat das
Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, in
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwar ist in den
der die angesprochenen Rechte und Freiheiten voll ver-
letzten 50 Jahren für die Menschenrechte einiges er-
wirklicht werden können.
reicht worden, aber heute morgen sind viele Zahlen ge-
nannt worden, die auf traurige Art und Weise belegen, Was heißt das praktisch? Das heißt, daß wir alle in
wie tagtäglich Menschenrechte in unvorstellbarem diesem Haus uns dafür engagieren müssen, daß unsere
Ausmaß verletzt werden. Es sind die Zahlen von Am- Weltwirtschaft einen sozialen Ordnungsrahmen be-
nesty International genannt worden; das will ich an die- kommt. Das heißt, daß wir uns dafür engagieren müssen
ser Stelle nicht wiederholen. – ich tue das in meiner Arbeit –, daß sich unsere Ent-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 815
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

(A) wicklungspolitik auf die Bekämpfung von Armut und Der Deutsche Bundestag hat am 8. Mai 1998 frakti- (C)
dabei auf die Verwirklichung der elementarsten wirt- onsübergreifend ausdrücklich darauf hingewiesen und
schaftlichen und sozialen Menschenrechte wie dem gefordert, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten
Recht auf Nahrung, auf Trinkwasser, auf Gesundheit nutzen solle, um gegen die Genitalverstümmelung bei
und auf Bildung konzentriert. Das heißt, daß wir unab- Frauen tätig zu werden. Ich sage an dieser Stelle aus-
hängige Gewerkschaften in ihrer Arbeit entsprechend drücklich: Wir haben unsere Schlußfolgerungen gezo-
unterstützen müssen und daß wir ihrer Arbeit den ent- gen, und wir werden im Rahmen unserer Entwicklungs-
sprechenden Nachdruck verleihen müssen, den sie in zusammenarbeit dieses Thema immer wieder anspre-
den Auseinandersetzungen brauchen. chen. Wir unterstützen entsprechende Programme in
Westafrika und auch in Ägypten. Vor allen Dingen un-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE terstützen wir in diesen Ländern die Frauenorganisatio-
GRÜNEN und der PDS) nen, die Nichtregierungsorganisationen, die dieser un-
Das heißt: Beseitigung ausbeuterischer Kinderar- menschlichen Praxis ein Ende setzen wollen.
beit. Auch unser Haus unterstützt Programme der Inter- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
nationalen Arbeitsorganisation mit diesem Ziel. Aber ich GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Ab-
sage dazu auch: Bilaterale Programme reichen nicht aus. geordneten der F.D.P. und der PDS)
Wir müssen soziale Standards in die Welthandelsord-
nung einbringen. Die Ausbeutung von Kindern und die Wir sind bereit, die entsprechenden Länder bei Auf-
Zwangsarbeit dürfen in unserem Welthandelssystem klärungs- und Informationskampagnen zu unterstützen,
nicht noch als handelspolitische Vorteile honoriert wer- wenn deren Regierungen dieses Thema selbst aufgreifen
den. Wir müssen praktische Konsequenzen ziehen. wollen. Ich denke, daß das die Möglichkeiten sind, die
wir auch in unserer Entwicklungszusammenarbeit ha-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ben, um dazu beizutragen, daß Menschenrechte nicht
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nur gefordert, sondern zur Praxis werden.
der CDU/CSU und der PDS)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Wir wollen uns bei der Weiterentwicklung der inter- Schluß. Die Zahlen sind manchmal so abstrakt, daß man
nationalen Abkommen und Instrumente für die wirt- sich unter ihnen nichts Konkretes vorstellen kann. In den
schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie für jetzt zurückliegenden zehn Minuten sind weltweit 300
das Recht auf Entwicklung engagieren und einsetzen. Menschen an Hunger gestorben. Es ist kein Tag zum
Wir setzen aber auch unsere Entwicklungszusammenar- Feiern; vielmehr ist es ein Tag, sich einer Vision zu ver-
beit ein, um in unseren Partnerländern die Achtung und sichern, daß wir, die wir in unseren Ländern – auch in
den europäischen Ländern – in Freiheit und Demokratie
(B) Respektierung der Menschenrechte anzumahnen. Bege- leben, gemeinsam die Verpflichtung dazu haben, daß die (D)
hen Regierungen massive Verletzungen der Menschen-
rechte, so versuchen wir über nichtstaatliche Organisa- Universalität der Menschenrechte auf unserem Konti-
tionen, mit den Instrumenten unserer Zusammenarbeit nent und auf der ganzen Erde verwirklicht wird. Das ist
die Grundlagen und Mehrheiten für die notwendigen unsere Aufgabe. Lassen Sie uns sie gemeinsam anpak-
Veränderungsprozesse in diesen Ländern zu schaffen. ken!

Ich weiß – und unsere Vorgänger wissen das auch –, Danke sehr.
daß dies in jedem Fall eine schwierige Abwägungsent- (Beifall im ganzen Hause)
scheidung ist, weil für die Beantwortung der Frage, was
der Förderung der Menschenrechte hilft, immer auch die
Situation in dem jeweiligen Land berücksichtigt werden Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die
muß. Aber ich sage an dieser Stelle auch: Gegenüber Kollegin Monika Brudlewsky, CDU/CSU-Fraktion.
wirtschaftlich und strategisch stärkeren Ländern muß
gelten, daß in den Beziehungen zu ihnen keine doppel- Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Herr Präsident!
ten Standards existieren dürfen. Wirtschaftliche und Meine Damen und Herren! Da auch ich als ehemalige
strategische Interessen dürfen nicht dazu führen, daß zur DDR-Bürgerin, genau wie Sie, Herr Präsident, Men-
Situation der Menschenrechte in den betreffenden Län- schenrechtsverletzungen in einer Diktatur kennengelernt
dern geschwiegen wird. habe, bin ich besonders froh und dankbar, daß die Ver-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS einten Nationen vor 50 Jahren die Allgemeine Erklärung
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Menschenrechte aufgeschrieben und unterschrieben
der CDU/CSU und der PDS) haben. Für mich ist das wirklich ein Grund zum Feiern;
denn diese Erklärung ist bis zum heutigen Tag Maßstab
Ich komme zu dem Punkt zurück, den ich vorhin an- und ständige Mahnung für alle Diktaturen. Und das ist
gesprochen habe. Es geht darum, die Beschlüsse der gut so!
Weltfrauenkonferenz umzusetzen. Ich betone noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
einmal ausdrücklich: Alle Länder, die damals die Men- ordneten der F.D.P.)
schenrechtspakte und das Schlußdokument der Pekinger
Weltfrauenkonferenz akzeptiert haben, sollten von uns Im Rahmen dieses Jubiläumstages möchte ich an die-
an diesen Tag und an ihre entsprechenden Verpflichtun- ser Stelle besonders auf die Menschenrechtsverletzun-
gen erinnert werden, und das tun wir auch. gen an Frauen und Kindern in vielen Ländern der Welt
816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Monika Brudlewsky

(A) eingehen. Als ich 1994 kurz nach dem schrecklichen nur lohnt, den Söhnen eine Ausbildung zukommen zu (C)
Genozid im ruandischen Flüchtlingslager in Goma lassen – wenn arme Familien in diesen Ländern über-
mit vielen Europäern zu helfen versuchte, und zwar haupt ihre Kinder in die Schule senden können. Hier
nicht als Abgeordnete, sondern in meinem erlernten Be- kann ich auch auf die weltweiten Bemühungen hinwei-
ruf als Krankenschwester, prägte sich mir der hautnahe sen, die Kinderarbeit anzuprangern. Ich erinnere an den
Eindruck von Not und Verzweiflung tief ein. Menschen, Besuch einer internationalen Jugendgruppe vor einigen
die nur knapp ihr wirklich nacktes Leben gerettet hatten, Monaten bei uns im Bundestag, die uns ihre schreckli-
versuchten nun mit letzter Kraft zu überleben. Überall in chen Kindheitserlebnisse schilderten: mißbraucht, ge-
der Welt spielen sich heute diese furchtbaren Flücht- schlagen, zur Arbeit gezwungen.
lingsdramen in ähnlicher Weise ab.
Ich selbst habe solche bedauernswerte Kinder aus in-
Aber bei allem Leid, das sich dort darbietet, gilt: Es dischen Slums vor Ort in einer Marmorfabrik und in
trifft immer am härtesten die Schwächsten, Frauen und Teppichknüpfereien arbeiten erlebt. Wir haben uns mit
Kinder, vor allem die Kinder, welche völlig unschuldig Entscheidungsträgern, zum Beispiel in Indien und Ne-
in diese Situation der bitteren Not geraten sind. Kinder pal, getroffen und immer wieder festgestellt, daß es bei
werden durch die Kriegswirren von ihren Eltern getrennt diesem Thema äußerst mühsam ist, beharrlich und ein-
oder zu Waisen. Kinder werden auch heute noch in fühlsam einzuwirken. Der Herr Kollege Blüm, der sich
manchen Ländern der Welt zur Ware und, wie im Süd- beim Thema Kinderarbeit stark engagierte, kann darüber
sudan, wie Sklaven verschleppt und verkauft. sicher einen Roman schreiben. Wir müssen aber darauf
dringen, daß die Weltgemeinde gerade auf diesem Weg
Mit den Rechten der Frauen, die immerhin die der Beharrlichkeit einig weitergeht.
Hälfte der Menschheit ausmachen, ist es in vielen Teilen
der Welt nicht weit her. Frauen erfahren in vielen Län- Kinderpornographie und Prostitution von Kindern
dern eine menschenunwürdige Behandlung. Sie werden sind furchtbare Menschenrechtsverletzungen, die auch
verachtet, geschlagen, vergewaltigt und getötet. Frauen beim Namen genannt werden müssen. Wir haben in der
sind Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangsab- letzten Legislaturperiode gemeinsam erste gesetzliche
treibungen. In verschiedenen Ländern der Welt werden Ansätze in diesem Haus geschaffen, damit diese Verbre-
noch heute weibliche Neugeborene getötet. chen auch international aufs schärfste bekämpft werden
können.
Frauen werden oft unter dem Deckmantel von Tradi-
tionen oder Religionen gezwungen, sich zu verhüllen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
und in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zu ordneten der F.D.P.)
spielen. Ein krasses Beispiel ist zur Zeit Afghanistan,
Wir müssen weltweit weiter nach Wegen suchen, daß
wo Frauen durch religiöse Fanatiker völlig aus dem öf-
(B) fentlichen Leben verschwunden sind und nahezu keine diese Scheußlichkeiten bald der Vergangenheit angehö- (D)
ren und die Täter überall auf der Welt damit rechnen
Rechte mehr haben. Selbst in der islamischen Welt stößt
müssen, strafrechtlich verfolgt zu werden. Kontrollen
diese menschenverachtende Politik auf Unverständnis.
des Internets und der Medien sind nur im internationalen
So gibt es viele Beispiele vom Leid der Frauen dieser
Verbund wirksam durchzuführen. Ebenso gilt das für die
Erde.
Bekämpfung des Sextourismus und des Menschenhan-
Ein weiteres schlimmes Kapitel ist, wie schon ange- dels.
sprochen, die Beschneidung von Frauen. Jahrelang war
Menschenrechtsdebatten im Bundestag verliefen zu-
es bei uns kaum bekannt. Später tabuisierte man diese
meist in sehr guter und nachdenklicher Atmosphäre,
frauenverachtende Praxis, weil sie angeblich in der kul-
weil es uns allen immer darum ging, die Ernsthaftigkeit
turellen Tradition dieser Länder begründet sei. Ich muß
der Probleme aufzuzeigen und Wege zu suchen, um
gestehen: Auch ich wußte lange nicht damit umzugehen.
wirklich allen eine Zustimmung im Interesse der betrof-
Heute weiß ich durch Berichte von betroffenen Frauen,
fenen Menschen zu ermöglichen. Diese Nachdenklich-
daß weltweit viele Kinder und junge Mädchen auf grau-
keit war auch immer gegeben, wenn es in unseren De-
same Art an den Genitalien beschnitten, eigentlich aber
batten um die Unteilbarkeit von Menschenrechten ging,
verstümmelt werden. Es geschieht oft, daß diese Be-
die ja für das gesamte Leben von Menschen – von der
schneidung sogar die eigenen Mütter vornehmen, weil
Entstehung bis zum Sterben – gelten. Um die Beachtung
sie der Meinung sind: Es muß ja sein.
dieser Spannbreite werden wir sicher weiterhin in die-
Es ist hier für uns sehr schwierig, einzuklagen, daß sem Hohen Hause ringen müssen. Ich wurde des öfteren
diese Praxis, die durchaus nicht in der Religion dieser schon gefragt: „Was könnt ihr schon gegen all die Men-
Länder begründet ist, dort endlich aufhört. Wir können schenrechtsverletzungen in der Welt tun?“ Sicher,
jedoch in Deutschland ganz gezielt eingreifen, wenn be- manchmal scheint es ein Kampf gegen Windmühlenflü-
kannt wird, daß hier lebende Familien aus den betref- gel zu sein. Mich ermutigt aber immer wieder, wenn ich
fenden Ländern diese Handlungen praktizieren. Es ist daran denke, was alles erreicht wurde. Vor 20, ja noch
gut, daß wir in den vergangenen Jahren zu diesem Ka- vor 10 Jahren glaubten wir in der DDR nicht daran, je-
pitel, wie auch zu vielen anderen menschenrechtsrele- mals frei reden und frei reisen zu können.
vanten Themen, interfraktionelle Einigkeit demonstrie-
Die internationale Staatengemeinschaft hat uns mit
ren konnten.
ihren Erklärungen und Resolutionen maßgeblich gehol-
Auch in der Bildung erfahren die Mädchen in vielen fen, internationale Standards zu setzen, die über die
Ländern große Benachteiligung, weil es sich scheinbar Grenzen hinweg Geltung haben und vielen Menschen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 817
Monika Brudlewsky

(A) die Freiheit gebracht haben. Trotzdem gibt es für uns Diktatur in der ehemaligen Sowjetunion und in Osteuro- (C)
noch viel zu tun. So müssen wir weiterhin durch unsere pa war.
Entwicklungs- und Außenpolitik darauf hinwirken, daß
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
auch in anderen Ländern der Welt Diktatur, Gewalt,
90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie der
Unterdrückung und Willkürherrschaft der Vergangen-
Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
heit angehören.
[F.D.P.])
Ich danke Ihnen. Daraus sollten wir die Konsequenz ziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- Auch in der Welt von morgen, in der es Unterdrük-
wie bei Abgeordneten der SPD und des kung der Menschenrechte, Verfolgung unbequemer
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Demokraten und unbequemer Meinungen und in der es
sexuell, politisch, rassisch und religiös motivierte Ver-
folgung gibt, ist es wichtig, daß wir bei aller notwendi-
Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat gen Realpolitik – Außenpolitik wird sich immer im
Außenminister Fischer. Spannungsverhältnis zwischen der Orientierung an Prin-
zipien und der Durchsetzung von Interessen entwickeln
müssen – niemals die Erfahrung der osteuropäischen
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: und auch ostdeutschen Dissidentengruppen vergessen,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige die wesentlich zum Zusammenbruch der kommunisti-
Tag, der 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der schen Diktaturen, auch wegen der Unterstützung durch
Menschenrechte, ist ein Tag der Herausforderung für die die westlichen Demokratien, beigetragen haben. Auch in
Politik, vor allen Dingen für die demokratische Politik. der Welt von morgen dürfen wir nicht müde werden,
(Beifall bei der SPD) Demokraten dort, wo sie in Diktaturen unterdrückt wer-
den, zu unterstützen und sie gleichzeitig hier willkom-
Er ist kein Feiertag. Bei aller Unzulänglichkeit der poli- men aufzunehmen.
tischen Realität hinsichtlich der Beachtung der Men-
(Beifall im ganzen Hause)
schenrechte in dieser Welt ist die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte dennoch eines der wichtigsten Do- Die Bundesregierung weiß sich diesen Grundsätzen
kumente für die Zivilisierung der Welt und für den verpflichtet. Dazu gehört auch der Grundsatz der Uni-
Schutz von Menschen gegenüber Unterdrückung und versalität der Menschenrechte. Für uns ist die Unter-
Verfolgung. drückung der Menschenrechte keine kulturelle Beson-
derheit. Wegen der Vorurteile, die sich hier gegenüber
(B) Wir dürfen als Mitglieder des Deutschen Bundestages anderen Religionen entwickeln, sage ich: Der Islam ver- (D)
an diesem Tag nicht vergessen, daß die Allgemeine Er- fügt über eine überaus liberale Tradition. Wir sollten
klärung der Menschenrechte in einem unmittelbaren Zu- nicht Zerrbilder zum Maßstab des interkulturellen Dia-
sammenhang mit dem grausamen Schicksal von Millio- logs machen. Wir sollten vielmehr unsere eigenen Vor-
nen unschuldiger Menschen stand, die während des urteile kritisch betrachten und die daraus resultierenden
zweiten Weltkrieges und während der Diktatur des Na- Schlußfolgerungen zum Maßstab des interkulturellen
tionalsozialismus unterdrückt, verfolgt und ermordet Dialogs machen.
wurden. Die Gründung der Vereinten Nationen und auch
die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Wissend um diese Selbstprüfung sollten wir aber
Menschenrechte waren historisch gesehen eine unmit- auch klipp und klar sagen, daß andere Gesellschaften die
telbare Antwort auf eines der schlimmsten Kapitel, die Unterdrückung der Menschenrechte nicht zu einem Be-
Deutschland in seiner jüngsten Geschichte zu verzeich- standteil ihrer Kultur erklären können. Es hat nichts mit
nen hat. Einmischung in die inneren Angelegenheiten oder mit
westlicher Arroganz zu tun, wenn wir erstens immer
Die Erfahrung mit zwei Diktaturen, aber auch die Er- wieder darauf hinweisen, daß die Unterdrückung von
fahrung mit der subversiven Kraft der Demokratie und Menschenrechten nicht zu akzeptieren ist, und wenn wir
der Dissidenz gegen die Unterdrückung in diesen Dik- zweitens nicht müde werden, die demokratische Oppo-
taturen verpflichtet Deutschland, die Bundesregierung sition in diesen Ländern mit den uns zur Verfügung ste-
und den Gesetzgeber zu einem besonderen Einsatz für henden Mitteln zu unterstützen.
die Durchsetzung der Menschenrechte und ihres univer-
sellen Anspruchs. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ordneten der CDU/CSU und der PDS)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
PDS) Die Bundesregierung hat mit der Einsetzung des
Menschenrechtsbeauftragten einen klaren Schwer-
Ich habe schon die Erfahrung mit den zwei Diktatu- punkt gesetzt. An diesem Maßstab müssen sich alle Re-
ren erwähnt. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch gierungen, mit denen wir einen guten zwischenstaatli-
einmal darauf hinweisen, wie wichtig die Arbeit von chen Kontakt haben, den wir fortentwickeln wollen,
Menschenrechtsgruppen im ehemaligen Warschauer messen lassen. Auf Grund dieses Maßstabes und unserer
Pakt war und wie entscheidend der Korb III der Helsin- eigenen Werteüberzeugungen gedenken wir selbstver-
ki-Vereinbarung für das Ende der kommunistischen ständlich auch in Zukunft verfolgte Demokraten als
818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesminister Joseph Fischer

(A) willkommene Gäste, auch als Gäste der Bundesregie- Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus- (C)
rung, zu empfangen. Wir werden uns von niemandem sprache.
vorschreiben lassen, wen wir wo und wie zu empfangen
haben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4a bis 4f auf:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeord- deskanzlers
neten der CDU/CSU und der F.D.P.) Vorschau auf den Europäischen Rat in Wien
am 11./12. Dezember 1998 und Ausblick auf
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in dieser die deutsche Präsidentschaft in der ersten
Debatte aber noch auf einen wichtigen und sehr aktuel- Jahreshälfte 1999
len Gesichtspunkt hinweisen: die Durchsetzung eines b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
internationalen Strafrechts. Ich verstehe nicht ganz, Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
warum man politische Verbrecher als etwas Besseres weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
bezeichnet. Die schlimmsten Verbrecher in diesem
Jahrhundert – Hitler an erster Stelle, aber auch Stalin – Erwartungen an das Treffen des Europäischen
waren ohne jeden Zweifel politische Verbrecher, die Rates in Wien am 11./12. Dezember 1998
millionenfachen Mord auf ihr Gewissen geladen ha- – Drucksache 14/90 (neu) –
ben. Es ist von zentraler Bedeutung, daß sich Diktatoren
in der Welt von heute und morgen – das wird sich c) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und-
immer im Spannungsverhältnis zwischen Macht und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prinzipien, zwischen Interessen und Prinzipien abspie- Vorschau auf den Europäischen Rat in Wien
len; es wird nie eine eindeutige Entscheidung geben – am 11./12. Dezember 1998 und Ausblick auf
nie wieder darauf verlassen können werden, daß sie die deutsche Präsidentschaft in der ersten
nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie ihr Jahreshälfte 1999
blutiges Handwerk zum Maßstab ihrer Politik gemacht
haben. – Drucksache 14/181 –
d) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
(Beifall im ganzen Hause)
Festigung und Fortentwicklung der Europäi-
Die Durchsetzung eines internationalen Strafrechts halte schen Union während der deutschen Ratsprä-
ich unter diesem Gesichtspunkt für einen der ganz sidentschaft im 1. Halbjahr 1999
wichtigen Schritte nach vorn.
– Drucksache 14/159 –
(B) Lassen Sie mich noch in aller Kürze einen zweiten (D)
Überweisungsvorschlag:
Gesichtspunkt anfügen: Menschenrechte müssen sich zu Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
Recht vor allem auf die Rechte von verfolgten und un- (federführend)
Auswärtiger Ausschuß
terdrückten einzelnen Menschen beziehen. Aber wir er- Innenausschuß
leben gerade jetzt in vielen Schwellenländern, daß der Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Versuch dieser Völker, wirtschaftlich aufzuschließen, Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
unter Inkaufnahme der Unterdrückung von Demokratie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
eben nicht erfolgreich sein kann. Deswegen wird es in Haushaltsausschuß
einer sich globalisierenden Welt eminent wichtig sein, e) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
daß gerade die reichen westlichen Demokratien alles
tun, um eine umfassende Kultur der Freiheit, begründet Forderungen an die deutsche EU-Ratsprä-
auf den Menschenrechten, im dialogischen Angebot sidentschaft im ersten Halbjahr 1999
durch- und umzusetzen, und daß die Gewaltenteilung, – Drucksache 14/165 –
das Wechselspiel von Regierung und Opposition, die
Menschenrechte einschließlich des Rechtes auf freie In- f) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
formation und eine kritische Öffentlichkeit und des Zukunft der EU-AKP-Entwicklungszusam-
Rechtes auf körperliche Unversehrtheit sowie demokra- menarbeit
tische und strafjustitielle Verfahrensrechte von der
– Drucksache 14/164 –
Staatsmacht beachtet werden. Dabei muß verstanden
werden, daß all dies mit einem unabhängigen Bankensy- Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
stem und einer freien Marktwirtschaft zusammengehört lung (federführend)
und beides getrennt voneinander nicht zu haben ist. In- Auswärtiger Ausschuß
soweit bedeutet die Durchsetzung der Menschenrechte Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
in einer sich globalisierenden Welt auch die Durchset- Zur Regierungserklärung liegen Entschließungsanträ-
zung von Demokratie. ge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
sowie der Fraktion der CDU/CSU vor.
Ich bedanke mich.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die beiden Entschließungsanträge jeweils nament-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der lich abstimmen werden. Wenn Sie nachher Ihre Stimm-
CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) karten den Stimmkartenfächern entnehmen, achten Sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 819
Präsident Wolfgang Thierse

(A) bitte darauf, daß die Abstimmungskarten Ihren Namen Meine Damen und Herren, ich halte es für einen gewal- (C)
tragen. tigen Fortschritt, daß Europa nicht nur als Markt, als Ort
ökonomischer Interaktion, begriffen werden kann, son-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dern mehr und mehr auch begriffen wird als ein Ort so-
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä- zialer und kultureller Interaktion, als ein Ort, an dem –
rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich sehe keinen Wi- nicht als Ersatz für nationale Anstrengungen, aber sehr
derspruch. Dann ist es so beschlossen. wohl als deren Ergänzung – auch über Beschäftigungs-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat politik gesprochen, gestritten und entschieden wird.
Bundeskanzler Gerhard Schröder. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Herr Präsident! der PDS)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ab dem 1. Ja- Beim 72. deutsch-französischen Gipfeltreffen in
nuar 1999 wird in Europa vieles nicht mehr so sein, wie Potsdam habe ich mit Staatspräsident Chirac und Mini-
es einmal war. Die Einführung des Euro stellt einen gro- sterpräsident Jospin die Position unserer beiden Länder
ßen Veränderungsprozeß in Europa dar. Kein Zweifel, zu den anstehenden Fragen abgestimmt. Auch diesmal –
europäische Unternehmen werden keine Wechselkursri- das hat gute Tradition – werden wir im engen Schulter-
siken mehr tragen müssen. Auch werden sehr viele Lei- schluß zwischen Deutschland und Frankreich handeln.
stungen und Preise und damit die dahinterliegenden
Standards vergleichbar. Das heißt, daß man nicht nur ei- Die Ziele unserer Präsidentschaft sind klar umris-
ne gemeinsame Geldpolitik von einer unabhängigen sen. Wir wollen erstens deutliche Fortschritte hin zu ei-
Zentralbank stabilitätsorientiert machen kann und darf, ner wirksamen Beschäftigungspolitik, einer Politik, die
sondern daß es darauf ankommen wird, auch andere Po- in eine Politik der Innovation und der ökologischen Mo-
litikbereiche besser als in der Vergangenheit zu koordi- dernisierung in Europa eingebettet ist, zweitens eine
nieren. bessere Bekämpfung des grenzüberschreitenden Verbre-
chens und klare Absprachen innerhalb Europas in der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frage der Zuwanderung nach Europa und drittens eine
der PDS) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen
Namen wirklich verdient und die – die Debatte heute
Ich möchte von Anfang an deutlich machen, daß die
morgen hat es deutlich gemacht – an den europäischen
Frage der besseren Koordination der Wirtschafts-, der
Werten des Friedens und der Menschenrechte ausge-
Finanz-, aber auch der Sozialpolitik nicht zuletzt über
richtet ist, aber auf ein effizientes Krisenmanagement
den dauerhaften Erfolg der neuen Währung entscheidet.
durchaus nicht verzichtet.
(B) Weil das so ist, erwarten die Menschen von der Poli- (D)
Vor allen Dingen aber geht es uns viertens darum, die
tik, daß der Umstellungsprozeß, der vor uns liegt, ge- Agenda 2000 erfolgreich abzuschließen.
steuert und sozial gerecht organisiert wird. Wir müssen
damit die Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Euro (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das wäre
ein Erfolg wird. Wir müssen – damit er ein Erfolg wer- etwas!)
den kann – dafür Sorge tragen, daß Europa sozialer, de- Ich weiß, daß das ein sehr ehrgeiziges Ziel ist. Aber
mokratischer und auch politisch handlungsfähiger wird. wenn wir für die kommende Finanzierungsperiode 2000
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS bis 2005 die notwendigen Voraussetzungen wirklich
90/DIE GRÜNEN) schaffen wollen, dann müssen wir schon aus technischen
Gründen die Agenda im März des nächsten Jahres abge-
Das sind die Vorzeichen, unter denen die Bundesre- schlossen haben. Bei meinen Gesprächen mit dem Prä-
publik im Januar 1999 die Ratspräsidentschaft in der Eu- sidenten der Kommission, Herrn Santer, und mit meinen
ropäischen Union übernimmt. Schwierige und sehr weit- Kollegen aus den Mitgliedstaaten habe ich den festen
reichende Entscheidungen liegen gerade in dieser Phase Eindruck gewonnen, daß diese Prioritäten auch in Brüs-
vor uns. Es geht nicht zuletzt darum, die Aufgaben, aber sel und in zahlreichen Hauptstädten erkannt werden.
auch die Lasten innerhalb der Gemeinschaft gerechter zu
verteilen. Es geht darum, die Politik der Union wirksa- Der europäische Einigungsprozeß steht und fällt –
mer, aber auch bürgernäher zu machen, um die nötige dessen bin ich sicher – mit der Unterstützung einer hin-
Legitimation für die Schaffung eines gemeinsamen Eu- reichend großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in
ropas zu erhalten. Es geht darum, die notwendigen den Mitgliedsländern. In Deutschland – darauf kann
Haushalts- und Strukturreformen nicht noch länger auf man stolz sein – ist die Zustimmung einer deutlichen
die lange Bank zu schieben. Mehrheit zu Europa ungebrochen. Die Menschen bei
uns wissen, daß Europa der Garant ist für die längste
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja, hier in Phase von Frieden und Stabilität in diesem, wie es die
Deutschland!) amerikanische Außenministerin Madeleine Albright ge-
nannt hat, „blutigsten Jahrhundert überhaupt“. Ich den-
Bereits morgen und übermorgen auf der Tagung des
Europäischen Rates in Wien werden wir die beschäfti- ke, wir können ebenfalls stolz darauf sein, daß unsere
gungspolitischen Leitlinien für 1999 verabschieden. Jugend längst europäisch denkt, fühlt und handelt. Die
Menschen genießen die offenen Grenzen, den freien
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Austausch von Waren und Ideen. Man kann sagen, daß
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Einigungswerk auf gutem Wege ist.
820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß in den prüfbare Ziele in den beschäftigungspolitischen Leitlini- (C)
letzten Jahren gerade auch diejenigen, die Europa als en verpflichten“.
Selbstverständlichkeit begreifen, den konkreten Prozeß
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Einigung mit gewissem Unbehagen sehen. Immer
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mehr Menschen – das gilt es zu erkennen, und dem gilt
PDS)
es, politisch entgegenzuwirken – nehmen „Brüssel“ als
anonymes bürokratisches Räderwerk wahr, Das ist eine wichtige Weiterentwicklung dessen, was
in Luxemburg und Amsterdam häufig genug gegen den
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Widerstand der früheren Regierung durchgesetzt werden
in dem nationale und regionale Eigenheiten – so ist ihre mußte.
Auffassung – zermalmt werden könnten. Diese Wahr- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist
nehmungen und Empfindungen haben wir ernst zu neh- das!)
men. Denn es geht dabei um mehr als um das Reinheits-
gebot beim Bier oder den Vertrieb von Rohmilchkäse. Bei dem, was wir formuliert haben, geht es uns vor
Unsere Bürgerinnen und Bürger wollen das auf europäi- allem darum, den Abbau der Jugend- und Langzeitar-
scher Ebene Erreichte ja nicht zurückdrehen. Aber Sie beitslosigkeit auch auf europäischer Ebene – ich sage
wollen jeden weiteren, von ihnen gelegentlich als Ein- noch einmal: das ist kein Ersatz, sondern eine Ergän-
mischung aus Brüssel begriffenen Integrationsschritt aus zung nationaler Maßnahmen – voranzubringen.
der Sache heraus verstehen und dann auch selbstbewußt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
billigen. Im Klartext heißt das: Europäische Integration
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
nach Maastricht und Amsterdam kann es nur noch im
PDS)
Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Mit-
gliedstaaten geben. Es geht uns darum, die Diskriminierung von Frauen auf
dem Arbeitsmarkt einzuschränken und, wo immer wir es
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
können, aufzuheben.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Auch die neue Bundesregierung tritt in der Europäi- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
schen Union für das Gebot der Subsidiarität ein. Das der PDS)
heißt, diejenige institutionelle Ebene soll eine Aufgabe
anpacken, die sie am besten – also am nächsten an den Wir schlagen dem Europäischen Rat in dem gemein-
Problemen – zu lösen imstande ist. Wirkliche Subsidia- samen Brief vor, schon auf dem morgigen Gipfel den
rität erweist sich aber in der Nähe zu den Problemen der Auftrag für einen Beschäftigungspakt in Europa zu er-
(B) Menschen. teilen, der dann in Köln unter deutscher Präsidentschaft (D)
beschlossen werden soll. Das verstehen wir unter aktiver
In den drängenden Fragen wollen die Menschen nicht Europapolitik, die die Nöte und Interessen der Men-
unbedingt weniger Europa, sondern mehr, weil sie er- schen in den Mittelpunkt stellt. Arbeit zu haben ist nun
kannt haben, daß zum Beispiel in der Frage der Be- einmal das zentrale Interesse der Menschen nicht nur in
schäftigung oder in der Frage des Umweltschutzes na- Deutschland, sondern in ganz Europa.
tionale Alleingänge an ihre Grenzen stoßen und deswe-
gen europäische Koordination auf die Tagesordnung eu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
ropäischer Politik gesetzt werden muß. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) Entgegen dem, was ich gelegentlich an Einwendun-
gen höre oder lese, erhalten wir für diese aktive Be-
Das gleiche gilt für die Felder der Außen- und Si- schäftigungspolitik auch auf europäischer Ebene die Zu-
cherheitspolitik oder für die wirksame Bekämpfung von stimmung unserer Partner in Europa und nicht ihre Ab-
Verbrechen. Das alles sind Felder europäischer Politik, lehnung.
auf denen sich die Union in Zukunft wird bewähren
müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit wird ein zentrales An- Es ist vielmehr so, daß sich jeder, der diesem Ansatz
liegen unserer Präsidentschaft sein. Auf dem Europäi- in Europa entgegentritt, in der europäischen Politik iso-
schen Rat in Wien werden wir die beschäftigungspoliti- liert. Das gilt es auch hier in diesem Hohen Hause zur
schen Leitlinien für das Jahr 1999 verabschieden. Ge- Kenntnis zu nehmen.
meinsam mit dem französischen Präsidenten Chirac ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
be ich zu diesem Thema einen Brief an den amtierenden 90/DIE GRÜNEN)
Ratspräsidenten, den Kollegen Viktor Klima, geschrie-
ben und unsere gemeinsame deutsch-französische Posi- Unter deutschem Vorsitz wollen wir die Initiativen,
tion formuliert: Die EU-Regierungen sollen sich – ich die in Wien auf den Weg gebracht werden, zu einem eu-
zitiere das ausdrücklich auch für die rechte Seite dieses ropäischen Beschäftigungspakt bündeln, und zwar – ich
Hauses; es besteht Übereinstimmung mit dem französi- sage es noch einmal – mit Zustimmung der Partner in
schen Präsidenten – „künftig auf verbindliche und nach- Europa.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 821
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Sicher werden die Instrumente einer supranationalen Es muß doch aufhören, daß wir unter einen doppelten (C)
Sozialordnung, die sich manche Philosophen vorstellen, Druck geraten. Es darf nicht sein, daß wir hohe Netto-
nicht im nächsten halben Jahr geschaffen werden kön- beiträge zahlen und gleichzeitig zusehen müssen, daß es
nen. Einstweilen weiß jeder, daß man in Brüssel Ar- in einem vereinten Europa, in einem Gemeinsamen
beitsplätze nicht wird backen können – genauso wenig Markt Steueroasen gibt, so daß Geld auf andere Weise
wie in Bonn oder anderswo. Wichtig ist uns jedoch, daß in Deutschland verlorengeht. Das kann doch nicht rich-
endlich das Thema der Beschäftigung, daß endlich das tig sein.
Thema der Überwindung der Ausbildungsnot junger
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Leute ein europäisches Thema wird.
Deshalb verstehe ich all diejenigen nicht, die etwas da-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
gegen haben, daß wir Front machen gegen Steuerdum-
GRÜNEN und der PDS)
ping in Europa. Es ist an der Zeit, daß das endlich ge-
Der Euro, von dem ich eingangs geredet habe, hat schieht.
seinen ersten Härtetest auf den Märkten bestanden.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Also doch!) GRÜNEN und der PDS)
Seine Akzeptanz in der Bevölkerung nimmt zu. Aber Dabei wissen wir, daß wir differenziert vorzugehen
wenn wir diesen Trend halten wollen, müssen wir uns haben. Bei den direkten Steuern geht es um Koordinati-
darüber im klaren sein, daß unsere Stabilitäts- und Kon- on, damit Steuerdumping und unfairer Wettbewerb ver-
solidierungsanstrengungen, die auch in Zukunft ohne mieden werden können. Bei den indirekten Steuern in-
Abstriche nötig sein werden, nur dann die Unterstützung dessen geht es auch um Harmonisierung, zum Beispiel
der Bürgerinnen und Bürger finden, wenn wir sie durch auf dem Gebiete des Umweltschutzes. Es ist richtig und
eine wirksame Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- finanzpolitisch geboten, daß wir die Ökologisierung des
und Sozialpolitik in Europa ergänzen. Das ist die Auf- Steuersystems, mit der wir national begonnen haben,
gabe, die in der nächsten Zeit vor uns liegt. auch auf der europäischen Ebene realisieren. Andere
sind weiter als wir, weil wir früher nicht so weit ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommen sind. Das ist eine Tatsache, die nicht bestreit-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der bar ist.
PDS)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Ein Stabilitätspakt ohne Beschäftigungspakt muß 90/DIE GRÜNEN)
auf Dauer wirkungslos bleiben. Wir müssen diesen Be-
schäftigungspakt genauso ernst nehmen, wie wir auch Arbeit billiger zu machen und dafür Ressourcenver-
(B) weiterhin die Verabredungen zur Stabilitätsorientierung brauch stärker zu belasten ist ein Prinzip, das nicht nur (D)
ernst nehmen werden. im nationalen Maßstab vernünftig ist. Nein, das muß im
europäischen Rahmen verwirklicht werden. Darum wer-
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Hoffent- den wir uns kümmern, auch und gerade während unserer
lich!) Präsidentschaft.
Die jüngsten Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
haben uns aber auch noch eine andere Tatsache verdeut- 90/DIE GRÜNEN)
licht, die Tatsache nämlich, daß der Euro mehr ist als
eine neue Deutsche Mark. Er ist Europas Antwort auf Ich will deutlich machen, daß wir ebenso den Vorsitz
die zunehmende Globalisierung, ein Mittel, das Wachs- in der G7-/G8-Gruppe führen werden. Auch diese Mög-
tum und Stabilität auf unserem Kontinent auch in Zu- lichkeiten wollen wir nutzen, zum Beispiel dadurch, daß
kunft sichern hilft. Das kann aber nur gelingen, wenn wir mit den Partnern in Europa und in der transatlanti-
auch in der Steuerpolitik Schluß mit nationalen Allein- schen Gemeinschaft an einer Finanzarchitektur arbeiten
gängen gemacht wird. und sie ins Werk setzen, die wirklich verhindern hilft,
daß durch Spekulanten ganze Volkswirtschaften ruiniert
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden und die Zeche dann die Steuerzahler, die kleinen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Leute im nationalen Maßstab zu bezahlen haben.
Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie tun es doch
hier!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
– Nun warten Sie doch erst einmal ab. – Um diese Frage
hat es in den letzten Tagen öffentliche Aufregung gege- Ein Jahrhundertwerk wie die europäische Einigung
ben, auch und gerade in der britischen Presse. Tony wird weder nach innen noch nach außen Bestand haben
Blair und ich haben daher gestern eine gemeinsame können, wenn die Union in ihren Strukturen nicht effizi-
Position zur EU-Steuerpolitik deutlich gemacht. ent ist, wenn sie ihre Mittel nicht wirksam und zielgenau
einsetzt und wenn die Lasten nicht halbwegs gerecht
Worum geht es? Es geht uns um den Kampf gegen unter ihren Mitgliedern verteilt werden.
unfairen Steuerwettbewerb.
Zu der Frage der Effizienz eine Bemerkung. Das, was
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir gegenwärtig über offenkundige Schwierigkeiten bei
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der der Verwendung von Geldern – um es sehr zurückhal-
PDS) tend zu sagen – und an Korruptionsvorwürfen lesen
822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) müssen, muß ohne Ansehen der Person aufgeklärt wer- oder Belgien – Länder also, die nach den Maßstäben des (C)
den. europäischen Eigenmittelberichtes über einen höheren
Pro-Kopf-Wohlstand verfügen als wir – Nettoempfänger
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sind, dann ist etwas in Unordnung geraten, was in Ord-
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nung gebracht werden muß.
der PDS)
(Beifall bei der SPD)
Wir unterstützen die Kommission ohne jede Einschrän-
kung bei ihrem Versuch, alles, aber auch wirklich alles Das sollte die Opposition nicht kritisieren, sondern sie
auf den Tisch zu legen, was es an Brüsseler Fehlent- sollte mithelfen, daß dies geschieht.
wicklungen in dieser Frage gegeben hat.
Wir können und wir wollen in Europa nicht eine Po-
(Zustimmung bei der SPD) litik fortsetzen, die sich das Wohlwollen unserer Nach-
barn mit Nettozahlungen gleichsam erkaufen will –
Effizienz, Haushaltsdisziplin und Gerechtigkeit sind Nettozahlungen, die dann im eigenen Lande zu uner-
für eine handlungsfähige Union so unverzichtbar wie träglichen Haushaltsbelastungen werden. Dies durchzu-
Demokratie und eine koordinierte Wirtschafts- und Au- setzen wird gewiß nicht einfach sein, weil es gilt, dies
ßenpolitik. Es wird zweifellos die schwierigste Aufgabe einstimmig herbeizuführen.
unserer Präsidentschaft sein, die Reform der Agrar-
und Strukturpolitik auf den Weg zu bringen. Dafür (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Eben!)
wollen wir für die Jahre 2000 bis 2006 einen vernünfti-
Die Lösung dieser Frage wird auf der Prioritätenliste,
gen und fairen Finanzrahmen vereinbaren. Diese drei
die wir aufgestellt haben, ganz oben stehen. Dabei wis-
unter dem Titel „Agenda 2000“ zusammengefaßten Re-
sen wir, daß der Zeitrahmen eng ist, und wir wissen na-
formvorhaben sind – dies gilt es zu erkennen – unerläß-
türlich auch, daß die Partner unterschiedliche Interessen
liche Voraussetzung dafür, daß die Europäische Union
haben. Denn unserem Verlangen nach mehr Beitragsge-
auch in Zukunft handlungsfähig sein wird.
rechtigkeit wird doch entgegengehalten: Was wollt ihr
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Geht das ein Deutschen denn, jenen 22 Milliarden DM hat doch eure
bißchen konkreter?) eigene Regierung 1992 zugestimmt!
Und auch das gilt es, sich klarzumachen: Der Abschluß (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ach!)
der Agenda ist auch die Voraussetzung dafür, daß man
– Natürlich war das so, Herr Kohl. Sie haben dem zuge-
ernsthaft über die Aufnahme neuer Mitglieder verhandeln
stimmt. Wir müssen jetzt sehen, daß wir dies Schritt für
kann. Wenn das nicht gelingt, wird auch das andere Ziel
Schritt wegräumen.
(B) weit schwieriger zu realisieren sein, wenn überhaupt. (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Zustimmung bei der SPD)
90/DIE GRÜNEN)
Ich sage in diesem Zusammenhang ganz deutlich:
Wir werden das nur schaffen können, wenn wir errei-
Ohne eine größere Beitragsgerechtigkeit werden sich chen, daß sich alle Partner in Europa bewegen, daß alle
die Menschen in unserem Land von Europa eher entfer- Fragen, die bei der Agenda gelöst werden müssen, auf
nen als ihm weiter zuzustimmen. Sie sind nur für die
den Tisch kommen.
Integration zu gewinnen, wenn die Lasten in Europa fair
verteilt werden. Wenn ich darauf hinweise, ist das gegen Die Kommission hat in ihrem Eigenmittelbericht ver-
keinen unserer Partner gerichtet – das wird auch so ver- schiedene Optionen zur Lösung dieser Frage offenkun-
standen –, sondern dient nur der Klarstellung der Tatsa- dig gemacht. Keine dieser Optionen – von der Kofinan-
che, daß man Deutschland überfordert, wenn man Bei- zierung bis zum britischen Beitragsrabatt – darf tabui-
tragsgerechtigkeit verwehrt. siert werden. Alle müssen auf den Tisch. In den Ver-
handlungen zum März des nächsten Jahres hin muß ein
Ich will ein paar Zahlen nennen, die klarmachen sol- fairer Ausgleich der Interessen gefunden werden.
len, worum es geht: 1997 hat Deutschland etwa 22 Mil- Deutschland weiß – das haben wir den europäischen
liarden DM netto in die Europäische Union eingezahlt. Partnern klargemacht –, daß wir in den Verhandlungen
Das heißt, wir haben 22 Milliarden DM mehr an die EU nicht auf einen Lottogewinn hoffen können, daß sich die
überwiesen, als wir an Leistungen aus der Gemein- Herstellung von Beitragsgerechtigkeit Schritt für Schritt
schaftskasse erhalten haben. Als Vergleich will ich nur vollziehen wird und daß die Interessen der Partner, wo
nennen: Der zweitgrößte Nettozahler nach Deutschland immer sie auch liegen, berücksichtigt werden müssen.
sind die Niederlande mit einer Nettolast von 4,5 Milliar- Aber die Partner müssen verstehen, daß auch Deutsch-
den DM. Deutschland kommt damit allein für 60 Pro- land einen Anspruch auf Fairneß hat. Diesen werden wir
zent der Nettozahlungen im europäischen Haushalt auf. in den Verhandlungen deutlich werden lassen.
Nun wissen wir, daß die Europäische Union keine (Beifall bei der SPD)
Bank ist, bei der man Geld anlegt und auf möglichst
gute Verzinsung hofft. Wir haben uns in den EU- Um dies zu erreichen, werden wir die Strukturförde-
Verträgen – und dazu stehen wir – zur Solidarität mit rung konzentrieren müssen. Vor allen Dingen werden
den schwächeren Mitgliedsländern verpflichtet. Aber es wir dafür sorgen müssen, das sich die Haushaltsmittel
gilt auch, ganz selbstbewußt und interessengerecht klar- am Durchschnitt der Jahre 1995 bis 1999 orientieren. Es
zumachen: Wenn Länder wie Luxemburg, Dänemark muß deutlich werden, daß der europäische Haushalt auf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 823
Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) keinen Fall schneller wachsen darf, als es bei den natio- Unter Ihrer Regierung ist den Polen versprochen wor- (C)
nalen Haushalten der Fall ist. den: Im Jahr 2000 seid ihr in der EU. Das war ein Ver-
sprechen, das aus ökonomischen Gründen nicht haltbar
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!)
sein wird. Damit haben Sie Probleme verursacht, die wir
Das ist das, was wir durchsetzen müssen. jetzt lösen müssen. Das ist der Tatbestand!
Dann werden wir dafür sorgen, daß die neuen Bun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
desländer in der ersten Förderstufe bleiben. Wir werden 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der
dafür eintreten, daß den Forderungen der Ministerpräsi- CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]:
denten Rechnung getragen wird. Sie fordern zum Bei- Eine solche Verdrehung! Sie sind ein Verdre-
spiel, daß es in den Ziel-2-Gebieten mehr Möglichkeiten hungskünstler!)
der regionalen Förderung geben muß. Wir brauchen hier
Spielraum für eine eigenständige Regionalförderung. Wir haben gesagt: Wir wollen die EU-Ost-
Mehr und mehr wird das auch von unseren Partnern in erweiterung, und wir wollen die Voraussetzungen dafür
Europa verstanden. schaffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weite- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wann?)
res Ziel, das wir während unserer EU-Ratspräsident- – Diese Frage „Wann?“ zeigt den völlig törichten Um-
schaft verfolgen wollen, ist die Schaffung dessen, was gang mit diesem Problem.
man die europäische außen- und sicherheitspolitische
Identität nennt. Der britische Premierminister Tony Blair (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
hat in Pörtschach auf dem letzten Gipfel interessante Wir stehen am Anfang eines Verhandlungsprozesses,
Vorschläge dazu gemacht. der ungeheuer kompliziert ist und für den erhebliche Fi-
(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto nanzmittel erforderlich sind. Wer sich in der Lage sieht,
Solms) zu Beginn eines solchen Prozesses, der hochkompliziert
ist und dessen zeitliche Abfolge man am Beitritt Portu-
Bei den deutsch-französischen Konsultationen ist
gals und Spaniens studieren kann und sollte, jetzt ein
deutlich geworden, daß die Schaffung einer ihrem Na-
konkretes Datum zu nennen, macht einen großen Fehler.
men wirklich gerecht werdenden Außen- und Sicher-
heitspolitik in Europa von Deutschland, von Frank- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
reich und von Großbritannien zusammen angestrebt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
werden soll. Wir brauchen diese Gemeinsamkeit inner-
Ich halte es nur für redlich, den derzeitigen Beitritts-
halb der NATO – nicht gegen irgend jemanden gerich-
kandidaten zu sagen: Wir wollen, daß diese Verhand-
tet, sondern um Außen- und Sicherheitspolitik in Europa
(B) wirksamer als in der Vergangenheit betreiben zu kön- lungen zügig geführt werden. Wir wollen, daß parallel (D)
zu diesen Verhandlungen die Institutionenreform voran-
nen. Deswegen werden wir das, was dazu in Großbri-
gebracht wird; denn ohne diese Reform wird es unge-
tannien formuliert worden ist, zum Beispiel den Ver-
heuer schwierig sein, neue Mitglieder in die EU aufzu-
such, die Strukturen der WEU in die EU zu integrieren,
nehmen. Weil wir beides wollen und weil nicht voraus-
um Europa in der Außen- und Sicherheitspolitik auf die-
sehbar ist, wann beides erreicht sein wird, ist es unsin-
se Weise handlungsfähiger zu machen, mit aller Kraft
nig, ständig neue Daten in die Welt zu setzen. Das scha-
unterstützen.
det dem Vertrauen nur; es nutzt ihm überhaupt nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, deut- Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNE])
lich zu machen, wie wichtig es uns ist, die Vorausset-
zungen für die Erweiterung der EU zu schaffen. Wir Die Partner in Osteuropa wissen, daß wir aus ökono-
nehmen das Thema, daß die EU nicht an der deutschen mischen, aber vor allen Dingen aus politischen Gründen
Ostgrenze aufhören darf, sehr ernst. Wir haben den dafür sind, über die Beitrittswünsche zügig zu verhan-
Partnern in Polen, in Tschechien, in Ungarn und an- deln. Sie vertrauen auch darauf, daß Deutschland – was
derswo immer erklärt, daß Deutschland ein verläßlicher ich ausdrücklich zusichere – Anwalt der Interessen der
Anwalt der Erweiterung sein wird. Beitrittskandidaten bleibt.
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Dafür müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sen Sie mehr tun!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Genau! Da müssen wir in der Tat mehr tun, zum Bei- Wir tun das aus ökonomischen und politischen Grün-
spiel dafür sorgen – was ich formuliert habe –, daß es in den. Wir tun das aber auch – es liegt mir daran, das klar-
Europa eine Finanzstruktur gibt, die einen Beitritt auch zumachen – vor dem Hintergrund einer in Deutschland
ermöglicht. Das haben Sie in der letzten Zeit doch ver- stattfindenden aktuellen Debatte: Wir tun das auch, weil
säumt. Sie haben zwar darüber geredet, aber nicht wirk- wir wissen, was wir beispielsweise den Polen aufgrund
lich etwas getan. Das ist doch das Problem, vor dem wir unserer Geschichte an Solidarität schulden. Wir wissen
stehen. das, und wir werden das auch in Zukunft nicht verges-
sen. Darauf können sich die Menschen dort und die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS politisch Tätigen verlassen.
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS – Widerspruch des Abg. Dr. Helmut (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Haussmann [F.D.P.]) 90/DIE GRÜNEN)
824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundeskanzler Gerhard Schröder

(A) Wir werden diese Beitrittswünsche auch deshalb ohne Europäische Politik und europäische Entscheidungen (C)
Wenn und Aber unterstützen, weil wir wissen, was die werden auch für den Alltag unserer Bürger immer wich-
Reformkräfte in diesen Ländern für Deutschland getan tiger. Deswegen ist es im Sinne von politischer Führung
haben, als es um die Herstellung der deutschen Einheit und Verantwortung notwendig, daß wir Sinn und Be-
gegangen ist. deutung alternativer Positionen in der europäischen
Politik im Deutschen Bundestag debattieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich brauchen wir auf dem Weg der Reform der
Institutionen der Europäischen Union auch eine Stär-
Dies alles verpflichtet uns, Anwalt der Interessen der
Menschen in diesen Ländern zu sein. Aber wir werden kung des Europäischen Parlaments, klarere Kompeten-
zen und mehr Transparenz. Aber da wir wissen – wenn
keine Illusionen in die Welt setzen, sondern wir werden
wir Realisten sind –, daß wir auf lange Zeit eine euro-
die Realitäten deutlich machen, an denen wir uns bei der
Unterstützung der Beitrittswünsche orientieren. päische Öffentlichkeit in dem Sinne, wie wir sie als
Grundlage nationaler Debatten, nationaler Entscheidun-
Meine Damen und Herren, das, was wir jetzt in Wien gen und im Ringen um Mehrheiten kennen, nicht haben
auf den Weg bringen wollen und was wir dann unter werden, brauchen wir auf Grund der Bedeutung europäi-
deutscher Präsidentschaft abschließen wollen, ist gewiß scher Politik auch im nationalen Parlament Debatten
ein schwieriges Unterfangen. Es geht in erster Linie dar- über das Für und Wider der europäischen Politik und über
um, für den nächsten Fünfjahreszeitraum die Finanzie- konkrete Entscheidungen, um den Menschen Alternativen
rungsgrundlagen und damit die Politikgrundlagen der klarzumachen, um für Zustimmung zur europäischen
Europäischen Union herzustellen. Politik zu werben, um die Menschen auf diesem Weg
Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung weiß sehr mitzunehmen und um Europa mit seinen Fortschritten
wohl, daß es gerade in den Finanzierungsfragen unter- und mit seinen ungeheuren Erfolgen auch zu erklären.
schiedliche Interessen gibt. Sie weiß sehr wohl, daß man Deswegen fand ich es beklagenswert, Herr Bundes-
das Ziel, Beitragsgerechtigkeit zu erreichen, nur Schritt kanzler, daß Sie im ersten oder zweiten Satz Ihrer Re-
für Schritt wird durchsetzen können. gierungserklärung den Beginn der Europäischen Wäh-
Aber, meine Damen und Herren, wenn wir das nicht rungsunion nur als einen „Veränderungsprozeß“ be-
jetzt beginnen, wenn wir nicht deutlich machen, daß Le- schrieben haben. Ich finde, sie ist ein großer, ein histori-
gitimation für Europa auch mit Beitragsgerechtigkeit zu- scher Erfolg für die Menschen in Europa.
sammenhängt und daß die Institutionenreform und die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Herstellung der Finanzierungsgrundlagen Voraussetzun-
gen dafür sind, die Beitrittswünsche zügig und materiell Die europäische Einigung – darüber sind wir uns ei-
(B) abgesichert zu realisieren, wenn wir all das nicht deut- nig – ist das wichtigste Projekt in der zweiten Hälfte (D)
dieses Jahrhunderts. Sie hat zusammen mit der atlanti-
lich machen und unter unserer Präsidentschaft nicht in
Entscheidungen einmünden lassen, dann verfehlen wir schen Partnerschaft – übrigens auch im Hinblick auf das,
was wir soeben zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Er-
das Ziel, Europa und damit auch Deutschland zu stär-
klärung der Menschenrechte diskutiert haben – Frieden,
ken. Beide Ziele aber haben wir. Deswegen werden wir
uns anstrengen und sind für die Unterstützung des Hau- Freiheit, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Stabilität,
Wohlstand und soziale Sicherheit für diesen Teil Euro-
ses sehr dankbar.
pas und für unser deutsches Vaterland in einem Maße
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall ermöglicht, wie es vor 50 Jahren von niemandem für
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei möglich gehalten worden wäre.
Abgeordneten der PDS)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Unruhe im Saal)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich er- Sie bleibt auch im kommenden Jahrhundert das
öffne die Aussprache. Das Wort hat der Vorsitzende der wichtigste Projekt für eine Zukunft in Frieden, Gerech-
CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang Schäuble. tigkeit und Stabilität. Das gilt wirtschaftlich, und die Eu-
ropäische Währungsunion hat in den Turbulenzen auf
den Finanzmärkten in diesem Jahr ihre Feuer- und Be-
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi-
währungsprobe bereits bestanden. Wir hätten in diesem
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist
Jahr eine viel weniger stabile wirtschaftliche und finan-
gut, daß wir vor dem Europäischen Rat in Wien heute
zielle Entwicklung bei all den Verwicklungen in Asien,
auf der Grundlage der Regierungserklärung des Bundes-
in Rußland und in anderen Teilen dieser Erde gehabt,
kanzlers diese Debatte haben. Wir haben als CDU/CSU-
wenn wir nicht bereits die Europäische Währungsunion
Fraktion lange darauf drängen müssen, daß sie heute
gehabt hätten.
stattfindet.
(Anhaltende Unruhe)
(Widerspruch bei der SPD)
Das ist der Beweis: Die Währungsunion ist der richtige
– Ja, natürlich; so war der Ablauf gewesen.
Weg, um wirtschaftliche Stabilität für die Menschen in
(Beifall bei der CDU/CSU) unserem Lande zu sichern.
Aber es ist gut und notwendig, daß wir heute diese De- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
batte haben. ordneten der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 825

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr nichts zu sagen. Vielleicht scheint es Ihnen auch nicht (C)
Kollege Schäuble, bitte einen kleinen Moment! – Liebe wichtig genug. Mir ist jedenfalls wichtig zu sagen: Zu
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch darum, etwas den schwierigsten Reformvorhaben im Rahmen der
mehr Ruhe zu wahren und insbesondere die Gespräche Agenda 2000 gehört die Agrarpolitik, und wir müssen
im Stehen außerhalb des Plenarsaals zu führen. die Agrarpolitik so reformieren, daß die deutschen
Landwirte auch in Zukunft die Chance auf Lebensfähig-
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: keit haben. Das muß gesagt werden!
Auch auf der Regierungsbank! Unglaublich! –
Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Organisierte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Störung! – Hannelore Rönsch [Wiesbaden]
Eine Regierung, die am Tag vor dem Europäischen
[CDU/CSU]: Telefonieren von der Regie-
Rat in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers kein
rungsbank mit dem Handy! Unglaublich!)
Wort zur Agrarpolitik sagt, gerät in Verdacht, daß sie
die Interessen der deutschen Landwirtschaft und des
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): – Ach, Frau ländlichen Raums in Deutschland in der europäischen
Kollegin Rönsch, es ist so, und jeder sieht es. Politik und bei ihrer Ratspräsidentschaft nicht hinrei-
chend wahrnimmt. Sonst hätten Sie dazu ein Wort sagen
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Flegelhaft!) müssen!
Mir liegt jedenfalls daran, Herr Bundeskanzler, deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
lich zu machen, daß es vielleicht richtig gewesen wäre – ordneten der F.D.P. – Widerpsruch bei der
gerade auch im Rahmen Ihrer persönlichen Verantwor- SPD)
tung und auf Grund des vorangegangenen eigenen Tuns
und Redens –, wenn Sie heute als jemand, der in seinem Natürlich haben Sie ein ungeheuer schwieriges Pro-
früheren Amt als Ministerpräsident geradezu der Prota- gramm vor sich. Das gilt für jede deutsche Präsident-
gonist derjenigen gewesen ist, die die Skepsis gegenüber schaft, wer immer regiert. Sie regieren. Natürlich wer-
der Europäischen Währungsunion systematisch geför- den Sie am Ende der deutschen Präsidentschaft auch
dert haben, gesagt hätten: Ich habe nicht recht gehabt. Kompromisse schließen müssen. Dafür haben Sie heute
Der Euro hat sich bewährt. Ich stelle mich auf die schon geworben. In Ordnung! Es geht nicht anders in
Grundlage dieser Entscheidung. einer Union. Nur, Herr Bundeskanzler, wenn Sie für die
Notwendigkeit von Kompromissen am Ende Ihrer Präsi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – dentschaft heute schon für Verständnis werben – dieses
Zuruf von der SPD: Stoiber!) Verständnis unterstütze ich als Führer der Opposition –,
Auch die Osterweiterung ist nicht nur im Interesse so müssen Sie natürlich mit Kompromissen, die Ihre
(B) der Beitrittskandidaten. Wenn wir begreifen, warum Eu- Vorgängerregierung erfolgreich geschlossen hat, anders (D)
ropa in diesen 50 Jahren so wichtig gewesen ist, und umgehen, als Sie es in Wort und Inhalt bezüglich des
wenn wir daraus die richtigen Konsequenzen für die Edinburgh-Gipfels tun. Das ist doch unglaublich!
nächsten 50 Jahre ziehen, dann ist es die allerwichtigste (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Aufgabe, daß es gelingt, ganz Europa zu einem Konti-
nent von Frieden, Stabilität, wirtschaftlicher, demokrati- Sie reden – dabei sind Sie vom Manuskript abgewichen,
scher, sozialer und ökologischer Entwicklung zu ma- und dann wird es nicht mehr so staatsmännisch, dann
chen. Durch den Beitritt unserer Nachbarn in Osteuropa klingt es fast so wie vor zwei Tagen in Saarbrücken,
die Überwindung der europäischen Spaltung, die worauf wir noch zu sprechen kommen – hier so, als
1989 mit dem Fall von Mauer und Stacheldraht begon- hätten der Bundeskanzler Kohl und die frühere Regie-
nen hat, zu vollenden, das ist das wichtigste Projekt, rung im Jahre 1992 nicht im deutschen Interesse in Eu-
auch und gerade im deutschen Interesse, meine Damen ropa gehandelt. Ich sage Ihnen: Die Zustimmung Eu-
und Herren. ropas zur deutschen Einheit zu erreichen war eine der
größten Leistungen von Bundeskanzler Kohl und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) früheren Regierung. Natürlich mußten dazu in Edin-
Natürlich ist es richtig, unbestritten und unbestreitbar, burgh Kompromisse geschlossen werden.
daß dazu nicht nur in den Beitrittsländern die Vorausset- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zungen geschaffen werden müssen, sondern daß dazu
auch die Europäische Union ihren Reformprozeß be- Sie haben das Ergebnis doch damals begrüßt. Der SPD-
wältigen muß: die Agenda 2000, Finanzreform, Reform Vorsitzende war damals noch Björn Engholm. Er hat er-
der Strukturpolitik, Reform der Agrarpolitik. Herr Bun- klärt – ich habe die Presseerklärung einmal mitgenom-
deskanzler, es ist ein wenig aufgefallen, daß Sie zum men –: Der Gipfel von Edinburgh hat einen Kollaps ver-
Thema Agrarpolitik, zu einem der wichtigsten und hindert. Die nationalen Regierungen haben bei ihren In-
schwierigsten Reformvorhaben der deutschen Präsident- teressen vorläufig untereinander auf einen konsensfähi-
schaft, nicht ein einziges Wort gesagt haben. gen Kompromiß abgestellt. – Herr Bundeskanzler, ste-
hen Sie zu dem, was Sie damals selbst auch im Bundes-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rat unterstützt haben. Es war ein Kompromiß, und er war
Im geschriebenen Text, dem Entwurf Ihrer Regierungs- richtig im deutschen Interesse. Er hat erreicht, daß die
erklärung, ist es enthalten, aber da das gesprochene ostdeutschen Länder in die EU-Förderung einbezogen
Wort gilt, fehlt es. Es wurde kein Wort zur Agrarpolitik worden sind. Eine große Leistung! Wenn Sie heute mit
gesagt. Hochinteressant! Vielleicht haben Sie dazu einem solchen Kompromiß so umgehen, dann sage ich
826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Ihnen: Verzichten Sie lieber auf die deutsche Präsident- tannien ausgelöst. Daran gibt es doch überhaupt keinen (C)
schaft! Sie werden niemals ein Ergebnis erreichen, das Zweifel.
Ihren Maßstäben gerecht werden kann. Das ist der
Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Die Vorstellung, in Europa durch die Gemeinschaft der
Lachen bei der SPD) Sozialisten und Sozialdemokraten immer mehr zu re-
glementieren und zu regulieren, entspricht nicht den
Wenn die Aufgabe schwierig ist – und das ist sie für Vorstellungen nicht nur der Christlich Demokratischen
jede deutsche Regierung, wer immer regiert –, dann, Union, sondern auch vieler, die in Europa stärker auf die
finde ich, Herr Bundeskanzler, sollten Sie sich diese Kräfte der Freiheit vertrauen.
Aufgabe nicht zusätzlich erschweren. Das, was Sie und
andere herausragende Mitglieder – von der Position her Der Bundesaußenminister trägt für sich selbst und im
herausragende Mitglieder – Ihrer Regierung in den letz- übrigen auch für seinen Staatsminister – damit das klar
ten Tagen und Wochen gemacht haben, hat Ihre Aufga- ist, Herr Fischer – die Verantwortung. Entweder Sie
be in der deutschen Präsidentschaft erheblich erschwert, müssen ihn entlassen, oder Sie müssen ihn wenigstens
und das schadet den deutschen Interessen. zur Ruhe bringen. Ihre Kompromisse zwischen Realos
und Fundis können Sie auf Parteitagen der Grünen ma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen; in Verantwortung für die Bundesrepublik
Der Herr SPD-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Deutschland geht das nicht.
hat ja dieser Tage den Satz gesagt – den muß man sich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
auf der Zunge zergehen lassen –: Selten hat eine Regie-
rung einen solchen Start hingelegt. – Herr Lafontaine, Wenn man von den deutschen Beamten des auswärti-
wo Sie recht haben, haben Sie recht. Das ist gar keine gen Dienstes in diesen Tagen des NATO-Rates aus
Frage. Brüssel – und die haben Sie ja wirklich nicht mit einem
Mangel an Loyalität empfangen; da gibt es nichts zu
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und kritisieren – lesen und hören konnte, mühsam habe man
der F.D.P.) erreicht, daß Deutschland unter den Europäern auch in
Selten hat eine Regierung in so wenigen Tagen soviel Fragen der Sicherheitspolitik als gleichberechtigt aner-
Unsinn und soviel Chaos angerichtet, soviel korrigieren kannt werde, und jetzt sei man durch den unseligen Vor-
müssen. Sie haben ja inzwischen schon mehr korrigiert, stoß des Bundesaußenministers wieder in die zweite
als Sie von Ihren Ankündigungen überhaupt auf den Reihe zurückgeworfen,
Weg gebracht haben. Das ist doch die Wahrheit. (Zuruf von der SPD: Wer sagt das denn?)
(B) (D)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
dann ist das doch nur die Kommentierung eines Vor-
der F.D.P.)
ganges, den es unter dem Bundeskanzler Kohl nicht ge-
Das gilt nicht nur für die Wirtschafts-, Finanz- und geben hätte:
Sozialpolitik, auch für die Gesundheitspolitik – die De-
batte zwischen Herrn Dreßler und Frau Fischer ist ja nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ein neues Beispiel dafür –, nein, viel schlimmer ist, daß daß nämlich der britische Premierminister und der fran-
Sie, Herr Bundeskanzler, in wenigen Wochen das Anse- zösische Staatspräsident sich in Saint Malo treffen, eine
hen Deutschlands erheblich beschädigt haben, neue Initiative zur Sicherheitspolitik in der Europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – schen Union miteinander verabreden und daß Deutsch-
Widerspruch bei der SPD) land dabei nicht beteiligt ist. Wir haben in 50 Jahren er-
reicht, daß wir darüber hinweg sind, und Sie haben es in
daß Sie das Vertrauenskapital, das alle Regierungen in vier Wochen geschafft, daß wir wieder zurückfallen.
50 Jahren Schritt für Schritt aufgebaut haben, in einer Deswegen sage ich: Sie schaden Deutschland! Sie nüt-
Weise gefährden, wie es völlig inakzeptabel ist und wie zen den deutschen Interessen nicht, sondern Sie schaden
ich mir auch nicht vorgestellt habe, daß das in wenigen Deutschland.
Wochen geschehen könnte. Ich nenne ein paar Beispiele.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(Zurufe von der SPD) Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch sel-
– Ja, schreien Sie nur! Das hören Sie nicht gerne. ber nicht!)

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer schreit Glauben Sie wirklich, daß Sie in Frankreich mit Ihren
denn? – Weitere Zurufe von der SPD: Wir ru- Alleingängen in der Energiepolitik Zustimmung finden?
fen dazwischen! – Rezzo Schlauch [BÜND- Da nützt alle Genossensolidarität nichts. Glauben Sie
NIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Land lebt wirklich, daß Sie mit der Art, wie Sie in Form und Inhalt
der Mann?) vor zwei Tagen auf dem Kongreß Ihrer Partei in Saar-
brücken gesprochen haben, den deutschen Interessen
Der Bundesfinanzminister hat mit seinen Vorstößen, nützen? Sie appellierten populistisch an vermeintliche
die Unabhängigkeit von Notenbanken, von Bundes- Interessen in Deutschland, indem Sie in einer ganz ande-
bank wie Europäischer Zentralbank, in Frage zu stellen, ren Sprache als hier im Deutschen Bundestag redeten.
ganz vorsichtig gesagt, große Irritationen nicht nur in
Deutschland, sondern beispielsweise auch in Großbri- (Zuruf von der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 827
Dr. Wolfgang Schäuble

(A) – Wenn die Agenturmeldungen stimmen, haben Sie Wir kennen Sie aber nun. Solange Sie Regionalpoliti- (C)
doch in Saarbrücken gesagt, die Zeiten seien vorbei, in ker in Hannover waren, haben Sie auf die Frage, warum
denen jede Krise in Europa durch den Griff in die Kasse die Jugendarbeitslosigkeit in Niedersachsen doppelt so
des deutschen Steuerzahlers gelöst werden könne. hoch wie in Bayern oder Baden-Württemberg sei, ge-
antwortet, Sie verfügten nicht über die Makroökonomie.
(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS Jetzt sind Sie Bundeskanzler, also in Ihrer Vorstel-
90/DIE GRÜNEN]: Stoiber!) lungswelt für die Makroökonomie zuständig. Jetzt aber
Glauben Sie wirklich, daß Sie so den deutschen Interes- sagen Sie, Brüssel sei dafür verantwortlich, um heute
sen dienen, Herr Bundeskanzler? Mit diesem unverant- schon das Alibi und die Ausrede für Ihre Mißerfolge zu
wortlichen populistischen Gerede schaden Sie den deut- konstruieren.
schen Interessen. Das ist der Punkt! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ich füge gleich hinzu: Ich bin grundsätzlich gegentei-
Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS liger Auffassung. Ich glaube, wir werden in dieser Welt
90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie Herrn der Globalisierung, der ungeheuer schnellen Verände-
Stoiber auch einmal erzählen!) rungen, in der sich durch die wirtschaftliche Wettbe-
– Der Bayerische Ministerpräsident redet niemals ver- werbssituation am Arbeitsmarkt die Dinge so rasant ver-
antwortungslos, sondern immer sehr verantwortungsbe- ändern, in einer Welt im Übergang zur Dienstleistungs-
wußt. gesellschaft und ins Informationszeitalter die Probleme
gerade nicht lösen, wenn wir die Lösung bei immer hö-
(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD heren und zentralistischen bürokratischen Ebenen und
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Regulierungen suchen, sondern nur, indem wir die
– Sie werden nicht einen einzigen anderen Satz finden. Kräfte der Freiheit, der Vielfalt, der Ideen, der Kreati-
vität, der Nähe und Eigenverantwortung sowie der frei-
Wenn wir aber schon dabei sind, Herr Bundeskanzler, willigen Solidarität mobilisieren. Deswegen ist alles das,
Herr Ministerpräsident außer Diensten: Ich finde es was Sie in Konsensrunden konstruieren, zwar Ihr gutes
schon bemerkenswert, daß Sie vier Wochen, nachdem Recht, aber es entbindet die Menschen nicht von ihrer
Sie nicht mehr Ministerpräsident sind, als Bundeskanz- eigenen Verantwortung.
ler den Ministerpräsidenten eines der größten und er-
folgreichsten Bundesländer zum Regionalpolitiker erklä- Sie schauen jetzt nach Brüssel und auf einen europäi-
ren. Was sind Sie eigentlich bis vor vier Wochen gewe- schen Beschäftigungspakt – und was dergleichen
sen, Herr Schröder? Schlagworte mehr sind. Gleichzeitig machen Sie eine
Steuer- und Abgabenpolitik, die die Freiräume für
(B) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Mittelstand und Unternehmen weiter verringert. Gleich- (D)
der F.D.P.) zeitig machen Sie eine Politik, die die einzelnen von der
Damit komme ich gleich zum nächsten Punkt. Ich Vorsorge, von der Solidarität und der sozialen Fürsorge
finde auch bemerkenswert, wie Sie einen Widerspruch für andere entbinden soll, also die bürgernähere Ebene
schaffen. Heute haben Sie im Gegensatz zu Ihrer Regie- schwächen soll. Gleichzeitig machen Sie eine Politik, in
rungserklärung vor ein paar Wochen sogar das Wort der es nur noch um die Vertreter großer Interessen und
Subsidiarität verwendet. Was Sie dazu allerdings an um die Verteidigung großer Besitzstände geht. Der
Inhalten gesagt haben, war so unverbindlich wie alles, Glaube, man könne, indem man die Menschen alle mit
was Sie bisher an Regierungserklärungen abgegeben ha- 60 in Rente schickt, die Probleme der Beschäftigung lö-
ben. sen und die Zukunft gewinnen, ist doch absurd. Es ist
genau die falsche Richtung. Nicht mehr Regulierung
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wie der und Zentralismus, sondern mehr Freiheit, Eigenverant-
ganze Mensch!) wortung, Kreativität und Subsidiarität sind der bessere
In der Sache selber gibt es allerdings einen Wider- Weg, um die Zukunftsprobleme zu meistern.
spruch, und darauf möchte ich aufmerksam machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Natürlich formulieren Sie es in Ihrer heutigen Regie-
rungserklärung vorsichtig – das ist ja auch die Aufgabe Zugestanden, Sie werden von uns am Ende der deut-
von Apparaten und Ministerien; das ist in Ordnung –, schen Präsidentschaft im Juni fairer beurteilt werden, als
aber die Wirkung, die Sie mit dem, was Sie europäische Sie mit den Erfolgen und Leistungen von Helmut Kohl
Beschäftigungspolitik und europäischen Beschäfti- und der früheren Regierung umgegangen sind. Das sage
gungspakt nennen, erzielen wollen, ist doch die, daß die ich Ihnen schon heute zu. Wir wissen, daß man Kom-
Menschen glauben sollen, in Zukunft sei Europa, sei die promisse in Europa schließen muß. Wer europäische
Europäische Union für den Arbeitsmarkt und die Be- Einigung will, der kann nicht mit dem Kopf durch die
schäftigung zuständig; und wenn die Arbeitslosigkeit Wand und kann nicht sagen: Am deutschen Wesen soll
nicht zurückgeht, ist Europa daran schuld. Daß die Men- die Welt genesen. Er sollte aber auch nicht sagen: Die
schen das glauben, ist doch Ihre Absicht. deutsche Kasse steht nicht mehr wie in der Vergangen-
heit für die Lösung von Krisen in Europa zur Verfü-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – gung; vielmehr sollte er weiter zur Solidarität bereit
Zuruf von der SPD: Er hat nicht zugehört!) sein.
828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Sie machen nach meiner Überzeugung einen großen mitnehmen. Geben Sie es auf, zu glauben, Rotgrün (C)
Fehler, wenn Sie glauben, Sie müßten mit Ihrem Reden könnte jetzt in Deutschland und Europa durchmarschie-
an Instinkte von Teilen in unserer Bevölkerung appellie- ren! Sie werden schnell scheitern. Das wäre nicht meine
ren, die gegenüber europäischen Entwicklungen skep- größte Sorge. Aber meine Sorge ist, daß Sie auf diesem
tisch sind. Wege den deutschen Interessen schaden. Das ist eine
Gefahr für Deutschland.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Damit nützen Sie den deutschen Interessen nicht, auch
wenn Sie es noch so lautstark im Mund führen; vielmehr Der beste Weg für Deutschland am Ende dieses Jahr-
schaden Sie den deutschen Interessen. Es ist viel besser, hunderts und an der Schwelle zum kommenden Jahr-
wir blieben in Europa integrations- und kooperationsfä- hundert – das muß man immer und immer wieder sagen,
hig und wir könnten in Europa mit unseren Partnern Zu- und dafür muß man auch handeln und stehen, auch wenn
stimmung für unsere Vorstellung gewinnen, als daß wir es schwierig ist – ist, daß wir den Weg von Integration
mit unverantwortlichen Redereien, wie Sie sie in der in ganz Europa weitergehen, daß wir berechenbare und
Nachmittagsstimmung von Saarbrücken zustande ge- verläßliche und angesehene und geachtete Partner im
bracht haben, den Karren vor die Wand fahren. Atlantischen Bündnis bleiben, daß wir so unsere Ver-
antwortung mit anderen zusammen für diese immer en-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ger zusammenwachsende e i n e Welt wahrnehmen.
Ich gebe Ihnen noch einen Rat. Sie sollten den Ver- Aber das heißt, daß wir deutsche Interessen nicht so de-
such aufgeben, den Partnern in Europa zu sagen: Jetzt ist finieren sollten, wie die Wirkung ist, die von Ihnen aus-
Schluß mit lustig, und die Deutschen zahlen nicht mehr. geht, nämlich als gegen andere gerichtet. Deutsche In-
Sie sollten die Osterweiterung nicht so ambivalent be- teressen sind um so besser gewahrt, je mehr es uns ge-
handeln, wie sie in der internationalen Presse verstanden lingt, durch Fortschritte in der europäischen Politik
worden ist. Unsere Nachbarn in Polen glauben Ihnen deutsche Interessen in einem vereinten Europa durchzu-
nicht, daß Sie Anwalt der Interessen der Nachbarn in setzen. Das ist der Weg der Union. Daran werden wir
Osteuropa sein wollen, weil Sie mit Ihrem Reden dieses Sie messen.
Vertrauen zerstört haben. Bundeskanzler Kohl und Au- Wir wünschen Ihnen – bei allen politischen Mei-
ßenminister Kinkel haben unsere Nachbarn geglaubt, nungsverschiedenheiten – für Ihre Präsidentschaft im
und Bundeskanzler Schröder glauben sie es vorläufig deutschen und europäischen Interesse viel Erfolg. Aber
nicht, weil Sie anders geredet haben. Sie haben Vertrau- ich rate Ihnen: Machen Sie sich die Last durch so ver-
en zerstört, auch bei unseren Nachbarn. antwortungsloses Gerede wie in den vergangenen Wo-
chen nicht zusätzlich schwer!
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Weil nun gerade einmal die parteipolitischen Mehr-
heiten in einer Reihe von Mitgliedsländern Ihnen gün-
stig erscheinen, sollten Sie den Versuch aufgeben, durch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
europäische Politik parteipolitisch einseitig durchmar- nächster Redner hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion,
schieren zu wollen. Herr Bundesfinanzminister und Peter Struck, das Wort.
SPD-Vorsitzender Lafontaine, das hat es in der Ge-
schichte noch nicht gegeben, daß die Finanzminister
einer parteipolitischen Richtung quasi in einem Treffen Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
von elfen, so einer Art Fraktionsbildung der Finanzmi- verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble,
nister, waren. Ich sage Ihnen: So werden Sie in Europa Ihre Aufgeregtheiten in der Debatte um den Gipfel in
nicht vorankommen. Die politische Vielfalt in Europa ist Wien
größer als der überhebliche Drang von Rotgrün, weil Sie (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Er ist nicht
einmal eine Wahl gewonnen haben, jetzt durchzumar- aufgeregt gewesen! Er war sehr ernst!)
schieren. Dieser Drang ist nur scheinbar richtig.
und Anklagen in der Art, wie Sie sie hier gegenüber dem
(Widerspruch bei der SPD – Dr. Uwe Küster Herrn Bundeskanzler vorgetragen haben, lassen sich
[SPD]: Da sprach der Wahlverlierer!) eigentlich nur durch die nach wie vor bei Ihnen zu beob-
achtende Tendenz, daß Sie die Niederlage bei der Bun-
Setzen Sie weiterhin auf den Konsens aller Kräfte in
destagswahl nicht verschmerzt haben, erklären – anders
Deutschland und in Europa, die für europäische Eini-
nicht.
gung und für atlantische Integration sind!
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der
Es war eine gute Tradition, daß wir Repräsentanz CDU/CSU)
auch in hohen Ämtern europäischer Institutionen nicht
parteipolitisch einseitig nur noch durch Koalitionsver- Sie haben in Ihrer Rede, Herr Kollege Schäuble, in
einbarungen zuteilen – das Vorschlagsrecht für den keiner Weise die Alternativen der CDU/CSU-Fraktion
einen Posten haben die Grünen, das Vorschlagsrecht für oder deren Erwartungen an die Bundesregierung für die-
den anderen Posten haben die Roten, und so geht es hin sen Gipfel formuliert. Im Gegenteil: Sie haben sich dar-
und her. Statt dessen sollten Sie ein Stück weit darauf auf beschränkt, die Vergangenheit zu loben. In der Tat
setzen, daß wir alle politischen Kräfte, die für europäi- gibt es da Punkte, die auch wir durchaus loben. Ich stehe
sche Einigung sind, auch weiterhin auf diesem Weg überhaupt nicht an, das zu verschweigen. Auf der ande-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 829
Dr. Peter Struck

(A) ren Seite unterstützt die sozialdemokratische Bundes- jetzt zu Beginn unserer Legislaturperiode eine gewisse (C)
tagsfraktion die Ziele, die der Bundeskanzler in seiner Geschichtsverfälschung oder Geschichtsklitterung bei
Regierungserklärung formuliert hat, nachdrücklich. Union und F.D.P. andeutet.
(Beifall bei der SPD) Dafür drei Beispiele. Beispiel Nummer eins: Der
Bayerische Ministerpräsident Stoiber, offensichtlich der
Wir fordern auch Sie auf, meine Damen und Herren, be-
neue europapolitische Inspirator der Union, wirft dem
stehende Gemeinsamkeiten hier im Parlament zu artiku-
Bundeskanzler vor, einen schweren Fehler zu machen,
lieren.
weil er, wie er es ja auch eben vorgetragen hat, die Ver-
Es ist wahr: Während des Gipfels in Wien und vor handlungen über die Agenda 2000 schon im Frühjahr
allen Dingen während unserer Präsidentschaft wird ein 1999 abschließen will. Als Ratspräsident, so sagt Stoi-
hohes Maß an Verantwortung von allen beteiligten ber, müsse er bei der Entscheidung zu viele Kompromis-
europäischen Staaten gefordert, denn mit den Entschei- se machen. Das geht – ich zitiere jetzt Herrn Stoiber
dungen zur Agenda 2000 steht nicht nur die Neuordnung wörtlich aus der „Zeit“ – „am Ende auf Kosten der deut-
der wichtigsten internen Politikbereiche, nämlich der schen Steuerzahler und zu Lasten der deutschen Interes-
gemeinsamen Agrarpolitik – Herr Kollege Schäuble, der sen“. Unterschlagen hat dabei der designierte CSU-
Bundeskanzler hat von der Agrarpolitik gesprochen; das Vorsitzende allerdings, daß der Bundeskanzler, Gerhard
ist Ihnen wahrscheinlich entgangen – Schröder, gar nicht Herr des Zeitplans ist.
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das Der Bayerischen Staatskanzlei, die sich ja besonderer
steht nur im Manuskript!) europapolitischer Fähigkeiten rühmt, dürfte nicht ent-
gangen sein, daß der Fahrplan auf dem Europäischen
und der Strukturfonds, auf der Tagesordnung. Es geht
Gipfel in Cardiff am 15. und 16. Juni 1998 unter maß-
um viel mehr: Wir müssen eine neue Finanzstruktur
geblicher Mitwirkung des damaligen Bundeskanzlers
für die Europäische Union schaffen. Für diese Aufga-
Helmut Kohl festgelegt worden ist. Einstimmig einigten
be werden auf dem Gipfel in Wien wichtige Weichen-
sich die Regierungschefs darauf, über die Agenda 2000
stellungen vorgenommen. Dabei wird es darauf ankom-
auf einem Sondergipfel Ende März nächsten Jahres zu
men, daß alle Mitgliedstaaten kompromißbereit sind;
entscheiden. Sollte Bundeskanzler Schröder den Part-
ohne diese Bereitschaft aller Mitgliedstaaten kann die
nern zu Beginn der Präsidentschaft sagen: „April,
Bundesregierung diese schwierige Aufgabe nicht mei-
April!“? Sie wären doch die ersten gewesen, die uns
stern.
dann vorgeworfen hätten, europapolitisches Porzellan zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) zerschlagen, womit Sie übrigens recht hätten.

(B) Wir wissen auch, daß der Erfolg unserer Präsident- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
schaft nicht allein von uns und von der Bundesregierung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )
abhängt, sondern er hängt davon ab, daß wir alle Betei-
ligten von unseren politischen Vorstellungen überzeugen Es steht uns nicht an, den verabredeten Fahrplan für
können, und zwar ohne Zwang. die Entscheidungen zur Agenda 2000 ohne Not in Frage
zu stellen. Damit würden wir nicht nur die Mitgliedslän-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der brüskieren, sondern die osteuropäischen Beitritts-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kandidaten zusätzlich verunsichern. Das wollen und
Es wäre von Vorteil, meine sehr verehrten Damen werden wir nicht tun.
und Herren von der Opposition, wenn wir im Deutschen (Beifall bei der SPD)
Bundestag über die Fraktionen hinweg in zentralen
europäischen Fragen zu einer Einigung kommen könn- Die Diskussion um die Erweiterung ist ein zweites
ten. Beispiel für Geschichtsklitterung. In diesem Fall scheint
auch die F.D.P. Probleme mit ihrem Kurzzeitgedächtnis
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das muß und mit dem ihres ehemaligen Außenministers, Klaus
man anders beginnen!) Kinkel, zu haben. Er hat es bis zu seinem letzten
Es herrscht in diesem Haus große Übereinstimmung Amtstag abgelehnt, den Kandidaten einen konkreten
darüber – nun zitiere ich wörtlich –, daß die Festigung Beitrittszeitpunkt zu nennen. Als Dr. Kohl Polen ver-
der Europäischen Union und die Fortsetzung des euro- sprach – der Bundeskanzler Gerhard Schröder hat diesen
päischen Einigungswerkes entscheidende Voraussetzun- Punkt eben schon angesprochen –, im Jahre 2000 Mit-
gen für Frieden, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa glied der Europäischen Union zu werden
sind. Dies haben Sie, meine Damen und Herren von der (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Es ist gar
Union, selbst so formuliert. Wir unterstreichen das. Ich nicht wahr, was Sie da sagen!)
biete Ihnen deshalb auch eine faire Zusammenarbeit in
Fragen der Europapolitik während unserer Präsident- – stellen Sie doch eine Zwischenfrage, und stellen Sie
schaft an, sage Ihnen allerdings auch ganz deutlich, daß diesen Punkt klar! –, reagierte Dr. Kinkel pikiert. Jetzt
es sich hierbei um keine Einbahnstraße handeln darf. will die F.D.P. – ich bin schon gespannt auf Ihren Bei-
trag, Herr Haussmann –, daß schon am Wochenende in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wien der Zeitpunkt der Beitritte der osteuropäischen
Ich sage das auch schon vorsorglich – bei Herrn Länder verbindlich auf das Jahr 2002 festgelegt wird.
Schäuble wurde das eben deutlich –, weil sich schon Wie ich höre, ist auch die CDU/CSU für diesen Termin,
830 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Peter Struck

(A) ohne sich jedoch festlegen zu wollen, wie lange die Wir alle beklagen die zu hohe deutsche Nettobelastung; (C)
Übergangsfristen für die Beitrittskandidaten sein sollen. da bin ich übrigens mit Herrn Stoiber einer Meinung.
Aber man darf nicht allein Brüssel für diese Belastung
(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]:
verantwortlich machen. Es war immer eine deutsche
Wer hat Ihnen denn den Blödsinn aufgeschrie-
Regierung dabei, die diesen Belastungen zugestimmt hat
ben?)
und sich damit hier und dort politische Zugeständnisse
Die Bundesregierung – Kanzler Gerhard Schröder hat erkauft hat. Sie wissen, wen ich meine, wenn ich in die-
diesen Punkt eben schon deutlich gemacht – hat erklärt, se Richtung gucke. Bundeskanzler Schröder hat klarge-
daß sie die EU-Osterweiterung als vorrangige Aufgabe macht, daß es damit vorbei ist.
ansieht und sie mit großem Nachdruck verfolgt. Sie läßt
es dabei aber nicht an Realismus mangeln. Darum geht Die SPD-Bundestagsfraktion und die neue Bundesre-
es. Es hilft nicht, unerfüllbare Versprechungen zu ma- gierung haben klare europapolitische Zielvorstellungen
chen, nur um jemandem etwas Gutes zu tun. nicht nur für den Europäischen Rat heute und morgen in
Wien, sondern auch für die Präsidentschaft:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erstens. Der Europäische Rat von Wien muß den
Grundstein für einen europäischen Beschäftigungs-
Deutschland und Europa können kein Interesse daran pakt legen. Meine Damen und Herren, wir haben dies
haben, die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen vor der Wahl versprochen, und das halten wir auch ein.
Staaten in die Union zu verzögern und ihre Erwartungen
zu enttäuschen. (Beifall bei der SPD)
Ein drittes Beispiel dafür, daß man in der Europa- Europa kann und muß seinen Beitrag zur Bekämpfung
politik seine Worte wägen sollte – auch der Beitrag von der Massenarbeitslosigkeit leisten. Dazu sind keine aus
Herrn Schäuble ist ein Beispiel dafür –, ist das Gerede Brüssel finanzierten milliardenschweren Beschäfti-
vom Sozialismus in Europa. Aus Ihren Kreisen verlau- gungsprogramme nötig. Niemand von uns will die ein-
tet, Europa habe jetzt die sozialistische Mütze überge- zelnen Mitgliedsländer aus ihrer nationalen Verantwor-
worfen. Dieser Satz wird vom Kollegen Waigel ver- tung für mehr Beschäftigung entlassen. Nein, es geht
breitet. Ihn in Bonn zu sagen hat einen gewissen Unter- uns im Gegenteil darum, die EU-Kommission endlich in
haltungswert, denn aus Ihren Reihen wurde bis vor kur- diese Verantwortung einzubeziehen.
zem von diesem Pult aus immer unterstrichen, die deut-
schen Sozialdemokraten seien in Europa isoliert. Diese Zweitens. Am 1. Januar 1999 beginnt die Europäi-
Beiträge haben wir alle noch im Ohr. Weiter sagten Sie, sche Wirtschafts- und Währungsunion. Für uns war
niemand wolle so wie die SPD handeln. Jetzt auf einmal immer klar, daß der Euro so stabil und stark wie die
(B) sagen Sie, binnen einer Frist von zwei Monaten haben Deutsche Mark werden muß; (D)
Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine die EU schon
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Nicht für
umgepolt. Die eine Behauptung ist so falsch wie die an-
alle war das so!)
dere.
(Beifall bei der SPD) wir haben hier im Deutschen Bundestag die Entschei-
dungen dazu mitgetragen. Dafür brauchen wir eine enge
Ich halte es in diesem Zusammenhang mit der Gelas- Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Beschäfti-
senheit und dem Realitätssinn, den der christdemokrati- gungspolitik in der Europäischen Union. Die deutsche
sche Premier von Luxemburg vertritt. Jean-Claude Bundesregierung – das hat Bundeskanzler Schröder
Juncker hat in seinem Interview mit der „Welt“ gesagt: klargemacht – wird dazu in der deutschen Präsident-
Ich wundere mich, daß man der Tatsache, daß jetzt schaft Initiativen ergreifen. Wir begrüßen und unterstüt-
11 sozialistische oder sozialdemokratische Regie- zen auch ausdrücklich die Initiativen des Bundesmi-
rungschefs am europäischen Tisch sitzen, eine der- nisters der Finanzen, was die Koordination der europäi-
art hohe Bedeutung beimißt. Es war nie so und es schen Steuerpolitik angeht.
wird auch nie so sein, daß am Tisch des Europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schen Rates Parteipolitik gemacht wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Christdemokrat Juncker hat recht. Seine Aussage
Drittens. Wir wollen die Agenda 2000 erfolgreich
sollten Sie sich merken.
abschließen. Damit würde die Europäische Union einen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wichtigen Teil ihrer Hausaufgaben erledigen, um ihre
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erweiterungsfähigkeit zu erreichen. Dies wäre das beste
und überzeugendste Signal, das wir den osteuropäischen
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat es
Beitrittskandidaten übermitteln könnten. Bei den Re-
angesprochen: Es geht um den deutschen Beitrag, es
formen im Rahmen der Agenda 2000 stehen für uns fol-
geht um die Frage, wie für den Zeitraum bis zum Jahr
gende Punkte im Vordergrund: Die Finanzstruktur der
2006 die Zahlungen festgelegt werden. Wir unterstützen
Europäischen Union muß sicherstellen, daß die deutsche
den Bundeskanzler und den Bundesfinanzminister ein-
Nettobelastung begrenzt und, wenn möglich, zurückge-
deutig: Im Gegensatz zu unserer Vorgängerregierung
führt wird. Wir wollen eine Reform der gemeinsamen
werden wir keine Scheckbuchpolitik machen.
Agrarpolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäi-
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Peinlich!) schen Landwirtschaft auch international stärkt. Wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 831
Dr. Peter Struck

(A) brauchen mehr Spielraum für Landwirte, ihr Einkom- promisse zu schließen, innenpolitische bzw. parteipoliti- (C)
men am Markt zu verdienen. sche Interessen zurückzustellen und sich zu übergeord-
neten europäischen Visionen, Gefühlen zu bekennen –
(Beifall bei der SPD) ohne diese Grundeinstellung werden Sie in Europa
Das wird nur gelingen, wenn das Regulierungsdickicht scheitern. Glauben Sie mir das!
und das Subventionsniveau schrittweise abgebaut wer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
den. ten der CDU/CSU)
Die Bundesregierung hat ein ehrgeiziges Programm Es ist bezeichnend, daß in diesem Moment der Au-
für die deutsche Präsidentschaft vorgelegt. Deutschland ßenminister den Saal verläßt. Längst hat sich die SPD
wird wie in der Vergangenheit versuchen, die Europäi- mit Lafontaine und Schröder der Europapolitik bemäch-
sche Union voranzubringen. Ich fordere das ganze Haus tigt. Von Fischer ist in diesem Zusammenhang keine
auf, die neue Bundesregierung dabei zu unterstützen. Spur mehr. Es gab am Anfang einen guten Auftritt mit
Wir wollen Europa. Wir wollen, daß der Kontinent einem guten Anzug. Aber die Europapolitik wird jetzt
weiter zusammenrückt. Lassen Sie uns unser Handeln an zur Chefsache der Sozialisten erklärt.
diesen Maßstäben orientieren.
Wer die strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die nur national zu lösen sind, auf Europa überträgt, tut
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Europa einen Tort an. Denn Sie werden dieses Problem
so nicht lösen können, auch wenn Sie auf Ihrem Partei-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als tag fünfzehnmal von Koordinierung, von neuen Gremien
nächster Redner hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann gesprochen haben. Sie schaffen damit neue Planstellen
von der F.D.P.-Fraktion das Wort. in der Brüsseler Kommission, aber keinen konkreten
Arbeitsplatz in der Privatindustrie. Sie werden sehen:
Wer die Beschäftigungsunion, wer die Sozialunion
Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Herr Präsident!
fordert, der erzwingt am Schluß einen europaweiten
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen aus
Finanzausgleich und mißachtet den Stabilitätspakt.
dem Europäischen Parlament! Die europapolitische Be-
geisterung von Herrn Struck klingt noch nach. (Beifall bei der F.D.P.)
(Zustimmung bei der CDU/CSU) Im Gegenteil: Es war ein Segen, daß die alte Regierung
noch in der Lage war, den Euro in der Art abzusichern,
Wer so müde, wer so langweilig, wer so monoton zu ei-
daß er mit einem Stabilitätspakt versehen wurde, so daß
nem der wichtigsten Themen europäischer Politik redet,
auch national eine bestimmte Grenze der Neuverschul-
(B) der kann einem wirklich leid tun. (D)
dung eingehalten werden muß. Dies gilt definitiv.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Zur Osterweiterung. Nach dem Euro ist die Erweite-
Ich muß das in dieser Deutlichkeit sagen. rung der Europäischen Union das entscheidende Projekt.
Dazu kann ich nur sagen: Wer aus der europäischen In-
21 Tage vor Übernahme der europäischen Präsident- tegrationsgeschichte nicht gelernt hat, daß es ohne
schaft im größten und wichtigsten Land Europas, das Druck und ohne ehrgeizige Zieldaten keinen Fortschritt
neun Nachbarn hat und dem unsere europäischen Partner gibt, der wird auch bei der Osterweiterung scheitern.
die Wiedervereinigung erleichtert bzw. geschenkt haben, Wer sprach denn im Hinblick auf die Währungsunion
stellt der Bundeskanzler auf einem Parteitag fest: Wir von der kontrollierten Verschiebung? Was wäre denn
brauchen innenpolitisch gesehen europäische Erfolge gewesen, wenn wir damals Herrn Stoiber und Herrn
nicht. Es muß ein Ende haben. Er spricht von Scheck- Schröder gefolgt wären? Wir hätten den Euro nicht.
buchdiplomatie. Er sagte, die frühere Regierung habe Damit hätte die Weltwirtschaft einen der wichtigsten
sich über den Tisch ziehen lassen. Er spricht davon – üb- Stabilitätsbeiträge nicht erreicht. Der Euro ist schon
rigens in Anwesenheit der Kommissarin Wulf-Mathies; heute, bevor er eingeführt wurde, die stabilste Währung.
das ist eine besondere Delikatesse –, daß in der Kom- Er tritt in faire Konkurrenz mit dem Dollar, und er bietet
mission Milliardenbeträge verbraten werden. Wer vor allen kleinen und mittleren Betrieben in Deutschland
einem europäischen Gipfel diesen Geist verströmt, der und in Europa die Chance, ohne Auf- und Abwertung
ist nicht in der Lage, die europäische Integration voran- die europäische Integration zu vollenden.
zubringen.
Wer die Osterweiterung zur Geisel unerledigter eige-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ner Reformen macht, der enttäuscht die Hoffnungen
ten der CDU/CSU) vieler osteuropäischer Reformer.
Wer noch vor wenigen Monaten vom Euro als einer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
kränkelnden Frühgeburt gesprochen hat und jetzt
staatstragend vorliest, der Euro habe seinen Härtetest auf Wer das Parlament so mißachtet, wie das heute ge-
den Märkten mit Bravour bestanden, dem ist zu sagen: schieht, wer nicht einmal eine Zahl, wer nicht einmal ei-
Armes Deutschland; schlechte Führung für Europa; dies nen bestimmten Weg im Rahmen der Struktur- und
ist schlecht für unsere europäischen Partner und damit Agrarreform angibt, der wird die Agenda 2000 nie und
auch für Deutschland. Denn ohne mehr Überzeugungs- nimmer abschließen und hat damit die Entschuldigung,
kraft, ohne die Bereitschaft, Herr Bundeskanzler, Kom- zu sagen: Es lag an anderen; es lag nicht an uns. Die
832 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Helmut Haussmann

(A) Osterweiterung muß warten. – Das ist gegenüber den politische und parteipolitische Überlegungen siegen, (C)
osteuropäischen Reformern ein Tort. Warum sprechen dann ist das nicht nur schlecht für Europa, sondern am
denn die Polen vom Jahr 2002? – Weil sie innenpolitisch Ende auch für Deutschland.
unter Druck stehen, weil so mutige liberale Reformer
Danke schön.
wie Herr Balcerowicz den innenpolitischen Druck nur
aushalten, wenn sie sagen können: Wir erledigen unsere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Strukturaufgaben, und wir haben dann die Chance, im
Jahre 2002 in die Europäische Union zu kommen. Das
ist der Zusammenhang; dem weichen Sie aus. Die Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
griffe, die Herr Fischer neuerdings in seinen Reden ge- nächster Redner hat das Wort der Bundesaußenminister,
braucht, wie „neuer Realismus“, sind nur Kodeworte. Es Joseph Fischer.
muß darum gehen, diese wichtigste Reform in Europa,
die Osterweiterung, auch mit konkreten Daten zu bele- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
gen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Der Finanzminister war ja vor kurzem in Washington Haussmann, wenn Sie meinen, daß das europäische An-
und hat einen weiteren Versuch gestartet, als neuer, liegen besser durch solche Vorträge voran gebracht wer-
zeitgenössischer Keynes die Welt von seinen Theorien den kann, wie Sie ihn hier gehalten haben, und wenn Sie
zu überzeugen. Dazu kann ich nur sagen: Wer bei einem dem Kollegen Struck vorwerfen, daß er eine ruhigere
vergleichsweise kleinen Thema wie den 620-Mark- Gangart gewählt hat, dann kann ich Ihnen nur folgendes
Arbeitsverhältnissen ein solches Chaos anrichtet, der sagen; ich habe Ihnen da sehr sorgfältig zugehört.
sollte der Welt weitere Belehrungen über die Koordinie- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
rung von Wechselkursen und die Weltökonomie wirk- F.D.P. – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das
lich ersparen. ist ja peinlich!)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- – Herr Kollege Haussmann, in der Zeit, in der ich hier
ten der CDU/CSU) im Plenum war,
Sie sollten zunächst Ihr Haus in Deutschland bestellen. (Lachen bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Wenn Sie in Köln den G7/G8-Vorsitz übernehmen, ten der CDU/CSU)
dann kann ich mir nur wünschen, daß vorher einige in-
nenpolitische Reformen in der Steuer-, Sozial- und Ar- habe ich Ihnen sehr sorgfältig zugehört.
beitsmarktpolitik zumindest auf dem Weg sind. Wir als
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ein bißchen
führendes Land werden sonst eine sehr bescheidene
(B) Bilanz auf dem Weltwirtschaftsgipfel vorweisen kön- billig!) (D)
nen. – Das ist überhaupt nicht billig.
Wichtig ist, heute folgendes festzuhalten – dem dient (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Doch! Aber
unser Antrag zusammen mit dem der CDU/CSU –: Sie sind nicht kollegial!)
Wenn bestimmte innenpolitische Reformen in den ost-
europäischen Ländern umgesetzt sind, wenn die Agenda Ich muß Ihnen sagen: Außer den üblichen Sprüchen,
2000 nach unseren Vorstellungen auf den Weg gebracht außer innenpolitischem Kleingeld haben Sie hier nicht
wird, dann müssen die osteuropäischen Reformländer einen perspektivischen Beitrag geliefert.
die Sicherheit bekommen, daß sie ab dem Jahr 2002 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
willkommene Mitglieder in der Europäischen Union und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
sind. PDS)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Ich sage auch zum Kollegen Schäuble: Ich habe für
ten der CDU/CSU) Ihre innenpolitischen Nöte wirklich Verständnis. Aber
Die Beendigung dieser widernatürlichen Teilung Euro- daß in letzter Zeit mehr die Galle als die Intelligenz Ihre
pas ist die größte Aufgabe, Beiträge prägt,

(Bundesminister Joseph Fischer: Bis 2002!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi-
und das, Herr Fischer, erfordert Fingerspitzengefühl, das derspruch bei der CDU/CSU)
erfordert Kompromißbereitschaft, und das erfordert eine
Einstellung, die es einem ermöglicht, innenpolitische wird der europäischen Sache – das muß ich Ihnen ehr-
Interessen zurückzustellen und sich generell für Europa lich sagen –, vor allen Dingen in dieser schwierigen Si-
zu erklären. tuation, in der wir uns jetzt befinden, nicht gerecht wer-
den.
Die Bemerkung, Herr Bundeskanzler Schröder, „Ich
möchte Europäer sein; ich muß nicht Europäer sein“ ist (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: In die Sie
aus meiner Sicht verräterisch. Ändern Sie Ihre Grund- sich gebracht haben durch eigenes dummes
haltung; ordnen Sie parteipolitische Erwägungen euro- Reden und Handeln!)
päischen Überlegungen unter, dann kann die deutsche Die heutige Debatte unterscheidet sich von den De-
Präsidentschaft ein Erfolg werden. Wenn jedoch innen- batten der vorangegangenen Jahre. Denn wir haben – bei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 833
Bundesminister Joseph Fischer

(A) aller Kritik, die wir in Einzelfällen, im Detail angebracht die Erweiterung begonnen wurde und werde Ihnen (C)
haben – immer das gemeinsame Werk Europa nicht nur gleich etwas zur Terminfrage sagen. Die Inkraftsetzung
als eine Angelegenheit der Bundesregierung betrachtet, des Vertrags von Amsterdam wird – so hoffe ich – im
sondern wir haben immer auch ein gemeinsames Inter- kommenden Frühjahr abschließend erfolgen – nach der
esse vertreten und unsere Aufgabe als damalige Opposi- Ratifizierung durch die französische Nationalversamm-
tion darin gesehen, die Perspektive des europäischen lung. Das Finanzgebaren der Europäischen Kommission
Einigungsprozesses mit in die Debatte einzubringen. ist ein weiteres Problem, und mögliche Weiterungen –
Ich muß Ihnen sagen: Außer den üblichen Bekenntnis- kurz vor der Europawahl – können den ganzen Prozeß
sen haben Sie an Vorschlägen zur Lösung der Probleme, erheblich erschweren. In dieser Situation brauchen wir
vor denen wir jetzt gemeinsam stehen, nichts, aber auch dringend eine Perspektivdebatte, die ich mir für heute
gar nichts beigetragen. erhofft hatte und die der Bundeskanzler versucht hatte,
anzustoßen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Zurufe von der F.D.P.)
Ich möchte Sie auf die Situation, die wir vorgefunden – Nein, im Gegensatz zu Ihnen habe ich zugehört. Ich
haben, hinweisen. Ich stimme dem Kollegen Schäuble möchte Ihnen jetzt die Position der Bundesregierung er-
und allen anderen ausdrücklich zu: Der europäische Ei- läutern und Ihnen sagen, was wir zu tun gedenken.
nigungsprozeß ist die historische Aufgabe und Chance In dieser Situation, in der sich die Probleme verdich-
für unseren von Kriegen permanent zerrissenen Konti- ten, besteht ein substantieller Zusammenhang zwi-
nent, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neu- schen der Reformfähigkeit der Union und ihrer Er-
es – historisches – Kapitel des Friedens aufzuschlagen. weiterungsfähigkeit. So richtig oder so falsch es gewe-
Es ist für unser Land von größtem Interesse, diesen Ei- sen sein mag, eine visionäre Zahl zu nennen: Sie ist
nigungsprozeß erfolgreich zum Ende zu bringen. Ich heute nicht mehr von Interesse. Daß das Jahr 2000 nicht
hoffe daß wir uns darüber nicht streiten müssen, sondern zu halten ist, ist allen klar.
nur darüber, welcher Weg der beste ist, dieses Ziel zu
erreichen. Herr Haussmann, dessen einziger Beitrag darin be-
steht, zu sagen, nennen Sie Zahlen, nennen Sie Zahlen,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES nennt eine Zahl, nämlich 2002, ohne sie begründen zu
90/DIE GRÜNEN und der SPD) können. Ich werfe Ihnen, Herr Haussmann, vor: Sie wis-
Die Situation – das muß ich der alten Regierungs- sen ganz genau, daß es zutiefst unseriös ist, den Polen,
koalition ins Stammbuch schreiben; denn sie macht den Ungarn und den Tschechen jetzt das Jahr 2002 als
einen Teil der Schwierigkeiten aus – ist die folgende: In Beitrittsdatum zu versprechen. Das ist reine Fiktion und
(B) den letzten zwei bis drei Jahren, im Grunde genommen zutiefst unseriös. (D)
seit 1992, haben Sie in der Europapolitik eine ganze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reihe Potemkinscher Dörfer aufgebaut, und zwar auf und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Grund innenpolitischen Drucks. PDS)
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Den Euro Es besteht hier also ein substantieller Zusammen-
eingeführt!) hang.
– Für die Einführung des Euro waren und sind wir nach- (Zuruf des Abg. Dr. Helmut Haussmann
drücklich. Da brauchen Sie mich weiß Gott nicht katho- [F.D.P.])
lisch zu machen. Dazu hatten wir hier im Haus eine
breite Zustimmung, Herr Haussmann. Das wissen Sie so – Die Intelligenz Ihrer Zwischenrufe übertrifft noch die
gut wie ich. Intelligenz Ihrer Reden. Tun Sie doch etwas!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie sind
sowie bei Abgeordneten der SPD) doch in der Regierung!)

Der entscheidende Punkt aber ist ein anderer: Wir – Sicher sind wir in der Regierung. Deswegen fahren
stehen heute in den Gesprächen mit den Europäern im- wir auch nach Wien und tun etwas – im Gegensatz zu
mer wieder vor der Situation, daß sie uns die bisherige Ihnen –; das kann ich Ihnen versprechen.
Haltung Deutschlands zur anstehenden Reform – die wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
jetzt anpacken müssen –, vor allen Dingen zur Agenda und bei der SPD)
2000 und zur Erweiterungsfähigkeit der Finanzverfas-
sung der EU – das ist es doch, was sich hinter dem Wir müssen diesen Widerspruch zwischen Erweite-
technokratischen Begriff Agenda 2000 verbirgt –, schil- rungsfähigkeit und Erweiterung in dem Zeitfenster, das
dern. Die Europäer sagen uns, Deutschland – damit ist sich bietet, auflösen. Daraus ergibt sich die Notwendig-
die Spätphase der Regierung Kohl gemeint – vertrat die keit, die Agenda 2000 zum Erfolg zu führen. Nur, da
Position: schnelle Erweiterung, weniger Geld bezahlen kommt dann wieder der formidable Herr Schäuble, der
und gleichzeitig mehr Geld für die deutschen Bauern gallebitter versucht, die Probleme, die er im eigenen La-
bekommen. Wie soll das gehen? den hat, durch Angriffe auf die Koalition zu übertün-
chen, und sagt kein Wort dazu. Ich wäre gerne einmal
Wir stehen jetzt vor der Einführung des Euro und der Mäuschen gewesen bei der Diskussion in der
beginnenden Erweiterung der EU – und ich bin froh, daß CDU/CSU-Fraktion, als der niemals unverantwortlich
834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesminister Joseph Fischer

(A) redende bayerische „Kini“ Stoiber dort seinen Auftritt Wir haben jetzt die Erweiterungsgespräche begon- (C)
hatte. Die „FAZ“ ist ja nun über jeden Verdacht erha- nen. Wenn wir die ersten Kapitel – die wir jetzt durch-
ben, der jetzigen Regierungskoalition nahezustehen, haben – um die ersten schwierigen Kapitel ergänzen
aber der Kommentar vom heutigen Tage ist es wert, ge- können, dann halte ich einen Termin für möglich. Aber
lesen zu werden – nach dessen Schilderung der Diskus- der zweite Termin muß dann „sitzen“, muß dann einge-
sion in Ihrer Fraktion verlangt wird, wir sollten bei der halten werden; das ist dann ein operativer Termin. Das
Erweiterung ein möglichst enges Zeitlimit setzen. Und ist dann kein Termin mehr, der Visionen vermitteln soll,
Herr Stoiber greift uns an, weil der Bundeskanzler er- sondern ein Termin, der den notwendigen Druck zum
klärt habe, wir wollten – wie es in Cardiff auf einem Abschluß produzieren muß. Den Druck werden wir
Sondergipfel im März beschlossen wurde – die Agenda brauchen; da sind wir uns einig. Aber diesen Termin
2000 zum Abschluß bringen; dies sei unverantwortlich halte ich frühestens Ende nächsten Jahres oder gar erst
und werde die deutschen Interessen schädigen – so Herr Ende 2000, nach Fortgang der Verhandlungen, für ver-
Stoiber vor der CDU/CSU-Fraktion. Ich lese nicht, daß antwortbar. Dann sollte man ihn aber auch setzen, um
Herr Schäuble ihm da widersprochen hat. Was Sie hier die Verhandlungen erfolgreich zum Abschluß zu brin-
betreiben, ist ein wirklich dubioses Doppelspiel. gen. Das ist verantwortliche Politik, nicht das Herum-
fingern mit Terminen, die Sie im Grunde genommen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht begründen können und die nur falsche Hoffnungen
und bei der SPD) wecken.
Ich könnte Ihnen das hier vorlesen. Aber das scheint (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
Herrn Schäuble nicht zu interessieren. Ich verstehe auch, 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
warum: Herr Stoiber sitzt ihm wirklich hart im Genick.
Er vertritt eine europapolitische Position, die mit dem Wir werden vor der schwierigen Situation ste-
Vermächtnis von Dr. Kohl überhaupt nichts zu tun hat. hen – das hat der Allgemeine Rat der Außenminister ge-
zeigt – –
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sagen
Das ist es doch, was Sie in Wirklichkeit fürchten und Sie doch einmal etwas zu Saint Malo!)
weshalb Sie jetzt in dieser Debatte sagen, wir schädigten
die deutschen Interessen; in 50 Jahren aufgebautes Ver- – Dazu komme ich gleich noch. Ich habe jetzt zum Eu-
trauen hätten wir in fünf Wochen verspielt. Das glauben ropäischen Rat gesprochen; das stand dort auf der Ta-
Sie doch selbst nicht, geschweige denn Ihre Anhänger, gesordnung. Sie beschweren sich doch immer, wenn Sie
geschweige denn die Mehrheit im deutschen Volke oder von anderen unterbrochen werden. Aber in letzter Zeit,
gar unsere Bündnispartner. seit Sie in der Opposition sind, beschweren Sie sich
(B) nicht mehr, sondern unterbrechen munter andere, Herr (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Schäuble.
und bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Ich will Ihnen sagen, was Sie fürchten. Sie fürchten, daß
Stoiber letztendlich den europapolitischen Riß im kon- Ich kann mich noch an diese weinerliche Tour erinnern.
servativen Lager so vertiefen wird, daß Sie in dieselbe Sie wollten hier eine Regierungserklärung zum Allge-
Situation wie die französischen Gaullisten oder die briti- meinen Rat, und ich habe gerade zum Allgemeinen Rat
schen Konservativen geraten. Das ist die eigentliche gesprochen. Ich habe versucht, Ihnen konkret zu erläu-
Furcht, die Sie in der Zeit nach Kohl umtreibt. tern, wo wir die Probleme sehen und wie wir sie ange-
hen wollen. Aber das paßt Ihnen nicht. Deshalb kommen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie jetzt zu Saint Malo. – Ich komme noch zu Saint
und bei der SPD) Malo.
Für mich besteht ein substantieller Zusammenhang (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]:
zwischen Strukturreform und Erweiterungsfähigkeit der Ihr Nervenkostüm ist aber dünn! Der wird
Union. Ich habe als Oppositionsabgeordneter hier 16 dünnhäutig, wenn er einsam ist!)
Jahre Regierungserklärungen gehört.
– Frau Rönsch, selbst wenn ich dünnhäutig wäre: Ihre
(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Viel zu lange!) Zwischenrufe würden diese dünne Haut nicht durch-
dringen können.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Es waren Erklärungen, die
vor Konkretem nur so gestrotzt haben, wenn meine Er- (Lachen und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
innerung mich nicht trügt. Es waren immer präziseste GRÜNEN und bei der SPD)
Vorträge, die wir hier vom Bundeskanzler a. D. Dr.
Ich gehe auf Saint Malo ein, wenn ich meinen Gedanken
Helmut Kohl gehört haben. Und dann kommt der Abge-
zum Allgemeinen Rat zu Ende geführt habe.
ordnete Haussmann und sagt: „konkreter“. So konkret
wie Sie kann ich nicht werden, weil ich nicht so unver- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist
antwortlich bin, daß ich fiktive Zahlen wie 2002 in den gar kein Gedanke! Man kann nicht etwas zu
Raum setze, Herr Haussmann. Eine konkrete Zahl wer- Ende führen, wo nichts ist!)
den Sie von mir nicht bekommen.
– „Das ist gar kein Gedanke!“ ist jetzt der zweite intelli-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gente Zwischenruf des Kollegen Schäuble. Wenn Sie
und bei der SPD) auf diesem Niveau diskutieren wollen, bitte!
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 835
Bundesminister Joseph Fischer

(A) Lassen Sie mich nur noch folgendes zu diesem Punkt Wege der Zusatzfinanzierung erwirtschaftet. Das ist (C)
sagen: Der Allgemeine Rat der Außenminister hat ge- diesmal nicht mehr drin.
zeigt, wie schwierig es sein wird, einen Kompromiß zu
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die europäische Si-
finden. Es wird enorm schwierig werden, einen Kom-
cherheits- und Verteidigungsinitiative – eine Debatte,
promiß zu finden, weil vor allen Dingen die Südländer
die ebenfalls an Dynamik gewonnen hat, vor allem
ihren Besitzstand mit Zähnen und Klauen verteidigen.
durch die Rede von Premierminister Blair in Pörtschach
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist und die Initiative von Präsident Chirac Ende August.
nichts Neues!) In diesem Zusammenhang: Die Haltung des Kollegen
– Das ist nichts Neues, aber wir sind jetzt in der Situati- Schäuble in diesem Punkt – zu meinen, Saint Malo sei
on, daß wir zum Abschluß kommen müssen. Das ist der eine antideutsche Veranstaltung mit ausgrenzendem
entscheidende Punkt. Wenn wir an diesem Punkt sehr Charakter gewesen, das wäre der Vorgänger-
gut sind, dann werden wir eine Reform der Finanzver- Bundesregierung nicht passiert – finde ich wirklich
fassung hinbekommen, deren Zielperspektive es ist, die merkwürdig. Dazu kann ich Ihnen, Kollege Schäuble,
Konstanz realer Ausgaben im Haushalt zu vereinbaren, nur sagen: Hätten Sie sich einmal genauer mit den Do-
was sehr schwierig, aber notwendig sein wird, wenn sich kumenten des deutsch-französischen Gipfels beschäf-
diese nicht ad infinitum nach oben bewegen sollen. tigt! Hätten Sie einmal nachgefragt – das wäre eine
sinnvolle Nachfrage an den Bundeskanzler gewesen –,
Wir werden in der gemeinsamen Agrarpolitik – bei was dort über die Identität und die Entwicklung der ge-
Wahrung der Interessen der deutschen Landwirtschaft; meinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidi-
aber es nützt nichts, den deutschen Bauern große Ver- gungsinitiative beredet worden ist! Hätten Sie einmal
sprechungen zu machen – zu Kompromissen gezwungen nachgefragt, was diesbezüglich im gemeinsamen
sein. Dabei ist nicht nur der Gesichtspunkt der Senkung deutsch-französischen Verteidigungsrat besprochen
des Nettobeitrags Deutschlands von entscheidender worden ist! Hätten Sie einmal nachgefragt, welche Ver-
Wichtigkeit, vor allen Dingen ist es unverzichtbar für einbarung der Bundeskanzler, der Staatspräsident und
die Begrenzung des Anstiegs der Agrarausgaben, nach der Premierminister in dem Gespräch getroffen haben
Vollzug der Erweiterung die Frage der Kofinanzierung und wie die Zukunft nach Saint Malo aussieht! Dann
anzugehen. Ich sage diesem Hause aber auch klipp und hätten Sie sich diesen Beitrag schenken können; denn an
klar: Frankreich verhält sich an diesem Punkt sehr strikt Ihrer Vermutung ist nun wirklich nichts dran. Im Ge-
ablehnend. Auch das macht die Schwierigkeit eines genteil: Wir finden es hervorragend, daß auch und gera-
Kompromisses aus. de Großbritannien und Frankreich diese Dynamik hin-
einbringen. Wir finden es deswegen hervorragend, weil
Ich bedauere sehr, daß wir im Hinblick auf den Euro- bisher vor allen Dingen der Widerspruch zwischen der (D)
(B)
päischen Rat in Wien nicht schon weiter sind, daß es britischen und der französischen Position eine Dynamik
nicht schon jetzt eine Vorstrukturierung gibt und wir uns in diesem Bereich verhindert hat. Deswegen haben wir –
auf die wesentlichen Konfliktpunkte konzentrieren kön- ohne daß wir uns da ausgegrenzt oder zurückgesetzt
nen. Wir befinden uns in einem Stadium, das es der fühlten – die Blair-Rede von Pörtschach als eine wichti-
deutschen Präsidentschaft erheblich erschweren wird, in ge Initiative begrüßt, die wir aufnehmen wollen.
dieser sehr kurzen zur Verfügung stehenden Zeit voran-
zukommen. Aber dennoch ist dies, so denke ich, aller Der Allgemeine Rat hat gezeigt, daß auch die übrigen
Mühe wert. Europäer diese Initiative begrüßen und aufnehmen.
Auch die Debatte im NATO-Rat hat gezeigt – und der
Wir als Bundesregierung werden nicht müde, unseren NATO-Gipfel in Washington wird es ebenfalls zeigen –,
Partnern das eine zu sagen: Die Finanzspielräume, die es wie wichtig es ist, daß die europäische Säule gestärkt
in der Vergangenheit gab – ich kritisiere das nicht –, gibt wird. Dies ist aber vor allen Dingen an den Ausgleich
es heute, bei der deutschen Präsidentschaft im nächsten der Widersprüche zwischen Frankreich und Großbritan-
halben Jahr, nicht mehr. Deshalb wird es zwar wichtig nien gebunden, die es in der Vergangenheit in dieser
sein, einen Erfolg zu erzielen – wir wissen uns diesem Frage gegeben hat.
Erfolg verpflichtet und werden alle Kräfte dafür einset-
zen –, aber es kann, Herr Kollege Haussmann, keinen
Kompromiß um jeden Preis mehr geben, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Fi-
scher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das hat Schäuble?
keine Regierung gemacht!)
weil wir nicht jeden Preis zu zahlen bereit sind. Wir Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
werden nicht 10 Milliarden ECU zusätzlich auf den Ja. – Herr Kollege Schäuble.
Tisch legen können, nur um einen Kompromiß bei der
Agenda 2000 hinzubekommen. Das muß allen Beteilig-
ten klar sein. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Bun-
desminister Fischer, wollen Sie im Ernst bestreiten, daß
Wir stehen jetzt vor der Situation, daß ein jeder etwas die meisten Beobachter in Europa und im atlantischen
abgeben muß. Das wird die große Schwierigkeit sein; Bereich die Tatsache, daß sich die britische und die
denn das war in der Europäischen Union bisher noch französische Regierung über Sicherheitspolitik und Au-
nicht der Fall. In der Regel wurden die Kompromisse im ßenpolitik in der Europäischen Union erstmals ohne die
836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Wolfgang Schäuble

(A) Deutschen unterhalten haben, auch als eine Reaktion auf Wir brauchen weitere strukturelle Reformen, weil der (C)
die Alleingänge innerhalb des Atlantischen Bündnis- französische Einwand völlig zu Recht besteht: Eine EU,
ses verstehen, die insbesondere Sie verantwortungslos die fünf zusätzliche Mitglieder hat, wird, was die struk-
unternommen haben? turellen Reformen der Kommission und anderer Berei-
che betrifft, eher noch reformunfähiger sein, als sie es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. schon in der heutigen Zusammensetzung ist. Auch das
Helmut Haussmann [F.D.P.]) ist ein Aspekt, den man nicht vergessen darf. Wir müs-
sen demnach entschlossen das Zeitfenster nutzen.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Ich kann unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa
Fast würde ich mich geehrt fühlen, wenn Sie jetzt sagen aber sagen: Die Bundesregierung bleibt Anwalt der In-
würden: Herr Fischer ist die Ursache für die Erklärung teressen der Beitrittsländer. Die EU ist für uns kein
von Saint-Malo gewesen. Da müßte die Dialektik schon westeuropäisches Projekt, sondern muß nach dem Ende
fast sagen: Da ist wirklich etwas Gutes entstanden. des kalten Krieges ein gesamteuropäisches Projekt
Ich finde diese Erklärung von Saint-Malo und die In- werden.
itiative von Frankreich und Großbritannien – ich wie- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
derhole das – unter europapolitischen Gesichtspunkten 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
gut, weil ich die europäische Einigung will. Ich möchte,
daß am Ende dieses Prozesses – wie lange er auch dau- Insofern ist die Einführung des Euro zum 1. Januar ein
ern wird – ein Völkerrechtssubjekt, ein politisch hand- historischer Schritt. Die Erweiterung der EU wird der
lungsfähiges Subjekt steht: die Europäische Union. Das zweite historische Schritt auf dem Weg zu einem verei-
ist mein Ziel. Das ist die Vision, die viele in diesem nigten Europa werden. Die Bundesregierung hofft hier-
Hause teilen. bei auf die Unterstützung des ganzen Hauses.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
90/DIE GRÜNEN und der SPD) und bei der SPD)
Das bedeutet für mich die Überwindung der Widersprü-
che von Großbritannien und Frankreich in der Sicher- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
heits- und Außenpolitik. Ich wollte, die wären da schon nächster Redner hat der Fraktionsvorsitzende der PDS-
weiter, als das Kommuniqué insinuiert. Fraktion, Gregor Gysi, das Wort.
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Kollege Schäuble: Ich
habe da eine völlig andere Auffassung als Sie, weil ich Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
(B) die enge Konsultation zwischen dem Bundeskanzler und men und Herren! Die deutsche Ratspräsidentschaft fällt (D)
dem französischen Staatspräsidenten, zwischen dem in eine Zeit wichtiger europapolitischer Entscheidungen.
Premierminister Großbritanniens und dem Premiermini- Es geht nicht darum, daß irgendwann in der Zukunft
ster Frankreichs teilweise direkt mitbekommen habe, Weichen für eine Strukturveränderung gestellt werden
teilweise aus den Unterlagen kenne. Da gibt es kein müssen, sondern das wird in den nächsten drei Monaten
konsultatives Defizit. ganz aktuell zur Debatte stehen.
Ich kann hier für die Bundesregierung sagen, daß wir Vor fast genau neun Monaten hat der Deutsche Bun-
diesen Prozeß nachdrücklich unterstützen und uns über destag an dieser Stelle über den Amsterdamer Vertrag
das Kommuniqué von Saint-Malo freuen; denn es be- beraten, einen Vertrag, den die PDS aus guten Gründen
deutet einen wichtigen Schritt für die Entwicklung der abgelehnt hat. Wir waren mit der Ablehnung hier ziem-
europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, lich isoliert. Damals haben wir gesagt, daß der PDS die
einer weiteren Säule des europäischen Einigungsprozes- europäische Idee viel zu wichtig ist, um sie einem bor-
ses. nierten Zeitgeist zu opfern, der bereit ist, die soziale, zi-
vile und humanitäre Dimension europäischer Politik
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aufzugeben.
und bei der SPD)
Meine Damen und Herren, wir werden mit der Agen- Es ist doch eine Tatsache: Seitdem die Europäische
da 2000 einen sehr schweren Brocken zu stemmen ha- Union existiert, seit Inkrafttreten des Maastrichter Ver-
trages, gehörte die Bundesrepublik Deutschland unter
ben. Wir müssen diesen Prozeß erfolgreich zum Ab-
schluß bringen. Ich würde mich freuen, wenn wir da die Ihrer Verantwortung, Herr Altbundeskanzler Dr. Kohl,
zu den Vorreitern einer neoliberalen Europakonzeption,
Unterstützung des ganzen Hauses hätten; denn es wird
deren Grundzüge ganz einfach zu beschreiben sind: Das
sehr schwierig werden. Der Erweiterungsprozeß hängt
vom Erfolg des Fortgangs der Strukturreform der EU ab; Kapital erhält grenzenlose Freiheiten, während die ar-
beitsmarktpolitische und soziale Verantwortung auf na-
das ist ganz offensichtlich. Allein an den Kosten der
tionaler Ebene verbleibt. Dort sind aber die Handlungs-
gemeinsamen Agrarmarktpolitik wird man feststellen
können: Ein Beitritt Polens und Ungarns unter Beihal- spielräume durch Konvergenzkriterien und Stabili-
tätspakt so weit eingeschränkt, daß der Deregulierungs-
tung der heutigen Struktur würde jeden Kostenrahmen
druck nahezu ungebremst auf die schwächsten Mitglie-
sprengen. Das geht gar nicht. Wir müssen demnach vor-
her eine entsprechende Reform machen: Das ist die der der Gesellschaft durchschlägt,
Agenda 2000. (Beifall bei der PDS)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 837
Dr. Gregor Gysi

(A) das heißt auf Arbeitslose, auf Schlechtverdienende, auf immer schwieriger, als wenn man das als Voraussetzung (C)
Alleinerziehende, auf kinderreiche Familien oder auf verstanden hätte, wie es unser Anliegen war.
Flüchtlinge. Das ist eine Tatsache.
Wir begrüßen, daß die neue Bundesregierung eine
Deshalb gibt es in der Bevölkerung zunehmend Vor- aktive europäische Beschäftigungspolitik vorantreiben
behalte gegenüber Europa. Das Entscheidende ist doch, will. Das ist ein Schritt, den die christlich-liberale Vor-
wie die Menschen Europa erfahren und erleben. Daran gängerregierung scheute wie der Teufel das Weihwas-
müssen wir etwas verändern, wenn wir eine wirkliche ser. Doch bei aller Freude scheinen mir die Aussagen in
europäische Integration in Gang setzen wollen. der Koalitionsvereinbarung darüber sehr allgemein und
wenig nachvollziehbar zu sein. Sie schreiben dort, daß
(Beifall bei der PDS)
Sie „mehr Beschäftigung im makroökonomischen Kon-
Wann immer es Anstöße von außen gab – Herr Dr. Kohl text der Lohn-, Geld- und Fiskalpolitik erreichen wol-
kann sich daran mit Sicherheit noch erinnern –, Europa len“. Abgesehen davon, daß das schon einer dreifachen
sozialer und gerechter zu gestalten, konnte man sicher Übersetzung bedarf, bevor irgend jemand versteht, was
sein: Sie, Herr Kohl, treten auf die Bremse; Sie werden damit gemeint sein kann, sage ich Ihnen: Allein die Ko-
das verhindern. Sie waren es doch, der zusammen mit ordinierung nationaler Aktionspläne fortzuentwickeln
der gesamten Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. jede wird nicht genügen, um auf dem europäischen Kontinent
Arbeitsmarktpolitik auf europäischer Ebene abgelehnt das Problem der Arbeitslosigkeit ernsthaft anzugehen.
hat. Sie wollten, daß dort nur ein Finanzgebilde, ein Bü-
rokratiegebilde entsteht, das von den Menschen nicht (Beifall bei der PDS)
akzeptiert werden kann. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir durch
Wer will, daß Europa von den Menschen positiv er- Arbeitszeitverkürzung, durch eine aktive Beschäfti-
fahren wird, der muß dafür sorgen, daß diese Europäi- gungspolitik und durch eine Förderung sozialer und
sche Union demokratischer wird, daß sie sozialer wird, kultureller Dienstleistungen im Non-profit-Bereich so-
daß sie arbeitsmarktpolitische Dinge regelt und daß sie wie durch Qualifizierung und Weiterbildung vor allem
in der Lage ist, soziale, ökologische und andere Stan- für Jugendliche und Frauen das Problem Arbeit europa-
dards durchzusetzen. Genau das war unsere Kritik am weit entschieden angehen können.
Euro. Ich frage, Herr Bundeskanzler: Wäre es nicht an der
(Beifall bei der PDS) Zeit, daß wir den Gedanken, Staaten, die die Konver-
genzkriterien verletzen, als Sünder zu benennen und sie
Wir haben gesagt – und ich bleibe dabei –: Es mag sein, dafür sogar zu bestrafen, weil uns das Geld so wichtig
daß der Euro stabil wird; das ist heute auch von Herrn ist, erweitern? Wäre es nicht an der Zeit, auch eine
(B) Haussmann wieder betont worden. Aber ist denn Geld Grenze für die Arbeitslosigkeit festzulegen? Staaten, die (D)
nur des Geldes wegen da? Geht es denn nur um die Sta- diese Grenze überschreiten, sind genauso schlimme
bilität des Geldes? Geht es nicht auch um die Frage, was Sünder wie die Staaten, die im Rahmen ihrer Geldpolitik
aus dem Geld wird, was damit sozial, ökologisch und nicht ordentlich wirtschaften. Wenn das geschieht, dann
auf anderen Gebieten, kulturell etc., erreicht wird? bekäme Europa endlich auch einen arbeitsmarktpoliti-
Wir haben gesagt: Wer eine Einheitswährung will, schen und sozialen Anstrich. Das wäre meines Erachtens
muß vorher die Europäische Union demokratisieren, auch an der Zeit.
muß das Europäische Parlament stärken und muß über- (Beifall bei der PDS)
dies dafür sorgen, daß in Europa soziale, arbeitsmarkt-
politische und ökologische Mindeststandards gelten und Ich hoffe auch, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich
daß wir eine Steuerharmonisierung bekommen. Dann endlich dafür einsetzen, daß die Trennung von Arbeits-
kann man auch eine gemeinsame Währung einführen. markt- und Beschäftigungspolitik einerseits und von
Wirtschafts-, Regional- und Strukturpolitik andererseits
Alles andere bedeutet – das wird sich erst in den aufgegeben wird. Diese Trennung ist schon national
nächsten Jahren zeigen –, daß über die Währung die falsch. Europaweit ist sie auf jeden Fall falsch und
Angleichung erzwungen wird, aber dann auf möglichst bringt uns in der Frage nicht weiter.
niedrigem Niveau. Das wird zu sozialen Auseinander-
setzungen führen, und das wird leider auch den Rechts- Es kann nach unserer Auffassung auch nicht dabei
extremismus stärken. Das war immer unsere Sorge. bleiben, daß die Europäische Zentralbank einzig der
Deshalb haben wir immer gesagt: Euro – so nicht! Erst Preisstabilität verpflichtet bleibt. Auch die Europäische
die Voraussetzungen schaffen, die bis heute nicht gege- Zentralbank muß Politik im Interesse von mehr Be-
ben sind! schäftigung und von sozialer Sicherheit machen. Dazu
gehören mehr Kriterien als das Kriterium der Preisstabi-
(Beifall bei der PDS)
lität. Auch deshalb brauchen wir ein weiteres Gremium,
Damit übernimmt diese Regierung natürlich eine in dem zum Beispiel neben den Vertretern des Rates der
komplizierte Verantwortung; das will ich überhaupt Europäischen Zentralbank auch Parlamentarier des Eu-
nicht bestreiten. Denn jetzt müssen diese Prozesse prak- ropäischen Parlaments, Vertreter der europäischen Ge-
tisch im nachhinein geregelt werden, die eigentlich vor- werkschaften, Arbeitgeber und die jeweiligen Wirt-
her hätten geregelt werden müssen, bevor man eine Ein- schafts-, Finanz-, Arbeits- und Sozialminister Sitz und
heitswährung einführt. Im nachhinein ist das natürlich Stimme haben, um eine – wie das so schön heißt –
838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Gregor Gysi

(A) makroökonomische Politik auch mit Hilfe der Finanz- sigkeit. Wenn es uns gelingt, eine vernünftige europäi- (C)
politik zu machen. sche Beschäftigungspolitik zu machen, dann wird es
auch gelingen, die Kosten der Arbeitslosigkeit deutlich
Herr Bundeskanzler, Sie haben sehr lange – das herunterzufahren und damit auch die Belastung der
scheint Ihnen ein Herzensanliegen zu sein; ich sage Ih- Bundesrepublik Deutschland zu reduzieren.
nen ganz offen: Die Passage in Ihrer Rede war mir zu
lang – über die Belastungen Deutschlands durch Netto- Ich stimme Ihnen zu, daß man darum ringen sollte,
zahlungen nach Europa gesprochen. Wer so lange über die Lasten in Europa gerechter zu verteilen. Ich finde
dieses Thema spricht, der bestätigt damit existierende nur, man sollte es nicht so überdimensional betonen,
Vorbehalte und schürt sie zum Teil noch. Das ist nicht weil es dann einen nationalistischen Touch bekommt,
ungefährlich. Wir haben nicht das Recht – das sage ich den wir nicht gebrauchen können. Eine gerechtere Ver-
zu diesem Bundeskanzler –, sozusagen auf Mitleidstour teilung der Lasten erreichen Sie viel leichter, wenn Sie
zu gehen, um damit den Eindruck zu erwecken, die ar- sie mit leisen Tönen fordern, als wenn Sie sie mit lauten
men Deutschen würden ganz Europa finanzieren. Das ist Tönen fordern.
eine Art Stammtischlogik, die leider weit verbreitet ist.
Noch ein letzter Gedanke in diesem Zusammenhang.
(Zuruf von der SPD: Das hat doch keiner ge- Wer die Nettobelastung herunterfahren will, muß aller-
sagt!) dings auch die Bürokratie in Europa überwinden. Da ist
inzwischen ein Filz entstanden, der zu Recht von den
– Moment! Wenn Sie das bestreiten, dann lese ich Ihnen Menschen nicht mehr akzeptiert wird, und zwar in kei-
das vor, was der Herr Bundeskanzler wörtlich in seiner nem europäischen Land. Hier bitte ich Sie, mit der Faust
Rede auf dem SPD-Parteitag dazu gesagt hat: auf den Tisch zu hauen und zu sagen: Wir brauchen ein-
Meine noch sehr kurze, aber schon sehr nachhaltige deutige Reformen, die sehr viel Geld sparen. Hinzu
Erfahrung ist kommt, daß dadurch auch die Akzeptanz der europäi-
schen Institutionen wieder erhöht werden würde. Die
– so wörtlich Bundeskanzler Schröder –, Leute verstehen nicht mehr, was in Europa entschieden
wird, was sich aber unmittelbar auf ihr Leben auswirkt.
daß man sich in Europa bei vielen, nicht allen, der
Nur, wie gesagt, im stoiberschen Stil können wir diese
Partner darauf verlassen hat, wenn es eine Krise in
Diskussion nicht führen. Das ist ein falscher Ansatz.
der Politik gibt, wenn es unterschiedliche Erwar-
Machen Sie den Menschen Mut für Europa! Aber kämp-
tungen an die Ressourcen gibt, gibt es immer einen
fen Sie darum, daß die Angleichungsprozesse bei Steu-
Weg: Die Krise wird gelöst, wenn die Deutschen
ern, bei sozialen, ökologischen und kulturellen Stan-
dies finanzieren.
dards jetzt durchgesetzt werden, sonst kann der Euro
(B) (Zuruf von der SPD: Das war kurz und präzi- zwar stabil sein, aber politisch, moralisch, sozial, ökolo- (D)
se!) gisch zu einem Fiasko werden. Wer das nicht will, muß
jetzt die Angleichungsprozesse in sozialer, ökologischer
Ich sage Ihnen: Das ist eine Tonlage, die nicht unge- und kultureller Hinsicht in Europa voranbringen.
fährlich ist, weil sie viele Vorbehalte bestätigt nach dem
Motto: die armen Deutschen würden ganz Europa finan- (Beifall bei der PDS)
zieren.
(Beifall bei der PDS) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Wieczorek von
Damit erreicht man keine europäische Integration; denn der SPD-Fraktion das Wort.
sie ist auch eine Frage der Sprache und der Kultur.
(Zurufe von der SPD) Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Herr Präsident!
– Sie in der SPD-Bundestagsfraktion müssen doch auch Meine Damen und Herren! Ich habe schon viele Euro-
ein bißchen Kritik aushalten können. Wenn nicht, dann padebatten mitgemacht. Deswegen möchte ich versu-
trage ich noch ein Zitat von Ihrem Bundeskanzler vor. chen, daß wir wieder zu der üblichen Gemeinsamkeit
Dann wird es noch schlimmer. Er hat gesagt: kommen. Das fällt mir ein bißchen schwer, nachdem ich
Herrn Schäuble zuhören mußte. Ich hatte den Eindruck,
... mehr als die Hälfte der Beiträge, die in Europa daß er einen Kampf ausgefochten hat, der sehr viel mit
verbraten werden, zahlen die Deutschen. dem inneren Verhältnis der beiden Fraktionsteile der
Schon die Vokabel „verbraten“ ist – tut mir leid – CDU/CSU-Fraktion zu tun hat.
Stammtischniveau. Deshalb meine Bitte, Herr Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
kanzler Schröder: Hören Sie damit auf, in dieser Frage 90/DIE GRÜNEN)
herumzustoibern. Das ist der falsche Weg. So erreicht
man keine europäische Kultur und keine europäische Ich hoffe, daß das bald bereinigt wird und daß wir wie-
Integration. der zu einer gemeinsamen Basis zurückkommen können.

(Beifall bei der PDS) Welches sind die Erwartungen und die Herausforde-
rungen an die deutsche EU-Präsidentschaft? Sie sind
Das Wichtigste, um die Nettobelastung für Deutsch- sehr hoch. Deswegen halte ich es für wichtig, daß die
land herunterzufahren, ist die Bekämpfung der Arbeits- Chance beim Wiener Gipfel ab morgen genutzt wird.
losigkeit. Das Teuerste in ganz Europa ist die Arbeitslo- Dabei geht es vor allen Dingen um die politische Vor-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 839
Dr. Norbert Wieczorek

(A) klärung der Agenda 2000. Ich füge hinzu: Ich wünschte deutlich zu verstärken. Das war auch Ziel des Stabili- (C)
mir, es sei schon etwas präziser, als es sich beim täts- und Wachstumspaktes.
Außenministerrat gezeigt hat. – Herr Kinkel, Sie werden
Es waren übrigens sozialdemokratische Finanzmi-
vermutlich zustimmen; Sie lächeln an dieser Stelle.
nister, die Herrn Waigel mit dazu gebracht haben, daß er
Ich bin sehr froh, daß wir in Wien, obwohl der Am- am Ende zustimmen mußte, daß zum Stabilitäts- und
sterdamer Vertrag noch nicht ratifiziert und in Kraft ist, Wachstumspakt die laufende Berichterstattung über die
über Beschäftigungspolitik reden. Ich halte das für sehr realwirtschaftliche Entwicklung einschließlich der Be-
positiv. Ich halte es ferner für positiv, daß dort auch über schäftigung gehört. Das ist in der öffentlichen Diskussi-
das Subsidiaritätsprotokoll, das ebenfalls Teil des Ver- on häufig übersehen worden.
trages ist, und über ökologische Dimensionen diskutiert Es geht auch darum, daß es entscheidende Maßnah-
werden kann. Ich möchte aber darauf verweisen, daß es men gegen unfairen Wettbewerb, sei es bei den Steuern,
noch andere Themen gibt, die heute weniger zur Sprache der Umwelt oder den Sozialabgaben, gibt.
gekommen sind, wie etwa die Stärkung der inneren Si-
cherheit und des Rechts, eine rechtsstaatliche Strategie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Gemeinschaft zur effektiven Bekämpfung der inter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
national organisierten Kriminalität und entschiedene
Für mich ist auch wichtig, daß es eine soziale Flankie-
Fortschritte zur Lösung der Asyl-, Einwanderungs- und
rung der Wirtschafts- und Währungsunion gibt, denn
Flüchtlingsprobleme, ebenso wie die Stärkung der Ge-
sonst hat der Euro auf Dauer keine Chance.
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die
Zielsetzung einer gemeinsamen europäischen Verteidi- Mit dem Regierungswechsel in Deutschland können
gungsidentität. Dies alles sind Dinge, die notwendig nun endlich die Möglichkeiten des Amsterdamer Ver-
sind. Ich hoffe, daß der Gipfel von Wien diesen Prozeß trages zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in
weiterbringt. Es ist ein andauernder Prozeß und nicht der Europäischen Union in vollem Umfang genutzt wer-
etwas, über das abgestimmt und ein Beschluß gefaßt den. Es waren ja deutsche und europäischen Sozialde-
wird. Es wäre deshalb auch wünschenswert, daß ein per- mokraten, die damals gegen den Widerstand der Herren
sonelles Zeichen gesetzt wird, daß von der Mrs. oder Kohl, Rexrodt und Waigel durchgesetzt haben, daß die-
Mister GASP, wie es in unserer europäischen Sprache ses Kapitel mit in den Amsterdamer Vertrag kam.
heißt, also dem hohen Vertreter oder der Vertreterin der
Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheits- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: So war es
politik, eine Entscheidung getroffen wird. nicht, das weißt du doch!)
– Aber natürlich war das so, Herr Kollege Haussmann.
Schließlich kommt es sehr darauf an, daß im zentra-
(B) len Punkt, nämlich in dem der Beschäftigungspolitik, die Ihr habt bei früheren Debatten dieser Art doch immer (D)
dagegen gestimmt. Warum wollt ihr das nicht wahrha-
nationale Umsetzung der vereinbarten beschäftigungs-
ben?
politischen Leitlinien im Anschluß an die Diskussion in
Wien tatsächlich vorangetrieben wird, und daß wir im Ein Popanz ist allerdings aufgebaut worden. Es ging
April eine neue Überprüfung machen können. um große, kreditfinanzierte europäische Programme.
Das hatte niemand gefordert, das war nur erfunden wor-
Nun zur deutschen Präsidentschaft. Sie fällt zusam- den. Das war doch die Situation, Herr Kollege Hauss-
men mit dem offiziellen Beginn der Europäischen Wirt- mann.
schafts- und Währungsunion. Ich sage „mit dem offizi-
ellen Beginn“, denn faktisch hat sich bei der letzten eu- Wir erwarten also, daß der Europäische Rat in Wien
ropaweiten Zinssenkung gezeigt, daß durch die Zusam- den Beschäftigungspakt verabschiedet, in den diese Lei-
menarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und stungen eingehen, aber im Sinne von überprüfbaren und
den nationalen Zentralbanken die Währungsunion prak- verbindlichen Zielvorgaben, insbesondere bei der Be-
tisch schon in Gang gesetzt ist. Ich halte dies für erfreu- kämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit
lich. und der Verstärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Ich glaube, daß das Programm für 100 000 Jugendliche,
(Beifall bei der SPD) das die Bundesregierung gerade beschlossen hat, hier
Aber mit der endgültigen Einführung des Euro werden sehr gut hineinpaßt und damit auch ein Maßstab ist.
die ökonomischen Rahmenbedingungen schärfer und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
anders werden. Das ist ja nicht übertrieben: Der Euro des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
bringt eine neue Qualität des Verhältnisses der Teilneh-
merstaaten an der Europäischen Währungs- und Wirt- Es muß dabei auch einen echten Wettbewerb unter
schaftsunion untereinander mit sich. den Mitgliedstaaten um die besseren Konzepte zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit geben. Dem Druck der
Eine entscheidende Folge wird ein steigender Wett- Klassenbesten sollten wir uns in der Bundesrepublik
bewerbsdruck im Binnenmarkt sein. Deswegen ist es ganz gezielt aussetzen. Für mich sind die Niederlande da
auch so wichtig, daß die Beschäftigungspolitik schon durchaus ein Vorbild. Ich glaube, daß wir mit dem
vorgezogen wird, obwohl der Amsterdamer Vertrag Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähig-
noch nicht gilt. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Koor- keit, das ja gerade vor zwei Tagen – offensichtlich posi-
dinierungsrolle aktiv nutzen, um ihre wirtschafts-, fi- tiv – in Gang gesetzt wurde, auf einem guten Wege sind,
nanz- und beschäftigungspolitische Zusammenarbeit um die Versäumnisse der Vergangenheit – ich erinnere
840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr . Norbert Wieczorek

(A) an die Aufkündigung eines Versuchs zu einem Bündnis wird, wenn sie mit der Ökosteuerreform endlich anfängt, (C)
für Arbeit im Jahr 1996 – wettzumachen. verstehe ich angesichts des europäischen Selbstver-
ständnisses, das sonst im Hause herrschte, ehrlich gesagt
(Beifall bei der SPD) nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Kollege Wieczorek, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Seifert von der PDS-Fraktion? Nun ein Wort zur Osterweiterung. Wir haben die
Osterweiterung immer unterstützt. Wir wollen die
Überwindung der Spaltung Europas sowie Frieden, Si-
Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Ja, bitte. cherheit und Stabilität in unserem Haus Europa. Damit
erfüllt sich für uns auch die Ostpolitik von Willy Brandt.
Ich darf daran erinnern, was sie für uns Sozialdemokra-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte ten und übrigens auch für die F.D.P., die dies damals
schön. mitgetragen hat, bedeutet hat.
Die elf Bewerberländer können sich deshalb darauf
Dr. Ilja Seifert (PDS): Vielen Dank, daß Sie meine verlassen, daß wir ihr Anwalt für einen zügigen Beitritt
Zwischenfrage erlauben. – Herr Kollege Wieczorek, ich bleiben. Beide Seiten müssen dafür ihre Hausaufgaben
freue mich ja, daß Sie sich, wie auch der Bundeskanzler machen. Ich betone die Beidseitigkeit. Deshalb ist für
und andere, für Beschäftigung in Europa einsetzen wol- uns die Agenda 2000 wichtig. Das ist die erste Hausauf-
len. Aber bei allen hat mir bis jetzt der Bezug auf den gabe, die die EU machen muß. Es ist Aufgabe der sozi-
Art. 13 des Amsterdamer Vertrages gefehlt. Sie haben aldemokratisch geführten Bundesregierung, hier ein fai-
nicht gesagt, daß Sie sich für die Schwächsten einsetzen res Ergebnis herbeizuführen. Ein faires Ergebnis herbei-
wollen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen. zuführen heißt aber, daß ihm alle zustimmen müssen.
Wir hatten heute vormittag eine Debatte über Menschen- Denn dies kann man den anderen nicht aufzwingen.
rechte. Wenn Sie in der praktischen Politik Menschen-
rechte umsetzen wollen – wir haben gesagt, das muß je- Herr Kollege Haussmann, an dieser Stelle ein Wort
den Tag gemacht werden –, dann, bitte, sagen Sie doch zu Ihren Forderungen: Wenn die deutsche Bundesregie-
ein Wort dazu, ob Sie sich auch für die besondere Förde- rung heute ein Datum für den Beitritt setzen würde, mit
rung von Menschen mit Behinderungen einsetzen wol- dem die Partner nicht übereinstimmen würden, wäre das
len, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel ein sehr merkwürdiges Verfahren.
beim Wohnen, zum Beispiel bei öffentlichen Verkehrs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(B) mitteln usw. Es ist sehr wichtig, daß auch da ein Signal Wir können unter unserer Präsidentschaft kein Datum (D)
von der deutschen Präsidentschaft ausgeht.
dafür setzen. Ich habe es immer für fahrlässig gehalten,
dafür Daten festzulegen.
Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Ich kann Ihnen dazu (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Warum
nur sagen, daß ich da keine Differenzierung mache. denn nicht? Ein Zieldatum!)
Wenn wir etwas zugunsten von Langzeitarbeitslosen
machen wollen – es geht ja gerade um diesen Bereich, – Das können wir nicht, weil das nicht Aufgabe der Prä-
und da liegt ja die Priorität –, dann umfaßt das alle. Daß sidentschaft ist. Lieber Herr Haussmann, die Bundesre-
wir natürlich eine besondere Behandlung von Behin- gierung muß sehen, daß sie unter ihrer Präsidentschaft
derten brauchen, mit anderen Hilfen und anderen Mög- erst einmal die Agenda 2000 durchbekommt. Wir hoffen
lichkeiten, um sie, soweit es geht und soweit sie dazu in alle, daß das im März klappt. Sie aber wollen vorher
der Lage sind, in den Arbeitsprozeß einzugliedern, ist noch eine Einigung über das Datum herbeiführen. Ich
für mich eine Selbstverständlichkeit. habe für Ihre Forderung wenig Verständnis, und ich
komme an einer anderen Stelle noch einmal darauf zu-
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Es muß aber besonders rück.
erwähnt werden! Ich danke Ihnen für diesen
Hinweis!) (Beifall bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann
[F.D.P.]: Pflichtverteidigung!)
– Man kann nicht auf jede einzelne Gruppe eingehen.
Ich bitte dafür um Verständnis. Ich will das gar nicht ge- – Nein, überhaupt keine Pflichtverteidigung. Sie kennen
ringschätzen. doch die Probleme. Sie tun jetzt so, als würden diese für
Sie nicht mehr existieren, seit Sie nicht mehr in der Re-
Zu den beschäftigungspolitischen Leitlinien gehört gierung sind. Das ist Ihr Problem.
auch, daß wir zu Absprachen über die wirschafts- und
(Beifall bei der SPD)
finanzpolitischen Rahmenbedingungen der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit kommen. Ich weise ausdrücklich Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich den Screening-
darauf hin, daß Herr Mario Monti, der für Steuern zu- Prozeß und die Verhandlungen anzusehen: Dazu gibt es
ständige Kommissar für die Kommission immer wieder den unverbindlichen Zeitrahmen bis zum Jahre 2002
ganz deutlich sagt, daß es notwendig sei, den Faktor Ar- oder 2003. Sie wissen ebensogut wie ich, daß selbst ein
beit von Abgaben zu entlasten und andere Faktoren, et- möglicher Abschluß von Verhandlungen noch nicht den
wa den Faktor Energie sowie ähnliche Faktoren, stärker Beitritt bedeutet, weil in jedem einzelnen Land ein Rati-
zu belasten. Daß dann die Bundesregierung kritisiert fikationsprozeß stattfinden muß. Sie wissen beispiels-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 841
Dr. Norbert Wieczorek

(A) weise sehr genau, wie groß die Schwierigkeiten Grie- – Ich rede nicht von Koalitionsabsprachen. Es ist Ihr (C)
chenlands mit Zypern sind. Es wäre zum Beispiel auch Problem, daß Sie an keiner Koalition mehr beteiligt
unverantwortlich, etwa den Leuten in Polen und Ungarn sind. Ich rede darüber, daß Sie so etwas innerhalb der
zu sagen: Das ist das Datum eures Beitritts. Wenn der EU nur gemeinsam machen können. Wenn Sie, Herr
Beitritt dann zu diesem Datum nicht erfolgt, bekommt Haussmann, das endlich einmal begreifen würden! Es ist
man dort einen „backlash“. Das müssen wir verhindern. bei Ihnen etwas schwierig.
Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Der begreift es nicht!
(Beifall bei der SPD) Es hat keinen Sinn bei Haussmann! – Dr. Uwe
Küster [SPD]: Eine schwierige Lage für Herrn
Ich möchte deshalb auch noch etwas zu denen sagen,
Haussmann!)
die jetzt an der ersten Runde der Verhandlungen nicht
beteiligt sind. Für uns gilt nach wie vor, was in Luxem- – Das ist wohl richtig. Aber wenn man sich verrannt hat,
burg beschlossen wurde, nämlich daß die Kopenhage- dann ist das so. Wir reden allerdings auch mit dem Spit-
ner Kriterien die entscheidenden Kriterien für die Auf- zenkandidaten der F.D.P. für die Wahl zum Europäi-
nahme von Verhandlungen sind. Das heißt auch, daß schen Parlament. Insofern hoffe ich, daß er bis dahin
nicht der letzte im Zug die Geschwindigkeit des gesam- noch lernfähig ist.
ten Geleitzuges – um diesen militärischen Ausdruck hier
zu gebrauchen – bestimmen kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen begrüßen wir auch die Fortschritte, die es Ich möchte noch etwas zur Agenda 2000 sagen, weil
etwa in Litauen, Lettland und jetzt – insbesondere auch das für uns die wichtigste Herausforderung ist. Es gibt
im politischen Bereich – in der Slowakei gegeben hat. drei Kernbereiche: die Reform der Agrarpolitik – ich
Hier muß allerdings auch darauf hingewiesen werden, werde Sie enttäuschen; ich werde dazu heute nichts sa-
daß noch eigene Anstrengungen zu machen sind; denn gen, weil die Kollegin Klappert das gleich anschließend
von selbst geht das nicht. Jeder muß seine Hausaufgaben machen wird –, die Reform der EU-Finanzen und die
machen. Es muß vor allen Dingen verhindert werden, Reform der EU-Strukturpolitiken. Ich möchte nur zwei
daß es zu schweren sozialen Verwerfungen bei den spä- Punkte daraus aufgreifen.
teren Beitritten und auch in der Vorbereitung kommt. Zu den EU-Finanzen: Wir wissen, wie wichtig die
Das ist die Vorbereitungsstrategie, die wir ausdrücklich EU für Frieden und Wohlstand in Europa und insbeson-
unterstützen. Auch sind entsprechende Übergangsfristen dere in der Bundesrepublik ist. Trotzdem müssen wir in
notwendig. Ich erinnere nur an die Freizügigkeit. der Situation, in der wir heute sind, darauf hinweisen,
Ich möchte an dieser Stelle noch eines sagen, weil es daß es zu mehr Beitragsgerechtigkeit kommen muß.
(B) wohl manchem entgangen ist. Im Amsterdamer Vertrag Die überzogene Belastung der Bundesrepublik ist nicht (D)
gibt es eine Bestimmung im Protokoll Nr. 2, in der aus- mehr hinzunehmen. Diese Belastung ist natürlich in
drücklich steht: Vor dem ersten Beitritt eines neuen Edingburgh entstanden. Ich habe mit großem Interesse
Landes müssen die Zusammensetzung der Kommission in einem Protokoll von Edingburgh gelesen, daß der
und die Stimmverteilung im Rat geklärt werden. damalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium
ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Kohäsi-
Herr Bundeskanzler a. D. Kohl und Sie, Herr Kinkel, onsfonds unabhängig von der Konvergenz seien und
werden sich daran erinnern, warum das nicht in Nord- natürlich auch nach dem Beitritt fortgeführt werden
wijk und erst recht nicht in Amsterdam zustande ge- könnten. Ich weise nur einmal darauf hin, weil das ja
kommen ist. Über diese Schwierigkeiten haben Sie manchmal bestritten wurde. Es ist nachzulesen in einem
selbst noch verhandelt. Protokoll der Verhandlungen. Ich habe es dabei, wenn
(Zuruf von der CDU/CSU) es Sie interessiert.

– Dazu gab es damals einen Streit mit Chirac – wenn Sie Deswegen müssen wir dahin kommen, daß dies end-
es deutlicher hören wollen. Ich bin froh, daß es jetzt lich korrigiert wird. Die Wege hat die Kommission vor-
wieder eine bessere Beziehung zu Herrn Chirac gibt. geschlagen. Es wird einen Mix aus verschiedenen An-
Aber das war doch der Hintergrund, warum in Nordwijk sätzen geben. Aber alle diese sind vernünftige Ansätze,
das nicht passiert ist. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. mit denen man vorankommen kann. Das ganze System
Ich stelle das nur fest. Wer das weiß, der kann doch muß fairer gestaltet werden, insbesondere auch deshalb,
nicht leichtfertig durch die Gegend laufen und sagen: weil die Erweiterung natürlich Geld kostet. Die Frage
Also, jetzt setzen wir mal ein Datum, nach dem Motto ist, in welchem Rahmen das geschieht. Hierher gehört
„Wir haben auch bei der Währungsunion ein Datum ge- für mich der Punkt, daß kein Land besonders begünstigt
setzt.“ Bei der Währungsunion haben es zwei Länder werden darf. Das gilt zum Beispiel für den Großbritan-
erst einmal auf den Tisch gebracht. Da hat die EU sich nien-Rabatt, der nach den Ausführungen der Kommissi-
selbst verpflichtet. Das ist im Moment doch gar nicht on dazu führen würde, daß bei einer Erweiterung Groß-
drin. Deswegen muß ich in aller Deutlichkeit sagen: Ich britannien im Verhältnis nur ein Drittel von dem zahlen
halte das für unverantwortlich. würde, was alle anderen Mitgliedsländer zahlen. Dies ist
kein Ausdruck europäischer Solidarität. Dies muß ange-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des gangen werden.
Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN] – Zuruf des Abg. Dr. Helmut (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Haussmann [F.D.P.]) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
842 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Norbert Wieczorek

(A) Ich möchte noch ein Wort zur Strukturfondsreform Europapolitik und der europäischen Integration jetzt erst (C)
sagen. Wir unterstützen ausdrücklich die Konzentration begonnen werden. Tatsache ist aber, daß die europäische
auf die eigentlichen Ziel-1-Gebiete. Das schließt Ost- Integration in den letzten zehn Jahren, insbesondere seit
deutschland ein. Ein schlichtes „Weiter so!“, indem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte, eine
Zahlungen aus den Fonds für Gebiete, die über 50 Pro- beispiellose Erfolgsgeschichte ist.
zent der EU-Fläche umfassen, einfach weiterlaufen, darf
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
es nicht geben. Das gibt keinen Sinn. Allerdings sehen
wir auch ein – anders wird ein Kompromiß gar nicht Diese Erfolgsgeschichte ist mit dem Namen des ehema-
möglich sein –, daß es für die sogenannten Ziel-2- ligen Bundeskanzlers Helmut Kohl sowie mit den Na-
Gebiete und die 5-b-Gebiete ein langsames Auslaufen, men der ehemaligen Finanzminister Gerhard Stoltenberg
ein langsames Absenken geben muß. Übergangsrege- und Theo Waigel und der ehemaligen Außenminister
lungen werden Teil des Kompromisses sein. Das sage Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel verbunden.
ich voraus. Das ist die einzige Möglichkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wichtig für uns ist auch – darüber sollten sich gerade
die Bayern freuen; auch ich bin für diese Position –, daß In den letzten zehn Jahren wurde ein erstklassiges Fun-
die nationalen Fördergebiete und die europäischen Re- dament gelegt, auf dem die neue Bundesregierung auf-
gionalfördergebiete übereinstimmen. Es kann nicht sein, bauen kann. Wir werden Sie, meine Damen und Herren
daß wir Differenzen in den Fördergebietsabgrenzungen von der neuen Regierung, in den nächsten Monaten al-
haben. Dies sollte unter dem Gesichtspunkt geschehen, lein daran messen, ob Sie ähnlich tatkräftige Erfolge bei
daß die nationalen Fördergebiete in Übereinstimmung der europäischen Integration erzielen können, wie es in
mit der Kommission von den Regionen – bei uns den den letzten Jahren der Fall war. Das wird die alleinige
Ländern – selbst bestimmt werden. Meßlatte sein.

(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU)

– Abwarten, Kollege Müller. – Natürlich muß mit Brüs- Bundeskanzler Schröder hat vor einigen Wochen zu
sel gesprochen werden. Aber es darf in Brüssel keine Helmut Kohl gesagt: Sie sind ein harter Gegner und ein
Festlegung über den Kopf der betroffenen Regionen fairer Mann. Ich hätte mir gewünscht, daß er diese Fair-
hinweg geben. Das ist doch auch Ihre Position, wenn ich neß auch bei der Beurteilung der Europapolitik und der
Sie richtig verstehe. Finanzierungsformen der Vergangenheit angelegt hätte.
Aber ebenso wie er die Vergangenheit verzerrt und
schief dargestellt hat, hat er sich heute auch anders über
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr den Bayerischen Ministerpräsidenten ausgelassen, als
(B) Kollege Wieczorek, kommen Sie bitte zum Schluß. das noch vor wenigen Monaten der Fall war. In mir ver- (D)
dichtet sich immer mehr der Verdacht, daß dieser neue
Bundeskanzler seine Positionen schneller ändert, als sich
Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Ich möchte noch ei- ein Ventilator drehen kann.
nen Punkt ansprechen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der Wiener Gipfel muß Mister und Mrs. GASP aus-
wählen. Nun ist nicht sicher, daß das passiert. Ich Noch vor wenigen Monaten hat er Edmund Stoiber,
möchte sehr anregen, daß das zumindest unter deutscher befragt zu dessen Europapolitik, in der „Neuen Ruhr-
Präsidentschaft geschieht, damit die Gemeinsame Au- Zeitung“ recht gegeben und hinzugefügt: Edmund Stoi-
ßen- und Sicherheitspolitik endlich auch personell ange- ber weiß, wovon er spricht. Heute wird er – Wolfgang
gangen wird. Das gleiche gilt für den Aktionsplan zur Schäuble hat es schon gesagt – als Regionalfürst abqua-
Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und lifiziert. Ähnliches gilt in bezug auf die Beschlüsse von
des Rechts. Meine persönliche Auffassung ist, daß der Edinburgh und die bisherige Finanzierung der EU. Herr
Vorschlag der Niederlande, eine Task Force „Asyl und Bundeskanzler, Sie haben hier einfach die Wahrheit ver-
Einwanderung“ für diesen Zweck einzusetzen, sinnvoll zerrt.
ist, um weiterzukommen. Dies ist eine Anregung, die ich (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Minde-
persönlich noch geben möchte. stens!)
Ich danke Ihnen. Ich möchte Ihnen drei Dinge zu den Beschlüssen von
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Steffi Edinburgh vom Dezember 1992 zur Finanzierung der
Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Europäischen Union sagen, die dann 1995 in Kraft ge-
treten sind. Mir liegt das Protokoll des Haushaltsaus-
schusses vor. Damals unterrichtete die Bundesregierung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als die Parlamentsgremien noch vorher detailliert und nicht
nächster Redner hat der Kollege Horst Seehofer von der mit wolkigen Ausführungen, so daß sie sich mit diesen
CDU/CSU-Fraktion das Wort. Dingen ordentlich befassen konnten.
(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das waren
noch Zeiten!)
Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist ja gele- Vier Wochen vor Edinburgh hat der Haushaltsausschuß
gentlich der Eindruck erweckt worden, als müßte mit der einvernehmlich – ich habe das Protokoll dabei – den Be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 843
Horst Seehofer

(A) schlüssen zugestimmt. Alle Erwartungen, die der Haus- Dieses Verhalten ist in jedem Falle eines Bundeskanz- (C)
haltsausschuß damals mit Zustimmung Ihrer Fraktion an lers unwürdig.
den Europäischen Rat von Edinburgh formuliert hat,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sind anschließend dort erfüllt und in den folgenden Jah-
ren mit Ausnahme der Reduzierung des Rabatts des Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-West-
Vereinigten Königreichs umgesetzt worden. falen bezeichnet Ihre Europapolitik als „Software“, die
alle Konflikte außen vor läßt. Was wir heute von Ihnen
Ich stelle erstens fest: Die Beschlüsse von Edinburgh
gehört haben, unterstützt diese Einschätzung. Wir be-
haben Ihre Zustimmung gefunden. Wenn Sie heute diese
grüßen im Grundsatz Ihr Bekenntnis zur Subsidiarität
Beschlüsse abqualifizieren und die Neuorientierung der
und zur Bürgernähe. Auf Dauer wird es ein einiges und
Finanzierung mit den Fehlern begründen, die angeblich
demokratisches Europa nur dann geben, wenn es sich als
in Edinburgh gemacht wurden, dann muß man die Öf-
Europa der Bürger versteht und dieses nicht nur be-
fentlichkeit darauf hinweisen, daß Sie das mitgetragen
hauptet, sondern entsprechend handelt. Bürgernähe heißt
haben.
Subsidiarität; denn Subsidiarität ist das Gegenteil von
(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Wir haben es Zentralismus. Wir hätten uns gewünscht, wenn Sie auch
aber nicht verhandelt!) auf diesen Punkt konkreter eingegangen wären.
Sie verschweigen zweitens aber auch die besondere Es gibt einen Brief von Helmut Kohl, den er – fast
historische Situation. Im Jahre 1992 ging es darum, die auf den Tag genau vor einem halben Jahr – gemeinsam
fünf neuen Bundesländer voll in den Rechts- und Wirt- mit dem französischen Präsidenten Chirac an den da-
schaftsraum der Gemeinschaft zu integrieren. mals amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates,
Tony Blair, geschrieben hat:
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es kann nicht die Zielsetzung europäischer Politik
Sie verschweigen in der Öffentlichkeit, daß es damals sein, einen europäischen Zentralstaat, das heißt ein
eine Sondersituation war. Typisch für Ihren Umgang mit zentralistisch aufgebautes Europa zu begründen.
der deutschen Einheit ist, daß Sie auch die Tatsache ver- Wir müssen vielmehr alles daransetzen, eine starke
schweigen, daß die neuen Bundesländer durch die Neu- und handlungsfähige Europäische Union zu schaf-
orientierung der Finanzierung – auch das wurde in fen, die die Vielfalt der politischen, kulturellen und
Edinburgh beschlossen – aus den europäischen Struktur- regionalen Traditionen und Besonderheiten Euro-
fonds seit 1991 insgesamt 38 Milliarden DM als Struk- pas bewahrt.
turförderung erhalten haben. Die Beschlüsse lagen des-
halb im deutschen Interesse und insbesondere im Inter- Der Brief fährt fort:
esse der deutschen Einheit.
(B) Auch im künftigen Europa muß sichergestellt sein, (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.] daß Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen
werden. In Zukunft muß daher das Prinzip der Sub-
Auch einen dritten Punkt haben Sie sich nicht auf- sidiarität noch konsequentere Anwendung finden
schreiben lassen oder vielleicht nicht zur Kenntnis neh- als heute.
men wollen. Bis zur Einführung der neuen Finanzierung
im Jahre 1995, die in Edinburgh beschlossen wurde, be- Dieses Thema sollte eigentlich in Pörtschach behan-
trugen die EU-Eigenmittel 1,2 Prozent des Bruttosozi- delt werden; es ist dort aber nicht behandelt worden. Es
alprodukts in der Europäischen Union. Nach dem Vor- gab auch heute von Ihnen nur ein Lippenbekenntnis; Sie
schlag der Europäischen Kommission sollte dieser An- sind nicht weiter auf dieses Thema eingegangen. Herr
teil auf 1,32 Prozent erhöht werden. Der Haushaltsaus- Bundeskanzler, wir werden Sie auch daran messen, ob
schuß hat diese Erhöhung abgelehnt; darin waren wir Sie diesem Lippenbekenntnis Taten folgen lassen. Ne-
uns einig. Man hat sich dann auf einen Anteil von 1,27 ben der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips ist es
Prozent verständigt, der aber nie ausgeschöpft wurde. In künftig in Europa notwendig, klare Kompetenzabgren-
den Jahren 1995 und 1996 betrug die Quote jeweils 1,05 zungen zwischen Kommunen, Regionen, Mitgliedslän-
Prozent und 1997 – wahrscheinlich auch 1998 – nur 1,1 dern und der Europäischen Union zu schaffen.
Prozent. Das heißt: Seit Inkrafttreten des Eigenmittelbe-
(Beifall bei der CDU/CSU)
schlusses von 1995 sind jährlich etwa 6 Milliarden DM
weniger nach Brüssel überwiesen worden, als es bei Diese Regelung schafft Berechenbarkeit. Sie haben
voller Ausschöpfung der Eigenmittelquote der Fall ge- aber nur ein Lippenbekenntnis abgegeben. Sie haben
wesen wäre. Relativ gesehen liegt die Eigenmittelquote sich nicht dazu geäußert, ob während der deutschen Prä-
unter dem Niveau des Jahres 1994. sidentschaft die Ziele, die im Brief von Helmut Kohl
und Chirac enthalten sind, umgesetzt werden sollen. Sie
(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hört!
tun genau das Gegenteil. Sie haben auf Ihrem Parteitag
Hört!)
gesagt: Wie schön wäre es, wenn der deutsche Beschäf-
Das ist die Realität, Herr Bundeskanzler. Deshalb tigungspakt durch europäische Hilfen ergänzt werden
komme ich nicht umhin, zu sagen: Entweder haben Sie könnte. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es richtig er-
sich mit diesem Thema nur oberflächlich auseinanderge- kannt: Ein europäisches Beschäftigungsprogramm, das
setzt, oder Sie haben in den letzten Tagen und auch Sie auf Ihrem Parteitag offensichtlich anders definiert
heute in Ihrer Regierungserklärung die Wahrheit ver- haben als vor dem Deutschen Bundestag, bedeutet, daß
zerrt. Ganz gleich welche der Möglichkeiten zutrifft: die Bundesrepublik Deutschland in erster Linie bezahlt
844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Horst Seehofer

(A) und nur einen Bruchteil dessen, was sie bezahlt, zurück- Wir sind nicht gegen Europa, wir sind gegen ein zen- (C)
bekommt. Unter diesen Voraussetzungen können Sie die tralistisches Europa. Wir sind nicht für Nationalisierung,
Diskussion über die Eigenmittel vergessen. sondern wir sind für ein Europa der Nationen und Re-
gionen. Wir sind für ein Europa – auch das sollte man
Ferner schlagen Sie eine Sozialunion vor. Wir haben der deutschen Öffentlichkeit einmal deutlich sagen –,
den höchsten Sozialstandard in Europa. Die Schaffung das sich am christlichen Menschenbild orientiert
einer Sozialunion kann nur bedeuten, daß wir entweder
die Sozialstandards für unsere Bevölkerung auf den eu- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
ropäischen Durchschnitt heruntersetzen oder daß andere GRÜNEN]: Oh, oh! – Lachen bei der SPD)
Mitgliedsländer ihren Sozialstandard anheben, was von
und von Vielfalt und Eigenverantwortung geprägt ist. –
den Deutschen bezahlt wird. Die Folge ist die gleiche
Diese Häme von der SPD, wenn wir vom christlichen
wie die, die sich aus dem Beschäftigungsprogramm er-
Menschenbild reden, spricht für sich.
gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie schlagen eine Steuerharmonisierung vor. Dazu
haben Sie den bemerkenswerten Satz gesagt: Wir wollen
keine nationalen Alleingänge. Wenn die Ökosteuer am Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
1. April in Deutschland in Kraft treten soll, Sie aber Kollege Seehofer – –
gleichzeitig – im Hinblick auf die deutsche Präsident-
schaft – sagen, Sie wollten keine nationalen Alleingän-
ge, dann schlage ich Ihnen vor: Ziehen Sie doch den Horst Seehofer (CDU/CSU): Ein so verstandenes
Murks mit der Ökosteuer zurück, und führen Sie von Europa, meine Damen und Herren, ist für die Men-
vornherein eine europäische Steuerharmonisierung schen –
durch!
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
Kollege Seehofer – –
Sie haben heute überhaupt nichts dazu gesagt. Aber
auch das erwarten wir von Ihnen in der deutschen Präsi-
dentschaft. Es geht nicht an, daß Ihr Innenminister sagt, Horst Seehofer (CDU/CSU): – kein Hindernis, son-
wir könnten weitere Zuwanderung nicht mehr vertragen dern eine Chance in eine gute Zukunft. – Damit bin ich
und bräuchten auf europäischer Ebene eine gerechte fertig, Herr Präsident.
Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber, Sie aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
vor dem Hintergrund des europäischen Gipfels am Wo- ordneten der F.D.P.)
(B) chenende und vor den sechs Monaten deutscher Präsi- (D)
dentschaft kein Sterbenswörtchen zu dieser Frage sagen.
Auch daran werden wir Sie messen. Sie machen genau Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer
das Gegenteil von dem, was Sie hier sagen. Kurzintervention hat der Kollege Karl Hermann Haack
das Wort.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr


Seehofer, kommen Sie bitte zum Schluß. Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Ich melde
mich wegen der Einlassungen, die Sie, Herr Kollege
Seehofer, hier gemacht haben, und möchte Sie an die
Horst Seehofer (CDU/CSU): Meine Damen und Position erinnern, die Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr
Herren, die wichtigste Orientierung für die Zukunft Eu- Dr. Schäuble, bezogen hat, als wir darüber diskutierten,
ropas ist – nur dann werden wir Vertrauen bei der Be- welche Konsequenzen die Einführung des Euro hat. Sei-
völkerung gewinnen –, daß wir nach dem Bau des euro- nerzeit hat der Kollege Schäuble Aufsätze geschrieben,
päischen Hauses, der in den letzten Jahren in bewun- in denen stand, nach der Einführung des Euro müsse die
dernswerter Weise erfolgt ist, jetzt bei der Innenarchi- Europäische Wirtschafts- und Sozialunion kommen.
tektur durch das Umsetzen des Grundsatzes von Föde- Er hat in seinen Beiträgen, die ich abgeheftet habe,
ralismus und Subsidiarität ein bürgernahes Europa deutlich gemacht, daß das im Grunde eine Europäisie-
verwirklichen. Diese europäische Einigung ist eine Er- rung des Subsidiaritätsprinzips bedeute.
folgsgeschichte. Sie ist das erfolgreichste Friedenspro-
jekt in diesem Jahrhundert. Sie nützt den Menschen und Als Sie sich als Bundesgesundheitsminister mit den
EuGH-Urteilen – ich meine die Kohll-Decker-Urteile,
brachte Freiheit und Freizügigkeit, mehr Wohlstand und
die Pflegeurteile – auseinanderzusetzen hatten, waren Sie
mehr Stabilität.
zunächst einmal derjenige im Kabinett, der öffentlich ge-
Darüber hinaus sollten wir in einer Europa- sagt hat, das deutsche Subsidiaritätsprinzip und unsere
Diskussion nie vergessen: Europa sichert, daß die in Sozialstandards seien uns heilig. Darüber haben wir bei-
Jahrhunderten gewachsene europäische Wertegemein- de eine Kontroverse im Ausschuß geführt. Ich habe Ih-
schaft auch in der globalisierten Welt Zukunft hat. Des- nen gesagt: Auf der Basis der Europäisierung des Subsi-
halb ist Europa mehr als ein Markt; wir haben nie etwas diaritätsprinzips müssen wir andere Strategien verfol-
anderes behauptet. Die europäische Einigung ist eine Er- gen. Das bedeutet, daß wir einen Prozeß einleiten müs-
folgsgeschichte, die den Menschen in Europa und auch sen, der zu der Klärung der Frage führt, wie konkret sich
in Deutschland nützt. das europäische Sozialmodell zukünftig gestalten soll.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 845
Karl Hermann Haack (Extertal)

(A) Der Entscheidungsweg, den der Europäische Ge- setzen. Wir wollen Europa – dies ist in der heutigen De- (C)
richtshof in seinen Urteilen geht – es sind wieder drei batte deutlich geworden – sozialer, ökologischer und
Verfahren anhängig, die die alten Urteile bestätigen auch demokratischer machen. Deshalb will ich drei ex-
werden –, läßt das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr emplarische Punkte nennen, wie wir während der Präsi-
Kollege Seehofer, als olle Kamellen erscheinen. Ich ha- dentschaft mit Initiativen über das hinaus, was das
be die Bitte, daß Sie, wenn Sie schon glauben, eine Re- Pflichtprogramm vorschreibt, aktiv werden wollen.
plik auf den Bundeskanzler geben zu müssen, sich zu-
Der erste Punkt ist das Thema Beschäftigungspoli-
nächst einmal sachkundig über das machen, was in der
tik. Die Währungsunion befindet sich auf dem Weg der
europäischen Diskussion über die Subsidiarität derzeit
praktischen Realisierung. Dies macht vor allem eine
Sache ist.
stärkere Abstimmung in der Beschäftigungs-, der Wirt-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schafts- und der Sozialpolitik erforderlich, damit der so-
ziale Zusammenhalt in der Europäischen Union nicht
gefährdet wird. Hier werden wir deutlich machen, daß
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr gerade die Abwahl der alten Regierung eine bessere und
Kollege Seehofer. verbindlichere Koordination der Politik im Kampf gegen
die Arbeitslosigkeit in Europa ermöglicht.
Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Haack, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie bestätigen unsere Befürchtungen, daß Sie in Europa
nicht mehr Subsidiarität und Föderalismus, sondern Erfolge mit einem europäischen Beschäftigungspakt zu
mehr Zentralität wollen und daß wir insofern in der Eu- haben, halte ich für ganz wesentlich, um die Akzeptanz
ropapolitik an einer Zeitenwende stehen. Dies ist der der Europäischen Union in der Bevölkerung zu stärken.
Hauptgrund, warum wir Ihrer neuen Europapolitik so Der zweite Punkt. In den letzten Jahren hat Deutsch-
kritisch gegenüberstehen. land seine Vorreiterrolle in Sachen Umweltpolitik ver-
Sie reden von einem bürgernahen Europa. Sie spre- loren und sich eher zu einem Bremser hinsichtlich einer
chen von Subsidiarität und betreiben auch im Hinblick ökologischen Reformpolitik gemacht. Wir wollen wäh-
auf die Sozialunion faktisch genau das Gegenteil. Eine rend der deutschen Präsidentschaft umweltpolitische
Sozialunion – ich sage das noch einmal – bedeutet nicht Initiativen starten und haben hierfür einen Katalog an
ein bürgernäheres, sondern ein zentralistischeres, büro- Vorschlägen vorgelegt.
kratischeres und vor allem teureres Europa. Für uns ist besonders wichtig, daß wir gerade die
Ich habe als Gesundheitsminister immer gesagt: Ich umweltpolitischen Ansätze auch aus anderen Ländern
aufgreifen. Eine horizontale Planung, Vorsorge und de-
(B) möchte nicht, daß auf europäischer Ebene entschieden mokratische Kontrolle der Umweltpolitik, eine aktive (D)
wird, wo in Baden-Württemberg ein Krankenhaus ge-
baut werden kann und wie groß es sein darf. Auch ein und konstruktive Rolle – das liegt uns am Herzen. Dazu
solches Vorgehen ist mit der Sozialunion verbunden. gehört natürlich auch die Ökosteuer. Hier werden wir
mit der Doppelzüngigkeit der alten Regierung Schluß
(Beifall bei der CDU/CSU – Karl-Hermann machen, die auf der einen Seite sagte, eine nationale
Haack [Extertal] [SPD]: Das ist ein Quatsch!) Ökosteuer erst dann einführen zu können, wenn eine eu-
Ihre Einlassung bestätigt mich, daß wir in der Tat einen ropäische Regelung vorliege, und die auf der anderen
tiefgreifenden Dissens über die künftige Orientierung in Seite alles dazu getan hat, um auf der europäischen Ebe-
der Europapolitik haben. ne Versuche einer Harmonisierung der Energiesteuern
zu sabotieren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächster Redner hat der Kollege Christian Sterzing vom Wir werden diese Harmonisierungsdiskussion, anknüp-
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. fend an die Kommissionsvorschläge, aufgreifen und
vorantreiben, da sie für die Gestaltung eines nachhalti-
gen Europas sehr wichtig ist.
Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum letzten Punkt, zum demokratischen Europa. Die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Überwindung des Demokratiedefizites ist sicherlich
schon viel über das Pflichtprogramm der Ratspräsident- nicht während der Ratspräsidentschaft zu leisten. Aber
schaft gesagt worden, über die wirklich gewaltige Auf-
mit einer Initiative für eine Grundrechtscharta, die unter
gabe, die Agenda 2000 zum Abschluß zu bringen und Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte erarbeitet werden
auch die Erweiterung voranzutreiben. Wir werden ganz soll, wollen wir ein Zeichen für einen verfassunggeben-
gewiß alles uns Mögliche tun, um in den nächsten sechs
den Prozeß auf der europäischen Ebene setzen.
Monaten im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft
unsere Hausaufgaben zu erledigen. Das ist die Pflicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen aber auch fragen: Was bleibt noch an Mit Initiativen nach dem Inkrafttreten des Amsterda-
Kür? Denn während einer Kür kann man in besonderer mer Vertrages zur konkreten Ausgestaltung eines Infor-
Weise seine Schwerpunkte, seine Talente und seine Fä- mations- und Akteneinsichtsrechts für Bürgerinnen und
higkeiten zeigen und dadurch auch besondere Akzente Bürger, mit Initiativen für die Weiterentwicklung der
846 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Christian Sterzing

(A) Gleichstellungsrichtlinie, für eine konkrete Ausgestal- Pragmatismus schnell in Populismus“. Die „taz“ (C)
tung des Diskriminierungsverbots im Amsterdamer schreibt: „Der Kanzler stellt die EU als Geldmelkma-
Vertrag wollen wir weitere Akzente auf dem Weg zu schine am deutschen Euter dar. Wer so spricht, hat von
einem demokratischen, zu einem sozialen, zu einem Europa nichts begriffen.“
nachhaltigen und eben auch zu einem erweiterungsfähi-
gen Europa setzen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, die europäische Idee ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht irgendeine Idee. Die Europäische Union ist das
sowie bei Abgeordneten der SPD) Erfolgsmodell einer friedensstiftenden und wohlfahrts-
fördernden Gemeinschaft, das Modell, das historisch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als und weltweit einmalig ist.
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ernst Burgba- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
cher von der F.D.P.-Fraktion. ten der CDU/CSU)
Ohne die Europäische Union – das sollten wir uns im-
Ernst Burgbacher (F.D.P.): Herr Präsident! Meine
mer wieder in Erinnerung rufen – hätten wir die deut-
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
sche Einheit niemals bekommen. Unser nationales Inte-
haben Sie heute schon die „taz“ gelesen? Die Seite 12?
resse ist Europa.
Ich kann es nur empfehlen. Dort steht: So ist der neue
Kanzler. – Ich empfehle heute wirklich einmal die Lek- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
türe der „taz“. Das kann man nicht jeden Tag tun. Aber ten der CDU/CSU)
heute ist sie unheimlich lesenswert.
Ich will einen Gedanken aufgreifen, der für mich
(Zuruf von der SPD: „taz“ täglich!) heute etwas zu kurz kam: Wir wollen die EU transpa-
Wenn wir schon beim Zeitunglesen und bei der „taz“ renter und demokratischer gestalten. Die Bürgerinnen
sind und wenn wir feststellen müssen, daß sich heute das und Bürger müssen endlich wieder wissen, wer in Euro-
Zeitunglesen lohnt, dann ist es vielleicht auch einmal pa eigentlich was, warum und wann machen darf. Gera-
ganz interessant, das über einen längeren Zeitraum zu de im Vorfeld der Europawahl im Juni kommenden Jah-
verfolgen. res wollen wir die Kompetenzen des Europäischen
Parlaments weiter ausbauen. Wir wollen nicht, daß
(Peter Dreßen [SPD]: Die „Süddeutsche“ ist Brüssel zentralistisch zu vieles an sich zieht. Wir wollen
auch gut!) unter keinen Umständen, daß die kommunale Selbst-
(B) (D)
Ich darf aus der „Zeit“ vom 3. November 1995 zitieren – verwaltung auch nur angeknabbert wird. Dazu ist die
ich bitte Sie einfach, einmal zuzuhören –: Identifikation der Bürger mit ihrer Kommune ein viel zu
kostbares Gut.
Für irgendeine Idee, die dann am Ende keine wirt-
schaftliche Stabilität und auch keine Stabilität des (Beifall bei der F.D.P.)
Geldes signalisiert, die D-Mark aufzugeben, hielte Wir wollen unser bewährtes föderales System ausbauen
ich für falsch. und stärken, und wir wollen es schrittweise auf die eu-
So Rudolf Scharping, damals SPD-Vorsitzender, heute ropäische Ebene übertragen. Deshalb, meine Damen und
noch Vorsitzender der europäischen Sozialisten. Ich Herren, müssen wir den EU-Vertrag zu einer europäi-
wiederhole: „für irgendeine Idee“. schen Verfassung weiterentwickeln,
Sie, Herr Bundeskanzler, haben damals noch eines (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
draufgesetzt und gesagt: Endlich haben wir Sozialdemo- ten der SPD)
kraten wieder ein nationales Thema. – Ich hatte gehofft,
zu einer Verfassung als Grundlage einer föderalen Euro-
Sie hätten inzwischen Ihre Einstellung geändert. Leider
päischen Union, gründend auf dem Subsidiaritätsprinzip
Fehlanzeige. Mit Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler, am
und der Gewaltenteilung.
Dienstag in Saarbrücken haben Sie wahrlich unsere
schlimmsten Erwartungen übertroffen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die
ten der CDU/CSU) Achtung der Menschenrechte müssen darin festge-
Sie setzen kurz vor Beginn der deutschen Präsident- schrieben werden. Herr Bundeskanzler, ich finde, es wä-
schaft aus rein machtpolitischen Motiven vieles von dem re eine gute Initiative, bei den ohnehin anstehenden in-
aufs Spiel, was in den letzten Jahren in mühsamer Arbeit stitutionellen Reformen auch die Initiative zu einer eu-
geschaffen wurde. ropäischen Verfassung zu ergreifen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU) ten der CDU/CSU)
Da ist es also wieder, Ihr nationales Thema. Wie Herr Bundeskanzler, Ihre Politik des „Hau-drauf-
schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ heute? „So kippt Stils“ – so nannte es die „taz“ – läßt sich mit einem Satz
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 847
Ernst Burgbacher

(A) meines Landsmanns Manfred Rommel treffend be- nicht in Ihrem Sinn, eine Lösung der Finanzierungsfra- (C)
schreiben. Rommel sagte: gen und der Agrar- und Strukturfonds herbeizuführen?
Ist es nicht im Sinne der Bevölkerung, Korrekturen
Das sicherste Mittel gegen Zahnschmerzen ist Zy- durchzuführen, um das Funktionieren der Europäischen
ankali; bloß sind nach dessen Einnahme nicht nur Union sicherzustellen? Vor allem: Ist dies vor dem
die Zahnschmerzen verschwunden. Hintergrund des Beitritts der mittel- und osteuropäi-
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam mit schen Staaten und Zyperns nicht notwendig?
feinen Bohrern die europäischen Zahnschmerzen besei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, endlich –
tigen. Ich bleibe im Bild: Lassen Sie uns dann gemein- ich sage wohl wahr: endlich – hat die Beschäftigungs-
sam eine fundierte Prophylaxe durchführen. Sorgen Sie politik auf der europäischen Tagesordnung ihren ange-
dafür, Herr Bundeskanzler, daß Sie Ihren Bruch in der messenen Platz gefunden. Auch wenn die Arbeitslosig-
Europapolitik kitten und wir im Konsens dafür sorgen keit in der Europäischen Union geringfügig zurückge-
können, daß Europa wieder mehr Biß bekommt. gangen ist, bleibt sie innen- und europapolitisch das
Herzlichen Dank. Thema Nummer eins.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Der im Amsterdamer Vertrag vorgezeichnete Weg
ten der CDU/CSU) muß jetzt gestaltet werden,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
Burgbacher, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Re- und zwar nicht durch neue Papierberge, sondern durch
de vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück- ganz konkrete Schritte. Die SPD-Bundestagsfraktion ist
wunsch. dankbar, daß die Bundesregierung mit dem angestrebten
Beschäftigungspakt für Europa einen solchen Schritt
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so-
getan hat.
wie bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Als nächster Redner hat der Kollege Günter Gloser
von der SPD-Fraktion das Wort. Meine lieben Freundinnen und Freunde aus der CDU
und CSU, es wird auch kein neuer beschäftigungspoliti-
scher Zentralismus entstehen, sondern schlicht und ein-
Günter Gloser (SPD): Herr Präsident! Meine sehr fach mehr Abstimmung, mehr Koordination und in den
(B) verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich beziehe mich Fällen, wo es notwendig ist, Harmonisierung. (D)
jetzt nicht auf die „taz“ oder eine andere Zeitung, son-
dern schlichtweg auf die Debatte, die wir heute morgen Ich unterstreiche noch einmal für die SPD die we-
über Europa führen. Ich muß mich schon fragen: Welch sentlichen Punkte: verbindliche und nachprüfbare Ziele
eine Mixtur aus abgestandenen, überholten und unzu- bei der Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslo-
treffenden Argumenten hat die neue Opposition bisher sigkeit; Verbesserung der Chancengleichheit für Frauen;
kredenzt? ganz konkrete Absprachen zur Ausgestaltung der wirt-
schafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen, die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten da sind: Entlastung des Faktors Arbeit von Steuern und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lohnnebenkosten sowie eine soziale und ökologische
Welche Verdachtsmomente haben der Fraktionsvorsit- Modernisierung des Steuer- und Abgabensystems.
zende und der neue europapolitische Sendbote aus Bay- Ich kann an dieser Stelle nur Ihrem Parteifreund,
ern, der Kollege Seehofer, der, wie ich vor einigen Ta- dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude
gen gelesen habe, eine Unterweisung in Europafragen in Juncker, zustimmen, wenn er fordert, sich im Hinblick
der bayerischen Staatskanzlei erfahren hat, angeführt? auf den Abbau der Arbeitslosigkeit genauso unter Streß
Es führte dazu – so muß es bei einer europapoliti- zu setzen, wie es bei der monetären Konvergenz der Fall
schen Debatte auch sein –, daß wir wieder einmal war.
„Haussmannskost“ hörten. Herr Haussmann, Sie pusten (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
sich hier immer groß auf. Man möchte meinen, Sie hät- Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE
ten vor einer solchen Debatte ein bestimmtes Medika- GRÜNEN])
ment geschluckt.
Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, daß Sie von der
(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: CDU/CSU sich gegen europäische Initiativen bei der
Pfui! Übel!) Beschäftigungspolitik wehren. Ich gebe nur zu beden-
Ob Sie alles glauben, was Sie sagen, bezweifle ich. ken: Da können sich Unternehmen europaweit verbin-
den und Absprachen treffen, da wird europaweit aus der
Ich frage mich nur: Sind das Ihre Antworten auf die Sicht der Unternehmen eine verbesserte Infrastruktur für
Herausforderungen, vor denen die Europäische Union diese Unternehmen gefordert, da sollen Belastungen für
und nicht nur Deutschland stehen. Ich bin froh, daß die- Unternehmen wegfallen; darüber kann und muß man
se Bundesregierung die Herausforderungen annimmt diskutieren. Aber genauso selbstverständlich ist es, in
und sich in der Tat ehrgeizige Ziele gesetzt hat. Ist es diesem Atemzug zu sagen, daß es auch europaweiter
848 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Günter Gloser

(A) Regelungen für die Beschäftigten bedarf. Wir sind in nehmen. Deshalb sichern wir auch der Bundesregierung (C)
Europa noch ein weites Stück davon entfernt, diese zu unsere Unterstützung bei ihren Verhandlungen zu.
realisieren.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Sie sprechen immer von der Wettbewerbsfähigkeit. 90/DIE GRÜNEN)
Aber sie kann doch nicht einseitig als Wettbewerb des
Dumpings beim Lohn und bei Sozialvorschriften defi-
niert werden. Wenn wir schon immer über die globalen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
Herausforderungen reden, wenn wir immer über die nächster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der
Konkurrenz zu anderen Wirtschaftsräumen wie Amerika CDU/CSU-Fraktion das Wort.
oder Asien sprechen, dann muß das auch in der Weise (Unruhe)
geschehen, daß wir bei allen Fragen von einem europäi-
schen Sozialmodell ausgehen, weil das – das zeigte – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die namentli-
eben die europäische Geschichte – auch ein Erfolgsmo- che Abstimmung rückt näher. Ich bitte trotzdem, dem
dell ist. Dafür müssen wir arbeiten. Redner Gehör zu schenken.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Herr Hintze, bitte schön.
Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Peter Hintze (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsi-
Deshalb: Absprachen, Koordinierung und Harmoni- dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am
sierung. Vergessen Sie, das Schreckgespenst eines neu- Schluß dieser Debatte läßt sich mit Fug und Recht fest-
en Zentralismus zu zeichnen. Ich habe den Bundes- stellen, daß die Startbilanz der rotgrünen Bundesre-
kanzler a. D. noch gut in Erinnerung, wie er in einer Sit- gierung in Fragen der internationalen Politik beachtlich
zung von Zentralismus hörte. Gerade wenn das von ist: Konfusion in der Europäischen Union, Konfusion
Leuten kommt, die auf europäischer Ebene föderale bei den Beitrittskandidaten, Konfusion bei den Partnern
Strukturen fordern: Da soll man, bitte schön, einmal im Atlantischen Bündnis.
nach Bayern schauen. Die bayerische Staatsregierung
sollte einmal in ihrem Binnenbefinden eine föderale (Hans-Werner Bertl [SPD]: Konfusion bei
Struktur einführen. Viele Kommunen in Bayern würden Hintze!)
sich darüber freuen, wenn es endlich soweit wäre. – Warten Sie einmal ganz entspannt ab!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Einen knappen Monat vor Beginn der deutschen
(B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
Ratspräsidentschaft zeigt sich diese Bundesregierung in
Ich komme noch auf ein anderes Kapitel zu sprechen, einer denkbar schlechten Verfassung.
mit einem Auftrag an die Bundesregierung. Es ist das
Thema der Mitbestimmung, eine unendliche Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schichte der europäischen Aktiengesellschaft. Wieder ist Das jüngste Beispiel hat die Bundesregierung – der
kein Ergebnis zustande gekommen. Daher die dringende Kanzler strahlt; aber ich denke, das ist verfrüht – gestern
Bitte an die Bundesregierung, während ihrer Ratspräsi- geliefert: Steuerkonfusion zwischen London und Bonn.
dentschaft eine Lösung herbeizuführen. Wer sich auf Die Bundesregierung dementierte zunächst, wie das
Unternehmerseite europäisch neu formieren will, „Handelsblatt“ heute dokumentiert, die Existenz einer
braucht auch eine starke Arbeitnehmervertretung. Bis in deutsch-britischen Erklärung zur EU-Steuerpolitik,
die jüngste Vergangenheit gab es im Deutschen Bun- nach der Deutschland in der Frage einer europaweit ein-
destag hierfür eine breite Unterstützung. Gerade im heitlichen Unternehmensbesteuerung den Rückwärts-
Hinblick auf diese angesprochenen Veränderungen ist gang einlegt. Erst nachdem die gemeinsame Erklärung
eine europaweite Mitbestimmungsregelung erforderlich. auf der Internetseite von Downing Street 10 stand,
Es hat lange gedauert, bis die koordinierte Beschäfti- räumte die Bundesregierung die Existenz des Papiers
gungspolitik Eingang in ein europäisches Vertragswerk ein. In London, so schließt das „Handelsblatt“, löste die
gefunden hat. Jetzt ist Handeln angesagt. So spannend Unentschlossenheit in Bonn erneute Irritationen aus.
die Lektüre von Beschäftigungsberichten auch sein mag: Bei mir hat es Irritationen ausgelöst,
Nun müssen die Konsequenzen spürbar sein. Mit der
CDU/CSU – das hat die heutige Debatte gezeigt – wird (Gernot Erler [SPD]: Was irritiert Sie eigent-
es keine Gestaltung einer europäischen Beschäftigungs- lich nicht?)
politik geben. Sie hat sich in der Zwischenzeit in der daß der Herr Bundeskanzler zwar zu Beginn seiner Re-
Stoiberschen Trutzburg verschanzt. Seehofer wird aus- gierungserklärung heute morgen auf dieses gemeinsame
geschickt, um die CSU-Medizin unters Volk zu bringen. Papier zu sprechen kam und ein Randthema nannte –
Aber, Herr Seehofer, sehr verehrter Herr Bundesge- Warnung vor Steuerdumping –, aber die Rolle rückwärts
sundheitsminister a. D., Sie sind in der Vergangenheit in der Steuerpolitik geflissentlich verschwiegen hat.
schon mit manchem Rezept gescheitert, vor allem, weil
Sie die Nebenwirkungen nicht bedacht haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir Sozialdemokraten wollen die Bürgerinnen und Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie uns voll-
Bürger auf diesem Weg der Europäischen Union mit- ständig und richtig informiert.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 849
Peter Hintze

(A) Die Aufgaben der deutschen Präsidentschaft, vor hard Schröder, die unter der Maske lächelnder (C)
denen die Regierung steht, sind beachtlich: Start des Eu- Harmonie weiterwuchert.
ro, ein gerechtes Finanzierungssystem, institutionelle
Reformen, Herstellung der Erweiterungsfähigkeit. Die Dem ist nichts hinzuzufügen.
Bewältigung dieser Aufgaben setzt eine Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka
rung voraus, die Vertrauen bei unseren Partnern genießt, [SPD]: Schade!)
die Visionen hat und die das politische Geschäft profes-
sionell beherrscht. Wir erwarten von unserer Regierung, daß sie auf dem
Gipfel in Wien die europäische Integration und die be-
Die Regierung Helmut Kohl verfügte über diese Ei- rechtigten Interessen Deutschlands in einer partner-
genschaften. schaftlichen Weise und im Ergebnis erfolgreich voran-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – bringt. Die Regierung steht auf einem großen, starken
Zurufe von der SPD: Oh! – Weitere Zurufe Fundament: Das ist die Politik der Vorgängerregierung,
von der SPD) die in den letzten Jahren und Jahrzehnten für Europa, für
Deutschland und für das Miteinander in Europa viel er-
– Ich wiederhole das gerne, weil dies in der ganzen Welt
reicht hat.
übereinstimmendes Urteil ist und auch durch Zwischen-
rufe von der linken Seite des Hauses nicht korrigiert Unsere herzliche Bitte, unser Wunsch und unser An-
werden kann. liegen ist, daß Sie daran anknüpfen, daß Sie Ihren Kon-
Die Ereignisse der letzten Wochen lassen mich aller- tinuitätsversprechen Kontinuitätstaten folgen lassen und
dings zweifeln, ob die jetzige Bundesregierung diese daß Sie nicht das zerstören, was wir in den letzten Jahr-
Befähigung hat. Wenn die deutsche Präsidentschaft ge- zehnten gemeinsam aufgebaut haben.
nauso chaotisch verläuft wie der Fehlstart der rotgrünen Ich danke Ihnen.
Regierung, dann gute Nacht Europa!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.)
Die deutsche Bevölkerung interessiert natürlich auch,
wer in der Regierung in der Europapolitik das Sagen hat.
Ist es der Herr Bundeskanzler, ist es der Herr Außenmi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nister, oder ist es Herr Lafontaine, über dessen Ambitio- nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Hem-
nen weiterhin spekuliert werden darf und der in europäi- pelmann von der SPD-Fraktion.
schen Zeitungen bereits als „heimlicher Herrscher
(B) Deutschlands“ bezeichnet wird? Diesen kleinen inner- (D)
parteilichen Streit der SPD will ich vernachlässigen. Rolf Hempelmann (SPD): Herr Präsident! Meine
Aber ich halte es für hochgradig gefährlich für die Sta- Damen! Meine Herren! Der Kollege Hintze hat soeben
bilität der gemeinsamen Währung, wenn der Bundesfi- die Startbilanz dieser Bundesregierung kommentiert.
nanzminister Zweifel an der Unabhängigkeit der Eu- Üblicherweise wird das nach 100 Tagen getan. Diese
ropäischen Zentralbank aufkommen läßt. Regierung ist aber noch keine 40 Tage im Amt. Das
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. zeigt die hohen Erwartungen an diese Regierung. Wir
Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]) fassen es als Kompliment auf, daß Sie schon jetzt so
kritisch bilanzieren.
Es ist fatal, wenn einen Monat vor dem Start des Euro
die sozialistischen und sozialdemokratischen Finanzmi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nister Europas einer Politik des leichten Geldes das
Wort reden. Der Euro braucht Stabilität, er braucht die Wir haben die Schlußbilanz der alten Bundesregierung
Unterstützung der Regierungen. Die Europäische Zen- noch sehr gut in Erinnerung. Ich denke, da wäre ein biß-
tralbank braucht Unabhängigkeit. Das sollte unser ge- chen Bescheidenheit auf Ihrer Seite durchaus ange-
meinsamer Auftrag sein. bracht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie haben gesagt, Sie wollen uns messen. In der Tat:
Wir werden gemessen. Wir gehen jedoch davon aus, daß
Vielleicht sollte der Bundeskanzler seinen Finanz- wir vom Wähler und nicht von der Opposition gemessen
minister in die Schranken weisen – wenn er es denn werden. Ihre Aufgabe ist eine andere, nämlich bessere
könnte! Konzepte auf den Tisch zu legen. Ihre Aufgabe ist nicht,
Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommt da allerdings zu diese Bundesregierung zu messen.
einem wenig hoffnungsvollen Schluß:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Gernot Erler [SPD]: Ihr lest alle zu viele
Zeitungen!) Ich will ein Wort zur Landwirtschaft sagen, zumal
hier heute schon beklagt worden ist, daß dazu zuwenig
Die neue deutsche Regierung gesagt wurde. Ich bin Wirtschaftspolitiker; deswegen
– so heißt es dort – will ich mich auf wenige Worte beschränken. Wenn hier
von der Regierung eingefordert wird, endlich etwas zum
ist nichts anderes als eine Erscheinungsform der Thema Landwirtschaft zu sagen, dann antworten wir: Es
alten Rivalität zwischen Oskar Lafontaine und Ger- ist beschämend, daß von der vorigen Bundesregierung
850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Rolf Hempelmann

(A) zum Thema Landwirtschaft in den letzten anderthalb ist nicht einzusehen, daß sich Volkswirtschaften verhal- (C)
Jahren kein Konzept auf den Tisch gelegt worden ist. ten, als wären sie Konkurrenten in einem Preiswett-
kampf. Im Gegenteil, der Wettbewerb von Unternehmen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- in vergleichbaren Ländern funktioniert erst dann ver-
spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) nünftig, wenn auch die wettbewerbspolitischen Aus-
Das ist um so widersprüchlicher angesichts der Tatsa- gangspositionen einigermaßen vergleichbar sind.
che, daß der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl in Ein solcher Prozeß wäre übrigens ein Weg, die Ak-
Polen versprochen hat: Ihr seid im Jahr 2000 in der Eu- zeptanz Europas bei den Bürgern zu erhöhen. Wollen
ropäischen Union. – Die Voraussetzungen dafür zu wir in einem freizügigen Europa der Bürger Arbeit-
schaffen hat er allerdings vergessen. Wahrscheinlich hat nehmern aus verschiedenen Ländern wirklich dauer-
er auch gewußt, warum. haft abverlangen, daß sie für das gleiche Bruttoentgelt
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, unsere Debatte netto ganz unterschiedliche Beträge mit nach Hause
findet zu einem historischen Zeitpunkt statt. Der Euro- nehmen?
päische Rat in Wien ist der letzte vor der Einführung Natürlich darf Koordinierung nicht übers Knie gebro-
des Euro. Die deutsche Präsidentschaft wird die erste chen werden. Aber die neue Bundesregierung ist ange-
sein, unter der der Euro Wirklichkeit ist. Deshalb er- treten, um eine Diskussion darüber zu beginnen, wie
wartet Europa von uns zu Recht Weichenstellungen für man den Negativwettlauf der Steuerstandorte beendet,
die Zukunft. um langfristig einen Konvergenzprozeß der Wettbe-
Was ist zu tun? Mit der Einführung des Euro steigt werbsbedingungen zu erreichen.
der Wettbewerbsdruck in Europa. Dem müssen wir Was spricht denn gegen den Versuch, uns zunächst
Rechnung tragen. Es reicht nicht aus, Maßnahmen im auf einen Korridor zu verständigen, außerhalb dessen
Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu koor- wir auf weitere Steuersenkungen oder -erhöhungen ver-
dinieren. Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag zichten, genauso wie auf weiteren Wildwuchs bei den
festgelegt, eine Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- Ausnahmen? Das könnte ähnlich funktionieren wie bei
und auch Sozialpolitik aktiv voranzutreiben. Nur so der Umsatzbesteuerung mit einer oberen und unteren
können wir die positiven Möglichkeiten der Währungs- Grenze.
union auch verwirklichen.
Eine weitere konkrete Aufgabe, bei der wir in der
(Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier nächsten Zeit vorankommen wollen, ist die Koordinie-
[SPD]) rung der Energiebesteuerung. Die neue Bundesregie-
rung hat beschlossen, die Energiepreise sehr moderat
(B) Wir ziehen in Europa an einem Strang. Am besten zie- anzuheben und so die Lohnnebenkosten zu senken. Daß (D)
hen wir auch in dieselbe Richtung.
nicht mehr drin ist, liegt daran, daß in der EU in der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vergangenheit keine ausreichenden Anstrengungen un-
ternommen wurden – übrigens auch gerade von der
Eine stärkere Koordinierung beschäftigungs- und
Bundesregierung nicht unternommen wurden. Das liegt
wettbewerbsrelevanter Politiken ist schon im Vertrag
aber auch daran, daß wir bei einem ohnehin hohen
von Amsterdam verankert. Insofern ist überhaupt nicht
Energiepreisniveau starten müssen.
zu verstehen, daß hier so leidenschaftlich gegen solche
Absichten polemisiert wird. Daß wir von solcher Koor- Die Dänen beispielsweise liegen trotz ihrer hohen
dinierung noch ein gutes Stück entfernt sind, liegt nicht Mehrwertsteuersätze am unteren Ende der europäischen
nur am Unwillen einiger europäischer Partner, sondern Strompreisskala. Da fällt es naturgemäß leichter, in die
vor allen Dingen auch am Zögern und Bremsen der alten ökologische Steuerreform einzusteigen. Schwerer fällt
Bundesregierung in den letzten Jahren. ein solcher Schritt Ländern mit hohen Strompreisen,
zum Beispiel Großbritannien.
Der Konvergenzprozeß zur Währungsunion hat ge-
zeigt, daß die Koordination funktioniert. Deshalb ist es Daraus ist zu folgern: Nur in enger Abstimmung mit
gut, daß ein deutscher Finanzminister in Europa endlich den europäischen Partnern können wir in Fragen einer
dafür wirbt, unfairen Steuerwettbewerb und übrigens ökologischen Steuerreform weiterkommen.
auch Sozial- und Umweltdumping zurückzudrängen. Es
sollte sich auch bis zur Union und zur F.D.P. herumge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines müssen wir in
sprochen haben, daß Wettläufe um die niedrigsten Un- jedem Fall verhindern: ein weiteres Auseinanderdriften
ternehmenssteuern nicht gewonnen werden können – es der Steuer- und Abgabenstruktur in Europa. Wir brau-
sei denn, man hat Interesse an der Erosion öffentlicher chen die Koordination der Wirtschafts- und Steuerpoli-
Haushalte und am Marsch in den Lohnsteuerstaat. Aber tiken in der Europäischen Union. Das liegt im Interesse
das wäre mit dem christlichen Menschenbild kaum ver- der Einzelstaaten in Europa, das liegt aber auch im In-
einbar. teresse der Europäischen Union insgesamt; denn sie be-
findet sich im Wettbewerb mit außereuropäischen Indu-
Der schon vereinbarte Verhaltenskodex bei der Un- strienationen. Dafür wollen wir gewappnet sein.
ternehmensbesteuerung, zu dem wir und andere Sie
treiben mußten, muß rechtsverbindlich werden. Es muß In der Weltwirtschaft kann die Europäische Union
Schluß damit sein, daß wir uns in Europa steuerpolitisch nur dann Gehör finden, wenn sie in ihrem eigenen Haus
auskontern, in einem Spiel, das nicht zu gewinnen ist. Es für eine koordinierte und vernünftige gemeinsame Poli-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 851
Rolf Hempelmann

(A) tik sorgt. Dafür ist diese Bundesregierung angetreten, Deshalb lassen Sie uns hier gemeinsam der McDo- (C)
dafür wird sie unsere volle Unterstützung erhalten. naldisierung der Kultur entgegentreten. Unterstützen Sie
unseren Antrag. Lassen Sie uns die Teilwertabschrei-
Vielen Dank. bung im Steuergesetz diskutieren. Lassen Sie uns heute
(Beifall bei der SPD) hier in bezug auf Europa eine kraftvolle Aussage ma-
chen, daß wir für die Buchpreisbindung eintreten. Unter-
stützen wir die Bundesregierung, die das in ihrer EU-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Präsidentschaft forcieren will.
letzte Rednerin in der Aussprache hat die Kollegin Mo-
nika Griefahn von der SPD-Fraktion das Wort. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Monika Griefahn (SPD): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte zum Schluß dieser De-
batte, die etwas kontrovers war, den Versuch machen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau
das Haus ein bißchen zusammenzuführen, Kollegin Griefhahn, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag gratuliere ich Ihnen.
(Lachen bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zu einem Thema, das uns alle bewegt und bei dem wir in
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
der Vergangenheit, wie ich den Protokollen entnehmen F.D.P.)
konnte, interfraktionelle gemeinsame Anträge gestellt
haben. Ich meine die Frage der Buchpreisbindung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache. – Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung
Der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein. nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-
Wir haben heute viel über Geld und Programme gespro-
destages der Kollegen Friedhoff, Otto (Frankfurt), Brü-
chen. Mehr als viele andere Kulturgüter repräsentiert das
derle, van Essen, Hirche, Niebel, Goldmann sowie von
Buch genau diese Weisheit. Frau Sehn, Frau Flach und weiteren Abgeordneten von
Bücher sind eben nicht einfach nur Ware, sondern der F.D.P.-Fraktion vor, die wir zu Protokoll nehmen.*)
Ausdruck von Lebensqualität. Auch Bildung ist nicht
Es liegt der Wunsch des Kollegen Dr. Norbert Lam-
einfach nur Ware, sondern Ausdruck von intakten Le- mert vor, nach § 31 der Geschäftsordnung des Deut-
bensorten. Bücher haben im europäischen Einigungs-
schen Bundestages eine Erklärung mündlich abzugeben.
prozeß eine besondere Bedeutung. Auch sie bieten eine
(B) Möglichkeit, kulturelle Verbindungen und „geistige Der Kollege Norbert Lammert hat das Wort. (D)
Tankstellen“ darzustellen, wie Helmut Schmidt es ein-
mal formuliert hat.
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Herr Präsident!
Genauso wie wir die Verpflichtung haben, die ökolo- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluß
gische Vielfalt zu erhalten, brauchen wir die kulturelle dieser Aussprache zur Europapolitik liegen zwei in gro-
Vielfalt. Genauso wie wir nicht fragen dürfen: „Was ist ßen Teilen übereinstimmende Entschließungsanträge der
die Lerche wert?“ oder „Wozu brauchen wir Wale?“, CDU/CSU-Fraktion und der Fraktionen von SPD und
müssen wir die Vielfalt von Verlagen und die Möglich- Bündnis 90/Die Grünen mit dem unscheinbaren Titel:
keiten von Schriftstellern, auch wenn sie Minderheiten „Vorschau auf den Europäischen Rat in Wien am 11./12.
darstellen, verlegt zu werden, erhalten. Rosa Luxemburg Dezember 1998 und Ausblick auf die deutsche Präsi-
würde dazu sagen: Freiheit ist auch die Freiheit der An- dentschaft in der ersten Jahreshälfte 1999“ vor.
dersschreibenden.
In beiden Anträgen geht es um Bedrohungen der
Heute haben wir den 50. Jahrestag der Allgemeinen wirtschaftlichen Basis für das Kulturgut „Buch“, von
Erklärung der Menschenrechte diskutiert. Können Men- Buchhandlungen und Verlagen, die sich in den letzten
schen ihre Freiheit der Meinung tatsächlich in einem Wochen und Monaten an allerdings sehr unterschied-
oder in nur wenigen Verlagen gewährleistet sehen, die lichen Schauplätzen ergeben haben. Der Initiativantrag
wirtschaftlich nur den Mainstream darstellen können? der Koalitionsfraktionen folgt – für jeden nachvollzieh-
Gerade wenn wir in diesen Tagen die Diskussion von bar – nicht nur im Zeitablauf einer Initiative der
Walser, Bubis und Dohnanyi verfolgen, wird klar, daß CDU/CSU-Fraktion; vielmehr übernimmt er bis in glei-
es wichtig ist, sich für Bücher einzusetzen. Der Schutz che Formulierungen hinein unser gemeinsames Anliegen
der Denkweisen ist eben heilig. zur Aufrechterhaltung gebundener Buchpreise im
deutschen Sprachraum. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt
Deshalb brauchen wir nicht mehr Fast-Food-Bücher.
In den USA kann man sich anschauen, was dabei her- ganz ausdrücklich, daß wir hier unsere mehrfach vorge-
tragene gemeinsame Überzeugung einmal mehr bekräf-
auskommt, wenn man die Preisbindung von Büchern
tigen wollen.
aufgibt und damit den Konzentrationsprozeß forciert,
nämlich weniger Buchhandlungen in der Fläche, keine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Buchhandlungen mehr in kleinen Orten. Spezialverlage
gibt es allenfalls noch im Bereich des Universitäts- __________
drucks. *) Anlage 3
852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Norbert Lammert

(A) Es wäre im übrigen auch ein Treppenwitz, wenn aus- organisiert werden, die die Betroffenen zu Recht gegen- (C)
gerechnet unter deutscher EU-Präsidentschaft die deut- über dem Deutschen Bundestag reklamieren.
sche Buchpreisbindung abgeschafft würde, nachdem es
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der vorherigen Regierung auch durch den besonderen
persönlichen Einsatz von Helmut Kohl gelungen war, in
die Maastrichter Verträge die ausdrückliche Verpflich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr
tung der Europäischen Gemeinschaft zur Entfaltung der Kollege Lammert, ich bitte zur Abstimmung zu spre-
Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer natio- chen.
nalen und regionalen Vielfalt einzufügen. Insofern ge-
ben wir hier sicherlich eine gemeinsame, für uns ganz
selbstverständliche Überzeugung zu Protokoll. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Deshalb wird
die CDU/CSU-Fraktion diesem Versuch einer verkürz-
Aber dieser Entschließungsantrag der Koalitionsfrak- ten Problembeschreibung nicht zustimmen und den An-
tionen ist leider eines der vielen Beispiele dafür, daß trag zur Beschlußfassung empfehlen, den ich erläutert
manchmal halbe Wahrheiten von ganzen Problemver- habe.
drehungen nur noch schwer zu unterscheiden sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zurufe von der SPD)
ordneten der F.D.P.)
Denn die ganze Wahrheit ist, daß gegenwärtig die wirt- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der
schaftliche Existenz vieler Buchhandlungen, vieler Kollege Weisskirchen möchte ebenfalls nach § 31 der
Verlage und leider auch vieler Autoren und Schriftsteller Geschäftsordnung das Wort nehmen. Bitte schön.
nicht nur durch die Absicht der Aufhebung der deut-
schen Buchpreisbindung gefährdet ist, sondern durch die Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Liebe Kolle-
Ankündigung dieser Bundesregierung, die Teilwertab- ginnen und Kollegen! Ich finde es ganz interessant, Herr
schreibung in unserem Steuerrecht zu beseitigen. Dr. Lammert, daß Sie zu einem Thema, das nicht zur
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Abstimmung steht, so in dieser Weise zu Felde ziehen,
denn wir werden das Thema der Teilwertabschreibung
Sie alle, einschließlich derjenigen Kolleginnen und sehr wohl in diesem Hause noch debattieren und werden
Kollegen, die mit dem Kopf schütteln, haben in den uns sehr wohl darüber klar werden, in welcher Weise
letzten Tagen – an jedes Mitglied des Deutschen Bun- wir dieses Thema behandeln. Das hat die Fraktion uns
destages gerichtet – entsprechende Briefe des Deutschen sehr klar gesagt. Deswegen muß ich ganz deutlich sa-
(B) Kulturrates bekommen, des Börsenvereins des Deut- gen: Der Punkt, den Sie in der letzten Ziffer Ihres An- (D)
schen Buchhandels, des Deutschen PEN-Zentrums, des trags beantragen, gehört nicht zu dieser Debatte, und
Schriftstellerverbandes. Meine Damen und Herren, ich deswegen werden wir diesen Punkt klar ablehnen.
kann mich an keinen Vorgang während meiner
18jährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag er- (Beifall bei der SPD)
innern, bei dem sich der Schriftstellerverband wegen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen in den
Änderungen im Steuerrecht verzweifelt an den Bundes- Ausschüssen auf diesen Punkt zurück. Lassen Sie mich
tag gewendet hat, mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß hier, Herr Dr. Lammert, ganz deutlich sagen: Niemand
er – ich zitiere – katastrophale Folgen für die Autorinnen anders als die Sozialdemokratie hat sich in eindeutiger
und Autoren, den Buchhandel und die Verlage in Weise dafür ausgesprochen, daß die Kultur in diesem
Deutschland und damit für die deutsche Literatur und Hause einen festen Platz in Form eines Ausschusses be-
Kultur sieht. kommen soll.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD)
Wir haben das vollzogen. Sie hatten in der vorigen Le-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr gislaturperiode Zeit, einen solchen Ausschuß einzuset-
Kollege Lammert, ich bitte zur Abstimmung zu spre- zen. Über Kultur brauchen wir von Ihnen keine Beleh-
chen. rungen!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Herr Präsident, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
genau das werden wir nicht durchgehen lassen, daß der
Deutsche Bundestag eine Abstimmung über etwas her-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Liebe
beiführt, was völlig unstreitig ist, und sich um die Frage Kolleginnen und Kollegen! Beide Erklärungen haben
drückt, für die wir eine Entscheidung brauchen. Dies ist,
sich nicht streng an den Zweck gehalten, aber es hat ei-
meine Damen und Herren, leider einmal mehr ausge-
nen Ausgleich gegeben.
rechnet am Schluß einer Europadebatte ein trauriges
Beispiel dafür, wie in einer Frage von in der Tat vitalem Wir kommen jetzt zur Abstimmung selbst, und zwar
nationalem Interesse mit dem Finger auf Brüssel gezeigt zunächst zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
wird, während in eigener nationaler Regierungsverant- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
wortung genau die Bedrohungen und Beschädigungen 14/182. Beide Fraktionen haben namentliche Abstim-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 853
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

(A) mung verlangt. Bitte überprüfen Sie, ob die von Ihnen schen Rat, Drucksache 14/90 (neu). Wer stimmt dafür? (C)
benutzten Abstimmungskarten auch Ihren Namen tra- – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag
gen. ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS bei Enthaltung der Fraktion der CDU/CSU
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die und Zustimmung der Abgeordneten der F.D.P. abge-
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Es geht um den Ent-
lehnt.
schließungsantrag auf Drucksache 14/182, Antrag von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
Sind alle Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die Ab-
brachten Antrag zum Europäischen Rat, Drucksache
stimmung.
14/181. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Dann schließe ich Fraktionen der Antragsteller gegen die Stimmen der
die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
Auszählung zu beginnen. Dazu bitte ich die Schriftfüh- nommen.
rerinnen und Schriftführer, die nicht an den Urnen ein-
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
geteilt sind, sich in den Auszählraum im Präsidialbau zu
Fraktion der PDS eingebrachten Antrag zu Forderungen
begeben. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, Drucksache
später bekanntgegeben.*)
14/165. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen zur Ab- Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen aller
stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion übrigen Fraktionen abgelehnt.
der CDU/CSU auf Drucksache 14/166. Hier ist von der
(Dr. Barbara Höll [PDS]: Eine Enthaltung bei
Fraktion der CDU/CSU namentliche Abstimmung be-
der SPD! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter
antragt worden. Struck [SPD]: Die SPD hat geschlossen dage-
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die gen gestimmt, Herr Präsident!)
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Die Urnen sind be-
– Wir nehmen die Erklärung des Fraktionsvorsitzenden
setzt. Ich eröffne die Abstimmung. der SPD zu Protokoll, daß es diesmal eine geschlossene
Sind alle Stimmkarten abgegeben? – Ich schließe den Abstimmung der SPD gegeben hat.
Wahlgang und bitte die Schriftführer, mit der Auszäh-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
lung zu beginnen. Das Ergebnis dieser Abstimmung ge- auf den Drucksachen 14/159 und 14/164 an die in der
be ich Ihnen ebenfalls später bekannt.**)
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
(B) (D)
(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters) – Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Liebe Kolleginnen Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführe-
und Kollegen, ich darf Sie bitten, wieder Platz zu neh- rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
men, damit wir die noch ausstehenden Abstimmungen mung über den Entschließungsantrag der Fraktionen
ordnungsgemäß durchführen können. von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Abgabe einer
Regierungserklärung des Bundeskanzlers – Vorschau
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- auf den Europäischen Rat in Wien am 11./12. Dezember
tion der F.D.P. eingebrachten Antrag zum Europäi- 1998 und Ausblick auf die deutsche Präsidentschaft in
der ersten Jahreshälfte 1999 – Drucksache 14/182, be-
__________ kannt. Abgegebene Stimmen 618. Mit Ja haben ge-
*) Seite 853 B stimmt 366, mit Nein haben gestimmt 250, Enthaltungen
**) Seite 859 B 2. Damit ist der Entschließungsantrag angenommen.

Endgültiges Ergebnis Doris Barnett Bernhard Brinkmann Sebastian Edathy


Abgegebene Stimmen: 617; Eckhardt Barthel (Berlin) (Hildesheim) Ludwig Eich
davon Klaus Barthel (Starnberg) Hans-Günter Bruckmann Marga Elser
ja: 366
Ingrid Becker-Inglau Edelgard Bulmahn Peter Enders
Wolfgang Behrendt Ursula Burchardt Gernot Erler
nein: 249 Dr. Axel Berg Dr. Michael Bürsch Petra Ernstberger
enthalten: 2 Hans-Werner Bertl Hans Martin Bury Annette Faße
Friedhelm Julius Beucher Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Fischer (Homburg)
Ja Petra Bierwirth Marion Caspers-Merk Gabriele Fograscher
Rudolf Bindig Wolf-Michael Catenhusen Iris Follak
SPD Lothar Binding (Heidelberg) Christel Deichmann Norbert Formanski
Kurt Bodewig Karl Diller Rainer Fornahl
Brigitte Adler Klaus Brandner Peter Dreßen Hans Forster
Gerd Andres Anni Brandt-Elsweier Rudolf Dreßler Dagmar Freitag
Rainer Arnold Willi Brase Detlef Dzembritzki Peter Friedrich (Altenburg)
Hermann Bachmaier Dr. Eberhard Brecht Dieter Dzewas Lilo Friedrich (Mettmann)
Ernst Bahr Rainer Brinkmann (Detmold) Dr. Peter Eckardt Harald Friese
854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Arne Fuhrmann Werner Labsch Gudrun Schaich-Walch Dr. Konstanze Wegner (C)
Monika Ganseforth Oskar Lafontaine Rudolf Scharping Wolfgang Weiermann
Konrad Gilges Christine Lambrecht Bernd Scheelen Reinhard Weis (Stendal)
Iris Gleicke Brigitte Lange Dr. Hermann Scheer Matthias Weisheit
Günter Gloser Christian Lange (Backnang) Siegfried Scheffler Gunter Weißgerber
Uwe Göllner Detlev von Larcher Horst Schild Gert Weisskirchen
Renate Gradistanac Christine Lehder Otto Schily (Wiesloch)
Günter Graf (Friesoythe) Waltraud Lehn Dieter Schloten Dr. Ernst Ulrich von
Angelika Graf (Rosenheim) Robert Leidinger Horst Schmidbauer Weizsäcker
Dieter Grasedieck Klaus Lennartz (Nürnberg) Hans-Joachim Welt
Monika Griefahn Dr. Elke Leonhard Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Rainer Wend
Achim Großmann Eckhart Lewering Silvia Schmidt (Eisleben) Hildegard Wester
Wolfgang Grotthaus Götz-Peter Lohmann Dagmar Schmidt (Meschede) Lydia Westrich
Karl Hermann Haack (Neubrandenburg) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Inge Wettig-Danielmeier
(Extertal) Christa Lörcher Regina Schmidt-Zadel Dr. Margrit Wetzel
Hans-Joachim Hacker Erika Lotz Heinz Schmitt (Berg) Dr. Norbert Wieczorek
Klaus Hagemann Dr. Christine Lucyga Carsten Schneider Helmut Wieczorek
Manfred Hampel Dieter Maaß (Herne) Dr. Emil Schnell (Duisburg)
Christel Hanewinckel Winfried Mante Walter Schöler Jürgen Wieczorek (Leipzig)
Alfred Hartenbach Dirk Manzewski Olaf Scholz Heidemarie Wieczorek-Zeul
Klaus Hasenfratz Tobias Marhold Karsten Schönfeld Dieter Wiefelspütz
Nina Hauer Lothar Mark Fritz Schösser Heino Wiese (Hannover)
Hubertus Heil Ulrike Mascher Ottmar Schreiner Klaus Wiesehügel
Reinhold Hemker Christoph Matschie Gerhard Schröder Brigitte Wimmer (Karlsruhe)
Frank Hempel Ingrid Matthäus-Maier Gisela Schröter Engelbert Wistuba
Rolf Hempelmann Heide Mattischeck Dr. Mathias Schubert Barbara Wittig
Dr. Barbara Hendricks Markus Meckel Richard Schuhmann Dr. Wolfgang Wodarg
Gustav Herzog Ulrike Mehl (Delitzsch) Verena Wohlleben
Monika Heubaum Ulrike Merten Brigitte Schulte (Hameln) Hanna Wolf (München)
Uwe Hiksch Angelika Mertens Reinhard Schultz Waltraud Wolff (Zielitz)
Reinhold Hiller (Lübeck) Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (Everswinkel) Heidemarie Wright
Stephan Hilsberg Ursula Mogg Volkmar Schultz (Köln) Uta Zapf
Gerd Höfer Christoph Moosbauer Ilse Schumann Dr. Christoph Zöpel
Jelena Hoffmann (Chemnitz) Siegmar Mosdorf Ewald Schurer Peter Zumkley
Walter Hoffmann Michael Müller (Düsseldorf) Dr. R. Werner Schuster
(Darmstadt) Jutta Müller (Völklingen) Dietmar Schütz (Oldenburg)
(B) Iris Hoffmann (Wismar) BÜNDNIS 90/ (D)
Christian Müller (Zittau) Dr. Angelica Schwall-Düren DIE GRÜNEN
Frank Hofmann (Volkach) Franz Müntefering Ernst Schwanhold
Ingrid Holzhüter Andrea Nahles Rolf Schwanitz Gila Altmann (Aurich)
Eike Hovermann Volker Neumann (Bramsche) Bodo Seidenthal Marieluise Beck (Bremen)
Christel Humme Gerhard Neumann (Gotha) Erika Simm Volker Beck (Köln)
Lothar Ibrügger Dr. Edith Niehuis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Angelika Beer
Barbara Imhof Dr. Rolf Niese Dr. Cornelie Sonntag- Matthias Berninger
Brunhilde Irber Dietmar Nietan Wolgast Annelie Buntenbach
Gabriele Iwersen Günter Oesinghaus Wieland Sorge Ekin Deligöz
Renate Jäger Eckhard Ohl Wolfgang Spanier Dr. Thea Dückert
Jann-Peter Janssen Leyla Onur Dr. Margrit Spielmann Franziska Eichstädt-
Ilse Janz Manfred Opel Jörg-Otto Spiller Bohlig
Dr. Uwe Jens Holger Ortel Dr. Ditmar Staffelt Dr. Uschi Eid
Johannes Kahrs Adolf Ostertag Antje-Marie Steen Hans-Josef Fell
Sabine Kaspereit Kurt Palis Ludwig Stiegler Andrea Fischer (Berlin)
Susanne Kastner Albrecht Papenroth Rolf Stöckel Joseph Fischer (Frankfurt)
Hans-Peter Kemper Dr. Willfried Penner Rita Streb-Hesse Katrin Göring-Eckardt
Klaus Kirschner Georg Pfannenstein Dr. Peter Struck Rita Grießhaber
Marianne Klappert Johannes Pflug Joachim Stünker Winfried Hermann
Siegrun Klemmer Dr. Eckhart Pick Joachim Tappe Antje Hermenau
Hans-Ulrich Klose Joachim Poß Jörg Tauss Kristin Heyne
Walter Kolbow Karin Rehbock-Zureich Jella Teuchner Ulrike Höfken
Fritz Rudolf Körper Margot von Renesse Dr. Gerald Thalheim Monika Knoche
Karin Kortmann Renate Rennebach Wolfgang Thierse Dr. Angelika Köster-Loßack
Anette Kramme Bernd Reuter Franz Thönnes Steffi Lemke
Nicolette Kressl Reinhold Robbe Uta Titze-Stecher Dr. Helmut Lippelt
Volker Kröning Renè Röspel Adelheid Tröscher Dr. Reinhard Loske
Angelika Krüger-Leißner Dr. Ernst Dieter Rossmann Hans-Eberhard Urbaniak Oswald Metzger
Horst Kubatschka Michael Roth (Heringen) Rüdiger Veit Klaus Wolfgang Müller
Ernst Küchler Birgit Roth (Speyer) Günter Verheugen (Kiel)
Helga Kühn-Mengel Gerhard Rübenkönig Simone Violka Kerstin Müller (Köln)
Ute Kumpf Marlene Rupprecht Ute Vogt (Pforzheim) Winfried Nachtwei
Konrad Kunick Thomas Sauer Hans Georg Wagner Christa Nickels
Dr. Uwe Küster Dr. Hansjörg Schäfer Hedi Wegener Cem Özdemir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 855
Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Simone Probst Sylvia Bonitz Joachim Hörster Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (C)
Claudia Roth (Augsburg) Jochen Borchert Hubert Hüppe Dr. Klaus Rose
Christine Scheel Wolfgang Börnsen Peter Jacoby Kurt Rossmanith
Irmingard Schewe-Gerigk (Bönstrup) Susanne Jaffke Adolf Roth (Gießen)
Rezzo Schlauch Dr. Wolfgang Bötsch Georg Janovsky Norbert Röttgen
Albert Schmidt (Hitzhofen) Klaus Brähmig Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Christian Ruck
Werner Schulz (Leipzig) Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Harald Kahl Volker Rühe
Christian Simmert Paul Breuer Bartholomäus Kalb Dr. Jürgen Rüttgers
Christian Sterzing Monika Brudlewsky Dr. Dietmar Kansy Anita Schäfer
Hans-Christian Ströbele Georg Brunnhuber Irmgard Karwatzki Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Antje Vollmer Klaus Bühler (Bruchsal) Eckart von Klaeden Hartmut Schauerte
Ludger Volmer Hartmut Büttner Ulrich Klinkert Heinz Schemken
Sylvia Voß (Schönebeck) Dr. Helmut Kohl Karl-Heinz Scherhag
Helmut Wilhelm (Amberg) Dankward Buwitt Manfred Kolbe Gerhard Scheu
Margareta Wolf (Frankfurt) Cajus Caesar Norbert Königshofen Norbert Schindler
Manfred Carstens (Emstek) Eva-Maria Kors Dietmar Schlee
PDS Peter H. Carstensen Dr. Martina Krogmann Bernd Schmidbauer
(Nordstrand) Dr. Paul Krüger Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Dr. Dietmar Bartsch Leo Dautzenberg Dr. Hermann Kues (Halsbrücke)
Petra Bläss Wolfgang Dehnel Karl Lamers Andreas Schmidt
Maritta Böttcher Hubert Deittert Dr. Norbert Lammert (Mühlheim)
Eva Bulling-Schröter Albert Deß Dr. Paul Laufs Hans Peter Schmitz
Roland Claus Renate Diemers Karl-Josef Laumann (Baesweiler)
Heidemarie Ehlert Thomas Dörflinger Werner Lensing Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Heinrich Fink Hansjürgen Doss Peter Letzgus Dr. Andreas Schockenhoff
Fred Gebhardt Marie-Luise Dött Ursula Lietz Dr. Rupert Scholz
Wolfgang Gehrcke-Reymann Maria Eichhorn Walter Link (Diepholz) Reinhard Freiherr von
Dr. Klaus Grehn Rainer Eppelmann Eduard Lintner Schorlemer
Dr. Gregor Gysi Ilse Falk Dr. Manfred Lischewski Dr. Erika Schuchardt
Dr. Barbara Höll Dr. Hans Georg Faust Wolfgang Lohmann Wolfgang Schulhoff
Carsten Hübner Ulf Fink (Lüdenscheid) Diethard W. Schütze (Berlin)
Ulla (Ursula) Jelpke Ingrid Fischbach Julius Louven Clemens Schwalbe
Sabine Jünger Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Michael Luther Wilhelm-Josef Sebastian
Gerhard Jüttemann Axel Fischer (Karlsruhe- Erich Maaß (Wilhemshaven) Horst Seehofer
Dr. Evelyn Kenzler Land) Erwin Marschewski Heinz Seiffert
Dr. Heidi Knake-Werner Herbert Frankenhauser Dr. Martin Mayer Rudolf Seiters
(B) Rolf Kutzmutz (D)
Dr. Gerhard Friedrich (Siegertsbrunn) Bernd Siebert
Dr. Christa Luft (Erlangen) Wolfgang Meckelburg Werner Siemann
Heidemarie Lüth Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Michael Meister Johannes Singhammer
Angela Marquardt (Hof) Dr. Angela Merkel Bärbel Sothmann
Manfred Müller (Berlin) Erich G. Fritz Friedrich Merz Margarete Späte
Kersten Naumann Jochen-Konrad Fromme Hans Michelbach Carl-Dieter Spranger
Rosel Neuhäuser Hans-Joachim Fuchtel Meinolf Michels Erika Steinbach
Christine Ostrowski Dr. Jürgen Gehb Dr. Gerd Müller Dr. Wolfgang Freiherr von
Petra Pau Norbert Geis Bernward Müller (Jena) Stetten
Dr. Uwe-Jens Rössel Georg Girisch Elmar Müller (Kirchheim) Andreas Storm
Christina Schenk Dr. Reinhard Göhner Claudia Nolte Dorothea Störr-Ritter
Gustav-Adolf Schur Peter Götz Günter Nooke Max Straubinger
Dr. Ilja Seifert Dr. Wolfgang Götzer Franz Obermeier Thomas Strobl
Dr. Winfried Wolf Kurt-Dieter Grill Eduard Oswald Michael Stübgen
Hermann Gröhe Norbert Otto (Erfurt) Dr. Rita Süssmuth
Nein Manfred Grund Dr. Peter Paziorek Dr. Susanne Tiemann
Gottfried Haschke Anton Pfeifer Edeltraut Töpfer
CDU/CSU (Großhennersdorf) Dr. Friedbert Pflüger Arnold Vaatz
Gerda Hasselfeldt Beatrix Philipp Angelika Volquartz
Ulrich Adam Norbert Hauser (Bonn) Ronald Pofalla Andrea Voßhoff
Ilse Aigner Hansgeorg Hauser Marlies Pretzlaff Peter Weiß (Emmendingen)
Peter Altmaier (Rednitzhembach) Dr. Bernd Protzner Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Dietrich Austermann Klaus-Jürgen Hedrich Thomas Rachel Annette Widmann-Mauz
Norbert Barthle Ursula Heinen Hans Raidel Heinz Wiese (Ehingen)
Dr. Wolf Bauer Manfred Heise Dr. Peter Ramsauer Hans-Otto Wilhelm
Günter Baumann Siegfried Helias Helmut Rauber (Mainz)
Brigitte Baumeister Ernst Hinsken Peter Rauen Gert Willner
Meinrad Belle Peter Hintze Christa Reichard (Dresden) Klaus-Peter Willsch
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Klaus Hofbauer Hans-Peter Repnik Willy Wimmer (Neuss)
Dr. Joseph-Theodor Blank Martin Hohmann Klaus Riegert Werner Wittlich
Renate Blank Klaus Holetschek Dr. Heinz Riesenhuber Dagmar Wöhrl
Dr. Heribert Blens Josef Hollerith Franz Romer Aribert Wolf
Peter Bleser Dr. Karl-Heinz Hornhues Hannelore Rönsch Elke Wülfing
Dr. Norbert Blüm Siegfried Hornung (Wiesbaden) Peter Kurt Würzbach
856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Wolfgang Zeitlmann Dr. Wolfgang Gerhardt Ina Lenke Dr. Max Stadler (C)
Wolfgang Zöller Hans-Michael Goldmann Sabine Leutheusser- Carl-Ludwig Thiele
Joachim Günther (Plauen) Schnarrenberger Dr. Dieter Thomae
F.D.P. Dr. Karlheinz Guttmacher Dirk Niebel Jürgen Türk
Klaus Haupt Günther Friedrich Nolting Dr. Guido Westerwelle
Hildebrecht Braun Dr. Helmut Haussmann Hans-Joachim Otto
(Augsburg) Ulrich Heinrich (Frankfurt)
Rainer Brüderle Walter Hirche Detlef Parr
Ernst Burgbacher Birgit Homburger Dr. Günter Rexrodt Enthalten
Jörg van Essen Dr. Werner Hoyer Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulrike Flach Ulrich Irmer Gerhard Schüßler PDS
Gisela Frick Dr. Klaus Kinkel Dr. Irmgard Schwaetzer
Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Heinrich Leonhard Kolb Marita Sehn Dr. Ruth Fuchs
Rainer Funke Jürgen Koppelin Dr. Hermann Otto Solms Ursula Lötzer

Ich denke, wir müssen jetzt nicht auf die Auszählung Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von
der anderen Abstimmung warten, sondern können zu den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
den nächsten Tagesordnungspunkten übergehen. brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über
die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatsse-
Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 2 auf: kretäre auf Drucksache 14/30. Der Innenausschuß emp-
fiehlt auf Drucksache 14/150, den Gesetzentwurf unver-
Überweisung im vereinfachten Verfahren ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Paul Krüger, Ulrich Adam und der Fraktion der Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? Der Gesetzent-
CDU/CSU wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
Ansiedlung einer Produktionsstätte für den
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Airbus A 3XX in Mecklenburg-Vorpommern
– Drucksache 14/161 – Wir kommen zur

Überweisungsvorschlag: dritten Beratung


Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
(federführend) und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
(B) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (D)
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an entwurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie bei der
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu zweiten Beratung angenommen.
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist
die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 13 a:
Wir kommen nun zu Beschlußfassungen zu Vorlagen, Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Septem-
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- ber 1998 zwischen der Regierung der Bundes-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- republik Deutschland und der Europäischen
gebrachten Entwurfs eines Zentralbank über den Sitz der Europäischen
Zentralbank
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen – Drucksache 14/70 –
Staatssekretäre
(Erste Beratung 11. Sitzung)
– Drucksache 14/30 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärti-
(Erste Beratung 8. Sitzung) gen Ausschusses (3. Ausschuß)
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenaus- – Drucksache 14/168 –
schusses (4. Ausschuß)
Berichterstattung:
– Drucksache 14/150 - Abgeordneter Hans-Ulrich Klose
Berichterstattung: Wir kommen zur
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Hartmut Koschyk zweiten Beratung
Ekin Deligöz
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig und Schlußabstimmung über den von der Bundesregie-
Petra Pau rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 857
Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) über den Sitz der Europäischen Zentralbank auf Druck- schreiber, die sagen, daß zum einen damit wesentliche (C)
sache 14/70. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Teile der Akten der Aufarbeitung entzogen werden, zum
Drucksache 14/168, den Gesetzentwurf unverändert an- anderen ein großer Teil der Akten, die in den USA gela-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf gert sind, nicht unter diese Anonymisierung fällt, weil
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- über sie gar nicht von Deutschland aus verfügt werden
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim- kann und alle Versuche, diese Akten zurückzubekom-
mig angenommen. men, bisher keinen Erfolg gehabt haben. Außerdem be-
stünden grundsätzliche Bedenken, in Archiven Anony-
Tagesordnungspunkt 13 b: misierungen vorzunehmen.
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Diese Bedenken teile ich. Ich werde dem Gesetzent-
tionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und wurf heute gleichwohl zustimmen – im Ausschuß habe
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Vierten ich mich in gleicher Weise verhalten –, weil er lediglich
Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen- eine Zwischenlösung darstellt. Wir haben in den betei-
Gesetzes (4. StUÄndG) ligten Ausschüssen fraktionsübergreifend – mit Aus-
nahme der PDS – beschlossen, daß wir noch im Jahre
– Drucksache 14/92 – 1999 eine vollständige Novellierung des § 14 anstreben,
(Erste Beratung 11. Sitzung) um grundsätzliche Mängel zu beseitigen. Wir müssen
uns in diesem Zusammenhang darüber schlüssig werden,
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ob eine Anonymisierung überhaupt erfolgen soll.
ordneten Hartmut Büttner (Schönebeck), Günter
Nooke und der Fraktion der CDU/CSU einge- Ich bin der Auffassung, Archive sind das Gedächtnis
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur eines Volkes. Deshalb sollte es selbstverständlich sein,
Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (4. daß in diesem Gedächtnis nichts verändert, nichts getilgt
StUÄndG) und nichts unleserlich gemacht wird. Dies gilt allgemein
für Archive im Rahmen des Archivgesetzes und beson-
– Drucksache 14/91 – ders für Akten des MfS. Sie müssen für die Forschung,
(Erste Beratung 11. Sitzung) für die Wissenschaft und auch für die interessierten
Bürgerinnen und Bürger zukünftiger Generationen voll-
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenaus- ständig und ungelöscht erhalten bleiben.
schusses (4. Ausschuß)
Deshalb werden wir uns Gedanken darüber machen,
– Drucksache 14/149 – ob nicht eine Anonymisierung der Archive grundsätzlich
Berichterstattung: ausgeschlossen werden soll und ob nicht statt dessen ei-
(B) ne Lösung angestrebt werden soll, die etwa beinhalten (D)
Abgeordnete Gisela Schröter
Hartmut Büttner (Schönebeck) könnte, daß lediglich in den Kopien von Dokumenten,
Hans-Christian Ströbele die auf Wunsch der Betroffenen herausgegeben werden,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Anonymisierungen vorgenommen werden. Das heißt,
Ulla Jelpke die Angaben zu einzelnen Personen können auf deren
Wunsch hin unkenntlich gemacht werden. Die Archive
Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 an sich bleiben aber vollständig erhalten.
der Geschäftsordnung vom Kollegen Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen, vor. Unter diesen Voraussetzungen stimme ich wie auch
die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion dem
heute vorgelegten Gesetzentwurf zu. Ich bitte auch die
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE anderen Kolleginnen und Kollegen, dies zu tun. Ich
GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und denke, daß wir im nächsten Jahr noch genügend Gele-
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich stimme genheit haben werden, Fehler, auch Fehler in § 14, aus-
der Verlängerung der Frist in § 14 des Stasi-Unterlagen- zubessern.
Gesetzes zu. Damit wird die Möglichkeit für Betroffene, Danke sehr.
Anträge auf Anonymisierung von ihre Person betref-
fende Informationen in den Stasi-Unterlagen zu stellen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
um vier Jahre hinausgezögert, das heißt, erst ab 1. Janu- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
ar 2003 können solche Anträge gestellt werden. So weit, der SPD)
so gut.
Wir sind von einer ganzen Reihe von Opferverbän- Vizepräsident Rudolf Seiters: Damit kommen wir
den, von Betroffenen, von Archivaren, von Historikern zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD,
und Journalisten angesprochen und angeschrieben wor- Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. eingebrachten Ge-
den, wie wir in die Beschlußbegründung schreiben kön- setzentwurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-
nen, daß diese Verlängerung der Frist letztmalig erfol- Gesetzes auf Drucksache 14/92. Der Innenausschuß
gen soll, das heißt, danach kann eine Anonymisierung empfiehlt auf Drucksache 14/149 unter Buchstabe a, den
auf Antrag der Betroffenen vorgenommen werden. Ich Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte dieje-
kann den Briefeschreibern grundsätzlich nur recht ge- nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
ben. Ich teile die wesentlichen Argumente der Briefe- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
858 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Aus- (C)
mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
angenommen. auf Drucksache 14/154 Nr. 1? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen
Dritte Beratung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- sicherheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußemp-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenergebnis wie eben
fehlung auf Drucksache 14/154 die Annahme einer Ent-
angenommen.
schließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußemp-
von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf Druck- Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
sache 14/149 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den und F.D.P. angenommen.
Gesetzentwurf auf Drucksache 14/91 für erledigt zu er-
klären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 13 e und f:
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfeh-
lung ist einstimmig angenommen. e) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuß)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 c auf:
Übersicht 11
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
nologie (9. Ausschuß) zu der Verordnung der ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
Bundesregierung gericht
Aufhebbare Vierundvierzigste Verordnung – Drucksache 14/67 –
zur Änderung der Außenwirtschaftsverord-
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechts-
nung
ausschusses (6. Ausschuß)
– Drucksachen 13/11417, 14/69 Nr. 2.1, 14/95 –
Übersicht 12
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
(B) ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- (D)
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Ge- gericht
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der – Drucksache 14/68 –
CDU/CSU angenommen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlun-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 d auf:
gen sind einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
Wir kommen nun zu den Beschlußempfehlungen des
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu der Petitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungspunkt
Unterrichtung durch die Bundesregierung
13 g:
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maß- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
nahmen der Gemeinschaft im Bereich der ausschusses (2. Ausschuß)
Wasserpolitik Sammelübersicht 6 zu Petitionen
– Drucksachen 13/7867 Nr. 2.14, 14/155 Nr. 2.1, – Drucksache 14/129 –
14/154 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Berichterstattung: haltungen? – Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stim-
Abgeordnete Christel Deichmann men des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Ulrike Flach Tagesordnungspunkt 13 h:
Eva-Maria Bulling-Schröter
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
Dazu liegt eine persönliche Erklärung der Kollegin ausschusses (2. Ausschuß)
Annette Faße vor, die zu Protokoll genommen wird.*)
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
__________
*) Anlage 4 – Drucksache 14/130 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 859
Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Tagesordnungspunkt 13 k: (C)
haltungen? – Die Sammelübersicht 7 ist mit den Stim-
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
men des Hauses gegen die Stimmen der PDS ange-
ausschusses (2. Ausschuß)
nommen.
Sammelübersicht 10 zu Petitionen
– Drucksache 14/133 –
Tagesordnungspunkt 13 i: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions- haltungen? – Die Sammelübersicht 10 ist mit den Stim-
ausschusses (2. Ausschuß) men der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
Sammelübersicht 8 zu Petitionen genommen.
– Drucksache 14/131 –
Tagesordnungspunkt 13 l:
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions-
haltungen? – Die Sammelübersicht 8 ist mit den ausschusses (2. Ausschuß)
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenom-
men. Sammelübersicht 11 zu Petitionen
– Drucksache 14/134 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Tagesordnungspunkt 13 j: haltungen? – Die Sammelübersicht 11 ist mit den Stim-
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitions- men des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU an-
ausschusses (2. Ausschuß) genommen.

Sammelübersicht 9 zu Petitionen Ich gebe dann das von den Schriftführern und Schrift-
führerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab-
– Drucksache 14/132 – stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU zur Abgabe einer Regierungserklärung
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ent- des Bundeskanzlers, Drucksache 14/166, bekannt. Ab-
haltungen? – Die Sammelübersicht 9 ist mit den Stim- gegebene Stimmen 610. Mit Ja haben gestimmt 249, mit
men des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenom- Nein haben gestimmt 337, Enthaltungen 24. Der Ent-
men. – – schließungsantrag ist damit abgelehnt.
(B) (D)

Endgültiges Ergebnis Klaus Brähmig Dr. Hans-Peter Friedrich Joachim Hörster


Abgegebene Stimmen: 609; Dr. Ralf Brauksiepe (Hof) Hubert Hüppe
davon Paul Breuer Erich G. Fritz Peter Jacoby
ja: 249 Monika Brudlewsky Jochen-Konrad Fromme Susanne Jaffke
Georg Brunnhuber Hans-Joachim Fuchtel Georg Janovsky
nein: 336
Klaus Bühler (Bruchsal) Dr. Jürgen Gehb Dr.-Ing. Rainer Jork
enthalten: 24 Hartmut Büttner Norbert Geis Dr. Harald Kahl
(Schönebeck) Georg Girisch Bartholomäus Kalb
Ja Dankward Buwitt Dr. Reinhard Göhner Dr. Dietmar Kansy
Cajus Caesar Peter Götz Irmgard Karwatzki
CDU/CSU Manfred Carstens Dr. Wolfgang Götzer Eckart von Klaeden
(Emstek) Kurt-Dieter Grill Ulrich Klinkert
Ulrich Adam Leo Dautzenberg Hermann Gröhe Dr. Helmut Kohl
Ilse Aigner Wolfgang Dehnel Manfred Grund Manfred Kolbe
Peter Altmaier Hubert Deittert Gottfried Haschke Norbert Königshofen
Dietrich Austermann Albert Deß (Großhennersdorf) Eva-Maria Kors
Norbert Barthle Renate Diemers Gerda Hasselfeldt Dr. Martina Krogmann
Dr. Wolf Bauer Thomas Dörflinger Norbert Hauser (Bonn) Dr. Paul Krüger
Günter Baumann Hansjürgen Doss Hansgeorg Hauser Dr. Hermann Kues
Brigitte Baumeister Marie-Luise Dött (Rednitzhembach) Karl Lamers
Meinrad Belle Maria Eichhorn Klaus-Jürgen Hedrich Dr. Norbert Lammert
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Rainer Eppelmann Ursula Heinen Dr. Paul Laufs
Dr. Joseph-Theodor Blank Ilse Falk Manfred Heise Karl-Josef Laumann
Renate Blank Dr. Hans Georg Faust Siegfried Helias Werner Lensing
Dr. Heribert Blens Ulf Fink Ernst Hinsken Peter Letzgus
Peter Bleser Ingrid Fischbach Peter Hintze Ursula Lietz
Dr. Norbert Blüm Dirk Fischer (Hamburg) Klaus Hofbauer Walter Link (Diepholz)
Sylvia Bonitz Axel Fischer (Karlsruhe- Martin Hohmann Eduard Lintner
Jochen Borchert Land) Klaus Holetschek Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Börnsen Herbert Frankenhauser Josef Hollerith Wolfgang Lohmann
(Bönstrup) Dr. Gerhard Friedrich Dr. Karl-Heinz Hornhues (Lüdenscheid)
Dr. Wolfgang Bötsch (Erlangen) Siegfried Hornung Julius Louven
860 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Dr. Michael Luther Wilhelm-Josef Sebastian Günther Friedrich Nolting Rainer Fornahl (C)
Erich Maaß (Wilhemshaven) Horst Seehofer Hans-Joachim Otto Hans Forster
Erwin Marschewski Heinz Seiffert (Frankfurt) Dagmar Freitag
Dr. Martin Mayer Rudolf Seiters Detlef Parr Peter Friedrich (Altenburg)
(Siegertsbrunn) Bernd Siebert Dr. Günter Rexrodt Lilo Friedrich (Mettmann)
Wolfgang Meckelburg Werner Siemann Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Harald Friese
Dr. Michael Meister Johannes Singhammer Gerhard Schüßler Arne Fuhrmann
Dr. Angela Merkel Bärbel Sothmann Dr. Irmgard Schwaetzer Monika Ganseforth
Friedrich Merz Margarete Späte Marita Sehn Konrad Gilges
Hans Michelbach Carl-Dieter Spranger Dr. Hermann Otto Solms Iris Gleicke
Meinolf Michels Erika Steinbach Dr. Max Stadler Günter Gloser
Dr. Gerd Müller Dr. Wolfgang Freiherr von Carl-Ludwig Thiele Uwe Göllner
Bernward Müller (Jena) Stetten Dr. Dieter Thomae Renate Gradistanac
Elmar Müller (Kirchheim) Andreas Storm Jürgen Türk Günter Graf (Friesoythe)
Claudia Nolte Dorothea Störr-Ritter Dr. Guido Westerwelle Angelika Graf (Rosenheim)
Günter Nooke Max Straubinger Dieter Grasedieck
Franz Obermeier Thomas Strobl Monika Griefahn
Eduard Oswald Michael Stübgen Nein Achim Großmann
Norbert Otto (Erfurt) Dr. Rita Süssmuth Wolfgang Grotthaus
Dr. Peter Paziorek Dr. Susanne Tiemann SPD Karl Hermann Haack
Anton Pfeifer Edeltraut Töpfer (Extertal)
Dr. Friedbert Pflüger Arnold Vaatz Brigitte Adler Hans-Joachim Hacker
Beatrix Philipp Angelika Volquartz Gerd Andres Klaus Hagemann
Ronald Pofalla Andrea Voßhoff Rainer Arnold Manfred Hampel
Marlies Pretzlaff Peter Weiß (Emmendingen) Hermann Bachmaier Christel Hanewinckel
Dr. Bernd Protzner Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ernst Bahr Alfred Hartenbach
Thomas Rachel Annette Widmann-Mauz Doris Barnett Klaus Hasenfratz
Hans Raidel Heinz Wiese (Ehingen) Eckhardt Barthel (Berlin) Nina Hauer
Dr. Peter Ramsauer Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Klaus Barthel (Starnberg) Hubertus Heil
Helmut Rauber Gert Willner Ingrid Becker-Inglau Reinhold Hemker
Peter Rauen Klaus-Peter Willsch Wolfgang Behrendt Frank Hempel
Christa Reichard (Dresden) Willy Wimmer (Neuss) Dr. Axel Berg Rolf Hempelmann
Hans-Peter Repnik Werner Wittlich Hans-Werner Bertl Dr. Barbara Hendricks
Klaus Riegert Dagmar Wöhrl Friedhelm Julius Beucher Gustav Herzog
Dr. Heinz Riesenhuber Aribert Wolf Petra Bierwirth Monika Heubaum
Franz Romer Elke Wülfing Rudolf Bindig Uwe Hiksch
(B) Hannelore Rönsch Lothar Binding (Heidelberg) (D)
Peter Kurt Würzbach Reinhold Hiller (Lübeck)
(Wiesbaden) Wolfgang Zeitlmann Kurt Bodewig Stephan Hilsberg
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Wolfgang Zöller Klaus Brandner Gerd Höfer
Dr. Klaus Rose Anni Brandt-Elsweier Jelena Hoffmann
Kurt Rossmanith Willi Brase (Chemnitz)
F.D.P.
Adolf Roth (Gießen) Dr. Eberhard Brecht Walter Hoffmann
Norbert Röttgen Hildebrecht Braun Rainer Brinkmann (Detmold) (Darmstadt)
Dr. Christian Ruck (Augsburg) Bernhard Brinkmann Iris Hoffmann (Wismar)
Volker Rühe Rainer Brüderle (Hildesheim) Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Jürgen Rüttgers Ernst Burgbacher Hans-Günter Bruckmann Ingrid Holzhüter
Anita Schäfer Jörg van Essen Edelgard Bulmahn Eike Hovermann
Dr. Wolfgang Schäuble Ulrike Flach Ursula Burchardt Christel Humme
Hartmut Schauerte Gisela Frick Dr. Michael Bürsch Lothar Ibrügger
Heinz Schemken Paul K. Friedhoff Hans Martin Bury Barbara Imhof
Karl-Heinz Scherhag Horst Friedrich (Bayreuth) Hans Büttner (Ingolstadt) Brunhilde Irber
Gerhard Scheu Rainer Funke Marion Caspers-Merk Gabriele Iwersen
Norbert Schindler Dr. Wolfgang Gerhardt Wolf-Michael Catenhusen Renate Jäger
Dietmar Schlee Hans-Michael Goldmann Christel Deichmann Jann-Peter Janssen
Bernd Schmidbauer Joachim Günther (Plauen) Karl Diller Ilse Janz
Dr.-Ing. Joachim Schmidt Dr. Karlheinz Guttmacher Peter Dreßen Dr. Uwe Jens
(Halsbrücke) Klaus Haupt Rudolf Dreßler Johannes Kahrs
Andreas Schmidt Dr. Helmut Haussmann Detlef Dzembritzki Sabine Kaspereit
(Mühlheim) Ulrich Heinrich Dieter Dzewas Susanne Kastner
Hans Peter Schmitz Walter Hirche Sebastian Edathy Hans-Peter Kemper
(Baesweiler) Birgit Homburger Ludwig Eich Klaus Kirschner
Birgit Schnieber-Jastram Dr. Werner Hoyer Marga Elser Marianne Klappert
Dr. Andreas Schockenhoff Ulrich Irmer Peter Enders Siegrun Klemmer
Dr. Rupert Scholz Dr. Klaus Kinkel Gernot Erler Hans-Ulrich Klose
Reinhard Freiherr von Dr. Heinrich Leonhard Kolb Petra Ernstberger Walter Kolbow
Schorlemer Jürgen Koppelin Annette Faße Fritz Rudolf Körper
Dr. Erika Schuchardt Ina Lenke Lothar Fischer (Homburg) Karin Kortmann
Wolfgang Schulhoff Sabine Leutheusser- Gabriele Fograscher Anette Kramme
Diethard W. Schütze (Berlin) Schnarrenberger Iris Follak Nicolette Kressl
Clemens Schwalbe Dirk Niebel Norbert Formanski Volker Kröning
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 861
Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Angelika Krüger-Leißner Michael Roth (Heringen) Adelheid Tröscher Dr. Angelika Köster-Loßack (C)
Horst Kubatschka Birgit Roth (Speyer) Hans-Eberhard Urbaniak Steffi Lemke
Ernst Küchler Gerhard Rübenkönig Rüdiger Veit Dr. Helmut Lippelt
Helga Kühn-Mengel Marlene Rupprecht Günter Verheugen Dr. Reinhard Loske
Ute Kumpf Thomas Sauer Simone Violka Oswald Metzger
Konrad Kunick Dr. Hansjörg Schäfer Ute Vogt (Pforzheim) Klaus Wolfgang Müller
Dr. Uwe Küster Gudrun Schaich-Walch Hans Georg Wagner (Kiel)
Christine Lambrecht Rudolf Scharping Hedi Wegener Kerstin Müller (Köln)
Brigitte Lange Bernd Scheelen Dr. Konstanze Wegner Winfried Nachtwei
Christian Lange (Backnang) Dr. Hermann Scheer Wolfgang Weiermann Christa Nickels
Detlev von Larcher Siegfried Scheffler Reinhard Weis (Stendal) Cem Özdemir
Christine Lehder Horst Schild Matthias Weisheit Simone Probst
Waltraud Lehn Otto Schily Gunter Weißgerber Claudia Roth (Augsburg)
Robert Leidinger Dieter Schloten Gert Weisskirchen Christine Scheel
Klaus Lennartz Horst Schmidbauer (Wiesloch) Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Elke Leonhard (Nürnberg) Dr. Ernst Ulrich von Rezzo Schlauch
Eckhart Lewering Ulla Schmidt (Aachen) Weizsäcker Albert Schmidt (Hitzhofen)
Götz-Peter Lohmann Silvia Schmidt (Eisleben) Hans-Joachim Welt Werner Schulz (Leipzig)
(Neubrandenburg) Dagmar Schmidt (Meschede) Dr. Rainer Wend Christian Simmert
Christa Lörcher Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Hildegard Wester Christian Sterzing
Erika Lotz Regina Schmidt-Zadel Lydia Westrich Hans-Christian Ströbele
Dr. Christine Lucyga Heinz Schmitt (Berg) Inge Wettig-Danielmeier Jürgen Trittin
Dieter Maaß (Herne) Carsten Schneider Dr. Margrit Wetzel Dr. Antje Vollmer
Winfried Mante Dr. Emil Schnell Dr. Norbert Wieczorek Ludger Volmer
Dirk Manzewski Walter Schöler Helmut Wieczorek Sylvia Voß
Tobias Marhold Olaf Scholz (Duisburg) Helmut Wilhelm (Amberg)
Lothar Mark Karsten Schönfeld Jürgen Wieczorek (Leipzig) Margareta Wolf (Frankfurt)
Ulrike Mascher Fritz Schösser Heidemarie Wieczorek-Zeul
Christoph Matschie Ottmar Schreiner Dieter Wiefelspütz PDS
Ingrid Matthäus-Maier Gerhard Schröder Heino Wiese (Hannover)
Heide Mattischeck Gisela Schröter Klaus Wiesehügel Dr. Ruth Fuchs
Markus Meckel Dr. Mathias Schubert Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Wolfgang Gehrcke-Reymann
Ulrike Mehl Richard Schuhmann Engelbert Wistuba Ulla (Ursula) Jelpke
Ulrike Merten (Delitzsch) Barbara Wittig Dr. Heidi Knake-Werner
Angelika Mertens Brigitte Schulte (Hameln) Dr. Wolfgang Wodarg Ursula Lötzer
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Reinhard Schultz Verena Wohlleben Angela Marquardt
(B) Ursula Mogg Kersten Naumann (D)
(Everswinkel) Hanna Wolf (München)
Christoph Moosbauer Volkmar Schultz (Köln) Waltraud Wolff (Zielitz)
Siegmar Mosdorf Ilse Schumann Heidemarie Wright
Michael Müller (Düsseldorf) Dr. R. Werner Schuster Uta Zapf
Jutta Müller (Völklingen)
Enthalten
Dietmar Schütz (Oldenburg) Dr. Christoph Zöpel
Christian Müller (Zittau) Dr. Angelica Schwall-Düren Peter Zumkley
PDS
Andrea Nahles Ernst Schwanhold
Volker Neumann (Bramsche) Rolf Schwanitz Dr. Dietmar Bartsch
BÜNDNIS 90 /
Gerhard Neumann (Gotha) Bodo Seidenthal Petra Bläss
DIE GRÜNEN
Dr. Edith Niehuis Erika Simm Maritta Böttcher
Dr. Rolf Niese Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Gila Altmann (Aurich) Eva Bulling-Schröter
Dietmar Nietan Dr. Cornelie Sonntag- Marieluise Beck (Bremen) Roland Claus
Günter Oesinghaus Wolgast Volker Beck (Köln) Heidemarie Ehlert
Eckhard Ohl Wieland Sorge Angelika Beer Dr. Heinrich Fink
Leyla Onur Wolfgang Spanier Matthias Berninger Fred Gebhardt
Manfred Opel Dr. Margrit Spielmann Annelie Buntenbach Dr. Klaus Grehn
Holger Ortel Jörg-Otto Spiller Ekin Deligöz Dr. Gregor Gysi
Adolf Ostertag Dr. Ditmar Staffelt Dr. Thea Dückert Dr. Barbara Höll
Kurt Palis Antje-Marie Steen Franziska Eichstädt- Carsten Hübner
Albrecht Papenroth Ludwig Stiegler Bohlig Sabine Jünger
Dr. Willfried Penner Rolf Stöckel Dr. Uschi Eid Gerhard Jüttemann
Georg Pfannenstein Rita Streb-Hesse Hans-Josef Fell Dr. Evelyn Kenzler
Johannes Pflug Dr. Peter Struck Andrea Fischer (Berlin) Rolf Kutzmutz
Dr. Eckhart Pick Joachim Stünker Joseph Fischer (Frankfurt) Manfred Müller (Berlin)
Karin Rehbock-Zureich Joachim Tappe Katrin Göring-Eckardt Rosel Neuhäuser
Margot von Renesse Jörg Tauss Rita Grießhaber Christine Ostrowski
Renate Rennebach Jella Teuchner Winfried Hermann Petra Pau
Bernd Reuter Dr. Gerald Thalheim Antje Hermenau Dr. Uwe-Jens Rössel
Reinhold Robbe Wolfgang Thierse Kristin Heyne Christina Schenk
Renè Röspel Franz Thönnes Ulrike Höfken Gustav-Adolf Schur
Dr. Ernst Dieter Rossmann Uta Titze-Stecher Monika Knoche Dr. Ilja Seifert
862 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsident Rudolf Seiters

(A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf: bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (C)
schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- – Drucksache 14/146 –
gebrachten Entwurfs eines Berichterstattung:
Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversi- Abgeordnete Dr. Günter Rexrodt
cherung und zur Sicherung der Arbeitneh- Ewald Schurer
merrechte Josef Hollerith
Oswald Metzger
– Drucksache 14/45 – Dr. Christa Luft
(Erste Beratung 9. Sitzung) Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die
Aussprache drei namentliche Abstimmungen durchfüh-
Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ren werden. Zur Annahme des Gesetzes zu Korrekturen
ordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brü- in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeit-
derle, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten nehmerrechte ist nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent- die absolute Mehrheit erforderlich. Auch hier gestatte
wurfs eines Gesetzes zur beschäftigungswirk- ich mir den Hinweis, auf Ihren Abstimmungskarten bitte
samen Änderung des Kündigungsschutzgeset- zu überprüfen, ob sie Ihren Namen tragen.
zes
Wir kommen zur Aussprache. Nach einer interfrak-
– Drucksache 14/44 – tionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei-
einhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
(Erste Beratung 9. Sitzung) spruch. Dann ist so beschlossen.
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bun-
schusses für Arbeit und Sozialordnung (11. desminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Rie-
Ausschuß) ster.

– Drucksache 14/151 –
Berichterstattung: Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
Abgeordneter Andreas Storm zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Heute ist für viele Wählerinnen und
(B) bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Wähler ein ungewöhnlicher Tag. Heute erleben sie et- (D)
schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung was, was in den vergangenen 16 Jahren nicht häufig der
Fall war: daß Wahlversprechen schnell und exakt einge-
– Drucksache 14/152 – halten werden.
Berichterstattung: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Christa Luft Wir haben vor der Wahl versprochen, daß wir die Be-
Dr. Konstanze Wegner kämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt un-
Antje Hermenau serer Politik stellen werden, und zwar nicht nur rheto-
risch.
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
(Zuruf von der SPD: Das ist erforderlich! –
nen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ein- Walter Hirche [F.D.P.]: Mit diesen Maßnah-
gebrachten Entwurfs eines
men erreichen Sie das Gegenteil!)
Gesetzes zur Änderung des Versorgungsre-
Mit diesem Versprechen machen wir Ernst.
formgesetzes 1998 (VReformGÄndG)
Am Montag haben wir gemeinsam mit den Spitzen-
– Drucksache 14/46 – vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften die er-
(Erste Beratung 9. Sitzung) ste Runde des Bündnisses für Arbeit eingeläutet.
(Zuruf von der SPD: Erfolgreich!)
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses (4. Ausschuß) Der Anfang ist gemacht worden. Alle Beteiligten haben
sich über diesen Auftakt uneingeschränkt positiv geäu-
– Drucksache 14/145 – ßert.
Berichterstattung: (Beifall bei der SPD – Dr. Hermann Kues
Abgeordnete Rüdiger Veit [CDU/CSU]: Das hat aber mit dem Gesetz
Meinrad Belle nichts zu tun!)
Ekin Deligöz
Dr. Max Stadler Wir sind nicht euphorisch, aber optimistisch gestimmt,
Petra Pau daß wir im Verlauf der weiteren Gespräche zu konkreten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 863
Bundesminister Walter Riester

(A) Ergebnissen und Fortschritten beim Kampf gegen die für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein- (C)
Arbeitslosigkeit kommen werden. geplant.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften Das Bundeskabinett hat gestern den Etat der Bundes-
die vorhandenen Probleme anpacken und auch lösen. anstalt für Arbeit in Höhe von rund 105 Milliarden DM
gebilligt. Wir reden nicht nur über Verläßlichkeit und
Zum Bündnis für Arbeit gehört es, die Situation auf Verstetigung, sondern wir praktizieren sie.
dem Ausbildungsstellenmarkt zu verbessern. Mir liegen
insbesondere die Menschen am Herzen, die es bereits zu (Zuruf von der SPD: Sehr gut!)
Beginn ihres Berufslebens sehr schwer haben. Eine fun-
dierte Berufsausbildung – das zeigen alle Untersuchun- Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt vorankommen wol-
gen – ist noch immer der beste Schutz vor Arbeitslosig- len, müssen wir die Arbeitskosten senken und damit
keit. Die Vermittlung einer Berufsausbildung ist daher den Faktor Arbeit Schritt für Schritt entlasten. Diese
ein wesentlicher Baustein unseres Sofortprogrammes Binsenweisheit setzen wir nach jahrelangem Anwachsen
zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit. Die Bündnis- der Lohnnebenkosten nun endlich in die Praxis um.
gespräche haben im übrigen gerade in diesem Punkt (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
durchaus Anlaß für Optimismus gegeben. Alle Teilneh- NIS 90/DIE GRÜNEN – Walter Hirche
mer des Bündnisses für Arbeit – im übrigen ausdrück- [F.D.P.]: Die Regelung der Lohnfortzahlung
lich auch die Wirtschaftsvertreter – haben uns ihre Un- hat die Wirtschaft um über 10 Milliarden DM
terstützung zur Umsetzung des Sofortprogrammes zuge- entlastet!)
sagt.
– Auf diesen Punkt komme ich noch zurück. – Der Bei-
(Beifall bei der SPD) trag zur Rentenversicherung wird ab 1. April 1999 abge-
Bereits Ende September diesen Jahres haben Unter- senkt. Damit stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit der
nehmen und Verwaltungen 4,4 Prozent mehr Lehrver- deutschen Wirtschaft und gleichzeitig die Kaufkraft der
träge abgeschlossen als im Vorjahr. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jährlich um 11
Milliarden DM.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Ohne Bündnis!)
(Ina Lenke [F.D.P.]: Die Steuern bleiben!)
– Ohne Bündnis. Aber diese Zahl kann und muß erhöht
werden. Darum zahlt der Bund ab dem 1. Juni 1999 die Beiträge
für die Kindererziehungszeiten,
(B) (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei der CDU/CSU)

Für diese Leistung möchte ich den Arbeitgebern ein ebenso die Aufwendungen nach dem SED-Unrechts-
großes Lob aussprechen. bereinigungsgesetz und die Kosten für die Auffüllbeträ-
ge der Renten in den neuen Ländern. „Endlich!“ kann
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ich nur sagen. Debattiert worden ist über diese Frage
jahrelang.
Diese Zahlen geben allerdings noch keinen Anlaß, sich
jetzt auszuruhen. Sie müssen vielmehr Ansporn sein, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
weitere Anstrengungen zu unternehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gerd
Andres [SPD]: Wo ist denn der Blüm?)
Wir stehen auch an der Seite der Menschen, die keine
Arbeit haben, und wollen dafür sorgen, daß die Ar- Natürlich wird das allein nicht reichen, um die Ren-
beitsmarktpolitik wieder verläßlich und berechenbar ten wetterfest für die Zukunft zu machen. Wir verschlie-
wird. Gerade in den neuen Bundesländern sind viele ßen uns nicht vor der Tatsache, daß die Rentenversi-
Menschen auf einen Rettungsanker angewiesen, der ih- cherung ein deutliches Einnahmeproblem hat. Entgegen
nen möglicherweise die Tür zum ersten Arbeitsmarkt of- den ursprünglichen Annahmen – ich wäre sehr froh ge-
fenhält. Deshalb werden wir die Maßnahmen der aktiven wesen, wenn die Zahlen schon vor dem 27. September
Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fortführen. Nicht veröffentlicht worden wären – fehlen nun fast 8 Milliar-
Achterbahnfahren, sondern Kontinuität wird das Kenn- den DM in den Rentenkassen.
zeichen der neuen Bundesregierung auf diesem Gebiet
sein. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Begrün-
de das mal!)
(Zuruf von der F.D.P.: Da müssen Sie sich
aber ändern! – Zuruf von der CDU/CSU: Da Darum müssen wir uns überlegen, wie wir den Men-
warten wir einmal ab!) schen trotz der demographischen Entwicklung sichere
Renten garantieren können. Es ist selbstverständlich,
– Wir brauchen das nicht abzuwarten. – 27,4 Milliarden daß die Bevölkerungsstruktur berücksichtigt werden
DM des Haushaltes der Bundesanstalt für Arbeit für muß. Allerdings dürfen Renten im unteren und im mitt-
1999 sind für den Eingliederungstitel vorgesehen. Das leren Bereich nicht in die Nähe des Sozialhilfeniveaus
sind über 2 Milliarden DM mehr als in diesem Jahr. geraten. Bereits zu Beginn des nächsten Jahres werden
Mehr als ein Viertel der Gesamtausgaben sind damit wir ein Gremium von Experten einsetzen, um eine große
864 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesminister Walter Riester

(A) Rentenstrukturreform vorzubereiten. Diese Reform soll hat vor wenigen Tagen im sogenannten Eismann-Urteil (C)
bis Ende 1999 stehen, also ein Jahr früher, als in der Ko- entschieden, daß Verkaufsfahrer einer großen Tiefkühl-
alitionsvereinbarung vorgesehen. firma rechtlich Arbeitnehmern vergleichbar sind.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor großen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
strukturellen Problemen auf dem Arbeitsmarkt. Ich nen- Dieses BGH-Urteil ist nicht das erste seiner Art.
ne hier nur den Wildwuchs bei den sozialversicherungs-
freien Beschäftigungsverhältnissen und den sogenannten (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Dann ist
Scheinselbständigen. Wir bringen den Arbeitsmarkt doch alles okay! – Walter Hirche [F.D.P.]: Al-
wieder in Ordnung. so sind die Dinge geregelt!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Sie sind nicht geregelt. Wir wollen eben keine Einzel-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wal- fallregelung, die uns ein Gericht vorschreibt, sondern
ter Hirche [F.D.P.]: Im Gegenteil!) wir wollen einen rechtlich klar geregelten Zustand. Es
ist doch unsere Aufgabe, rechtliche Regeln zu setzen.
– Wir bringen ihn wieder in Ordnung. – Wer abhängig
beschäftigt ist, muß auch sozialversichert sein. Denn ein (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
chaotischer Arbeitsmarkt schadet dreifach: erstens na- GRÜNEN und der PDS)
türlich den Beschäftigten, die schutzlos den allgemeinen
Lebensrisiken ausgeliefert sind; zweitens auch – das in- Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmi-
teressiert Sie, meine Damen und Herren von der rechten nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Seite, vielleicht noch mehr – der Wirtschaft, weil sich Lenke?
diejenigen Betriebe, die sich an der Sozialversiche-
rungspflicht vorbeimogeln, unlautere Wettbewerbsvor-
teile erschleichen; Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Gern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ina Lenke (F.D.P.): Herr Minister, ist Ihnen bekannt,
und drittens natürlich den Sozialkassen, weil sie mit we- daß viele Existenzgründerinnen – ich benutze den weib-
niger Beiträgen nicht mehr in der Lage sind, ihre Soli- lichen Begriff – klein anfangen, daß sie wenig investie-
darfunktion zu erfüllen. ren und oftmals nur einen Kunden und einen Auftragge-
ber haben? Ich möchte Sie fragen, ob die vier Kriterien
Wir beseitigen diese Zustände demnächst mit unserer
Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. diesen Frauen, deren Existenzgründung ich jetzt be-
(B) schrieben habe, nützen. (D)
(Ina Lenke [F.D.P.]: Ja, wie denn? – Dr.
Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Da bin ich aber
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
gespannt!)
zialordnung: Ich denke schon, daß es ihnen nützt, in die
– Da dürfen Sie ruhig gespannt sein; darüber werden wir Sozialversicherung hineinzukommen. Wenn sie sich
dann debattieren, wenn es auf der Tagesordnung steht. – dann als Selbständige entwickelt haben, können sie aus
der Sozialversicherung herausgehen. Solange sie aber
(Beifall bei der SPD) diesen Status nicht haben, solange sie in direkter Ab-
Wir tun heute den ersten Schritt, indem wir wirksame hängigkeit zu einem Unternehmen stehen, müssen sie
Maßnahmen gegen Scheinselbständigkeit ergreifen. auch in der Sozialversicherung bleiben.
Dabei möchte ich nicht mißverstanden werden. Wer sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
selbständig macht und eine eigene Existenz aufbaut, lei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
stet einen großartigen Beitrag für die Zukunft unserer PDS)
Gesellschaft. Existenzgründer verdienen unsere Aner-
kennung.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmi-
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Lippen- nister, es liegen noch zwei Zwischenfragen vor. Ich fra-
bekenntnisse!) ge Sie: Lassen Sie sie zu?
Aber daß immer mehr Menschen einzig aus dem Grund
ihre Selbständigkeit anmelden, um Sozialbeiträge zu Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
sparen, kann nicht weiter hingenommen werden. zialordnung: Ja, bitte schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin Len-
Die Zahlen sprechen für sich. Je nach Abgrenzung ke, dann Herr Kollege Niebel.
des Begriffs sind in Deutschland zwischen 180 000 und
430 000 Personen als Scheinselbständige erwerbstätig. Ina Lenke (F.D.P.): Herr Minister, ich habe Sie jetzt
Außerdem sind zwischen 330 000 und 1 Million Men- so verstanden, daß die Existenzgründerinnen vorher ab-
schen nebenberuflich als Scheinselbständige aktiv. Daß hängig beschäftigt sind und dann eine Existenz gründen.
wir uns mit diesen Zahlen nicht abfinden können, sehen So haben Sie das erklärt. Was machen Sie mit den Frau-
die Gerichte im übrigen auch so. Der Bundesgerichtshof en, die eine Pause gemacht haben und dann als Exi-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 865
Ina Lenke

(A) stenzgründerinnen beginnen? Bei ihnen gibt es keine – Sie müssen sich darüber keine Gedanken machen. Wir (C)
vorangegangene abhängige Beschäftigung. Diese Frau- ruinieren nicht die Selbständigkeit, sondern wir wollen
en, Herr Minister, werden solche Existenzgründungen sie gerade fördern.
nicht mehr mitmachen, weil sie dann doppelte Renten-
versicherungsbeiträge bezahlen müßten, die sie nicht Uns geht es dabei nicht darum – ich will das klar sa-
finanzieren können. gen –, die Rentenversicherung aufzufüllen,
(Zuruf von der F.D.P.: Aber sicher!)
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- sondern einzig um die soziale Absicherung dieses Per-
zialordnung: Ich hätte mich gefreut, wenn Sie sich diese sonenkreises. Darum akzeptieren wir beispielsweise als
Gedanken über diese breite Entwicklung, die wir seit Alternative zur Rentenversicherung auch eine bereits
Jahren erleben, rechtzeitig gemacht hätten; bestehende Lebensversicherung oder eine bereits be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Zur Sache!) stehende Zusage auf eine betriebliche Altersversor-
gung.
denn dann wäre die Situation nicht so ausgeufert, wie sie
es heute gerade in diesem Bereich ist. (Zuruf von der SPD: Das kapieren die gar
nicht!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer bis heute eine Lebensversicherung abgeschlossen
oder eine Zusage über eine Betriebsrente hat, ist von der
Es geht mir darum – – Rentenversicherungspflicht befreit.
(Zurufe von der CDU/CSU: Der hat Glück ge-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Minister Rie-
habt! – Und in welcher Höhe?)
ster, Sie hatten noch eine Zusatzfrage zugelassen, näm-
lich die des Kollegen Niebel. Ein weiteres Wahlversprechen, auf das ich als Ge-
werkschafter besonders stolz bin, lösen wir heute ein:
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- Wir nehmen die unsozialen Einschnitte bei der Entgelt-
zialordnung: Ja, das ist dann aber auch die letzte. fortzahlung im Krankheitsfall zurück.

(Zurufe von der SPD – Gegenruf der Abg. Ina (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Lenke [F.D.P.]: Uns liegt das sehr am Herzen! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Das muß ich deutlich sagen!) PDS)
Die Demontage dieses Kernstücks der sozialen Siche-
(B) (D)
Dirk Niebel (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Minister. – rung, für das die Gewerkschaften im übrigen jahrzehn-
Ich habe die Antwort auf die vorhergehende Frage viel- telang gekämpft haben, hat nicht nur ein Signal in die
leicht nicht richtig verstanden, und deshalb möchte ich falsche Richtung gesetzt, sondern darüber hinaus auch
noch einmal nachfragen. den sozialen Frieden in unserem Land unnötig aufs Spiel
gesetzt. Die Kürzung der Entgeltfortzahlung auf 80 Pro-
(Zuruf von der SPD: Das wundert nicht!) zent des Arbeitsentgelts hat zu einer sozialpolitisch nicht
Ist es richtig, daß es Arbeitnehmerinnen und Arbeit- vertretbaren Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer ge-
nehmer gibt, die ab und zu aus dem Berufsleben aus- führt. Sie hat nämlich gerade Arbeitnehmer mit niedri-
scheiden und nach dem Wiedereintritt in das Berufsle- gen Arbeitsentgelten und ungünstigen Arbeitsbedingun-
ben vielleicht als Selbständige beginnen möchten, ohne gen belastet, für die weder Tarifverträge noch Arbeits-
Arbeitnehmer eingestellt zu haben? Ist es ferner richtig, verträge die volle Entgeltfortzahlung vorsahen.

(Zuruf von der SPD: Nein!) Wir stellen durch die volle Entgeltfortzahlung die
Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfall
daß diese von Ihnen als scheinselbständig bezeichneten wieder her
Existenzgründer deshalb keine Selbständigen, also auch
keine Existenzgründer sind, (Zuruf von der F.D.P.: Zu Lasten des Arbeits-
marktes!)
(Zuruf von der SPD: So ist es!)
und beseitigen damit gleichzeitig soziale Härten, die die
weil sie in der Gründungsphase nur einen Auftraggeber Kürzung der Entgeltfortzahlung insbesondere bei chro-
haben und keinen Mitarbeiter beschäftigen und somit nisch Kranken, Schwangeren und Schwerbehinderten
schon zwei Ihrer vier Kriterien erfüllen? verursacht hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
zialordnung: Wenn sie keine sind, dann werden sie als
PDS)
abhängig Beschäftigte eingestuft und in die Sozialversi-
cherung aufgenommen.
(Zuruf von der SPD: Sehr gut! – Ina Lenke Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmi-
[F.D.P.]: Von wem denn? – Walter Hirche nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
[F.D.P.]: Sie ruinieren neue Selbständigkeit!) neten Fuchtel?
866 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- Nun komme ich auf Ihren Einwurf zurück. Die Ar- (C)
zialordnung: Bitte. beitgeber sprechen davon, daß sie durch die Kürzung der
Entgeltfortzahlung in einer Größenordnung von 15 bis
20 Milliarden DM von Kosten entlastet worden sind. Ich
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Minister,
vermag nicht zu sagen, ob das stimmt; aber ich unter-
was empfehlen Sie denn den Betrieben, die die Kom-
stelle einmal, die Zahl sei so. Die meisten Tarifverträge
pensation auf andere Weise gelöst haben?
haben zwar die volle Entgeltfortzahlung beibehalten, da-
für aber erhebliche Zugeständnisse in anderen Bereichen
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- gemacht – Ihr Hinweis. Hinzu kommt, daß zur Beibe-
zialordnung: Auf welche Weise? haltung der vollen Entgeltfortzahlung auch die Lohn-
steigerungen 1997 wesentlich geringer ausgefallen sind,
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Ein Frage- als es selbst die frühere Bundesregierung voraus-
und-Antwort-Spiel von seiten der Bundesregierung erle- geschätzt hat. Die Tariflöhne 1997 – ich habe mich noch
be ich das erste Mal. Aber ich beteilige mich gerne dar- einmal vergewissert – sind in der Schätzung der Brutto-
an. – Auf die Weise, daß sie die Lohnfortzahlung nicht lohnsumme der alten Bundesregierung um 2,4 Prozent
gekürzt haben, sondern im tariflichen Bereich Leistun- höher angesetzt worden, als sie zu realisieren waren.
gen auf andere Weise eingeschränkt haben. Das bedeutet, daß die Bruttolohnsumme 1997, durch die
niedrigeren Lohnabschlüsse um 34 Milliarden DM nied-
(Zuruf von der SPD: Das ist Sache der Ge- riger ausgefallen ist, als noch im Vorjahr geschätzt wurde.
werkschaften!)
Die dadurch eingetretene Entlastung der Arbeitgeber
hat aber nicht zu den erwarteten Beschäftigungseffekten
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- auf dem Arbeitsmarkt geführt. Die Arbeitslosenzahlen
zialordnung: Ich komme gleich auf diese Frage zurück. sind dadurch nicht zurückgegangen. Ich stelle fest: Die
Kürzung der Entgeltfortzahlung hat ihr unterstelltes Ziel,
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Nein, bitte neue Arbeitsplätze zu schaffen, völlig verfehlt.
kommen Sie jetzt sofort auf die Frage, wenn ich sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
stelle! 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS)
(Widerspruch bei der SPD)

Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmini-


Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
(B) zialordnung: Mein lieber Herr, wenn sie die Lohnfort- Hirche? (D)
zahlung nicht gekürzt haben, dann gibt es keine Proble-
me, denn dann ändert sich jetzt nichts. Dann gilt sie
weiter, und das ist in Ordnung. Dann müssen sie auch Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
nicht erschrecken, wenn sie jetzt die Lohnfortzahlung in zialordnung: Ja.
voller Höhe gesetzlich zu zahlen haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Walter Hirche (F.D.P.): Herr Minister, können Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sich vorstellen, daß eine Kostenentlastung dieser Art
auch dazu führt, daß Entlassungen, die sonst möglicher-
weise erforderlich gewesen wären, nicht stattfinden,
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Ich möchte
gerne wissen, wie Sie die Fairneß zwischen den Tarif- (Widerspruch bei der SPD)
partnern wiederherstellen wollen, nämlich zwischen sol- so daß sich diese Entlastung auf andere Weise ausge-
chen, die sich darauf verlassen haben, daß das Gesetz wirkt hat? Ist das vorstellbar?
gilt, und solchen, die das nicht gemacht haben.
(Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
Sache der Gewerkschaften!) zialordnung: Das ist vorstellbar, aber leider nicht beleg-
bar.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- (Walter Hirche [F.D.P.]: Das stimmt!)
zialordnung: Da muß ich Ihnen sagen: Ich sehe die Fair-
neß nicht mehr gegeben, weil ein Unterschied gerade Dieses Argument kenne ich natürlich. Es ist beliebig
dadurch besteht, daß beispielsweise, um nur einen Fall einzusetzen, wenn prognostiziert worden ist, daß Ein-
anzuführen, der Gesetzgeber in seinem eigenen Bereich stellungen erfolgen. Wenn sie anschließend nicht erfol-
als Tarifvertragspartei die Lohnfortzahlung auf 100 Pro- gen, kommt das Argument: Sonst hätten wir mehr ent-
zent festgesetzt hat und in den Bereichen, in denen es lassen.
keine Tarifverträge gibt, die 80 Prozent gelten. Dort von (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Sind 30 000
Fairneß zu sprechen, das kann auch unter wirtschaftli-
Mehreinstellungen nichts?)
chen Gesichtspunkten nicht ernst genommen werden.
Aber vorstellbar ist das durchaus.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS) (Zuruf von der SPD: Es ist alles vorstellbar!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 867

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine Fakt ist, daß im Handwerk heute 135 000 Personen we- (C)
weitere Zwischenfrage? niger beschäftigt sind als zum Zeitpunkt der Einschrän-
kung des Kündigungsschutzes.
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
[F.D.P.]: Vielleicht liegt das auch an der
zialordnung: Ja.
Konjunktur!)
– Natürlich, da kann auch die Konjunktur „geholfen“
Walter Hirche (F.D.P.): Herr Minister, darf ich dar- haben. Ich wehre mich bloß gegen diesen schnellen
aus schließen, daß das Kostenargument auf der Arbeits- Schluß, daß der Wegfall des Kündigungsschutzes zu-
seite in der Tat ein wesentliches Argument ist, in wel- sätzliche Arbeitsplätze bringe –
cher Form auch immer?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- PDS)
zialordnung: Sie dürfen daraus schließen, daß das Ko- zumindest dann, wenn gleichzeitig Instrumente vorhan-
stenargument ein wesentliches Argument ist. Das habe den sind, die es jedem Betrieb, ob klein oder groß, er-
ich im übrigen bei meinen Ausführungen eingangs selbst lauben, bei Neueinstellungen Befristungen bis zu 24
gesagt. Monaten vorzusehen und in diesem Zeitraum dreimal zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Konrad verlängern.
Gilges [SPD]: Das versteht der gar nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das Haus dürfte vielleicht auch folgendes interessie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ina
ren: Die Kürzung der Entgeltfortzahlung hat zu Steuer- Lenke [F.D.P.]: Das wollen wir doch gar
und Beitragsausfällen geführt. So blieben die Steuerein- nicht!)
nahmen 1997 um 25 Milliarden DM bzw. 2,5 Prozent- – Sie wollen das nicht? Ich nehme das gerne zur Kennt-
punkte hinter den Schätzungen zurück. Ich will dies nis, daß diese Ausweitung der Regelung im Beschäfti-
einmal deutlich aufzeigen, weil sich die Wirkungen sol- gungsförderungsgesetz nicht mehr gewollt ist. Vielleicht
cher – den Lohn negativ beeinflussenden – politischen kommen wir einmal darauf zurück.
Entscheidungen durchaus in den Steuereinnahmen und
den Sozialversicherungsbeiträgen widerspiegeln. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ursula
Lötzer [PDS])
Unterstellt man eine tatsächliche Kostenminderung
(B) auf seiten der Betriebe, beispielsweise durch niedere Wirtschaftlicher Erfolg kann nur von motivierten (D)
Lohnabschlüsse – das ist der Preis, den die Gewerk- Mitarbeitern erzielt werden. Ein wesentlicher Motivati-
schaften und die Beschäftigten zu zahlen hatten – in Hö- onsfaktor ist die Gewißheit, zumindest vor willkürlicher
he von 15 bis 20 Milliarden DM, wirkt das auf Dauer Kündigung geschützt zu sein.
weiter. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) 90/DIE GRÜNEN)

Wir korrigieren also nicht die dauerhafte Wirkung, wir Um diese Entlassungen zu verhindern, sorgen wir nun
korrigieren nicht die Kostenvorteile, sondern wir korri- dafür, daß Betriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern wie-
gieren die nicht mehr hinzunehmende Tatsache, daß die der dem Kündigungsschutzgesetz unterliegen. Teilzeit-
Beschäftigten in den nicht tarifgebundenen Betrieben beschäftigte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis
dann, wenn sie krank sind, durch eine niedrigere Lohn- zu 20 Stunden werden künftig als halbe Arbeitskräfte
fortzahlung abgestraft werden. berücksichtigt. Ausnahmen, daß Beschäftigte mit bis zu
10 Stunden Wochenarbeitszeit als eine viertel Arbeits-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS kraft angerechnet werden, entfallen.
90/DIE GRÜNEN)
(Ina Lenke [F.D.P.]: Warum?)
Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Rechte
unserer Arbeitnehmer wieder zu stärken. Das erreichen – Mit diesen Präzisierungen wollen wir verhindern, daß
wir auch durch die Wiederherstellung des Kündi- Arbeitgeber zur Umgehung des Kündigungsschutzes nur
gungsschutzes. Die Verschlechterung der Arbeitneh- Arbeitnehmer mit geringfügigem Arbeitsstundenumfang
merrechte hat hier keine Beschäftigungseffekte ge- beschäftigen.
bracht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf
(Walter Hirche [F.D.P.]: Natürlich!) von der SPD: Das wird eine Weiterbildungs-
veranstaltung für die Kollegen von der
anders als von der Wirtschaft versprochen. Aber weil F.D.P.!)
wieder der Einwurf „Natürlich!“ kommt: Damals wurde
ein Beschäftigungspotential von 500 000 zusätzlichen- Wir stärken die Rechte der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitsplätzen prognostiziert. Arbeitnehmer auch in einem Bereich, in dem sie einem
besonderen Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, nämlich
(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in der Baubranche. Deshalb heben wir die Befristung
NEN]: Ganz genau!) des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf. Hierzu besteht
868 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesminister Walter Riester

(A) im übrigen auch eine europarechtliche Verpflichtung. Fülle von Einzelheiten – nicht vollziehbar ist, und daß (C)
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wird nun effizien- Sie hiermit im Begriff sind, einen klassischen Papierti-
ter. Dazu gehört insbesondere auch die neue Rechtsver- ger aufzulegen?
ordnungsermächtigung.
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Tarifpolizei!)
(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)
Dabei geht es uns nicht, wie Sie, meine Damen und Her- Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
ren von der Opposition, in der ersten Debatte gesagt ha- zialordnung: Ich bin nicht die Tarifpolizei.
ben, um einen Eingriff in die Tarifautonomie. Genau das
Gegenteil ist der Fall. (Zuruf von der F.D.P: Nein, die Bundesan-
stalt!)
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Da waren sich
die Sachverständigen aber nicht so einig!) Auch die Bundesanstalt ist keine Tarifpolizei. Die Tarif-
vertragsparteien haben nach dem Tarifvertragsgesetz die
Die vorgesehene Änderung trägt vielmehr zur Stärkung Einhaltung ihrer Tarifverträge zu überwachen.
der Tarifautonomie bei.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea
Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Weil sie nach Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes Tarifau-
der Abg. Ursula Lötzer [PDS]) tonomie haben, werden wir sie davor schützen, daß Tarif-
eingriffe von Tarifaußenstehenden erfolgen.
Sie sagen, die Sachverständigen seien sich da nicht
einig gewesen. Anschließend wird mein Kollege Wiese- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
hügel sprechen, der damit Erfahrungen gemacht hat. Er 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
ist ein Sachverständiger aus der Praxis. Er ist als Ver- der PDS)
treter einer Tarifvertragspartei angetreten, sich mit der Um auf Ihre Frage zu antworten, Herr Singhammer:
anderen Tarifvertragspartei darauf zu verständigen, in Es geht bei der Regelung nicht darum, die Einhaltung
den untersten Lohngruppen einen Mindeststundenlohn von Tarifverträgen zu kontrollieren – weder von der
von 18,60 DM zu vereinbaren. Dann sind sie zum Tarif- Bundesanstalt für Arbeit noch von uns; das ist Aufgabe
ausschuß gegangen. Eine Nichttarifvertragspartei, näm- der Tarifvertragsparteien –, sondern es geht einzig dar-
lich die BDA, hat dann erklärt: Das, was die Tarifver- um, daß die Tarifautonomie – gerade im Bereich der
tragsparteien vereinbart haben, akzeptieren wir nicht. Bauwirtschaft, und zwar im Rahmen des Entsendegeset-
Die haben den Lohn zu senken. – Damit hat die BDA in zes – überhaupt bestehen und vollzogen werden kann.
die Tarifautonomie eingegriffen.
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
(Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Wahrheit!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Dann ist befristet ein neuer Mindestlohn von 17 DM an- PDS – Widerspruch bei der F.D.P. – Zuruf
gesetzt worden. Das hat den Herren aber immer noch von der SPD: Seminar Arbeits- und Tarifrecht,
nicht gepaßt. Dann haben die Verhandlungen – nicht Teil 2!
zwischen den Tarifvertragsparteien, sondern geführt Mit der Generalunternehmerhaftung führen wir ein
vom BDA-Präsidenten, begleitet vom damaligen Ar- Instrument ein, das in der Vergangenheit im übrigen
beitsminister – zu weiteren Absenkungen geführt. Dafür, auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der
daß solche Tarifeingriffe nicht mehr erfolgen, werde ich CDU/CSU, gefordert wurde. Ich erinnere hier nur an Ih-
kämpfen! re Offensive für mehr Arbeitsplätze und gegen Schwarz-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS arbeit in der Bauwirtschaft vom Juni 1997, die, wie so
90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten viele andere Vorhaben, leider am Widerstand Ihres da-
der PDS) maligen Koalitionspartners gescheitert ist; sonst müßten
wir das heute nicht machen.
Zu einer Belastung der kleinen und mittleren Betriebe
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Bundesmi- wird es nicht kommen. Die Generalunternehmer werden
nister, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Sing- in Zukunft wieder verstärkt Aufträge an zuverlässige
hammer? kleine und mittlere Unternehmen vergeben, von denen
sie wissen, daß sie die gesetzlichen Bestimmungen ein-
halten.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Sie sehen also: Der heutige Tag ist nicht nur ein un-
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Bun- gewöhnlicher, sondern auch ein Tag der Freude.
desminister, ist Ihnen bekannt, daß die Behörde, die die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ses Gesetz zu einem guten Teil vollziehen und seine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Einhaltung kontrollieren soll, nämlich die Bundesanstalt
für Arbeit, bei der Anhörung des Deutschen Bundesta- Er ist ein Tag der Freude für 6 Millionen Beschäftigte –
ges mehrfach erklärt hat, daß das Gesetz in der vorlie- das sind rund 20 Prozent aller Beschäftigten –, für die
genden Weise – mit Kontrolle von Tarifgittern und einer die Entgeltfortzahlung bisher nicht per Tarifvertrag ge-
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Bundesminister Walter Riester

(A) regelt ist und die heute sagen können: Wenn wir krank aber nicht zu den Zwischenfragen, die von anderen (C)
werden, werden wir nicht mehr abgestraft. Kollegen gestellt werden. Ich will nur rechtzeitig darauf
hinweisen, damit wir uns künftig genau an die Ge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schäftsordnung halten. Ich denke, dafür finde ich hier im
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Hause auch Verständnis.
PDS)
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Der redet nachher doch
Er ist ein Tag der Freude auch für rund 2 Millionen noch! Warum nutzt er die Zeit nicht? Das ist ja
Beschäftigte in kleinen Betrieben mit 5 bis 10 Beschäf- wie auf einem Gewerkschaftstag!)
tigten, deren Kündigungsschutz am 1. September näch-
sten Jahres sonst ersatzlos gestrichen worden wäre. Ich gebe jetzt der Kollegin Birgit Schnieber-Jastram
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Zuruf von der SPD: Jetzt sind wir aber ge-
PDS) spannt wie ein Flitzebogen!)
Er ist auch ein Tag der Freude für die vielen Rentne-
rinnen und Rentner, die jetzt wissen, daß ihre Renten im
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Herr Präsi-
nächsten Jahr – wie auch in der Vergangenheit – minde-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Riester
stens im Rahmen der Nettolohnentwicklung angehoben
hat hier einmal mehr vor diesem Hause gesagt: Die Ar-
werden.
beitslosenzahlen sind nicht zurückgegangen. Ich glau-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten be, das muß ein Anlaß sein, hier noch einmal sehr deut-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich zu machen, wie die Bilanz aussieht, damit das auch
für die nächsten Jahre festgeschrieben ist.
Bei so vielen Gewinnern möchte man eigentlich gar
keine Verlierer haben. Deswegen möchte ich die Oppo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sition einladen, dem Korrekturgesetz mit zuzustimmen.
Diese Bilanz hat – übrigens auch gestern – wieder
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall gezeigt, daß wir auf dem richtigen Weg waren.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Das ist aber mutig!)
– Bleiben Sie nur ruhig! Hören Sie sich das ruhig an!
Das wird sich durch Ihr Geschrei nicht verändern. – In
Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zu einer den letzten 9 Monaten ist es uns gelungen, die Arbeits-
(B) Kurzintervention hat der Kollege Wiesehügel. (D)
losenzahl um 850 000 zu senken. Keine Rede von Ihnen
oder jemand anderem wird daran etwas verändern.
Klaus Wiesehügel (SPD): Herr Singhammer, ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
will Ihnen, weil ich darum gebeten worden bin, kurz Zuruf von der SPD: Den höchsten Stand in der
schildern, wo die Tarifautonomie tatsächlich gefährdet Nachkriegszeit!)
war und was jetzt repariert wird.
Das ist ein Rückgang wie nie zuvor.
Nachdem wir mehrere Tarifverhandlungen mit den
zuständigen Arbeitgebern geführt haben, war ich in der (Zuruf von der SPD: Aber vorher war eine
letzten Phase gezwungen, mit Herrn Hundt Tarifver- Steigerung wie nie zuvor!)
handlungen zu führen – so richtig mit dem Taschen-
Jetzt möchte ich etwas Besonderes hervorheben: Ge-
rechner –, und zwar nach dem Motto: Entweder verhan-
rade die Zahl der jungen Arbeitslosen, derjenigen unter
delst du mit mir – obwohl er ist nicht Vertreter einer Ta-
25 Jahren, ist immerhin um 44 000 zurückgegangen.
rifvertragspartei, sondern des Zentralverbandes ist; die-
Das sind Vorgaben, an denen sich diese Koalition mes-
ser hat eine Dachfunktion und schließt üblicherweise
sen lassen muß. Machen Sie das erst einmal nach!
keine eigenen Tarifverträge ab –, entweder finden wir
jetzt eine niedrige Marke, oder es gibt keinen Mindest- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
lohn. Das war die Sprachregelung. Das bedeutet einen Peter Dreßen [SPD]: Das hoffen wir nicht, daß
Eingriff in die Tarifautonomie, der jetzt repariert werden wir 2 Millionen Arbeitslose produzieren!)
soll.
Sie verkünden hier immer wieder – auch Sie eben,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Riester – dieses gute Programm zum Thema Ju-
der PDS) gendarbeitslosigkeit. Sie unterlassen dabei – das zieht
sich wie ein roter Faden durch all das, was Sie machen –,
zu fragen: Was sind denn die Ursachen dieses Pro-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Wie- blems?
sehügel, nur damit das für die Zukunft klar ist: Eine
Kurzintervention ist möglich zu den Äußerungen des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Redners,
In meinem Arbeitsamt sagt mir der zuständige Arbeits-
(Zuruf von der SPD: Das war doch so!) amtsleiter: Das Schlimme an der Jugendarbeitslosigkeit
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Birgit Schnieber-Jastram

(A) ist, daß ich die Jugendlichen gar nicht vermitteln kann; Mehr an sozialer Gerechtigkeit sowie um die Arbeitslo- (C)
sie sind nicht vermittelbar. sen, also um persönliche Schicksale, dann müssen Sie
sich schon gefallen lassen, daß wir Ihnen keine Schon-
(Zuruf des Abg. Konrad Gilges [SPD]: Auf frist einräumen.
Grund Ihrer Politik! 16 Jahre lang!)
Das macht deutlich, daß wir Defizite in Bereichen ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der F.D.P.)
ben, in denen überwiegend Ihre Länder die Hausaufga-
ben nicht gemacht haben: in der Schulpolitik, in der Bil- Nicht nur für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dungspolitik, dort, wo die Verantwortung dafür liegt. sondern auch für die Öffentlichkeit muß dieses Chaos
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – der neuen Regierung hier sehr deutlich gemacht werden.
Widerspruch bei der SPD – Konrad Gilges (Zuruf von der SPD: Jetzt haben wir schon
[SPD]: Das stimmt objektiv nicht!) dreimal „Chaos“ gehört! Sagen Sie doch ein-
mal etwas zum Gesetz!)
Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin Ich will das gerne an einem Beispiel festmachen, näm-
Schnieber-Jastram, gestatten Sie eine Zwischenfrage des lich an dem schönen Beispiel der 620-Mark-Jobs. Hier
Abgeordneten Niebel? kann man eine Abfolge von Versprechen, von Rück-
nahmen, von Ankündigungen und von Verschiebungen
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ja. beobachten. Von Abschaffung des Wildwuchses, Herr
Riester – das ist ja das, was Sie gerade gesagt haben –,
(Zuruf von der SPD: Jetzt aber zum Gesetz!) kann hier überhaupt keine Rede sein.
Wir können uns alle an den Gesetzentwurf der SPD
Dirk Niebel (F.D.P.): Vielen Dank. – Frau Kollegin, zur Senkung der Geringfügigkeitsgrenze auf zirka
verstehe ich Ihre Aussage, die Sie eben gemacht haben, 85 DM in der letzten Legislaturperiode erinnern. Am
richtig, daß Sie der Ansicht sind, daß manche der ju- 9. November 1998 gab es einen Gesetzentwurf der Ko-
gendlichen Arbeitslosen, die wir alle in den Arbeits- alition: Senkung auf 300 DM. Die Pauschalsteuer soll
markt integrieren wollen, auf Grund Ihrer schulischen erhalten bleiben. Am 10. November 1998 schlägt Bun-
Vorbildung nicht ausbildungsfähig sind und daß die De- deskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung auch
fizite in diesem Bereich zu finden sind? die Senkung auf 300 DM, Aufhebung der Pauschal-
steuer und Rücknahme des Gesetzentwurfes vom Vor-
tage vor. Am 16. November 1998 liegt ein Gesetzent-
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Sie haben
(B) wurf zu Korrekturen in der Sozialversicherung ohne Re- (D)
mich sehr richtig verstanden. Die schulische Ausbildung gelung in diesem Bereich, ohne Regelung der gering-
in den Ländern, insbesondere in den von SPD und Grü- fügigen Beschäftigungsverhältnisse vor. In der Frak-
nen regierten Ländern, ist eine Katastrophe. tionssitzung der SPD am 17. November 1998 wird
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – – man höre und staune – Bundesminister Lafontaine
Konrad Gilges [SPD]: Das ist objektiv un- aufgefordert, bis zum Abend des 19. November 1998 ein
richtig!) Konzept vorzulegen. Am Mittag des 19. November 1998
– eine unvergessene Aktuelle Stunde im Deutschen
– Dies ist objektiv richtig und, Herr Gilges, sehr wohl Bundestag –
ablesbar an den Zahlen aus den jeweiligen Ländern. Ich
darf Ihnen sagen: Schauen Sie sich die Zahlen an. Ich (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
weiß nicht, wo Sie zur Schule gegangen sind. Vielleicht NEN]: Eure Aktuellen Stunden kann man bis-
fehlt Ihnen da etwas. her ganz vergessen!)
Was sich diese neue Regierung zur Zeit im Bereich verkündet Herr Schröder seinen Vorschlag zu den 620-
der Sozial- und Steuerpolitik erlaubt, das kann man in Mark-Jobs: keine Senkung der Geringfügigkeitsgrenze
der Tat – das ist schon sehr vornehm gesagt – nur als und eine Verschiebung von der Pauschalsteuer hin zu
Chaos bezeichnen, wirklich nur als Chaos. In Gesprä- den Sozialversicherungsbeiträgen. Das heißt, neun Tage
chen mit Menschen aus meinem Wahlkreis heißt es im- nach der Regierungserklärung gibt es die Rücknahme
mer: Nun laßt doch die Regierung erst einmal machen. der Ankündigungen aus der Regierungserklärung. Sie
Laßt sie doch erst einmal etwas tun. Wartet doch ab, was haben da ein bißchen viel erklärt.
passieren wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(Zurufe von der SPD: Richtig! – Recht haben Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch mal was
die Menschen!) zur Lohnfortzahlung!)
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin mit denen einer Unter „Verstetigung“, Herr Bundesminister Riester,
Meinung. Grundsätzlich ist einer solchen Schonfrist nur verstehe ich jedenfalls etwas anderes. Nicht nur wir,
zuzustimmen. Aber eine neue Regierung muß sich na- sondern auch die Menschen draußen im Lande wissen,
türlich auch an ihren selbstgesteckten Zielen messen las- daß es sich hier um Chaos handelt.
sen. Wenn es hier um konkrete Maßnahmen geht, näm-
lich um ein Mehr an Beschäftigung und um ein – was (Zuruf von der SPD: Gibt es auch noch Aus-
Sie im Wahlkampf immer so gerne verkündet haben – sagen zum Gesetz?)
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Birgit Schnieber-Jastram

(A) Dieses Chaos wäre noch zu verkraften, wenn wenigstens Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ich danke (C)
die richtigen Maßnahmen getroffen würden. Das Wort Ihnen auch für diese Frage, weil sie mir Gelegenheit
„richtig“ heißt im Zusammenhang mit den 620-Mark- gibt, dies deutlich zu machen. Wir haben uns damals in
Jobs: Mißbrauch der 620-Mark-Beschäftigungsverhält- einer Koalition befunden, wie Sie sich auch in einer Ko-
nisse bekämpfen, die Alterssicherung gerade der Frauen alition befinden. Wir haben durchaus unterschiedliche
fördern, wie Sie und viele Frauen es immer gewollt ha- Einstellungen zu dieser Thematik gehabt. Wir haben viel
ben, zu lange in diesem Bereich diskutiert,
(Zuruf von der SPD: Das machen wir auch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und Beseitigung der Mauer zwischen geringfügiger Be- aber wir haben unter dem Strich keine Mehrheit in der
schäftigung und sozialversicherungspflichtiger Teilzeit- damaligen Koalition bekommen können. So war das.
arbeit. Aber im Ergebnis war es immer noch ehrlicher, als das,
(Zustimmung bei der CDU/CSU) was Sie probieren,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, Lachen bei der SPD)
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
daß Sie nämlich null Absicherung für die Frauen brin-
Andres?
gen. Sie sind es doch gewesen, die im Wahlkampf und
über Jahre und Jahrzehnte hinweg dies wie eine Mon-
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ja. stranz vor sich herumgetragen haben und es allen Leuten
versprochen haben. Jetzt sage ich: Versprechen gebro-
chen.
Gerd Andres (SPD): Frau Schnieber-Jastram, ist Ih-
nen schon aufgefallen, daß das hier zur Beratung anste- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
hende Gesetz überhaupt keine Regelung zu dem Thema Widerspruch bei der SPD)
„620-Mark-Jobs“ enthält?
Jetzt will ich zu einem weiteren Aspekt kommen. Ich
(Zuruf von der CDU/CSU: Eben!) freue mich, daß in der gemeinsamen Erklärung zum
Bündnis für Arbeit der Ausbau und die Förderung der
Darf ich das mit der Frage verbinden, wann Sie sich Teilzeitarbeit genannt sind. Allerdings sind die Festle-
endlich in Ihren langen Ausführungen dem Gegenstand gungen des Bundeskanzlers zu den 620-Mark-Jobs
des Gesetzes zuwenden wollen? überhaupt nicht geeignet, den fließenden Übergang in
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Teilzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Gerade ein für (D)
die Wirtschaft und auch für die Arbeitnehmer so wichti-
ger Aspekt wie eine Neuregelung für diesen Bereich
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Lieber hätte Bestandteil des Bündnisses für Arbeit sein müssen.
Herr Kollege Andres, ich danke Ihnen für die Frage. Ich Eine Vorfestlegung, wie sie der Kanzler getroffen hat,
habe mir ein Beispiel an dem Bundesminister für Arbeit allein wegen der Sanierung der Kranken- und Renten-
genommen, der mit allgemeinen Aussagen zum Ar- versicherung ist unseriös. Da beißt die Maus keinen Fa-
beitsmarkt und zu den 620-Mark-Jobs begonnen hat. den ab. Das ist und bleibt so und dient überhaupt nicht
Vor diesem Hintergrund ist es mein gutes Recht, auf Ih- den Bemühungen im Bündnis für Arbeit um mehr Be-
ren Minister hier entsprechend zu reagieren. schäftigung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist schon sehr bezeichnend – und das sollten Sie
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen –, wenn
Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Schnieber- andere Unionsabgeordnete und ich nicht nur von Ge-
Jastram, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage? werkschaftsseite, sondern auch von SPD-Landtags-
abgeordneten heute, wenige Wochen nach der Wahl, um
Unterstützung gebeten werden, um das Vorhaben ihres
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Ja. Bundeskanzlers Schröder zu verhindern. Ich zitiere ein-
mal aus einem solchen Brief auch etwas ausführlicher,
Ulrike Merten (SPD): Habe ich Sie richtig verstan- weil ich denke, daß es Ihnen gut tut, dieses mitzuver-
den, Frau Kollegin, daß Sie im Bereich der 620-DM- folgen:
Gesetze durchaus Regelungsbedarf sehen? Ich habe Sie Die Beibehaltung der geringfügigen Beschäftigung
eben in diesem Zusammenhang über die notwendige hat auch weiterhin zur Folge, daß kaum sozialversi-
Alterssicherung reden hören. Deswegen möchte ich Sie cherungs- und steuerpflichtige Teilzeitarbeit bis ca.
fragen: Wenn das so ist, warum haben Sie die zurücklie- 1 500 DM angeboten wird und damit vielen eine
genden Jahre nicht genutzt, um den Mißbrauch einzu- Beschäftigungschance verbaut wird. Der Prozeß,
dämmen und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaf- der bekämpft werden soll, die Erosion von sozial-
fen? Warum fällt Ihnen das erst heute ein? versicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnis-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sen wird festgeschrieben und in den neuen Bun-
90/DIE GRÜNEN) desländern noch angeheizt.
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Birgit Schnieber-Jastram

(A) Eine Aussage eines sozialdemokratischen Landtagsab- der Hand: mangelnde Altersabsicherung, mangelnde (C)
geordneten. Das sollten Sie sich zu Herzen nehmen, lie- Krankenversicherung, kein arbeitsrechtlicher Schutz.
be Kolleginnen und Kollegen. Das Problem ist ganz lange bekannt. Es gab in der letz-
ten Legislaturperiode Anhörungen dazu. Diese haben
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und allerdings ergeben, daß sich die bisherige Abgrenzung
der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS
zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen auf der
90/DIE GRÜNEN]: Wie heißt er denn?)
Grundlage des Bundesarbeitsgerichtes doch eher be-
Soziale Kompetenz, angemessene Alterssicherung, währt hat und daß es Grund gab, sie beizubehalten.
insbesondere für Frauen – für den Fall, daß Sie das ver- Denn die Kriterien sind in der Tat flexibel genug, um
gessen haben; dies haben sicherlich nicht alle von Ihnen, auch neue Tätigkeitsformen zutreffend einzuordnen. Es
wenn ich einige Kolleginnen sehe –, waren die Stich- handelt sich dabei unstrittig um einen sehr großen Fra-
worte des Kanzlers im Wahlkampf. Ich frage Sie noch genkatalog, der einer Gesamtbetrachtung unterworfen
einmal: Was ist daraus geworden? SPD-Landtagsabge- wird.
ordnete wenden sich hilfesuchend an die Union, um
Was Sie aber vergessen, ist die Tatsache, daß Ihr
diese Ziele zu verwirklichen. Bürger und Gewerkschaf-
übertriebener Generalisierungs- und Bürokratisierungs-
ten wundern und fragen sich: Was haben wir für eine
bedarf nicht zum Ziel führen wird. Das ist meine Pro-
SPD an die Regierung gewählt? Was ist da los?
gnose an dieser Stelle. Denn es handelt sich in Wirk-
(Beifall bei der CDU/CSU) lichkeit um eine Vielzahl von Einzelfällen, die nicht
nach durchgängigem Schema behandelt werden sollten:
Verkaufsfahrer, Franchise-Unternehmer, Frachtführer,
Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie, Frau Telefonvermittler, Pharmaberater, EDV-Berater, Musi-
Kollegin Schnieber-Jastram, eine Zwischenfrage des ker, Dozenten, was auch immer Sie wollen. Deswegen
Abgeordneten Peter Dreßen? sage ich Ihnen: Was Sie hier vorgelegt haben – im übri-
gen mit dem Schnellschuß, den wir dann im Ausschuß
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Die Frage noch zu diskutieren hatten –, ist überhaupt nichts
des Abgeordneten Dreßen hat mir in der Runde noch ge- Brauchbares. Das ist Politik auf der Überholspur, die re-
fehlt. Ja. gelmäßig an der Leitplanke endet. Ihre Gesetze fliegen
eines nach dem anderen aus der Kurve und bringen es
nicht mal mehr auf eine Halbwertzeit von zwei Wochen.
Peter Dreßen (SPD): Ich habe doch darauf gewartet.
Spaß beiseite, Frau Kollegin, Sie haben wahrscheinlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
keine unbegrenzte Redezeit. Wann kommen Sie einmal ordneten der F.D.P.)
(B) zu den Vorstellungen, die im Gesetz stehen, zu den Sie gehen mit dem Entwurf wie mit Ihrer ganzen (D)
Themen Lohnfortzahlung, Rente, zum Entsendegesetz, Politik auf eine ganze Gruppe los, die wir im Interesse
zum Kündigungsschutz? Dies sind alles Themen, die im unserer Wirtschaft eigentlich schützen und fördern
Gesetz stehen. Was wir in den letzten 20 Minuten gehört müßten: die jungen Selbständigen. Sie machen den
haben, steht nicht in diesem Gesetz, sondern ist in einem Gang zum Sozialamt leichter als den Gang in die Selb-
Gesetz, das wir im April beraten. Können wir zu dem ständigkeit.
jetzt anstehenden Gesetz einmal die Vorstellung der
CDU hören? Sind Sie für die Lohnfortzahlung im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Krankheitsfalle? Sind Sie dafür, daß wir bei den Renten Das ist das, was Sie sich auf die Fahnen schreiben kön-
Verbesserungen vornehmen? Wie sieht hier die Vor- nen.
stellung der CDU aus? Vielleicht können Sie in den
letzten Minuten darauf eingehen. (Zuruf von der SPD: Eine ganz billige Polemik!)
(Beifall bei der SPD) Ich will Ihnen eines sagen: Zu dem ganzen Kram und
Ärger, mit dem ein junger Unternehmer in der Existenz-
gründungsphase belastet ist, kommt jetzt noch, daß man
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Lieber beweisen muß, daß man wirklich selbständig ist. In einer
Herr Dreßen, ich wäre sehr froh, wenn Sie uns immer so Umfrage wurden Unternehmer gefragt, was für sie am
zuhörten, wie ich es an dieser Stelle tue. Ich komme schwierigsten sei. An erster Stelle stand die Finanzie-
jetzt zu dem Gesetzentwurf und zur Verabschiedung. rung, an vierter Stelle der bürokratische Aufwand. Ich
(Beifall bei der SPD) befürchte, unter Ihrer Regierung wird sich das Verhält-
nis umdrehen.
Ich hätte das sicher auch ohne Ihren Hinweis getan, weil
mir das in der Tat am Herzen liegt. Ich möchte, weil ich finde, daß dies wirklich perfide
ist, noch eines sagen: Sie haben sich ja mit der Rege-
Ich beginne mit der Analyse des Problems der lung für arbeitnehmerähnliche Selbständige etwas
Scheinselbständigkeit. Wir sind uns ja einig – ich habe einfallen lassen. Wer mit diesem Begriff nicht so viel
das in der letzten Debatte schon deutlich gemacht –: Es anfangen kann, dem möchte ich sagen, daß er eine Viel-
gibt eine große Zahl von Arbeitnehmern, die von ihren zahl von Vertretern umfaßt, zum Beispiel den allen be-
Arbeitgebern in eine vorgebliche Eigenständigkeit ge- kannten und ganz sympathischen Herrn Kaiser von der
drängt werden – und das sehr häufig, damit sie eben kei- Hamburg-Mannheimer. Herr Kaiser nämlich soll jetzt
ne Sozialabgaben zahlen müssen. Die Folgen liegen auf endlich in die gesetzliche Rentenversicherung einbezo-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 873
Birgit Schnieber-Jastram

(A) gen werden. Bislang konnte er ja wählen zwischen der fortzahlung im Krankheitsfall sind geradezu Symbole (C)
privaten und der gesetzlichen Altersversorgung. Was für die verfehlte Politik der Kohl-Ära geworden.
sich die rotgrüne Koalition jetzt hat einfallen lassen, ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
folgendes:
bei der SPD und der PDS)
(Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch nicht Mit diesem Affront gegen die Gewerkschaften hat die
wahr!)
alte Bundesregierung das erste Bündnis für Arbeit zum
Wenn Herr Kaiser und seine vielen Kollegen nicht bis Scheitern gebracht. Deswegen ist dieses Gesetz heute,
gestern – ich wiederhole: bis gestern – einen Lebens- nämlich die Rücknahme dieser Brüskierung der Ge-
oder Rentenversicherungsvertrag abgeschlossen haben, werkschaften, eine wichtige Voraussetzung, um den
dann sind sie nun automatisch in der gesetzlichen Ren- Weg zu einem neuen Bündnis für Arbeit, zu Gesprä-
tenversicherung und kommen auch nie wieder heraus. chen auf Augenhöhe, frei zu machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Und das Ganze in Form eines kurzfristig eingebrachten
Änderungsantrags im Ausschuß, den viele Betroffene Es ist unsere politische Verantwortung, von dieser
überhaupt noch nicht haben mitbekommen können. Stelle aus die bestmöglichen Rahmenbedingungen für
dieses wichtige Bündnis für Arbeit zu schaffen, das sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) am Montag zum ersten mal auf Einladung der Regierung
mit dem zentralen Ziel getroffen hat, alle gesellschaftli-
Ohne Übergangsfrist, ohne Vorwarnung überfällt diese chen Kräfte zu bündeln, um die Arbeitslosigkeit zu min-
Regierung eine ganze Bevölkerungsgruppe und zwingt dern. Das Bündnis für Arbeit ist nämlich kein Selbstläu-
sie in ein bestimmtes Altersversorgungssystem. fer, es ist auch kein Verschiebebahnhof zur Politikver-
(Konrad Gilges [SPD]: Überfällt sie und raubt meidung. Zu den Aufgaben der Politik, die sie nicht auf-
sie aus, Frau Kollegin!) geben kann und darf, gehört die Schaffung von fairen
Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Genau dazu leisten
Sie bietet ihnen nicht die Wahlmöglichkeit. – Ich darf wir heute hier einen Beitrag.
Ihnen sagen: Wir leben hier in einem freien Land mit
freien Wahlverhältnissen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der F.D.P.: Nicht mehr lange!)
Mit der Aufweichung des Kündigungsschutzes und
Ich hätte an dieser Stelle gern auch noch mal zum der Kürzung der Lohnfortzahlung hat die alte Bundesre-
(B) Entsendegesetz Stellung genommen. Leider bleibt mir gierung nicht nur das erste Bündnis für Arbeit zum (D)
die Zeit nicht. Ich hoffe, daß die anderen Kollegen das Scheitern gebracht. Sie hat auch offensichtlich gemacht,
nachholen. daß aus ihren Maßnahmen nicht mehr Jobs entstehen,
sondern weniger soziale Gerechtigkeit entsteht. Wir
Ich darf Ihnen sagen: Wir werden Ihrem Gesetz nicht wollen mehr soziale Gerechtigkeit. Dazu ist das Gesetz,
zustimmen – das wird Sie nach diesen Ausführungen das wir hier heute verabschieden werden, ein erster
nicht überraschen –, weil wir es für wirklich unverant- wichtiger Schritt, dem weitere folgen werden.
wortlich halten. Auch in der Sozialpolitik – wie viel-
leicht auch in der Umweltpolitik – stellt sich manchmal (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
die Frage der Nachhaltigkeit. Wenn Sie wollen, daß so- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf
ziale Sicherungssysteme später auch den jetzt jungen von der CDU/CSU: Ein Rückschritt!)
Menschen noch zur Verfügung stehen, müssen Sie in Ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit ist nämlich, daß ei-
anderer Weise mit diesen sozialen Sicherungssystemen ne Kostensenkung nicht ausgerechnet zu Lasten von
umgehen, sonst haben Sie zwar heute Ihre Klientel be- Kranken gehen darf, sondern daß Krankenstände in den
dient, aber für morgen überhaupt nicht vorgesorgt. Diese Betrieben über die Verbesserung von Arbeitsbedingun-
Debatte werden wir bei Ihnen anmahnen. gen verringert werden müssen. Ein Schritt zu mehr Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rechtigkeit ist, daß nicht immer mehr Menschen ohne
einen angemessenen Schutz vor Kündigung in ständi-
ger Furcht vor einem Jobverlust leben und arbeiten müs-
sen, daß das Invaliditätsrisiko nicht privatisiert wird und
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort
daß deshalb die Einschnitte bei der Berufs- und Er-
der Kollegin Annelie Buntenbach vom Bündnis 90/Die
werbsunfähigkeitsrente sofort wieder zurückgenom-
Grünen.
men werden.
(Franz Thönnes [SPD]: Fliegen wir jetzt raus,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
oder landen wir an der Leitplanke?)
und bei der SPD)
Dazu gehört auch, daß wir im Zusammenhang mit
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Weichenstellungen bei der Ökosteuer ab dem
NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1. April 1999 die Rentenbeiträge auf 19,5 Prozent sen-
Die Aufweichung des Kündigungsschutzes – damit will ken können. Ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit ist auch,
ich anfangen – und mehr noch die Kürzung der Lohn- daß wir die Weichen zu einer Rentenstrukturreform
874 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Annelie Buntenbach

(A) stellen, die besonders die unsteten Erwerbsverläufe von Zum ersten: Wie weit können wir der Erosion der So- (C)
Frauen besser absichern will, und daß wir die Weichen zialkassen entgegentreten, die große Ausmaße ange-
zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit stellen. nommen hat?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zum zweiten: Wie können wir die Wettbewerbsver-
und bei der SPD) zerrungen in dem Bereich beseitigen? Da haben Sie uns
eine wirklich umfangreiche Erblast hinterlassen.

Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ge- Zum dritten: Wie können wir den eigenständigen Zu-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten gang von Frauen zu sozialer Absicherung sicherstellen?
Schemken? An diesen Kriterien wird sich die Lösung des Pro-
blems geringfügiger Beschäftigung orientieren müssen.
Ich hoffe, daß wir das in einem Schritt schaffen. Anson-
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sten werden wir das als Zielrichtung selbstverständlich
NEN): Weil es der Abgeordnete Schemken ist, bitte festhalten müssen, gerade wenn es darum geht, jede Be-
sehr. schäftigung in die Sozialversicherung mit einzubezie-
hen.
Heinz Schemken (CDU/CSU): Frau Kollegin Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tenbach, halten Sie insbesondere im Hinblick darauf, sowie bei Abgeordneten der SPD)
daß Sie hier mit Verve für die Rente für Frauen eintre-
ten, die zukünftige Regelung zum 620-Mark-Vertrag für
richtig? Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine
zweite Frage des Kollegen Schemken?
(Konrad Gilges [SPD]: Das Gesetz ist doch
noch nicht da!)
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Das Gesetz ist deshalb mit einbezogen – das darf ich NEN): Ja, bitte.
dann kurz erklären –, weil Sie in die Reform der Rente,
die Sie jetzt gleich beschließen, indem Sie die von uns
geschaffenen Regelungen zurücknehmen, auch die Bei- Heinz Schemken (CDU/CSU): Vielleicht habe ich
träge aus den 620-Mark-Verträgen einrechnen. Das ha- meine Frage nicht präzise genug gestellt. Im Hinblick
ben wir im Ausschuß so behandelt. Halten Sie es für ge- auf das sozialstaatliche Prinzip, daß wir, Arbeitgeber
recht, daß davon Rentenversicherungsbeiträge einbe- und Arbeitnehmer, im dualen System zahlen, möchte ich
(B) halten werden, aber die Frauen davon keinen Nutzen in Sie fragen: Halten Sie den Gesichtspunkt, daß man in (D)
Form eines Rentenbezugs haben? diesem Fall in die Kasse einer Solidargemeinschaft,
nämlich in die Rentenkasse, einzahlt und keine Rente
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bekommt, insbesondere gegenüber den Frauen, die in
starkem Maße von geringfügigen Beschäftigungsver-
hältnissen betroffen sind, für sozialstaatlich gerecht?
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir haben heute nicht die Regelung zu den 620-
DM-Verträgen auf dem Tisch. Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Kollege Schemken, wenn ich jetzt so präzi-
(Zurufe von der F.D.P.) se auf etwas eingehen sollte, was zwar in Eckpunkten
– Hören Sie doch bitte auf! Das ist wirklich furchtbar. – vorgestellt worden ist, aber als Gesetzentwurf heute
Wenn ich von der Rentenstrukturreform spreche, dann nicht zur Debatte steht und einfach noch nicht vorliegt,
rede ich davon, daß wir hier den Weg dazu ebnen und dann würde ich damit weder Ihnen noch mir, noch der
daß das Ziel dieser Rentenstrukturreform genau eine ei- Öffentlichkeit einen Gefallen tun, weil dann nämlich
genständige Absicherung von Frauen innerhalb der so- Mißverständnisse darüber produziert würden, was präzi-
zialen Sicherung sein soll und sein muß. Dazu gehört für se Gegenstand dieses Gesetzentwurfes, den wir in der
mich, daß jede dauerhafte Beschäftigung in die Sozial- Tat im Januar hier zu debattieren haben, ist. Natürlich
versicherung einbezogen wird. gehe ich davon aus, daß, wenn Frauen in die Rentenver-
sicherung einzahlen, wenn jemand Beiträge zur Renten-
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das hat Ihr versicherung leistet, daraus auch Ansprüche entstehen.
Kanzler aber anders gesagt!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Das sieht der
Dazu gehört auch der Einbezug von Scheinselbständi- Kanzler wohl anders!)
gen in die Sozialversicherung. Was wir heute vorlegen,
das ist ein erster Schritt. Die konkrete Regelung zu den Ich werde jetzt versuchen, den Argumentationsfaden
620-DM-Verträgen werden wir im Januar zu diskutie- wieder aufzunehmen. Uns geht es darum, mit diesem
ren haben. Gesetz mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Ein
Schritt in diese Richtung – mehrere andere Schritte habe
Aus meiner Sicht ist es so, daß wir einen vernünftigen ich vorhin schon benannt – besteht darin, daß wir dieje-
Vorschlag zur Problemlösung an drei Kriterien zu mes- nigen, die von Arbeitgebern, die sich um ihren Anteil an
sen haben. sozialer Verantwortung und Sozialversicherungskosten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 875
Annelie Buntenbach

(A) drücken wollen, in die Scheinselbständigkeit abgedrängt zen? Dabei brauchen wir Menschen, die ihre Lebens- (C)
worden sind, wieder in den Schutz der Sozialversiche- und Arbeitsbedingungen mit Engagement selbst ge-
rung einbeziehen. stalten und den Mut haben, sich einzumischen. Deshalb
müssen wir die Möglichkeiten betrieblicher Mitbe-
Ein Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit ist auch, stimmung besser absichern und ausbauen sowie das
daß wir versuchen, mit einem verbesserten Entsendege- Betriebsverfassungsgesetz entsprechend modernisie-
setz dem Lohn- und Sozialdumping auf den Baustellen ren. Dafür müssen wir den Menschen als erstes wieder
Einhalt zu gebieten und diejenigen zur Rechenschaft zu einen verbesserten Schutz vor Kündigungen gewähr-
ziehen, die sich noch an übelster Ausbeutung eine gol- leisten.
dene Nase verdienen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Oft genug habe ich in den letzten Wochen gehört, soviel PDS)
soziale Gerechtigkeit könnten wir uns doch gar nicht lei-
sten, weil es vorrangig um die Bekämpfung der Ar- Lassen Sie mich ein letztes Argument zum Kündi-
beitslosigkeit gehe. Das widerspricht sich keineswegs. gungsschutz anführen. Es ist vielfach belegt, daß Unter-
Im Gegenteil, es gehört vielmehr unmittelbar zusam- nehmen um so mehr in die Qualifikation ihrer Beschäf-
men; denn unsere Politik muß und wird sich am Zu- tigten investieren, je länger sie diese zu beschäftigen be-
wachs von Beschäftigung und an gesellschaftlicher Inte- absichtigen. In den USA ist zum Beispiel die Teilnahme
gration statt an Ausgrenzung orientieren. gering Qualifizierter an innerbetrieblichen Qualifizie-
rungsmaßnahmen in den letzten 15 Jahren erheblich zu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rückgegangen. Britische Unternehmen investieren im
sowie bei Abgeordneten der SPD) internationalen Vergleich nur einen minimalen Anteil
Ich halte die Grundbehauptung von angebotsorien- ihres Umsatzes in die Qualifikation ihrer Beschäftigten.
tierter Politik, die die F.D.P. auch heute wieder hier aus- Schon diese wenigen Beispiele aus Ländern mit sehr ge-
gebreitet hat, nämlich Arbeitslosigkeit lasse sich nur im ring ausgebautem Kündigungsschutz zeigen, daß Dere-
Sinne einer Folgewirkung wirtschaftlicher Effizienz gulierung hier der völlig falsche Weg ist.
vermindern, und wirtschaftliche Effizienz wiederum sei Nun geht der Gesetzentwurf, den wir heute verab-
nur um den Preis der gesellschaftlichen Ungleichheit zu schieden werden, über die reine Rücknahme von Fehl-
haben, schlicht für falsch. Wo sind all die neuen Ar- entscheidungen der vorigen Legislaturperiode hinaus.
beitsplätze, die die Aufweichung des Kündigungsschut- Wären wir dabei stehengeblieben, hätte die Opposition
zes bringen sollte? gesagt: Die haben ja gar nichts Eigenständiges zu bieten.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jetzt, wo wir darüber hinausgehen, werfen Sie uns, wie (D)
Frau Schnieber-Jastram eben, einen Schnellschuß vor.
Von 500 000 neuen Jobs hatten die Vertreter des Mittel- Ich kann Sie beruhigen: Sowohl zum Problem Schein-
standes geredet; inzwischen beschäftigt das Handwerk selbständigkeit als auch zum Thema Entsendegesetz –
trotz der von ihm gewünschten Gesetzesänderungen das wissen Sie genauso gut wie ich – haben wir aus der
nicht mehr, sondern weniger Menschen. Daraus kann Opposition heraus in den vorigen Jahren schon entspre-
man – wie einige Handwerksfunktionäre oder die F.D.P. chende Anträge gestellt. Es hat dazu ausführliche De-
– den Schluß ziehen, das Tempo beim Lauf in die fal- batten gegeben. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialord-
sche Richtung müsse verdoppelt werden, oder man kann nung hat dazu zuletzt im Sommer 1997 eine Experten-
– wie wir – diese ungerechte Regelung, die gerade die anhörung veranstaltet.
Beschäftigten in kleineren Betrieben und in Betrieben,
in denen die Tarifbindung nicht gilt, trifft, zurückneh- Daß gerade in der Zunahme von Scheinselbständig-
men. Wenn es wirklich um Neueinstellungen ginge, bei keit ein ganz großes Problem liegt, hatten auch die bis-
denen am Anfang die dauerhafte Einstellung noch nicht her im Arbeitsministerium Verantwortlichen schon er-
sicherzustellen wäre, und nicht darum, wie man Leute kannt. Sie hatten nämlich eine umfangreiche Studie
möglichst preiswert los wird, würden dafür allemal die beim IAB in Auftrag gegeben, die deutlich macht, daß
zahllosen Möglichkeiten, befristete Einstellungen vor- es sich bei solchen Beschäftigungsverhältnissen keines-
zunehmen, ausreichen. wegs mehr um ein Randphänomen handelt oder daß al-
les so, wie es ist, schon bestens wäre. Fast eine Million
Befristete und prekäre Beschäftigungsverhältnisse Menschen arbeiten nämlich hauptberuflich in der Grau-
prägen doch mittlerweile geradezu den betrieblichen zone zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstän-
Alltag. Wird gleichzeitig noch der Kündigungsschutz digkeit. Ungefähr anderthalb Million Menschen tun es
aufgeweicht, dann arbeitet man praktisch dauerhaft unter nebenberuflich. Daß von seiten der CDU/CSU, obwohl
den Bedingungen der Probezeit. Sie das genauso gut wie wir wissen, trotzdem bis zum
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das soll heutigen Tage keine Vorschläge auf dem Tisch liegen,
doch nicht sein!) wie das Problem angegangen werden kann, sollten Sie
nicht uns vorwerfen.
Das hat erhebliche Folgen für die betriebliche Demo-
kratie. Wer traut sich schon, während der Probezeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wenn draußen die Leute für den Job Schlange stehen, sowie bei Abgeordneten der SPD – Birgit
dem Chef zu widersprechen oder gar zu versuchen, mit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Es gibt ein
anderen im Betrieb gemeinsam Interessen durchzuset- Recht dazu!)
876 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Annelie Buntenbach

(A) Sie, meine Damen und Herren von den ehemaligen Im Unterschied zum Profifußballer kann sich die Re- (C)
Regierungsfraktionen, haben das Problem verschleppt; galauffüllerin die Investition in die private Alterssiche-
und dadurch, daß Sie nicht gehandelt haben, haben Sie rung nicht leisten. Genau diese Menschen sind es, die
in dieser Frage genau wie in der Frage der geringfügigen wir wieder in den Schutz der Sozialversicherung einbe-
Beschäftigungsverhältnisse den Prozeß der Erosion der ziehen wollen.
sozialen Sicherung noch beschleunigt. Wenn Sie sich
jetzt beschweren, daß wir zu schnell seien, dann liegt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das an dem immensen Problemdruck, den Sie uns hin- und bei der SPD)
terlassen haben. Das Gesetz, das wir heute verabschieden, definiert
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- folgende Kriterien: die Arbeit für – im wesentlichen –
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) einen Auftraggeber, kein eigenständiges Auftreten am
Markt, keine weiteren versicherungspflichtigen Ange-
Um wen geht es eigentlich, wenn wir über Schein- stellten, das Erbringen von für Beschäftigte typischen
selbständigkeit sprechen? Es geht doch nicht um den Arbeitsleistungen.
wagemutigen Yuppie oder Besserverdienenden, der da-
von ausgeht, daß seine Ellbogen und Finanzreserven (Ina Lenke [F.D.P.]: Typische Existenzgrün-
ausreichen, um sich auf eigene Rechnung durchs Leben derinnen!)
zu schlagen. Es geht beispielsweise um den Lkw-Fahrer, Wenn mehrere dieser Kriterien erfüllt werden,
der vorher bei einer Spedition gearbeitet hat und nun für
ebendiese Spedition als Selbständiger auf eigenes wirt- (Dirk Niebel [F.D.P.]: Zwei!)
schaftliches Risiko fährt. Seinen Lkw kauft oder least er
von seinem früheren Arbeitgeber. Die Vertretung für kann vermutet werden, daß es sich nicht um Selbständi-
den Fall von Urlaub und Krankheit muß er selbst organi- ge, sondern um Arbeitnehmer handelt.
sieren und die Reparaturen selbst tragen. An seiner Ar- Die Berichte aus der Praxis der Arbeitsgerichte zei-
beit dagegen ändert sich nicht viel; er bleibt weiterhin gen klar und deutlich – in diesem Punkt frage ich mich,
abhängig. Frau Schnieber-Jastram, ob wir vorige Woche bei der-
Ein anderes Beispiel. Es geht um die Propagandistin, selben Anhörung anwesend waren –, daß der jetzige Zu-
die in einem Warenhaus auf eigene Rechnung bei- stand unhaltbar ist. Sie zeigen, wie schwierig und lang-
spielsweise für die Vermarktung einer Kosmetikserie wierig die Verfahren sind. Sie zeigen ferner, daß eine
zuständig ist. Es geht um die selbständige Regalauffülle- Neuregelung, die wir vorschlagen, dringend nötig ist.
rin oder um die Kellnerin, die an der Theke Kaffee und Besonders dringend nötig ist die Umkehr der Be-
Kuchen kauft, um sie am Tisch weiter zu verkaufen. weislast, die wir vornehmen. Danach kann zwar ein Ar-
(B) (D)
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist alles beitgeber, der kein Interesse an dem sozialversiche-
nach gegenwärtiger Rechtslage regelbar! – rungspflichtigen Status seines Arbeitnehmers hat, die
Gegenruf des Abg. Konrad Gilges [SPD]: Das Vermutung aktiv widerlegen, daß es sich um einen Ar-
stimmt nicht!) beitnehmer und nicht um einen selbständigen Auftrag-
nehmer handelt. Er kann aber nicht mehr – wie bisher –
– Es stimmt leider nicht, daß die gegenwärtige Rechtsla- durch pure Verweigerung verhindern, daß dieser Status
ge alles wunderbar abdecken würde, Frau Schwaetzer. festgestellt wird und daß er künftig seinen Anteil an der
Wenn das so wäre, dann müßten Sie die Frage beant- Sozialversicherung bezahlen muß. Genau das wollen wir
worten können, wie es kommt, daß nach wie vor fast ei- mit diesem Gesetz erreichen.
ne Million Menschen in dieser Grauzone arbeiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
PDS) Als letzten Komplex möchte ich das Entsendegesetz
ansprechen, das wir mit dem heutigen Gesetz erheblich
Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß in diesem Be-
verbessern. Von Anfang an war ja die Möglichkeit, mit
reich die soziale Sicherung immer mehr auseinander-
diesem Gesetz gleichen Lohn für gleiche Arbeit im
bricht. Wenn wir hier nicht einschreiten, werden die
Baugewerbe durchzusetzen, dadurch erschwert, daß es
Probleme, die Sie uns hinterlassen haben, in ihrem
trotz der Bemühungen von Norbert Blüm und anderen
Ausmaß noch größer werden.
die Handschrift derjenigen trug, die die Baustellen zum
All diese Menschen, von denen ich gerade gespro- Experimentierfeld für Lohn- und Sozialdumping machen
chen habe, sind zwar der Form nach selbständig, aber sie wollten. Das Ergebnis war eine Aneinanderreihung von
haben keinen selbständigen, das heißt: eigenständigen Halbherzigkeiten: Es war auf zwei Jahre befristet – das
Entscheidungsspielraum dazugewonnen. Im Gegenteil: ändern wir heute –; es enthielt keinen Konfliktregelungs-
Sie haben etwas ganz Entscheidendes verloren, nämlich mechanismus für den Fall, daß der Branchentarifvertrag
ihre soziale Absicherung. Der Arbeitgeber will die Ko- nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden sollte; es
sten für die Sozialversicherung sparen und drückt sich beinhaltete kein wirksames Instrumentarium gegenüber
vor der sozialen Verantwortung zu Lasten der Betroffe- denjenigen Unternehmern, die sich eine goldene Nase
nen und damit letztlich zu Lasten der Allgemeinheit. am Menschenhandel und skrupelloser Ausbeutung ver-
Wenn die Betroffenen nämlich ohne soziales Netz sind dienen, aber die Bußen, wenn sie erwischt werden, aus
und abstürzen, dann fallen sie direkt in die Sozialhilfe. der Portokasse bezahlen können.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 877
Annelie Buntenbach

(A) Die Voraussetzung dafür, daß das Entsendegesetz Eine Änderung haben wir allerdings im Bera- (C)
überhaupt in Kraft tritt, ist, daß der Branchentarifvertrag tungsverfahren vorgenommen, die ich kurz erwähnen
für allgemeinverbindlich erklärt wird. So wie der Tarif- möchte.
ausschuß, der dies tun müßte, zusammengesetzt ist, kann
das dazu führen – genau das hat es schon gege- (Zuruf von der CDU/CSU: Aus verfassungs-
ben –, daß die Arbeitgeberverbände aus branchenfrem- rechtlichen Gründen!)
den Gründen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung Wir haben festgelegt, daß die Voraussetzung für das
blockieren können. Damit entscheiden im Konfliktfall Handeln des BMA ein Antrag einer der Tarifparteien ist.
praktisch sie allein darüber, ob es überhaupt eine ge- Damit wollen wir deutlich machen, wie wichtig uns die
setzliche Regelung gibt. Angesichts dessen muß sich die Priorität der Tarifparteien ist, auch wenn wir künftig
Politik schon fragen lassen, wie ernst sie sich selbst nicht mehr zulassen werden, daß dieses Gesetz durch
eigentlich nimmt. branchenfremde Verbandsinteressen blockiert werden
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich nehme euch nicht kann.
ernst!) Die dritte entscheidende Verbesserung des Entsende-
Entweder hält eine Mehrheit im Parlament eine gesetzli- gesetzes ist neben der Entfristung und dem Konfliktre-
che Regelung für notwendig; dann muß man sie auch gelungsmechanismus die Durchgriffshaftung für den
schaffen. Oder es gibt dafür keine Mehrheit; dann Generalunternehmer. Razzien auf den Baustellen för-
braucht man aber auch kein Gesetz zu machen. Wenn dern zwar Mißstände zutage, wenn auch bei weitem
man aber diese gesetzliche Rahmensetzung für nötig nicht alle; aber sie bieten keine Ansatzpunkte zur Ände-
hält, dann hat die Politik dafür Sorge zu tragen, daß die- rung und treffen die Opfer, nicht die Täter. Der Ansatz-
ses Gesetz auch im Konfliktfall wirksam wird. Genau punkt, um etwas zu ändern, liegt beim Unternehmer, den
das wollen wir heute tun. wir in die Verantwortung nehmen müssen, gerade beim
Generalunternehmer.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Die Spuren illegaler Beschäftigung oder Beschäf-
tigung weit unterhalb des Mindestlohns verlieren sich
Die Situation am Bau ohne wirksames Entsendege- im Moment im unübersichtlichen Feld von Sub- oder
setz kennen wir doch nur allzu gut: Stundenlöhne zwi- Subsubunternehmern bis hin zu dubiosen Briefkasten-
schen 5 und 10 DM, menschenunwürdige Unterbrin- firmen, an die Aufträge weitergegeben werden. Zur
gung, für die zum Teil – wie in frühkapitalistischen Zeit kann sich der Unternehmer gefahrlos mit den ent-
Zeiten – die Wucherpreise direkt vom Lohn einbehalten sprechenden Versicherungen des Subunternehmers zu-
werden. Unfall- und Arbeitsschutz auf diesen Baustellen friedengeben, wohlwissend, daß die angebotenen Preise
(B) (D)
sind schlicht eine Farce, illegale Beschäftigung blüht mit vernünftigen Arbeitsbedingungen und Sozialver-
zwischen Ketten von Sub- und Subsubunternehmern, sicherungspflicht gar nicht zu erbringen sind. Deshalb
Lohnbetrug ist an der Tagesordnung, und die Kollegen brauchen wir jetzt dringend die Durchgriffshaftung für
werden gegeneinander ausgespielt. Wir brauchen daher den Generalunternehmer, gerade auch im Interesse der
ein Entsendegesetz, dessen Wirkung sichergestellt ist, vielen kleineren Betriebe, die zu vernünftigen Be-
zum einen zum Schutz gegen unerträgliches Lohn- und dingungen beschäftigen und die in den letzten Jahren
Sozialdumping und zum anderen, um die Funktionsfä- von der Schmutzkonkurrenz vom Markt gedrängt wor-
higkeit der Tarifautonomie zu sichern, der sonst die den sind.
Grundlage weiter entzogen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In der Anhörung wurden – genau wie heute auch – und bei der SPD)
die Fragen gestellt: Ist dieses Gesetz überhaupt verfas-
sungsgemäß? Nimmt sich der Staat nicht gegenüber der Es ist heute im Laufe des Vormittags in diesem Hau-
Tarifautonomie viel zuviel heraus? se schon viel von Europa gesprochen worden. Der Weg
dahin geht nicht über Lohn- und Sozialdumping, bei
(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) dem – wie am Bau – die Menschen nach Hautfarbe und
Paß gegeneinander ausgespielt werden. Daraus entste-
Das Ergebnis der Anhörung war ein eindeutiges Nein; hen nationale Ressentiments und nicht das weltoffene
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Dann sind Europa, das wir anstreben. Wir brauchen verbindliche
Sie aber auf einer anderen Veranstaltung ge- und faire Bedingungen am Arbeitsmarkt. Dazu leisten
wesen!) wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden wer-
den, einen wichtigen Beitrag.
denn die vorgesehene Verordnungsermächtigung für
das Arbeitsministerium erfüllt die notwendigen Kriteri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
en: erstens, daß die tarifliche Regelung, die verallgemei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
nert werden soll, von repräsentativen Tarifparteien ver- PDS)
einbart sein muß, zweitens, daß die zwingende Geltung
der Tarifnormen im öffentlichen Interesse geboten er- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat die
scheint, und drittens, daß sie an jede Veränderung der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von der F.D.P.-
Tarifabschlüsse unverzüglich angepaßt wird. Fraktion.
878 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Präsident! nicht wollten; aber Sie können nicht sagen, was Sie (C)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz- wollen. Das ist zuwenig für eine Regierung.
entwurf löst die neue Mehrheit zweifellos Wahlverspre-
(Beifall bei der F.D.P.)
chen ein. Aber sie stiftet auch neue Verwirrung und
neue Unsicherheit. Viertens. Sie beklagen, daß Ihnen keine Schonfrist
von 100 Tagen gegeben wird.
(Konrad Gilges [SPD]: Sie haben die Ver-
wirrung hinterlassen! – Dr. Thea Dückert (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die bräuchten
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen, vier Jahre Schonfrist! – Widerspruch bei der
aber nicht bei den Betroffenen!) SPD)

Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. – Das hören wir hier doch andauernd. – Hinsichtlich der
Neuregelung der Sozialversicherungspflicht für ar-
Erstens. Die gesetzliche Regelung der vollen Lohn- beitnehmerähnliche Selbständige werden wohl auch
fortzahlung im Krankheitsfall wird in die nächsten Ta- bei Ihnen Anrufe und Briefe angekommen sein. Zumin-
rifverhandlungen zusätzlichen Streit hineintragen. dest die Ausschußvorsitzende Frau Barnett hat in diesem
Zusammenhang eine Menge Briefe an uns weitergelei-
(Zuruf von der SPD: Das glaube ich nicht, tet. Solche Briefe gehen bei uns ständig weiterhin ein.
Frau Schwaetzer!) Diese Flut von Protestbriefen, aber auch die verunsi-
Herr Bundesarbeitsminister Riester, Sie haben eben ge- cherten Anrufer sollten Ihnen eigentlich klarmachen: Es
sagt: Die Betriebe sollen die Kostenvorteile, die sie bei wäre besser gewesen, Sie hätten 100 Tage zum Denken
den letzten Tarifverhandlungen herausgeholt haben, be- benutzt.
halten. Herr Wiesehügel hat bereits angekündigt, daß er (Beifall bei der F.D.P.)
sich in den nächsten Tarifverhandlungen wieder die Lei-
stungen zurückholen will, bei denen er das letzte Mal, Mit dieser Neuregelung – das meine ich wirklich sehr
als über die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ernst; ich bin sicher, daß wir darüber noch diskutieren
verhandelt wurde, nachgegeben hat. Wir stellen also werden – präsentieren Sie gerade der von Ihnen so um-
fest: Auch diese Regelung führt wieder zu einer Ver- worbenen Neuen Mitte ein böses Geschenk unter dem
teuerung der Arbeit in Deutschland und zweifellos nicht Weihnachtsbaum. Denn Sie strafen praktisch ohne Aus-
zu Neueinstellungen. nahme alle diejenigen ab, die sich entschlossen haben, in
die Selbständigkeit zu gehen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Zweitens. Die Wiedereinführung der undifferenzier- ten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das
(B) ist doch gar nicht wahr!) (D)
ten Sozialauswahl bei Entlassungen im Betrieb wird
die Betriebe zwingen, hochmotivierte und hochqualifi- Sie zwingen sie alle in die Sozialversicherung. Ich lasse
zierte Arbeitnehmer zu entlassen, nur weil sie unverhei- jetzt einmal offen, ob Sie das ausschließlich aus ideolo-
ratet sind. gischen Gründen tun oder deshalb, weil die Sozialversi-
(Ute Kumpf [SPD]: Sie waren schon lange cherungskassen Geld brauchen. Da sind Sie ja ganz of-
nicht mehr bei Betriebsplanverhandlungen da- fen. Sie sagen: Die Sozialversicherungskassen brauchen
bei, Frau Schwaetzer!) Geld, und wir wollen ihnen dieses Geld verschaffen.
(Zuruf von der SPD: Vielleicht gibt es auch
Das ist die Konsequenz Ihrer Politik. Wenn Sie sich da-
einen dritten Grund!)
mit einmal beschäftigen würden, würden Sie das erken-
nen. Sie zwingen all diejenigen – zum Beispiel Versiche-
rungsagenten oder Agenten von Bausparkassen – in die
Meine Damen und Herren von der Koalition, auch Sozialversicherung, die über Jahrzehnte selbständig ge-
Sie müßten eigentlich Briefe erhalten haben, in denen wesen sind und es seit Jahrzehnten gewohnt sind, selbst
darauf hingewiesen wird, daß Unternehmen ihre Inve- für ihre soziale Sicherung zu sorgen. Sie trocknen dar-
stitionen verschieben bzw. nicht tätigen und daß Arbeit- über hinaus das Versorgungswerk der Versicherungen
nehmer, die im Rahmen dieser Investitionen bereits ein- aus, weil die Jungen, die am Anfang ihrer Berufstätig-
gestellt wurden, wieder entlassen werden, weil die Un- keit stehen, dort nicht mehr hineinkommen. Denn
ternehmen mit der Verschärfung des Kündigungsschut- zwangsweise müssen sie in die gesetzliche Sozialversi-
zes nicht zurechtkommen. cherung.
(Konrad Gilges [SPD]: Ich habe keinen einzi- (Konrad Gilges [SPD]: Erzählen Sie doch so
gen Brief bekommen! Die Briefe bekommt nur etwas nicht!)
die F.D.P.! Die sind bestellt!)
– Ich habe mir den Gesetzentwurf, so wie Sie ihn be-
Drittens. Das Aussetzen der Regelungen, die die schlossen haben, heute noch einmal durchgesehen. Un-
Rente auch in Zukunft sicherer machen sollen, ohne zu terhalten Sie sich doch einmal mit denjenigen, die ihre
sagen, was Sie anders machen wollen, zeigt, daß Sie Versicherung bis gestern abgeschlossen haben mußten.
sich in der Opposition schlecht auf die Regierungsüber- Alle diejenigen, die das ab morgen tun wollen, können
nahme vorbereitet haben. Sie sagten zwar, Sie seien be- dies nicht mehr. Sie sind vielmehr zwangsversichert.
reit; aber Sie sind eben nicht bereit. Sie wußten, was Sie Das ist die Ideologie, die wir nicht akzeptieren. Nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 879
Dr. Irmgard Schwaetzer

(A) einmal Proteste von Ihnen nahestehenden Kreisen haben In ländlichen Regionen haben sich in den vergange- (C)
Sie bisher erschüttert. Selbst die IG Medien waren, was nen zwei Jahren eine Menge von Call-Centern einge-
diese Regelung betrifft, bei der Anhörung sehr zögerlich, richtet. Dies ist für viele Frauen dort – zum Beispiel in
Ihnen überhaupt zuzustimmen. Sie haben Sie gewarnt. Niedersachsen – die einzige Chance, überhaupt Geld zu
verdienen.
Der Deutsche Journalisten-Verband sieht – im übri-
gen zu Recht – die Künstlersozialversicherung gefähr- (Peter Dreßen [SPD]: 80 Mark in 14 Tagen! –
det und protestiert dagegen, daß in Zukunft Arbeitgeber- Weitere Zurufe von der SPD)
und Arbeitnehmeranteile von den Künstlern allein zu
tragen sind, was sie in der Künstlersozialkasse nicht – Dann machen Sie es anders! – Diese Frauen werden ab
müssen. Da sind sie zwangsabgemeldet, weil sie in der dem 1. Januar oder 1. Februar wieder zum Arbeitsamt
Sozialversicherung zwangsangemeldet werden. Das al- gehen, weil die Unternehmer, über deren Qualität man
les haben Sie zu verantworten. Sie konnten aber nicht sicherlich streiten kann, ihr Geschäft ganz schnell nach
einmal begründen, warum Sie das tun. Holland verlegen. Die Frauen, die dort bisher gearbeitet
haben, gehen in die Arbeitslosigkeit.
Der WDR sieht – im Auftrag von ARD und ZDF –
die Rundfunkfreiheit gefährdet, weil seine programmge- Herr Riester hat vorhin gesagt: „Dies ist ein Tag der
staltenden Mitarbeiter – das habe ich nicht erfunden, das Freude“. Ich sage Ihnen: Es ist kein Tag der Freude für
ist auch Ihnen zugegangen –, die immer als Selbständige all diejenigen, die durch Ihre Regelungen ihren Arbeits-
angesehen wurden und angesehen werden wollten, nun platz und ihre Verdienstmöglichkeiten verlieren werden.
plötzlich arbeitnehmerähnliche Selbständige mit unge-
wollter teurer Sozialversicherungspflicht werden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
(Konrad Gilges [SPD]:Der Betriebsrat sieht
das anders!) Aber all das gilt nichts, wenn Ideologie in den Vor-
dergrund geschoben wird. Dabei ist in der Anhörung
Darüber hinaus hat der WDR zu Recht die Befürchtung,
doch wirklich klar geworden, daß die Fälle von Miß-
daß die nächste Klagewelle auf Einstellung auf ihn zu-
brauch und von tatsächlicher Scheinselbständigkeit mit
rollt, damit wenigstens Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
dem geltenden Recht und der gegenwärtigen Rechtspre-
beitrag vom Auftragnehmer nicht mehr allein zu zahlen
chung befriedigend zu regeln sind. Das Eismann-Urteil
sind.
zeigt das. Dieses Eismann-Urteil zeigt auch, daß die
Selbst so uneigennützige Menschen wie die in den jetzt vorliegende gesetzliche Regelung überflüssig ist,
sogenannten Lohnsteuerhilfevereinen sehen ihre Exi- denn es wird in der Begründung genau das bringen,
stenz bedroht. Lohnsteuerhilfevereine – das müßte Ihnen worauf sich anschließend jeder berufen kann und auch
(B) doch etwas sagen. Hier arbeiten Menschen, die kleinen berufen wird. Das heißt, es ist mit einem Schlag alles (D)
Leuten helfen, ihre Lohnsteuererklärung zu machen. Sie weg, weshalb Sie glaubten, diese Regelung machen zu
bekommen dafür eine geringe Gebühr. Diese Menschen müssen.
werden ab dem 1. Januar sozialversicherungspflichtig
und müssen Beiträge zahlen für etwas, was sie über- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
haupt nicht brauchen und nicht haben wollen. ten der CDU/CSU)

(Konrad Gilges [SPD]: Warum brauchen die Sie hatten sich ja offensichtlich ein Denkverbot verord-
das nicht? – Weitere Zurufe von der SPD) net. Heben Sie dieses Denkverbot auf!
– Sie schreiben Ihnen doch, daß sie das nicht wollen. Lassen Sie endlich die Diskussion in den eigenen Rei-
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hen, aber auch mit uns zu!
wollten etwas Gutes tun für Frauen. Sie haben aber – Am Verlauf der Diskussion über die 620-DM-Jobs
das ist ernst gemeint – die Diskussion darüber verwei- sieht man, daß es keine einfachen Lösungen gibt. Wenn
gert. Sie haben im Ausschuß auf keine unserer Fragen man einfache Lösungen präsentiert, wie Sie das tun,
geantwortet. dann entstehen dabei so viele Fehler, daß die Regelung
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nicht tragfähig ist.
ten der CDU/CSU)
(Zuruf von der SPD: Sie haben überhaupt kei-
Sie schaden damit vor allen Dingen den Frauen im ne Regelung angeboten!)
Osten. Viele von ihnen haben vor zwei, drei Jahren kei-
ne andere Chance gesehen, als sich eine selbständige „Neues Spiel, neues Glück“ hätte man fast sagen kön-
Existenz aufzubauen. Sie sind noch nicht in der Lage, nen. Wir warten darauf, was Sie mit all dem, was nicht
das zu tun, wozu Sie sie jetzt zwingen. Sie fühlen sich geht, in den nächsten Monaten anfangen. Dann stehen
von Ihnen bevormundet. wir selbstverständlich auch als Dikussionpartner für das,
was geht, zur Verfügung.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU) Fünftens. Auf verfassungsrechtlich dünnem Eis be-
wegen Sie sich mit der Entscheidung, den Arbeitsmini-
Ich finde, das ist nicht sozial, sondern nur noch arrogant. ster mit bisher nie gesehener Machtfülle auszustatten.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Der Bundesarbeitsminister erklärt ein ganzes Tarifge-
ten der CDU/CSU) füge für allgemeinverbindlich. Die Bundesanstalt für
880 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Irmgard Schwaetzer

(A) Arbeit ist selbstverständlich von ihrem Gesetzesauftrag Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die (C)
her in der Pflicht, das zu überprüfen. PDS-Fraktion hat Frau Dr. Heidi Knake-Werner.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Das ist
richtig!) Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident!
Dazu haben die aber erklärt, daß sie sich nicht als Tarif- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Schwaetzer, ich wundere mich schon ein wenig darüber,
polizei sehen. Sie machen die Bundesanstalt für Arbeit
daß Sie sich so über die Hektik des Gesetzgebungsver-
mit der Verabschiedung dieses Gesetzes zur Tarifpoli-
zei, fahrens empören. Das, was wir von Ihrer Seite geboten
bekommen haben, hat das bei weitem übertroffen.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Aber die
oder aber Sie akzeptieren, daß Ihr eigenes Gesetz nicht Neuen haben gesagt, sie machen vieles bes-
angewendet wird. Das aber können Sie nicht wollen. ser!)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Da bin ich doch wirklich ganz andere Dinge gewohnt.
ten der CDU/CSU)
Ich möchte zu den Kollegen der rechten Opposition
Darüber hinaus möchte ich im Interesse von Arbeit- insgesamt sagen: Wenn ich Sie heute reden höre, dann
nehmern auf vorhandenen Arbeitsplätzen sehr ernsthaft empfehle ich Ihnen dringend, sich Gedanken um Ihr
zu bedenken geben: Es kann nicht in Ihrem Interesse Kurzzeitgedächtnis zu machen.
liegen, die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von
(Beifall bei der PDS)
Tarifverträgen auch in Regionen vorzunehmen, in denen
nur eine Minderheit von Betrieben den Arbeitgeberver- Sie haben jahrelang zugelassen, daß Frauen in prekäre
bänden beigetreten ist. Sie haben das getan, weil sie Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt worden sind,
sonst nicht überlebensfähig sind. Wenn Sie die Rege- weil sie keine andere Chance hatten. Jetzt vergießen Sie
lung jetzt so weit ausdehnen, wenn Sie sie jetzt für all- hier Krokodilstränen, insbesondere um die Frauen in
gemeinverbindlich erklären, dann nehmen Sie sehenden Ostdeutschland. Das finde ich wirklich schamlos.
Auges in Kauf, daß Arbeitsplätze abgebaut werden
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
ten der CDU/CSU) GRÜNEN)
und daß diese Arbeitsplätze mit Mitarbeitern von Toch- War es nicht in Ihrer Regierungszeit, daß die Ar-
terunternehmen großer Baufirmen aus dem Ausland beitslosenzahlen ins Unermeßliche gestiegen sind? Ist es
(B) besetzt werden, aber nicht mehr von deutschen Arbeit- nicht in Ihrer Regierungszeit passiert, daß die Menschen (D)
nehmern. in Ost und West den Glauben an die soziale Gerechtig-
keit verloren haben? Die Quittung dafür haben Sie ja
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Leider wahr!)
nun bekommen.
Genau das, Herr Wiesehügel, wird mit Ihrer Gene-
ralunternehmerhaftung in den ostdeutschen Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der PDS und der
SPD)
ländern passieren. Die großen Firmen werden ihre
Töchter aus dem Ausland für sich arbeiten lassen, weil Ich jedenfalls bin froh über das heute zur Abstim-
die als einzige die Gewähr bieten, daß sich der General- mung vorliegende Gesetz, das im wesentlichen die Auf-
unternehmer auf rechtlich einwandfreiem Eis bewegt. gabe hat – dem können wir nur zustimmen –, die größ-
Die Mittelständler im Osten werden in die Röhre gucken, ten Fehlleistungen der Kohl-Regierung im sozialen und
und die Arbeitsplätze werden zuhauf kaputtgehen. Dar- im arbeitsrechtlichen Bereich zu korrigieren. Ich bin
über werden wir noch sprechen, da bin ich ganz sicher. auch froh darüber, daß sich die Koalition dabei nicht
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- von den – teilweise äußerst rüden – Attacken aus dem
Arbeitgeberlager hat ins Bockshorn jagen lassen. Das
ten der CDU/CSU)
verdient ein aufmunterndes „Weiter so“ von uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Bundesar-
beitsminister, Sie haben angekündigt, eine offene Dis- (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
kussion über die Zukunft der sozialen Sicherung und der Ob Ihnen etwas Vergleichbares auch beim Bündnis
Arbeitsmarktbedingungen in Deutschland zu führen. Ich für Arbeit gelingen kann, darf allerdings bezweifelt
hätte mir gewünscht, daß wir über dieses Gesetz schon werden. Allein die Tatsache, daß es nach der ersten
ausführlicher hätten diskutieren können. Leider ist das Runde zu einem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und
nicht möglich gewesen, weil Sie darauf bestehen, Qua- Wettbewerbsfähigkeit aufgeblasen wurde,
lität durch Schnelligkeit zu ersetzen. Tempo ist keine
Leistung, und dies ist nicht im Interesse der Arbeitneh- (Zuruf von der SPD: Vor der ersten Runde!)
merinnen und Arbeitnehmer. läßt leider nichts Gutes ahnen. Wir haben da in den
Danke. letzten Jahren Erfahrungen gesammelt. Während Bun-
deskanzler Schröder und Arbeitsminister Riester ohne
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Vorbedingungen antraten, waren es natürlich die Arbeit-
Dirk Niebel [F.D.P.]: Temposünder!) geber, die knallhart konkrete Forderungen formuliert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 881
Dr. Heidi Knake-Werner

(A) haben. Sie sind es auch – das macht einen eben so skep- Vorleistungen, insbesondere gegenüber den großen (C)
tisch –, die als einzige schon nach dem ersten Treffen Unternehmen, wie sie hier in den letzten Jahren zuhauf
mit Geschenkzusagen nach Hause gehen konnten. Die beschlossen worden sind, haben dem Arbeitsmarkt
Senkung der Unternehmenssteuern soll wunschgemäß nichts, aber auch gar nichts gebracht. Ich frage Sie –
um zwei Jahre vorgezogen werden. weil vorhin, bei der Diskussion um die Lohnfortzahlung,
davon wieder die Rede war –: Was haben die eigentlich
(Zuruf von der CDU/CSU: Nur heiße Luft!) mit den 15 Milliarden DM gemacht, die sie durch die
Auch die anderen Verabredungen nehmen auf, was Kürzung der Lohnfortzahlung eingespart haben? Ein
die Unternehmer eigentlich schon immer gesagt haben, Sonderprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit jeden-
daß nämlich die Kosten, insbesondere die berühmten ge- falls haben sie damit nicht geschaffen.
setzlichen Lohnnebenkosten, gesenkt werden müssen – (Beifall bei der PDS)
alles im Interesse einer Verbesserung der Innovations-
und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Das ist die Das aber wäre ein Weg gewesen, der unser aller Unter-
alte Litanei von vorgestern. Wo bleibt, liebe Kollegin- stützung verdient hätte. Ich hoffe jedenfalls, daß die Re-
nen und Kollegen, die Selbstverpflichtung der Industrie- gierung daraus die richtigen Konsequenzen zieht und
verbände, für mehr Ausbildung und mehr Beschäftigung entsprechende Forderungen an das Bündnis für Arbeit
zu sorgen? Darauf warte ich, und das sind die Bedin- formuliert.
gungen, die hier formuliert werden müßten, auch von Einen mutigen Schritt finde ich die Novellierung des
der Regierung. Entsendegesetzes. Endlich läßt sich der Grundsatz
Dagegen findet sich in der gemeinsamen Erklärung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ rea-
der brisante Satz, daß die beteiligten Seiten eine Tarif- lisieren. Hoffentlich gelingt es nun auch besser, gegen
politik anstreben, die den Beschäftigungsaufbau unter- die skandalösen Arbeitsbedingungen auf dem Bau, ins-
stützt. Was ist das nun? Ist dies das von Klaus Zwickel besondere für die ausländischen Arbeitnehmer, vorzu-
angekündigte Ende der Bescheidenheit? Oder sind das gehen. Die PDS hatte dazu einen Änderungsantrag ein-
die vom Chef des Deutschen Industrie- und Handelsta- gebracht. Wir hatten den Wunsch nach Einrichtung von
ges, Stihl, geforderten Lohnleitlinien? Das kommt dabei Anlauf- und Beratungsstellen, weil wir die Information
heraus, wenn man Konsensgespräche nur moderiert und und damit die Handlungs- und Rechtssicherheit der
nicht klarmacht, mit welcher Position man dort selber ausländischen Kollegen gerne verbessern wollten. Lei-
hineingeht, und nach allen Seiten offen ist. der haben sich SPD und Bündnisgrüne dieses Anliegens
nicht annehmen können.
(Beifall bei der PDS)
Daß sich die neue Regierung des Mißbrauchs ver-
(B) Hier können Sie von uns kein aufmunterndes „Weiter schiedener Formen von Selbständigkeit annimmt, findet (D)
so“ erwarten. unsere Unterstützung. Auch wir wollen verhindern, daß
Wenn sich ein Konzept andeutet, zum Beispiel bei mit der schlichten Umbenennung von abhängig Be-
Lafontaine, der die gesetzliche Begrenzung von Über- schäftigten in Selbständige der Ausstieg aus dem Sozi-
stunden fordert, wenn es zu keiner anderen Lösung alversicherungssystem immer einfacher wird. Wir wol-
kommt, dann schaltet sich der Kanzler ein. So hat Bun- len die Aushöhlung des Solidarsystems endlich stoppen
deskanzler Schröder den Finanzminister mit der schnö- und nicht länger zulassen, daß Scheinselbständige gegen
den Feststellung, das komme sowieso nicht in Frage, zu- ihren Willen in prekäre und nicht selten existenzbedro-
rückgepfiffen. Dann braucht es einen im übrigen auch hende Arbeitssituationen gepreßt werden. Die Schritte
nicht zu wundern, wenn sich der Verbandsvertreter des gegen die Scheinselbständigkeit scheinen uns da der
BDI in einer Talkrunde bei Sabine Christiansen damit richtige Weg zu sein.
hervorwagt, gesetzgeberisches Handeln mit einem terro- Insgesamt, so kann ich hier erklären, stimmen wir
ristischen Banküberfall gleichzusetzen. Was ist das für dem Gesetzentwurf der Koalition zu, weil er unserer
ein Demokratieverständnis? Ich muß schon sagen: Von Meinung nach in die richtige Richtung weist, mehr so-
dieser Seite scheint noch einiges zu erwarten zu sein, ziale Sicherheit und mehr Rechtssicherheit für die Be-
wenn es um den wirklichen Politikwechsel geht. schäftigten schafft.
Das heutige Gesetz ist ein Stück Politikwechsel, weil Aber ich will Ihnen auch nicht vorenthalten, was uns
es im wesentlichen den groben Sozialabbau und die an der heutigen Beschlußlage wirklich ärgert. Die PDS
Deregulierung der Vorgängerregierung rückgängig ma- hat gleichzeitig mit Ihnen drei Gesetzentwürfe einge-
chen soll und neue Schutzrechte für die abhängig Be- bracht, die noch in diesem Jahr hätten verabschiedet
schäftigten installiert. Weder mit der Kürzung der Lohn- werden können und müssen:
fortzahlung noch mit dem Abbau von Schutzrechten
sind die Probleme auf dem Arbeitsmarkt von heute zu (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
lösen; das haben Sie in den letzten Jahren vielfach unter zur Neuregelung des Schlechtwettergelds und zur
Beweis gestellt. Die neue Regierung findet hier hoffent- Verhinderung der Feiertagsarbeit bei den Banken. Sie
lich andere Wege. Es war eben nicht die Kürzung der haben unsere Initiativen schon im Ausschuß blockiert.
Lohnfortzahlung, es war auch nicht die Einschränkung Wenn ich jetzt gutmeinend wäre, könnte ich sagen: Na
des Kündigungsschutzes, und es war schon gar nicht die gut, dies ist der Tatsache geschuldet, daß Sie nach den
Verlängerung der Ladenöffnungszeiten, die die notwen- ersten Pannen beim Regierungshandeln sich selbst „Ent-
digen Beschäftigungseffekte gebracht hätten. schleunigung“ bei den Reformvorhaben verordnet ha-
882 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Heidi Knake-Werner

(A) ben. Ich bin aber in diesem Falle nicht gutwillig, weil nicht so gut gelaufen. Ich glaube, da ist irgend etwas (C)
ich einfach den Gedanken nicht loswerde, daß Sie un- passiert. Die Wählerinnen und Wähler haben Ihnen die
sere Initiativen nicht wollten und nicht den Mut haben, rote Karte gezeigt.
hier im Plenum gegen unsere Initiativen zu stimmen.
Ich möchte Ihnen hier eine kleine Hilfestellung zur
(Beifall bei der PDS) Vergangenheitsbewältigung geben. Es gibt nämlich
Meilensteine, an denen Ihre Niederlage festgemacht
Das finde ich einfach unakzeptabel.
werden kann. Das meine nicht nur ich, sondern das mei-
Wenn Sie uns und die Betroffenen „auf die Nudel nen auch andere; da bin ich in guter Gesellschaft; Heiner
schieben“ wollen, indem Sie erst einmal einen Bericht Geißler hat dazu im „Spiegel“ publiziert.
der Regierung einfordern, dann sage ich Ihnen ganz
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist keine gute Ge-
deutlich: Im letzten Winter waren Sie nicht auf einen
sellschaft! Das ist Geißler!)
Bericht der Regierung angewiesen, um festzustellen, daß
die heutige Schlechtwettergeldregelung das Heuern und Solche Meilensteine sind die Lohnfortzahlung und
Feuern auf dem Bau im Winter nicht stoppen kann. der Kündigungsschutz.
(Beifall bei der PDS) (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)
Insofern können Sie uns nicht überzeugen. Eine schnelle – Ich habe gehört: Wenn man oder frau zum erstenmal
Lösung wäre hier bitter notwendig gewesen. redet, dann gibt es einen gewissen „Welpenschutz“. Den
Auch daß Sie die Abstimmung zur Feiertagsöffnung fordere ich für mich jetzt ein.
von Banken verhindert haben, finde ich skandalös und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei
unakzeptabel, aus sozialen und aus kulturellen Gründen. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das Ergebnis kennen Sie alle. Sie waren sich darüber im GRÜNEN)
klaren, daß diese Gesetzesregelung am 1. Januar 1999 in
Kraft tritt. Sie wissen, daß es zu einer höheren Belastung Es gibt Daten, die im Rahmen Ihrer Niederlage sehr
der Beschäftigten in den Banken kommen wird, und Sie wichtig sind – mir liegt es am Herzen, das zu sagen –:
wissen, daß dies einen Angriff auf die kulturellen Werte Der 13. September 1996 und der 1. Oktober 1996 waren
unserer Gesellschaft bedeutet. Die Börse hat ja bereits Tage, an denen Sie mit Ihren Politikkonzepten bei der
ihre neuen Öffnungszeiten verkündet – Sie konnten das Lohnfortzahlung, beim Kündigungsschutz und bei der
alle in der Presse nachlesen –; Sie können jetzt wirklich Rente den Konsens in dieser Gesellschaft aufgekündigt
stolz darauf sein, daß es mit Ihrer Hilfe munter weiter- haben. Vor allem Sie, die F.D.P., waren in Ihrer Dere-
geht auf dem Weg zur Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft. gulierungswut – dieses Wort muß man sich auf der Zun-
(B) Ich finde das sehr bedauerlich. ge zergehen lassen – damals verantwortlich dafür, daß (D)
das „Bündnis für Arbeit“ gescheitert ist. Sie haben das
Um mit Herrn Minister Riester zu sprechen, der vor- Betonfundament für Ihre Abwahl am 27. September die-
hin davon geredet hat, daß es bei diesem Gesetz viele ses Jahres selbst gegossen.
Gewinner gibt: Mit uns gemeinsam hätten Sie die Zahl
der Gewinner noch erhöhen können. Da hätten wir gerne (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mitgemacht. Der eigentliche Hammer – so schreibt es Heiner
Vielen Dank. Geißler in seinem Buch – war die Forderung, die Lohn-
fortzahlung auf 80 Prozent zu senken, und zwar trotz
(Beifall bei der PDS) massiver Proteste. Ich erinnere daran, daß damals
350 000 Menschen in Bonn demonstriert haben. Es gab
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort auch in den Betrieben zigtausendfachen Protest. Trotz-
der Abgeordneten Ute Kumpf, SPD-Fraktion. dem ist die CDU/CSU dem Deregulierungskonzept der
F.D.P. gefolgt, ist eingeknickt und hat die Lohnfortzah-
lung von 100 Prozent auf 80 Prozent gesenkt. In Ihrer
Ute Kumpf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Deregulierungswut haben Sie sich an einem Kernstück
und Herren! Es gibt Tage, da gewinnt man, und es gibt der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik vergriffen.
Tage, da läuft es einfach schlecht.
Eine kleine Nachhilfe, weil manche das vielleicht
(Zuruf von der F.D.P.: Sie hatten schon viele vergessen haben: Die Lohnfortzahlung im Krankheits-
schlechte Tage!) falle für Arbeiter wurde 1954 in einem 16wöchigen
Streik in Schleswig-Holstein erstritten. Über 34 000
Frau Schwaetzer, die SPD ist bereit, und sie ist sogar
Menschen, 75 Prozent des Tarifgebietes, haben damals
vorbereitet. Deswegen können wir heute Millionen von
gestreikt. Dieser Streik gab den Anstoß, die Absicherung
Menschen mit der Lohnfortzahlung, die wir geraderük-
im Krankheitsfalle per Gesetz zu regeln.
ken, und mit der Sicherung des Kündigungsschutzes ei-
ne vorweihnachtliche Freude bereiten. Mit Ihrer Entscheidung im Spätsommer 1996 trieben
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie den ersten Keil in die Gesellschaft und spalteten sie.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihnen müßte eigentlich klar gewesen sein, daß das Ein-
sparpotential für Betriebe durch eine gesetzliche Kür-
Am 27. September 1998 ist es für Sie, also für die zung der Lohnfortzahlung gering ist. Für 80 Prozent der
Kollegen und Kolleginnen der jetzigen Opposition, wohl Beschäftigten galten damals 100 Prozent Lohnfortzah-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 883
Ute Kumpf

(A) lung. Ihre Kürzung – so wurde sie auch verstanden – wenn Manager und die Führungsriegen, die das Kürzen (C)
war eine Kriegserklärung an die Gewerkschaften und an propagieren, bei Krankheit keine finanziellen Einbußen
die Beschäftigten in den Betrieben. Entsprechend waren befürchten müssen – und das für einen Zeitraum von
die Reaktionen. mehr als anderthalb Jahren –,
Sie haben weiter gezündelt und weiter draufgesattelt. (Beifall bei der SPD)
Zur Erinnerung: Sie haben die Arbeitgeber in dem
Glauben gelassen, daß das Gesetz zur Kürzung der getreu nach dem Motto: Sie predigen Wasser und trin-
Lohnfortzahlung bestehende Tarifverträge außer Kraft ken Wein.
setzt. Sie schufen damit die Stimmung dafür, daß der Ihre Position, die Kürzung auf 80 Prozent sei sozial-
damalige und heutige Daimler-Chef Jürgen Schrempp politisch gerechtfertigt, ordnungspolitisch notwendig
meinte, er könnte den Ausputzer und den Vorreiter für und wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
die Arbeitgeber spielen, indem er Tarifvertragsbruch be- unumgänglich, sieht den Faktor Arbeit nur als Kosten-
geht. Mittelständler – CDU/CSU und F.D.P. schwören stelle und nicht als Wertschöpfungsträger und operiert
ja immer auf den Mittelstand – haben damals gesagt: vor allem mit einem Beschäftigtenbild, daß Arbeitneh-
Laß die Finger davon! mer potentielle Blaumacher, Drückeberger und Krank-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) macher seien und daß nur durch Einschüchterung und
vor allem finanziellen Druck dem Krankenstand in den
Laßt dieses Tarifvertragswerk unangetastet! Wir wollen Betrieben beizukommen sei.
keine Kürzung der Lohnfortzahlung im Betrieb haben,
denn das bringt unseren Betrieb durcheinander. Sie sind Ich empfehle Ihnen zur Revidierung Ihres Menschen-
weder Jürgen Schrempp gefolgt noch Dieter Hundt, bildes eine kleine Fortbildung. Sie haben wahrscheinlich
noch dem DIHT-Vorsitzenden Stihl, weder Chefs von genauso wie ich von den Betriebskrankenkassen eine
Bosch noch Pischetsrieder von BMW. Sie haben eben Einladung bekommen. Am 20. Januar können Sie sich
gesehen, daß diese Kürzung in den Betrieben nur Zoff schlau machen zum Thema „Betriebliche Gesundheits-
und eine demotivierte Belegschaft bringt. politik und partnerschaftliche Unternehmenskultur“, hier
insbesondere zu dem spannenden Teil „Mitarbeiterori-
Jürgen Schrempps Tarifvertragsbruch infolge Ihres entierter Führungsstil und Senkung von Krankenstän-
Gesetzes – nur zur Erinnerung – hat dem Konzern teure den“. Das ist der richtige Weg, um den Krankenstand zu
Bilanzen gebracht – eine Elch-Einheit! Am 1. Oktober senken.
1996 legten mehr als 100 000 Beschäftigte im Daimler-
Konzern für einen Tag die Arbeit nieder, und es lief da- (Beifall bei der SPD)
mals schlichtweg nichts mehr. Diese eintägige Arbeits- „Wenn Unternehmen Zukunft haben sollen“ – so
(B) niederlegung der Daimler-Kolleginnen und -Kollegen formulierte es der VDMA-Ehrenpräsident Leibinger am (D)
am 1. Oktober kam das Unternehmen genauso teuer zu Montag in Stuttgart bei der Tagung „Wirtschaft trifft
stehen, wie die Lohnfortzahlung für ein Jahr – in 1995 – Wissenschaft“ –, muß es – und jetzt zitiere ich –
gekostet hat, nämlich genau 220 Millionen DM. Karl
Feuerstein, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende des ein innovatives Gesamtkunstwerk im globalisierten
Daimler-Konzerns – auch er dürfte Ihnen kein Unbe- Wettbewerb sein. Partizipation, Motivation und
kannter sein –, hat in einer Veranstaltung ausgeführt, mitarbeiterzentrierter Führungsstil sind unerläßlich,
daß an diesem Tag der erste Anstoß für Ihre Abwahl ge- um die Belegschaften zu Höchstleistungen zu füh-
geben wurde und daß Schrempp damit indirekt die ren.
größte Wahlkampfhilfe für die SPD geliefert hat. Dieser auf die Beschäftigten konzentrierte Führungsstil
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der muß durch die Politik begleitet werden, so das Credo
CDU/CSU) des VDMA-Präsidenten.
– Nur behutsam! Wir als SPD schließen daraus: Dazu gehört für die
Beschäftigten auch eine arbeitsrechtliche wie sozialpoli-
Noch mal an die Adresse der CDU: Wenn Sie Ihr Ohr tische Sicherheit, die den Kopf und das Herz für die Ar-
und vor allem Ihr christdemokratisches Herz bei den beit frei macht. Konsens und Kooperation sind die inno-
Betroffenen hätten, müßte Ihnen sehr schnell klar sein, vativen Schlüssel für die Ausgestaltung der Arbeitsbe-
warum solche berechtigten Emotionen bei der Kürzung ziehungen, die auch in Zukunft tragfähig sind. Kon-
der Lohnfortzahlung im Spiel sind. Von einer Kürzung frontation, Ausgrenzung und soziale Unsicherheit für
auf 80 Prozent sind vor allem langfristig Kranke, viele und Bevorzugung weniger sind Führungs- und
Schwangere, Behinderte betroffen. Jeder weiß, daß we- Politikkonzepte von gestern und daher schlichtweg
der der Vermieter auf einen Teil seiner Miete verzichtet megaout.
und nur noch 80 Prozent verlangt, noch daß die Versor-
gungsunternehmen eine Kürzung ihrer Rechnungen ak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
zeptieren – auch sie verlangen für Gas, Wasser und 90/DIE GRÜNEN)
Strom nicht weniger, wenn man krank ist –, geschweige
Das gleiche gilt auch für die 1996 erfolgten Ein-
die Ärzte. Das heißt, man muß dann genauso viel löhnen
schränkungen des Kündigungsschutzgesetzes. Beim
wie im gesunden Zustand.
Kündigungsschutzgesetz findet man das gleiche Strick-
Es wird von den Menschen nicht nur als sozial unge- muster: Arbeitsplätze wurden in Aussicht gestellt; aber
recht empfunden, es ist auch schlichtweg ungerecht, das Handwerk – das wurde heute schon gesagt – ver-
884 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Ute Kumpf

(A) weist selbst darauf, daß das Ergebnis mager ist. 20 000 zu tun, um mehr Arbeitsplätze in diesem Lande zu (C)
Arbeitsplätze sind es. Dem stehen 135 000 Arbeitsplätze schaffen.
gegenüber, die abgebaut wurden. Aus der versprochenen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Flut wurde ein sanftes Rinnsal. Nach dem Auslaufen der
nur noch bis September 1999 geltenden Bestandschutz- ordneten der F.D.P.)
regelungen droht nun – neben einem arbeitsmarktpoliti- Liebe Frau Kollegin Kumpf, passen Sie auf, daß nicht
schen Fehlschlag – darüber hinaus für rund 2 Millionen bald 350 000 oder noch mehr Menschen hier in Bonn
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Verlust des oder in Berlin auf die Straße gehen, um gegen Rotgrün
allgemeinen Kündigungsschutzes. Wenn wir heute das zu demonstrieren; denn dieses Gesetz, das Sie heute zur
Rad an dieser Stelle zurückdrehen, dann heißt dies, ei- Beratung vorlegen, hätte eigentlich richtigerweise den
nen Schritt nach vorne zu machen. Namen „Reformunfähigkeitsgesetz“ verdient.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
90/DIE GRÜNEN) ordneten der F.D.P.)
Wenn wir heute Ihre sozialpolitische Fehlerproduk- Es belegt in dramatischer Weise die Weigerung dieser
tion in Sachen sozialer Absicherung wieder ausbü- neuen Regierung, den von allen Experten beschriebenen
geln und korrigieren, die Lohnfortzahlung wieder auf Reformbedarf anzuerkennen. Schlimmer noch: Statt sich
100 Prozent anheben, den Kündigungsschutz wieder notwendiger Reformen anzunehmen und sie fortzu-
sicherer gestalten und den Schwellenwert von zehn auf schreiben, wollen Sie sogar das bisher Erreichte zurück-
fünf Beschäftigte zurückführen, dann heißt das, einen drehen. Damit werden Sie die sozialen und die arbeits-
Beitrag – den wir im Wahlkampf versprochen haben – marktpolitischen Probleme in diesem Lande nicht lösen.
zur Qualitätssicherung in der Sozialpolitik und zur Das „Reformverweigerungsgesetz“, das Sie heute im
Ausgestaltung von Arbeitnehmerrechten zu leisten. Das Bundestag verabschieden wollen, ist der Spiegel Ihrer
ist unser Dünger für das „Bündnis für Arbeit“, damit ideologischen Scheuklappen und Ihrer leichtfertigen
es im Frühjahr nächsten Jahres möglichst mächtige Versprechungen, die Sie abgegeben haben.
Knospen treibt und blüht sowie im Herbst üppige
Früchte trägt. (Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: O je!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Noch keine drei Wochen ist das Gutachten des
Ich bin mir ganz sicher, daß es gelingt. Es gibt hier ein Sachverständigenrates alt. Darin richten die Sachver-
wunderschönes afrikanisches Sprichwort, das ich ganz ständigen einen fast beschwörenden Appell an die neue
gerne den Bayern mit auf den Weg geben möchte: Viele Bundesregierung. Dieser Appell im Kapitel „Arbeits-
(B) Spinnennetze können einen Löwen aufhalten, sogar ei- markt“ lautet: Regulierungsdichte nicht erhöhen! Denn (D)
nen bayerischen. je mehr Vorschriften und gesetzliche Regulierungen Sie
machen, um so schwerfälliger verläuft der notwendige
Danke schön.
Umstrukturierungsprozeß hin zu einer modernen Indu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten strie- und Dienstleistungsgesellschaft. Neue Arbeitsplät-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ze entstehen nur in einer flexiblen, anpassungsfähigen
PDS) Volkswirtschaft. Diese neue Regierung aber tut alles,
um vorhandene bzw. gerade erst geschaffene Flexibilität
zu beseitigen. Ich will das an dem Beispiel der soge-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Das war Ihre erste nannten Scheinselbständigen verdeutlichen, die heute
Rede im Parlament, Frau Kollegin Kumpf. Ich darf Ih- schon wiederholt angesprochen wurden, dem neuen
nen dazu im Namen des Hauses gratulieren. Objekt Ihrer Kollektivierungsbegierde.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU)
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Hans-Peter Wir haben heute viele Fälle, in denen Arbeitnehmer in
Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion – ebenfalls ein ihren Betrieben mit sehr speziellen Aufgaben betraut
Jungfernredner, wenn ich es richtig sehe. werden und sich spezielle Kenntnisse erwerben: bei der
(Beifall bei der CDU/CSU) Softwareberatung, bei spezieller Unternehmensberatung,
bei speziellen Formen des Marketings. In vielen Fällen
entdecken diese Arbeitnehmer, daß es einen Markt für
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Herr das gibt, was sie können und geleistet haben. In vielen
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Frau Fällen möchten diese Arbeitnehmer sich selbständig
Kollegin Kumpf unterschätzt die Stärke der bayerischen machen. Wenn der Arbeitnehmer dann Glück hat, wird
Löwen. seine Firma, in der er bisher tätig war, der erste und zu-
(Ute Kumpf [SPD]: Ich komme aus Bayern!) nächst vielleicht auch der einzige Kunde sein.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht, welche Wahlversprechen Sie mit diesem Ge- NEN]: Scheinselbständigkeit ist noch eine
setzentwurf halten wollen. Ich weiß nur eines: Das Wohltat – oder?)
wichtigste Wahlversprechen, das Sie abgegeben haben, Oft arbeitet dann sogar die ganze Familie, weil es die
brechen Sie damit, nämlich das Wahlversprechen, alles Chance zu ergreifen gilt, eine eigene Existenz zu grün-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 885
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)

(A) den. In Tausenden von Fällen sind durch solche Exi- mehr zukriegen, wenn Sie die Tarifautonomie in dieser (C)
stenzgründer neue und erfolgreiche Unternehmen im Weise in Frage stellen.
verabeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
geschaffen worden.
Ich nehme als erstes das Entgeltfortzahlungsgesetz.
(Beifall bei der CDU/CSU) Die Ausgangssituation nach der Gesetzesänderung vor
Wenn Sie sich die Arbeitsmarktberichte anschauen, so zwei Jahren war: ein Tag Urlaub für eine Woche Krank-
sehen Sie, daß gerade im Dienstleistungsbereich un- heit des Arbeitnehmers. Dann haben die Tarifpartner
glaublich viele neue Existenzen und Arbeitsplätze ent- und die Tarifparteien gearbeitet und höchst interessante
stehen. branchenspezifische Vereinbarungen getroffen: Ver-
rechnung von Krankheitstagen mit Arbeitszeitkonten, ta-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rifvertragliche Paketlösungen unter Einbeziehung von
der F.D.P.) Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld. Interessante, zielge-
Das ist die Dynamik, die die Volkswirtschaft braucht. naue Regelungen wurden gefunden. Die Tarifpartner
Diese Dynamik zu unterstützen wäre moderne Wirt- haben sich ihren eigenen Weg gesucht und gezeigt: Die
schaftspolitik. Tarifautonomie funktioniert.
(Beifall der Abg. Birgit Schnieber-Jastram Jetzt greift Rotgrün ein – ungerecht und willkürlich
[CDU/CSU]) nach der bekannten Chaosstrategie. Diejenigen Arbeit-
nehmer, die sich 100 Prozent Lohnfortzahlung durch
Statt dessen will diese rotgrüne Koalition Existenz- Verzicht in anderen Bereichen sozusagen verdient ha-
gründer im großen Umfang in die Sozialversicherungs- ben, werden jetzt durch Ihre gesetzliche Regelung be-
pflicht pressen. Sie müssen künftig unter großem büro- nachteiligt. Es geht Ihnen nämlich einzig und allein um
kratischen Aufwand beweisen, daß sie wirklich selb- Ihre ideologische Rechthaberei, zum Schaden der Tarif-
ständig sind. Gelingt der Beweis nicht, dann werden ih- autonomie und zu Lasten der Eigenverantwortung.
nen die gesamten Sozialversicherungsbeiträge aufgebür-
det, und sie haben kaum eine Chance, im Wettbewerb Der zweite Angriff auf die Tarifautonomie spielt sich
erfolgreich zu sein. Das Bleigewicht für den Start in die im Entsendegesetz ab. Die Ausweitung der Allgemein-
neue Existenz hängt ihnen an den Füßen. Liebe Frau verbindlichkeitserklärung mittels Ermächtigungsgesetz
Kollegin Buntenbach, wenn die Beweislast umgekehrt entmachtet die Tarifpartner und setzt an deren Stelle
wird, dann werden die Verfahren tatsächlich kürzer. staatlichen Dirigismus. Der Sachverständigenrat kriti-
Kurz, gnadenlos, arbeitslos – so wird die Reihenfolge siert die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitser-
sein. klärung mit folgenden Worten:
(B) ... in den arbeitsintensiven Sektoren (wird) die (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Lohndifferenzierung erschwert ... mit der Folge,
Strukturwandel braucht Vertragsfreiheit. Das sagt daß gerade in diesen Wirtschaftsbereichen keine
der Bundesverband der Freien Berufe. Denn, meine neue Beschäftigung entstehen wird; bestehende Ar-
Damen und Herren, in der Freiheit entwickelt sich Neu- beitsplätze können ihre Wettbewerbsfähigkeit ver-
es und nicht im staatlichen Dirigismus. Doch diese Re- lieren.
gierung und diese Koalition tut genau das Gegenteil.
Hinter den großen Sprüchen des Herrn Bundeskanzlers Das ist das Urteil von Experten über das, was Sie vorha-
von der modernen Wirtschaftspolitik verbirgt sich in ben. Es ist genau das Gegenteil von dem, was Sie ver-
Wahrheit der blanke Dirigismus, Wirtschafts- und Sozi- sprochen haben, nämlich für mehr Arbeitsplätze in die-
alpolitik von vorgestern. Die Wahrheit ist: Diese Bun- sem Lande zu sorgen.
desregierung kratzt das Geld für die Sozialversiche- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
rungssysteme überall zusammen. Denn sie hat Verspre-
chungen gemacht zu Lasten der Sozialversicherungen, Meine Damen und Herren, das Problem ist, daß diese
für die die Beitragszahler jetzt herhalten sollen. Wenn Regierung und die gesamte Koalition blind für die
die Beitragszahler nicht ausreichen, dann sucht man sich eigentlich wichtigste Tatsache im Zusammenhang mit
neue. Das ist Ihr Prinzip. Die Zwangskollektivierung der der Arbeitslosigkeit sind: daß wir eine strukturelle Ar-
Selbständigen dient nicht dazu, Arbeitsplätze zu schaf- beitslosigkeit haben. Einer strukturellen Arbeitslosigkeit
fen oder zu erhalten, sondern sie dient dazu, Ihre Stroh- kann man nur mit hoher Flexibilität begegnen. Zur
feuerprogramme und Ihre falschen Versprechungen im Flexibilität gehört auch, Einstellungshindernisse zu be-
Sozialbereich zu finanzieren. seitigen.
(Konrad Gilges [SPD]: Das haben Sie doch
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
16 Jahre gemacht!)
Meine Damen und Herren, inakzeptabel ist der Ein- – Natürlich, das haben wir gemacht.
griff dieser Regierung in die Tarifautonomie. Ich wun-
dere mich schon etwas über den Kollegen Wiesehügel. (Konrad Gilges [SPD]: Hat doch nicht funk-
Bisher ist man davon ausgegangen, daß die Tarifauto- tioniert!)
nomie funktioniert. Jetzt sagen Sie, Herr Wiesehügel, – Das hat gewirkt, und das wollen Sie jetzt zurückneh-
Sie brauchen die Bundesregierung dringend als Helfer. men. Das ist doch das Problem.
Sie setzen damit ein falsches Signal. Ich warne Sie nur,
davor, ein Faß aufzumachen, das Sie am Schluß nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)

(A) Eines dieser Einstellungshindernisse ist nämlich – vor Man muß schon sagen: Dieses Land ist sehr genügsam, (C)
allem bei kleinen Betrieben – das Thema Kündigungs- man könnte fast sagen: bescheiden geworden, seitdem
schutz gewesen. Rotgrün hier in Bonn regiert.
(Konrad Gilges [SPD]: Hat doch nicht funk- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
tioniert!) Zurufe von der SPD)
Jetzt wollen Sie den Kündigungsschutz wieder verschär- Nur – bevor Sie sich völlig aufregen –,
fen. Dazu lese ich in der Begründung des Gesetzes:
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
In seiner Hochrechnung kommt der ZDH auf insge- NEN]: So interessant sind Sie auch nicht!)
samt 20 000 Neueinstellungen.
eines prophezeie ich Ihnen heute schon: Je mehr Refor-
Ich stelle fest: Alle stimmen darin überein, daß es Neu- men – das sage ich auch in Richtung der Grünen; die
einstellungen auf Grund der Änderung des Kündigungs- haben es nämlich ebenfalls nötig – Sie zurücknehmen
schutzgesetzes gibt, die Sie jetzt zurücknehmen wollen. und je länger Sie sich gegen notwendige Reformen sper-
Dann schreiben Sie etwas ganz Merkwürdiges: ren, um so dramatischer werden später die Einschnitte
Dabei räumt der ZDH werden.

– also der Zentralverband des Deutschen Handwerks – (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Walter Hirche [F.D.P.]: Leider! Leider!)
ein, daß für das Einstellungsverhalten der Betriebe
letztlich die konjunkturelle Situation ausschlagge- Sie erweisen diesem Land mit Ihrer falschen Politik
bend ist. einen schlechten Dienst. Diese Regierung hat es ge-
schafft, innerhalb von zwei Monaten in allen Bereichen
(Konrad Gilges [SPD]: Ja!) ein absolutes Chaos anzurichten. Ich appelliere an Sie:
Was denn sonst? Gerade darum geht es doch! Hören Sie Fangen Sie endlich an, Politik im Interesse der Zukunft
endlich auf, daran zu glauben, Sie könnten mit Gesetzen unseres Landes zu machen, statt ideologische Zukunfts-
Arbeitsplätze schaffen! verweigerung zu betreiben!

(Konrad Gilges [SPD]: Das haben Sie doch Ich danke Ihnen.
geglaubt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sie können mit falschen Gesetzen Arbeitsplätze ver-
nichten. Das ist doch der entscheidende Punkt. Vizepräsident Rudolf Seiters: Auch dem Kollegen
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Friedrich gratulieren wir zu seiner ersten Rede. (D)
Konrad Gilges [SPD]: Sie haben das doch (Beifall)
geglaubt!)
Nun gebe ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von
Lieber Herr Kollege, das Problem in diesem Land ist der F.D.P. das Wort.
doch, daß die Konjunktur läuft, daß Wachstum da ist,
daß sich dieses aber nur allzu zögerlich in Arbeitsplätze (Konrad Gilges [SPD]: Das ist einer von der
umsetzt. Die alte Regierung hat erfolgreich versucht, abgewählten Regierung!)
Einstellungshindernisse abzubauen. Der Erfolg ist, daß
heute die Arbeitslosigkeit deutlich unter 4 Millionen ge-
Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe
sunken ist. Rotgrün fängt jetzt an, diese Einstellungshin-
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich auf einen
dernisse wieder aufzubauen.
wichtigen Punkt der Debatte konzentrieren, bei dem es
(Zuruf des Abg. Konrad Gilges [SPD]) auf Grund der Vorlage der Koalition mit Sicherheit viele
Verlierer geben wird und zudem wir, die F.D.P.-Frak-
– Lieber Herr Gilges, hören Sie einmal zu! – Das Ergeb-
tion, deswegen konsequenterweise einen Gegenentwurf
nis wird sein – das sage ich Ihnen heute schon voraus –,
vorgelegt haben. Das Zurückdrehen der Reform des
daß künftig noch mehr Überstunden gefahren werden,
Kündigungsschutzes, Herr Minister Riester, ist ein
anstatt daß Neueinstellungen vorgenommen werden.
Schnellschuß, der nicht nur keine Arbeitsplätze schaf-
Dann kommt der Herr Bundesfinanzminister Lafontaine
fen, sondern zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze
und setzt noch einen dirigistischen Höhepunkt drauf: Er
führen wird – Arbeitsplätze, die nach der Reform des
fordert eine gesetzliche Begrenzung der Überstunden.
Kündigungsschutzes und wegen dieser Reform in den
(Zuruf des Abg. Gerd Andres [SPD]) letzten zwei Jahren erst entstanden sind.
– Herr Staatssekretär, ich weiß natürlich, daß der Bun- (Beifall bei der F.D.P.)
deskanzler sich glücklicherweise bereits dagegen ausge-
sprochen hat. Aber das ist die zweite Merkwürdigkeit: Ich habe in den Ausschußberatungen der letzten Wo-
daß wir inzwischen schon so weit sind, daß der Bundes- chen – unwidersprochen; ich betone das – immer wieder
kanzler dafür gelobt wird, wenn er sich von dem stän- auf die positiven Wirkungen insbesondere der Anhe-
digen Unsinn seines Parteivorsitzenden und Finanz- bung des Schwellenwertes hingewiesen: mindestens
ministers distanziert. 20 000 Arbeitsplätze im Bereich des Handwerks und
– nicht zu vergessen – weitere 30 000 Arbeitsplätze im
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bereich der Industrie- und Handelskammern in Unter-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 887
Dr. Heinrich L. Kolb

(A) nehmen mit fünf bis zehn Beschäftigten. Das sind keine Sie tun auch so, als ginge es hier nur darum, wieder (C)
beschäftigungspolitischen Peanuts, sondern ganz kon- Gerechtigkeit herzustellen und soziale Ungerechtigkeit
krete Beschäftigungschancen für viele früher Arbeits- zu beseitigen.
lose, jetzt Arbeitnehmer, denen durch die Schaffung
(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von Freiraum für Unternehmer, für diejenigen, die über
NEN]: Darum geht es auch, jetzt hat er es auch
mehr zusätzliche Beschäftigung entscheiden, die Chance
begriffen! – Konrad Gilges [SPD]: Richtig
eröffnet wurde, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzu-
verstanden!)
kehren.
Aber, Herr Kollege Gilges, ist unsere politische Verant-
(Beifall bei der F.D.P.) wortung nicht etwas anderes, Weitergehendes? Herr
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ha- Professor Rüthers von der Universität Konstanz hat dazu
ben sich nicht einmal die Mühe gemacht, diese Erfolge vor kurzem in der „NJW“ geschrieben:
überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Es spricht leider viel Wann werden die arbeitsrechtlichen Normsetzer die
dafür, daß diese Arbeitsplätze jetzt schneller wieder ver- Erkenntnis umsetzen, daß in einer ... Marktwirt-
schwinden werden als sie entstanden sind. schaft jede soziale Schutznorm eine Doppelwir-
kung entfaltet: Sie schützt die Inhaber von sozialen
Der Kollege Gilges und auch der Herr Minister haben
Besitzständen, aber sie schmälert die Chancen de-
heute gesagt: Es waren 500 000 Arbeitsplätze verspro-
rer, die keine geschützte Position haben und „drau-
chen worden; die sind nicht gekommen; deswegen muß
ßen vor der Tür“ bleiben.
das Ganze wieder weg. Das finde ich schon etwas son-
derbar. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Herr Minister Riester, als Herr Späth im Sommer Herr Gilges, genau das ist der Punkt. Opfer Ihrer
1996 500 000 Arbeitsplätze versprochen hat, ist er da- Politik beim Kündigungsschutzgesetz sind diejenigen,
von ausgegangen, daß eine Steuerreform kommt, die die schon jetzt draußen sind und die, weil Sie alles noch
eine konjunkturstimulierende Wirkung haben wird. dichter regulieren wollen, auch in Zukunft draußen blei-
ben werden.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]:
Die haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Wir wollen, daß keiner vor der Tür steht!)
verhindert. Ich finde es schon perfide, wenn Sie das jetzt
als Begründung dafür heranziehen wollen, um diese Ich habe in den Beratungen immer wieder auch dar-
(B) Neuregelung wieder zurückzudrehen. auf hingewiesen, daß in anonymen Großunternehmen (D)
der Kündigungsschutz sehr wohl Sinn macht. Aber in
(Beifall bei der F.D.P. – Brigitte Adler [SPD]: einem kleinen Unternehmen, das sich durch eine beson-
Soziale Steuerreform!) dere Nähe von Arbeitnehmer und Arbeitgeber und durch
die tagtäglichen Kontakte miteinander auszeichnet, se-
Sie haben auch gebetsmühlenartig wiederholt, Sie hen die Dinge anders aus. Ich meine, daß insbesondere
müßten tun, was Sie im Wahlkampf versprochen hätten. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sich in die-
Aber hat nicht Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder im ser Frage schon entscheiden müssen. Man kann nicht
Wahlkampf und in seiner Regierungserklärung verkün- gleichzeitig um die Neue Mitte buhlen und die alten
det, alle Maßnahmen müßten sich daran messen lassen, Feindbilder des Klassenkampfes pflegen.
welche Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt damit erzielt
würden? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU)
(Zuruf von der SPD: Machen wir auch!)
Man kann nicht gleichzeitig Mittelständler als
Ich frage Sie heute: Ist unter Ihnen auch nur einer, der Wähler umwerben und mittelständische Unternehmer als
glaubt, durch die Rolle rückwärts beim Kündigungs- teuflische Ausgeburten des Kapitalismus bekämpfen.
schutz würde auch nur ein zusätzlicher Arbeitsplatz ge- (Lachen bei der SPD – Aribert Wolf
schaffen? Nein, Herr Kollege Gilges, so dumm sind Sie [CDU/CSU]: Die SPD macht es!)
nicht. Aber Sie sind zu feige, sich das einzugestehen. Sie
sind zu feige, den Wählern diesbezüglich die Wahrheit Ich wäre froh, wenn dem Mittelstand Ihre Reaktion
zu sagen. einmal so deutlich vorgetragen würde.

(Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie haben, Frau Kollegin Kumpf, Ihren Wahlkampf Sie sagen: „Neue Mitte“, aber Sie meinen: alte Linke.
mit Gefälligkeitspolitik geführt. Sie sind jetzt im eige- (Zuruf von der SPD: Haben Sie noch ein paar
nen Netz gefangen. Sie verteilen Streicheleinheiten an Begriffe?)
Arbeitnehmer und schlagen dem Mittelstand ins Gesicht.
Sie belasten den Handwerker und den kleinen Einzel- Eines muß man sagen: Der typische Mittelständler
händler mit unkalkulierbaren Risiken. handelt in Personalfragen sehr verantwortungsvoll. Kein
Handwerker entläßt mutwillig einen Mitarbeiter. Er tut
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das schon deswegen nicht, weil er genau weiß, daß er im
888 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Heinrich L. Kolb

(A) Bedarfsfall am Markt, wenn überhaupt, kaum wieder Natürlich wissen wir, daß gerade im Westen der Re- (C)
Fachkräfte findet. Herr Minister Riester, Sie haben ge- publik viele Frauen ohnehin erst mit 65 in die Rente ge-
sagt, es müsse zumindest erreicht werden, daß Arbeit- hen können, weil ihnen bekanntlich die nötigen Versi-
nehmer vor willkürlicher Kündigung geschützt werden. cherungsjahre fehlen. Daß der Bundesarbeitsminister
Ich glaube, dies ist in kleinen Unternehmen besser als in nun laut über ein generelles Renteneintrittsalter von 60
anderen Unternehmen gegeben. Jahren nachdenkt und zugleich zuläßt, daß das Renten-
eintrittsalter für Frauen erhöht wird, ist tatsächlich ein
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Wolf- ziemlicher Schlag gegen Frauen: Die Neuregelung hat
gang Zöller [CDU/CSU]) längst Auswirkungen. Mir sind zahlreiche Fälle bekannt,
Wir von der F.D.P. erkennen jedenfalls die Leistung in denen Arbeitsämter Frauen, die Arbeitslosenhilfe be-
des Mittelstandes als der Jobmaschine unserer Volks- ziehen und Ende 50 sind, dazu nötigen, einen Rentenan-
wirtschaft an. Wir wollen Freiräume für kleine und trag zum 60. Geburtstag zu stellen. Das Arbeitsamt ver-
mittlere Unternehmen, damit diese ihr Beschäftigungs- zichtet auf Vermittlungsversuche und zahlt aber bis zum
potential noch besser ausschöpfen können. Die Reform Renteneintritt keine Beiträge mehr. Das ist der Preis.
des Kündigungsschutzes war und bleibt richtig. Die Frauen verlieren diese Beitragsjahre und nehmen
selbst dann den Rentenabschlag hin, wenn sie unter den
(Konrad Gilges [SPD]: Nein! Es war falsch Vertrauensschutz fallen und mit 61 sowieso in Rente
und ist falsch!) gehen könnten. Am Ende spart das Arbeitsamt, und die
Frauen beziehen eine schmalere Rente.
Wir wollen die positive Wirkung noch verstärken und
den Schwellenwert im Kündigungsschutzgesetz auf 20 Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bei der An-
anheben. Das wird im übrigen unisono von allen Mittel- rechnung von Ausbildungszeiten haben wir von der
standsverbänden unterstützt. rotgrünen Koalition eine Änderung erwartet. Es waren
doch gerade die Frauen, die dazu ermuntert wurden, sich
Wer unserem Gesetzentwurf heute nicht zustimmt, weiterzubilden und auf dem zweiten Bildungsweg zu
der sollte in Zukunft besser schweigen, wenn in diesem qualifizieren. Sie sind von den gekürzten Anrechnungs-
Hohen Hause über eine gute Politik und über Rahmen- zeiten bei der Rente besonders hart getroffen. Deshalb
bedingungen für den Mittelstand diskutiert wird. bleiben wir von der PDS dabei: Ausbildung darf nicht
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. durch Einbußen bei der Rente bestraft werden.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der PDS)
ten der CDU/CSU) Auch deshalb beantragen wir heute, die alte Regelung
wieder einzuführen.
(B) (D)
Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat die Das Rentensystem weist von jeher große Lücken bei
Kollegin Petra Bläss von der PDS-Fraktion. der sozialen Absicherung von Frauen auf. Ich kann hier
nur Stichworte für den notwendigen Reformbedarf lie-
fern: soziale Grundsicherung gegen Altersarmut, Sozial-
Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin- versicherungspflicht für jede geleistete Arbeitsstunde,
nen und Kollegen! Die PDS begrüßt, daß die Regelung bessere Anerkennung von Kindererziehungszeiten sowie
zur Kürzung des Rentenniveaus zurückgenommen wer- rentenrechtliche Gleichsetzung von häuslicher Pflegetä-
den soll. Wir hoffen, daß die Verschlechterungen bei tigkeit mit herkömmlicher Erwerbsarbeit.
den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten nicht nur Die Lebensleistung von Frauen muß sich in der Rente
ausgesetzt werden, sondern im Zuge der angekündigten niederschlagen. Als ersten Schritt könnten wir heute im
Rentenstrukturreform tatsächlich zurückgenommen Parlament ein Zeichen setzen und die Erhöhung des
werden. Hierbei finden Sie unsere Unterstützung, genau Renteneintrittsalters für Frauen wieder zurücknehmen.
wie bei der Diskussion über ein generelles Rentenein- Die PDS hat hierzu einen Antrag vorgelegt. Stimmen
trittsalter von 60 Jahren. Wir haben uns bekanntlich im- Sie diesem deshalb im Interesse der betroffenen Frauen
mer für einen breiten Korridor der möglichen Ausstiege zu.
aus der Erwerbsarbeit in die Rente ausgesprochen, weil
wir davon überzeugt sind, daß darin große Chancen zum (Beifall bei der PDS)
Abbau der Arbeitslosigkeit liegen.
Wir haben uns aber auch immer für eine bessere Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der
Alterssicherung von Frauen eingesetzt. Ich frage Sie, Abgeordnete Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
warum Sie das Renteneintrittsalter von Frauen nicht
Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi-
wieder heruntersetzen wollen. Die Erhöhung des
Renteneintrittsalters für Frauen ist eine der unsozial- dent! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen!
sten Regelungen der Kohl-Regierung gewesen. Der frü- Liebe Kollegen! Annähernd 1 Million Menschen in
here Renteneintritt für Frauen war zumindest ein ge- Deutschland verrichten ihre Erwerbsarbeit in der Grau-
wisser Ausgleich für die Doppelbelastung in Beruf und zone zwischen Selbständigkeit und Arbeitnehmerstatus
Familie. – annähernd 1 Million Erwerbstätige, die in persönlicher
Abhängigkeit im wesentlichen nur für einen Arbeitgeber
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) tätig sind, für die aber keine Sozialversicherungsbeiträge
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 889
Klaus Brandner

(A) abgeführt werden. Die Arbeitnehmerrechte dieser Men- dig machen können und daß sie aus der sozialen Sicher- (C)
schen sind ausgehebelt worden. Sie müssen als soge- heit heraus Selbständigkeit entwickeln können. Wir sind
nannte Scheinselbständige zwar alle Risiken eines Un- dafür angetreten, dieses zu unterstützen.
ternehmers tragen, aber einen unternehmerischen Spiel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
raum zur freien Gestaltung ihrer Geschäftstätigkeit ha- DIE GRÜNEN)
ben sie nicht, da sie völlig von ihrem Auftraggeber ab-
hängig sind. Darin liegt eine Herausforderung für uns als Ich weiß nur zu gut, daß sich die Menschen fragen:
neue Parlamentsmehrheit. Was passiert, wenn es mit der Selbständigkeit schief-
geht? Wie bin ich abgesichert? Ich sage ganz deutlich:
Ich habe als Parlamentsneuling heute positiv zur Eine Situation nach dem Motto „Raus aus der Kasse,
Kenntnis nehmen dürfen, daß Frau Schnieber-Jastram in rein in die Armut“ darf nicht eintreten. Deshalb wollen
der Analyse der Scheinselbständigkeit völlig mit den wir die Scheinselbständigkeit konsequent bekämpfen.
Sozialdemokraten übereinstimmt und auch die Probleme
der Umwandlung von normalen Arbeitsverhältnissen in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
scheinselbständige Arbeitsverhältnisse sowie des Lohn- DIE GRÜNEN)
und Sozialdumpings sieht. Sie kommt aber nach der Schutzbedürftige müssen vom Gesetzgeber geschützt
Problemanalyse nicht weiter, weil sie erkennt, daß ein werden. Das verlangt schon unser Sozialstaatsgebot. Die
Abstellen dieses Problems zu kompliziert wird. Was Schutzbedürftigkeit der Scheinselbständigen mache ich
aber kompliziert zu handhaben ist, das wird ganz einfach vor allem an der wirtschaftlichen Situation fest. Dem
auf die Seite gelegt, liegengelassen und ausgesessen, wie Argument, daß durch ihre angeblich selbständige Tätig-
wir es 16 Jahre lang erfahren durften. Damit ist das Pro- keit die Schutzbedürftigkeit entfalle, möchte ich ganz
blem nicht gelöst. energisch widersprechen. Die in zahlreichen Gerichts-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verfahren zur Scheinselbständigkeit dargestellten Er-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werbstätigkeiten führen gerade nicht zu einem Wegfall
der Schutzbedürftigkeit. Sie sind aus meiner Sicht viel-
Wir als neue Parlamentsmehrheit wollen den sozialen mehr überzeugende Argumente für meine Haltung, daß
Schutz des einzelnen wiederherstellen und die Auszeh- wir diesen Themenkomplex regeln müssen.
rung der Sozialkassen verhindern. Wir wollen die Sozi-
alversicherung wieder fit für die Zukunft machen; wir Damit die immer mehr um sich greifende sogenannte
wollen sie modernisieren, indem wir sie den Verände- Scheinselbständigkeit wirksam bekämpft werden kann,
rungen anpassen und den notwendigen sozialen Schutz bedarf es daher einer eindeutigen gesetzlichen Regelung.
organisieren, und so den Standort Deutschland noch at- Dazu ist eine klare Definition des Arbeitnehmerstatus
traktiver machen. Hier hat die abgewählte Regierungs- und der Voraussetzungen für die Versicherungspflicht
(B) koalition viel versäumt; hier ist viel liegengeblieben, das notwendig. (D)
es aufzuräumen und zu gestalten gilt. Wir wollen echte Zu diesem Zweck haben wir in unserer Gesetzesvor-
Selbständigkeit mit Nachdruck fördern und Scheinselb- lage vier Kriterien entwickelt. Wir unterstellen darin ei-
ständigkeit konsequent bekämpfen. ne abhängige Beschäftigung, wenn mindestens zwei der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kriterien zutreffen. Eine versicherungspflichtige Be-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schäftigung wird bei erwerbsmäßig tätigen Personen
vermutet, die erstens im Zusammenhang mit ihrer Tä-
Dies ist nicht nur wegen der Erosion der Beiträge zu den tigkeit – mit Ausnahme von Familienangehörigen – kei-
Sozialkassen dringend notwendig, sondern auch, weil nen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäfti-
immer mehr Beschäftigte aus normalen Arbeitsverhält- gen, die zweitens regelmäßig im wesentlichen nur für
nissen in sogenannte Scheinselbständigkeit abgedrängt einen Auftraggeber tätig sind, die drittens für Beschäf-
werden. tigte typische Arbeitsleistungen erbringen, insbesondere
Die Berufsschicksale, die sich hinter diesem Begriff Weisungen des Auftraggebers unterliegen und in seine
der Scheinselbständigkeit verbergen, sind so zahlreich Arbeitsorganisation eingegliedert sind oder die viertens
wie die verschiedensten Facetten des Berufslebens. Ich nicht auf Grund unternehmerischer Tätigkeit am Markt
habe das Beispiel einer jungen Mutter im Kopf, die nach auftreten. Wie gesagt: Wir vermuten, daß Personen ge-
ihrem Erziehungsurlaub vergeblich versucht, bei ihrer gen Arbeitsentgelt abhängig beschäftigt sind, wenn min-
alten Firma einen Teilzeitjob zu bekommen. Nun darf destens zwei der genannten Merkmale vorliegen. Diese
sie als sogenannte Freischaffende die Bänder ihrer ehe- Vermutung ist widerlegbar. Die Beweislast wird jedoch
maligen Vorgesetzten abtippen. Dabei lebt sie ständig künftig bei den Arbeitgebern liegen.
unter der Drohung: Wenn die Fristen nicht eingehalten In diesem Zusammenhang fiel mir auf, daß der neue
werden, gibt es keine Aufträge mehr. Ich habe eben ge- Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, der vor mir ge-
hört, daß der Vertreter der F.D.P. auf ein solches Bei- sprochen hat, die Regelungsdichte in unserem Land be-
spiel antworten würde, daß das eine gute Chance für den klagt hat. Wir haben zuvor von Frau Schnieber-Jastram
Einstieg in die Selbständigkeit sei und allein durch unse- gehört, daß das Problem gelöst werden muß. Jetzt lösen
re Gesetzesvorschläge verhindert werde. wir es, und schon wird die Regelungsdichte beklagt. Ich
Ich beurteile diesen Punkt völlig anders, weil ich sage noch einmal: Mit Aussitzen ist dieses Problem
weiß, daß die Sozialversicherung keine Barriere für die nicht zu lösen.
Selbständigkeit ist. Sie setzt vielmehr den sicheren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Rahmen dafür, daß sich Menschen überhaupt selbstän- 90/DIE GRÜNEN)
890 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Klaus Brandner

(A) Wir wollen die Scheinselbständigkeit als unsolida- rufslebens mit körperlichen und geistigen Behinderun- (C)
risch brandmarken. Wir wollen, daß die Sozialkassen gen fertig werden. Dann kamen Sie mit Ihrer Sozialab-
nicht mehr um Hunderte von Millionen DM an Einnah- bau-Ideologie und kürzten gerade bei den Schwächsten.
men geprellt werden; denn nur Beschäftigte, die Beiträ- Diese für mich zutiefst unsoziale Politik machen wir nun
ge zahlen, sichern Leistungen aus der Sozialversiche- konsequent rückgängig.
rung. Die Einbeziehung der scheinselbständig Beschäf-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea
tigten trägt somit zur Stabilisierung aller Sozialversiche-
Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –
rungssysteme bei. Diese gesellschaftliche Notwendigkeit
Widerspruch bei der CDU/CSU)
wird nach Jahren Ihrer Untätigkeit von uns angegangen.
– Sie können sich darüber noch soviel aufregen, meine
Sie können in diesen Wochen erkennen, wie schnell
Damen und Herren: Wir halten in der Regierung die
wir diese Vorhaben angehen und umsetzen. Unser Ziel
Versprechen, die wir von der SPD im Wahlkampf abge-
bleibt ein bezahlbares Rentensystem, das den Menschen
geben haben.
im Alter einen angemessenen Lebensstandard sichert.
Die Kürzung des Rentenniveaus hätte viele Rentnerin- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Es hat sich
nen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern gemacht. niemand aufgeregt!)
Deshalb haben wir den Bürgerinnen und Bürgern in un-
serem Land vor der Bundestagswahl versprochen, daß – Sie haben den Mund gehalten? Das kommt ja selten
die beschlossenen Rentenkürzungen nicht wirksam wer- vor. Aber ich habe Sie heute oft genug – ich sage das
den. Was wir versprochen haben, das wird jetzt gehal- einmal ganz offen – Fensterreden halten hören.
ten. Uns ist es schon sehr ernst damit, die sozialen Ver-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hältnisse in diesem Land wieder positiv zu gestalten.
90/DIE GRÜNEN) Dafür sind wir angetreten, und das werden wir auch um-
setzen.
Die Bürgerinnen und Bürger, die im Vertrauen auf
einen sozialen Schutz durch eine solidarische Renten- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
versicherung gesetzt haben, dürfen keinesfalls bestraft 90/DIE GRÜNEN)
werden. Deshalb werden wir auch den Kahlschlag bei
der Absicherung des Invaliditätsrisikos korrigieren. Es Vizepräsident Rudolf Seiters: Auch dem Kollegen
muß dabei bleiben, daß die Solidargemeinschaft insbe- Brandner gratuliere ich zu seiner ersten Rede.
sondere für die Menschen eintritt, die auf Grund ihrer
gesundheitlichen Beeinträchtigung auf besonderen (Beifall)
Schutz angewiesen sind. Im übrigen war das sogar der Ich gebe jetzt dem Kollegen Andreas Storm von der
(B) Ursprung der deutschen Rentenversicherung, die im (D)
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
letzten Jahrhundert als Invalidenversicherung gegründet
wurde. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Endlich
einmal ein guter Mann!)
CDU und CSU haben 1997 ihren sozialpolitischen
Kahlschlag in ihrem Internet-Infodienst wie folgt ge-
feiert: Andreas Storm (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat bei
Die Erwerbsminderung wird künftig nur noch vom
der Einbringung des Gesetzentwurfes vor drei Wochen
Gesundheitszustand des Versicherten abhängen. Es
an dieser Stelle erklärt, es gelte, ein Signal für neue
kann nicht weiterhin Aufgabe der Rente sein, Pro-
Verläßlichkeit in der Sozialpolitik zu senden.
bleme des Arbeitsmarktes zu regulieren.
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Hört, hört!)
Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz deutlich: Es kann
aber überhaupt nicht sein, daß Menschen, die schubwei- Es ist wahr, Signale haben Sie in den letzten Wochen in
se weiter verlaufenden Erblindungsprozessen ausgesetzt großer Zahl gesendet.
sind, erst Arbeitslosengeld, dann Arbeitslosenhilfe und
zuletzt Sozialhilfe beziehen müssen – und dies nur, weil (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Aber ver-
sie nach Ihrer Gesetzesneuregelung theoretisch noch wirrende!)
drei bis sechs Stunden hätten arbeiten können, obgleich Kündigte etwa der Bundeskanzler in seiner Regie-
es einen solchen Arbeitsplatz in der Praxis überhaupt rungserklärung Anfang November noch an, die Senkung
nicht gibt. der Rentenbeiträge um 0,8 Prozentpunkte werde pünkt-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea lich zum 1. Januar 1999 in Kraft treten, heißt es zwei
Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wochen später: Zurück! Marsch, marsch! Verschiebung
auf den 1. April.
Die Vertreter der Behinderten in den Betrieben und
Verwaltungen erwarten deshalb von uns zu Recht, daß (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Ein Durch-
die erwähnten Regelungen auch im Schwerbehinderten- einander!)
recht verändert werden; denn die körperliche und seeli- In den „sozialpolitischen Informationen“ des Bundes-
sche Belastung der Beschäftigten nimmt in allen Wirt- arbeitsministeriums vom 3. Dezember wird der Öffent-
schaftszweigen zu und verlangt nach einer Regelung. lichkeit mitgeteilt, daß der Bund ab dem 1. April 1999
Völlig unverschuldet müssen viele im Verlauf ihres Be- echte Beiträge für Kindererziehungszeiten zahlen wird.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 891
Andreas Storm

(A) Diese Meldung war aber schon zum Zeitpunkt der Ver- Der BfA-Vorstandsvorsitzende Hans-Dieter Richardt (C)
öffentlichung überholt; denn bereits einen Tag zuvor, hat gestern auf der Vertreterversammlung in München
am 2. Dezember, hat die rotgrüne Mehrheit im Sozial- der Regierung vorgeworfen, daß sie die Bürger perma-
ausschuß des Bundestages eine Verschiebung der Ein- nent durch hektische Entscheidungen verunsichere. Mit
führung der Kindererziehungsbeiträge auf den 1. Juni der Verschiebung auf den 1. April 1999 sei etwas Zeit für
1999 beschlossen. eine fundierte Suche nach geeigneteren Lösungen gewon-
nen worden. – So die Einschätzung des BfA-Chefs.
(Zuruf von der SPD: Wir machen es! Das ist
doch das Entscheidende!) Mittlerweile – auch die Rede von Frau Buntenbach
legt das nahe – werden nämlich bereits Wetten dahin
Nicht vergessen dürfen wir das Durcheinander bei gehend abgeschlossen, daß auch das jüngste Modell zur
den 620-DM-Jobs, Neuregelung der 620-Mark-Jobs den Jahreswechsel
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Furchtbar!) nicht überleben wird.

das Kollegin Schnieber-Jastram vorhin hier angeführt (Beifall bei der CDU/CSU)
hat. Da kann man in Anlehnung an die Worte des früheren
(Widerspruch bei der SPD) Oppositionsführers Joschka Fischer nur noch sagen:
Avanti, dilettanti; in flagranti.
– Meine Damen und Herren, ich kann mir vorstellen,
daß Sie das nicht gerne hören. Das hätte nämlich eigent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
lich in dieses Gesetz mit hineingehört. Meine Damen und Herren, diese heutige Debatte ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine gute Gelegenheit, eine erste Zwischenbilanz über
die grundsätzliche rentenpolitische Ausrichtung der neu-
Entweder sind die 1,6 Milliarden DM, die die Neurege- en Bundesregierung zu ziehen. In Ihrer Koalitionsver-
lung bringen soll, eingestellt; dann könnten Sie die Bei- einbarung haben Sie unter dem Stichwort „Erweiterung
träge nicht um 0,8, sondern um 0,9 Beitragssatzpunkte des Versichertenkreises“ angekündigt: Grundsätzlich
senken. muß jede dauerhafte Erwerbsarbeit sozialversichert sein.
(Konrad Gilges [SPD]: Ihr hättet doch einen Dies bedeutet im Klartext: Sie wollen mittelfristig
Gesetzentwurf einbringen können, Herr Kol- nicht nur die Beamten in die Rentenversicherungspflicht
lege!) einbeziehen, sondern auch die Selbständigen und hier
besonders die Angehörigen der freien Berufe. Das müs-
Oder sie sind nicht eingestellt; dann haben Sie einen sen die Freiberufler schon wissen. Denn das heißt, die
(B) Fehlbetrag bei den Rentenfinanzen. gut funktionierenden Versorgungswerke der freien Beru- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fe sind in ihrer Existenz massiv bedroht, wenn diese
Forderungen aus dem rotgrünen Koalitionsprogramm im
Der Bundeskanzler hatte noch in seiner Regierungs- kommenden Jahr in die Tat umgesetzt werden. Für uns
erklärung angekündigt, eine Einkommensgrenze bei 300 ist eine solche Lösung schlicht inakzeptabel.
DM festlegen zu wollen. Wenige Tage später haben Sie
dann ein völlig anderes Modell aus dem Hut gezaubert, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mit dem lediglich bisherige Pauschalsteuer nach dem Im übrigen möchte ich Sie auf folgendes hinweisen:
Prinzip „linke Tasche – rechte Tasche“ in einen Sozial- Eine Erweiterung des Kreises der Versicherten um Selb-
versicherungsbeitrag umgewandelt wird. ständige und Beamte bringt zwar kurzfristig mehr Geld
(Zuruf von der SPD: Ist das jetzt die Rede von in die Rentenkassen. Langfristig bedeutet dies aber kei-
der Schnieber-Jastram noch einmal?) neswegs eine Entlastung, da neue Beitragszahler selbst-
verständlich auch neue Leistungsansprüche anmelden
Die Vorsitzende der bayerischen DGB-Frauen, Frau können. Da die Leistungsstruktur im Beamtenbereich in
Langguth, hält diese Neuregelung schlicht für unzurei- den kritischen Jahren zwischen 2015 und 2035 ungün-
chend und kontraproduktiv. Frau Langguth erklärte: Wir stiger sein wird als im Bereich der Arbeiter und Ange-
haben den Eindruck, für dumm verkauft zu werden. stellten, hätte die Einbeziehung der Beamten in die ge-
setzliche Rentenversicherung eine erhebliche Verschär-
(Beifall bei der CDU/CSU)
fung der langfristigen Finanzierungsprobleme zur Folge.
Dabei ist besonders dreist: Den zu zahlenden Renten- (Konrad Gilges [SPD]: Was hat das eigentlich
versicherungsbeiträgen für geringfügige Beschäfti- mit dem Gesetz zu tun, das hier zur Beratung
gungsverhältnisse stehen ohne Aufstockung keinerlei und Abstimmung steht?)
Leistungsansprüche gegenüber. Damit ist es der neuen
Regierung Schröder bereits in den ersten sechs Wochen Wie sieht denn nun Ihre Antwort auf die demogra-
ihrer Amtszeit gelungen, die sozialpolitische Debatte phische Herausforderung aus? Bislang Fehlanzeige.
von den versicherungsfremden Leistungen auf die neuen Mit der heutigen Entscheidung im Deutschen Bundestag
versicherungsfremden Beiträge à la Riester umzusteu- wollen Sie den demographischen Faktor in der Renten-
ern. formel aussetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Peter Dreßen [SPD]: Der Kollege spricht
SPD: Sie haben überhaupt nichts kapiert!) nicht zur Sache!)
892 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Andreas Storm

(A) – Herr Kollege, schauen Sie sich den Gesetzentwurf gegebenenfalls zusammen mit ihrer Ehefrau, mit einer (C)
noch einmal an. Heute wollen Sie beschließen, daß der eigenen GRV-Rente von weniger als 500 DM in den al-
demographische Faktor ausgesetzt wird. ten Bundesländern im Durchschnitt über ein monatliches
Nettogesamteinkommen von insgesamt 3 230 DM. Ein
Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Denn in einem zweites Beispiel: Alleinstehende Frauen mit einer Rente
Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, das am unter 500 DM haben ein durchschnittliches Nettoge-
Montag dieser Woche erschienen ist, hat der Bundesar- samteinkommen von rund 1 870 DM in den alten bzw.
beitsminister angekündigt – man höre und staune –, daß von rund 1 460 DM in den neuen Bundesländern. Diese
bereits im kommenden Jahr erneut ein Demographie- Beispiele belegen eindrucksvoll, daß der Rückschluß
faktor eingeführt werden soll, von einer niedrigen GRV-Rente auf ein niedriges Ge-
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: So ist es!) samteinkommen in der Mehrzahl der Fälle ein Fehl-
schluß ist.
und zwar mit der Begründung, daß schon im Jahr 2000
Belastungen aus der demographischen Entwicklung auf (Zuruf von der CDU/CSU: Eine gute Argu-
die Rentenversicherung zukämen. Das ist schon ein be- mentation!)
merkenswerter Sinneswandel, wenn Sie nun eingeste- Deswegen ist die Frage, die wir gemeinsam lösen müs-
hen, daß zwar nicht im Jahre 1999, aber immerhin 12 sen, nämlich die, wie Altersarmut langfristig bekämpft
Monate später ein Handlungsbedarf im Hinblick auf die werden kann, eindeutig zu trennen von der notwendigen
demographische Entwicklung in der Rentenversicherung Berücksichtigung eines demographischen Faktors in der
besteht. Rentenformel.
(Zuruf von der CDU/CSU: Alles nach Adam Ich komme nun zu Ihrer rentenpolitischen Lieb-
Riester!) lingsidee, Herr Minister: Das ist der mit dem irreführen-
Es geht weiter. Auf die Frage der Journalisten – hören den Begriff einer Generationenbrücke überhöhte Gedan-
Sie jetzt gut zu –: „Können Sie den Rentnern denn ver- ke der abschlagsfreien Rente ab 60. Was ist von die-
sprechen, daß sie nach Ihrer Strukturreform besser ste- sem Vorschlag zu halten?
hen, als wenn die Reform der alten Regierung in Kraft (Zuruf von der SPD: Das steht auch nicht zur
geblieben wäre?“ lautete die bezeichnende Antwort von Debatte heute!)
Walter Riester – ich zitiere wörtlich –:
– Herr Kollege, ich möchte, weil Sie mir vorwerfen, es
Wenn man unter „besser“ versteht, daß jeder in stehe nicht zur Debatte, nur folgendes sagen: Bei der
Mark und Pfennig mehr hat, habe ich Zweifel, ein Einbringung dieses Gesetzentwurfes hat der Minister
solches Versprechen einlösen zu können. selbst im Hinblick darauf, daß in den nächsten Jahren 3
(B) (D)
Herr Minister, auch wenn in 14 Tagen Weihnachten ist: Millionen Menschen zwischen 60 und 65 Jahren alt sein
Das ist noch lange kein Grund, die Menschen in dieser werden,
Art und Weise „um die Fichte zu führen“. Erst nehmen (Ute Kumpf [SPD]: Sie müssen erst einmal
Sie mit großer Geste die wichtigste Maßnahme des denken, bevor Sie reden!)
Rentenreformgesetzes 1999 zurück, weil dadurch die
Aufrechterhaltung eines angemessenen Lebensstandards gleichzeitig sich aber heute schon 1,7 Millionen Men-
im Alter angeblich gefährdet wäre. Dabei wissen Sie be- schen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren weniger in
reits jetzt, daß Sie eine vergleichbare Maßnahme im der Erwerbsarbeit finden, alle gesellschaftlichen Akteure
kommenden Jahr wieder einführen werden. Das ist im aufgefordert, sich an der Diskussion um eine solide, so-
Grunde ein unglaublicher Vorgang. zial gerechte und verläßliche Antwort auf diese Ent-
wicklung zu beteiligen. Welches Selbstverständnis ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – ben Sie eigentlich, wenn Sie diese Diskussion nicht in
Zuruf von der F.D.P.: Das ist ein starkes einer über dreistündigen Debatte zur Rentenpolitik im
Stück!) Deutschen Bundestag führen wollen, sondern mögli-
Nun haben Sie angekündigt, Herr Minister, – auch cherweise nur über die Zeitungen oder auf Gewerk-
vorhin in Ihrer Rede –, daß der von Ihnen bevorzugte schaftskongressen?
Demographiefaktor im Gegensatz zur bisherigen Lösung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
eine Ausnahmeregelung für kleine Renten vorsehen
soll. Dabei gehen Sie aber von der irreführenden An- Meine Damen und Herren, alle deutschen und inter-
nahme aus, es gebe einen signifikanten Zusammenhang nationalen Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, daß das
zwischen der Rentenhöhe in der gesetzlichen Rentenver- einfache Modell „Ältere raus, Jüngere rein“ so nicht
sicherung und dem Gesamteinkommen der Rentner- funktioniert. Wie anders wäre es sonst zu erklären, daß
haushalte. Süditalien, die europäische Region mit dem niedrigsten
Renteneintrittsalter und gleichzeitig mit der höchsten
( V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) Jugendarbeitslosigkeit ist? Ob Sie nach Holland schau-
Der Alterssicherungsbericht 1997 weist demgegen- en, nach Schweden oder in die Vereinigten Staaten: Der
über eindrucksvoll nach, daß die Rentenhöhe wenig über Vorschlag, über eine vorübergehende oder dauerhafte
das Gesamteinkommen der Personen und noch weniger Senkung des Renteneintrittsalters die Beschäftigungs-
über das Gesamteinkommen eines Ehepaares oder Rent- chancen für die junge Generation zu erhöhen, löst über-
nerhaushalts aussagt. So verfügen zum Beispiel Männer, all nur Kopfschütteln aus. So stellte der vom DGB be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 893
Andreas Storm

(A) nannte Vorstandsvorsitzende des Verbandes Deutscher entspräche dies nach Ablauf von fünf Jahren auf Dauer (C)
Rentenversicherungsträger, Dr. Erich Standfest, Ende einem Beitragssatz von 5 Prozent für den Tariffonds.
November in Würzburg folgerichtig fest:
Mit anderen Worten: Der Tariffonds wäre nichts an-
Nach den Erfahrungen mit früheren Vorruhestands- deres als eine Schattensozialversicherung mit dem Er-
regelungen muß jedoch davon ausgegangen wer- gebnis, daß nach fünf Jahren etwa 25 Prozent des Brut-
den, daß lediglich ein relativ geringer Teil der frei- toeinkommens an Beiträgen für die gesetzliche Renten-
werdenden Stellen auch tatsächlich wieder besetzt versicherung und den Tariffonds abgeführt werden
wird. Dies dürfte auch bei einer neuen generellen müßten.
Rente ab 60 nicht viel anders sein. Ein Beschäfti-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gungszuwachs ist also nicht zu erwarten.
Man könnte natürlich auch gleich den Beitragssatz zur
Soweit Erich Standfest, mit dessen Überlegungen ich gesetzlichen Rentenversicherung auf 25 Prozent anhe-
keineswegs immer übereinstimme, aber wo der Mann ben. Dann wären alle Ihre Erklärungen zur Senkung der
recht hat, hat er recht. Lohnnebenkosten als Lippenbekenntnisse entlarvt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU)
ordneten der F.D.P.)
Meine Damen und Herren, Sie wollen durch tarifver-
Eine abschlagsfreie Rente ab 60 in Deutschland wäre ein tragliche Regelungen neben der gesetzlichen Rentenver-
sozialpolitischer Anachronismus. sicherung eine Schattensozialversicherung aufbauen und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- diese auf dem Weg der Allgemeinverbindlichkeitser-
ordneten der F.D.P.) klärung, die mit dem heute zu beschließenden Gesetz
erleichtert wird, zu einem Zwangsabgabensystem um-
Professor Rürup, den die SPD als ihr sachverständi- funktionieren.
ges Mitglied in die Enquete-Kommission „Demographi-
scher Wandel“ des Deutschen Bundestages berufen hat- Unter dem unverfänglich klingenden Arbeitstitel
te, erläutert in einem Interview mit dem „Kölner „Gemeinsame Einrichtung von Arbeitgebern und Ar-
Stadtanzeiger“ am 12. November 1998: beitnehmern für Arbeit und Alter“ wollen Sie eine neue
Mammutbehörde schaffen. Dort sollen Gewerkschaften
Die Abführungen der Fonds an die Rentenversiche- und Arbeitgeberverbände gemeinsam mit der öffentli-
rung zur Kompensation der von ihr einbehaltenen chen Hand Finanzmittel in dreistelliger Milliardenhöhe
Abschläge – 3,6 Prozent pro Jahr – stellen nur einen verwalten. Dies wäre nicht nur ein ordnungspolitischer
Bruchteil der gesamtwirtschaftlichen Kosten dieses Sündenfall erster Ordnung, damit würden auch die vor
(B) Programms dar. drei Monaten im SPD-Programm angekündigten Forde- (D)
rungen nach einer Stärkung der Eigenverantwortung und
Dr. Standfest vom VDR macht die folgende Rech-
privaten Vorsorge zur Farce verkommen.
nung auf: Wenn nach heutigen Werten für die alten
Bundesländer 100 000 zusätzliche Rentner ein Jahr frü- (Gerd Andres [SPD]: Vierte Säule!)
her in Rente gehen, so entstehen der Rentenversicherung
daraus unabhängig von der Ablösung der Rentenab- – Lieber Kollege, auf das Stichwort „vierte Säule“
schläge durch die Tariffonds Vorfinanzierungskosten in komme ich noch bei den Folgen für die jüngere Genera-
Höhe von 2,5 Milliarden DM. Außerdem würden rund 1 tion zu sprechen. Aber schauen wir erst einmal, was das
Milliarde DM an Beiträgen ausfallen. Da für arbeitslose für die ältere Generation bedeutet.
Pflichtversicherte ein Beitrag an die Rentenversicherung Hier weisen die Rentenversicherungsträger zu Recht
abgeführt wird, hätte die Wiederbesetzung des Arbeits- darauf hin, daß die von Ihnen beabsichtigte Einführung
platzes nur eine geringfügige Mehreinnahme für die von Tariffonds, die aus einbehaltenen Bruttolohnbe-
Rentenversicherung zur Folge. standteilen gespeist werden, in der Zukunft erhebliche
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auswirkungen auf die Rentenanpassung haben wird. Die
Bruttolohnteile, die dem Fonds zufließen, würden die
Meine Damen und Herren, diese wenigen Fakten ver- Nettoentgelte schmälern. Dies hat natürlich eine deutli-
deutlichen auf eindrucksvolle Weise: Die abschlagsfreie che Verlangsamung der Anpassungsdynamik zur Folge.
Rente ab 60 fährt das Rentensystem in kurzer Zeit gegen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Wand. Es zeigt sich, daß Walter Riester und Adam
Riese offenbar nicht mehr als die ersten Buchstaben des Mit anderen Worten: Die Einführung des Tariffonds
Nachnamens gemein haben. hätte für die jetzige Rentnergeneration im Grunde ge-
nommen ganz genau den gleichen Effekt wie die Beibe-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
haltung des demographischen Faktors in der Renten-
Die Debatte wird noch dadurch bereichert, daß zur formel, den Sie heute mit dem Bundestagsbeschluß zu-
Finanzierung zumindest der Abschläge nicht mehr direkt rücknehmen wollen.
die Rentenversicherungsträger herangezogen werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sondern sogenannte Tariffonds gebildet werden sollen.
Würden die Arbeitnehmer hierfür, wie dies derzeit dis- Noch viel dramatischer wären die Konsequenzen für
kutiert wird, über einen Zeitraum von fünf Jahren jedes die junge Generation. Es bedeutet nämlich im Klartext:
Jahr auf einen Prozentpunkt Lohnzuwachs verzichten, so Den heute 20- oder 30jährigen würde abverlangt, daß sie
894 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Andreas Storm

(A) zur Finanzierung einer abschlagsfreien Rente ab 60 Jah- Klaus Wiesehügel (SPD): Sie brauchen keine (C)
ren einen ganz erheblichen Lohnverzicht leisten, Rücksicht auf mich zu nehmen, machen Sie ruhig!
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sie haben das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
doch gar nicht verstanden!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ohne daß sie dafür jemals eine Gegenleistung erhalten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
könnten. möchte zu dem Gesetz reden, das hier vorliegt. Ich den-
ke, das ist auch wichtig.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Kein Mensch wird ernsthaft behaupten wollen, daß der
30jährige, der heute einen Tariffonds für den Vorruhe- Sie haben sicher Verständnis, daß es mir eine ganz be-
stand finanzieren sollte, später auch nur den Hauch einer sonders große Freude bereitet, zu dem Arbeitnehmer-
Chance hätte, ebenfalls mit 60 Jahren in den Ruhestand Entsendegesetz zu sprechen, weil ich bei Ihnen über
zu gehen. viele Jahre gebittet und gebettelt habe, daß Sie die Bau-
arbeiter nicht weiterhin arbeitslos machen und vernünf-
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sie kennen
tige Gesetze verabschieden.
doch das Modell gar nicht! Sie haben es nicht
gelesen, junger Mann!) (Beifall bei der SPD)
Aber Sie haben ja bereits bei der Neuregelung der 620- Mit der Reform des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
DM-Jobs gezeigt, daß die neue Mehrheit offenbar be- werden wir die Grundlage dafür schaffen, daß auf deut-
reit ist, Beiträge ohne entsprechende Gegenleistung für schen Baustellen legal gearbeitet wird, vernünftige Löh-
den Einzahler zu erheben. So etwas nennt man Ab- ne gezahlt werden und die heimischen Bauarbeiter wie-
kassieren. der einen Arbeitsplatz erhalten. Ich möchte Ihnen an
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hand von einigen Fakten deutlich machen, warum es
nötig ist, das Entsendegesetz zu reformieren und ohne
Jetzt komme ich zum Stichwort vierte Säule. Herr zeitliche Befristung zu verabschieden.
Kollege Andres, angesichts unserer Alterspyramide
sollte eigentlich unstrittig sein, daß die junge Generation Mit dem im Moment gültigen und halbherzigen Ent-
die Chance haben muß, eine zusätzliche Altersvorsorge sendegesetz hat die alte Bundesregierung der Bauwirt-
neben der gesetzlichen Rentenversicherung aufzubauen. schaft nicht geholfen, sondern ihr kontinuierlich Knüp-
So fordern Sie dies auch in Ihrem Koalitionsprogramm. pel in den Weg gelegt.
(B) Aber die Crux dabei ist doch: Wenn die junge Generati- Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist (D)
on zwangsverpflichtet werden soll, einen beachtlichen die Zahl der Beschäftigten des Bauhauptgewerbes
Teil ihres Einkommenszuwachses zur Finanzierung neu- allein von September 1996 bis September 1998 von
er, unsinniger Vorruhestandsprogramme aufzuwenden, 1,34 Millionen auf 1,14 Millionen Beschäftigte zurück-
dann bleibt kein Spielraum mehr zum Aufbau einer zu- gegangen.
sätzlichen eigenen Altersvorsorge.
Mehr als 200 000 Arbeitsplätze sind damit entfallen –
Professor Rürup, Ihr Sachverständiger, zieht die Bi- nicht weil das Bauvolumen so sehr zurückgegangen ist
lanz, durch die Rente ab 60 würde die Schieflage unse- oder die Rationalisierung am Bau so unermeßlich groß
res die Jungen ohnehin benachteiligenden Rentensy- war, sondern einzig und allein weil am Bau eine Dere-
stems noch vergrößert. Diese vernichtende Bilanz Ihres gulierung betrieben wurde, die mafiöse Verhältnisse be-
Rentenexperten macht deutlich: Herr Riester, Ihr Modell günstigt hat.
der Rente ab 60 ohne Abschläge ist ein fatales Signal für
die junge Generation. Wenn man auf die Autobahn fährt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und es kommen einem Dutzende Fahrzeuge entgegen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
dann hat man etwas falsch gemacht. Noch ist es nicht zu Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])
spät. Herr Riester, werden Sie nicht zum sozialpoliti-
schen Geisterfahrer, und legen Sie uns im nächsten Jahr 213 793 Menschen aus dem Bereich Bau – ich sage
einen anderen Vorschlag vor als den, den Sie in den das so genau, weil es sich immer um ein Einzelschicksal
letzten Tagen öffentlich gemacht haben! handelt –, zumeist Familienväter mit Kindern, sind im
November 1998 arbeitslos und müssen quasi von der
Vielen Dank. anderen Seite des Bauzaunes mit ansehen, wie Ihre Ar-
beit, die ja immer noch getan werden muß, von illegal
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
tätigen Personen ausgeführt wird.
Ich frage Sie: Wo sind diese Menschen wohl geblie-
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat jetzt ben? Ich kann Ihnen die Antwort geben: Sie mußten Ih-
der Abgeordnete Klaus Wiesehügel, SPD. ren erlernten Beruf im Baugewerbe für einen schlecht-
bezahlten opfern, von Arbeitslosengeld, von Arbeitslo-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist seine erste senhilfe leben oder sich in die Abhängigkeit von krimi-
Rede! Da müssen wir Rücksicht nehmen!) nellen Arbeitsvermittlern begeben, die sie offen mit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 895
Klaus Wiesehügel

(A) Gewalt bedrohen, wenn sie es nur wagen, sich gegen de- galität erst ermöglichen und die den Steuerzahler und (C)
ren Machenschaften zu wehren. die Sozialversicherung um Milliarden geprellt haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. 90/DIE GRÜNEN)
Hermann Kues [CDU/CSU]: Das Problem
Deshalb kann auf eine Generalunternehmerhaf-
wird doch mit dem Gesetz gar nicht gelöst! – tung, die Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und
Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das hat
Mindestlöhne beinhaltet, nicht verzichtet werden.
doch mit dem Gesetz nichts zu tun! Das löst
ihr doch nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Unter dem Deckmäntelchen europäischen Wettbe-
werbs und um vordergründig Kosten sparen zu können, Der zentrale Wettbewerbsvorteil für Entsendebetriebe
wurden die Menschen vom Bau – Arbeitgeber und Ar- besteht nach Auffassung der Kontrollbehörden – das
beitnehmer gemeinsam – im Stich gelassen. sind Beamte, die sind loyal! – darin, daß Lohnsteuerbe-
trug und europaweite Hinterziehung von Sozialabgaben
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Zur Sache Hand in Hand gehen. Eine wirksame Durchgriffshaftung
reden! Das hat doch mit dem Gesetz nichts zu ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bekämpfung von
tun!) grenzüberschreitendem Sozialdumping und Steuerbe-
– Herr Kues, hören Sie doch einmal zu! trug.

Nicht umsonst fordert der Zentralverband des Deut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schen Bauhandwerks in seiner schriftlichen Stellung- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr.
nahme zu diesem Gesetz – ich bleibe immer hart an der Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist der Tod
Sache dran – wörtlich: „Eine Entfristung ist unerläßlich“ von mittelständischen Betrieben!)
und „ist wettbewerbspolitisch geboten“. Wer die Haftung des Generalunternehmers ablehnt,
die in Fragen der Gewährleistungsbürgschaften für
(Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer
[F.D.P.]: Aber dagegen sagt doch keiner was!) Baumängel seit vielen Jahren selbstverständlich ist, gibt
zu erkennen, wie wenig ihm an der Bekämpfung der il-
Das sagen die Arbeitgeber! legalen Praktiken gelegen ist. Was Sie für Sachwerte ak-
zeptieren, wollen Sie für Menschen nicht anerkennen.
Gerade die kleinen und mittelständischen Bauunter-
nehmen haben unter der momentanen Situation sehr zu (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer
(B) leiden. Die Rendite liegt eindeutig unter einem Prozent. [CDU/CSU]: Das ist eine unverschämte Un- (D)
Der Wettbewerb läßt ein sauberes Kalkulieren schon terstellung!)
jetzt – ich rede vom Ist-Zustand – nicht mehr zu. Wer Auch die Möglichkeit, zukünftig differenzierte tarifli-
sich nicht illegal betätigt, bekommt keinen Auftrag. Wer che Mindestlöhne zu schaffen, die unterschiedliche Tä-
eine kostendeckende Kalkulation abgibt, hat sowieso tigkeiten einschließlich der Qualifikation berücksichtigt,
keine Chance. ist sinnvoller Bestandteil dieses Gesetzes.
Das alles macht es notwendig, daß wir, daß die Poli- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das war
tik eingreift und den Bauunternehmen wieder einen unverschämt! Sie müssen noch was lernen hier
Rahmen für einen fairen Wettbewerb bietet. im Hause!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Hören Sie zu! – Gerade ein differenzierter Lohn kann
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Entsendeverhältnisse besser kontrollierbar machen. Je-
Hermann Kues [CDU/CSU]: Das wird mit der echte Werkvertrag ist gerade dadurch gekennzeich-
dem Gesetz nicht erreicht!) net, daß es in einer Baukolonne weisungsbefugte Vorar-
Das Ihnen vorliegende Arbeitnehmer-Entsendegesetz beiter, Facharbeiter und Hilfskräfte gibt.
mit seinen verschiedenen Maßnahmen wird zwangsläu- Meine Damen und Herren, es ist schon eine besonde-
fig die Tiefe der Subunternehmerketten erheblich redu- re Ironie, wenn Sie jetzt auf einmal für sozialistische
zieren und den redlichen Bauunternehmen eine echte Einheitslöhne plädieren. Sie sagen, diese seien durch-
Chance bieten, sich wieder am Markt zu behaupten. setzbar und preistreibend.
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das glaube ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
nicht!) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
der PDS – Dirk Niebel [F.D.P.]: Da haben Sie
Es besteht überhaupt keine Schwierigkeit – weil Sie das
aber nicht zugehört!)
ja kritisieren –, in der Vertragsbeziehung mit seinem
Nachunternehmer die Weitervergabe des Auftrages an Seit Jahren pfeifen es die Spatzen von den Dächern,
Dritte auszuschließen oder genehmigungspflichtig zu daß viele Baustellen in Berlin, auch die des Bundes, mit
machen. Ich habe das bei vielen Baustellen, für die ich diesen Praktiken errichtet wurden. Getan wurde nichts.
verantwortlich war, mit Erfolg durchgeführt. Denn es Es wurde lediglich bekanntgegeben, daß sich die Kosten
sind gerade die tiefgestaffelten Subunternehmerketten – der Bauvorhaben in Berlin reduziert haben. Die Bundes-
zum Teil reichen sie bis ins siebte Glied –, die die Ille- baubehörde spricht jetzt selbst davon, daß der Einsatz
896 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Klaus Wiesehügel

(A) von Entsendebetrieben und daß Dumpinglöhne erheb- zuklagen oder deutsche Arbeitsgerichte anzurufen, wenn (C)
liche Kostenreduzierungen bewirken. Die Zeche dafür der Menschenhändler nach Abschluß der Arbeiten
bezahlen wir zweimal. plötzlich verschwunden war.
Erstens bezahlen wir die Zeche mit der Finanzierung Auch eine Vollstreckung der fälligen Steuern und So-
der Arbeitslosigkeit. In Berlin und Brandenburg sind zialabgaben ist außer in Österreich in ganz Europa nicht
40 000 Bauarbeiter arbeitslos. Gleichzeitig haben wir möglich.
dort die größte Baustelle Europas. Aus Konjunkturgrün-
Mit dem neuen Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind
den – wie gerne eingewandt wird – sind die Berliner
die europäischen Baugewerkschaften nun in der Lage,
Bauarbeiter wahrhaftig nicht arbeitslos. Ein arbeitsloser
mittels bilateraler Rechtshilfeabkommen allen Bauar-
Bauarbeiter kostet round about 40 000 DM im Jahr. Bei
beitnehmern zu helfen und sie mit Blick auf ein gemein-
40 000 arbeitslosen Bauarbeitern ergibt das 1,6 Milliar-
sames Europa solidarisch zusammenzuführen. Zur Zeit
den DM in nur einem Jahr. Hochgerechnet auf die ge-
ist der stellvertretende Vorsitzende der IG BAU in War-
samte Bauzeit heißt das: Fast die gleiche Summe, die
schau, um genau das vorzubereiten. Damit wird ein neu-
wir für die Bundesbauten in Berlin einkalkulierten, muß
es Kapitel deutsch-polnischer Verständigung aufge-
jetzt zusätzlich und absolut unnötig für Arbeitslosengeld
schlagen. Dieses Gesetz gibt dafür die Grundlage.
ausgegeben werden. Das ist der eigentliche Skandal.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE
90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN])
Zweitens bezahlen wir die Zeche mit der Qualität.
Meine Damen und Herren, lange Zeit forderten auch
Wir sollten uns nicht täuschen: Der Preis für die vielen
die Spitzenverbände der deutschen Bauwirtschaft ver-
Qualitätsmängel im neuen Regierungsviertel wird hoch
nünftige Instrumente zur Bekämpfung illegaler Be-
sein. Bei Subunternehmerketten und illegalen Praktiken
schäftigung und von Dumpinglöhnen. Das neue Entsen-
ist der Pfusch am Bau nämlich schon einkalkuliert.
degesetz wird dieser Forderung Rechnung tragen, auch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn einige von Ihnen jetzt erschrecken, daß eine Re-
der PDS) gelung auf sie zukommt, die die eigene Mitarbeit und –
was das Wichtige ist – die Einstellung neuer Mitarbeiter
Der Preis, den wir alle – das gesamte Volk der Bundes- erfordert.
republik – dafür zahlen müssen, ist hoch und eine Bürde
für die Zukunft. Ich bin nicht in der Lage, Ihnen dies Ich lade Sie herzlich ein, nach dem, was Sie den
jetzt vorzurechnen. Aber wir werden es alle gemeinsam 200 000 und vielen anderen Bauarbeitern angetan haben,
im Wege der Wiedergutmachung diesem Gesetz zuzu-
(B) in Berlin erleben; ich hoffe nicht, daß wir es auch erlei- (D)
den werden. stimmen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, versu- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
chen Sie gar nicht erst, so zu tun, als hätten Sie hierfür GRÜNEN und der PDS – Dr. Peter Ramsauer
keine Verantwortung. Als ich mit dem derzeitigen Bun- [CDU/CSU]: Unverschämt! Sie wehleidiger
destagspräsidenten, Abgeordneter von Berlin, die Bau- Hanswurscht!)
stelle des Kanzleramtes besichtigen wollte, kam der Be-
fehl, uns abzuweisen, uns nicht auf diese Baustelle zu
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Wiese-
lassen. Dieser Befehl kam eindeutig aus Bonn.
hügel, das war Ihre erste Rede hier in diesem Hohen
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ihr hattet kei- Haus. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
nen Helm mit!) möchte ich Sie beglückwünschen.
– Wir hatten alles dabei. Aber der Bundesbauminister (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
hat gesagt, wir dürfen nicht auf die Baustelle. – Viel- GRÜNEN und der PDS)
leicht gab es etwas zu verbergen.
Auch Sie werden sicher noch lernen, daß nicht ein Herr
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Präsident hinter Ihnen saß, sondern eine Frau Präsiden-
tin.
Auch die eindeutige Anweisung, die in Berlin sonst
übliche Tariftreueerklärung auf die Baustellen des Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag,
Bundes nicht anzuwenden, geht auf die Veranlassung SPD.
der alten Bundesregierung zurück.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich noch Adolf Ostertag (SPD): Verehrte Frau Präsidentin!
kurz auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingehen. Meine Damen und Herren! Ohne Übertreibung: Heute
Dieses Gesetz verbessert auch die Beziehungen der ist in zweifacher Hinsicht ein historischer Tag. Heute
Bauarbeitnehmer in Europa untereinander und stärkt die morgen haben wir begonnen mit dem Gedenken und mit
Rechtsposition der hier Tätigen. Professor Hanau hat der Erinnerung an den 50. Jahrestag der Erklärung der
treffend festgestellt, daß die Baustellen in Deutschland Menschenrechte. Der Deutsche Bundestag hat in großer
durch die bisherige Gesetzeslage zu Inseln fremden Übereinstimmung die Bedeutung der Menschenrechte
Rechts wurden. Das heißt, kein Portugiese, kein Pole unterstrichen und sich zu ihnen bekannt. Leider waren
war bisher in der Lage, seinen hier verdienten Lohn ein- und sind wir uns nicht so einig, wenn es um ange-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 897
Adolf Ostertag

(A) stammte Arbeitnehmerrechte geht. Die Diskussion der be, darauf freuen sich die Menschen auch. Nur Sie ha- (C)
letzten zweieinhalb Stunden hat das gezeigt. ben es noch nicht begriffen.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Unglaub- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
lich, diese Verbindung! – Birgit Schnieber- 90/DIE GRÜNEN)
Jastram [CDU/CSU]: Geht Ihnen wirklich je- Ich kündige schon an: In den nächsten hundert Tagen
der Maßstab verloren?) werden wir weitere Schritte tun, um mehr Rechte und
Dabei steht in Art. 23 der Menschenrechtserklärung Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Sie haben
ausdrücklich: ein Chaos auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen; wir wer-
den ihn wieder ein Stückchen ordnen müssen. Wir be-
Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie ginnen damit.
Berufswahl, auf angemessene und befriedigende
Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Ar- (Beifall bei der SPD)
beitslosigkeit. Wir nehmen dafür auch etwas Eile in Kauf. Gesetz-
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist jetzt gebungsverfahren sind eben manchmal sehr schnell
wirklich geschmacklos!) notwendig. Denn gerade Sie haben ja Gesetze gemacht,
die, wenn sie zum 1. Januar 1999 in Kraft träten, erheb-
Für uns als Sozialdemokraten haben diese Rechte hi- liche Einschnitte brächten. Ich nenne hier insbesondere
storische Bedeutung. Rechte, die jahrzehntelang einge- die Verschlechterung durch Absenken des Rentenni-
fordert wurden, jahrzehntelang Gültigkeit hatten, die veaus oder der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrente.
von Ihnen abgeschafft wurden, wollen wir jetzt im Zuge Deswegen mußten wir schnell handeln. Diese unverzüg-
der Korrekturgesetze wiederherstellen. Deshalb ist heute liche Arbeit war notwendig, um jetzt die Korrekturen
ein erfreulicher Tag für Millionen von Arbeitnehmerin- durchzuführen.
nen und Arbeitnehmern. Das muß man noch einmal so
Unsere gesamte Politik in der letzten Legislaturperi-
unterstreichen, wie es der Bundesarbeitsminister gesagt
ode hat bewiesen, daß wir das machen werden. Niemand
hat.
von Ihnen darf überrascht sein. Wir haben in der letzten
(Beifall bei der SPD) Legislaturperiode Gesetzentwürfe konstruktiv zu dem
eingebracht, was wir heute umsetzen. Dort, wo die alte
Nach 16 Jahren konservativ-liberaler Politik der klei- Koalition Demontage betrieben hat, stabilisiert die neue
nen Nadelstiche und der großen Einschnitte in unser so- Regierung wieder die bewährten Fundamente unseres
ziales Netz liegt heute ein Gesetzespaket zur Verab- Sozialstaates.
schiedung auf dem Tisch, das eindeutige Verbesserun-
(Beifall bei der SPD)
(B) gen für die weitaus meisten Arbeitnehmerinnen und Ar- (D)
beitnehmer in diesem Land bringt. Das kann man nicht Zu den Inhalten des Gesetzespaketes, das wir heute
dick genug unterstreichen. Diese Menschen haben eben verabschieden, ist schon einiges gesagt worden. Ich fas-
nicht eine so organisierte und vielleicht auch gut finan- se nur die wichtigsten Punkte zusammen. Wir verhin-
zierte Lobby wie diejenigen Wirtschaftsverbände, die dern, daß die von der alten Bundesregierung hier be-
sich in diesen Tagen lautstark melden. Sie versuchen, ih- schlossene Senkung des Rentenniveaus zum 1. Januar
re in langen Jahren auf Kosten anderer erworbenen Be- in Kraft tritt. Deswegen mußten wir schnell handeln.
sitzstände in eine neue Ära hinüberzuretten. Das wird Das gleiche gilt bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten.
ihnen nicht gelingen; ich glaube, das ist schon deutlich
geworden. Von unseren Änderungen beim Kündigungsschutz
profitieren weit über 2 Millionen Arbeitnehmer. Die
(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Wie Spaltung bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
wollen Sie so ein Bündnis für Arbeit auf den mern, die Sie in den letzten zwei Jahren zu verantworten
Weg bringen?) hatten, heben wir auf.
Diejenigen, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nehmern und den kleinen Leuten im Land jahrelang
vorgeworfen haben, ihre angeblichen Besitzstände ver- Wir stellen die volle Entgeltfortzahlung im Krank-
teidigen zu wollen, müssen nun erkennen: Die Politik ist heitsfall wieder her. Auch hier ist eine Spaltung bei den
nicht länger die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern betrieben wor-
mit Hilfe der Gesetzgebung – um an ein Tucholsky-Wort den. 20 Prozent waren außen vor. Für sie gingen die
zu erinnern. Vielmehr machen die neue Bundesregierung normalen Zahlungen weiter, aber sie wurden bestraft,
und die Koalitionsfraktionen – das muß man hier klar- wenn sie krank wurden.
stellen – genau die Politik, die sie im Wahlprogramm In der Bauwirtschaft bleibt die Verhinderung von
angekündigt und für die sie am 27. September den Auf- Lohn- und Sozialdumping unser Ziel. Klaus Wiesehügel
trag durch die Wählerinnen und Wähler erhalten haben. hat das deutlich unterstrichen. Für uns zählt eben die
konkrete Umsetzung dessen, was in der Allgemeinen
Heute lösen wir eine ganze Reihe von Versprechen
Erklärung der Menschenrechte steht. In Art. 23 Abs. 2
ein, die wir vor der Wahl abgegeben haben. Und wir tun
dieser Erklärung heißt es:
dies in den ersten 50 Tagen nach der Regierungsüber-
nahme. Bereits fünf der Punkte, die wir auf einer Garan- Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche
tiekarte den Bürgerinnen und Bürgern versprochen ha- Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für glei-
ben, können wir in der Tat heute hier abhaken. Ich glau- che Arbeit.
898 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Adolf Ostertag

(A) Das setzen wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf zumin- Die ersten Taten stehen heute zur Abstimmung. (C)
dest im Bausektor durch. Weitere werden folgen. Wir haben das „Bündnis für
Arbeit“ auf den Weg gebracht. Die geringfügig Be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schäftigten werden sozialversicherungspflichtig. Das
Nicht zuletzt schaffen wir mit der Öffnung der Freien Schlechtwettergeld werden wir wieder einführen. Ille-
Förderung im SGB III für die Projektförderung die gale Beschäftigung werden wir massiv bekämpfen.
Möglichkeit, auch schwer in Arbeit zu vermittelnde Ju- Für uns Sozialpolitiker, vor allen Dingen aber auch
gendliche in Beschäftigungs- und Qualifizierungs- für den Bundestag insgesamt, gibt es viel zu tun. Die
maßnahmen zu integrieren. Diese neue Regelung ist Menschen im Land können sich dabei auf uns, auf die
notwendig, um das Sofortprogramm gegen Jugendar- neue Regierung, auf die Koalition im Bundestag verlas-
beitslosigkeit letzten Endes zum Erfolg zu führen. Ich sen, wenn es darum geht, mehr Beschäftigung und so-
glaube, viele junge Menschen setzen darauf Hoffnun- ziale Sicherheit in der Zukunft miteinander zu verbin-
gen. Sie können sich darauf verlassen, daß wir ihnen den.
wieder eine Chance eröffnen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Mit diesem Gesetzespaket bringen wir das soziale 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
Netz dort wieder in Ordnung, wo es zu reißen drohte. der PDS)
Wir werden nicht zulassen, daß Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, sozial Schwache, Kranke und Rentner ins
gesellschaftliche Abseits gestellt werden, wie es die alte
Bundesregierung getan hat und es weiter getan hätte, Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe damit
wenn die Wählerinnen und Wähler sie nicht gestoppt die Aussprache.
hätten. Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Die neue Bundesregierung steht dafür ein, daß das Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
soziale Netz nicht zerfleddert wird. Wir stehen dafür ge- eingebrachten Gesetzentwurf zu Korrekturen in der So-
rade, daß die originären Schutzrechte der Arbeitnehme- zialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmer-
rinnen und Arbeitnehmer erhalten bleiben. Darauf wer- rechte auf den Drucksachen 14/45 und 14/151.
den sich die Menschen auch künftig verlassen können. Ich verweise darauf, daß mir eine schriftliche Erklä-
Der Sozialstaat ist eben kein Relikt der Vergangen- rung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung
heit, dem nur Traditionalisten nachhängen. Eine funk- der Kollegen Karl-Josef Laumann und anderer vor-
(B) tionierende soziale Absicherung ist Voraussetzung für liegt.*) (D)
eine erfolgreiche Wirtschaft und für gesellschaftliche Des weiteren liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Stabilität. der PDS vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer
Modern sind nicht diejenigen, die immer unter dem stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
Deckmantel von Deregulierung und Globalisierung für 14/170? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
soziale Grausamkeiten eintreten. Modern ist, die hohe Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der
Arbeitsproduktivität in diesem Land – in einer hochent- CDU/CSU, dem Bündnis 90/Die Grünen und der F.D.P.
wickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft – gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
und den wirtschaftlichen Strukturwandel durch soziale Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
Absicherung erst zu ermöglichen. Zukunftsweisend ist, der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand-
den Sozialstaat als Instrument und nicht als Opfer der zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
Modernisierung zu sehen. – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit
Genauso alt wie falsch ist hingegen die Mär vom aus- den Stimmen der Koalition und der PDS-Fraktion gegen
ufernden Sozialstaat, wie es die alte Rechte in diesem die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. ange-
Haus immer wieder formuliert hat. Die Sozialleistungs- nommen.
quote in Westdeutschland liegt heute mit rund 31 Pro- Wir kommen zur
zent noch unter dem Niveau von 1982, obwohl wir heute
2,6 Millionen Arbeitslose mehr haben als 1982 und ob-
dritten Beratung
wohl es heute dreimal so viele Sozialhilfefälle gibt wie
1980. und Schlußabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des Grund-
Die neue Bundesregierung und die sie tragende Ko- gesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfes die ab-
alition werden sich daran messen lassen, wie sie die Ar- solute Mehrheit erforderlich. Die Fraktionen der SPD
beitslosigkeit bekämpfen und wie sie die soziale Ge- und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen nament-
rechtigkeit wahren. An Taten werden wir uns messen liche Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen, nicht an hohlen Phrasen, von denen die Men- kontrollieren Sie bitte noch einmal, ob die von Ihnen
schen in den letzten 16 Jahren wirklich genug gehört ha- benutzten Abstimmungskarten auch wirklich Ihren Na-
ben. men tragen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten __________
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) *) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 899
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, Annahme einer Entschließung. – Wer stimmt für diese (C)
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen Beschlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
besetzt? – Ich eröffne die Abstimmung. – Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der
Koalition und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der
Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben
hat? – Wenn das nicht der Fall ist, dann schließe ich Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
hiermit die Abstimmung. Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versorgungs-
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit reformgesetzes 1998, Drucksachen 14/46 und 14/145.
der Auszählung zu beginnen. Dazu bitte ich alle nicht Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
für die Urnen eingeteilten Schriftführerinnen und schußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Schriftführer, sich zum Auszählraum im Präsidialbau zu – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
begeben. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
später bekanntgegeben.*) Koalitionsparteien und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir setzen die Beratungen fort. Wir kommen jetzt zur
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der Dritte Beratung
F.D.P. zur beschäftigungswirksamen Änderung des und Schlußabstimmung. Die Fraktionen von SPD und
Kündigungsschutzgesetzes auf Drucksache 14/44. Der Bündnis 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf stimmung. Ich bitte erneut die Schriftführerinnen und
Drucksache 14/151 unter Buchstabe b, den Gesetzent- Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
wurf abzulehnen. Ich lasse nun über den Gesetzentwurf Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Damit eröff-
der F.D.P. auf Drucksache 14/44 abstimmen. Die Frak- ne ich die Abstimmung. –
tion der F.D.P. verlangt dazu namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, erneut Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
besetzt? – Das ist der Fall. Damit eröffne ich die Ab- Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die
stimmung. – Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Ihnen später bekanntgegeben.
Stimme nicht abgegeben hat? Das ist nicht der Fall.
Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die Wir setzen die Beratungen fort. Ich gebe Ihnen zu-
nächst das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
(B) Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus- rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- (D)
zählung zu beginnen. Das Ergebnis dieser namentlichen
mung über den von den Fraktionen der SPD und Bünd-
Abstimmung wird Ihnen ebenfalls später bekanntge-
nis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zu Kor-
geben.**)
rekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung
Wir setzen die Beratungen fort. Der Ausschuß für Arbeit der Arbeitnehmerrechte auf den Drucksachen 14/45 und
und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe c sei- 14/151 Buchstabe a bekannt. Abgegebene Stimmen 611.
ner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/151 die Mit Ja haben gestimmt 375, mit Nein haben gestimmt
236. Der Gesetzentwurf ist mit der erforderlichen Mehr-
__________ heit angenommen.
*) Seite 899 D (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
**) Seite 903 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Endgültiges Ergebnis Klaus Barthel (Starnberg) Ursula Burchardt Gernot Erler


Abgegebene Stimmen: 611; Ingrid Becker-Inglau Dr. Michael Bürsch Petra Ernstberger
davon Wolfgang Behrendt Hans Martin Bury Annette Faße
ja: 375
Dr. Axel Berg Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Fischer (Homburg)
Hans-Werner Bertl Marion Caspers-Merk Gabriele Fograscher
nein: 236 Friedhelm Julius Beucher Wolf-Michael Catenhusen Iris Follak
Petra Bierwirth Dr. Peter Danckert Norbert Formanski
Ja Rudolf Bindig Dr. Herta Däubler-Gmelin Rainer Fornahl
Lothar Binding (Heidelberg) Christel Deichmann Hans Forster
SPD Kurt Bodewig Karl Diller Dagmar Freitag
Klaus Brandner Peter Dreßen Peter Friedrich (Altenburg)
Brigitte Adler Anni Brandt-Elsweier Rudolf Dreßler Lilo Friedrich (Mettmann)
Gerd Andres Willi Brase Detlef Dzembritzki Harald Friese
Rainer Arnold Dr. Eberhard Brecht Dieter Dzewas Anke Fuchs (Köln)
Hermann Bachmaier Rainer Brinkmann (Detmold) Dr. Peter Eckardt Arne Fuhrmann
Ernst Bahr Bernhard Brinkmann Sebastian Edathy Monika Ganseforth
Doris Barnett (Hildesheim) Ludwig Eich Konrad Gilges
Dr. Hans-Peter Bartels Hans-Günter Bruckmann Marga Elser Iris Gleicke
Eckhardt Barthel (Berlin) Edelgard Bulmahn Peter Enders Günter Gloser
900 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Uwe Göllner Christian Lange (Backnang) Siegfried Scheffler Gunter Weißgerber (C)
Renate Gradistanac Detlev von Larcher Horst Schild Gert Weisskirchen
Günter Graf (Friesoythe) Christine Lehder Otto Schily (Wiesloch)
Angelika Graf (Rosenheim) Waltraud Lehn Dieter Schloten Dr. Ernst Ulrich von
Dieter Grasedieck Robert Leidinger Horst Schmidbauer Weizsäcker
Monika Griefahn Klaus Lennartz (Nürnberg) Hans-Joachim Welt
Achim Großmann Dr. Elke Leonhard Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Rainer Wend
Wolfgang Grotthaus Eckhart Lewering Silvia Schmidt (Eisleben) Hildegard Wester
Karl Hermann Haack Götz-Peter Lohmann Dagmar Schmidt (Meschede) Lydia Westrich
(Extertal) (Neubrandenburg) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Inge Wettig-Danielmeier
Hans-Joachim Hacker Christa Lörcher Regina Schmidt-Zadel Dr. Margrit Wetzel
Klaus Hagemann Erika Lotz Heinz Schmitt (Berg) Dr. Norbert Wieczorek
Manfred Hampel Dr. Christine Lucyga Carsten Schneider Helmut Wieczorek
Christel Hanewinckel Dieter Maaß (Herne) Dr. Emil Schnell (Duisburg)
Alfred Hartenbach Winfried Mante Walter Schöler Jürgen Wieczorek (Leipzig)
Klaus Hasenfratz Dirk Manzewski Olaf Scholz Heidemarie Wieczorek-Zeul
Nina Hauer Tobias Marhold Karsten Schönfeld Dieter Wiefelspütz
Hubertus Heil Lothar Mark Fritz Schösser Heino Wiese (Hannover)
Reinhold Hemker Ulrike Mascher Ottmar Schreiner Klaus Wiesehügel
Frank Hempel Christoph Matschie Gerhard Schröder Brigitte Wimmer (Karlsruhe)
Rolf Hempelmann Ingrid Matthäus-Maier Gisela Schröter Engelbert Wistuba
Dr. Barbara Hendricks Heide Mattischeck Dr. Mathias Schubert Barbara Wittig
Gustav Herzog Markus Meckel Richard Schuhmann Dr. Wolfgang Wodarg
Monika Heubaum Ulrike Mehl (Delitzsch) Verena Wohlleben
Uwe Hiksch Ulrike Merten Brigitte Schulte (Hameln) Hanna Wolf (München)
Reinhold Hiller (Lübeck) Angelika Mertens Reinhard Schultz Waltraud Wolff (Zielitz)
Stephan Hilsberg Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (Everswinkel) Heidemarie Wright
Gerd Höfer Ursula Mogg Volkmar Schultz (Köln) Uta Zapf
Jelena Hoffmann (Chemnitz) Christoph Moosbauer Ilse Schumann Dr. Christoph Zöpel
Walter Hoffmann Siegmar Mosdorf Ewald Schurer Peter Zumkley
(Darmstadt) Michael Müller (Düsseldorf) Dr. R. Werner Schuster
Iris Hoffmann (Wismar) Jutta Müller (Völklingen) Dietmar Schütz (Oldenburg) BÜNDNIS 90/
Frank Hofmann (Volkach) Christian Müller (Zittau) Dr. Angelica Schwall-Düren DIE GRÜNEN
Ingrid Holzhüter Franz Müntefering Ernst Schwanhold
Eike Hovermann Andrea Nahles Rolf Schwanitz Gila Altmann (Aurich)
Christel Humme Volker Neumann (Bramsche) Bodo Seidenthal Marieluise Beck (Bremen)
(B) Lothar Ibrügger (D)
Gerhard Neumann (Gotha) Erika Simm Volker Beck (Köln)
Barbara Imhof Dr. Edith Niehuis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Angelika Beer
Brunhilde Irber Dr. Rolf Niese Dr. Cornelie Sonntag- Matthias Berninger
Gabriele Iwersen Dietmar Nietan Wolgast Annelie Buntenbach
Renate Jäger Günter Oesinghaus Wieland Sorge Ekin Deligöz
Jann-Peter Janssen Eckhard Ohl Wolfgang Spanier Dr. Thea Dückert
Ilse Janz Leyla Onur Dr. Margrit Spielmann Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uwe Jens Manfred Opel Jörg-Otto Spiller Dr. Uschi Eid
Volker Jung (Düsseldorf) Holger Ortel Dr. Ditmar Staffelt Hans-Josef Fell
Johannes Kahrs Adolf Ostertag Antje-Marie Steen Andrea Fischer (Berlin)
Sabine Kaspereit Kurt Palis Ludwig Stiegler Joseph Fischer (Frankfurt)
Susanne Kastner Albrecht Papenroth Rolf Stöckel Katrin Göring-Eckardt
Hans-Peter Kemper Dr. Willfried Penner Rita Streb-Hesse Rita Grießhaber
Klaus Kirschner Georg Pfannenstein Dr. Peter Struck Winfried Hermann
Marianne Klappert Johannes Pflug Joachim Stünker Antje Hermenau
Siegrun Klemmer Dr. Eckhart Pick Joachim Tappe Kristin Heyne
Hans-Ulrich Klose Joachim Poß Jörg Tauss Ulrike Höfken
Walter Kolbow Karin Rehbock-Zureich Jella Teuchner Michaele Hustedt
Fritz Rudolf Körper Margot von Renesse Dr. Gerald Thalheim Monika Knoche
Karin Kortmann Renate Rennebach Wolfgang Thierse Dr. Angelika Köster-Loßack
Anette Kramme Bernd Reuter Franz Thönnes Steffi Lemke
Nicolette Kressl Reinhold Robbe Uta Titze-Stecher Dr. Helmut Lippelt
Volker Kröning Renè Röspel Adelheid Tröscher Dr. Reinhard Loske
Angelika Krüger-Leißner Dr. Ernst Dieter Rossmann Hans-Eberhard Urbaniak Oswald Metzger
Horst Kubatschka Michael Roth (Heringen) Rüdiger Veit Klaus Wolfgang Müller
Ernst Küchler Birgit Roth (Speyer) Günter Verheugen (Kiel)
Helga Kühn-Mengel Gerhard Rübenkönig Simone Violka Kerstin Müller (Köln)
Ute Kumpf Marlene Rupprecht Ute Vogt (Pforzheim) Winfried Nachtwei
Konrad Kunick Thomas Sauer Hans Georg Wagner Christa Nickels
Dr. Uwe Küster Dr. Hansjörg Schäfer Hedi Wegener Cem Özdemir
Werner Labsch Gudrun Schaich-Walch Dr. Konstanze Wegner Simone Probst
Oskar Lafontaine Rudolf Scharping Wolfgang Weiermann Claudia Roth (Augsburg)
Christine Lambrecht Bernd Scheelen Reinhard Weis (Stendal) Christine Scheel
Brigitte Lange Dr. Hermann Scheer Matthias Weisheit Irmingard Schewe-Gerigk
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 901
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Rezzo Schlauch Sylvia Bonitz Dr. Harald Kahl Dr. Christian Ruck (C)
Albert Schmidt (Hitzhofen) Jochen Borchert Bartholomäus Kalb Volker Rühe
Werner Schulz (Leipzig) Wolfgang Börnsen Dr. Dietmar Kansy Dr. Jürgen Rüttgers
Christian Simmert (Bönstrup) Manfred Kanther Anita Schäfer
Christian Sterzing Dr. Wolfgang Bötsch Irmgard Karwatzki Hartmut Schauerte
Hans-Christian Ströbele Klaus Brähmig Eckart von Klaeden Heinz Schemken
Jürgen Trittin Dr. Ralf Brauksiepe Ulrich Klinkert Karl-Heinz Scherhag
Dr. Antje Vollmer Paul Breuer Dr. Helmut Kohl Gerhard Scheu
Ludger Volmer Monika Brudlewsky Manfred Kolbe Norbert Schindler
Sylvia Voß Georg Brunnhuber Norbert Königshofen Dietmar Schlee
Helmut Wilhelm (Amberg) Klaus Bühler (Bruchsal) Eva-Maria Kors Bernd Schmidbauer
Margareta Wolf (Frankfurt) Hartmut Büttner Dr. Martina Krogmann Dr.-Ing. Joachim Schmidt
(Schönebeck) Dr. Paul Krüger (Halsbrücke)
PDS Cajus Caesar Dr. Hermann Kues Andreas Schmidt
Leo Dautzenberg Karl Lamers (Mühlheim)
Dr. Dietmar Bartsch Wolfgang Dehnel Dr. Norbert Lammert Birgit Schnieber-Jastram
Petra Bläss Hubert Deittert Dr. Paul Laufs Dr. Andreas Schockenhoff
Maritta Böttcher Albert Deß Karl-Josef Laumann Reinhard Freiherr von
Eva Bulling-Schröter Renate Diemers Vera Lengsfeld Schorlemer
Roland Claus Thomas Dörflinger Werner Lensing Dr. Erika Schuchardt
Heidemarie Ehlert Hansjürgen Doss Peter Letzgus Wolfgang Schulhoff
Dr. Heinrich Fink Marie-Luise Dött Ursula Lietz Diethard W. Schütze (Berlin)
Dr. Ruth Fuchs Maria Eichhorn Walter Link (Diepholz) Clemens Schwalbe
Fred Gebhardt Rainer Eppelmann Eduard Lintner Wilhelm-Josef Sebastian
Wolfgang Gehrcke-Reymann Ilse Falk Dr. Klaus Lippold Horst Seehofer
Dr. Klaus Grehn Dr. Hans Georg Faust (Offenbach) Heinz Seiffert
Dr. Gregor Gysi Ingrid Fischbach Dr. Manfred Lischewski Bernd Siebert
Dr. Barbara Höll Dirk Fischer (Hamburg) Wolfgang Lohmann Werner Siemann
Carsten Hübner Axel Fischer (Lüdenscheid) Johannes Singhammer
Ulla (Ursula) Jelpke (Karlsruhe-Land) Julius Louven Bärbel Sothmann
Sabine Jünger Herbert Frankenhauser Dr. Michael Luther Margarete Späte
Gerhard Jüttemann Dr. Gerhard Friedrich Erich Maaß (Wilhemshaven) Carl-Dieter Spranger
Dr. Evelyn Kenzler (Erlangen) Erwin Marschewski Dr. Wolfgang Freiherr von
Dr. Heidi Knake-Werner Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Martin Mayer Stetten
Rolf Kutzmutz (Hof) (Siegertsbrunn) Andreas Storm
Heidi Lippmann-Kasten Erich G. Fritz Wolfgang Meckelburg Dorothea Störr-Ritter
(B) Ursula Lötzer (D)
Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Meister Max Straubinger
Dr. Christa Luft Hans-Joachim Fuchtel Dr. Angela Merkel Thomas Strobl
Heidemarie Lüth Dr. Jürgen Gehb Hans Michelbach Michael Stübgen
Angela Marquardt Norbert Geis Meinolf Michels Dr. Rita Süssmuth
Manfred Müller (Berlin) Georg Girisch Dr. Gerd Müller Dr. Susanne Tiemann
Kersten Naumann Dr. Reinhard Göhner Bernward Müller (Jena) Edeltraut Töpfer
Rosel Neuhäuser Peter Götz Elmar Müller (Kirchheim) Arnold Vaatz
Christine Ostrowski Dr. Wolfgang Götzer Claudia Nolte Angelika Volquartz
Petra Pau Hermann Gröhe Günter Nooke Andrea Voßhoff
Dr. Uwe-Jens Rössel Manfred Grund Franz Obermeier Peter Weiß (Emmendingen)
Christina Schenk Gottfried Haschke Eduard Oswald Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Gustav-Adolf Schur (Großhennersdorf) Norbert Otto (Erfurt) Annette Widmann-Mauz
Dr. Ilja Seifert Gerda Hasselfeldt Dr. Peter Paziorek Heinz Wiese (Ehingen)
Norbert Hauser (Bonn) Anton Pfeifer Hans-Otto Wilhelm (Mainz)
Hansgeorg Hauser Dr. Friedbert Pflüger Gert Willner
Nein (Rednitzhembach) Beatrix Philipp Klaus-Peter Willsch
Klaus-Jürgen Hedrich Ronald Pofalla Willy Wimmer (Neuss)
CDU/CSU Ursula Heinen Marlies Pretzlaff Werner Wittlich
Manfred Heise Dr. Bernd Protzner Dagmar Wöhrl
Ulrich Adam Siegfried Helias Thomas Rachel Aribert Wolf
Ilse Aigner Ernst Hinsken Hans Raidel Peter Kurt Würzbach
Peter Altmaier Peter Hintze Dr. Peter Ramsauer Wolfgang Zeitlmann
Dietrich Austermann Klaus Hofbauer Helmut Rauber Wolfgang Zöller
Norbert Barthle Martin Hohmann Peter Rauen
Dr. Wolf Bauer Klaus Holetschek Christa Reichard (Dresden) F.D.P.
Günter Baumann Josef Hollerith Hans-Peter Repnik
Brigitte Baumeister Dr. Karl-Heinz Hornhues Klaus Riegert Hildebrecht Braun
Meinrad Belle Siegfried Hornung Dr. Heinz Riesenhuber (Augsburg)
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Joachim Hörster Franz Romer Rainer Brüderle
Dr. Joseph-Theodor Blank Hubert Hüppe Hannelore Rönsch Ernst Burgbacher
Renate Blank Peter Jacoby (Wiesbaden) Jörg van Essen
Dr. Heribert Blens Susanne Jaffke Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Ulrike Flach
Peter Bleser Georg Janovsky Dr. Klaus Rose Gisela Frick
Friedrich Bohl Dr.-Ing. Rainer Jork Norbert Röttgen Paul K. Friedhoff
902 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Rainer Funke Dr. Werner Hoyer Jürgen W. Möllemann Gerhard Schüßler (C)
Dr. Wolfgang Gerhardt Ulrich Irmer Dirk Niebel Dr. Irmgard Schwaetzer
Hans-Michael Goldmann Dr. Klaus Kinkel Günther Friedrich Nolting Marita Sehn
Joachim Günther (Plauen) Dr. Heinrich Leonhard Kolb Hans-Joachim Otto Dr. Max Stadler
Dr. Karlheinz Guttmacher Jürgen Koppelin (Frankfurt) Carl-Ludwig Thiele
Dr. Helmut Haussmann Ina Lenke Detlef Parr Dr. Dieter Thomae
Walter Hirche Sabine Leutheusser- Dr. Günter Rexrodt Jürgen Türk
Birgit Homburger Schnarrenberger Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Guido Westerwelle

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: fahren will, dies letztendlich nur auf zwei Rädern schaf-
fen kann. Wir wollen so nicht starten.
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie fahren es gegen
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung die Wand!)
der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – Wir haben den Kranken versprochen, die Lasten Zug
GKV-SolG um Zug von ihren Schultern zu nehmen. Damit stellen
– Drucksache 14/24 – wir das Fahrzeug Gesundheit wieder richtig auf vier
Räder.
(Erste Beratung 4. Sitzung)
Unser Gesundheitswagen braucht noch eine zweite
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
Stabilität. Diese zweite Stabilität ist die Beitragsstabili-
ses für Gesundheit (14. Ausschuß)
tät. Um sie zu erreichen, müssen die Lasten gerecht
– Drucksache 14/157 – verteilt werden. Auf der einen Seite werden wir dazu die
Einnahmenseite verbessern. Auf der anderen Seite wer-
Berichterstattung: den wir in einer ersten Stufe unwirtschaftliche Struktu-
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch ren beseitigen, um Ressourcen freizusetzen.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache
über diesen Gesetzentwurf namentlich abstimmen wer- Die Zeichen der Unwirtschaftlichkeit sind bei den
den. Arzneimitteln auf Grund der Anzahl ihrer Verordnun-
gen, ihrer Qualität und ihrer Preise nicht zu übersehen.
(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vergessen wir nicht: Jährlich werden für 7 Milliarden (D)
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich DM Arzneimittel verordnet, deren therapeutischer Nut-
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zen entweder nicht nachgewiesen oder nicht vorhanden
ist. Vergessen wir nicht: Für mehr als 30 000 Altarznei-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der mittel liegt eine Beanstandung der Europäischen Kom-
Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD. – Die Kollegin mission vor, weil sie weiter bis zum Jahre 2005 unge-
ist nicht im Saal. prüft verkauft werden können. Vergessen wir nicht:
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Was ist denn los Durch Vergleiche der Preise auf internationaler Ebene
hier? – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Chaos wissen wir, daß die Bundesrepublik Deutschland zu den
bei der Regierungspartei!) Hochpreisländern in der Welt gehört.

Dann hat zunächst der Kollege Horst Schmidbauer, Wenn man nach dem Grundsatz geht, daß jeder An-
SPD, das Wort. bieter im Gesundheitswesen gemäß seinem Leistungs-
vermögen seinen Beitrag leisten muß, dann wird man
sehr schnell feststellen müssen, daß der entsprechende
Beitrag, der im Arzneimittelbereich geleistet werden
Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Frau Präsi- muß, überfällig ist.
dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Allen Beteiligten ist klar: Man muß im (Beifall bei der SPD)
Kleinen anfangen, bevor man mit dem Großen beginnen
kann. Allen Beteiligten ist auch klar: Das Vorschaltge- Wir sagen deshalb: Von den über 30 Milliarden DM, die
setz schafft den notwendigen Raum, damit 1999 die Ar- wir für diesen Bereich ausgeben, muß 1 Milliarde DM
beit am Großen, an der eigentlichen Reform, beginnen gespart werden. Um den Ärzten das Erreichen dieses
kann. Sparvolumens zu erleichtern, werden wir im Gesetz vor-
sehen, daß die sogenannte Festbetragsregelung für
Daß wir bereits nach wenigen Tagen mit dem Kleinen Arzneimittel über alle drei Stufen ausgeweitet wird.
beginnen müssen, hat auch seine Ursache in der Schief- Damit schaffen wir eine Kostenentlastung von 200 bis
lage, in die die Herren Seehofer und Kohl die Kranken- 400 Millionen DM im Jahr 1999.
kassen gebracht haben. Sie von der alten Regierungsko-
alition haben einseitig so gewaltige Lasten verteilt, daß (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Kein großer
das Fahrzeug Gesundheit, wenn man es um die Kurve Unterschied!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 903
Horst Schmidbauer

(A) Diese Regelung wird nicht zu Problemen mit der Indu- sei Dank in der letzten Minute – eine Minute vor dem (C)
strie führen, weil ihre Wertschöpfung davon kaum tan- Start – den Strafzoll für die Seele weggenommen, den
giert wird. Der entscheidende Punkt ist aber, daß nie- die alte Koalition den psychisch Kranken mit allem
mand mehr behaupten kann, der demographische Faktor Nachdruck aufgebürdet hat.
stehe dem Sparziel entgegen, es gebe keine ausreichende
(Zustimmung bei der SPD)
Versorgung oder die Qualität der Versorgung leide unter
dieser Regelung. Damit schaffen wir jetzt endlich nicht nur Stabilität,
sondern auch die Gleichstellung von psychisch und so-
Wenn man sich die wirklichen Verhältnisse anschaut, matisch Kranken im Land. Das ist ein großer Fortschritt,
stellt man fest, daß die medizinische Versorgung der und damit kann sich das deutsche Psychotherapeutenge-
Menschen in Bayern, in Nord- und Südwürttemberg und setz weltweit sehen lassen.
in Südbaden nicht zweitklassig ist. Die Menschen in die-
sen vier KV-Bezirken sind nicht kränker als die Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schen in anderen Bezirken. Trotzdem liegen in Bayern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
die Arzneimittelausgaben pro Versicherten bei 388 DM, PDS)
in Nordwürttemberg bei 375 DM, in Südwürttemberg
Damit haben wir auch die Anerkennung des Berufs
bei 377 DM und in Südbaden bei 357 DM. An diesen
des Psychotherapeuten als eines gleichwertigen Heilbe-
Zahlen, die weit unter dem Durchschnitt im Westen lie-
rufs erreicht. In dieser Situation darf aber die Zuzah-
gen – er liegt dort bei 420,92 DM; die Spitze ist Ham-
lungsbelastung nicht auf dem Rücken der Therapeuten
burg mit Ausgaben von 502 DM pro Versicherten –,
abgeladen werden. Deshalb haben wir diese 70 bis
kann man erkennen, daß es eine aktive Politik und akti-
80 Millionen DM in das Budget gebracht. Anderenfalls
ves Handeln der Krankenversicherungen in diesen Be-
wäre die Freude der Therapeuten nur kurz gewesen, da
zirken gibt.
sie letztendlich zu Taschendieben ihrer Patientinnen und
Es ist klar: Um unsere Sparziele zu erreichen, müssen Patienten geworden wären.
wir keine Überforderungsklausel einführen. Proble- Die Basisdaten für das Budget waren auf der ärztli-
matisch war natürlich – das konnte man spüren – die chen Seite leicht, aber für den Bereich der Delegations-
Ermittlung der Budgetdaten. In diesem Zusammenhang psychotherapeuten schwierig zu ermitteln. Da wir ja
müssen wir sehen, daß die unterschiedlichen Metho- wünschten, daß ein gleichberechtigter Zugang gewähr-
den zur Ermittlung der Budgetdaten in Deutschland an leistet wird und eine gleichberechtigte Versorgung durch
das „wilde Absurdistan“ erinnern, weil Apotheker, ärztliche und psychologische Psychotherapeuten erfolgt,
Kassenärztliche Vereinigungen, Pharmaindustrie und die war die Frage des Budgets sehr wichtig. Wir haben
GKV ihre eigenen Methoden zur Datenermittlung ha- deshalb die sichere Datenbasis von 1997 genommen und
(B) ben. (D)
sie nicht nur um 20 Prozent, sondern um 40 Prozent auf-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Und das Ge- gestockt. Damit haben wir eine solide Basis geschaffen.
sundheitsministerium!) Sie ist wichtig, weil die KBV das Ziel verfolgt – wir
werden sie darin aktiv unterstützen –, daß es für das er-
Im Rahmen der Datenermittlung müssen wir auf das ste Halbjahr 1999 für alle Psychotherapeuten eine feste
aufbauen, was das Ministerium an Vorarbeit geleistet Vergütung gibt, die auf einem festen Punktwert auf-
hat. Ich nehme an, daß Sie die im Ministerium geleistete gebaut ist. Das ist der richtige Start, den wir für die
Basisarbeit sicherlich nicht in Frage stellen oder gar mit Betroffenen und für die Therapeuten brauchen. Die
meinem Begriff vom „wilden Absurdistan“ bezeichnen. Psychotherapie hat damit jetzt endlich den Stellenwert
erreicht, den wir den Patienten schuldig sind. In diesem
(Zuruf von der F.D.P.: Doch!) Sinne schreiten wir, glaube ich, auf dem richtigen Wege
Ansonsten müßte Herr Seehofer für dieses „wilde Ab- voran.
surdistan“ letztendlich die Verantwortung übernehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nein, wir müssen alles daransetzen, daß wir im medi-


zinischen Bereich verläßliche Basisdaten bekommen, Vizepräsidentin Petra Bläss: Bevor ich den näch-
deren Ermittlung für alle akzeptabel ist und die somit ei- sten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schrift-
ne solide Basis darstellen können. führern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den von der F.D.P.
Aber ich möchte noch auf mein zweites Fahrzeug zu eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur beschäfti-
sprechen kommen, das ebenfalls eine Minute vor dem gungswirksamen Änderung des Kündigungsschutzge-
Start in eine sichere Lage gebracht worden ist, weil es setzes, Drucksachen 14/44 und 14/151 Buchstabe b, be-
sonst auch aus der Kurve herausgetragen worden oder kannt. Abgegebene Stimmen 606. Mit Ja haben ge-
auf zwei Rädern durch die Kurve gefahren wäre. Es geht stimmt 35, mit Nein haben gestimmt 571. Der Gesetz-
mir um die Frage der Psychotherapie. Wir haben Gott entwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt.
904 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Endgültiges Ergebnis Kurt Bodewig Monika Heubaum Ulrike Merten (C)
Abgegebene Stimmen: 603; Klaus Brandner Uwe Hiksch Angelika Mertens
davon Anni Brandt-Elsweier Reinhold Hiller (Lübeck) Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
ja: 36
Willi Brase Stephan Hilsberg Ursula Mogg
Dr. Eberhard Brecht Gerd Höfer Christoph Moosbauer
nein: 567 Rainer Brinkmann (Detmold) Jelena Hoffmann (Chemnitz) Siegmar Mosdorf
Bernhard Brinkmann Walter Hoffmann Michael Müller (Düsseldorf)
Ja (Hildesheim) (Darmstadt) Jutta Müller (Völklingen)
Hans-Günter Bruckmann Iris Hoffmann (Wismar) Christian Müller (Zittau)
F.D.P. Edelgard Bulmahn Frank Hofmann (Volkach) Franz Müntefering
Ursula Burchardt Ingrid Holzhüter Andrea Nahles
Hildebrecht Braun Dr. Michael Bürsch Eike Hovermann Volker Neumann (Bramsche)
(Augsburg) Hans Martin Bury Christel Humme Gerhard Neumann (Gotha)
Ernst Burgbacher Hans Büttner (Ingolstadt) Lothar Ibrügger Dr. Edith Niehuis
Ulrike Flach Marion Caspers-Merk Barbara Imhof Dr. Rolf Niese
Gisela Frick Wolf-Michael Catenhusen Brunhilde Irber Dietmar Nietan
Paul K. Friedhoff Dr. Peter Danckert Gabriele Iwersen Günter Oesinghaus
Rainer Funke Dr. Herta Däubler-Gmelin Renate Jäger Eckhard Ohl
Dr. Wolfgang Gerhardt Christel Deichmann Jann-Peter Janssen Leyla Onur
Hans-Michael Goldmann Karl Diller Ilse Janz Manfred Opel
Joachim Günther (Plauen) Peter Dreßen Dr. Uwe Jens Holger Ortel
Dr. Karlheinz Guttmacher Rudolf Dreßler Volker Jung (Düsseldorf) Adolf Ostertag
Dr. Helmut Haussmann Detlef Dzembritzki Johannes Kahrs Kurt Palis
Ulrich Heinrich Dieter Dzewas Sabine Kaspereit Albrecht Papenroth
Walter Hirche Dr. Peter Eckardt Susanne Kastner Dr. Willfried Penner
Birgit Homburger Sebastian Edathy Hans-Peter Kemper Georg Pfannenstein
Dr. Werner Hoyer Ludwig Eich Klaus Kirschner Johannes Pflug
Ulrich Irmer Marga Elser Marianne Klappert Dr. Eckhart Pick
Dr. Klaus Kinkel Peter Enders Siegrun Klemmer Joachim Poß
Dr. Heinrich Leonhard Kolb Petra Ernstberger Hans-Ulrich Klose Karin Rehbock-Zureich
Jürgen Koppelin Annette Faße Fritz Rudolf Körper Margot von Renesse
Ina Lenke Lothar Fischer (Homburg) Karin Kortmann Renate Rennebach
Sabine Leutheusser- Gabriele Fograscher Anette Kramme Bernd Reuter
Schnarrenberger Iris Follak Nicolette Kressl Reinhold Robbe
Jürgen W. Möllemann Norbert Formanski Volker Kröning Renè Röspel
Dirk Niebel Rainer Fornahl Angelika Krüger-Leißner Dr. Ernst Dieter Rossmann
(B) Günther Friedrich Nolting (D)
Hans Forster Horst Kubatschka Michael Roth (Heringen)
Hans-Joachim Otto Dagmar Freitag Ernst Küchler Birgit Roth (Speyer)
(Frankfurt) Peter Friedrich (Altenburg) Helga Kühn-Mengel Gerhard Rübenkönig
Detlef Parr Lilo Friedrich (Mettmann) Ute Kumpf Marlene Rupprecht
Dr. Günter Rexrodt Harald Friese Konrad Kunick Thomas Sauer
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Anke Fuchs (Köln) Dr. Uwe Küster Dr. Hansjörg Schäfer
Gerhard Schüßler Arne Fuhrmann Werner Labsch Gudrun Schaich-Walch
Dr. Irmgard Schwaetzer Monika Ganseforth Oskar Lafontaine Rudolf Scharping
Marita Sehn Konrad Gilges Christine Lambrecht Bernd Scheelen
Dr. Max Stadler Iris Gleicke Brigitte Lange Dr. Hermann Scheer
Carl-Ludwig Thiele Günter Gloser Christian Lange (Backnang) Siegfried Scheffler
Dr. Dieter Thomae Uwe Göllner Detlev von Larcher Horst Schild
Jürgen Türk Renate Gradistanac Christine Lehder Otto Schily
Dr. Guido Westerwelle Günter Graf (Friesoythe) Waltraud Lehn Dieter Schloten
Angelika Graf (Rosenheim) Robert Leidinger Horst Schmidbauer
Nein Dieter Grasedieck Klaus Lennartz (Nürnberg)
Monika Griefahn Dr. Elke Leonhard Ulla Schmidt (Aachen)
SPD Achim Großmann Eckhart Lewering Silvia Schmidt (Eisleben)
Wolfgang Grotthaus Götz-Peter Lohmann Dagmar Schmidt (Meschede)
Brigitte Adler Karl Hermann Haack (Neubrandenburg) Wilhelm Schmidt (Salzgitter)
Gerd Andres (Extertal) Christa Lörcher Regina Schmidt-Zadel
Rainer Arnold Hans-Joachim Hacker Erika Lotz Heinz Schmitt (Berg)
Hermann Bachmaier Klaus Hagemann Dr. Christine Lucyga Carsten Schneider
Ernst Bahr Manfred Hampel Dieter Maaß (Herne) Dr. Emil Schnell
Doris Barnett Christel Hanewinckel Winfried Mante Walter Schöler
Eckhardt Barthel (Berlin) Alfred Hartenbach Dirk Manzewski Olaf Scholz
Klaus Barthel (Starnberg) Klaus Hasenfratz Tobias Marhold Karsten Schönfeld
Ingrid Becker-Inglau Nina Hauer Lothar Mark Fritz Schösser
Dr. Axel Berg Hubertus Heil Ulrike Mascher Ottmar Schreiner
Hans-Werner Bertl Reinhold Hemker Christoph Matschie Gerhard Schröder
Friedhelm Julius Beucher Frank Hempel Ingrid Matthäus-Maier Gisela Schröter
Petra Bierwirth Rolf Hempelmann Heide Mattischeck Dr. Mathias Schubert
Rudolf Bindig Dr. Barbara Hendricks Markus Meckel Richard Schuhmann
Lothar Binding (Heidelberg) Gustav Herzog Ulrike Mehl (Delitzsch)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 905
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Brigitte Schulte (Hameln) Uta Zapf Norbert Hauser (Bonn) Anton Pfeifer (C)
Reinhard Schultz Dr. Christoph Zöpel Hansgeorg Hauser Dr. Friedbert Pflüger
(Everswinkel) Peter Zumkley (Rednitzhembach) Beatrix Philipp
Volkmar Schultz (Köln) Klaus-Jürgen Hedrich Ronald Pofalla
Ilse Schumann CDU/CSU Ursula Heinen Marlies Pretzlaff
Ewald Schurer Manfred Heise Dr. Bernd Protzner
Dr. R. Werner Schuster Ulrich Adam Siegfried Helias Thomas Rachel
Dietmar Schütz (Oldenburg) Ilse Aigner Ernst Hinsken Hans Raidel
Dr. Angelica Schwall-Düren Peter Altmaier Peter Hintze Dr. Peter Ramsauer
Ernst Schwanhold Dietrich Austermann Klaus Hofbauer Helmut Rauber
Rolf Schwanitz Norbert Barthle Martin Hohmann Peter Rauen
Bodo Seidenthal Dr. Wolf Bauer Klaus Holetschek Christa Reichard (Dresden)
Erika Simm Günter Baumann Josef Hollerith Hans-Peter Repnik
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Brigitte Baumeister Dr. Karl-Heinz Hornhues Klaus Riegert
Wieland Sorge Meinrad Belle Siegfried Hornung Dr. Heinz Riesenhuber
Wolfgang Spanier Dr. Sabine Bergmann-Pohl Joachim Hörster Franz Romer
Dr. Margrit Spielmann Dr. Joseph-Theodor Blank Hubert Hüppe Hannelore Rönsch
Jörg-Otto Spiller Renate Blank Peter Jacoby (Wiesbaden)
Dr. Ditmar Staffelt Dr. Heribert Blens Susanne Jaffke Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Antje-Marie Steen Peter Bleser Georg Janovsky Dr. Klaus Rose
Ludwig Stiegler Friedrich Bohl Dr.-Ing. Rainer Jork Norbert Röttgen
Rolf Stöckel Sylvia Bonitz Dr. Harald Kahl Dr. Christian Ruck
Rita Streb-Hesse Jochen Borchert Bartholomäus Kalb Volker Rühe
Dr. Peter Struck Wolfgang Börnsen Dr. Dietmar Kansy Dr. Jürgen Rüttgers
Joachim Stünker (Bönstrup) Manfred Kanther Anita Schäfer
Joachim Tappe Dr. Wolfgang Bötsch Irmgard Karwatzki Hartmut Schauerte
Jörg Tauss Klaus Brähmig Eckart von Klaeden Heinz Schemken
Jella Teuchner Dr. Ralf Brauksiepe Ulrich Klinkert Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerald Thalheim Paul Breuer Dr. Helmut Kohl Gerhard Scheu
Franz Thönnes Monika Brudlewsky Manfred Kolbe Norbert Schindler
Uta Titze-Stecher Georg Brunnhuber Norbert Königshofen Dietmar Schlee
Adelheid Tröscher Klaus Bühler (Bruchsal) Eva-Maria Kors Bernd Schmidbauer
Hans-Eberhard Urbaniak Hartmut Büttner Dr. Martina Krogmann Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Rüdiger Veit (Schönebeck) Dr. Paul Krüger (Halsbrücke)
Günter Verheugen Cajus Caesar Dr. Hermann Kues Andreas Schmidt
Simone Violka Leo Dautzenberg Karl Lamers (Mühlheim)
(B) Ute Vogt (Pforzheim) Wolfgang Dehnel
(D)
Dr. Norbert Lammert Birgit Schnieber-Jastram
Hans Georg Wagner Hubert Deittert Dr. Paul Laufs Dr. Andreas Schockenhoff
Hedi Wegener Albert Deß Karl-Josef Laumann Reinhard Freiherr von
Dr. Konstanze Wegner Renate Diemers Vera Lengsfeld Schorlemer
Wolfgang Weiermann Thomas Dörflinger Werner Lensing Dr. Erika Schuchardt
Reinhard Weis (Stendal) Hansjürgen Doss Peter Letzgus Wolfgang Schulhoff
Matthias Weisheit Marie-Luise Dött Ursula Lietz Diethard W. Schütze (Berlin)
Gunter Weißgerber Maria Eichhorn Walter Link (Diepholz) Clemens Schwalbe
Gert Weisskirchen Rainer Eppelmann Eduard Lintner Wilhelm - Josef Sebastian
(Wiesloch) Ilse Falk Dr. Klaus Lippold Horst Seehofer
Dr. Ernst Ulrich von Dr. Hans Georg Faust (Offenbach) Heinz Seiffert
Weizsäcker Ingrid Fischbach Dr. Manfred Lischewski Bernd Siebert
Hans-Joachim Welt Dirk Fischer (Hamburg) Wolfgang Lohmann Werner Siemann
Dr. Rainer Wend Axel Fischer (Karlsruhe- (Lüdenscheid) Johannes Singhammer
Hildegard Wester Land) Julius Louven Bärbel Sothmann
Lydia Westrich Herbert Frankenhauser Dr. Michael Luther Margarete Späte
Inge Wettig-Danielmeier Dr. Gerhard Friedrich Erich Maaß (Wilhemshaven) Carl-Dieter Spranger
Dr. Margrit Wetzel (Erlangen) Erwin Marschewski Dr. Wolfgang Freiherr von
Dr. Norbert Wieczorek Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Martin Mayer Stetten
Helmut Wieczorek (Hof) (Siegertsbrunn) Andreas Storm
(Duisburg) Erich G. Fritz Wolfgang Meckelburg Dorothea Störr-Ritter
Jürgen Wieczorek (Leipzig) Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Meister Max Straubinger
Heidemarie Wieczorek-Zeul Hans-Joachim Fuchtel Dr. Angela Merkel Thomas Strobl
Dieter Wiefelspütz Dr. Jürgen Gehb Hans Michelbach Michael Stübgen
Heino Wiese (Hannover) Norbert Geis Meinolf Michels Dr. Rita Süssmuth
Klaus Wiesehügel Georg Girisch Dr. Gerd Müller Dr. Susanne Tiemann
Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Reinhard Göhner Bernward Müller (Jena) Edeltraut Töpfer
Engelbert Wistuba Peter Götz Elmar Müller (Kirchheim) Arnold Vaatz
Barbara Wittig Dr. Wolfgang Götzer Claudia Nolte Angelika Volquartz
Dr. Wolfgang Wodarg Hermann Gröhe Günter Nooke Andrea Voßhoff
Verena Wohlleben Manfred Grund Franz Obermeier Peter Weiß (Emmendingen)
Hanna Wolf (München) Gottfried Haschke Eduard Oswald Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Waltraud Wolff (Zielitz) (Großhennersdorf) Norbert Otto (Erfurt) Annette Widmann-Mauz
Heidemarie Wright Gerda Hasselfeldt Dr. Peter Paziorek Heinz Wiese (Ehingen)
906 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Hans-Otto Wilhelm Hans-Josef Fell Rezzo Schlauch Wolfgang Gehrcke-Reymann (C)
(Mainz) Andrea Fischer (Berlin) Albert Schmidt Dr. Klaus Grehn
Gert Willner Katrin Göring-Eckardt (Hitzhofen) Dr. Gregor Gysi
Klaus-Peter Willsch Rita Grießhaber Werner Schulz (Leipzig) Dr. Barbara Höll
Willy Wimmer (Neuss) Winfried Hermann Christian Simmert Carsten Hübner
Werner Wittlich Antje Hermenau Christian Sterzing Ulla (Ursula) Jelpke
Dagmar Wöhrl Kristin Heyne Hans-Christian Ströbele Sabine Jünger
Aribert Wolf Ulrike Höfken Jürgen Trittin Gerhard Jüttemann
Peter Kurt Würzbach Michaele Hustedt Dr. Antje Vollmer Dr. Evelyn Kenzler
Wolfgang Zeitlmann Monika Knoche Ludger Volmer Dr. Heidi Knake-Werner
Wolfgang Zöller Dr. Angelika Köster-Loßack Sylvia Voß Rolf Kutzmutz
Steffi Lemke Helmut Wilhelm (Amberg) Heidi Lippmann-Kasten
BÜNDNIS 90/ Dr. Helmut Lippelt Margareta Wolf (Frankfurt) Ursula Lötzer
DIE GRÜNEN Dr. Reinhard Loske Dr. Christa Luft
Oswald Metzger PDS Heidemarie Lüth
Gila Altmann (Aurich) Klaus Wolfgang Müller Angela Marquardt
Marieluise Beck (Bremen) (Kiel) Dr. Dietmar Bartsch Manfred Müller (Berlin)
Volker Beck (Köln) Kerstin Müller (Köln) Petra Bläss Kersten Naumann
Angelika Beer Winfried Nachtwei Maritta Böttcher Rosel Neuhäuser
Matthias Berninger Christa Nickels Eva Bulling-Schröter Christine Ostrowski
Annelie Buntenbach Cem Özdemir Roland Claus Petra Pau
Ekin Deligöz Simone Probst Heidemarie Ehlert Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Thea Dückert Claudia Roth (Augsburg) Dr. Heinrich Fink Christina Schenk
Franziska Eichstädt-Bohlig Christine Scheel Dr. Ruth Fuchs Gustav-Adolf Schur
Dr. Uschi Eid Irmingard Schewe-Gerigk Fred Gebhardt Dr. Ilja Seifert

Des weiteren gebe ich Ihnen das von den Schriftfüh- 14/145, bekannt. Abgegebene Stimmen 607. Mit Ja ha-
rern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der ben gestimmt 372, mit Nein haben gestimmt 235. Der
namentlichen Schlußabstimmung über den von der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Versor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gungsreformgesetzes 1998, Drucksachen 14/46 und DIE GRÜNEN)
(B) (D)
Endgültiges Ergebnis Rainer Brinkmann (Detmold) Dagmar Freitag Uwe Hiksch
Abgegebene Stimmen: 606; Bernhard Brinkmann Peter Friedrich (Altenburg) Reinhold Hiller (Lübeck)
davon (Hildesheim) Lilo Friedrich (Mettmann) Stephan Hilsberg
ja: 371 Hans-Günter Bruckmann Harald Friese Gerd Höfer
Edelgard Bulmahn Anke Fuchs (Köln) Jelena Hoffmann (Chemnitz)
nein: 235
Ursula Burchardt Arne Fuhrmann Walter Hoffmann
Dr. Michael Bürsch Monika Ganseforth (Darmstadt)
Ja Hans Martin Bury Konrad Gilges Iris Hoffmann (Wismar)
Hans Büttner (Ingolstadt) Iris Gleicke Frank Hofmann (Volkach)
SPD Marion Caspers-Merk Günter Gloser Ingrid Holzhüter
Wolf-Michael Catenhusen Uwe Göllner Eike Hovermann
Brigitte Adler Dr. Peter Danckert Renate Gradistanac Christel Humme
Gerd Andres Dr. Herta Däubler-Gmelin Günter Graf (Friesoythe) Lothar Ibrügger
Rainer Arnold Christel Deichmann Angelika Graf (Rosenheim) Barbara Imhof
Hermann Bachmaier Karl Diller Dieter Grasedieck Brunhilde Irber
Ernst Bahr Peter Dreßen Monika Griefahn Gabriele Iwersen
Doris Barnett Rudolf Dreßler Achim Großmann Renate Jäger
Dr. Hans-Peter Bartels Detlef Dzembritzki Wolfgang Grotthaus Jann-Peter Janssen
Eckhardt Barthel (Berlin) Dieter Dzewas Karl Hermann Haack Ilse Janz
Klaus Barthel (Starnberg) Dr. Peter Eckardt (Extertal) Dr. Uwe Jens
Ingrid Becker-Inglau Sebastian Edathy Hans-Joachim Hacker Volker Jung (Düsseldorf)
Wolfgang Behrendt Ludwig Eich Klaus Hagemann Johannes Kahrs
Dr. Axel Berg Marga Elser Manfred Hampel Sabine Kaspereit
Hans-Werner Bertl Peter Enders Christel Hanewinckel Susanne Kastner
Friedhelm Julius Beucher Gernot Erler Alfred Hartenbach Hans-Peter Kemper
Petra Bierwirth Petra Ernstberger Klaus Hasenfratz Klaus Kirschner
Rudolf Bindig Annette Faße Nina Hauer Marianne Klappert
Lothar Binding (Heidelberg) Lothar Fischer (Homburg) Hubertus Heil Siegrun Klemmer
Kurt Bodewig Gabriele Fograscher Reinhold Hemker Hans-Ulrich Klose
Klaus Brandner Iris Follak Rolf Hempelmann Walter Kolbow
Anni Brandt-Elsweier Norbert Formanski Dr. Barbara Hendricks Fritz Rudolf Körper
Willi Brase Rainer Fornahl Gustav Herzog Karin Kortmann
Dr. Eberhard Brecht Hans Forster Monika Heubaum Anette Kramme
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 907
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Nicolette Kressl Reinhold Robbe Uta Titze-Stecher Dr. Reinhard Loske (C)
Volker Kröning Renè Röspel Adelheid Tröscher Oswald Metzger
Angelika Krüger-Leißner Dr. Ernst Dieter Rossmann Hans-Eberhard Urbaniak Klaus Wolfgang Müller
Horst Kubatschka Michael Roth (Heringen) Rüdiger Veit (Kiel)
Ernst Küchler Birgit Roth (Speyer) Günter Verheugen Kerstin Müller (Köln)
Helga Kühn-Mengel Gerhard Rübenkönig Simone Violka Winfried Nachtwei
Ute Kumpf Marlene Rupprecht Ute Vogt (Pforzheim) Christa Nickels
Konrad Kunick Thomas Sauer Hans Georg Wagner Cem Özdemir
Dr. Uwe Küster Dr. Hansjörg Schäfer Hedi Wegener Simone Probst
Werner Labsch Gudrun Schaich-Walch Dr. Konstanze Wegner Claudia Roth (Augsburg)
Oskar Lafontaine Rudolf Scharping Wolfgang Weiermann Christine Scheel
Christine Lambrecht Bernd Scheelen Reinhard Weis (Stendal) Irmingard Schewe-Gerigk
Brigitte Lange Dr. Hermann Scheer Matthias Weisheit Rezzo Schlauch
Christian Lange (Backnang) Siegfried Scheffler Gunter Weißgerber Albert Schmidt (Hitzhofen)
Detlev von Larcher Horst Schild Gert Weisskirchen Werner Schulz (Leipzig)
Christine Lehder Otto Schily (Wiesloch) Christian Simmert
Waltraud Lehn Dieter Schloten Dr. Ernst Ulrich von Christian Sterzing
Robert Leidinger Horst Schmidbauer Weizsäcker Hans-Christian Ströbele
Klaus Lennartz (Nürnberg) Hans-Joachim Welt Dr. Antje Vollmer
Dr. Elke Leonhard Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Rainer Wend Ludger Volmer
Eckhart Lewering Silvia Schmidt (Eisleben) Hildegard Wester Sylvia Voß
Götz-Peter Lohmann Dagmar Schmidt (Meschede) Lydia Westrich Helmut Wilhelm (Amberg)
(Neubrandenburg) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Inge Wettig-Danielmeier Margareta Wolf (Frankfurt)
Christa Lörcher Regina Schmidt-Zadel Dr. Margrit Wetzel
Erika Lotz Heinz Schmitt (Berg) Dr. Norbert Wieczorek PDS
Dr. Christine Lucyga Carsten Schneider Helmut Wieczorek
Dieter Maaß (Herne) Dr. Emil Schnell (Duisburg) Dr. Dietmar Bartsch
Winfried Mante Walter Schöler Jürgen Wieczorek (Leipzig) Petra Bläss
Dirk Manzewski Olaf Scholz Heidemarie Wieczorek-Zeul Maritta Böttcher
Tobias Marhold Karsten Schönfeld Dieter Wiefelspütz Eva Bulling-Schröter
Lothar Mark Fritz Schösser Heino Wiese (Hannover) Roland Claus
Ulrike Mascher Ottmar Schreiner Klaus Wiesehügel Heidemarie Ehlert
Christoph Matschie Gerhard Schröder Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Heinrich Fink
Ingrid Matthäus-Maier Gisela Schröter Engelbert Wistuba Dr. Ruth Fuchs
Heide Mattischeck Dr. Mathias Schubert Barbara Wittig Fred Gebhardt
Markus Meckel Richard Schuhmann Dr. Wolfgang Wodarg Wolfgang Gehrcke-Reymann
(B) Ulrike Mehl Dr. Klaus Grehn (D)
(Delitzsch) Verena Wohlleben
Ulrike Merten Brigitte Schulte (Hameln) Hanna Wolf (München) Dr. Gregor Gysi
Angelika Mertens Reinhard Schultz Waltraud Wolff (Zielitz) Dr. Barbara Höll
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (Everswinkel) Heidemarie Wright Carsten Hübner
Ursula Mogg Volkmar Schultz (Köln) Uta Zapf Ulla (Ursula) Jelpke
Christoph Moosbauer Ilse Schumann Dr. Christoph Zöpel Sabine Jünger
Siegmar Mosdorf Ewald Schurer Peter Zumkley Dr. Evelyn Kenzler
Michael Müller (Düsseldorf) Dr. R. Werner Schuster Dr. Heidi Knake-Werner
Jutta Müller (Völklingen) Dietmar Schütz (Oldenburg) Rolf Kutzmutz
BÜNDNIS 90/ Heidi Lippmann-Kasten
Christian Müller (Zittau) Dr. Angelica Schwall-Düren DIE GRÜNEN
Franz Müntefering Ernst Schwanhold Ursula Lötzer
Andrea Nahles Rolf Schwanitz Gila Altmann (Aurich) Dr. Christa Luft
Volker Neumann (Bramsche) Bodo Seidenthal Marieluise Beck (Bremen) Heidemarie Lüth
Gerhard Neumann (Gotha) Erika Simm Volker Beck (Köln) Angela Marquardt
Dr. Edith Niehuis Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Angelika Beer Manfred Müller (Berlin)
Dr. Rolf Niese Dr. Cornelie Sonntag- Matthias Berninger Kersten Naumann
Dietmar Nietan Wolgast Annelie Buntenbach Rosel Neuhäuser
Günter Oesinghaus Wieland Sorge Ekin Deligöz Christine Ostrowski
Eckhard Ohl Wolfgang Spanier Dr. Thea Dückert Petra Pau
Leyla Onur Dr. Margrit Spielmann Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uwe-Jens Rössel
Manfred Opel Jörg-Otto Spiller Dr. Uschi Eid Christina Schenk
Holger Ortel Dr. Ditmar Staffelt Hans-Josef Fell Gustav-Adolf Schur
Adolf Ostertag Antje-Marie Steen Andrea Fischer (Berlin) Dr. Ilja Seifert
Kurt Palis Ludwig Stiegler Katrin Göring-Eckardt
Albrecht Papenroth Rolf Stöckel Rita Grießhaber Nein
Dr. Willfried Penner Rita Streb-Hesse Winfried Hermann
Georg Pfannenstein Dr. Peter Struck Antje Hermenau CDU/CSU
Johannes Pflug Joachim Stünker Kristin Heyne
Dr. Eckhart Pick Joachim Tappe Ulrike Höfken Ulrich Adam
Joachim Poß Jörg Tauss Michaele Hustedt Ilse Aigner
Karin Rehbock-Zureich Jella Teuchner Monika Knoche Peter Altmaier
Margot von Renesse Dr. Gerald Thalheim Dr. Angelika Köster-Loßack Dietrich Austermann
Renate Rennebach Wolfgang Thierse Steffi Lemke Norbert Barthle
Bernd Reuter Franz Thönnes Dr. Helmut Lippelt Dr. Wolf Bauer
908 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Günter Baumann Manfred Heise Norbert Otto (Erfurt) Dr. Susanne Tiemann (C)
Brigitte Baumeister Siegfried Helias Dr. Peter Paziorek Edeltraut Töpfer
Meinrad Belle Ernst Hinsken Anton Pfeifer Arnold Eugen Hugo Vaatz
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Peter Hintze Dr. Friedbert Pflüger Angelika Volquartz
Dr. Joseph-Theodor Blank Klaus Hofbauer Beatrix Philipp Andrea Voßhoff
Renate Blank Martin Hohmann Ronald Pofalla Peter Weiß
Dr. Heribert Blens Klaus Holetschek Marlies Pretzlaff (Emmendingen)
Peter Bleser Josef Hollerith Dr. Bernd Protzner Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Friedrich Bohl Dr. Karl-Heinz Hornhues Thomas Rachel Annette Widmann-Mauz
Sylvia Bonitz Siegfried Hornung Hans Raidel Heinz Wiese (Ehingen)
Jochen Borchert Joachim Hörster Dr. Peter Ramsauer Hans-Otto Wilhelm (Mainz)
Wolfgang Börnsen Hubert Hüppe Helmut Rauber Gert Willner
(Bönstrup) Peter Jacoby Peter Rauen Klaus-Peter Willsch
Dr. Wolfgang Bötsch Susanne Jaffke Hans-Peter Repnik Willy Wimmer (Neuss)
Klaus Brähmig Georg Janovsky Klaus Riegert Werner Wittlich
Dr. Ralf Brauksiepe Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Heinz Riesenhuber Dagmar Wöhrl
Paul Breuer Dr. Harald Kahl Franz Romer Aribert Wolf
Monika Brudlewsky Bartholomäus Kalb Hannelore Rönsch Peter Kurt Würzbach
Georg Brunnhuber Dr. Dietmar Kansy (Wiesbaden) Wolfgang Zeitlmann
Klaus Bühler (Bruchsal) Manfred Kanther Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Wolfgang Zöller
Hartmut Büttner Irmgard Karwatzki Dr. Klaus Rose
(Schönebeck) Eckart von Klaeden Norbert Röttgen F.D.P.
Cajus Caesar Ulrich Klinkert Dr. Christian Ruck
Leo Dautzenberg Dr. Helmut Kohl Volker Rühe Hildebrecht Braun
Wolfgang Dehnel Manfred Kolbe Dr. Jürgen Rüttgers (Augsburg)
Hubert Deittert Norbert Königshofen Anita Schäfer Ernst Burgbacher
Albert Deß Eva-Maria Kors Hartmut Schauerte Jörg van Essen
Renate Diemers Dr. Martina Krogmann Heinz Schemken Ulrike Flach
Thomas Dörflinger Dr. Paul Krüger Karl-Heinz Scherhag Gisela Frick
Hansjürgen Doss Dr. Hermann Kues Gerhard Scheu Paul K. Friedhoff
Marie-Luise Dött Karl Lamers Norbert Schindler Rainer Funke
Maria Eichhorn Dr. Norbert Lammert Dietmar Schlee Dr. Wolfgang Gerhardt
Rainer Eppelmann Dr. Paul Laufs Bernd Schmidbauer Hans-Michael Goldmann
Ilse Falk Karl-Josef Laumann Dr.-Ing. Joachim Schmidt Joachim Günther (Plauen)
Dr. Hans Georg Faust Vera Lengsfeld (Halsbrücke) Dr. Karlheinz Guttmacher
Ingrid Fischbach Werner Lensing Andreas Schmidt Dr. Helmut Haussmann
(B) Dirk Fischer (Hamburg) Ulrich Heinrich
(D)
Peter Letzgus (Mühlheim)
Axel Fischer (Karlsruhe- Ursula Lietz Birgit Schnieber-Jastram Walter Hirche
Land) Walter Link (Diepholz) Dr. Andreas Schockenhoff Birgit Homburger
Herbert Frankenhauser Eduard Lintner Reinhard Freiherr von Dr. Werner Hoyer
Dr. Gerhard Friedrich Dr. Klaus Lippold Schorlemer Ulrich Irmer
(Erlangen) (Offenbach) Dr. Erika Schuchardt Dr. Klaus Kinkel
Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Schulhoff Dr. Heinrich Leonhard Kolb
(Hof) Wolfgang Lohmann Diethard W. Schütze Jürgen Koppelin
Erich G. Fritz (Lüdenscheid) (Berlin) Ina Lenke
Jochen-Konrad Fromme Julius Louven Clemens Schwalbe Sabine Leutheusser-
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Michael Luther Wilhelm-Josef Sebastian Schnarrenberger
Dr. Jürgen Gehb Erich Maaß (Wilhemshaven) Horst Seehofer Jürgen W. Möllemann
Norbert Geis Erwin Marschewski Heinz Seiffert Dirk Niebel
Georg Girisch Dr. Martin Mayer Bernd Siebert Günther Friedrich Nolting
Dr. Reinhard Göhner (Siegertsbrunn) Werner Siemann Hans-Joachim Otto
Peter Götz Wolfgang Meckelburg Johannes Singhammer (Frankfurt)
Dr. Wolfgang Götzer Dr. Michael Meister Bärbel Sothmann Detlef Parr
Hermann Gröhe Dr. Angela Merkel Margarete Späte Dr. Günter Rexrodt
Manfred Grund Hans Michelbach Carl-Dieter Spranger Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gottfried Haschke Meinolf Michels Dr. Wolfgang Freiherr von Gerhard Schüßler
(Großhennersdorf) Dr. Gerd Müller Stetten Dr. Irmgard Schwaetzer
Gerda Hasselfeldt Bernward Müller (Jena) Andreas Storm Marita Sehn
Norbert Hauser (Bonn) Elmar Müller (Kirchheim) Dorothea Störr-Ritter Dr. Max Stadler
Hansgeorg Hauser Claudia Nolte Max Straubinger Carl-Ludwig Thiele
(Rednitzhembach) Günter Nooke Thomas Strobl Dr. Dieter Thomae
Klaus-Jürgen Hedrich Franz Obermeier Michael Stübgen Jürgen Türk
Ursula Heinen Eduard Oswald Dr. Rita Süssmuth Dr. Guido Westerwelle
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 909
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Hermann Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Nein. Ich möchte (C)
Kues, CDU/CSU, das Wort. zunächst einmal im Zusammenhang sprechen.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Genau!
Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Völlig richtig!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eben einen Der gesamte Gesetzentwurf ist unsozial, weil die ent-
Moment lang die Sorge, daß hier gar kein Redner der stehende Finanzierungslücke ausgerechnet durch die
SPD antreten könnte. Beiträge derjenigen gedeckt werden soll, die das gering-
ste Einkommen haben.
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Man muß doch ein-
mal zur Toilette gehen können!) Frau Ministerin, an Ihre Adresse gerichtet will ich
Dann habe ich einen Moment überlegt, ob jetzt wohl folgendes sagen: Was haben Sie nicht alles erzählt, als
es um die 620-Mark-Arbeitsverhältnisse ging! Was
Herr Dreßler, den ich oben bei Interviews gesehen hatte,
haben Sie nicht alles an Betroffenheitslyrik hier vorne
seine Bewertung des Gesetzentwurfs abgibt. Wäre er
gekommen, hätten wir uns nämlich einen Teil unserer am Rednerpult von sich gegeben! Worum es Ihnen ge-
gangen ist, ist: Sie wollten Geld für Ihre ideologischen
Redebeiträge sparen können;
Manöver in der GKV haben. Sie haben mit dem Willen
(Beifall bei der CDU/CSU) der Wählerinnen und Wähler, wie ich finde, Schindluder
getrieben.
denn schärfer können wir diesen Gesetzentwurf heute
auch kaum bewerten, als es der stellvertretende Frakti- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
onsvorsitzende der SPD getan hat.
Der Weg der vorherigen Bundesregierung, die großen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Risiken in der GKV solidarisch abzusichern und anson-
sten den Versicherten bei den kleinen Risiken eine sozi-
Wenn ich das Durcheinander, das Sie in den vergan-
alverträgliche Eigenbeteiligung zur Verbesserung der
genen Tagen und Wochen in der Gesundheitspolitik ge- Finanzgrundlagen zuzumuten, bleibt richtig.
zeigt haben, Revue passieren lasse, fällt mir eigentlich
nur die spöttische Maxime von Mark Twain ein: Als sie (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Abkassiert
das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie habt ihr!)
die Anstrengungen.
Alles andere hätte mittelfristig zu Leistungskürzungen
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) und zu einer Verschlechterung der Qualität der medizi-
nischen Versorgung geführt. Das wäre im Endeffekt un-
Der von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses sozial und auch ungerecht gewesen.
(B) 90/Die Grünen vorgelegte Entwurf eines sogenannten (D)
Vorschaltgesetzes ist nach meiner festen Überzeugung (Widerspruch bei der SPD)
nicht nur ein Schuß in den Ofen, sondern auch unnötig,
schädlich und unsozial. Ich will noch einmal – gewissermaßen als Eröff-
nungsbilanz für Sie; wir werden Sie daran messen – dar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf hinweisen, daß die gesetzlichen Krankenversiche-
rungen zu Beginn dieses Jahres eine Finanzreserve von
Darüber können auch Ihre Bemerkungen, Herr 7,6 Milliarden DM hatten und daß nach den Zahlen, die
Schmidbauer, nicht hinwegtäuschen. Er ist deswegen
uns die Krankenkassen nennen, auch dieses Jahr mit ei-
unnötig, weil sich die gesetzliche Krankenversicherung
nem Überschuß von 2 Milliarden DM zu rechnen ist.
seit der Gesundheitsreform von 1997 auf einem soli- Daran müssen Sie sich messen lassen.
den Finanzkurs befindet und weil sie der Bevölkerung
eine erstklassige medizinische Versorgung bei stabilen Deswegen ist es völlig unverständlich und auch kaum
Beitragssätzen ermöglicht hat. begründbar, wenn jetzt die neue Koalition meint, durch
überstürzte und völlig unausgegorene Maßnahmen, also
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der
geradezu durch eine Budgetierungsorgie, den Haupt-
F.D.P.)
zweck der gesetzlichen Krankenversicherung, nämlich
Der Gesetzentwurf ist schädlich, weil er die vorhande- die Sicherstellung einer erstklassigen medizinischen
nen Anreize für mehr Eigenverantwortung und mehr Versorgung, dem Primat einer Kostendämpfungspolitik
Freiheit der Versicherten erheblich schwächt, weil die opfern zu müssen.
Rücknahme von Zuzahlungen die gesetzliche Kranken- (Beifall bei der CDU/CSU)
versicherung finanziell belastet und weil die sektoralen
Budgetierungen die Gefahr der Rationierung von Lei- Damit verläßt die neue Koalition den von der vorherigen
stungen beinhalten. Bundesregierung eingeschlagenen Weg einer bedarfs-
orientierten humanen Gesundheitspolitik. Sie glauben
(Zuruf von der SPD: Die Kranken werden
angesichts der Zahlen, die Sie eben hier zu Einzel-
entlastet!)
aspekten vorgetragen haben, doch wohl nicht ernsthaft,
daß Ihre Taschenrechnerpolitik funktionieren wird.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege, ge- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es! – Zu-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmid- ruf von der SPD: Lieber Taschenrechner als
bauer? gar nicht rechnen!)
910 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Hermann Kues

(A) Wenn für den notwendigen medizinischen Bedarf der Wenn Sie ehrlich wären, müßten Sie Ihr Gesetz nicht (C)
Bevölkerung mehr Mittel erforderlich sind, müssen sie „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der GKV“ nen-
zur Verfügung gestellt werden. Dieser Bedarf kann eben nen, sondern „Gesetz zur Verstärkung der Bürokratie in
nicht durch strikte Anbindung der Ausgaben an die der GKV“.
Entwicklung der in den letzten Jahren stagnierenden
(Konrad Gilges [SPD]: Quatsch!)
Beitragseinnahmen gedeckt werden. Wer patientenori-
entiert denkt, kann nicht bereits heute durch schemati- Als unsozial, wenn nicht sogar als familienfeindlich
sche Budgets festlegen, welche medizinischen Leistun- empfinde ich die geplante Änderung der Härtefallre-
gen die Bevölkerung künftig benötigt. Wer die benötig- gelung für chronisch Kranke. Bislang war es so, daß
ten Mittel durch Budgetierungen herbeizaubern will, die Familien chronisch Kranker allenfalls 1 Prozent
nimmt Leistungskürzungen und eine schlechtere Quali- des Familieneinkommens für Zuzahlungen aufwenden
tät der medizinischen Versorgung in Kauf. Diesen Weg mußten. Künftig sind es 2 Prozent, denn der chronisch
wollen und werden wir nicht mitgehen. Kranke selbst ist zwar von Zuzahlung befreit, seine Fa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – milie insgesamt wird aber höhere Belastungen tragen
Zuruf von der SPD: Das erwarten wir auch gar müssen. Weshalb dies eine Verbesserung der geltenden
nicht!) Regelung sein soll? – Ich nehme an, Sie wissen es selbst
nicht so recht.
Wie unsolide Ihre Pläne sind, zeigt auch die Reaktion
der Krankenkassen. Sie haben bereits jetzt vor Finanzie- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)
rungslücken in Höhe von 2 Milliarden DM und vor dro- Sie kündigen an, daß Sie nächstes Jahr Strukturre-
henden Beitragssteigerungen gewarnt, die sich aus dem formen durchführen wollen. Auch wenn Sie hierzu keine
Vorschaltgesetz ergeben. Das zeigt eindrucksvoll, wie konkreten Absichten vorlegen, zumal Sie das unmittel-
unausgegoren Ihr Gesetzentwurf ist. Die massivste Kri- bare Gesetz kaum hinbekommen, so weiß bzw. ahnt
tik schlägt Ihnen ja aus Ihren eigenen Reihen in Gestalt zumindest jeder kundige Thebaner, was dies bei den von
von Rudolf Dreßler entgegen. Bei Ihnen weiß die rechte Ihnen bekannten dirigistischen und zentralistischen Vor-
Hand nicht, was die linke tut, und die linke nicht, was stellungen werden soll, jedenfalls nichts Gutes.
die rechte tut; je nachdem, wie Sie es wollen.
Ich fasse zusammen: Erstens. Die rotgrüne Koalition
Wie hat die „Frankfurter Rundschau“ am 3. Dezem- gefährdet die von uns in den vergangenen Jahren gerade
ber dieses Jahres kommentiert – sie ist ja nicht unbe- erfolgreich bewahrte finanzielle Stabilität der GKV.
dingt ein Unterstützungsorgan der CDU/CSU und der Zweitens. Die rotgrüne Koalition gefährdet die Versor-
F.D.P. –: gungsqualität und – drittens – letztendlich die Lei-
Wer so schnell seine gestern noch selbstbewußt stungsbereitschaft und die Solidarität in unserer Gesell-
(B) (D)
vorgetragenen Ideen zur Disposition stellt, verprellt schaft.
Bundesgenossen und verspielt das Wohlwollen der Vielen Dank.
Bürger.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Zuruf von der SPD: Das glauben Sie doch
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und selbst nicht!)
der F.D.P.)
– Doch, das erkläre ich Ihnen auch noch.
Im Gegensatz zur neuen Koalition wollen wir ein
freiheitliches Gesundheitswesen, in dem Versicherte
ihre Krankenkasse, ihren Arzt frei wählen können und in
Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt die
dem sie sich für verschiedene Gestaltungsformen ihrer
Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die
medizinischen Versorgung entscheiden können.
Grünen.
(Zuruf von der SPD)
Wir wollen nicht die Bevormundung durch den Staat
oder die Krankenkassen, sondern die Stärkung von Ei- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
genverantwortung und Selbstbestimmung des einzelnen. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Das muß nach unserer Auffassung das Ziel einer huma- Lassen Sie mich zunächst einmal meiner Freude Aus-
nen, am Patienten orientierten Gesundheitspolitik sein. druck verleihen. Als jemand, der seit den Jahren nach
der Wende eigentlich immer nur erlebt hat, daß das, was
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vor den Wahlen gesagt, und das, was nach den Wahlen
Wenn Sie ehrlich wären, müßten Sie zugeben, daß getan wird, nichts, aber auch gar nichts miteinander zu
Sie, entgegen Ihren Aussagen im Wahlkampf, das tun hat, habe ich schon gedacht, das sei in der Politik
Grundprinzip der Zuzahlung nicht korrigiert haben. normal. Ich bin froh, heute hier zu stehen und zu wissen:
Sie haben nur etwas an der Menge, nicht aber an dem Wir werden an diesem Tag unsere Versprechen einlö-
Element als solchem geändert. Das zeigt, wie scheinhei- sen, eins zu eins und ohne Vertun. Das ist nicht unnötig,
lig Sie auf den Veranstaltungen in den vergangenen Herr Kues, es ist vielmehr glaubwürdig. Dafür stehe ich
Monaten argumentiert haben. hier.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ordneten der F.D.P.) und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 911
Katrin Göring-Eckardt

(A) Die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD Medikamente zu reduzieren. Wir haben nicht nur zu- (C)
legen Ihnen hier in zweiter Lesung einen Gesetzentwurf rückgenommen, sondern wir haben auch weitere Anstie-
vor, der gemeinsam mit dem zuständigen Ministerium ge verhindert. Insgesamt werden damit in erster Linie
erarbeitet worden ist und vor allem zwei Dinge will: ältere Menschen und chronisch Kranke entlastet.
Erstens. Es geht darum, einige unzumutbare Bela- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt ja
stungen, die Sie während Ihrer Regierungszeit den Bür- nicht! Die Familien werden zusätzlich bela-
gerinnen und Bürgern dieses Landes auferlegt haben, zu- stet!)
rückzunehmen. Wir wollen nicht nur Wahlversprechen
Dabei sorgen wir bei denjenigen für einen ersten Entla-
einlösen. Es geht vielmehr um die Frage, wieviel Solida-
stungsschritt, für die Kranksein richtig teuer ist.
rität wir in diesem Land wollen und wieweit wir bereit
sind, für diese Solidarität auch gemeinsam einzustehen. Für die chronisch Kranken fahren wir diese Belastung
auf Null, wenn sie wenigstens 1 Prozent ihres Jahres-
Zweitens. Es war natürlich zwingend, Zuwächse und
bruttoeinkommens für Zuzahlungen aufwenden mußten.
Mehrausgaben zu begrenzen. Es geht eben nicht um eine
Gegenfinanzierung der Maßnahmen, die wir für die Ver- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Für Famili-
sicherten wollen, sondern darum, einem für das System en erhöhen Sie!)
unverkraftbaren Kostenzuwachs vorzubeugen. Wir
wollen nicht Rationierung, sondern sinnvolle Begren- – Ich komme dazu.
zung, wir wollen hochwertige Versorgung ermöglichen Die Freistellung gilt nicht für Familienmitglieder.
und keinen Einstieg in die Zweiklassenmedizin. Dies hätte auch keinen Sinn, wenn der Kranke selbst
entlastet ist. Sie hätten durchaus die Möglichkeit gehabt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) mit Ihrer Stimme eine ganz klar familienfreundliche
Maßnahme zu unterstützen, nämlich bei der Erhöhung
Zweifellos werden wir langfristig und gemeinsam mit des Kindergeldes.
allen Beteiligten eine tragfähige Lösung finden, die ei-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ach Gott!)
nerseits für Ausgabenbegrenzung sorgt, andererseits
aber zugleich ein hohes Maß an Flexibilität und Plan- Das haben Sie nicht getan, da haben Sie die Katze aus
barkeit beinhaltet. Das sind alles Dinge, die wir und das dem Sack gelassen.
Gesundheitswesen in den letzten Jahren schmerzlich
vermißt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben in der ersten Lesung einen Entwurf vorgelegt und Das müssen Sie erst mal denjenigen erklären, denen Sie
(B) deutlich gesagt: Das ist ein Diskussionsangebot. Die von immer etwas von Familienfreundlichkeit erzählen. (D)
den Regierungsfraktionen vorgeschlagene Anhörung Wir wollen das sogenannte Krankenhausnotopfer
und zahlreiche Gespräche haben zu dem, was Ihnen als unzulässige zusätzliche Belastung für die Versicher-
heute vorliegt, geführt. Wir haben Bedenken und Vor- ten aussetzen. Sie werden sich sicherlich alle nicht mit
schläge gehört und aufgenommen, soweit sie die von der einer guten Erinnerung zu beschäftigen haben, wenn Sie
Koalition beschriebenen Ziele erreichen können. Dazu an die Einführung desselben denken. Ich meine, dabei
gehört selbstverständlich auch die Stabilität der Bei- ging es überhaupt nicht um den Betrag; es ging darum,
träge. daß wieder etwas daraufgepackt wurde, wieder neu be-
Das oberste Prinzip, das uns geleitet hat und das uns lastet wurde.
auch bei den langfristigen Reformen leiten wird, ist das Ganz entscheidend mit Blick auf die Gerechtigkeit
Prinzip zwischen den Generationen ist natürlich – das hatten Sie
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hoffnung!) leider in Ihrer Regierungszeit vergessen – die Wieder-
aufnahme der Zahnersatzleistungen für nach 1978 Ge-
der Solidarität. Wir werden unter keinen Umständen borene. Tatsächlich geht es darum, daß in dieser Gesell-
zulassen, daß dieses Prinzip noch einmal aufgegeben schaft nicht allein Besitzstände etwas gelten, sondern
wird. auch die Zukunft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD)
Wir werden mit der Politik dieser Regierung die Situati- Diese und weitere Erleichterungen haben wir ange-
on der Versicherten, der Bürgerinnen und Bürger, ver- kündigt. Ich kann verstehen, daß es Ihnen nicht gefällt,
bessern; denn es muß der Trend gestoppt werden, der daß wir sie einlösen.
Gesundheit vom persönlichen Geldbeutel abhängig
macht. Das ist das zentrale Ziel, und mit dem Vorschalt- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr löst sie ja
nicht einmal ein! – Hans-Joachim Fuchtel
gesetz gehen wir einen ersten Schritt dorthin.
[CDU/CSU]: Kein Wort zur Finanzierung! –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
und bei der SPD) CSU]: Unverschämt, die war nicht dabei!)
Lassen Sie mich zu den einzelnen Vorschlägen kom- Ich weiß nicht, um was es Ihnen dabei ging, ob es Ihnen
men. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Zuzahlungen für tatsächlich um die langsame Aushöhlung des Solidar-
912 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Katrin Göring-Eckardt

(A) prinzips ging. Ich vermute das und schätze, das tun auch stellen. Wir sagen: Bei Überschreitungen, die es im (C)
diejenigen, die Sie abgewählt haben. nächsten Jahr gibt, gehen die Rückzahlungsverpflich-
tungen nicht über 5 Prozent hinaus. Das ist ein Angebot,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
und ich hoffe, das wird auch so verstanden werden.
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Natürlich war es notwendig, über diese Maßnahmen
sowie bei Abgeordneten der SPD)
hinaus die Ausgabensteigerungen zu begrenzen. Hören
Sie bitte genau hin: Es geht um die Begrenzung der Zum Abschluß noch ein paar Worte aus der Sicht der
Ausgabensteigerungen; denn die Budgets dienen nicht Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem, was wir im
der Gegenfinanzierung. nächsten Jahr vorhaben. Ohne an dieser Stelle und heute
(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Milliarde we- den Gesamtkontext beleuchten zu können, liegt mir dar-
niger ist eine Begrenzung der Steigerung? Das an, zwei Dinge anzusprechen, die ich für eine umfassen-
ist eine Mathematik!) de Strukturreform für wesentlich halte.

Wir haben die Notwendigkeit gesehen, uns den Weg für Erstens. Vorsorge und Förderung von Gesundheit
die Strukturveränderungen in diesem System, die wir muß einen hohen Stellenwert erhalten. Selbsthilfe stärkt
vorhaben, nicht finanziell zu verbauen. die Patienten. Wenn sie einen aktiven Anteil übernehmen,
sichern sie zugleich die Wirksamkeit medizinischer Lei-
Es handelt sich bei den Ausgabenbegrenzungen um stungen. Das führt nebenbei zu mehr Wirtschaftlichkeit.
außerordentlich differenzierte Lösungen, die genügend Wir wollen nicht nur auf die großen Verbände, die mit
Spielraum für qualitativ hochwertige medizinische Ver- ihren Erfahrungen und Kompetenzen für den anzuge-
sorgung der Bevölkerung lassen. Die Dramatik und die henden Reformprozeß unverzichtbar sind, zurückgrei-
Polemik, mit der die Bundesärztekammer heute ver- fen, sondern auch auf die, die in der Gesundheits- und
sucht, die Menschen zu verunsichern, wird in erster Li- Selbsthilfebewegung Erfahrungen gemacht haben. Der
nie den Ärztinnen und Ärzten schaden, und das ist sehr Boom alternativer Heilmethoden und die für die meisten
bedauerlich. Patienten große Unübersichtlichkeit in diesem Bereich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigen, daß es auch hier ein Bedürfnis gibt, Klarheit für
und bei der SPD) eine positive und verläßliche Entwicklung zu schaffen.

So haben wir bei der vertragsärztlichen Versorgung eine Zweitens. Patientinnen und Patienten müssen wieder
Steigerung um die Grundlohnsummenentwicklung, das in den Mittelpunkt gestellt werden. Immer mehr wird
sind in 1999 1,2 Milliarden DM mehr als in diesem Jahr. über ihren Kopf hinweg – nach dem Motto: Man weiß
schon, was gut für dich ist – entschieden.
(B) Besonders zu berücksichtigen war dabei für uns die (D)
Situation in den neuen Ländern, in denen sich die (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
Grundlohnsummenentwicklung um Null herum bewegt. CSU]: Wie Sie es im Moment machen!)
Hier schlagen wir einen solidarischen Ausgleich vor, ei- Wir brauchen mehr Transparenz und Kooperation.
nen Ausgleich zwischen Ost und West, der 140 Millio- Wir brauchen neue Strukturen und eine Beendigung des
nen DM transferiert und umverteilt. Bei einer solchen Denkens in Sektoren.
Regelung – das sage ich Ihnen ganz ehrlich, und das sa-
ge ich Ihnen als Thüringerin – sind mir die Proteste der (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ach nee!)
Ärzte und Ärztinnen im Osten nur zum Teil verständ- Für die von uns angestrebte Reform des Gesund-
lich. Sie können nur mit der jahrelangen Verunsicherung heitswesens, die auf Solidarität und Selbstverantwortung
zu tun haben, der sie ausgesetzt waren. beruht, brauchen wir einen breiten Dialog, der auch jen-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) seits von Detailfragen geführt wird. Es ist eine gesell-
schaftliche Diskussion über die Frage zu führen, wie wir
Dennoch hoffe ich, daß es uns gelingt, daß nicht nur die Zukunft des Gesundheitswesens gestalten wollen,
im Bereich der niedergelassenen Ärzte, sondern insge- vor dem Hintergrund der demographischen Entwick-
samt eine Gleichbehandlung im Gesundheitssystem er- lung, vor dem Hintergrund immer neuer umweltbeding-
reicht werden kann. Ich gehe davon aus, daß das mit ter Erkrankungen, vor dem Hintergrund immer neuer
diesem Vorschaltgesetz noch nicht geht; das ist völlig medizinischer Möglichkeiten und vor dem Hintergrund
klar und auch nicht zu kritisieren. Wir brauchen gemein- eines wachsenden Interesses der Bürgerinnen und Bür-
same Verantwortung in diesem Land. Die Bereitschaft ger, Gesundheitsvorsorge zu betreiben. Zu einer solchen
der Kassenärztlichen Vereinigungen, an diesem Punkt Diskussion wollen wir einladen.
mitzuarbeiten, zeigt, daß auch sie ganz klar sagen: Zur
inneren Einheit gehört, daß Starke Schwache schützen. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]: Erst die Leute vors Schienbein treten
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit den bevor- und dann zu Diskussionen einladen!)
stehenden und, wenn man sich die letzten Jahre ansieht,
auch zu erwartenden Protesten der Ärzteschaft noch et- Wir wollen sie bald führen und nicht über die Köpfe der
was sagen. Es ist nicht allein so, daß den niedergelasse- Betroffenen auf allen Seiten hinweg.
nen Ärzten Zuwächse in dem obengenannten Umfang Vielen Dank.
zugestanden werden. Es ist auch so, daß wir mit diesem
Gesetz vergangene Budgetüberschreitungen – nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
leichten Herzens übrigens – von Rückzahlungen frei- und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 913

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Gö- In Gefahr geraten werden nicht nur die Finanzen, (C)
ring-Eckardt, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. sondern auch Versorgungssicherheit und Versorgungs-
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen beglückwün- qualität. Sie wenden ein altes Prinzip an, das im Grunde
sche ich Sie recht herzlich dazu. genommen in die Müllkiste gehört: die sektorale Bud-
getierung. Ich gebe zu, auch wir haben – mit Ihrer Zu-
(Beifall) stimmung – von 1992 bis 1995 sektorale Budgets ge-
Nunmehr erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. habt. Aber damals war die Situation völlig anders. Es
Dieter Thomae, F.D.P. gab noch mehr Wirtschaftlichkeitsreserven in diesem
Bereich, die heute einfach nicht mehr vorhanden sind.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Frau Präsidentin! Mei- CDU/CSU – Regina Schmidt-Zadel [SPD]:
ne sehr geehrten Damen und Herren! In Ihren eigenen Die habt ihr verspielt!)
Reihen wird von schweren handwerklichen Fehlern ge-
sprochen. Ich kann das nur bestätigen: Es war ein Chaos. Sie begehen einen weiteren entscheidenden Fehler:
Sie wissen, daß sektorale Budgetierung jede Verzahnung
(Beifall bei der F.D.P.) unmöglich macht. Es besteht keine Möglichkeit, die ein-
Warum eigentlich? Die neue Bundesregierung über- zelnen sektoralen Budgets zu verknüpfen. Das ist der
nimmt eine gesetzliche Krankenversicherung, die kern- entscheidende Fehler.
gesund ist. (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist unsere
(Widerspruch bei der SPD – Regina Schmidt- Erblast!)
Zadel [SPD]: Und die Patienten sind krank!) – Das fällt Ihnen sehr schwer, ich weiß es. Da muß man
Die Defizite der letzten Jahre sind auf Grund von Maß- sehr kreativ sein. Sie aber gehen über alles mit der Hek-
nahmen, die die alte Koalition getroffen hat, abgebaut kenschere drüber. Das ist der Fehler. Sie müssen jetzt
worden. Für 1998 rechnen die Krankenkassen mit einem Filigranarbeit leisten.
Überschuß von mehr als 2 Milliarden DM. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Horst CSU]: Das ist verdammt schwer!)
Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Und 20 Mil- Sie müssen die Verzahnung von ambulant und stationär
liarden haben die Patienten bezahlt!) schaffen.
Auch die Situation der Krankenkassen in den neuen (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Schaffen wir!
Bundesländern ist durch die einheitliche Anwendung – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Da können
(B) des Risikostrukturausgleiches Ost und West deutlich (D)
Sie mitmachen!)
besser geworden.
Sie müssen Gedanken und Konzepte entwickeln, wie
Also, meine Damen und Herren: Die alte Bundesre- Operationssäle und Großgeräte gemeinsam genutzt wer-
gierung übergibt Ihnen eine gesunde Krankenversiche- den können.
rung.
(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Haben wir!)
(Beifall bei der F.D.P. – Horst Schmidbauer
[Nürnberg] [SPD]: Das haben die Wähler ent- – Das haben Sie nicht. – Sie müssen Konzepte zur bes-
schieden!) seren Verzahnung von Akut- und Rehabilitationsbereich
entwickeln. Und schließlich müssen Sie sich Gedanken
Aber was machen Sie? Sie kommen mit unausgegorenen darüber machen, wie die Pflege besser eingebunden
Maßnahmen und wollen diese heute beschließen. Das werden kann.
bringt in meinen Augen die finanzielle Stabilität der ge-
setzlichen Krankenversicherung in große Gefahr. Die Diese Punkte muß eine zukunftsgewandte Gesund-
Auswirkungen werden zwar wegen des mitgegebenen heitspolitik berücksichtigen.
Polsters nicht so schnell eintreten, aber sie werden (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Was Sie bisher
kommen. nicht geschafft haben!)
Die Gegenfinanzierung der Wahlgeschenke ist trotz Ihr verdammtes altes Prinzip der sektoralen Budgetie-
aller Beteuerungen schlichtweg nicht gesichert. Ich ver- rung, was alle neuen Strukturen behindert, die Verzah-
weise nur auf folgende Punkte, die Ihnen noch große nung unmöglich macht und die Patientenversorgung er-
Probleme bringen werden: die Gesetzesregelungen zu heblich schwächt, ist dazu nicht geeignet. Da muß man
den 620-Mark-Jobs, die zusätzlichen Investitionen für Sie packen, das ist Ihr großer Fehler bei diesem Vor-
die Krankenhäuser, die Sie zugesagt haben, und der Be- schaltgesetz.
reich Psychotherapie. Mit diesen Schritten werden Sie –
intern wissen Sie das genau – finanziell in erhebliche (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
Schwierigkeiten kommen. CDU/CSU – Detlef Parr [F.D.P.]: Keine neuen
Ideen!)
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Hans-
Joachim Fuchtel [CDU/CSU]) Sie sind nicht zukunftsgewandt, sondern haben Instru-
mente aus den 70er Jahren aus der Mottenkiste heraus-
Das wird die Beitragssätze massiv beeinflussen. geholt.
914 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Dieter Thomae

(A) Hinzu kommt ein ganz wesentlicher Aspekt: Die Pa- ins Krankenhaus zu verlagern? Darauf müssen wir ach- (C)
tienten werden die Leidtragenden sein. Beispiel Arz- ten. Schauen Sie sich die Fakten genau an.
neimittelbudget: Wir können gar nicht das Chaos schil-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
dern, das im Ausschuß bei der Festsetzung des Arznei-
Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist Un-
mittelbudgets geherrscht hat. Ich könnte Ihnen aufzei-
sinn!)
gen, welche Änderungen im Ausschuß eingebracht wor-
den sind. Aber ich will es dabei belassen, zu sagen, daß – Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ich
das Arzneimittelbudget fünfmal korrigiert wurde. Und scheine Sie an der richtigen Stelle getroffen zu haben.
jetzt höre ich, auch das werde von Ihnen innerparteilich
nicht akzeptiert. Man spricht schon davon, Änderungs- (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wir wollen
anträge einzubringen. keine Klientel!)
Letzter Punkt. Sie haben ja viele Wahlversprechen
Nehmen wir an, Sie wollten wirklich 1 Milliarde DM abgegeben.
einsparen. Sie, Herr Schmidbauer, schlagen vor: Schau-
en Sie sich diese KV, schauen Sie sich jene KV an; da (Zuruf von der SPD: Und eingehalten!)
und dort geht es viel besser. – Aber aus Ihren Reden aus
Sie haben vielen Patienten versprochen: Wir führen alles
der Vergangenheit weiß ich, daß Sie immer dafür plä-
zurück. Sie haben die Zuzahlungen weitgehend beibe-
diert haben, die örtlichen Gegebenheiten zu berücksich-
halten. Sie haben die chronisch Kranken im ersten
tigen, auch beim Arzneimittelbudget. Dazu gehört für
Schritt vielleicht entlastet. Im zweiten Schritt werden die
mich, daß Sie entscheiden müssen: Wie stark ist die sta-
chronisch Kranken erkennen, daß sie eben nicht entlastet
tionäre Versorgung, und wie stark ist die ambulante
werden, daß sie in der therapeutischen Behandlung eben
Versorgung in der Region? Was wird durch die ambu-
nicht mehr die gleichen Chancen wie bisher haben, bei
lante Versorgung ersetzt, und wo und wie wird die sta-
Krebs, bei Diabetes, bei Alzheimer und bei Multipler
tionäre Versorgung gemindert? Es gibt in den Ländern
Sklerose mit hochinnovativen Produkten behandelt zu
erhebliche Unterschiede in der stationären Versorgung.
werden. Wir werden hierbei Rationierungseffekte haben,
In manchen Ländern ist sie erheblich geringer als in an-
genau wie es im Krankenhausbereich Wartelisten geben
deren, dafür wird dann aber die ambulante Versorgung
wird. Dafür müssen Sie die Verantwortung übernehmen.
ausgeweitet.
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr
(Zuruf des Abg. Horst Schmidbauer [Nürn- richtig!)
berg] [SPD])
Im Kur- und Rehabilitationsbereich, zu dem Sie
– Schauen Sie sich die Daten genau an, Herr Schmid- eine Kampagne geführt haben, in der Sie den Wählern
(B) bauer, und vergleichen Sie beispielsweise die Daten von viele Versprechen gegeben haben, haben Sie mit keinem (D)
Niedersachsen und Hessen. Dabei werden Sie genau Schritt etwas geändert.
dieses Prinzip sehen.
(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Kommt alles!)
Es dürfen keine Heckenschnitte durch das Arznei-
Sie haben gesagt: Wenn wir die Verantwortung über-
mittelbudget gemacht werden. Vielmehr müssen Sie mit
nehmen, werden wir in diesem Bereich sofort Verände-
Richtgrößen arbeiten. Dann können Sie dem Patienten-
rungen herbeiführen. Nichts haben Sie getan! Sie haben
willen und auch der Arzneimittelversorgung in diesem
die Zuzahlungen nicht geändert; Sie haben die Drei-
Lande entgegenkommen. Sie machen es sich mit Ihren
Wochen-Frist nicht geändert; Sie haben auch die Inter-
Methoden des Arzneimittelbudgets zu einfach.
valle nicht geändert.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
ten der CDU/CSU)
Wenn Sie diese Versprechen abgeben und heute sagen,
Ähnlich ist es in anderen Bereichen. Sie nehmen in Sie bräuchten das Vorschaltgesetz, um diese Verspre-
den unterschiedlichen Sektoren ganz verschiedene Daten chen einzulösen, dann haben Sie einen ganz großen Be-
als Basis. Man fragt sich, warum. Warum gehen Sie im reich nicht berücksichtigt. Ich bezeichne dies als Wäh-
ärztlichen Bereich, im zahnärztlichen Bereich und im lerbetrug.
Krankenhausbereich völlig verschiedene Wege? Im
Krankenhausbereich erweitern Sie sogar noch das Vo- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Hans-
lumen, obwohl Sie selber sagen: Wir müssen den am- Joachim Fuchtel [CDU/CSU])
bulanten Bereich nennenswert ausbauen, weil er der
günstigere Bereich ist, die Leistungen also günstiger an- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Tho-
bietet. Was machen Sie jetzt? Sie erweitern den Kran- mae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
kenhausbereich. Wodarg?
(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Keine Hecken-
schere!) Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Nein.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Steht da- Wenn Sie behaupten, das Vorschaltgesetz würde un-
hinter etwa die langfristige Politik, die Freiberuflichkeit ser Gesundheitswesen in die Zukunft führen, dann kann
in diesem Lande zurückzufahren und mehr Leistungen ich Ihnen nur sagen: Dieses Vorschaltgesetz wird rück-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 915
Dr. Dieter Thomae

(A) wärts gewandt sein. Sie werden den Mut nicht aufbrin- Die Chance vom Politikwechsel hin zu einem am (C)
gen, Zukunftsperspektiven im Gesundheitssystem so Patientenbedarf orientierten und überall gleichermaßen
aufzubauen, daß es nicht in Planwirtschaft geführt wird, leistungsfähigen Gesundheitswesen steht und fällt be-
sondern im Wettbewerb der freiheitlichen Niederlassung kanntlich mit der Fähigkeit der gesetzlichen Kranken-
und der freiheitlichen Angebote. versicherung zu einem funktionierenden Solidaraus-
gleich, und zwar nicht nur zwischen den Mitgliedern ei-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – ner Kasse, sondern auch zwischen den Kassen selbst und
Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Kommt alles!) zwischen den strukturstarken und strukturschwachen
Regionen. Moderne Medizin innerhalb eines Landes
Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich erteile jetzt das verlangt nun einmal einen überall ähnlichen finanziellen
Wort der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs, PDS. Aufwand, und zwar unabhängig davon, wo die Men-
schen leben. Wer also richtigerweise Belastungen von
den Versicherten wegnimmt und sie wieder dort hin-
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine stellt, wo sie hingehören, nämlich zu den Kassen, der
Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, ich finde muß nicht nur generell für die notwendige Gegenfinan-
es schon ein bißchen eigenartig, daß Sie die Koalition zierung sorgen, sondern er muß sie von vornherein und
dahin gehend mahnen, Dinge nicht zurückgenommen zu geradezu mit besonderer Sorgfalt für die Kassen in den
haben, die Sie als absolute Voraussetzung dafür gesehen strukturschwachen Regionen absichern, konkret vor al-
haben, daß die gesetzliche Krankenversicherung über- lem auch in den ostdeutschen Ländern. Aber genau dies
haupt funktionieren kann. Das finde ich nicht fair. war im ersten Entwurf so gut wie überhaupt nicht der
Fall. Trotz beachtlicher Nachbesserung ist es aber noch
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ immer eine zentrale Schwäche dieses Gesetzes.
CSU]: Die haben sie aber versprochen!)
Ein funktionierendes Gesundheitswesen verlangt be-
Auf der anderen Seite sage ich: Man kann es wirklich kanntlich nicht nur wirtschaftlich gesunde Kassen und
nicht verstecken, daß die Regierung inzwischen – wie akzeptable Beitragssätze, sondern vor allem auch die
auch die bisherigen Debatten in diesem Hohen Hause Entwicklung eines entsprechenden Leistungsangebotes
und vor allen Dingen auch in den Ausschüssen gezeigt und gesicherter Finanzierungsmöglichkeiten. Hier aber
haben – erste Federn gelassen hat. Ihr momentanes Er- gibt es, wie wir wissen, noch immer gravierende Unter-
scheinungsbild ist, gelinde gesagt, schon ziemlich ram- schiede zwischen den alten und den neuen Bundeslän-
poniert. Was allerdings die Rücknahme eines nicht un- dern.
wesentlichen Teils der sozialen Ungerechtigkeiten der
Vorgängerkoalition betrifft, so hat diese Regierung Wort Deshalb war es richtig, daß mit dem vorliegenden
(B) gehalten, und das verdient trotz des kritisch Gesagten Gesetz die im GKV-Finanzstärkungsgesetz vorgesehene (D)
erst einmal Respekt und Anerkennung. zeitliche Begrenzung des 1999 erstmalig Ost und West
übergreifenden Risikostrukturausgleiches gestrichen
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten wurde. Dies ist ohne Frage eine wichtige Hilfe, denn es
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE stellt die finanziellen Transfers auf eine wesentlich soli-
GRÜNEN) dere Basis. Aber es wäre unseres Erachtens nur konse-
quent gewesen, auch die gegenwärtig bei 1,2 Milliarden
In diesem Kontext stehen für uns auch jene Maßnah- DM festgeschriebene finanzielle Begrenzung dieses Ri-
men des Solidaritätsstärkungsgesetzes für das Ge- sikostrukturausgleichs aufzuheben oder, wenn man dies
sundheitswesen, die Sozialabbau zurücknehmen und schon aus welchen Gründen auch immer nicht macht,
die den Grundsätzen einer solidarischen Krankenversi- diese Summe zumindest substantiell aufzustocken. Die
cherung wieder stärkere Geltung verschaffen. Dies be- jetzt bestehende Limitierung führt bekanntlich dazu, daß
grüßen wir ausdrücklich. Ein Gesundheitswesen darf für 1999 die Einkommensunterschiede in Ost und West
niemals primär wirtschaftlichen Interessen und individu- eben nur teilweise ausgeglichen werden.
eller Zahlungsfähigkeit unterworfen werden, sondern
muß sozialer Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit ver- Meine Damen und Herren, jeder weiß, daß hohe
pflichtet bleiben. regionale Arbeitslosigkeit die Finanzsituation der
Krankenkassen zusätzlich verschärft. Auch davon sind
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: So sollte es sein!) die neuen Bundesländer in besonderer Weise betroffen.
Eine Individualisierung und Privatisierung sozialer Risi- Ich möchte deshalb erneut die Frage aufwerfen, inwie-
ken nimmt, wie wir wissen, gerade auch im gesundheit- weit es geboten erscheint, die vor Jahren aus rein fiska-
lichen Bereich sehr schnell inhumane Züge an. lischen Gründen erheblich abgesenkten Krankenversi-
cherungsbeiträge, die von der Bundesanstalt für Arbeit
Es ist somit schon ein Verdienst der neuen Koalition, kommen, zumindest in den Ländern, die unter überpro-
daß sie bemüht ist, den durch die Vorgängerregierung in portional hoher Arbeitslosigkeit leiden, abhängig von
diesem Zusammenhang eingeleiteten Paradigmenwech- der tatsächlichen Höhe der Arbeitslosigkeit im Sinne
sel so rasch wie möglich wieder rückgängig zu machen. eines Nachteilausgleiches wieder anzuheben.
Hierin sehen wir das wichtigste gesellschafts- und sozi-
alpolitische Signal, welches von diesem Gesetz ausgeht Die im Gegensatz zu den Beteuerungen der Regie-
und das von niemandem zerredet werden sollte. rung auch heute noch bestehenden Unwägbarkeiten bei
der Gegenfinanzierung sowie manche Budgetfestsetzun-
(Zuruf von der SPD: Richtig!) gen, die anfangs offensichtlich ohne jedes Augenmaß
916 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Ruth Fuchs

(A) erfolgt sind, könnte man auf diese Weise weitgehend Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Leider hat Herr (C)
vermeiden. Thomae eine Frage nicht zugelassen. Deshalb melde ich
mich noch einmal, um auf die deutlichen Widersprüche
Meine Damen und Herren, wer Ausgabenbegrenzung hinzuweisen, die er uns hier präsentiert hat. Er hat näm-
in Form sektoraler Budgets einführt, muß der wirt- lich einerseits darüber geklagt, daß wir die Krankenhäu-
schaftlichen Leistungskraft und der konkreten Versor- ser nicht mehr ausgebremst hätten, daß wir im ambu-
gungssituation in den unterschiedlichen Regionen viel lanten Bereich so sparen würden und die Budgets so
stärker Rechnung tragen. Die Grundlohnentwicklung im herunterschrauben würden, aber die Krankenhäuser ver-
Osten wird, wie wir wissen, auch im laufenden Jahr im schonen würden. Andererseits hat er hinterher gesagt,
Minusbereich liegen. Deshalb war es beispielsweise daß es dann, wenn wir die Krankenhäuser mehr an die
wichtig, daß wenigstens im parlamentarischen Verfah- Kandare genommen hätten, zu Wartelisten gekommen
ren die Budgetfestlegung für die ambulante Versorgung wäre. Sie scheinen offenbar selber nicht zu wissen, was
im Osten nicht auf der Grundlage einer nach Ost und Sie wollen. Ich glaube, wir können froh sein, daß Sie
West getrennten Berechnung der Veränderungsrate der jetzt aus der Verantwortung für dieses schwierige Gebiet
Grundlohnsumme vorgenommen, sondern so modifiziert entlassen worden sind.
wurde, daß die zur Verfügung stehende Summe spürbar
aufgestockt und eine zumindest ähnliche Tendenz wie in Außerdem haben Sie gesagt: Teure Medikamente sei-
den alten Bundesländern ermöglicht wird. en dann für chronisch Kranke nicht mehr bezahlbar.
Man würde mit dem Budget nicht auskommen. Herr
Allerdings hat diese Verbesserung keine Entspre- Thomae, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir jah-
chung bei Heilmittelerbringern, wie Logopäden und an- relang versucht haben, mit Ihnen zu einer Lösung zu
deren Gesundheitsberufen, gefunden. Hier gab es bis kommen, bei der die Qualitätssicherung im Vordergrund
1990 intakte Versorgungsstrukturen, die oft eliminiert gestanden hätte, und daß wir die Positivliste eingefordert
wurden, aber hier ist bisher im Gegensatz zum Beispiel haben, damit genau die Medikamente bezahlbar bleiben,
zu den niedergelassenen Ärzten eine vergleichbare die wirklich erforderlich sind, und damit wir den Stall
Neuformierung ausgeblieben. Die Aufgabe besteht hier ausmisten, der bei uns in Deutschland bei der Arznei-
nicht nur allein darin, die Existenzgrundlagen der Lei- mittelverordnung zum Himmel stinkt. Das ist so, weil
stungserbringer zu erhalten, sondern überhaupt erst wir eben kaum Qualitätssicherung in der Medizin haben.
einmal wieder die Entwicklung einer bedarfsdecken- Ich weiß, wovon ich rede.
den Versorgung zu ermöglichen. Diese Situation ist mit
dem vorliegenden Gesetz völlig verkannt worden. Ich (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Als Amtsarzt
meine, sie sollte im Rahmen der demnächst vorzube- wissen Sie das!)
reitenden Strukturreform einen besonderen Stellenwert Dann haben Sie gelobt, daß natürlich Sie dafür ge-
(B) erhalten. sorgt haben, daß es den Krankenkassen jetzt so gutgeht. (D)
Sektorale Budgets – diese Erfahrung haben alle ge- Herr Thomae, Sie scheinen zu vergessen, daß wir nicht
macht – sind kein geeignetes Instrument zur Steuerung dafür da sind, daß es den Krankenkassen gutgeht; viel-
von Gesundheitsaufgaben. Um so unverständlicher ist mehr sind wir dafür da, daß es den Kranken gutgeht. Die
es, wenn es mit diesem Gesetz zu einem Rückfall in haben Sie in der Tat ausgeplündert; denn die Kranken –
längst überwunden geglaubte Zeiten sektoraler Budge- also diejenigen, die Medikamente und Hilfe brauchen –
tierung mit all ihren Ungerechtigkeiten sowie reglemen- waren es, die dafür gesorgt haben, daß die Kassen der
tierenden und Initiative erstickenden Begleiterscheinun- Krankenkassen so voll sind. Diesen Zusammenhang
gen kommt. Auch Sie von der Koalition hatten diese muß man doch einmal sehen. Das Geld, das die Kran-
Meinung einmal. Hier sind wir uns, glaube ich, auch ei- kenkassen jetzt als Polster haben, haben die Schwäch-
nig. sten in unserer Gesellschaft gezahlt. Das haben Sie ver-
anlaßt. Das Geld ist über die Zuzahlung hereingekom-
Auch deshalb ist abschließend aus unserer Sicht zu men. Wir versuchen jetzt, das zu korrigieren, was Sie
sagen: Das Gesetz ist – trotz dieser von mir erwähnten verbockt haben.
Mängel – ein absolut notwendiger Schritt, wenn es im
Jahr 2000 zum – ich betone – großen Wurf einer tief- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
greifenden Strukturreform im Gesundheitswesen kom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
men soll. Gleichzeitig macht es nach unserer Auffassung Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt ja
aber auch grundsätzliche Denkfehler und Versäumnisse gar nicht!)
der Koalition deutlich, die die Qualität dieses Gesetzes
erheblich beeinträchtigen. Wir werden uns deshalb der Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Dr.
Stimme enthalten. Thomae, bitte.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der PDS – Hans-Christian Ströbele Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Sehr geehrter Herr
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr weise!) Wodarg, Sie wissen genau, wenn Sie eine Positivliste
formulieren, so bedeutet dies nicht, daß Sie Kosten ein-
sparen – das behaupten Sie immer wieder, Sie scheinen
Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- sich nicht mit dieser Thematik beschäftigt zu haben –,
vention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten Dr. sondern in den Ländern, in denen es eine Positivliste
Wolfgang Wodarg, SPD. gibt, ist der Arzneimittelverbrauch bezogen auf die deut-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 917
Dr. Dieter Thomae

(A) sche Bevölkerung mindestens so hoch wie in den Län- Der nächste Punkt, Herr Dr. Thomae. Sie haben mit (C)
dern, wo es keine gibt. all den Aufgaben, die wir haben werden – Verzahnun-
gen, Krankenhausbereich –, recht. Ich frage Sie nur:
Dann müssen Sie auch klipp und klar sagen, wie Sie Warum sind Sie diese Problemlagen nicht in den letzten
es bei dieser Frage mit den Naturheilmitteln halten, 16 Jahren angegangen?
wenn Sie eine Positivliste haben. Da fällt es Ihnen aus-
gesprochen schwer, denn in dem Entwurf, der mit Ihnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
erarbeitet wurde, waren die Naturheilmittel so gut wie 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae
nicht vertreten. Das sagen Sie bitte dem deutschen Bür- [F.D.P.]: Haben wir doch in den Strukturver-
ger. Wie halten Sie es mit der Therapiefreiheit in trägen, die Sie wieder kaputtmachen!)
Deutschland? Wenn Sie die Positivliste auf diesen Weg
bringen, wird die Therapiefreiheit eingeschränkt. Diese Da sind Sie doch einfach hängengeblieben, und Sie ha-
ben sich darauf versteift, Klientelpolitik zu machen. Was
Punkte müssen Sie bei Ihrer Frage genau berücksichti-
wir jetzt machen, ist nichts anderes, als daß wir Patien-
gen.
tinnen und Patienten entlasten, daß wir für eine Bei-
Sie haben auch einen weiteren Punkt angesprochen, tragsstabilität sorgen, damit wir in dem Jahr 1999 die
sehr geehrter Herr Wodarg: Ich rate Ihnen, bevor Sie Grundlagen dafür schaffen können, daß wir all die Auf-
über die Thematik Arzneimittel, chronisch Kranke und gaben, die Sie benannt haben, gemeinsam angehen, um
Arzneimittelbudget reden, schauen Sie sich einmal ge- das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik zu stabili-
nau an: Wir haben in den letzten Jahren eine Stabilität sieren.
bei den Ausgaben im Arzneimittelbereich. Wir haben
eine Basis von 92/93. Diese Basis wird jetzt noch einmal (Aribert Wolf [CDU/CSU]: Warum jammern
die Kassen dann, daß die Gegenfinanzierung
abgesenkt. Von daher vermute ich in der Tat, daß bei
nicht steht?)
chronisch Kranken, weil ein Arzneimittelbudget mit Re-
greß besteht, innovative Arzneimittel nicht mehr so ver- – Wir haben eine Gegenfinanzierung aus dem 620-DM-
schrieben werden wie es medizinisch notwendig ist. Gesetz.
(Lachen des Abg. Dr. R. Werner Schuster (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
[SPD])
– Das mag Ihnen nicht gefallen, aber ich finde es solida-
– Ihnen fällt es schwer, dies zu verstehen, aber die Fak- risch und gerecht, wenn ein Versicherungsbeitrag erho-
ten sprechen dafür. Vor allen Dingen im Bereich der ben wird, dem auch eine volle gesundheitliche Leistung
neuen Bundesländer wird dies ein entscheidendes The- der Krankenversicherung entgegensteht. Da habe ich
ma sein, weil dort die Arzneimittelbudgets niedrig ange- kein Problem.
(B) ordnet sind. (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin ist Es muß nicht sein, daß nichts in die Krankenkassen ge-
jetzt die Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch, SPD. zahlt wird.
Der nächste Punkt, den wir haben. Sie haben vorhin
beklagt – da müssen sich die Damen und Herren von der
Gudrun Schaich-Walch (SPD): Verehrte Präsiden- Opposition einigen –, daß das, was wir an Zuzahlung
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Thomae, zurückgenommen haben, nicht genug ist. Gleichzeitig
was Sie gerade gemacht haben, ist unverantwortlich. hat der erste Redner der CDU/CSU-Fraktion gesagt, er
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hätte gerne die Zuzahlung. Sie müssen sich schon ein-
90/DIE GRÜNEN) mal einigen: entweder Zuzahlung oder keine Zuzahlung.
Wenn wir die Zuzahlungen zurückführen, – –
Sie haben uns aufgezeigt, daß wir am Ende dieses Jahres
einen Überschuß von 2 Milliarden DM in der Kranken- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Sie wollen sie
versicherung haben und wir damit sorgsam umzugehen doch abschaffen!)
haben. Das sind nicht Gelder der Krankenversicherung, – Wir haben gesagt, wir werden chronisch Kranke entla-
das sind Beiträge von Versicherten, und das sind Gelder sten. Wir haben nie etwas von Abschaffung gesagt. Wir
von denen, die als Kranke Zuzahlungen geleistet haben. werden seriös mit dem Finanzsystem umgehen, weil wir
Diese 2 Milliarden DM können eine hervorragende Ge- nur das schrittweise zurücknehmen können, was wir
sundheitsversorgung garantieren. Sie befinden sich nicht auch finanzieren können.
in guter Gesellschaft, wenn Sie glauben, Sie müßten sich
mit Dr. Villmar zusammentun und den Teufel an die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Wand malen und kranke Menschen in diesem Land ver- 90/DIE GRÜNEN)
unsichern, wohl wissend, daß ein Überschuß von 2 Mil- Damit werden wir dafür sorgen, daß Kranke bei uns
liarden DM vorhanden ist. vernünftig und ordentlich behandelt werden können und
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS daß sich ihre Finanzsituation bessert. Das tut sie sehr
90/DIE GRÜNEN) deutlich. Ich weiß, daß es Kritikpunkte gibt; aber da ma-
chen Sie meiner Meinung nach einen Denkfehler. See-
Das ist der eine Punkt. hofers Gesetz sah nämlich erst einmal 2 Prozent Zuzah-
918 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Gudrun Schaich-Walch

(A) lung vor. Wir haben sie auf 1 Prozent für ein Jahr hal- Kostenbereich, aber auch was die Qualitätsfrage anbe- (C)
biert; danach entfällt sie. Sie sind letztendlich bei 1 Pro- langt.
zent stehengeblieben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolf- 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU:
gang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Dafür prozentuale Zuzahlung!)
Natürlich! Na klar!)
Aber Sie haben nicht nur Leistungen gekürzt. Sie ha-
Aber wir sollten hier neben den Kosten auch über die ben sie bei Jugendlichen gänzlich gestrichen. Auch das
reden, um die es geht: die kranken Menschen, diejeni- werden wir in diesem Gesetz korrigieren.
gen, die mittlerweile, letztendlich auf Grund Ihrer Poli- Die Elemente, die mit Absicht von seinen Schöpfern
tik, 20 Milliarden DM Zuzahlungen leisten müssen, zu- in das Sozialgesetzbuch hineingeschrieben wurden,
sätzlich zu ihren Versicherungsbeiträgen, die gewiß nämlich Solidarität der Versicherten und ihre Stärkung,
nicht niedrig sind, aber für die sie auch eine gute Lei- sind von Ihnen verändert worden. Sie haben PKV-
stung bekommen. Wir werden mit unserem Solidaritäts- Elemente in das Gesetz eingetragen.
stärkungsgesetz zur Verbesserung ihrer Lage beitragen.
Wir werden auf der anderen Seite auch die berücksichti- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
gen, die in diesem System arbeiten: die Ärzte. So wer- CSU]:Das war aber sehr vernünftig!)
den sich die Einnahmen der Ärzte im Jahre 1999 gegen-
über dem Jahr 1997 bundesweit voraussichtlich um Sie haben einen Weg eingeleitet, nach dem Medizin
1,2 Milliarden DM erhöhen. nach Kassenlage des einzelnen Patienten verabreicht
werden sollte. Sie haben das heute wieder mit Ihrer For-
Mein Kollege Schmidbauer hat schon gesagt, wie wir derung nach einer Grundversorgung bekräftigt; alles an-
das Budget im Psychotherapeutengesetz ausgestalten. dere kann sich dann derjenige kaufen, der es sich leisten
Daß dies nun geschehen muß, haben Sie uns einge- kann.
brockt. Sie hatten nicht den Mut und die Kraft, ein Bud-
get bereitzustellen, das dafür sorgt, daß man diese Lei- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer hat denn
stung tatsächlich den Versicherten zugute kommen las- das gefordert? – Wolfgang Lohmann [Lüden-
sen kann. scheid] [CDU/CSU]: Wer war denn das?)
Ein solches Gesundheitssystem ist mit uns nicht zu ma-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen. Dafür haben Sie die Quittung bekommen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr.
Dieter Thomae [F.D.P.]: Warten Sie es ab!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (D)
Was die innovativen Strukturverträge betrifft, kann [PDS])
die Gesamtvergütung der Ärzte noch einmal um 0,6 vom
Hundert erhöht werden. Die Koalition wird im übrigen Wir werden diese PKV-Elemente in diesem Vorschalt-
dafür Sorge tragen, daß das Budget der Ärzte so gestal- gesetz zurücknehmen.
tet wird, wie im Gesundheitsgesetzentwurf vorgesehen.
Sie sehen: Die medizinisch notwendige Versorgung Jetzt noch ein paar Worte zum Beratungsverfahren.
wird mit einem ausreichenden Budget versehen; das ist (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Oh!)
auch bei anderen Leistungen so.
Ich möchte Ihnen auch hier dafür danken, daß Sie sich
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das sehen viele im Gesundheitsausschuß, auch wenn Sie jetzt so hä-
anders!) misch dazwischenrufen, Herr Dr. Thomae, sehr koope-
rativ gezeigt haben.
Durch die Rücknahme einer Änderung durch das
2. GKV-Neuordnungsgesetz haben wir die zahnmedizi- Ich möchte auch etwas zu der gebotenen Eile sagen,
nische Versorgung dahin zurückgeführt, wo sie hinge- mit der wir an die Dinge herangegangen sind. Sie wa-
hört. Da müssen Sie sich vorhalten lassen, daß Sie Ver- ren doch so perfide, ein Gesetz zu verabschieden, des-
antwortung dafür tragen, daß es Umsatzrückgänge bis zu sen Auswirkungen auf die Krankenversicherten erst
37 Prozent gegeben hat, weil Patientinnen und Patienten am 1. Januar 1999 zum Tragen kommen, damit Ihnen
verunsichert waren das bei der Bundestagswahl nicht die Petersilie ver-
hagelte.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Von wem
wurden Sie verunsichert? – Dr. Dieter Thomae (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
[F.D.P.]: Von wem denn?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und weil sie zum Teil auch einfach nicht die Mehrkosten Das hat uns letztendlich zu dieser Eile gezwungen, da
tragen konnten. Zu was hat das letztlich geführt? Es wir zum Beispiel verhindern wollten, daß ab 1. Januar
hat dazu geführt, daß Zahnarztpraxen geschlossen wur- 1999 Kranke je Behandlung bei Psychologen 10 DM
den und Zahntechniker in den Ruin getrieben wurden. zuzahlen müssen, daß weitere Zuzahlungen automatisch
Wir werden jetzt dafür sorgen, daß die Patienten den mit den Einkommen erhöht werden; das alles sollte am
notwendigen Zahnersatz erhalten und daß die Kranken- 1. Januar in Kraft treten. Denn Sie haben natürlich kal-
kassen wieder dafür Sorge tragen, daß es bei all dem kuliert, daß, wenn das am 1. Januar in Kraft getreten wä-
immer im Sinne der Patienten läuft, zum einen was den re, die Leute gesagt hätten: Guckt mal, was die Sozis
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 919
Gudrun Schaich-Walch

(A) und die Grünen da gemacht haben! Aber so lassen wir wir garantieren Ihnen: Wir regieren sicher länger als vier (C)
Sie nicht aus der Sache heraus. Deshalb beeilen wir uns. Jahre.
Deshalb haben wir Streß gehabt. Ich danke Ihnen für Ihr
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Verhalten, das Sie im Ausschuß gezeigt haben. Ich bin 90/DIE GRÜNEN)
froh darüber, daß wir dieses Gesetz, das wir jetzt haben,
verabschieden werden.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat jetzt
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS der Abgeordnete Wolfgang Zöller, CDU/CSU.
90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der F.D.P.: Sie
sollten die Koalition nicht so schonen!) (Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte noch einen Beitrag dazu leisten. Während


Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
des Beratungsverfahrens sind natürlich auch Verände-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die
rungswünsche an uns herangetragen worden, unter ande-
rem der Wunsch, das eine oder andere noch ergänzend letzten Tage Diskussionen mit Rotgrün führt, dann hört
man immer, Sie hätten ein Problem, das Gesetz sei so
mit aufzunehmen.
schnell gestrickt worden. Ich glaube, es geht nicht um
das Problem, daß Sie zu schnell gestrickt haben. Das
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin, ge- Problem liegt darin: Sie wußten nicht, ob Sie einen Pull-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aribert over oder eine Hose stricken wollten. Zum Schluß kam
Wolf? eine langärmelige Unterhose heraus, wenn ich mir das
Ding hier genau anschaue.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Gudrun Schaich-Walch (SPD): Nein, das wurde ordneten der F.D.P.)
vorhin bei meinem Kollegen auch nicht gestattet. Das
werde ich jetzt auch so handhaben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, im wesent-
lichen führen Sie doch zwei Gründe an, warum ein Vor-
Wir haben die Veränderungswünsche, die an uns her- schaltgesetz notwendig ist. Erstens: Beitragssatzstabili-
angetragen worden sind, diskutiert. Wir haben entschie- tät. Dies bräuchten Sie zur Vorbereitung einer Struktur-
den, daß wir diese Veränderungswünsche zurückstellen reform. Aber die Ausgabenentwicklung 1997 plus
müssen, auch im Bereich von Rehabilitation, auch das 1,1 Milliarden DM und 1998 plus 2 Milliarden DM wi-
Gesundheitsstrukturgesetz, weil wir das, was wir jetzt derspricht ja gerade dem, was Sie vorhaben. Auf Grund
gemacht hätten, damit absolut überfordern würden. Au- dieser Zahlen brauchen Sie kein Vorschaltgesetz.
ßerdem handelt es sich bei dem Thema Rehabilitation
(B) um eine Problemlage, die weitaus größer ist als die der Frau Kollegin Schaich-Walch, Sie sagen, wir seien (D)
Zuzahlung von 25 DM auf 17 DM. die Probleme nicht angegangen. Wir haben sie sogar
gelöst! Schauen Sie sich doch einmal die Beitragsent-
(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Was haben Sie im wicklungen der letzten fünf, sechs Jahre an: stabile Bei-
Wahlkampf versprochen?) träge. Schauen Sie sich die Kassenlage der gesetzlichen
Krankenversicherungen an: Überschüsse. Da sagen Sie,
Wir haben erste Maßnahmen im Bereich der Rehabi- die Aufgaben sind nicht gelöst worden? Dann müssen
litation eingeleitet. Wir haben nämlich die Streichung Sie sich einmal die Ergebnisse anschauen.
von Urlaub wieder rückgängig gemacht. Wir werden
gemeinsam mit Vertretern aus dem Bereich der Renten- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
versicherung darüber diskutieren, daß wir für die Reha- Zurufe von der SPD: Zuzahlungen!)
bilitation Rahmenbedingungen schaffen. Dort entschei- Alle Fachleute sind sich da mit uns einig. Aus diesem
den wir uns nach Qualität. Grund allein ist das Vorschaltgesetz nicht notwendig.
Wenn Sie glauben, daß wir jetzt innerhalb von zwei Das zweite, was Sie ansprechen, ist die soziale Ge-
Wochen im Kur- und Rehabereich das reparieren kön- rechtigkeit. Sie prangern insbesondere die Zuzahlungs-
nen, was Sie mit Ihrer rabiaten Kürzung in Schutt erhöhung von 5 DM als unsozial an. Sie können mir ab-
und Asche gelegt haben, dann machen Sie den Bür- nehmen, daß uns diese Zuzahlungserhöhung bestimmt
gern etwas vor. Ihnen vorzumachen, daß man mit der nicht leichtgefallen ist.
Absenkung der Zuzahlungen Kliniken, die vor der
Schließung stehen, noch retten kann, auf diesen Weg
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Zöller,
bringen Sie uns nicht. Wir werden das Thema ver-
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei-
antwortungsbewußt angehen, nach dem, was wir benö-
fert?
tigen, und die Qualität im Bereich der Rehabilitation
stärken.
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ich habe keine Angst
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) vor Zwischenfragen.
So, wir haben im Wahlkampf sehr viel versprochen.
Da haben Sie recht. Wir haben uns auch mit Eile an Dr. Ilja Seifert (PDS): Herr Kollege Zöller, Sie spra-
die Umsetzung der Versprechen herangemacht. Wir chen davon, daß Sie während Ihrer Regierungszeit Bei-
werden diese Versprechen schrittweise umsetzen; denn tragsstabilität gewährleistet hätten.
920 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Ilja Seifert

(A) Wollen Sie nicht zugeben, daß die Erhöhung der Zu- tag in Eisenach im Jahre 1997, daß sich die Beitragsre- (C)
zahlung auch eine Erhöhung der Beiträge ist, und zwar lation von 50:50 zwischen Arbeitern Angestellten hier
ausschließlich von den Kranken bezahlt? und Unternehmen dort auf zwei Drittel zu einem Drittel
zu Lasten der Arbeitnehmer verändert habe?
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Selbstverständlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn Sie sich noch zwei Minuten gedulden, dann werde
ich Ihnen das vorrechnen und begründen. Einverstanden?
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ich kann Ihnen sa-
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Aber eine Erhöhung gen: Die Zahlen, die ich Ihnen vorgetragen habe, bezie-
der Beiträge ist es doch?!) hen sich auf die 5 DM Zuzahlungserhöhung. Meine
– Ja, selbstverständlich. Zahlen stimmen. Ich bin gerne bereit, das mit Ihnen im
Privatissimum nachzurechnen. Herr Kollege Dreßler,
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Ich will einfach darauf das ist doch ganz einfach: Bisher hatten wir eine Zu-
hinweisen, daß Sie auch das berücksichtigen zahlung von 9 Milliarden DM. Dann kamen die 5 DM
sollten) dazu. Mit diesen 5 DM – vorher waren es 51,9 Prozent –
– Ich stehe dazu und werde das gleich auch mit Zahlen sind es 53 Prozent.
belegen. (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist ja wunderbar!) Vollmer)
Kommen wir zu der sozialen Ungerechtigkeit, die Sie An diesen Zahlen ist nichts zu ändern.
uns vorhalten. Ich glaube, eines müssen Sie uns einge- (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Die Rechnung
stehen: Diese Zuzahlungen haben dazu geführt, daß will ich sehen!)
durch sie die Beitragssatzstabilität gewährleistet und daß
– das ist für mich viel wichtiger – die Versorgungssi- – Ich bin gern bereit, in der nächsten Sitzung des Ge-
cherheit auf hohem Niveau über das ganze Jahr sicher- sundheitsausschusses Ihnen diese Rechnung vorzulegen.
gestellt wurde. (Abg. Dreßler meldet sich zu einer weiteren
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Zwischenfrage)
Dieter Thomae [F.D.P.])
Weil Sie, Herr Schmidbauer, gerade so lachen muß ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte, Herr
an diesem Punkt sagen – Entschuldigung, fast hätte ich Kollege Dreßler.
etwas anderes gesagt –, Sie haben doch die Leute verun-
(B) sichert, indem Sie gesagt haben: Das wird unsozial, die (D)
Rudolf Dreßler (SPD): Herr Zöller, entschuldigen
Versicherten müssen alles bezahlen. Ich zitiere Sie
Sie, wenn ich nachbohre. Räumen Sie mir denn wenig-
wortwörtlich: „einseitig gewaltig verschoben“.
stens ein, daß es, wenn die These des ehemaligen Ge-
Mit Zahlen kenne ich mich ein bißchen aus. Mit Ihrer sundheitsministers auf dem Deutschen Ärztetag zutrifft,
Zustimmung, auch mit der des Herrn Kollegen Dreßler, unmöglich richtig sein kann, was Sie hier gerade in Pro-
lag die Zuzahlung für die Versicherten früher bei 51,9 zentzahlen zum Ausdruck gebracht haben?
Prozent. Diese Zuzahlung ist jetzt um 1,1 Prozent ver-
ändert worden. Und Sie sprechen jetzt von „einseitig“
und „gewaltig“. Es tut mir leid, sagen zu müssen: Sie Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ich kann wiederum
verunsichern die Leute mit unwahren Zahlen. Ich sage nur meine Zahlen bestätigen, die ich vorgetragen habe.
noch einmal: Eine ganzjährige Versorgungssicherheit ist Die kann ich beweisen.
mir diese erhöhte Zuzahlung wert. (Rudolf Dreßler [SPD]: Dann stimmt die Aus-
Weiter stellt sich für mich die Frage, was ist ge- sage Seehofers nicht. Schönen Dank!)
rechte – – Es ist immer gefährlich, einen Satz aus dem Zusam-
menhang zu reißen. Man müßte einmal sehen, was da
Vizepräsidentin Petra Bläss: Apropos Frage, Herr insgesamt gesagt worden ist. Ich bin sicher, daß unser
Kollege. Der Kollege Dreßler möchte ebenfalls eine früherer Minister Seehofer genau richtig gehandelt hat.
Zwischenfrage stellen. Auf seine Zahlen konnte man sich verlassen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Aber Sie halten bitte
Für mich stellt sich natürlich schon die Frage: Was ist
die Uhr an! Sie läuft nämlich weiter.
gerechter, sozial verträgliche Zuzahlungen oder Aus-
grenzungen von Leistungen am Ende eines Jahres?
Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Zöller, nach-
dem sie gerade dem Hohen Hause die Unterschiede in
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord-
der Zuzahlungsarithmetik zwischen Ihrer Politik und der
neter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
Politik, die wir als sozialdemokratische Fraktion mitge-
tragen hätten, erläutert haben, frage ich Sie: Wie be- ten Seehofer?
werten Sie die Äußerung des ehemaligen Bundesge-
sundheitsministers Seehofer auf dem Deutschen Ärzte- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Dem sei so.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 921

(A) Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Zöller, Sie nehmen den Leuten mehr aus der linken Tasche, als (C)
Sie sind sicherlich meiner Meinung – das nehme ich an –, Sie versprochen haben, ihnen in die rechte Tasche zu
daß ich das, was der Kollege Dreßler gerade behauptet geben.
hat, auf dem Ärztetag nicht einmal geträumt habe?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Sie sehen, hier kann man nicht von Gerechtigkeit spre-
chen. Sie haben nämlich einfach zu viele handwerkliche
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ich kenne Sie sehr Fehler gemacht.
gut; aber in Ihre Träume bin ich noch nicht vorgedrun- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein weiterer
gen. Wenn Sie das hier bestätigen, dann bin ich selbst- Punkt ist, daß mit der Einführung Ihrer Positivliste auf
verständlich Ihrer Meinung. chronisch Kranke künftig viele Mehrbelastungen zu-
Lassen Sie mich auf einen weiteren Widerspruch von kommen werden, weil sie dann nämlich alle ausgeschie-
Ihnen zurückkommen. Sie haben den chronisch Kran- denen Medikamente alleine voll zahlen müssen, ohne
ken eine besondere Entlastung versprochen. Aber hier daß es ihnen angerechnet wird. Ich halte es schon für
geht es Ihnen wie bei der Ökosteuer: Die Verpackung paradox, daß man chronisch Kranke entlasten will und
verspricht etwas anderes, als der Inhalt dann hergibt. ihnen im gleichen Atemzug durch Arzneimittel, deren
Kosten nicht übernommen werden, neue Belastungen
(Beifall des Abg. Hans-Joachim Fuchtel aufbürdet.
[CDU/CSU])
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ich werde Ihnen das jetzt an einem Beispiel belegen:
Die sogenannte Erleichterung für chronisch Kranke im In diesem Zusammenhang ist noch etwas festzustel-
Vorschaltgesetz führt in der Praxis zu erheblichen len – damit die Bevölkerung auch weiß, welch tolle Re-
Nachteilen für die Familien. Bisher mußten Familien, in gelung Sie in Ihrem Gesetzentwurf haben –: Sie verteu-
der eine Person chronisch krank war, Zuzahlungen in feln die Bonusregelung, die wir in unserem Gesetz ha-
Höhe von maximal 1 Prozent ihres Familieneinkom- ben. Das gleiche machen aber auch Sie. Sie haben in Ih-
mens leisten. rem Gesetz geregelt: Wenn die Ärzte Arzneimittelko-
sten einsparen, kann das eingesparte Geld – ich sage es
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wieviel war etwas überspitzt – für die Honorarvergütung genom-
das?) men werden.
Die neue Regelung sieht zwar vor, daß der chronisch (Bundesministerin Andrea Fischer: Nein!)
Kranke nach einem Jahr von der 1prozentigen Zuzah-
(B) lung befreit wird. Was aber auf den ersten Blick wie ei- – Entschuldigung, die Fraktion der SPD, der ich nicht (D)
ne Verbesserung aussieht, beinhaltet jedoch eine erheb- angehöre, hat zu diesen Strukturverträgen geschrieben,
liche Benachteiligung für Familien, denn Ihre neue Zu- daß Einsparungen aufgrund eines Unterschreitens
zahlungsregelung gilt nur für den chronisch Kranken des Budgets für Arznei-, Verband- und Heilmittel
selbst und nicht – wie bisher – auch für die Familien- mit dem Ziel der Verbesserung ... verwendet wer-
angehörigen. Die übrigen Familienangehörigen und Mit- den können. Hier liegt eine sehr interessante Ge-
glieder müssen künftig bis zu 2 Prozent des Familien- staltungsmöglichkeit für die Selbstverwaltung ...
einkommens für Zuzahlungen aufbringen. Das bedeutet
eine Verdoppelung der Zuzahlungen für diese Familien. (Bundesministerin Andrea Fischer: Was stand
da noch? Zur Verbesserung ...?)
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Unerhört!)
– Daß sie zur
Wieso das eine Erleichterung für chronisch Kranke ist,
müßten Sie mir einmal zu erklären versuchen; das wird Verbesserung der Qualität der Versorgung verwen-
Ihnen nicht gelingen. det werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich versuche es auch einmal mit einem Zahlenbei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Moment, Herr
spiel, weil eine Kollegin der Grünen gesagt hat, man Zöller! – Ich wollte der Frau Ministerin nur sagen: Sie
könne das mit dem Kindergeld ausgleichen: Auch das ist dürfen von der Regierungsbank nicht dazwischenrufen,
eine Milchmädchenrechnung. Für eine Familie mit ei- sondern die Regierung muß sich anhören, was das Par-
nem Kind und einem Monatseinkommen von 5 000 DM, lament, die Parlamentarier ihr sagen.
in der ein Familienmitglied chronisch krank ist, bedeutet
die Neuregelung, daß sie mit jährlichen Zuzahlungen bis
zu einer Höhe von 1 200 DM belastet wird. Die alte Re- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das heißt: Im Klar-
gelung – unsere Regelung – hat eine maximale Zuzah- text fordern Sie doch praktisch die Leute auf, durch Ein-
lungshöhe von 600 DM vorgesehen. Da reicht Ihre Kin- sparung bei den Medikamenten das ärztliche Honorar zu
dergelderhöhung von 360 DM pro Jahr nicht einmal aus, steigern. Hätten wir einen solchen Vorschlag gemacht,
um die 600 DM Differenz, die die Familie mehr zahlen hätte ich einmal hören wollen, wie die linke Seite dieses
muß, auszugleichen. Hauses unseren Vorschlag zerrissen hätte.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Noch etwas – auch das müssen Sie sich anhören –:
ordneten der F.D.P.) Wir haben nicht die Zuzahlung kritisiert, wir haben kri-
922 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Wolfgang Zöller

(A) tisiert, daß Sie vor der Wahl gesagt haben, Sie nehmen Sie kritisieren uns und machen sich dabei das eine Mal (C)
die Erhöhung der Zuzahlung um 5 DM zurück. die Kritik des einen Leistungserbringers und das andere
Mal die Kritik eines anderen Leistungserbringers zu ei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen. Das Ergebnis ist zum einen eine Kritik, die besagt:
der F.D.P.) „Ihr gebt zuviel Geld aus!“, und zum anderen eine Kri-
Was haben Sie gemacht? Bei kleinen Arzneimittelpak- tik, die besagt: „Ihr spart zuviel ein!“ Sie müssen sich
kungen wird die Zuzahlung um 1 DM zurückgenom- wirklich entscheiden, was die Stoßrichtung Ihrer Kritik
men, bei Kuren und Fahrtkosten gibt es keine Rücknah- sein soll.
me des Satzes. Sie haben den Wähler getäuscht. Das (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist doch Ihre
kritisieren wir. Wir stehen zur Zuzahlung. Stoßrichtung!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beide Kritikpunkte können nicht gleichzeitig zutreffen.
Ich komme zum Schluß: Sie, meine sehr geehrten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Damen und Herren, bestrafen die Ehrlichen auch noch und bei der SPD)
mit Ihrer Krankenhausnotopferregelung. Die Ehrli-
chen sind bei Ihnen wieder die Dummen, weil sie dop-
pelt bezahlen. Sie haben nämlich ihren Beitrag in Höhe
von 20 DM oder 60 DM im Jahre 1997 gezahlt. Nun Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Ministe-
müssen sie mit ihrem Beitrag zur gesetzlichen Kranken- rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöl-
versicherung die sich ergebenden Mindereinnahmen ler?
mitfinanzieren. Statt die Verpflichtung der Länder ein-
zufordern, gehen Sie den bequemen, aber wie ich meine,
ungerechten Weg. Deshalb ist Ihr Vorschaltgesetz un- Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit:
ausgegoren und unnötig. Ja.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Geben Sie mir recht,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die wenn ich sage, daß Sie gerade das Gegenteil von dem
Frau Bundesministerin Andrea Fischer das Wort. gesagt haben, was ich zum Ausdruck gebracht habe? Ich
habe klipp und klar gesagt: Ich stehe zu diesen Zuzah-
lungen, weil ich sie für sozial gerechter halte. Ich kriti-
Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit:
siere nur, daß Sie vor der Wahl den Menschen verspro-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Zöl-
(B) ler, trotz der Versuche, Ihre Kritik am Schluß Ihrer Rede chen haben, daß die Zuzahlung um 5 DM verringert (D)
wird. Nun wollen Sie eine Reduzierung um eine lumpige
zu begründen, muß ich Ihnen sagen: Die Kritik trifft
Mark. Damit haben Sie die Wähler getäuscht.
nicht zu. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie an
unserer Politik kritisieren wollen. Wollen Sie kritisieren, Hätten Sie vor der Wahl gesagt, daß es eine Verringe-
daß wir unsere Wahlversprechungen und Zusagen nicht rung der Zuzahlung für Arzneimittel nur um 1 DM ge-
einhalten? ben wird, anstatt zu sagen, die Zuzahlung beträgt in Zu-
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie halten kunft 8, 9 und 10 DM, dann würde ich Sie nicht kritisie-
ren. Was wollen Sie erreichen? Sie wollen die Zuzah-
sie nicht ein!)
lung um 1 DM reduzieren. Mich hat geärgert, daß Sie
Oder wollen Sie kritisieren, daß wir wichtige Parameter dem Wähler vor der Wahl mehr versprochen haben, als
der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigen, Sie nun halten wollen. Hätten Sie vor der Wahl gesagt,
zum Beispiel die Beitragssatzstabilität und die Frage der wir können keine Reduzierung um 5 DM durchführen,
Gegenfinanzierung? würde ich nicht Kritik äußern.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das hätten Sie Ich stehe zu der Zuzahlung. Nur haben Sie nach mei-
vor der Wahl machen müssen!) ner Ansicht die Wähler getäuscht, weil Sie mehr ver-
sprochen haben, als Sie jetzt halten.
Bei Ihrer Kritik an diesem Gesetz sind Sie intellektuell
ausgesprochen unredlich vorgegangen.
Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Zöller, Ihnen bleibt ja erspart, Ihre Versprechungen
und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU:
Opportunistisch!) im Zusammenhang mit der Steuerreform einhalten zu
müssen.
Angesichts der komplexen Interessenlage im deut-
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie reden
schen Gesundheitswesen ist doch vollkommen klar:
Wenn man ein solches Vorhaben durchführt – die Zeit jetzt von anderen Sachen!)
spielt dabei keine Rolle –, dann ist der größte Teil der Daher kann ich verstehen, daß Sie uns jetzt diesen Vor-
Kritik politisch motiviert und in der Regel von Interes- wurf machen wollen.
sen geleitet.
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Zur Sache!
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Nein!) – Zuruf von der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 923
Bundesministerin Andrea Fischer

(A) – Nein, wir wollen jetzt nicht darüber reden. Wir könn- Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: (C)
ten Ihr Wahlprogramm genauso auseinandernehmen. Wir haben uns am Grundsatz der Beitragssatzstabilität
orientiert. Dazu will ich ganz deutlich sagen: Beitrags-
(Weitere Zurufe von der F.D.P.)
satzstabilität ist im Interesse der Versicherten, die nicht
– Ich kann Ihnen gerne das Manuskript meiner Rede aus so hohe Beiträge zahlen können. Das ist an die Adresse
der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes zeigen. der Leistungserbringer gerichtet, aber auch an die
Adresse der vorigen Bundesregierung, die nämlich die
(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und Beitragssatzstabilität zu Lasten der Versicherten ge-
der F.D.P.) währleistet hat. Formal blieben die Sozialversicherungs-
– Meine Herren, entweder Sie wollen eine Antwort von beiträge zwar unverändert, aber gleichzeitig sind die Zu-
mir – in diesem Fall lassen Sie mich jetzt reden –, oder zahlungen ständig gestiegen.
Sie lassen es bleiben. In diesem Fall antworte ich Ihnen Wenn Sie jetzt darauf verweisen, daß es Zuzahlungen
nicht auf Zwischenfragen. gegeben hat, denen auch die frühere Opposition zuge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmt hat, dann sage ich Ihnen: Das ist in diesem Zu-
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues sammenhang irrelevant; die Zuzahlungen sehen aus der
[CDU/CSU]: Zur Sache sollen Sie etwas sa- heutigen Perspektive der Versicherten anders aus, weil
gen!) die Belastung der Versicherten an eine Schallmauer ge-
stoßen ist.
Ich habe schon in der ersten Lesung gesagt: Auch ich
hätte mir eine stärkere Reduktion der Zuzahlungen ge- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das stimmt
wünscht. Dieses geht nicht, weil wir die Beitragssatzsta- ja einfach nicht!)
bilität und auch die Konsequenzen aus der Gegenfinan- Deswegen muß hier dringend etwas getan werden. Es ist
zierung zu beachten haben. gut und richtig, daß dieser Gesetzentwurf die übermäßi-
ge Belastung der Versicherten in dem Maße zurückführt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wie wir es zur Zeit finanzieren können.
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues
[CDU/CSU]: Das wußten Sie aber vorher!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues
Es ist nicht so einfach, die von Ihnen hinterlassene Hy-
[CDU/CSU]: Das ist die Unwahrheit! Das
pothek, die Zuzahlung der Versicherten in Höhe von 20 wissen Sie ganz genau!)
Milliarden DM, in einem Schritt um die Hälfte zu redu-
zieren. Die Reduktion um 1 DM, von der Sie sagen, das Hier ist bereits vieles zu den Gegenfinanzierungs-
sei nur eine lumpige Mark, bedeutet insgesamt eine maßnahmen gesagt worden, die ausreichen, um die Bei-
(B) Summe von 1 Milliarde DM, was in der Krankenversi- tragssatzstabilität zu gewährleisten. Aber ich möchte et- (D)
cherung viel ist. Deswegen akzeptiere ich Ihre Kritik was aufgreifen, was im Moment im Mittelpunkt der
nicht. Auseinandersetzungen steht: Die neue Regierung habe
doch eine stabile Krankenversicherung mit Über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schüssen in Höhe von 2 bis 3 Milliarden DM übernom-
und bei der SPD – Dr. Dieter Thomae men. – Das ist richtig.
[F.D.P.]: Sie haben mehr versprochen!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mitte des Jah-
res haben Sie noch von 6 Milliarden DM Defi-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Ministe- zit gesprochen!)
rin, es gibt weitere Wünsche nach Zwischenfragen.
Aber um welchen Preis? Daß wir im Moment einen
Überschuß in der gesetzlichen Krankenversicherung ha-
Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: ben, ist die Folge der von Ihnen eingeführten Kostener-
Ich wünsche keine weiteren Zwischenfragen, weil die stattungsregelung, die zu Verwirrung und Streit in den
Herren offensichtlich lieber selber reden, als mir zuzu- Zahnarztpraxen sowie schließlich dazu geführt hat, daß
hören. der Umsatz in den Zahnarztpraxen zum Teil um 30 Pro-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zent und mehr zurückgegangen ist. Um diesen Preis ha-
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues ben Sie den Überschuß in diesem Jahr erwirtschaftet,
[CDU/CSU]: Das ist am Thema vorbei!) und diesen Preis wollen wir im nächsten Jahr nicht mehr
zahlen. Deswegen brauchen wir andere Maßnahmen.
Ich stelle fest, daß mit diesem Gesetzentwurf ein ganz
klarer Kurs eingeschlagen worden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Detlef Parr [F.D.P.]: Der
(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und Preis wird künftig noch höher!)
der F.D.P.)
Niemand von uns hat je bestritten, daß die sektorale
Budgetierung nur eine Übergangsphase darstellen kann;
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kolle- niemand von uns hat bei der ersten Lesung des Gesetz-
ginnen und Kollegen, Sie müssen ein bißchen ruhiger entwurfes etwas anderes gesagt. Wir haben die sektorale
sein, damit man die Ministerin verstehen kann. Budgetierung nur auf ein Jahr angelegt.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist Un-
Wir verstehen sie sehr gut!) sinn!)
924 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesministerin Andrea Fischer

(A) Nun werfen Sie uns Budgetierungsorgien und ähnliches daß man den Dialog führt und dabei auch veränderungs- (C)
vor. Es ist schon ein bißchen erstaunlich, daß die heutige bereit ist, weil man nämlich auf die Zusammenarbeit mit
Opposition wie Alice im Wunderland agiert und ruft: allen setzt?
Ein grüner Elefant, ein grüner Elefant! Mit Verlaub, die
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das sieht
Budgetierung haben wir nicht erfunden.
aber nicht nach Dialog aus!)
(Detlef Parr [F.D.P.]: Sie haben sie doch wie-
An diesem politischen Stil halte ich fest, obwohl die Er-
derbelebt!)
fahrungen nicht nur gut sind, die wir damit in den letzten
Deswegen brauchen Sie sich jetzt nicht so sehr darüber Wochen gemacht haben.
zu wundern, daß wir über Ausgabenbegrenzung im Ge-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann müssen
sundheitswesen reden.
Sie in diese Richtung schauen!)
Jeder, der sich um stabile Finanzen in der gesetzli-
– Nein, ich schaue zu Ihnen. Sie machen sich doch all
chen Krankenversicherung kümmert, wird um Maßnah-
diese Argumente zu eigen.
men zur Ausgabenbegrenzung nicht herumkommen.
Wir reden mit den Leistungserbringern darüber, wo die (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein, da liegt
annehmbare Grenze dafür liegt. Sie dagegen haben ein- der Streit mit Ihnen!)
fach versucht, bestimmte Leistungen auch der Grund-
versorgung in dem Sinne zu privatisieren, daß die Leute Ich beharre darauf: Wir sind gerade den Leistungs-
sie selbst bezahlen müssen. Das ist ein anderer Weg der erbringern in vielen kritischen Punkten, die sie in den
Ausgabenbegrenzung, nämlich der unsoziale Weg. Anhörungen angemerkt hatten, entgegengekommen.
Dann erwarte ich aber auch, daß sie das Wesen des
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kompromisses erkennen, das darin besteht, daß man
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues nicht alles bekommt, was man gefordert hat. Unsere
[CDU/CSU]: Sie rationieren! – Dr. Dieter Aufgabe als diejenigen, die hier Gesetze beschließen, ist
Thomae [F.D.P.]: Sie erzählen den Leuten es, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interes-
doch nur etwas!) sen zu finden. Ich meine, daß dieser Gesetzentwurf die-
sen Ausgleich ermöglicht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
müssen sich schon fragen lassen, warum Sie sich da auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
etwas einlassen, was Sie doch eigentlich viel besser wis- und bei der SPD)
sen. Wir beschneiden doch überhaupt nicht die Ausga-
ben, sondern wir begrenzen im nächsten Jahr ihren Zu- Ich will noch einmal folgendes ganz deutlich sagen:
wachs. Selbstverständlich bedeutet eine Begrenzung der Ausga-
(B) ben eine Aufforderung an die Leistungserbringer, wirt- (D)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist ja eine schaftlich zu handeln. Ich appelliere an all diejenigen,
Logik!) die jetzt mit Verweis auf die Budgets meinen, die Men-
schen in Panik versetzen zu müssen: Finden Sie zum
Einerseits haben Sie uns gesagt – auch das ist wieder ei-
rechten Maß zurück!
ne intellektuelle Unredlichkeit –, wir gingen mit der
Heckenschere daran; andererseits haben Sie sich drei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Minuten später darüber empört, daß wir für jeden Sektor sowie bei Abgeordneten der SPD)
eigene Regeln gefunden hätten, mit denen wir die be-
sonderen Bedingungen des jeweiligen Sektors berück- Die Honorare werden im nächsten Jahr so erhöht wie die
sichtigen wollten. Löhne aller Beschäftigten. Mit welcher Berechtigung
reklamiert die Ärzteschaft eine höhere Honorarsteige-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann stimmt rung – und damit höhere Einkommen – als alle anderen
aber Ihre Aussage nicht!) Menschen in diesem Land?
Dies haben wir getan, dazu stehen wir auch. Aber das Ich meine, es geht nicht an, daß die Patienten und die
lehrt uns einiges – darauf weise ich in diesem Zusam- Versicherten mit Horrorszenarios verunsichert werden.
menhang auch noch einmal hin – über den politischen Es ist möglich, mit diesen Budgets zu haushalten und
Stil in dieser Debatte. mit ihnen auszukommen. Es ist so, daß man auch in ei-
ner ärztlichen Praxis über ein Jahr hinweg planen kann.
Wir haben zwischen der ersten Lesung und der zwei-
Es ist so, daß das Verordnungsverhalten gesteuert wer-
ten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs Aus-
den kann.
schußberatungen und Anhörungen durchgeführt. Wir
haben auch mit den diversen Gruppen, die davon betrof- Herr Zöller, noch ein Wort abschließend: Wenn Sie
fen sind, Einzelgespräche geführt. sagen, wir würden einen Anreiz geben, daß die Ärzte
wenig verordnen, damit sie hinterher mehr verdienen,
(Detlef Parr [F.D.P.]: Sie haben aber nicht zu-
dann ist das schlicht die Unwahrheit.
gehört!)
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg
Daraufhin haben wir Veränderungen vorgenommen.
[SPD] – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
Auch hier muß man sich bei der Kritik wieder entschei-
[CDU/CSU]: Das steht doch im Brief!)
den: Ist jetzt das Eingehen auf Veränderungsvorschläge
ein Einknicken und Feigheit, oder ist das nicht ein Zei- Die Regelverletzung vorhin, für die ich mich an dieser
chen dafür, daß man bereit ist, sich beraten zu lassen, Stelle noch einmal in aller Form entschuldigen will, ha-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 925
Bundesministerin Andrea Fischer

(A) be ich begangen, weil Sie genau das beim Vorlesen des Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Mei- (C)
Briefes der SPD-Fraktion nicht gesagt haben: Es ist ne Damen! Meine Herren! Der „Kölner Stadtanzeiger“
nämlich nicht so, daß die Einsparungen bei Medika- widmet in seiner heutigen Ausgabe eine ganze Seite der
menten in das individuelle ärztliche Honorar fließen. gesetzlichen Krankenversicherung. Er schreibt – ich zi-
Damit sollen vielmehr Maßnahmen der Qualitätssiche- tiere –:
rung finanziert werden. Das ist doch der Dreh- und An-
gelpunkt. ... daß die Patienten entlastet, die Leistungen ver-
bessert, Mehrkosten von den Krankenkassen über-
Niemand von Ihnen kann ernsthaft behaupten, daß je- nommen werden sollen – und dabei sollen die Bei-
des Medikament, das in diesem Land verschrieben wird, träge zur Krankenversicherung stabil bleiben. Es
wirklich verschrieben werden muß und für die Versi- gleicht der Quadratur des Kreises ...
cherten existentiell notwendig ist. Da gibt es im Rahmen
der Therapiefreiheit eine große Bandbreite. Wir wollen Ich kann das nur so kommentieren, daß der „Kölner
den Ärzten dabei helfen bzw. sie darin unterstützen, daß Stadtanzeiger“ recht hat. Denn das geht alles so nicht.
sie ihr Verordnungsverhalten auf den Aspekt der Wirt- Weder ist in der Zeitung zu lesen, noch steht in dem
schaftlichkeit orientieren und gleichzeitig eine hohe vorliegenden Gesetzentwurf, wie das Ganze solide ge-
Versorgungsqualität wahren können. genfinanziert werden soll. Frau Ministerin hat soeben
nur gesagt, wie man es nicht finanzieren soll. Aber sie
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie müssen hat nicht gesagt, wie man es finanziert.
nicht allen helfen!)
Da will nun – darauf will ich noch einmal hinweisen
Da gibt es großen Spielraum. Deswegen gibt es über- – die rotgrüne Koalition bei den Arzneimitteln 1 Milli-
haupt keine Veranlassung, irgend jemanden in Panik zu arde DM einsparen. Zunächst einmal suggeriert sie da-
versetzen. mit, man könne das bei der pharmazeutischen Industrie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN holen. Ich sage Ihnen: Die, die am meisten betroffen
und bei der SPD) sind, sind die Patienten, die dadurch eine ganze Reihe
von Medikamenten nicht mehr bekommen,
Es ist wirklich ein gutes Zeichen, daß die neue Bun-
desregierung mit den Gesetzen, die wir vor einigen (Zuruf von der SPD: Warum denn nicht?)
Stunden verabschiedet haben, und auch mit diesem Ge-
setzentwurf zeigt, daß sie es ernst meint mit dem, was die sie sonst bekommen hätten. Sie müssen die Arznei-
sie im Wahlkampf versprochen hat. Sie geht wirklich mittel, die nicht mehr auf einem Rezept stehen, jetzt sel-
beherzt an die Umsetzung ihrer Versprechungen. Damit ber bezahlen; daran führt kein Weg vorbei. Das sind nun
wird deutlich gemacht, was wir auch in Zukunft zu tun die Wahlgeschenke der SPD: Was man durch eine Ver-
(B) gedenken, nämlich zu unseren Worten zu stehen und uns ringerung der Zuzahlung in die eine Tasche hineinsteckt, (D)
dabei mit allen einigen zu wollen. holt man dadurch, daß die Patienten mehr selber finan-
zieren müssen, auf der anderen Seite wieder heraus.
Ich weiß, daß im Moment einige Aufregung herrscht.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hundertprozen-
(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Bei der Mi- tige Selbstbeteiligung!)
nisterin am meisten!)
Ich kann nicht verstehen, daß Sie, Frau Ministerin, sa-
Nach meinem Eindruck handelt es sich dabei zum Teil gen, es würden keine Ausgaben beschnitten. Das ist
auch um Aufregung, die eine lange Vorgeschichte hat, doch letztendlich nichts anderes als eine reine Beschnei-
da sehr viele Empfindlichkeiten berührt werden. Alle dung von Ausgaben.
müssen ein Interesse an einem guten Gesundheitswesen
haben, das wir bezahlen können und das den bisherigen Hinzu kommt – das ist für mich viel wichtiger –, daß
hohen Standard der gesundheitlichen Versorgung in durch dieses Solidaritätsstärkungsgesetz – zumindest im
Deutschland bewahrt. Arzneimittelbereich – nicht mehr Solidarität eingeführt
wird; es kommt eher zu einer Entsolidarisierung. Ich
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
will Ihnen das nachweisen: 24 Millionen Menschen
CSU]: Aber nicht mit diesen Methoden!)
brauchen zur Zeit keine Zuzahlung zu leisten; das sind
Das berührt die Interessen aller Beteiligten, die auf den die Mitglieder der Krankenkassen, die geringe Einkom-
ersten Blick scheinbar gegenläufige Interessen haben. men haben. 47 Millionen Menschen müssen Zuzahlun-
Unser aller Interesse muß es sein, im nächsten Jahr gen leisten; sie haben höhere Einkommen. Ich weise
eine gute Strukturreform auf den Weg zu bringen. Des- noch einmal darauf hin: Höchstens 2 Prozent des Ein-
halb rufe ich in der gegenwärtigen Lage alle Beteiligten kommens müssen für Zuzahlungen aufgewendet wer-
zur „Abrüstung“ auf und dazu, zum Dialog zurückzu- den, bei chronisch Kranken höchstens 1 Prozent. Nun
kehren. verringern Sie die Zuzahlungen und entlasten damit
doch nur den Teil der Versicherten, die höhere Ein-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen haben. Wo bleibt denn da die soziale Gerech-
und bei der SPD – Dr. Hermann Kues tigkeit? Die stimmt doch an dieser Stelle nicht. Sie for-
[CDU/CSU]: Unfriede war das!) dern wir letztendlich ein.
Jedes Budget führt zwangsläufig zu einer Rationie-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat rung. Wenn ein Topf leer ist, dann ist er eben leer. Und
jetzt der Abgeordnete Dr. Wolf Bauer. wenn im November das Arzneimittelbudget aufge-
926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Dr. Wolf Bauer

(A) braucht ist und zu Weihnachten eine Grippewelle Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der (C)
kommt, dann ist der Topf immer noch leer. Ich frage mich auch sehr beschäftigt. In der Koalitionsvereinba-
Sie, Frau Ministerin: Wie soll sich das alles über ein rung steht, daß man ein Bündnis für Arbeit will, daß
Jahr planen lassen? Die Ärzte, die wir haben, sind gut; man Rahmenbedingungen für den Mittelstand, für freie
aber daß sie wissen sollen, welche Krankheitsbilder be- Berufe usw. schaffen will. Das, was hier geschaffen
vorzugt zum Ende des Jahres auftreten, das können Sie wird, ist genau das Gegenteil. Die Zahl der Arbeitsplätze
einfach nicht einfordern, das wird nicht funktionieren. wird verringert. Es werden Arbeitsplätze abgebaut.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der F.D.P.)
Man muß vor allem einmal über die Situation der
Ich habe es ja schon gesagt: In der Hauptsache betrifft es Ärzte in den neuen Bundesländern nachdenken. Wenn
die Patienten, die ein kleineres Einkommen haben. Ich das eintritt, was im Gesetz vorgesehen ist, wird es ver-
erinnere Sie von der SPD an Ihre Wahlkampfsprüche heerende Folgen für die neuen Bundesländer geben.
von der „Umverteilung von unten nach oben“. Genau
das, was Sie uns angekreidet haben, machen Sie heute. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eines steht fest: Wenn die rotgrüne Mehrheit ihr Ge- Sie haben einfach andere Voraussetzungen als wir hier.
setzesvorhaben durchdrückt, dann können die Ausgaben Ich würde Ihnen gern, wenn ich noch Zeit hätte, die
der GKV mit Hilfe der Sozialklausel und der Überforde- einzelnen Ausführungen aus der Anhörung zu den Ar-
rungsklausel nicht mehr so sozial verträglich gesteuert beitsplätzen vorstellen. Bis zu 100 000 sind betroffen.
werden, daß sowohl diejenigen damit leben können, die
ein kleines Einkommen haben, als auch diejenigen, die
ein höheres Einkommen haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Leider ist Ihre
angemeldete Redezeit vorbei.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es!)
Wir wollen uns gar nicht darüber unterhalten, wie es mit
Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Meine Damen, meine
Demographie- und Innovationsfaktoren ist; die kämen
Herren, ich habe leider keine Zeit mehr. Das ist schade.
noch hinzu.
Sie von der SPD sind mit dem Slogan „Wir machen
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Hier wird nicht alles anders, aber vieles besser“ angetreten. Was
medizinisch Notwendiges über die zur Verfügung ste- ist daraus geworden? Sie machen alles anders und nichts
hende Geldmenge definiert. Das ist das politische Ziel besser. Ein Beweis dafür ist das hier vorgelegte Solida-
der SPD. Das wollen wir nicht. ritätsstärkungsgesetz, das wir selbstverständlich ableh-
(B) nen. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aber vielleicht geht die SPD ja noch in sich und be- Danke.
denkt, was ihr die Bundesgesundheitsministerin nahe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gelegt hat – ich zitiere –:
Aber zuerst beschließen und sich danach öffentlich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
über das beklagen, was man beschlossen hat, ist jetzt die Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel.
weder überzeugend noch hat es politisches Format.
Manch einer beurteilt die derzeitige Gesundheitspolitik Regina Schmidt-Zadel (SPD): Frau Präsidentin!
der SPD nicht so charmant wie die Bundesgesundheits- Meine Damen und Herren! Um Ihrer Kritik und Ihrer
ministerin, denn immer öfter hört man die Worte „Soli- Aufgeregtheit – sie sind heute sehr deutlich geworden –
daritätszerstörungsgesetz“, „Frauenarbeitsplatzvernich- gleich zu Beginn zu begegnen: Wir debattieren und ver-
tungsgesetz“ oder auch „Chaostage von Bonn“. abschieden heute ein Gesetz zur Stärkung der Solidarität
Ich greife nun das auf, was Herr Thomae vorhin im Gesundheitswesen, das nicht notwendig gewesen
schon angesprochen hat. Man muß einmal überlegen, wäre,
wie die Beratung in bezug auf das Arznei- und Heilmit- (Beifall des Abg. Klaus Kirschner [SPD])
telbudget abgelaufen ist. Wir gingen mit einer Vermin-
derung von 4,5 Prozent des Budgets in die Beratung, wenn die alte Regierung in der vergangenen Legislatur-
dann wurde die Verminderung auf 6,89 Prozent erhöht, periode nicht eine Gesundheitspolitik betrieben hätte,
auf einmal kam man zu einer Zuzahlung von 7,5 Prozent die die solidarischen Elemente in der gesetzlichen Kran-
dann wurde ein Pro-Kopf-Betrag von 541,61 DM einge- kenversicherung systematisch ausgehöhlt und in Teilbe-
führt, bevor man wieder zu den 7,5 Prozent zurückging, reichen sogar außer Kraft gesetzt hat.
um sich dann letztendlich von den Krankenkassen vor-
(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Dr.
rechnen zu lassen, daß es eigentlich nur 4 Prozent sein
Dieter Thomae [F.D.P.])
dürfen. Diese 4 Prozent werden wir voraussichtlich im
nächsten Jahr in einer Novellierung zu besprechen haben. – Herr Thomae, keine Aufregung.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das kann ich mir Dieses Solidaritätsstärkungsgesetz ist unsere Antwort
nicht vorstellen!) auf Ihre Solidaritätsschwächungspolitik der letzten Jahre.
– Es wird aber so kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 927
Regina Schmidt-Zadel

(A) Ihre Gesundheitspolitik war chaotisch; das haben die beitnehmer zu gleichen Teilen wurde außer Kraft ge- (C)
Wählerinnen und Wähler gemerkt. Die Ergebnisse bei setzt.
der Bundestagswahl waren nicht zuletzt auf Ihre un-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt gar
mögliche Gesundheitspolitik zurückzuführen.
nicht!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Die-
Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. Eines
ter Thomae [F.D.P.]: Wir haben sie nicht be-
unserer zentralen Anliegen ist, diesen Systembruch so
logen!)
schnell wie möglich zu korrigieren. Wir haben daher das
Schauen Sie sich die Zuzahlungsorgien an, die Sie Krankenhausnotopfer für die Jahre 1998 und 1999 auf-
veranstaltet haben, bevor Sie etwas zu den Zuzahlungen gehoben und auf Dauer abgeschafft. Wer für das laufen-
sagen! Herr Zöller, es geht den Krankenkassen heute nur de Jahr bereits eine Zahlung geleistet hat, erhält diese
deshalb gut, weil die Versicherten und die Kranken ge- von der Krankenkasse zurückerstattet.
zahlt haben und nicht die Krankenkassen.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht nur des- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
halb!) gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sie haben gerade gesagt, daß wir eine Milchmädchen-
rechnung aufmachen. Ich würde mit Ihnen gerne über Regina Schmidt-Zadel (SPD): Ich habe, wie auch
Ihre Milchbubenrechnung in der nächsten Sitzung des Herr Zöller, keine Angst vor Zwischenfragen; aber ich
Gesundheitsausschusses diskutieren. will ihm die Gelegenheit jetzt nicht geben, weil seine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kollegen vorhin genauso gehandelt haben.

Ich will noch einmal sehr deutlich darauf hinweisen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dieses Vorschaltgesetz ist notwendig, um die gröbsten Das Zuzahlungschaos des Seehofer-Jahres 1997
Ungerechtigkeiten und die schlimmsten Belastungen zu – ich will es einmal so nennen – hat doch gezeigt, daß
korrigieren, die den Bürgerinnen und Bürgern durch Ihre tatsächlich höchstens 80 Prozent der Versicherten das
total verfehlte Gesundheitspolitik zugemutet worden sind. Notopfer gezahlt haben. Deswegen haben wir das getan
Für uns, meine Damen, ist besonders wichtig: Jede – und nichts anderes –, was wir den Wählerinnen und
Rentnerin, die sich ab 1. Januar keine Arzneizuzahlun- Wählern in diesem Bereich versprochen haben. Das
gen von ihrer Rente absparen muß, jeder Jugendliche, sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
dessen Zahnersatz wieder von der Krankenkasse und (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Und wie finan-
(B) nicht mehr aus dem schmalen Geldbeutel des Familien- zieren Sie das? – Gegenruf des Abg. Wolfgang (D)
vaters bezahlt wird, Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Jä-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die waren ger 90!)
doch ganz befreit!) – Wir haben Ihnen – auch die Frau Ministerin hat eben
und jedes abgeschaffte Krankenhausnotopfer, dessen In- darauf hingewiesen – die Finanzierungspläne vorgelegt.
kassokosten in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen, Sie sollten sich einmal damit beschäftigen. Das haben
rechtfertigen dieses Gesetz und auch die notwendige Sie bisher anscheinend noch nicht getan.
Eile; denn es soll noch am 1. Januar in Kraft treten. Im Krankenhaussektor soll das Solidaritätsstärkungs-
(Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier gesetz bis zur Verabschiedung einer grundlegenden Re-
[SPD]) form zusätzlich für Beitragsstabilität sorgen. Das ist
ein wichtiges Anliegen für uns, und dem werden wir
Wir haben den Versicherten versprochen, die Bela- vieles unterordnen.
stungen abzubauen. Wir halten Wort.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Ach nee! Darum
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weiter Zuzahlungen!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie bauen die Im Krankenhausbereich – da haben wir auch auf die
Qualität der Versorgung ab!) Experten gehört und den bei der Anhörung vorgetrage-
nen Argumenten Rechnung getragen – haben wir Rege-
Ich will nur auf wenige Bereiche eingehen. Das Kran- lungen gefunden, mit denen, so denke ich, die Kranken-
kenhausnotopfer ist neben dem Zahnersatz für Jugend- häuser sehr gut leben können. Grundsätzlich wird der
liche geradezu ein Paradebeispiel. Mit der Einführung Einnahmenzuwachs für die Krankenhäuser 1999 mit
des Notopfers ist die Finanzierung der Instandhaltung derselben Grundlohnrate begrenzt wie die Gesamtver-
der Krankenhäuser quasi Privatsache der Versicherten gütung der Vertragsärzte, nämlich auf der Grundlage der
geworden. im kommenden März festzustellenden Ist-Rate des Jah-
res 1998.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weil sich die
Länder nicht zur Finanzierung bereit erklärt (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Plus Tarifver-
haben!) träge!)
Das Prinzip der paritätischen Finanzierung der gesetzli- Der gesamte Bereich der ambulanten Leistungen der
chen Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Ar- Krankenhäuser – ambulantes Operieren, vor- und nach-
928 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Regina Schmidt-Zadel

(A) stationäre Behandlungen – unterliegt dieser Begrenzung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der (C)
nicht, Herr Dr. Thomae. Abgeordnete Wolfgang Lohmann das Wort.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das habe ich ja
nicht gesagt!)
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
Ich glaube – wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
–, Sie haben das Gesetz nicht genau gelesen. – Hinzu ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schmidt-
kommen eine ganze Reihe von Ausnahmetatbeständen, Zadel, vielen Dank für die freundlichen Wünsche. Wenn
die krankenhausspezifische Besonderheiten berücksich- ich jetzt in der Weihnachtszeit mit meiner Familie zu-
tigen. sammen bin, werde ich manches von dem vergessen,
Sie sehen: Durch das Solidaritätsstärkungsgesetz was hier heute gesagt worden ist; davon können Sie aus-
werden die Budgets der Krankenhäuser nicht gekürzt, gehen.
sondern mit Augenmaß und sehr moderat im Rahmen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
der Grundlohnrate auf Basis von 1998 – mit den Aus- Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wenn Sie mich
nahmetatbeständen sogar noch darüber hinaus – erhöht. nicht vergessen!)
Es gibt also keinen Grund für Schwarzmalerei. Ein
Krankenhaussterben – ich finde es unverantwortlich, Frau Ministerin, solche Debatten müssen gelegentlich
was da gesagt und wie vielfach es beschworen worden auch hart sein, auch die Aussagen. Aber ich meine, sich
ist – wird es ebenfalls nicht geben. intellektuelle Unredlichkeit vorzuwerfen geht ein biß-
chen weit.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der F.D.P.)
Allerdings – der Appell an die Krankenhausträger
muß sein –: Die Wirtschaftlichkeitsreserven im Kran- Wenn ich dann die Aufregung sehe, in die Sie sich hin-
kenhausbereich sind keineswegs alle ausgeschöpft. Es eingesteigert haben, mache ich mir ernsthafte Sorgen;
gilt sie zu nutzen. Sie verschaffen den Krankenhäusern denn ich weiß nicht, ob Sie als Ministerin die Schwie-
zusätzlich Luft. rigkeiten, denen Sie natürlich ausgesetzt sind, lange aus-
Im vorliegenden Solidaritätsstärkungsgesetz sind da- halten werden.
her Anreize verankert worden, die von den Krankenhäu- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sern auch genutzt werden sollten. Ambulante Opera- NEN]: Oje! Da ist der Wunsch Vater des Ge-
tionen sind 1999 ausdrücklich von der Deckelung aus- dankens!)
(B) genommen worden. Hier bietet sich den Krankenhäusern (D)
ein weites Feld, um Kosten zu vermeiden. Sie haben eben lauthals von uns verlangt: Sie müssen
sich entscheiden. Ich sage Ihnen: Sie müssen sich ent-
Ich will auf einige Punkte hinweisen: 20 000 Opera- scheiden. Sie müssen jetzt zum Beispiel endlich sagen,
tionen des grauen Stars, 100 000 Krampfaderoperatio- ob Ihre Wahlgeschenke über Einsparungen finanziert
nen und 55 000 Nasenscheidewandkorrekturen pro Jahr werden sollen oder ob es Ihnen, wie Sie immer wieder
müssen nicht stationär durchgeführt werden. gebetsmühlenartig behaupten, nur darum geht, Zuwäch-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Der Meinung se zu beschneiden. Wollen Sie nach wie vor bestreiten,
sind wir auch!) daß zumindest – es ist bereits gesagt worden – im Arz-
neimittelbereich Einsparungen in Höhe von rund einer
Zahlreiche Eingriffe sind sogar grundsätzlich vermeid-
Milliarde DM vorgenommen worden sind? Sind das
bar. Die Fehlbelegungsrate – auch das ist in der Anhö-
keine Einsparungen? Sollen das Zuwächse sein? Dann
rung gesagt worden – ist noch immer zu hoch. verstehe ich Ihre Sprache allerdings nicht mehr richtig.
Die Regierungskoalition hat ein Gesetz vorgelegt, das
die medizinisch notwendigen Leistungen im stationären (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Negative Zu-
Bereich auch für das kommende Jahr, 1999, sichert. wächse!)
Nicht mehr und nicht weniger ist beabsichtigt. Das Bei den Zahnärzten wollen Sie 600 Millionen DM ein-
kommende Jahr wird dazu genutzt – auch darauf haben sparen. 1,6 Milliarden DM sollen aber keine Einsparung
die Vorrednerinnen und Vorredner hingewiesen –, eine sein. Ich verstehe das nicht. Geben Sie bitte zu, daß das
umfassende Strukturreform vorzubereiten. SPD und Einsparungen sind.
Bündnis 90/Die Grünen halten auch hier den Fahrplan
ihrer Koalitionsvereinbarungen ein. Zu dem Hin und Her mit dem verehrten Kollegen
Dreßler möchte ich sagen: Herr Kollege Dreßler, Sie ha-
Ich will die Gelegenheit nutzen – weil ich eben auch ben in der ersten Lesung dieses Gesetzes gesagt – ich
von Ihrer Aufgeregtheit gesprochen habe –, Ihnen ein habe das Protokoll dabei, ich zitiere daraus –:
friedliches und nachdenkliches Weihnachtsfest und dann
vielleicht eine nicht so aufgeregte Diskussion im näch- Wenn wir nämlich heute die Regierungserklärung
sten Jahr zu diesem Thema zu wünschen. des Bundeskanzlers debattieren und zugleich in er-
ster Lesung Gesetzentwürfe einbringen, die die
Vielen Dank.
Ankündigungen aus der Regierungserklärung be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten reits umsetzen wollen und sollen, dann beweist die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neue Koalition damit, daß die Glaubwürdigkeit von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 929
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

(A) Regierungsarbeit bei ihr wieder einen besonderen selbst schuld. Es bleibe so, wie es ist. – Bitte entschei- (C)
Rang erhält, meine Damen und Herren. den Sie sich und sagen Sie uns, was Sache ist. Das müs-
sen wir doch wissen!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das, was vor-
Das war bei der Einbringung vor ziemlich genau einem liegt, Herr Lohmann!)
Monat. Was wir danach alles erlebt haben! Kann man
das noch glaubwürdig nennen? Sie handeln mit diesem Gesetz nicht nur unsozial,
sondern auch ungerecht. Die hohe Versorgungsqualität
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein! Bei aller ist gesichert. Heute ist schon mehrfach gesagt worden,
Liebe nicht!) daß Sie sich angesichts der Überschüsse, die wir haben,
Sie haben – man muß schon sagen – die Stirn gehabt, für die von Ihnen gewünschte Strukturreform viel Zeit
uns am vorigen Mittwoch in der Ausschußsitzung 45 hätten nehmen können.
Änderungsanträge auf 69 Seiten auf den Tisch zu legen. Auch dazu verweise ich auf die Ausschußberatungen.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Plus 10 Ände- Ihre Vertreter im Ausschuß sind am vergangenen Mitt-
rungsanträge!) woch zweimal gefragt worden, ob die K45-Zahlen – das
sind die Rechnungsergebnisse des ersten Dreivierteljah-
– Thomae, red nicht immer dazwischen. – Frau Schaich- res – vorhanden sind. – Nein. Es wurde nachgefragt:
Walch – sehr ehrenwert – bedankt sich hinterher bei uns, Sind die Zahlen nicht da? – Nein, die Zahlen sind nicht
daß wir durch unsere intensiven Nachfragen – fast fünf da. – Am nächsten Tag sickerte durch: Die Zahlen sind
Stunden lang – wenigstens die allergrößten Schwierig- wohl doch da. Am übernächsten Tag wurden sie per
keiten vermieden haben und daß ihre Kollegen bei Presseinformation von Ihnen veröffentlicht. Das ist kein
dieser Gelegenheit erfahren konnten, was das Ganze redliches Umgehen mit den Mitgliedern des Ausschus-
eigentlich soll. Aber es blieb doch noch viel offen. ses.
Ich nenne hier bewußt keine Namen, weil es keine öf- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
fentliche Sitzung war; dann darf ich das, glaube ich,
nicht. Aber ein Kollege der SPD sagte nach fünf Stun- Offensichtlich hatten Sie vor, diese aus unserer Sicht
den: Ich habe das Gefühl, wir tun hier nichts Gutes. traumhaften Zahlen, die wir uns vor einem Jahr noch gar
Daraufhin habe ich gesagt: Das Gefühl habe ich schon nicht hätten träumen lassen, zu verschweigen, bis das
den ganzen Tag, daß wir hier nichts Gutes tun. ganze Machwerk über die Bühne gegangen ist. Sie ha-
ben die Zahlen dann doch noch veröffentlichen müssen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und weil einige nachgehakt haben, und müssen nun zugeben:
(B) der F.D.P.) Die Beitragssatzstabilität – von Ihnen und auch von (D)
Ein anderer sehr namhafter Kollege, dessen Namen allen anderen gewünscht – ist auch ohne dieses Gesetz
ich auch nicht nennen darf, sagte, weil ihm die Regie- gesichert. Sie hätten also Zeit, Ihre Strukturreform zu
rung zwei oder drei klare Fragen nicht beantwortet hat: überdenken.
Wenn dieser Antrag nicht zurückgezogen wird, mar- Das Fazit: Erstens. Das Gesetz ist völlig überflüssig;
schieren wir ins Chaos. denn die Notwendigkeit weiterer Sparbeiträge ist nicht
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Haben gegeben. Die Überschüsse wurden eben schon genannt:
sie denn zurückgezogen?) 1997 waren es 1,1 Milliarden DM, in diesem Jahr sind
es 2 Milliarden DM. Wenn das nichts ist, dann weiß ich
Das sind doch nicht unsere Begriffe. nicht, wie man Beitragssatzstabilität sonst definieren
In den Zeitungen spricht man vom „Gesundheits- soll.
chaos“. Das sind nicht unsere Äußerungen. „Dreßler Zweitens. Das Gesetz ist schädlich für Patienten und
sauer über Pannen.“ Ich meine, er schaut immer bärbei- Arbeitsplätze; denn die Rückkehr zur Budgetierung
ßig; aber hier ist er besonders gelungen abgebildet. So führt nachweislich in die Irre, nämlich zur Rationierung,
böse hat er mich noch nie angesehen. das heißt zur Vorenthaltung medizinisch notwendiger
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann sich und qualitativ hochwertiger Versorgung für die Patien-
ändern!) ten. Um die geht es, nicht um das Honorar der Ärzte.

Das ist offensichtlich auf Sie zugeschnitten, Frau Drittens. Das Gesetz bedeutet keine Solidaritätsstär-
Fischer. kung, sondern eine Zerstörung der Solidarität; denn es
verbaut die mühsam eingeleitete Neugewichtung von
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Solidarität, Subsidiarität und Eigenverantwortung.
Herr Dreßler und andere sagen: Es stimmt einiges Es tut uns sehr leid: Deswegen können wir dem Ge-
nicht; wir müssen noch Änderungen vornehmen. Da das setz nicht zustimmen.
in diesem Verfahren nicht mehr geht, wird das nun of-
fensichtlich als Novelle eingebracht. Sie sagen – auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
das liegt mir vor –, Fischer weise die Kritik Dreßlers zu-
rück; alles würde stimmen. Wenn einige von der SPD, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
die dabei waren, das nicht verstanden hätten, seien sie jetzt die Abgeordnete Margrit Spielmann.
930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Dr. Margrit Spielmann (SPD): Frau Präsidentin! dern und auch dafür, daß wir unserem Versprechen der (C)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, mit Schaffung der sozialen Einheit zwischen Ost und West
dem vorliegenden Vorschaltgesetz können die Patienten, höchste Priorität einräumen und die Bedürfnisse ernst
die Ärzte und auch die Krankenhäuser in den neuen nehmen.
Bundesländern durchaus zufrieden in die Zukunft blik-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
ken.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Meine Damen und Herren, um es noch einmal ganz
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
klar zu sagen: Die jetzige Bundesregierung wird nicht
Die neue Bundesregierung stellt sich damit voll und zulassen, daß die soziale Einheit in Deutschland auch im
ganz hinter das in Deutschland endlich wieder zum Ziel Gesundheitsbereich auf halbem Wege steckenbleibt.
erhobene Solidaritätsprinzip. Sie stoppt den von der
(Unruhe)
früheren Bundesregierung eingeschlagenen Weg der
Privatisierung von Gesundheitsrisiken und der Entsoli-
darisierung der gesetzlichen Krankenkassen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einen kleinen Moment! – Ich bitte um etwas Ruhe. Es ist
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die erste Rede der Kollegin. Sie hat auch nicht die stärk-
ste Stimme. Deswegen helfen Sie ihr doch ein bißchen,
So geben wir die Grundlage dafür, daß die notwendige indem Sie etwas ruhiger sind!
wirtschaftliche Stabilität der Krankenkassen gesichert
und die für das Vertrauen in unser Gesundheitssystem so (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wichtige Beitragsstabilität erreicht wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
Mit dem Vorschaltgesetz werden Verbesserungen für
das Gesundheitssystem in den neuen Bundesländern er-
zielt. So können allen Presseerklärungen und lautstarken Dr. Margrit Spielmann (SPD): Danke, Frau Präsi-
Ärztedemonstrationen zum Trotz gerade die niederge- dentin.
lassenen Ärzte in den neuen Ländern wieder mit größe-
rer Zuversicht in die Zukunft blicken; Durch das Vorschaltgesetz werden viele Verbesse-
rungen erreicht. Neben der Absenkung der Zuzahlung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denke ich hier besonders an die Wiederaufnahme von
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zahnersatz für Kinder und Jugendliche in den Lei-
stungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
(B) denn über den vorgesehenen West-Ost-Ausgleich erhal- und an die Zuzahlungsbefreiung für chronisch Kranke. (D)
ten die Ärzte in den neuen Ländern die Sicherheit, die
Aus eigener Anschauung weiß ich, wie schwer es gerade
sie benötigen, um qualitativ gute Patientenbetreuung zu chronisch Kranke in den neuen Ländern haben, diese
gewährleisten und zu gestalten.
Zuzahlung zu finanzieren.
Ich behaupte, daß, anders als die frühere Regierung,
Ich fasse zusammen. Das jetzige Vorschaltgesetz
welche durch ihre Passivität zu der Schieflage im Ge- bietet allen Beteiligten, den Krankenkassen, den Lei-
sundheitswesen in den neuen Ländern beigetragen hat,
stungserbringern und den Beitragszahlern, erhebliche
die jetzige Regierung mit diesem Gesetz nicht nur eine
Vorteile gegenüber den bisherigen Regelungen. Vor al-
medizinisch hochwertige Versorgung der Patienten ge- len Dingen kehren wir damit zum Solidaritätsprinzip zu-
währleistet, sondern auch Sicherheit für die Arztpraxen,
rück und verhindern die Beitragserhöhung.
für die Kliniken in den neuen Ländern bietet und da-
durch Arbeitsplätze sichert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Diese – das sage ich als Ostdeutsche – Gesundheitspoli-
Ein weiterer wichtiger Punkt des Vorschaltgesetzes
tik ist gerade für den Osten eine notwendige, eine ver-
ist, daß die Tarifentwicklung in den neuen Ländern zu- trauensbildende Maßnahme. Gerade die Menschen in
künftig bei der Berechnung der Budgets der Kranken-
den neuen Bundesländern können wieder Vertrauen in
häuser berücksichtigt wird. Die bisherige Regelung hat,
die Gesundheitspolitik fassen; denn ihre spezifischen
wie wir alle wissen, dazu geführt, daß den Kliniken in Probleme werden berücksichtigt,
den neuen Ländern im wörtlichen Sinne die Luft aus-
ging, bestehende Unterschiede in den Standards zemen- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
tiert wurden und dadurch die Schere zwischen Ost und CSU]: Die wurden auch in der Vergangenheit
West auch in diesem Bereich immer mehr auseinander- berücksichtigt!
ging. Nun – Gott sei Dank – wird eine strukturelle An-
gleichung überhaupt erst möglich, Lücken können ge- ihre Sorgen werden ernst genommen, und vor allen Din-
schlossen und die notwendige Modernisierung in den gen werden ihnen Lösungen angeboten.
Kliniken in den neuen Ländern vorangetrieben werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mit der Streichung der bisher geltenden Befristung Das Vorschaltgesetz schafft eine stabile Grundlage
des Finanzierungsstärkungsgesetzes setzen wir ein wei- für bevorstehende Strukturreform und ist darauf ange-
teres Signal für die Menschen in den neuen Bundeslän- legt – darauf lege ich besonderen Wert –, daß das Zu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 931
Dr. Margrit Spielmann

(A) sammenwachsen der Krankenversicherungssysteme in setzes über die Wahl der Vertreter der Bun- (C)
Ost und West zukünftig gewährleistet wird. desrepublik Deutschland zur Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates
Danke.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksachen 14/176, 14/177, 14/178, 14/179,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 14/180 –
Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, der F.D.P. und
Spielmann, ich möchte Ihnen im Namen des ganzen der PDS vor.
Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren, die, wie man ja
gesehen hat, unter erschwerten Bedingungen stattfand. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 14/176? – Wer stimmt dagegen? –
(Beifall) Gibt es Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist ein-
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun stimmig angenommen worden.
zu den Abstimmungen. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der
Nach § 31 unserer Geschäftsordnung liegen zwei CDU/CSU auf Drucksache 14/177? – Stimmt je-
schriftliche Erklärungen vor, und zwar von der Kollegin mand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Dieser Wahl-
Monika Heubaum und dem Kollegen Hans-Ulrich Klo- vorschlag ist ebenfalls einstimmig angenommen wor-
se, die ich mit Ihrer Zustimmung zu Protokoll gebe.*) den.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen über den Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion
von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grü- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/178? – Ge-
nen eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Soli- genstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Wahlvor-
darität in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich schlag ist einstimmig angenommen worden.
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf F.D.P. auf Drucksache 14/179? – Gegenstimmen? –
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD Enthaltungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist ein-
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von stimmig angenommen worden.
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der
nommen.
PDS auf Drucksache 14/180? – Gegenstimmen? – Ent-
(B) Dritte Beratung haltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen (D)
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der PDS und
und Schlußabstimmung. Die Fraktionen der SPD und der F.D.P. bei einigen Gegenstimmen von der
des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche CDU/CSU und einigen Enthaltungen von der CDU/CSU
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und angenommen worden.
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? – Ich sehe, daß alle Urnen be- Damit sind die Vertreter der Bundesrepublik
setzt sind. Ich eröffne die Abstimmung. – Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Europarates, die zugleich Vertreter in der Versammlung
der Westeuropäischen Union sind, gewählt.
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
nen später bekanntgegeben.**)
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
Wir setzen die Beratungen fort. Ich kann den näch- nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-
sten Tagesordnungspunkt erst dann aufrufen, wenn Sie gebrachten Entwurfs eines Steuerentlastungsge-
Platz genommen haben. – Können Sie versuchen, die setzes 1999/2000/2002
Gänge frei zu machen und die Gespräche, wenn mög-
lich, nach draußen zu verlagern? Ich muß nämlich – Drucksache 14/23 –
Wahlvorgänge leiten. Dazu brauche ich einen Überblick.
(Erste Beratung 6. Sitzung)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: a) Zweite Beschlußempfehlung und zweiter Be-
Wahl der Vertreter der Bundesrepublik richt des Finanzausschusses (7. Ausschuß)
Deutschland in der Parlamentarischen Ver- – Drucksache 14/158 –
sammlung des Europarates (zugleich Vertre-
ter in der Versammlung der Westeuropäi- Berichterstattung:
schen Union) gemäß Artikel 1 und 2 des Ge- Abgeordnete Heidemarie Ehlert
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)
__________ Klaus Wolfgang Müller (Kiel)
Reinhard Schultz (Everswinkel)
*) Anlage 6
Carl-Ludwig Thiele
**) Seite 933 A
932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) b) Zweiter Bericht des Haushaltsausschusses die vorgesehene Regelung für eine Lösung des (C)
(8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsord- Übergangsproblems, die den sehr unterschiedlichen
nung Situationen in der Praxis in sinnvoller Weise Rech-
nung trägt.
– Drucksache 14/167 –
In der Anhörung der Verbände hat die Frage eine
Berichterstattung: Rolle gespielt, ob den Unternehmen ein Wahlrecht ein-
Abgeordnete Peter Jacoby geräumt werden sollte. Wir haben uns für eine pragmati-
Abg. Hans Georg Wagner sche steuerliche Übergangslösung entschieden. Sie be-
Oswald Metzger rücksichtigt in angemessener Weise den Nachholbedarf
Dr. Günter Rexrodt und zugleich den prognostizierten Mehrbedarf in den
Dr. Uwe-Jens Rössel kommenden Jahren.
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus
Aussprache über diesen Gesetzentwurf namentlich ab- Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE
stimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinba- GRÜNEN] – Wolfgang Zeitlmann [CDU/
rung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. CSU]: Wenig Applaus!)
– Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß mit der Ver-
(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Eine halbe teilung der Zuführung in dem Dreijahreszeitraum in der
Stunde, Frau Präsidentin!) Praxis die Möglichkeit besteht, weitgehend Gleichklang
– Das habe ich gesagt. zwischen Handelsbilanz und Steuerbilanz herzustellen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Die Bundesregierung verbindet mit dieser Gesetzes-
die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks. vorlage die Zusage, daß sie in Zukunft auf eine raschere
Anpassung der biometrischen Rechnungsgrundlagen
drängen wird. Sie soll nicht wieder 15 Jahre auf sich
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim warten lassen; dies hatten wir nämlich aufzuarbeiten.
Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Heute beraten wir das Steuerände- Die Verteilung der erhöhten Zuführungen zu den
rungsgesetz 1998. Es enthält folgende Maßnahmen: die Pensionsrückstellungen führt infolge der höheren Be-
Anpassung der Pensionsrückstellungen an die höhere standsbewertung im Entstehungsjahr zu rund 3 Milliar-
Lebenserwartung sowie die Verlängerung der steuerli- den DM Mindereinnahmen. Sie sind durch die im Ent-
chen und handelsrechtlichen Aufbewahrungsfrist für wurf des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002
Buchungsbelege von sechs auf zehn Jahre. ausgewiesenen Mehreinnahmen durch Verbreiterung der
(B) steuerlichen Bemessungsgrundlage gedeckt. (D)
Wir haben diese beiden Maßnahmen vom Steuerent-
lastungsgesetz 1999 abgekoppelt. Wie Sie wissen, haben Die Verlängerung der steuerlichen und handelsrecht-
wir in der letzten Woche die Entlastung für Familien lichen Aufbewahrungsfrist für Buchungsbelege von
und Normalverdiener beschlossen. Es liegt nicht an der sechs auf zehn Jahre muß ebenfalls noch in diesem Jahr
Bundesregierung oder den Koalitionsfraktionen, wenn vorgenommen werden. Sie entspricht dem Beschluß des
wir heute einen weiteren Entwurf beraten müssen. Bundesrates vom 27. November, der auf der Grundlage
Vielmehr mußte auf Grund der Forderung der Oppositi- eines Antrags des Landes Schleswig-Holstein zustande
on eine Anhörung dazu durchgeführt werden. gekommen ist. Unser Ziel ist es, die Ermittlungsverfah-
ren gegen zur Zeit noch anonyme Kunden und Mitar-
Zu den Maßnahmen im einzelnen. Für die Bewertung beiter von Kreditinstituten wegen Verdachts der Steuer-
von Pensionsrückstellungen – § 6 a Einkommensteuer- hinterziehung bzw. der Beteiligung an der Steuerhinter-
gesetz – gilt folgendes: Die Menschen leben länger. Die ziehung zu unterstützen.
höhere Lebenserwartung findet in neuen oder geänder-
ten biometrischen Rechnungsgrundlagen ihren Nieder- Es handelt sich um einen Kompromiß. Die verlän-
schlag. Sie lösen eine Pflicht zu Zuführungen zu den gerte Aufbewahrungsfrist gilt für Buchungsbelege, nicht
Pensionsrückstellungen der Unternehmen aus. Der Ge- dagegen für die gesamten schriftlichen Unterlagen wie
setzentwurf sieht vor, den Mehrbetrag auf eine ange- zum Beispiel Geschäftsbriefe. Das hält den zusätzlichen
messene Zeitspanne gleichmäßig zu verteilen. Konkret Raumbedarf der Unternehmen in Grenzen,
ist vorgesehen, ihn auf drei Jahre 1999, 2000 und 2001, (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Na ja!)
zu verteilen. Diese Regelung stellt sicher, daß es zu ei-
zumal es ja die moderne Technik gibt. Neben einem si-
nem zutreffenden Ausweis der Pensionsrückstellungen
cherlich begrenzten zusätzlichen Raumbedarf kommt
zu den jeweiligen Bilanzstichtagen kommt.
keine Erschwernis auf die Wirtschaft zu.
In ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Entwurf des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Brigitte
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 geht die Ar-
Baumeister [CDU/CSU]: Reiner Unsinn! –
beitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung da-
Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Restau-
von aus,
rant wird zum Lager mit Essensausgabe!)
daß eine Verteilung des Übergangsbetrages auch
handelsrechtlich begründet ist. Unterlagen wie Bücher, Inventare, Bilanzen unterliegen
wegen ihrer besonderen Nachweisfunktion bereits heute
Der Verband, in dem natürlich auch die Wirtschaft or- einer zehnjährigen Aufbewahrungsfrist. Diese Frist
ganisiert ist, hält deckt sich im übrigen mit der Verjährungsfrist bei Steu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 933
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

(A) erhinterziehung. Von daher ist es sachgerecht, die Frist Ergebnis der namentlichen Abstimmung mit. Es (C)
so zu verlängern. handelt sich um den Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Kranken-
Ich bitte Sie, dem Entwurf des Steueränderungsgeset-
versicherung, kurz: Solidaritätsstärkungsgesetz. Abge-
zes 1998 zuzustimmen. gebene Stimmen: 578. Mit Ja haben gestimmt 339,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit Nein haben gestimmt 210. Es gab 29 Enthaltun-
DIE GRÜNEN – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: gen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen wor-
Sie haben uns nicht überzeugen können!) den.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich 90/DIE GRÜNEN – Achim Großmann [SPD]:
den nächsten Redner aufrufe, teile ich Ihnen das von Das war eure letzte Abstimmung, die ihr ge-
den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte wonnen habt!)

Endgültiges Ergebnis Sebastian Edathy Frank Hofmann (Volkach) Lothar Mark


Abgegebene Stimmen: 574; Ludwig Eich Ingrid Holzhüter Ulrike Mascher
davon Marga Elser Eike Hovermann Christoph Matschie
ja: 336 Peter Enders Christel Humme Ingrid Matthäus-Maier
Gernot Erler Lothar Ibrügger Heide Mattischeck
nein: 209 Petra Ernstberger Barbara Imhof Markus Meckel
enthalten: 29 Annette Faße Brunhilde Irber Ulrike Mehl
Lothar Fischer (Homburg) Gabriele Iwersen Ulrike Merten
Ja Gabriele Fograscher Renate Jäger Angelika Mertens
Iris Follak Jann-Peter Janssen Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
SPD Norbert Formanski Ilse Janz Ursula Mogg
Rainer Fornahl Dr. Uwe Jens Christoph Moosbauer
Brigitte Adler Hans Forster Volker Jung (Düsseldorf) Siegmar Mosdorf
Gerd Andres Dagmar Freitag Johannes Kahrs Michael Müller (Düsseldorf)
Rainer Arnold Peter Friedrich (Altenburg) Sabine Kaspereit Jutta Müller (Völklingen)
Hermann Bachmaier Lilo Friedrich (Mettmann) Susanne Kastner Christian Müller (Zittau)
Ernst Bahr Harald Friese Hans-Peter Kemper Franz Müntefering
Doris Barnett Anke Fuchs (Köln) Klaus Kirschner Andrea Nahles
Dr. Hans-Peter Bartels Arne Fuhrmann Marianne Klappert Volker Neumann (Bramsche)
Eckhardt Barthel (Berlin) Monika Ganseforth Siegrun Klemmer Gerhard Neumann (Gotha)
(B) Klaus Barthel (Starnberg) Konrad Gilges Walter Kolbow Dr. Edith Niehuis (D)
Ingrid Becker-Inglau Iris Gleicke Fritz Rudolf Körper Dr. Rolf Niese
Wolfgang Behrendt Günter Gloser Karin Kortmann Dietmar Nietan
Dr. Axel Berg Uwe Göllner Anette Kramme Günter Oesinghaus
Hans-Werner Bertl Renate Gradistanac Nicolette Kressl Eckhard Ohl
Friedhelm Julius Beucher Günter Graf (Friesoythe) Volker Kröning Leyla Onur
Petra Bierwirth Angelika Graf (Rosenheim) Angelika Krüger-Leißner Manfred Opel
Rudolf Bindig Dieter Grasedieck Horst Kubatschka Holger Ortel
Lothar Binding (Heidelberg) Monika Griefahn Ernst Küchler Adolf Ostertag
Kurt Bodewig Achim Großmann Helga Kühn-Mengel Kurt Palis
Klaus Brandner Wolfgang Grotthaus Ute Kumpf Albrecht Papenroth
Anni Brandt-Elsweier Karl Hermann Haack Konrad Kunick Dr. Willfried Penner
Willi Brase (Extertal) Dr. Uwe Küster Georg Pfannenstein
Dr. Eberhard Brecht Hans-Joachim Hacker Werner Labsch Johannes Pflug
Rainer Brinkmann (Detmold) Klaus Hagemann Oskar Lafontaine Dr. Eckhart Pick
Bernhard Brinkmann Manfred Hampel Christine Lambrecht Joachim Poß
(Hildesheim) Christel Hanewinckel Brigitte Lange Karin Rehbock-Zureich
Hans-Günter Bruckmann Alfred Hartenbach Christian Lange (Backnang) Margot von Renesse
Edelgard Bulmahn Klaus Hasenfratz Detlev von Larcher Renate Rennebach
Ursula Burchardt Nina Hauer Christine Lehder Bernd Reuter
Dr. Michael Bürsch Hubertus Heil Waltraud Lehn Reinhold Robbe
Hans Martin Bury Reinhold Hemker Robert Leidinger Renè Röspel
Hans Büttner (Ingolstadt) Frank Hempel Klaus Lennartz Dr. Ernst Dieter Rossmann
Marion Caspers-Merk Rolf Hempelmann Dr. Elke Leonhard Michael Roth (Heringen)
Wolf-Michael Catenhusen Dr. Barbara Hendricks Eckhart Lewering Birgit Roth (Speyer)
Dr. Peter Wilhelm Danckert Gustav Herzog Götz-Peter Lohmann Gerhard Rübenkönig
Dr. Herta Däubler-Gmelin Uwe Hiksch (Neubrandenburg) Marlene Rupprecht
Christel Deichmann Reinhold Hiller (Lübeck) Christa Lörcher Thomas Sauer
Karl Diller Stephan Hilsberg Erika Lotz Dr. Hansjörg Schäfer
Peter Dreßen Gerd Höfer Dr. Christine Lucyga Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Dreßler Jelena Hoffmann (Chemnitz) Dieter Maaß (Herne) Bernd Scheelen
Detlef Dzembritzki Walter Hoffmann Winfried Mante Dr. Hermann Scheer
Dieter Dzewas (Darmstadt) Dirk Manzewski Siegfried Scheffler
Dr. Peter Eckardt Iris Hoffmann (Wismar) Tobias Marhold Otto Schily
934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Horst Schmidbauer Dr. Rainer Wend Margareta Wolf (Frankfurt) Gottfried Haschke (C)
(Nürnberg) Hildegard Wester (Großhennersdorf)
Ulla Schmidt (Aachen) Lydia Westrich PDS Gerda Hasselfeldt
Silvia Schmidt (Eisleben) Inge Wettig-Danielmeier Norbert Hauser (Bonn)
Dagmar Schmidt (Meschede) Dr. Margrit Wetzel Roland Claus Hansgeorg Hauser
Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Ehlert (Rednitzhembach)
Regina Schmidt-Zadel Helmut Wieczorek Dr. Heinrich Fink Manfred Heise
Heinz Schmitt (Berg) (Duisburg) Manfred Müller (Berlin) Ernst Hinsken
Carsten Schneider Jürgen Wieczorek (Leipzig) Kersten Naumann Peter Hintze
Dr. Emil Schnell Heidemarie Wieczorek-Zeul Christine Ostrowski Klaus Hofbauer
Walter Schöler Dieter Wiefelspütz Dr. Uwe-Jens Rössel Martin Hohmann
Olaf Scholz Heino Wiese (Hannover) Klaus Holetschek
Karsten Schönfeld Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Josef Hollerith
Fritz Schösser Engelbert Wistuba Nein Dr. Karl-Heinz Hornhues
Ottmar Schreiner Barbara Wittig Siegfried Hornung
Gisela Schröter Dr. Wolfgang Wodarg CDU/CSU Joachim Hörster
Dr. Mathias Schubert Verena Wohlleben Hubert Hüppe
Richard Schuhmann Hanna Wolf (München) Ulrich Adam Peter Jacoby
(Delitzsch) Waltraud Wolff (Zielitz) Ilse Aigner Susanne Jaffke
Brigitte Schulte (Hameln) Heidemarie Wright Peter Altmaier Georg Janovsky
Reinhard Schultz Uta Zapf Norbert Barthle Dr.-Ing. Rainer Jork
(Everswinkel) Dr. Christoph Zöpel Dr. Wolf Bauer Dr. Harald Kahl
Volkmar Schultz (Köln) Peter Zumkley Günter Baumann Bartholomäus Kalb
Ilse Schumann Brigitte Baumeister Dr. Dietmar Kansy
Ewald Schurer Meinrad Belle Irmgard Karwatzki
BÜNDNIS 90/
Dr. R. Werner Schuster Dr. Sabine Bergmann-Pohl Eckart von Klaeden
DIE GRÜNEN
Dietmar Schütz (Oldenburg) Dr. Joseph-Theodor Blank Ulrich Klinkert
Dr. Angelica Schwall-Düren Gila Altmann (Aurich) Renate Blank Manfred Kolbe
Ernst Schwanhold Marieluise Beck (Bremen) Dr. Heribert Blens Norbert Königshofen
Rolf Schwanitz Volker Beck (Köln) Friedrich Bohl Dr. Martina Krogmann
Bodo Seidenthal Angelika Beer Sylvia Bonitz Dr. Paul Krüger
Erika Simm Matthias Berninger Jochen Borchert Dr. Hermann Kues
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Annelie Buntenbach Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Karl A. Lamers
Dr. Cornelie Sonntag- Ekin Deligöz Dr. Ralf Brauksiepe (Heidelberg)
Wolgast Dr. Thea Dückert Paul Breuer Dr. Norbert Lammert
Wieland Sorge Franziska Eichstädt-Bohlig Monika Brudlewsky Dr. Paul Laufs
(B) Wolfgang Spanier Dr. Uschi Eid Klaus Bühler (Bruchsal) (D)
Karl-Josef Laumann
Dr. Margrit Spielmann Hans-Josef Fell Hartmut Büttner Vera Lengsfeld
Jörg-Otto Spiller Andrea Fischer (Berlin) (Schönebeck) Werner Lensing
Dr. Ditmar Staffelt Katrin Göring-Eckardt Cajus Caesar Peter Letzgus
Antje-Marie Steen Rita Grießhaber Leo Dautzenberg Ursula Lietz
Ludwig Stiegler Winfried Hermann Wolfgang Dehnel Walter Link (Diepholz)
Rolf Stöckel Antje Hermenau Hubert Deittert Eduard Lintner
Rita Streb-Hesse Kristin Heyne Albert Deß Dr. Manfred Lischewski
Dr. Peter Struck Ulrike Höfken Renate Diemers Wolfgang Lohmann
Joachim Stünker Michaele Hustedt Thomas Dörflinger (Lüdenscheid)
Joachim Tappe Monika Knoche Hansjürgen Doss Dr. Michael Luther
Jörg Tauss Dr. Angelika Köster-Loßack Marie-Luise Dött Erich Maaß (Wilhemshaven)
Jella Teuchner Steffi Lemke Maria Eichhorn Erwin Marschewski
Dr. Gerald Thalheim Dr. Helmut Lippelt Ilse Falk Dr. Martin Mayer
Franz Thönnes Dr. Reinhard Loske Dr. Hans Georg Faust (Siegertsbrunn)
Uta Titze-Stecher Klaus Wolfgang Müller Ingrid Fischbach Wolfgang Meckelburg
Adelheid Tröscher (Kiel) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Michael Meister
Hans-Eberhard Urbaniak Kerstin Müller (Köln) Axel Fischer (Karlsruhe- Dr. Angela Merkel
Rüdiger Veit Winfried Nachtwei Land) Hans Michelbach
Günter Verheugen Christa Nickels Herbert Frankenhauser Meinolf Michels
Simone Violka Cem Özdemir Dr. Gerhard Friedrich Dr. Gerd Müller
Ute Vogt (Pforzheim) Claudia Roth (Augsburg) (Erlangen) Bernward Müller (Jena)
Hans Georg Wagner Christine Scheel Dr. Hans-Peter Friedrich Elmar Müller (Kirchheim)
Hedi Wegener Irmingard Schewe-Gerigk (Hof) Claudia Nolte
Dr. Konstanze Wegner Rezzo Schlauch Erich G. Fritz Günter Nooke
Wolfgang Weiermann Albert Schmidt (Hitzhofen) Jochen-Konrad Fromme Franz Obermeier
Reinhard Weis (Stendal) Werner Schulz (Leipzig) Hans-Joachim Fuchtel Friedhelm Ost
Matthias Weisheit Christian Simmert Dr. Jürgen Gehb Norbert Otto (Erfurt)
Gunter Weißgerber Christian Sterzing Norbert Geis Dr. Peter Paziorek
Gert Weisskirchen Hans-Christian Ströbele Georg Girisch Anton Pfeifer
(Wiesloch) Dr. Antje Vollmer Dr. Reinhard Göhner Beatrix Philipp
Dr. Ernst Ulrich von Ludger Volmer Peter Götz Marlies Pretzlaff
Weizsäcker Sylvia Voß Hermann Gröhe Dr. Bernd Protzner
Hans-Joachim Welt Helmut Wilhelm (Amberg) Manfred Grund Dieter Pützhofen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 935
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Thomas Rachel Johannes Singhammer Ernst Burgbacher Enthalten (C)


Hans Raidel Bärbel Sothmann Jörg van Essen
Dr. Peter Ramsauer Margarete Späte Ulrike Flach SPD
Helmut Rauber Dr. Wolfgang Freiherr von Gisela Frick
Peter Rauen Stetten Paul K. Friedhoff Monika Heubaum
Christa Reichard (Dresden) Andreas Storm Rainer Funke Hans-Ulrich Klose
Hans-Peter Repnik Dorothea Störr-Ritter Dr. Wolfgang Gerhardt
Klaus Riegert Max Straubinger Hans-Michael Goldmann PDS
Dr. Heinz Riesenhuber Thomas Strobl Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Dietmar Bartsch
Franz Romer Michael Stübgen Ulrich Heinrich Petra Bläss
Hannelore Rönsch Dr. Rita Süssmuth Walter Hirche Maritta Böttcher
(Wiesbaden) Dr. Susanne Tiemann Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Edeltraut Töpfer Dr. Werner Hoyer Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Rose Arnold Vaatz Ulrich Irmer Fred Gebhardt
Norbert Röttgen Angelika Volquartz Dr. Klaus Kinkel Wolfgang Gehrcke-Reymann
Volker Rühe Andrea Voßhoff Dr. Heinrich Leonhard Kolb Dr. Klaus Grehn
Dr. Jürgen Rüttgers Peter Weiß (Emmendingen) Jürgen Koppelin Dr. Gregor Gysi
Anita Schäfer Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ina Lenke Dr. Barbara Höll
Karl-Heinz Scherhag Annette Widmann-Mauz Sabine Leutheusser- Carsten Hübner
Gerhard Scheu Heinz Wiese (Ehingen) Schnarrenberger Ulla (Ursula) Jelpke
Norbert Schindler Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Dirk Niebel Sabine Jünger
Dietmar Schlee Gert Willner Günter Friedrich Nolting Gerhard Jüttemann
Bernd Schmidbauer Klaus-Peter Willsch Hans-Joachim Otto Dr. Evelyn Kenzler
Dr.-Ing. Joachim Schmidt Werner Wittlich (Frankfurt) Dr. Heidi Knake-Werner
(Halsbrücke) Dagmar Wöhrl Detlef Parr Rolf Kutzmutz
Andreas Schmidt Aribert Wolf Dr. Günter Rexrodt Heidi Lippmann-Kasten
(Mühlheim) Peter Kurt Würzbach Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ursula Lötzer
Birgit Schnieber-Jastram Wolfgang Zeitlmann Gerhard Schüßler Dr. Christa Luft
Dr. Andreas Schockenhoff Wolfgang Zöller Dr. Irmgard Schwaetzer Heidemarie Lüth
Diethard W. Schütze (Berlin) Marita Sehn Angela Marquardt
Clemens Schwalbe F.D.P. Dr. Max Stadler Rosel Neuhäuser
Wilhelm - Josef Sebastian Carl-Ludwig Thiele Petra Pau
Horst Seehofer Hildebrecht Braun Dr. Dieter Thomae Christina Schenk
Heinz Seiffert (Augsburg) Jürgen Türk Gustav-Adolf Schur
Bernd Siebert Rainer Brüderle Dr. Guido Westerwelle Dr. Ilja Seifert
(B) (D)

Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat der sachverständige Versicherungsmathematiker Professor
Abgeordnete Hansgeorg Hauser. Heubeck sehr deutlich festgestellt – „drastische Verlän-
gerungen der Lebenserwartung und der damit zusam-
menhängenden Veränderung der Sterbewahrscheinlich-
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU):
keit“ in den letzten Jahren eingetreten sind.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Während im sogenannten Vorläufer zum so- Meine Damen und Herren, wenn man das mit der
genannten Steuerentlastungsgesetz in der letzten Woche Debatte von heute nachmittag vergleicht, in der abge-
die Geschenke verteilt wurden, etwa das Kindergeld, das stritten worden ist, daß man in der Rentenversicherung
dann von den Betroffenen später durch Steuererhöhun- eine Anpassung braucht und die diesbezüglich getroffe-
gen an anderer Stelle finanziert werden muß, nen Maßnahmen wieder zurückgenommen hat, dann
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Vorsicht!) muß ich sagen, daß diese Feststellung von Professor
Heubeck eine ganz andere Sprache spricht.
ist das Steueränderungsgesetz, also der zweite Teil der
Salamitaktik, schon weniger angenehm. Wie bitter der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
dritte Teil dann wird, das hat die Anhörung am Montag ordneten der F.D.P.)
und Dienstag dieser Woche ergeben, in der die große Der Wirtschaft wird das zugemutet; für die gesetzliche
Mehrheit der Sachverständigen laut „Handelsblatt“ von Rentenversicherung ist offensichtlich eine solche Vor-
gestern „die Vorlage förmlich in der Luft zerrissen“ hat. sorge nicht zu treffen.
(Zuruf von der SPD: Dann müssen wir dem- (Zuruf von der CDU/CSU: Staatliche Willkür!)
nächst einmal Sachverständige einladen!)
Meine Damen und Herren, die bisherigen Bilanzan-
Im Steueränderungsgesetz geht es – es ist richtig, was sätze müssen daher zwingend angepaßt werden, auch
die Frau Staatssekretärin gesagt hat – um die Anpas- wenn die Höhe der Anpassung von einigen Experten
sung der Pensionsrückstellungen sowie um die Ver-
möglicherweise als nicht ganz ausreichend angesehen
längerung der Aufbewahrungsfristen für bestimmte wird. Das ist aber nicht Gegenstand dieses Gesetzes;
Geschäftsunterlagen. darüber müssen wir uns zu einer anderen Zeit unterhal-
Wir sind uns alle einig, daß die Änderung des § 6 a ten, um vielleicht noch einmal zu diskutieren, wie diese
Einkommensteuergesetz notwendig ist, da – das hat der Anpassungen auszusehen haben.
936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

(A) Strittig an der Gesetzesänderung ist ohne Zweifel die klären und die entsprechenden Unterlagen sicherzustel- (C)
steuerliche Behandlung des Mehraufwandes. Während len. Wegen dieser vergleichsweise wenigen Fälle muß
handelsrechtlich der Anpassungsbedarf sofort, zum die gesamte gewerbliche Wirtschaft einschließlich aller
31. Dezember 1998, ermittelt und über vier Jahre verteilt Freiberufler und sonstigen Selbständigen erhebliche
wird, werden im Steuerbereich die Erfassung ab 1999 Mehrbelastungen auf sich nehmen. Wir sind der Mei-
und eine dreijährige Verteilung vorgeschrieben. Abwei- nung, daß das eine vollkommen unverhältnismäßige und
chend von der bisherigen Behandlung gibt es hier kein unangemessene Maßnahme zugunsten der Finanzver-
Wahlrecht mehr. Vielmehr wird zwingend vorgeschrie- waltung ist.
ben, diese Verteilung auf drei Jahre vorzunehmen. Es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ergibt sich also damit wieder eine neue Abweichung der
der F.D.P.)
Steuerbilanz von der Handelsbilanz. Damit wird das
Maßgeblichkeitsprinzip natürlich erneut durchlöchert. Damit es hier keine Mißverständnisse gibt – das
wollen Sie uns natürlich gerne anhängen –, möchte ich
Es ist schon interessant, daß die Frau Staatssekretärin
folgendes sagen: Wir sind selbstverständlich ebenfalls
als Begründung den einzigen Sachverständigen zitierte,
dafür, daß Steuerhinterziehung verfolgt wird und auch
der diese zwingende Verteilung befürwortet hat. Alle
geeignete Maßnahmen getroffen werden können, um die
anderen Sachverständigen – ich habe das noch einmal
entsprechenden Verfolgungen und Untersuchungen
nachgezählt – haben diesen Zwang abgelehnt und sich
durchführen zu können.
für das Wahlrecht eingesetzt.
(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie tun nichts dafür!
Wir sehen nicht ein, warum diese bisher bewährte Regel – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür haben
abgeändert werden soll. Sie 16 Jahre nichts getan!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dazu hatte die Verwaltung 6 Jahre Zeit. Auch jetzt noch
der F.D.P.) hat die Verwaltung – auch das haben die Experten be-
stätigt – geeignete Möglichkeiten, bestimmte Beweise
Um Handelsbilanz und Steuerbilanz nicht getrennt er-
sicherzustellen. Die Wirtschaft hat nun jedoch mit voll-
stellen zu müssen, schlagen wir deshalb vor, die han-
kommen überzogenen Maßnahmen zu rechnen und zu
delsrechtliche Behandlung auch für die steuerrechtliche
arbeiten. Wir halten das für skandalös.
Behandlung zugrunde zu legen, das heißt, den Anpas-
sungszeitpunkt auf Wirtschaftsjahre, die zum 31. De- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zember 1998 enden, zu fixieren und ein Recht für die der F.D.P. – Joachim Poß [SPD]: Skandalös ist
Verteilung auf bis zu vier Jahre festzulegen. Wir plädie- die Steuerhinterziehung! – Reinhard Schultz
(B) ren also für das Wahlrecht und nicht für den Zwang. [Everswinkel] [SPD]: Da spricht der Sprecher (D)
der Schutzgemeinschaft der deutschen Steuer-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
hinterzieher!)
der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Wären
Sie noch Staatssekretär, würden Sie das anders Der Vertreter des Gastgewerbes – um einmal die Pra-
sehen!) xis eines kleinen Bereiches zu veranschaulichen –, aber
auch eine ganze Reihe von anderen Experten, beispiels-
Der zweite Teil des Steueränderungsgesetzes bein-
weise aus dem Handwerk, haben klargemacht, was es
haltet eine gravierende Änderung der Aufbewahrungs-
für sie bedeutet, wenn nun Tonnen von zusätzlichem
fristen. In § 147 Abs. 3 der Abgabenordnung wird die
Papier unnötigerweise archiviert und aufbewahrt werden
Frist für die Aufbewahrung der in Abs. 1 Nrn. 1 und 4
müssen. Wir sind der Meinung, daß das Gebot der Ver-
aufgeführten Unterlagen von bisher 6 auf 10 Jahre ver-
hältnismäßigkeit gröblichst verletzt wird.
längert. Es ist unglaublich, mit welcher Rücksichtslosig-
keit insbesondere kleinen und mittleren Firmen neue (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Kostenbelastungen aufgebürdet werden. der F.D.P.)
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Professor Bareis hat auf die historische Entwicklung
CDU/CSU) dieser Vorschriften hingewiesen. Bis vor 40 Jahren
mußte man die entsprechenden Unterlagen noch 10 Jah-
Aber auch bei den großen Unternehmen – auch dafür
re aufheben. Dann wurde in zwei Schritten, 1959 und
gab es beredte Zeugen – wird dies zu erheblichen
1976, die Frist auf 7 bzw. auf 6 Jahre verkürzt. Hin-
Schwierigkeiten führen, da 40 Prozent mehr archiviert
sichtlich der Schriftgutaufbewahrung galt seit 1959 be-
werden müssen. Dafür gibt es in den meisten Firmen
reits eine Erleichterung, um, wie es damals hieß, die aus-
natürlich keine freien Kapazitäten.
ufernde Flut der aufzubewahrenden Unterlagen einzu-
(Detlev von Larcher [SPD]: Da muß gar nicht dämmen. Man hat es also schon damals eingesehen. In
mehr archiviert werden!) der Zwischenzeit ist die Flut der Belege noch größer
geworden. Herr Bareis sagt, die Begründung von damals
Der Ausgangspunkt ist genannt worden. Er liegt in
sei auch heute noch richtig und sinnvoll. Dem schließen
der Tatsache begründet, daß es der Finanzverwaltung,
wir uns an. Das ist auch unsere Meinung, und deshalb
insbesondere in Nordrhein-Westfalen, nicht gelungen
lehnen wir diese Verlängerung ab.
ist, einige Hunderte oder Tausende von Fällen aus dem
Bereich der Überprüfung von Geldtransfers ins Ausland (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
rechtzeitig vor Ablauf der Aufbewahrungsfristen aufzu- der F.D.P.)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 937
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)

(A) Es ist schon zynisch, wenn man uns im Ausschuß lich schlechter geworden ist und daß die Investitionsbe- (C)
vorhält, daß die Wirtschaft auf moderne Archivierungs- reitschaft sowie die Bereitschaft, Neueinstellungen vor-
techniken zurückgreifen kann. zunehmen, erheblich zurückgegangen sind. Das sind
deutliche Reaktionen auf die von Ihnen angekündigte
(Walter Hirche [F.D.P.]: Das soll man mal ei- Steuerpolitik. Sie haben es in den wenigen Wochen
nem kleinen Handwerksbetrieb sagen! Das ist nicht nur geschafft, eine ganze Reihe von Menschen zu
eine Frechheit!) verunsichern,
Für diejenigen, die solche Techniken bisher nicht ange- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Kein Stück!)
wendet haben, kostet die Einführung sehr viel Geld.
Außerdem – auch das haben wir gehört – ist eine Neu- sondern Sie haben es auch geschafft, daß das Wirt-
installierung solcher Techniken sehr zeitaufwendig. schaftsklima innerhalb dieser kurzen Zeit in den Keller
Auch dafür sind, wie gesagt, Beispiele genannt worden. gegangen ist.
Im übrigen ist noch lange nicht garantiert – auch das ist
(Zuruf von der SPD: Dummes Zeug!)
gesagt worden –, daß man, wenn man eine solche
moderne Technologie einmal eingeführt hat, sie für alle Nehmen Sie dieses Steuergesetz wieder zurück, so
Zeit nutzen kann. Durch Systemänderungen, insbeson- wie es Ihnen die Experten empfohlen haben!
dere im Bereich der Software, ist es sehr häufig vorge-
kommen – das hat uns zum Beispiel der Vertreter der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
BASF klargemacht –, daß man wieder vollkommen neue Machen Sie ein ordentliches Steuerreformgesetz mit
Techniken einführen und kostspielige Anpassungen vor- niedrigen Steuersätzen, wenigen Ausnahmen und einer
nehmen muß. vernünftigen Entlastung, dann werden auch wir auf Ihrer
Seite stehen.
In anderen Ländern sind die Aufbewahrungszeiten in
der Regel kürzer und wesentlich weniger stringent gere- Herzlichen Dank.
gelt. Auch das kann ein Wettbewerbsnachteil für die
deutsche Wirtschaft sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, Belastungen wie die auf


Grund der nun vorgesehenen Änderung der Aufbewah- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
rungsfristen sind geradezu symptomatisch für das ge- jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
samte sogenannte Steuerentlastungsgesetz.
(Walter Hirche [F.D.P.]: Belastungsgesetz!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es geht
(B) Während draußen in der Wirtschaft der Bundeskanzler heute, Herr Hauser, nicht um das gesamte Steuerentla- (D)
und die Koalitionsvertreter das Märchen erzählen, stungsgesetz, sondern es geht um den sogenannten
(Detlev von Larcher [SPD]: Märchen erzählen zweiten Vorläufer. Es ist schon nett – es ist ja kurz vor
Sie!) Weihnachten –, wenn einer neuen Regierung, die erst
kurze Zeit im Amt ist, neue biometrische Berechnungs-
daß der Mittelstand entlastet würde, wird hier im Parla- grundlagen vorgelegt werden, die belegen, daß es eine
ment durch die Regierung heftig an neuen Belastungen längere Lebenserwartung gibt. Das ist wunderbar und
gearbeitet. Das ganz dicke Ende kommt im nächsten freut uns alle. Auch der Rückgang im Bereich der Inva-
Frühjahr mit massiven neuen Belastungen für die ge- lidisierung ist durchaus als sehr positiv zu bewerten.
samte Wirtschaft.
§ 6 a Abs. 3 Einkommensteuergesetz schreibt nun für
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist das!) die Berechnung von Pensionsrückstellungen die An-
wendung der anerkannten Regeln der Versicherungs-
Die Anhörung der nahezu 150 Fachleute aus Verbän- mathematik vor. Die entsprechende Änderung müssen
den und Organisationen hat sehr eindeutig ergeben, daß
wir in diesem Jahr beschließen und auch gesetzlich um-
die geplanten Maßnahmen des Steuerentlastungsgeset-
setzen.
zes drastische Auswirkungen haben werden. Neue, zum
Teil existenzbedrohende Änderungen wie die Abschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fung der Teilwertabschreibung, das rückwirkende sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wertaufholungsgebot, Einschränkungen von Rückstel-
lungsbildungen usw. führen zu deutlichen Steuererhö- So lösen die neuen Richttafeln, die Anfang November
hungen, die durch die geplanten Steuersatzsenkungen 1998 erschienen sind, die Richttafeln von 1983 ab.
bei weitem nicht ausgeglichen werden. Strukturände- Darin, Herr Hauser, besteht ja Übereinstimmung.
rungen werden behindert oder ganz blockiert, so daß zur (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/
Zeit vollkommen überhastete Maßnahmen ergriffen CSU]: Das ist richtig! – Zuruf des Abg. Hans
werden, um Betriebe zu veräußern oder andere Struktu- Michelbach [CDU/CSU])
ren zu schaffen.
Die einzige Differenz zwischen der heutigen Vorlage,
Das hat bereits Auswirkungen in der Wirtschaft. Die Herr Michelbach, und Überlegungen, die während der
Geschäftserwartungen und das Wirtschaftsklima sind Anhörung und auch von der Opposition geäußert wur-
erheblich schlechter geworden. Eine Untersuchung der den, liegt in der Frage, ob die Verteilung auf mehrere
IHK Frankfurt zeigt sehr deutlich, daß das Klima erheb- Jahre zwingend ist oder ob es ein Wahlrecht für die Un-
938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Christine Scheel

(A) ternehmen gibt. Hier liegt nun ein Vorschlag vor, der im Es geht um die Bekämpfung der Steuerhinterziehung (C)
Ergebnis eine gleichmäßige Verteilung des Betrags auf und nicht darum, irgend jemanden zu verärgern.
die drei Jahre von 1999 bis 2001 vorsieht. Dieser Kom-
promiß, meine Damen und Herren von der CDU/CSU- Wer Mißbrauch bekämpfen will, muß unserer Rege-
Fraktion, berücksichtigt zum einen die anerkannten Re- lung zustimmen, zumal wir eine Kompromißlösung ge-
geln der Versicherungsmathematik, zum zweiten die funden haben. Diese sieht nicht vor, daß – wie Sie im-
Richttafeln von 1998 und zum dritten – das ist ganz mer so schön sagen – jeder Wisch aufgehoben werden
wichtig – auch das Stichtagsprinzip. muß, sondern es geht um Aufzeichnungen, Inventare,
Jahresabschlüsse, Lageberichte, Eröffnungsbilanzen und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Buchungsbelege. Um Mißbrauch vorzubeugen, ist es
sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans durchaus legitim, daß für die Durchführung der Ermitt-
Michelbach [CDU/CSU]: Geldabschöpfung!) lungen die Aufbewahrungsfrist in diesem Bereich an die
Verjährungsfrist angepaßt wird.
Dies ist mit handelsrechtlichen Grundsätzen vereinbar
und hat den Vorteil, auf einfache Weise handhabbar zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sein. und bei der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Eben nicht!) Es gibt durchaus auch Kritik, die in die andere Rich-
Wir meinen, daß der vorgesehene Übergangszeitraum tung geht. Herr Ondracek von der Deutschen Steuer-
vernünftig ist. Er ist schon heute im Gesetz angelegt. Gewerkschaft hat die Auffassung vertreten, daß wir
Wenn man recherchiert – dies wurde auch von der Ar- nicht genug sammeln. Er kritisiert, daß wir die ur-
beitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung be- sprünglich von Niedersachsen vorgelegten Vorschläge
stätigt, die sich auf diesem Gebiet auskennt –, dann nicht umgesetzt haben und daß wir die Regelung auf die
kommt man zu dem Ergebnis, daß gerade der Mittel- eben erwähnten Unterlagen beschränkt haben und eben
stand von dieser Verteilung Gebrauch gemacht hat. nicht all die Unterlagen einbezogen haben, die die Steu-
Deswegen kann ich zu der Kritik, das sei mittelstands- erfahndung eigentlich für die Ermittlung braucht. Er
feindlich, nur sagen: Es ist durchaus richtig, daß wir die sagte: Wenn man weiß, daß die Steuerfahndung kommt,
Regelung in dieser Form vorgelegt haben. wird „clean“ gemacht. Er sprach so schön von „verzau-
bern“. Aus diesem Grunde meinen wir, daß möglichst
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viele der Unterlagen, die die Steuerfahndung braucht,
und bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele aufgehoben werden müssen. Deswegen dient dieser
[F.D.P.]: Dann müßten sie doch wählen kön- Vorschlag der Bekämpfung der Steuerhinterziehung.
nen!) Dafür treten wir ein.
(B) Nun zur Verlängerung der steuerlichen und han- Vielen Dank. (D)
delsrechtlichen Aufbewahrungsfristen von sechs auf
zehn Jahre. Herr Hauser, nach Ihrer Rede muß ich Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sagen: Wollen wir doch einmal abwarten, ob beispiels- und bei der SPD)
weise die leerstehenden gewerblichen Immobilien in den
neuen Bundesländern, die es bedauerlicherweise dort
gibt und die Entscheidungen der alten Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
zu verdanken sind, zu diesem Zweck angemietet oder jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.
gepachtet werden müssen. Sie tun gerade so, als ob wir
als neue Regierungsfraktion ausgerechnet für dieses
Problem eine Lösung hätten finden wollen. Wir wollen Jörg-Otto Spiller (SPD): Frau Präsidentin! Meine
einmal abwarten, wieviel Räume für die Lagerung der sehr verehrten Damen und Herren! Im Mittelpunkt der
Akten angemietet werden müssen. Steuerreform stehen die beiden Fragen, über die wir uns
heute unterhalten, nicht. Wenn es nach uns gegangen
(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist ja ein Zynis- wäre, hätten wir diesen Teil der Gesetzgebung in der
mus!) vorigen Woche schon abschließen können. Aber es ist
– Wenn Herr Hauser übertreibt, dann kann ich zynisch das gute Recht der Oppositionsfraktionen, eine Anhö-
werden. rung zu verlangen. Sie haben es getan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir hätten ein schnelleres Verfahren bevorzugt. Aber
und bei der SPD – Ingrid Matthäus-Maier nach der Anhörung darf ich sagen: Ich möchte mich bei
[SPD]: Sehr gut!) Ihnen ausdrücklich bedanken. Die Position der Regie-
rung und der Koalition ist nämlich aus der Anhörung in
Man muß doch die Ausgangslage betrachten. Es gibt der Sache gestärkt hervorgegangen.
im Falle von Steuerhinterziehung eine Verjährungsfrist
von zehn Jahren. Daraus folgt, daß in diesem Zeitraum (Beifall bei der SPD – Lachen bei der
ermittelt werden muß. Es kann aber nur dann ermittelt CDU/CSU und der F.D.P. – Hansgeorg Hau-
werden, wenn die notwendigen Belege und Unterlagen ser [Rednitzhembach] [CDU/CSU]: Hier ist
vorliegen. Das ist doch vollkommen logisch. das Protokoll!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich habe das Protokoll ebenfalls und empfehle, es zu
und bei der SPD) lesen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 939
Jörg-Otto Spiller

(A) Herr Hauser, in bezug auf die Aufbewahrungsfristen Als einziges war jetzt – Herr Kollege Hauser hat es (C)
muß ich als erstes klarstellen: Wir haben in den Gesetz- gesagt – die Frage des Wahlrechtes kontrovers. Herr
entwurf nicht hineingeschrieben, daß sämtliche Ge- Hauser, Sie sind ja dabeigewesen. Die Sachverständi-
schäftsunterlagen zehn Jahre aufzuheben seien. Das ist gen, die eine neutrale Position beziehen,
vielmehr ein Kompromiß, in dem steht, daß Buchungs-
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Professor Bareis!)
belege, Geschäftsabschlüsse, Bilanzen und ähnliches
zehn Jahre lang aufbewahrt werden müssen. Zum Teil weil sie selbst keine unmittelbaren Interessen verfolgen,
wurde aber von der Finanzverwaltung und auch von kamen zum einen vom Institut der Wirtschaftsprüfer.
Bundesländern gefordert, daß die vollständige Ge- Die Wirtschaftsprüfer sind vom Gesetz her verpflichtet,
schäftskorrespondenz ebenfalls zehn Jahre aufbewahrt neutral zu sein, keine Interessen der einen oder anderen
werden sollte. Das haben wir herausgenommen, und das Seite zu verfolgen, sondern neutral zu prüfen. Zum an-
ist ein vernünftiger Kompromiß. deren war es der Versicherungsmathematiker Professor
Heubeck. Beide haben gesagt, daß die Lösung ohne
Herr Hauser, wenn Sie den Wirtschaftsverbänden die
Wahlrecht vernünftig ist.
direkte Fangfrage stellen, ob sie Papier lieber sechs oder
zehn Jahre lang aufheben wollen, dann sagen sie Ihnen Am deutlichsten haben das die Wirtschaftsprüfer ge-
natürlich, ihnen seien sechs Jahre lieber. sagt, weil folgendes natürlich zutrifft: Wenn eine höhere
Rückstellung notwendig ist, dann kann man es doch
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Drei wären
nicht im Belieben der einzelnen lassen, ob sie eine sol-
noch besser!)
che Verpflichtung in der Bilanz ausweisen oder nicht, je
Wenn Sie fragen, ob sie sehr schnell Ordnung in ihre nachdem, ob es ihnen gefällt oder nicht. Es kann doch
Unterlagen bringen wollten oder ob sie sich damit lieber nicht im Belieben des einzelnen stehen, ob man die
ein bißchen mehr Zeit ließen, dann sagen sie vielleicht Wahrheit sagt oder nicht. Das muß sich doch in der
auch, daß es ihnen lieber wäre, wenn sie sich etwas Bilanz korrekt ausweisen lassen, und zwar ohne jedes
mehr Zeit lassen könnten. Wahlrecht.
Relevanter war in der Anhörung aber der deutliche In ähnlicher Weise hat es auch Professor Heubeck
Hinweis, daß es einen ganz sachlichen Zusammenhang dargelegt.
gibt: Es geht um die Bekämpfung von Steuerhinterzie-
(Joachim Poß [SPD]: Die Staatsregierung in
hung.
Bayern sieht es genauso! – Gegenruf der Abg.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ina Lenke [F.D.P.]: Die hat auch nicht immer
90/DIE GRÜNEN) recht!)
(B) Man tut gerade dem Mittelstand Unrecht, wenn man ihm – Wir wollen gerne zu Protokoll nehmen, daß die baye- (D)
generell Sympathie für Steuerhinterziehung unterstellt. rische Staatsregierung nicht immer recht hat; aber
manchmal hat sie doch recht.
(Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele
[F.D.P.]: Da haben Sie recht! – Hans Michel- Professor Heubeck hat nun wirklich recht, und ich
bach [CDU/CSU]: Wer macht das denn?) möchte Ihnen vorlesen, was er in seiner schriftlichen
Stellungnahme, die dem Finanzausschuß zugeleitet wor-
– Herr Kollege Michelbach, die Masse auch der Mittel- den ist, geschrieben hat:
ständler gehört doch zu den redlichen Steuerzahlern.
Es ist ... durchaus sachgerecht, den auf dieser Pe-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten riodisierung
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bei-
fall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der – es ist kein Prozeß von Tag zu Tag, sondern ein laufen-
F.D.P.) der Prozeß, daß die Lebenserwartung steigt –
Die haben doch wie jeder redliche Steuerzahler ein In- beruhenden Auffüllbetrag nicht voll im ersten Jahr,
teresse daran, daß diejenigen, die Steuern hinterziehen, sondern auf einige Jahre verteilt der Rückstellung
auch ein hohes Risiko eingehen. zuzuführen.
(Beifall bei der SPD) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eben!)
Das ist doch im Interesse aller redlichen Steuerzahler. Der im Gesetz vorgesehene Übergangszeitraum
Was diesen Punkt angeht, stehen wir gut da, nach dieser von vier Jahren mit einer im Ergebnis dreijährigen
Anhörung noch besser als vorher. gleichmäßigen Verteilung ... auf die Jahre 1999 bis
2001 ist ein vertretbarer Kompromiß, der die aner-
Zu den Pensionsrückstellungen muß ich noch etwas kannten Regeln der Versicherungsmathematik, die
sagen. Es ist ja erfreulich, daß die Lebenserwartung Eigenschaften der Richttafeln 1998 und das Stich-
steigt, und wir nehmen die unangenehme Folge gern in tagsprinzip berücksichtigt. Er ist aus meiner Sicht
Kauf, daß die Steuereinnahmen zunächst zurückgehen vereinbar mit handelsrechtlichen Grundsätzen und
werden; das muß man hinnehmen. Daß die Lebenser- hat zudem den Vorteil der einfachen Handhabbar-
wartung von Jahr zu Jahr steigt, ist ein Prozeß. Aber es keit.
werden eben nicht in jedem Jahr neue Sterbetafeln er-
rechnet, so daß man sich auf einen Stichtag verständigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
muß. Diese Systematik ist bisher unumstritten gewesen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
940 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Jörg-Otto Spiller

(A) Besser kann es doch nicht sein. Ich möchte mich bei Irgendwann kommt sogar der Schlußläufer. Wir wollen (C)
Ihnen bedanken, daß Sie uns dazu verholfen haben, daß einmal sehen, wann dieser ganze Lauf ein Ende haben
die Sachverständigen dies noch einmal in solch großer wird.
Klarheit zum Ausdruck gebracht haben.
(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Märchen-
90/DIE GRÜNEN) stunde!)
Der zentrale Punkt – den kritisieren nicht nur wir,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat sondern auch die Sachverständigen und die gesamte Öf-
jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele. fentlichkeit – besteht darin, daß Sie eine Politik der Ver-
(Zurufe von der SPD: Nein!) unsicherung betreiben. Die Steuerpflichtigen, insbeson-
dere die Unternehmen in unserem Land, haben über-
– Doch, er hat das Wort. haupt keine Vorstellung davon, wie das Steuerrecht im
nächsten Jahr aussehen wird. Das hat zwangsläufig zur
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Prä- Folge, daß Investitionsentscheidungen zurückgehalten
sidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir werden, daß im Laufe des nächsten Jahres Tatbestände
beraten heute in abschließender Lesung den zweiten geschaffen werden, die bereits ab dem 1. Januar näch-
Vorläufer des im Hinblick auf die Arbeitsplätze und die sten Jahres gelten. Wie soll jemand investieren, wenn er
Wirtschaft als Steuerentlastungsgesetz getarnten Steuer- nicht einmal weiß, unter welchen steuerlichen Rahmen-
belastungsgesetzes. bedingungen dies geschieht?
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
CDU/CSU)
In der diesbezüglichen Anhörung in dieser Woche
haben mit Ausnahme von Herrn Hickel und des DGB alle So schafft man kein Vertrauen. So schafft man keine
Sachverständigen erklärt, daß Ihr Gesetzesentwurf Ihr Investitionen. So schafft man keine Arbeitsplätze.
selbstgestecktes Ziel verfehlt, nämlich mehr Wachstum
und mehr Beschäftigung in Deutschland zu erreichen. Herr Minister Lafontaine, ich habe gerade im Fernse-
hen gesehen, wie Sie erklärt haben, daß es Ihr Ziel ist,
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- die Zahl der Arbeitslosen auf 3 Millionen zu verringern.
ten der CDU/CSU)
(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS
Der Unterschied zur Anhörung im Rahmen der Steu- 90/DIE GRÜNEN]: Gutes Ziel!)
erreform der alten Koalition besteht darin, daß die Sach-
(B) verständigen seinerzeit zu der Reform gesagt haben: Ja, Wir wünschen Ihnen im Interesse der Arbeitslosen viel (D)
aber ... Zu Ihrer Reform sagen alle Sachverständigen: Erfolg. Nur, dieser Gesetzentwurf ist der falsche Weg,
Nein, das ist nicht der Weg, mit dem neue Arbeitsplätze um die von Ihnen selbst gesteckten Ziele überhaupt er-
in Deutschland geschaffen werden können. reichen zu können.
Deshalb fordern wir von der F.D.P. Sie auf: Ziehen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Machen Sie eine ver-
nünftige Steuerreform! Entdecken Sie den Charme der Die einzige Mehrbeschäftigung erreichen Sie bei den
Langsamkeit! steuerberatenden Berufen. Die können sich momentan
vor Anfragen nicht retten, wie jetzt steuerlich noch et-
(Joachim Poß [SPD]: Nach der Weih- was geregelt werden soll. Denn ein Handwerker, der
nachtspause, Herr Thiele!) sein Lebenswerk in seinen Betrieb gesteckt hat, weiß gar
Das haben Sie doch selbst gefordert. Wir bitten Sie: Ma- nicht, ob er dieses Lebenswerk im nächsten oder im
chen Sie jetzt endlich einmal von dem Reiz der Gründ- übernächsten Jahr zur Sicherung seines Lebensabends
lichkeit Gebrauch, und legen Sie diesem Hause einen überhaupt nutzen kann, weil Sie den bei der Veräuße-
gründlichen und vernünftigen Gesetzentwurf vor! rung von Betriebsteilen geltenden halben Steuersatz im
Rahmen der Altersvorsorge streichen wollen. Das ist ei-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – ner der Gründe, warum momentan so viel an Beratung
Joachim Poß [SPD]: Machen Sie doch einmal erforderlich ist.
von dem Reiz des Nachdenkens Gebrauch!)
Sie hätten die Möglichkeiten, einen vernünftigen
Es ist ja erstaunlich, daß Sie überhaupt nicht über ein Weg zu gehen. Sie können auch jetzt noch das Modell
geschlossenes Konzept verfügen. In der letzten Woche der F.D.P. übernehmen, Herr Finanzminister. Ich emp-
wurde vom Deutschen Bundestag ein erster Vorläufer fehle es Ihnen.
beschlossen. In dieser Woche wird ein zweiter Vorläufer
beschlossen. Demnächst kommt wahrscheinlich ein (Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD)
dritter Vorläufer.
Dann haben Sie die Möglichkeit, hier etwas mehr
(Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS Vertrauen zu schaffen.
90/DIE GRÜNEN]: Das liegt an Ihnen! –
Detlev von Larcher [SPD]: Sie erzählen In der Sache würde ich es für richtig halten, wenn die
Märchen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Steuerfahndung innerhalb von sechs Jahren endlich be-
Märchenonkel!) ginnt und wenn nicht, um einzelne zu treffen, alle Steu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 941
Carl-Ludwig Thiele

(A) erpflichtigen mit einem unsinnigen Verwaltungsauf- fer gibt, der im Hinblik auf den Ablauf der Gesetzesbe- (C)
wand im Sinne einer Schleierfahndung belegt werden. ratungen das Chaos noch verstärken würde. Können Sie
mir dann die Frage beantworten, warum ausgerechnet
(Ina Lenke [F.D.P.]: Genau! – Joachim Poß
die Opposition, obwohl schriftliche Stellungnahmen
[SPD]: Sie wollen die Steuerhinterziehung schon längst vorlagen, eine Anhörung beantragt hat, die
schützen! Die F.D.P. ist doch bekannt:
uns als Regierungsfraktionen letztendlich – von der Ge-
Schutzgemeinschaft der Steuerhinterzieher!)
schäftsordnung selbstverständlich korrekt – in die Lage
Sie hätten unserem Vorschlag folgen können: Ver- versetzt hat, diesen zweiten Vorläufer vorzulegen? Sonst
längerung um ein Jahr für das Kreditgewerbe, dann hät- hätte es nämlich nur einen gegeben.
ten Sie die nämlich auch bekommen. Sie betreiben hier
eine Verunsicherung und eine Mehrbelastung der Wirt-
Heidemarie Ehlert (PDS): Die Themen, die wir
schaft, die leider nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen
heute behandeln, und die Auswirkungen waren so wich-
wird.
tig, daß eine Anhörung dringend notwendig war.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
Joachim Poß [SPD]: Der Schutzhäuptling der (Beifall bei der PDS)
Steuerhinterzieher! – Gegenruf des Abg. Nor- Erst in der Ausschußsitzung wurden uns durch die
bert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Das ist doch Regierung die Auswirkungen der Pensionsrückstellun-
beleidigend! – Joachim Poß [SPD]: Das ist gen eindeutig geklärt. Deshalb wurde die Anhörung ge-
aber zutreffend!) fordert.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlev von
jetzt die Abgeordnete Heidemarie Ehlert. Larcher [SPD]: Der den zweiten Vorläufer
verursacht, beklagt sich jetzt!)
Heidemarie Ehlert (PDS): Frau Präsidentin! Sehr Ich bin erstaunt über Ihr kurzes Gedächtnis. Offen-
geehrte Damen und Herren! Die heutige Behandlung sichtlich ist Ihnen der Fall des Bäderkönigs und Strauß-
von Pensionsrückstellungen und Aufbewahrungsfristen Freundes Zwick noch in bester Erinnerung; er müßte es
steht symbolisch für das Chaos im gesamten Gesetzge- auf jeden Fall noch sein. Das Problem der Steuerhinter-
bungsverfahren. ziehung und somit der Ausdehnung der Aufbewahrungs-
fristen läßt sich eben nicht auf einen Bereich der Volks-
(Beifall bei der PDS) wirtschaft beschränken.
(B) Erst darf die Öffentlichkeit einen Entwurf für ein (Beifall bei der PDS) (D)
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 zur Kenntnis
nehmen, dann gibt es zum Gesetzentwurf einen Vorläu- Gemäß Gesetzentwurf sollen Aufbewahrungsfristen
fer, und nun diskutieren wir bereits den zweiten, ur- allerdings nur für Buchungsbelege und nicht – wie von
sprünglich nicht vorgesehenen Vorläufer. Hinsichtlich der PDS gefordert – für alle steuerlich relevanten Belege
dieses Durcheinanders hat die neue Bundesregierung ausgedehnt werden.
nun wirklich Kontinuität zu ihrer bisherigen Politik be- Schon aus diesem Grund ist es zweifelhaft, ob die
wiesen. Neuregelung zum gewünschten Ergebnis führen wird.
Die Ausdehnung der Aufbewahrungsfristen soll der Aber offensichtlich ist die Aufklärung von Steuerhinter-
Finanzverwaltung und Gerichtsbarkeit die Möglichkeit ziehung nicht gewollt, und wir können es uns leisten, auf
geben, Steuerhinterziehung besser zu verfolgen. Wäh- 30 Milliarden DM hinterzogene Steuern zu verzichten.
rend der vergangenen Tage, auch heute wieder, war Es fehlen uns in den Finanzämtern einfach die Be-
diesbezüglich von Kollegen wiederholt die Meinung zu triebsprüfer. Meine Damen und Herren, das müssen Sie
hören, daß Steuerhinterziehung nur den Bereich der einfach zur Kenntnis nehmen.
Banken und Versicherungen betreffe und man daher die (Beifall bei der PDS)
Ausdehnung der Aufbewahrungsfristen auf den Finanz-
sektor beschränken solle. In Sachen Pensionsrückstellung nur soviel: Die Er-
höhung der Zuführung zu den Rückstellungen ist not-
wendig; darin sind wir uns alle einig. Problematisch war
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, allerdings die Behandlung des Themas seitens der Re-
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scheel? gierung. Die PDS trägt die vorgeschriebene Drittelung
der Rückstellungserhöhung mit, damit Steuerausfälle für
den Bundeshaushalt planbar sind.
Heidemarie Ehlert (PDS): Aber gern.
Mit der Verteilung auf drei Jahre wird nun auch auf
die unterschiedliche wirtschaftliche Lage der Unterneh-
Vizepräsientin Dr. Antje Vollmer: Bitte. men Rücksicht genommen. Die erneute Begünstigung
von Großunternehmen wird erstmals in diesem Haus
verhindert, und das ist neu.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Ehlert, Sie beklagen, daß es einen zweiten Vorläu- (Beifall bei der PDS)
942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. auf die Plätze zu begeben. Wer noch etwas zu bereden (C)
– Ich schließe damit die Aussprache. hat, möge das bitte draußen tun. – Ich glaube, ich kann
die Aussprache jetzt eröffnen. Als erste hat das Wort die
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Abgeordnete Christine Ostrowski.
Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
brachten Gesetzentwurf eines Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002. Der Finanzausschuß empfiehlt, den ver- Christine Ostrowski (PDS): Frau Präsidentin! Mei-
abschiedenten weiteren Teil des Gesetzentwurfs in der ne Damen und Herren! Der Bundesgrenzschutz verteilt
Ausschußfassung mit dem Titel „Entwurf eines Steuerän- im ostsächsischen Raum Flugblätter:
derungsgesetzes 1998“ anzunehmen und den übrigen
Teil einer späteren Beschlußfassung vorzubehalten. Lassen Sie sich nicht von Schleuserbanden miß-
brauchen, nehmen Sie keine offensichtlich illegal
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in eingereisten Personen in Ihrem Taxi mit.
der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand-
Wären Sie Taxifahrer in Zittau und beförderten als
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
solcher einen ausländischen Bürger, sagen wir, von Zit-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
tau nach Bautzen, also innerhalb Deutschlands, und kä-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen
men in eine Kontrolle des BGS, bei der festgestellt wird,
die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen
daß Ihr Fahrgast illegal eingereist ist, wären Sie schon
worden.
so gut wie im Gefängnis.
Wir kommen zur 30 Taxifahrer im Raum Zittau/Görlitz, 41 Prozent al-
dritten Beratung ler dort tätigen, standen vor Gericht, sechs sind rechts-
kräftig zu Haftstrafen zwischen zwölf und 26 Monaten –
und Schlußabstimmung. Die Fraktionen SPD und Bünd- ohne Bewährung – verurteilt, vier sitzen bereits ein, weil
nis 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. sie Personen gefahren hatten, wie es ihnen das Perso-
Ich bitte die Schriftführer, an die vorgesehenen Plätze zu nenbeförderungsgesetz vorschreibt. Daß ihre Fahrgäste
gehen. Sind alle Urnen besetzt? – Das scheint der Fall zu illegal über die Grenze kamen, wußten die Chauffeure
sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. nicht – ihr Pech. Ermittlung, Anklage, Urteil: Schuldig
Ist noch ein Mitglied des Hauses im Raum, das seine des Einschleusens von Ausländern.
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Was passiert hier eigentlich? Was ist los in diesem
Ich schließe damit die Abstimmung. Lande, in dem der BGS bundesweit – stets auf der Suche
nach illegal eingereisten Ausländern verdachtsunabhän-
Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
(B) ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen spä- gig kontrollieren kann und das insbesondere gegenüber (D)
Berliner und Brandenburger Taxifahrern und in Sachsen
ter bekanntgegeben.*)
weidlich tut, wo Taxifahrer der Strafverfolgung unter-
(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS liegen, weil sie nichts anderes tun, als Personen zu be-
90/DIE GRÜNEN] wirft eine Stimmkarte in fördern?
die Urne – Zurufe von der CDU/CSU: Dies alles geschieht auf sogenannter rechtlicher
Schwindel!) Grundlage, konkret dem § 92, dem „Schleuserparagra-
– Liebe Schriftführer, wenn ich die Abstimmung ge- phen“, mit dem 1994 das Ausländergesetz verschärft
schlossen habe, ist sie an sich geschlossen. wurde. Auf ihn stützen sich BGS, Polizei und Justiz in
ihrem Handeln.
Wir setzen die Beratungen fort.
Wir sehen jetzt, wohin die Verschärfung des Auslän-
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: derrechts führt: zur Ungeheuerlichkeit eines regelrech-
ten Generalverdachtes gegen ausländische Bürger und
Aktuelle Stunde gegen einen Berufsstand. Quasi per se sind ausländische
auf Verlangen der Fraktion der PDS Bürger des illegalen Grenzübertrittes verdächtig und
Taxifahrer der Schleusung.
Haltung der Bundesregierung zur öffentlichen
Verunsicherung in der Euro-Region Neiße in- Der Schleuserparagraph gehört deshalb auf den Prüf-
folge der Verurteilung von Taxifahrern und stand; denn wer Ausländer kriminalisiert – genau das
Haltung der Bundesregierung zum Vorgehen sehen wir jetzt –, kriminalisiert letzten Endes auch deut-
des Bundesgrenzschutzes in diesem Zusam- sche Staatsbürger.
menhang (Beifall bei der PDS)
(Unruhe) Während Berliner und Brandenburger Taxis zwar
– Ich möchte gerne die Aussprache eröffnen, aber vorher immer wieder kontrolliert werden, bisher aber lediglich
brauchen wir etwas Ruhe und Übersichtlichkeit im Saal. Ermittlungsverfahren eingeleitet und Verhöre durchge-
Deswegen bitte ich, die Gänge frei zu machen und sich führt wurden, geht es in Sachsen scharf zur Sache, spielt
der Freistaat Vorreiter in Sachen Verurteilung: Umkehr
__________ der Beweislast, Urteile ohne Bewährung, vermutlich
auch Rechtsbeugung. Ein Staatsanwalt, der die Anklage
*) Seite 943 D gegen einen Taxifahrer vertrat und direkt an den Er-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 943
Christine Ostrowski

(A) mittlungen in erster Instanz beteiligt war, entschied Das Klima am Dreiländereck zu Polen und Tsche- (C)
später als Berufungsrichter über die Berufung und wies chien ist für Ausländer und Fremde frostig gewor-
sie ab – was sonst? den, die Atmosphäre unter der Bevölkerung nicht min-
der. Schon wird das Ausland aufmerksam. Ausländische
Zum Befördern sind Taxifahrer nach dem Personen- Journalisten versuchen, in Zittau Taxi zu fahren, um zu
beförderungsgesetz verpflichtet. Das Ausländergesetz sehen, ob sie stehengelassen werden, weil sie Ausländer
stellt die Beförderung von illegal eingereisten Personen sind.
unter Strafe. Woran erkennt der Taxifahrer, daß eine
Person illegal eingereist ist? Durch das rigorose Vorgehen, die rücksichtslose Ab-
strafung und die Abschreckungsurteile nehmen ge-
Die Argumentation geht so: Im Landkreis Zittau genseitige Verdächtigungen, öffentliche Rechtfertigun-
wohnen nur 1 000 Ausländer, darunter 600 polnische gen, Beunruhigung und Angst zu. Schon werden die
Studenten und 150 Asylbewerber. Letztere kommen auf absurdesten Forderungen laut, zum Beispiel an jeder
Grund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse als Taxikun- Ausfahrtstraße jedes Fahrzeug vom BGS kontrollieren
den ohnehin nicht in Frage. Das müsse der Taxifahrer zu lassen.
von vornherein wissen. Das heißt also, die in diesem
Raum wohnenden Ausländer – die polnischen Studenten Wenn der Gesetzgeber nicht hinnehmen will, daß die
und die 150 Asylbewerber – sind also quasi per se als Bundesrepublik dem Polizeistaat wieder ein Stück nä-
Illegale eingestuft. herkommt, dann muß er das Ausländergesetz novellie-
ren. Der Schleuserparagraph darf auf Personen keine
Ein Taxifahrer fragt: Wenn ich keine Ausländer mit- Anwendung finden, die im Rahmen ihres gesetzlichen
nehme, gelte ich als Nazi, wenn ich Ausländer mitneh- Auftrages Dienstleistungen erbringen.
me als Schlepper. Wie macht man es richtig? Das ist ei-
ne berechtigte Frage; denn der BGS droht – ich zitiere –: (Beifall bei der PDS)
Bei der Mitwirkung an illegalen Grenzübertritten Unter Strafe kann nur wirkliches Schleusen, der Grenz-
ist mit folgenden Konsequenzen zu rechnen: Frei- übertritt und Beihilfe dazu, gestellt werden.
heits- oder Geldstrafe, eventuell Einziehung des
Wir fordern die Bundesregierung auf, schnellstens
Fahrzeuges, auch Entzug der Konzession.
initiativ zu werden. Das Recht hat die Funktion, den so-
Also befördert ein Teil der Taxifahrer keine ausländi- zialen Frieden zu erhalten, nicht ihn zu zerstören.
schen Personen mehr: Einem Kranken wurde die Fahrt
(Beifall bei der PDS)
zum Krankenhaus verweigert. Ein anderer Teil aber gibt
sich für die Denunziation nicht her. „Ich nehme jeden
Fahrgast mit, auch einen ausländischen, wenn er Sanda- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich den (D)
(B)
len anhat. Ich habe nämlich auch schon Deutsche im nächsten Redner aufrufe, teile ich Ihnen das von
Bademantel gefahren.“ den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Er-
Aber das Damoklesschwert drohender Strafverfol- gebnis der namentlichen Abstimmung über den Ent-
gung führt faktisch zur Denunziationspflicht für alle wurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002
Bürger und schürt ausländerfeindliches Klima. Nach den mit. Abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt
Drohungen auf dem Flugblatt heißt es nämlich: „Teilen 363, mit Nein haben gestimmt 204. Es gab keine Ent-
Sie uns Anwerbungsversuche oder andere derartige haltung. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen wor-
Feststellungen mit – auf Wunsch auch diskret.“ den.

Endgültiges Ergebnis Dr. Axel Berg Dr. Peter Danckert Dagmar Freitag
Abgegebene Stimmen: 565; Hans-Werner Bertl Dr. Herta Däubler-Gmelin Peter Friedrich (Altenburg)
davon Friedhelm Julius Beucher Christel Deichmann Lilo Friedrich (Mettmann)
ja: 361
Petra Bierwirth Karl Diller Harald Friese
Rudolf Bindig Peter Dreßen Arne Fuhrmann
nein: 204 Lothar Binding (Heidelberg) Rudolf Dreßler Monika Ganseforth
Kurt Bodewig Detlef Dzembritzki Konrad Gilges
Klaus Brandner Dieter Dzewas Iris Gleicke
Ja Anni Brandt-Elsweier Dr. Peter Eckardt Günter Gloser
Willi Brase Sebastian Edathy Uwe Göllner
SPD Dr. Eberhard Brecht Ludwig Eich Renate Gradistanac
Brigitte Adler Rainer Brinkmann (Detmold) Marga Elser Günter Graf (Friesoythe)
Gerd Andres Bernhard Brinkmann Peter Enders Angelika Graf (Rosenheim)
Rainer Arnold (Hildesheim) Gernot Erler Dieter Grasedieck
Hermann Bachmaier Hans-Günter Bruckmann Petra Ernstberger Monika Griefahn
Ernst Bahr Edelgard Bulmahn Annette Faße Achim Großmann
Doris Barnett Ursula Burchardt Lothar Fischer (Homburg) Wolfgang Grotthaus
Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Michael Bürsch Gabriele Fograscher Karl Hermann Haack
Eckhardt Barthel (Berlin) Hans Martin Bury Iris Follak (Extertal)
Klaus Barthel (Starnberg) Hans Büttner (Ingolstadt) Norbert Formanski Hans-Joachim Hacker
Ingrid Becker-Inglau Marion Caspers-Merk Rainer Fornahl Klaus Hagemann
Wolfgang Behrendt Wolf-Michael Catenhusen Hans Forster Manfred Hampel
944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Christel Hanewinckel Winfried Mante Fritz Schösser Engelbert Wistuba (C)
Alfred Hartenbach Tobias Marhold Ottmar Schreiner Barbara Wittig
Klaus Hasenfratz Lothar Mark Gisela Schröter Dr. Wolfgang Wodarg
Nina Hauer Ulrike Mascher Dr. Mathias Schubert Verena Wohlleben
Hubertus Heil Christoph Matschie Richard Schuhmann Hanna Wolf (München)
Reinhold Hemker Ingrid Matthäus-Maier (Delitzsch) Waltraud Wolff (Zielitz)
Frank Hempel Heide Mattischeck Brigitte Schulte (Hameln) Heidemarie Wright
Rolf Hempelmann Markus Meckel Reinhard Schultz Uta Zapf
Dr. Barbara Hendricks Ulrike Mehl (Everswinkel) Dr. Christoph Zöpel
Gustav Herzog Ulrike Merten Volkmar Schultz (Köln) Peter Zumkley
Monika Heubaum Angelika Mertens Ilse Schumann
Uwe Hiksch Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Ewald Schurer BÜNDNIS 90/
Reinhold Hiller (Lübeck) Ursula Mogg Dr. R. Werner Schuster DIE GRÜNEN
Stephan Hilsberg Christoph Moosbauer Dietmar Schütz (Oldenburg)
Gerd Höfer Siegmar Mosdorf Dr. Angelica Schwall-Düren Gila Altmann (Aurich)
Jelena Hoffmann (Chemnitz) Michael Müller (Düsseldorf) Ernst Schwanhold Marieluise Beck (Bremen)
Walter Hoffmann Jutta Müller (Völklingen) Rolf Schwanitz Volker Beck (Köln)
(Darmstadt) Christian Müller (Zittau) Bodo Seidenthal Angelika Beer
Iris Hoffmann (Wismar) Franz Müntefering Erika Simm Matthias Berninger
Frank Hofmann (Volkach) Andrea Nahles Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Annelie Buntenbach
Ingrid Holzhüter Volker Neumann (Bramsche) Dr. Cornelie Sonntag- Ekin Deligöz
Eike Hovermann Gerhard Neumann (Gotha) Wolgast Dr. Thea Dückert
Christel Humme Dr. Edith Niehuis Wieland Sorge Franziska Eichstädt-Bohlig
Lothar Ibrügger Dr. Rolf Niese Wolfgang Spanier Dr. Uschi Eid
Barbara Imhof Dietmar Nietan Dr. Margrit Spielmann Hans-Josef Fell
Brunhilde Irber Günter Oesinghaus Jörg-Otto Spiller Andrea Fischer (Berlin)
Gabriele Iwersen Eckhard Ohl Dr. Ditmar Staffelt Katrin Göring-Eckardt
Renate Jäger Leyla Onur Antje-Marie Steen Rita Grießhaber
Jann-Peter Janssen Manfred Opel Ludwig Stiegler Winfried Hermann
Ilse Janz Holger Ortel Rolf Stöckel Antje Hermenau
Dr. Uwe Jens Adolf Ostertag Rita Streb-Hesse Kristin Heyne
Volker Jung (Düsseldorf) Kurt Palis Dr. Peter Struck Ulrike Höfken
Johannes Kahrs Albrecht Papenroth Joachim Stünker Michaele Hustedt
Sabine Kaspereit Dr. Willfried Penner Joachim Tappe Monika Knoche
Susanne Kastner Georg Pfannenstein Jörg Tauss Dr. Angelika Köster-Loßack
Hans-Peter Kemper Johannes Pflug Jella Teuchner Steffi Lemke
(B) Klaus Kirschner (D)
Dr. Eckhart Pick Dr. Gerald Thalheim Dr. Helmut Lippelt
Marianne Klappert Joachim Poß Franz Thönnes Klaus Wolfgang Müller
Siegrun Klemmer Karin Rehbock-Zureich Uta Titze-Stecher (Kiel)
Hans-Ulrich Klose Margot von Renesse Adelheid Tröscher Kerstin Müller (Köln)
Walter Kolbow Renate Rennebach Hans-Eberhard Urbaniak Winfried Nachtwei
Fritz Rudolf Körper Bernd Reuter Rüdiger Veit Christa Nickels
Karin Kortmann Reinhold Robbe Günter Verheugen Cem Özdemir
Anette Kramme Renè Röspel Simone Violka Christine Scheel
Nicolette Kressl Dr. Ernst Dieter Rossmann Ute Vogt (Pforzheim) Irmingard Schewe-Gerigk
Volker Kröning Michael Roth (Heringen) Hans Georg Wagner Rezzo Schlauch
Angelika Krüger-Leißner Birgit Roth (Speyer) Hedi Wegener Albert Schmidt (Hitzhofen)
Horst Kubatschka Gerhard Rübenkönig Dr. Konstanze Wegner Werner Schulz (Leipzig)
Ernst Küchler Marlene Rupprecht Wolfgang Weiermann Christian Simmert
Helga Kühn-Mengel Thomas Sauer Reinhard Weis (Stendal) Christian Sterzing
Ute Kumpf Dr. Hansjörg Schäfer Matthias Weisheit Hans-Christian Ströbele
Konrad Kunick Gudrun Schaich-Walch Gunter Weißgerber Dr. Antje Vollmer
Dr. Uwe Küster Bernd Scheelen Gert Weisskirchen Ludger Volmer
Werner Labsch Dr. Hermann Scheer (Wiesloch) Sylvia Voß
Oskar Lafontaine Siegfried Scheffler Dr. Ernst Ulrich von Helmut Wilhelm (Amberg)
Christine Lambrecht Horst Schild Weizsäcker Margareta Wolf (Frankfurt)
Brigitte Lange Otto Schily Hans-Joachim Welt
Christian Lange (Backnang) Horst Schmidbauer Dr. Rainer Wend PDS
Detlev von Larcher (Nürnberg) Hildegard Wester
Christine Lehder Ulla Schmidt (Aachen) Lydia Westrich Dr. Dietmar Bartsch
Waltraud Lehn Silvia Schmidt (Eisleben) Inge Wettig-Danielmeier Petra Bläss
Robert Leidinger Dagmar Schmidt (Meschede) Dr. Margrit Wetzel Maritta Böttcher
Dr. Elke Leonhard Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Norbert Wieczorek Eva Bulling-Schröter
Eckhart Lewering Regina Schmidt-Zadel Helmut Wieczorek Roland Claus
Götz-Peter Lohmann Heinz Schmitt (Berg) (Duisburg) Heidemarie Ehlert
(Neubrandenburg) Carsten Schneider Jürgen Wieczorek (Leipzig) Dr. Heinrich Fink
Christa Lörcher Dr. Emil Schnell Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Ruth Fuchs
Erika Lotz Walter Schöler Dieter Wiefelspütz Fred Gebhardt
Dr. Christine Lucyga Olaf Scholz Heino Wiese (Hannover) Wolfgang Gehrcke-Reymann
Dieter Maaß (Herne) Karsten Schönfeld Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Klaus Grehn
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 945
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Dr. Gregor Gysi Axel Fischer (Karlsruhe- Dr. Martin Mayer Dorothea Störr-Ritter (C)
Dr. Barbara Höll Land) (Siegertsbrunn) Max Straubinger
Carsten Hübner Herbert Frankenhauser Wolfgang Meckelburg Thomas Strobl
Ulla (Ursula) Jelpke Dr. Gerhard Friedrich Dr. Michael Meister Michael Stübgen
Sabine Jünger (Erlangen) Hans Michelbach Dr. Rita Süssmuth
Gerhard Jüttemann Dr. Hans-Peter Friedrich Meinolf Michels Dr. Susanne Tiemann
Dr. Evelyn Kenzler (Hof) Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz
Dr. Heidi Knake-Werner Erich G. Fritz Bernward Müller (Jena) Angelika Volquartz
Rolf Kutzmutz Jochen-Konrad Fromme Elmar Müller (Kirchheim) Andrea Voßhoff
Heidi Lippmann-Kasten Hans-Joachim Fuchtel Claudia Nolte Peter Weiß
Ursula Lötzer Dr. Jürgen Gehb Günter Nooke (Emmendingen)
Dr. Christa Luft Norbert Geis Franz Obermeier Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Heidemarie Lüth Georg Girisch Friedhelm Ost Annette Widmann-Mauz
Angela Marquardt Dr. Reinhard Göhner Norbert Otto (Erfurt) Heinz Wiese (Ehingen)
Manfred Müller (Berlin) Peter Götz Dr. Peter Paziorek Hans-Otto Wilhelm (Mainz)
Kersten Naumann Hermann Gröhe Anton Pfeifer Gert Willner
Rosel Neuhäuser Manfred Grund Beatrix Philipp Klaus-Peter Willsch
Christine Ostrowski Gottfried Haschke Marlies Pretzlaff Werner Wittlich
Petra Pau (Großhennersdorf) Dr. Bernd Protzner Aribert Wolf
Dr. Uwe-Jens Rössel Gerda Hasselfeldt Dieter Pützhofen Peter Kurt Würzbach
Christina Schenk Norbert Hauser (Bonn) Thomas Rachel Wolfgang Zeitlmann
Gustav-Adolf Schur Hansgeorg Hauser Hans Raidel Wolfgang Zöller
Dr. Ilja Seifert (Rednitzhembach) Dr. Peter Ramsauer
Manfred Heise Helmut Rauber F.D.P.
Ernst Hinsken Peter Rauen
Nein Peter Hintze Christa Reichard (Dresden) Hildebrecht Braun
Klaus Hofbauer Hans-Peter Repnik (Augsburg)
CDU/CSU Martin Hohmann Klaus Riegert Rainer Brüderle
Klaus Holetschek Dr. Heinz Riesenhuber Ernst Burgbacher
Ulrich Adam Josef Hollerith Franz Romer Jörg van Essen
Ilse Aigner Dr. Karl-Heinz Hornhues Hannelore Rönsch Ulrike Flach
Peter Altmaier Siegfried Hornung (Wiesbaden) Gisela Frick
Norbert Barthle Joachim Hörster Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Paul K. Friedhoff
Dr. Wolf Bauer Hubert Hüppe Dr. Klaus Rose Rainer Funke
Günter Baumann Peter Jacoby Norbert Röttgen Dr. Wolfgang Gerhardt
Brigitte Baumeister Susanne Jaffke Volker Rühe Hans-Michael Goldmann
(B) Meinrad Belle Dr. Karlheinz Guttmacher
(D)
Georg Janovsky Dr. Jürgen Rüttgers
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr.-Ing. Rainer Jork Anita Schäfer Ulrich Heinrich
Dr. Joseph-Theodor Blank Dr. Harald Kahl Karl-Heinz Scherhag Walter Hirche
Renate Blank Bartholomäus Kalb Gerhard Scheu Birgit Homburger
Dr. Heribert Blens Dr. Dietmar Kansy Norbert Schindler Dr. Werner Hoyer
Friedrich Bohl Irmgard Karwatzki Dietmar Schlee Ulrich Irmer
Sylvia Bonitz Eckart von Klaeden Bernd Schmidbauer Dr. Klaus Kinkel
Jochen Borchert Ulrich Klinkert Dr.-Ing. Joachim Schmidt Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Dr. Wolfgang Bötsch Manfred Kolbe (Halsbrücke) Jürgen Koppelin
Dr. Ralf Brauksiepe Norbert Königshofen Andreas Schmidt Ina Lenke
Klaus Bühler (Bruchsal) Dr. Martina Krogmann (Mühlheim) Sabine Leutheusser-
Hartmut Büttner Dr. Paul Krüger Birgit Schnieber-Jastram Schnarrenberger
(Schönebeck) Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff Dirk Niebel
Cajus Caesar Karl Lamers Reinhard Freiherr von Günther Friedrich Nolting
Leo Dautzenberg Dr. Norbert Lammert Schorlemer Hans-Joachim Otto
Wolfgang Dehnel Dr. Paul Laufs Diethard W. Schütze (Berlin) (Frankfurt)
Hubert Deittert Karl-Josef Laumann Clemens Schwalbe Detlef Parr
Albert Deß Vera Lengsfeld Wilhelm-Josef Sebastian Dr. Günter Rexrodt
Renate Diemers Werner Lensing Horst Seehofer Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Thomas Dörflinger Peter Letzgus Heinz Seiffert Gerhard Schüßler
Hansjürgen Doss Ursula Lietz Bernd Siebert Dr. Irmgard Schwaetzer
Marie-Luise Dött Walter Link (Diepholz) Johannes Singhammer Marita Sehn
Maria Eichhorn Eduard Lintner Bärbel Sothmann Dr. Max Stadler
Ilse Falk Dr. Manfred Lischewski Margarete Späte Carl-Ludwig Thiele
Dr. Hans Georg Faust Dr. Michael Luther Dr. Wolfgang Freiherr von Dr. Dieter Thomae
Ingrid Fischbach Erich Maaß (Wilhemshaven) Stetten Jürgen Türk
Dirk Fischer (Hamburg) Erwin Marschewski Andreas Storm Dr. Guido Westerwelle
946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Par- Beförderungsverweigerungen gegenüber ausländischen (C)
lamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper, der und ausländisch aussehenden Fahrgästen gekommen ist.
für die Bundesregierung spricht.
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Aber sehr wohl!)
Sicherlich ist eine Verhärtung und eine gewisse
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Trotzhaltung seitens der Taxifahrer zu verzeichnen. Die-
desminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen se wird von interessierter Seite und vor allem auch von
und Herren! Nur soviel zu meiner Vorrednerin: Ihr bestimmten Medien dazu benutzt, die gesamte Proble-
merkwürdiges Verhältnis zu unserer unabhängigen Ju- matik nicht immer objektiv darzustellen. Es wurden so-
stiz und den Justizbehörden entspricht nicht dem unse- gar ausländisch aussehende Personen als Köder einge-
ren. setzt, um die Transportverweigerung der Taxifahrer zu
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) belegen. Die dadurch hervorgerufenen Szenarien, über
die dann berichtet wurde, entsprechen jedoch nicht der
Ich will festhalten: Seit dem Jahre 1992 ist die ge- Realität.
zielte Beteiligung von einzelnen Taxifahrern an uner-
laubten Einreisen von Drittausländern durch Transporte Nach den Erfahrungen des Bundesgrenzschutzes
aus dem Grenzgebiet festgestellt worden. Es ist richtig: können die Taxifahrer im Grenzgebiet sehr wohl erken-
1996 nahm die Zahl dieser Handlungen, insbesondere nen, wann es sich um offensichtlich unerlaubt eingerei-
im Grenzgebiet Görlitz-Zittau, sprunghaft zu. Es wurden ste Personen handelt. Hierfür sind nämlich die Staatsan-
insgesamt 53 Ermittlungsverfahren gegen Taxifahrer ge- gehörigkeit und die Hautfarbe keinesfalls ein Kriterium.
führt, die sich in der strukturschwachen Region eine lu- Objektive Merkmale sind für diese Entscheidung heran-
krative Einnahmequelle verschafft hatten. An 15 Prozent zuziehen, und diese objektiven Merkmale gibt es auch in
aller durch den Bundesgrenzschutz festgestellten der Praxis. Beispielsweise hinterlassen wochenlange be-
Schleusungen waren Taxifahrer beteiligt, die gegen hohe schwerliche Reisewege, behelfsmäßige Unterkünfte und
Pauschalbeträge illegal Eingereiste unmittelbar im schließlich ein langer Marsch über die grüne Grenze,
Grenzraum aufnahmen und weit ins Landesinnere trans- oftmals bei schwierigsten Witterungsverhältnissen und
portierten. verbunden mit der Überquerung von natürlichen Hin-
dernissen wie Bergen und Flüssen, unzweifelhaft deutli-
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) che Spuren bei den Betroffenen.

Auf Grund der hohen kriminellen Intensität und auch (Widerspruch bei der PDS)
der zunehmenden Verstrickungen in Schleusungsorgani- Ich erwarte, daß sich die Beteiligung von Taxifahrern
sationen verhängten die Gerichte empfindliche Frei- an kriminellen Einschleusungen weiter zurückent-
(B) heitsstrafen ohne Bewährung gegen die Taxifahrer, de- (D)
wickelt, so daß Stafverfolgung und Prävention einerseits
nen die vorsätzliche Beteiligung an Einschleusungen sowie das Taxigeschäft andererseits auch entlang der
nachgewiesen wurde. Allein die Staatsanwaltschaft Grenze nicht mehr in Widerspruch zu geraten brauchen.
Görlitz zählte im Februar 1998 28 dieser Verfahren. Alle Eine schnelle Entspannung der derzeit noch emotional
in der Berufungsinstanz angefochtenen Urteile wurden aufgeheizten Situation sollte die Folge sein. Gleichwohl
bestätigt. Die Revisionsverfahren sind bis jetzt nicht sollte auch weiterhin versucht werden, in der Grenzregi-
abgeschlossen. In einem besonders gravierenden Fall on durch die regionalen Dienststellen des Bundesgrenz-
wurde ein Taxifahrer, der nachweislich innerhalb von schutzes vertrauensbildende Maßnahmen zu ergreifen.
fünf Monaten 96 Ausländer eingeschleust hatte, zu Für eventuell verunsicherte Taxifahrer soll und wird der
einer Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten ver- Bundesgrenzschutz nach wie vor jederzeit Ansprech-
urteilt. partner und Berater sein.
Da auch 1997 die Tathandlungen von Taxifahrern Wir werden dieses schwierige Problem weiter beob-
anhielten und es zu 20 weiteren Ermittlungsverfahren achten, auch eine sachbezogene und sachliche Diskussi-
kam, versuchte der Bundesgrenzschutz, seine Präventi- on darüber führen und gegebenenfalls weiterhin in die-
onsarbeit durch verschiedene Aktivitäten gezielt zu ver- sem Sinne entsprechende Entscheidungen finden.
stärken, beispielsweise durch Gesprächsrunden und Zu-
sammenarbeit mit den Taxifahrerverbänden. Das Ziel, Schönen Dank.
den kriminellen Schleusern die Möglichkeit der Tatbe- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido
gehung unter Nutzung des Taxigewerbes zu entziehen, Westerwelle [F.D.P.])
wurde weitestgehend erreicht. Strafurteile und präventi-
ve Maßnahmen führten mittlerweile dazu, daß in diesem
Jahr, also im Jahre 1998, nur noch in fünf Fällen wegen Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner in
der Beteiligung von Taxifahrern an Verstößen gegen das der Debatte ist der Abgeordnete Günter Baumann,
Ausländergesetz im Bereich der Ostgrenze ermittelt CDU/CSU.
wurde.
Die Behauptung, daß infolge dieser präventiven und Günter Baumann (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
repressiven Maßnahmen rechtmäßige Beförderungen Meine Damen und Herren! Der Bundesgrenzschutz er-
verweigert würden, ist mir bekannt. Nicht bekannt füllt in der Grenzregion zu Polen und Tschechien eine
wurden mir bisher konkrete Fälle, in denen es zu echten ganz besonders wichtige Aufgabe. Die Männer und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 947
Günter Baumann

(A) Frauen vom BGS leisten einen wichtigen Dienst für die Es muß heute erwähnt werden, daß in dieser Grenz- (C)
Sicherheit in unserem Rechtsstaat, für die Sicherheit von region zu Tschechien die Angst der Bevölkerung vor il-
uns allen. Darauf möchte ich besonderen Wert legen. legal eingereisten Ausländern erheblich angewachsen ist
und die Zahl der Straftaten gerade in der letzten Zeit er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heblich zugenommen hat. Aus dem BGS-Bericht vom
Ich möchte es daher zu Beginn meiner Ausführungen letzten Jahr, der uns allen vorliegt, wissen wir, daß von
nicht versäumen, den Leuten vom BGS für ihren nicht 1993 bis 1997 im Grenzgebiet allein 45 000 Straftaten
ganz ungefährlichen Dienst in dieser Region ganz be- von illegal Eingereisten registriert wurden.
sonders zu danken.
Die Ausländerpolitik der alten Bundesregierung war
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der richtig und hat bewirkt, daß die Zahl illegaler Einreisen
F.D.P.) erheblich reduziert wurde. Erwähnen möchte ich hier
das Schengener Abkommen und die Neuorganisation
Gestatten Sie mir einige kurze Bemerkungen zu die- des Bundesgrenzschutzes Anfang dieses Jahres. Aus
ser Grenze, zu dieser Grenzregion. Die Grenze zwischen verschiedenen Gründen hat in den letzten Monaten die
Deutschland und Tschechien schreibt eine besondere Zahl der illegal Eingereisten bereits wieder drastisch zu-
Geschichte im Leben der Menschen auf beiden Seiten. genommen. Allein das Bundesgrenzschutzamt Chemnitz
Als Bewohner dieser Grenzregion und seit acht Jahren hat im November 1998 703 unerlaubte Einreisen festge-
Bürgermeister einer Grenzstadt zu Tschechien kenne ich stellt und nahm über 55 Schleuser fest. Bei diesen ille-
die Geschichte und die Probleme unmittelbar vor Ort galen Einreisen haben sich leider auch einige Taxifahrer
aus erster Hand. Nach 1945 war es eine dichtbewachte als Mittäter schuldig gemacht. Insgesamt sind an der
Grenze, um die Flucht von Tschechen und Slowaken zu Grenze zu Tschechien und Polen 150 Ermittlungsverfah-
verhindern, ab 1961 durchlässig mit den entsprechenden ren gegen Taxifahrer anhängig.
kommunistischen Kontrollen, die wir alle noch kennen.
In der Wendezeit, im Herbst 1989, war die Grenze er- (Roland Claus [PDS]: Ermittlungsverfahren
neut stark bewacht, um die Flucht von Menschen zu sind keine Verurteilungen!)
verhindern. Aber das System konnte sich trotzdem nicht
halten. Wir haben nun eine neue Freiheit. Die Grenze ist – Ermittlungsverfahren habe ich gesagt. – Eine beson-
offen, Stacheldraht und Mauer gehören der Vergangen- ders starke Anhäufung zeigt sich im Zittauer Raum, wo
heit an. Zahlreiche neueröffnete Grenzübergänge sind von 39 zugelassenen Taxifahrern allein 11 vor Gericht
Zeugnis vom Verständnis der Menschen auf beiden standen.
Seiten. Ich möchte eindeutig betonen: Ich möchte nichts ge-
Meine Damen und Herren auch von der PDS, immer gen die übergroße Mehrheit der Taxifahrer sagen, die
(B) ehrlich und rechtschaffen ihre Tätigkeit ausüben. Aber (D)
mehr Brücken werden geschlagen, Brücken für Men-
schen und damit für die friedliche Entwicklung und den es kann nicht angehen, daß sich einige schwarze Schafe
wirtschaftlichen Aufschwung auf beiden Seiten. Die – auch wenn diese aus ihrer wirtschaftlichen Situation
Kontakte der Menschen in der Region sind gut. heraus meinen, daß es gerechtfertigt ist – als Helfershel-
fer der Schleuser betätigen.
Diese Grenzregion erfährt gegenwärtig eine Bela-
stung, speziell in den letzten Jahren, durch illegale (Beifall bei der CDU/CSU)
Grenzübertritte von Ausländern. BGS, Landespolizei Es gibt nach § 22 des Personenbeförderungsgesetzes
und auch Zoll haben eine hohe Verantwortung bei der eine Beförderungspflicht. Taxifahrer üben auch nicht
Überwachung der bestehenden Grenze, den Beruf eines Hellsehers oder eines Hilfspolizisten
(Georg Janovsky [CDU/CSU]: Sehr richtig!) aus. Aber auch Taxifahrer haben wie jeder andere Bür-
ger eine Mitverantwortung in unserem Rechtsstaat. Ille-
bei der Einhaltung der bestehenden Gesetze und bei der gal eingereiste Personen nachts in der Nähe der Grenze
Verhinderung von Straftaten. Aus vielen persönlichen aufzunehmen ist eine Unterstützung bzw. eine Hilfelei-
Gesprächen weiß ich, daß diese Männer und Frauen ih- stung bei einer Straftat, die gegen §§ 92ff. des Auslän-
ren Dienst pflichtbewußt erfüllen und oft auch ihre Ge- dergesetzes verstößt.
sundheit riskieren müssen.
Bestimmt kann es einzelne Fälle geben, in denen Ta-
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr xifahrer den Tatbestand der illegalen Einreise nicht er-
wahr!) kennen. Aber in den bekannten Fällen, in denen Taxi-
Meine Damen und Herren, die Gewaltbereitschaft fahrer rechtskräftig verurteilt wurden, waren die Fakten
von Schleusern nimmt in der letzten Zeit besonders an der und die Beweislage bezüglich der Mittäterschaft bei der
tschechischen Grenze drastisch zu. Die Aufgabe der Ver- Einschleusung eindeutig. Die Verurteilungen zu Haft-
antwortlichen sollte es sein, alles zu tun, die in der Grenz- strafen basieren auf gesicherten Erkenntnissen, daß eini-
region eingesetzten Einheiten des BGS noch besser aus- ge Taxifahrer in der Grenzregion von skrupellosen
zustatten, damit ihre Erfolgsquote noch besser wird. Schleusern gewonnen wurden.
(Beifall bei der CDU/CSU – Erwin Mar- Es ist auch bekannt, daß für solche Fahrten das Ta-
schewski [CDU/CSU]: Genau! Das ist eine xameter regelmäßig nicht zur Berechnung des Fahrprei-
Aufgabe für den Staatssekretär, und dazu hat ses eingesetzt wurde, sondern daß vorab hohe Pauscha-
er nichts gesagt!) len gezahlt wurden.
948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Günter Baumann

(A) Von ganz besonderer Bedeutung ist gerade auf die- immerhin die Auffassung der Richter am Zittauer Land- (C)
sem Gebiet eine verstärkte Aufklärungsarbeit, um ein gericht –, daß Gepäck nicht im Kofferraum, sondern auf
weiteres Anwachsen der Zahl dieser Straftaten zu ver- dem Rücksitz des Taxis gelassen wird. Meine Güte,
hindern. Hierzu gibt es ein Rundschreiben des Taxiver- dann müßten mich schon viele Taxifahrer gar nicht mit-
bandes, das Informationsblatt des BGS, verschiedene genommen haben. Das mache ich nämlich auch.
Presseinformationen und einiges andere mehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich würde
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Bau- Sie auch nicht mitnehmen!)
mann, die Debattenzeit beträgt nur fünf Minuten. – Das ist schön von Ihnen. Ich würde auch nicht gerne
mit Ihnen fahren.
Günter Baumann (CDU/CSU): Ich komme zum (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Mit dem
letzten Satz. roten Schal würde ich Sie nicht mitnehmen!)
Entscheidend ist, die offene und ehrliche Zusammen- – Die Herren auf der rechten Seite heulen immer wie die
arbeit zwischen BGS, Landespolizei, der Bevölkerung, Wölfe. Das habe ich schon öfter beobachtet. Wolfsrudel
den Verantwortlichen vor Ort und nicht zuletzt den Ta- sind wenigstens sozial. Sie sind es nicht. Sie behandeln
xifahrern zu verbessern, um die Zahl der Verbrechen an ihre Weibchen auch viel netter.
der Grenze zu reduzieren. Es ist unsere Pflicht, die Si-
cherheit unserer Bürger zu erhöhen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der PDS, sowie bei Abgeordneten der
Auf die Vorwürfe der PDS kann ich nur antworten: SPD)
Eine öffentliche Verunsicherung in dieser Region gibt es
nicht. Die Bevölkerung steht zum BGS. Die Taxifahrer können das nicht unterscheiden, weil
es weder typisch illegal eingereiste Personen gibt noch
Danke. typisch aussehende Deutsche. Denn es gibt auch fremd-
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert ländisch aussehende Touristen. Sie, die immer für den
[PDS]: Fahren Sie doch mal hin!) Mittelstand eintreten, sollten sich einmal überlegen, was
solche Regelungen für den Tourismus in einer Region
bedeuten.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Bau-
Es führt inzwischen auch dazu, daß Taxis sicherheits-
mann, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause.
halber niemanden mehr befördern, der eines der richter-
Ich beglückwünsche Sie im Namen des gesamten Par-
(B) laments dazu. lich festgestellten Merkmale trägt: niemanden, der (D)
schwarzer Hautfarbe ist, niemanden, der ausländisch,
(Beifall) fremdländisch, aussieht, und niemanden, der nachts
nicht gut gekleidet ist. Ich möchte Ihnen ein Beispiel sa-
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kolle- gen. Ich bin Ärztin. Es gibt Leute, denen etwas wider-
gin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen. fährt, die einen Herzanfall bekommen, die eine Nieren-
kolik kriegen, die im Straßengraben liegen, die dreckig
Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Werte aussehen und die der Hilfe bedürfen. Wenn sie die nicht
Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Taxi nur für mitnehmen, ist es unterlassene Hilfeleistung. Das sind
Deutsche“ übertitelte die Berliner Tageszeitung „taz“ dann keine illegal Eingereisten, nur weil sie dreckig
diese Woche einen Bericht über die skandalösen Taxi- sind.
fahrerprozesse in Sachsen, Brandenburg und Berlin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Damit traf sie den Nagel auf den Kopf – fast! Ganz und der PDS)
richtig hätte es eigentlich heißen müssen: Taxi nur für
diejenigen, die deutsch aussehen. Wer kann es diesen Taxifahrern angesichts von Haftstra-
fen bis zu zweieinhalb Jahren ohne Bewährung verden-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ken? Das ist wahrlich kein Pappenstiel.
und bei der PDS)
Wohin derartiger unzivilisierter staatlicher Druck ein-
Der Bundesgrenzschutz hat in der Ära Kohl begon- schließlich Denunziationspflicht führt, zeigt das Beispiel
nen, in den östlichen Grenzregionen verschiedene Flug- eines in der Nacht von Jugendlichen zusammengeschla-
zettel an Taxifahrer zu verteilen, in denen jene aufgefor- genen Dönerbudenbesitzers in Zittau. Er hatte ein Bein
dert werden, „keine offensichtlich illegal eingereisten und eine Rippe gebrochen, vier Zähne verloren und
Personen zu befördern“- wohlgemerkt nicht über die blutete aus dem Ohr. Kein Taxi war bereit, diesen ver-
Grenze, sondern innerhalb unseres Landes. Wie aber er- letzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Ich glaube, wir
kennt man offensichtlich illegal eingereiste Personen? sollten uns alle einig sein: Das ist unterlassene Hilfelei-
An der Hautfarbe? In Deutschland leben 200 000 Deut- stung.
sche mit schwarzer Hautfarbe. Am fremdländischen
Aussehen? An der Kleidung, Zöpfen, dunklen Haaren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dunklen Augen? Es leben viele fremdländisch aussehen- und bei der PDS)
de Menschen in Deutschland, die überwiegende Zahl Solche Flugblätter, wie sie in unterschiedlicher Aus-
von ihnen legal. Daran erkennt man sie vielleicht – so prägung durch den Bundesgrenzschutz kursieren, berei-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 949
Sylvia Voß

(A) ten auch Boden für Rassismus und seine schlimmen Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! (C)
Folgen, die wir in Deutschland zu beklagen haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal begrüßt die Fraktion der
Wir sind sehr erfreut über die Erklärung couragierter
Freien Demokraten, daß der Parlamentarische Staatsse-
Taxifahrer aus anderen Städten, die sich mit ihren säch- kretär beim Bundesministerium des Inneren die diffe-
sischen Kolleginnen und Kollegen solidarisierten, indem
renzierte und abgewogene Politik der alten Bundesregie-
sie ihre Bereitschaft erklärten, jeden Fahrgast unvorein-
rung in dieser Frage fortsetzen möchte. Wir nehmen ihn
genommen zu befördern. Da zeigen sie jene Zivilcoura- ausdrücklich gegen die Angriffe aus der Fraktion der
ge, die hier offensichtlich vielen abhanden gekommen
Grünen in Schutz.
ist. Anstand gegenüber Fremden ist in Deutschland lei-
der immer noch nicht selbstverständlich. (Beifall bei der F.D.P.)
Die Taxifahrer dieser Region riskieren ihre Freiheit Wir haben den Eindruck, daß es hier um ein Span-
und setzen ihre berufliche Zukunft aufs Spiel. Wenn sie nungsverhältnis geht, das zwischen der Verfolgung von
illegal eingereiste Ausländer befördern, drohen ihnen Schlepperbanden auf der einen Seite und dem Schutz
hohe Strafen einschließlich des Entzugs ihrer Taxifah- von Ausländerinnen und Ausländern vor Diskriminie-
rerlizenz und der Fahrerlaubnis. Das vernichtet ganze rung auf der anderen Seite besteht. Ich möchte Ihnen,
Existenzen. sehr geehrte Kollegin von der PDS, sagen: Den Ein-
Im gleichen Amtsgerichtsbezirk Zittau – daran möge druck zu erwecken, als ginge es hier, wie Sie wörtlich
man einmal denken – gab es zum Beispiel einen voll- gesagt haben, um den Vollzug eines „Polizeistaates“,
trunkenen Mann, der ein Kind überfahren hat, das ge- halte ich für abwegig.
storben ist. Dieser wurde lediglich zu einer Bewäh- (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei
rungsstrafe verurteilt. Wir möchten hier einmal die Ver- Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch
hältnismäßigkeit herausstellen. bei der PDS)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Auffas-
sung, daß Taxifahrerinnen und Taxifahrer unbeschwert Sie haben selbst vom „Polizeistaat“ gesprochen. Das
paßt nicht zu einer solchen Diskussion.
von staatlicher Drangsal ihrem Gewerbe nachgehen
sollen, Bei einer Abwägung muß man aus unserer Sicht je-
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sind denfalls zwei Kriterien berücksichtigen: Es werden
doch Regierungspartei! Sie reden, als ob Sie in Menschen und Menschenleben durch Schlepperban-
der Opposition sind!) denunwesen gefährdet; Ausländerinnen und Ausländer
in Deutschland müssen natürlich jederzeit jedes Beför-
(B) daß jedem Menschen in unserem Land die Fahrt in ei- derungsmittel wählen dürfen, wie das jeder Deutsche (D)
nem Taxi ermöglicht werden sollte, daß die Lösung des auch kann.
Problems des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleu-
sens von Ausländern Sache des Staates ist und daß Per- (Beifall bei der F.D.P.)
sonenkontrolle und Denunziation nicht zur Pflichtaufga-
Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich diese Dis-
be des Berufsstandes der Taxifahrer gemacht werden
kussion. Alles andere ist Ideologie.
dürfen. Das, was wir jetzt ausbaden, haben Sie ange-
rührt. Wenn Sie – beide Rednerinnen – die Beispiele aus
Die Fraktion der Grünen fordert dies nachdrücklich den Zeitungen wiedergeben, die wir alle aus dem Inter-
und wird sich entsprechend engagieren, falls Sie das be- net und entsprechenden Recherchen bekommen, dann
ruhigt. verkürzen Sie Sachverhalte. Es mag im Einzelfall in der
Tat so sein, daß dies nicht akzeptabel ist. Aber wir leben
Vielen Dank. in einem Rechtsstaat, und in einem Rechtsstaat ent-
scheidet über Anklagen die Justiz, entscheiden die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Richter. Weder Abgeordnete der PDS noch Abgeordnete
und bei der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/
CSU]: Beifall von den Kommunisten!) der Grünen sind die Oberrichter in dieser Frage.
(Beifall bei der F.D.P.)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Voß, Wir halten es deswegen für wichtig, darauf hinzuwei-
auch für Sie war das die erste Rede in diesem Hohen sen, daß es sich auch nach dem bestehenden Straftat-
Hause. bestand um eine Vorsatztat handelt. Das heißt, je-
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ganz schön mand wird verurteilt für die vorsätzliche Tat, mit Wissen
blamiert!) und mit Wollen. Wenn Sie den Eindruck erwecken, es
würde jemand zu einer solchen Freiheitsstrafe verurteilt,
Ich beglückwünsche Sie im Namen aller Kolleginnen ohne daß er gewußt hat und ohne daß er gewollt hat,
und Kollegen dazu. weswegen er angeklagt wird, ist das ein Angriff auf die
(Beifall) Unabhängigkeit der Justiz, aber keine politische Be-
wertung.
Nunmehr erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr.
Guido Westerwelle, F.D.P. (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Nein! Nein!)
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Dr. Guido Westerwelle

(A) Deswegen möchte ich in aller Klarheit sagen: Wissen Vorgehen des BGS, in diesem Zusammenhang zu De- (C)
und Wollen – – nunziationen aufzurufen.
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Sie kennen doch die Fangen wir mit den öffentlichen Verunsicherungen
Problematik des bedingten Vorsatzes, Herr an. Da ist zunächst nach der Verurteilung von Taxifah-
Westerwelle!) rern zu fragen. Wenn vorsätzlich – das wurde gerade
von meinem Vorredner gesagt – gegen zum Teil hohe
– Herr Kollege Gysi, meine Formalqualifikation als Ju-
Pauschalbeträge illegal Eingereiste im Grenzraum auf-
rist steht der Ihrigen nicht nach.
genommen und ins Landesinnere befördert werden, dann
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das habe ich nicht ist das Schleusung. Schleusung ist nicht Rechtens. Wem
bestritten!) sage ich das?
Davon dürfen Sie bitte ausgehen. Einzeltäter oder ganze Organisationen nutzen
schamlos und skrupellos die Notlage der Ärmsten der
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Armen aus und kassieren, wie wir auch bereits gesagt
Ich habe mir seit meiner Promotion vorgenommen, daß haben, zum Teil sehr hohe Summen dafür. Wir sind uns
ich mich nicht mehr examinieren lasse, auch nicht von doch wohl darüber einig, daß dieses Treiben sowohl zu
Ihnen, Herr Gysi. verurteilen als auch zu bestrafen ist.
(Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
Wie dem auch sei: Es handelt sich um Wissen und Über die Höhe der Strafe kann man unterschiedlicher
Wollen. Sie können nicht den Eindruck erwecken, als Meinung sein. Ich bin auch der Meinung, daß die Ver-
würde jemand rechtskräftig verurteilt, der nicht, was den hältnismäßigkeit in jedem Falle zu wahren ist. Meines
objektiven und den subjektiven Tatbestand angeht, für Erachtens ist es aber auch egal, wer sich dieses Verge-
schuldig befunden wurde. Wenn Sie sagen, daß Rechts- hens schuldig macht. Für mich stehen alle Schleuser in
mittel eingelegt wurden, dann wird das der Gang durch einer Reihe und auf der gleichen Stufe.
die juristischen Instanzen lösen müssen. Wenn Sie sa-
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
gen, daß die Rechtsmittel noch nicht ausgeschöpft sind,
dann ist es eine Selbstverständlichkeit, daß hier der Deshalb habe ich keine Probleme damit, daß diese Per-
Rechtsstaat zum Zuge kommen muß. sonen die Härte der Verurteilung bzw. der Bestrafung
Der Bundes-Zentralverband Personenverkehr – Taxi trifft. Vor dem Gesetz sind alle gleich.
und Mietwagen e.V. mit dem Sitz in Frankfurt am Main (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
(B) spricht selbst davon, daß sich Taxifahrer nicht von Es geht um die Herstellung und um die Durchsetzung (D)
Schleuserbanden mißbrauchen lassen sollen und dürfen
und daß sie vor allen Dingen alle Anwerbungsversuche von Ordnung und Recht. Darauf haben die Bürgerinnen
oder anderen derartigen Feststellungen dem Bundes- und Bürger einen Anspruch, auch und gerade in den
grenzschutz oder jeder anderen Polizeidienststelle mel- Grenzregionen.
den sollten. Das ist ein sachdienlicher Umgang seitens (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
der Betroffenen. Taxifahrer sind natürlich keine Hilfsbe-
amten der Staatsanwaltschaft; das unterscheidet sie von Eigentlich könnte man das Ganze auch ins Gegenteil
Polizisten. Aber es gibt immer wieder, überall, in jeder verkehren. Öffentliche Verunsicherung würde nämlich
Berufsgruppe schwarze Schafe. Und wenn schwarze wirklich entstehen, wenn es keine Reaktionen auf Un-
Schafe erwischt werden, dann müssen sie vor Gericht recht gäbe.
gestellt werden. Das ist überhaupt keine Frage.
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so-
Öffentliche Verunsicherung ist in meinen Augen aber
wie bei Abgeordneten der SPD)
auch, wenn Richter, die mit diesen Vorgängen von Amts
wegen befaßt sind, in der Öffentlichkeit – man höre
Vizepräsidentin Petra Bläss: Die nächste Rednerin jetzt: – als Werkzeuge einer Abschottungspolitik be-
ist die Abgeordnete Barbara Wittig, SPD. zeichnet werden.
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Unglaublich! –
Barbara Wittig (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- Georg Janovsky [CDU/CSU]: Skandalös!)
men und Herren! Der Herr Staatssekretär hat mit seinem – Das halte ich auch für skandalös; das muß ich schon
Beitrag sehr zur Versachlichung der emotional geführten sagen. – In meinen Ohren klingt das nach Verunglimp-
Debatte beigetragen. Dafür danke ich ihm ausdrücklich. fung und ist in der Sache natürlich weit gefehlt.
Das ist nämlich die einzige Möglichkeit, Licht in das
Dunkel dieser beantragten Debatte zu bringen. (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei
Abgeordneten der CDU/CSU)
Worüber reden wir eigentlich? Über die Haltung der
Bundesregierung zur öffentlichen Verunsicherung in der Auch der Vorwurf der Abschottung, der hier gemacht
Euro-Region Neiße infolge der Verurteilung von Taxi- wurde, entspricht natürlich nicht den Realitäten und der
fahrern und über die Haltung der Bundesregierung zum Praxis unserer Ausländer- und Flüchtlingspolitik.
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Barbara Wittig

(A) Zum zweiten Teil der beantragten Debatte, nämlich sich hierbei um keine legale Person handeln konnte, und (C)
dem Vorwurf an den BGS, in diesem Zusammenhang er deshalb vorsätzlich – mindestens mit bedingtem Vor-
zur Denunziation aufzurufen: Ich kann nur vermuten, satz – gehandelt hat. Ich denke, das muß man auseinan-
daß hier auf das Informationsmaterial des BGS Bezug derhalten, weil es beide Fälle gibt.
genommen wird, das die Überschrift trägt: „Nein zu
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Richtig! Sehr rich-
Schleppern und Schleusern.“ Ich kann mit dem Info-
tig!)
Blatt leben. Der BGS macht seinen Job, nämlich aufklä-
ren, wachsam sein und um Mithilfe bitten. Ich muß Ihnen sagen, daß es leider nicht so ist – ich
habe hier ein Urteil –, daß eine hohe Freiheitsstrafe von
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) mehr als einem Jahr von den dortigen Gerichten nur
Was ist mit diesem Flugblatt beabsichtigt? ausgesprochen wird, wenn es sich um eine solche ver-
einbarte Schleusertätigkeit handelt. Das Urteil von ei-
(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) nem dortigen Amtsgericht, das ich hier vorliegen habe,
– Es ist nichts Anonymes. Es ist auch keine Drohung, bestraft einen Taxifahrer, der drei Jugoslawen, die kein
wie die Kollegin Frau Ostrowski ausgesprochen hat. Ich Visum hatten, auf der Straße aufgelesen und für ein Sa-
sagte schon einmal: Ich kann mit diesem Flugblatt leben. lär von 200 DM ein Stück transportiert hatte. Von exor-
bitanten Preisen kann man in diesem Fall nicht reden.
Es dient der Aufklärung und auch der Mithilfe. In
meinen Augen ist das keinesfalls eine Denunziation. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wie sind
Vielmehr bin ich der Meinung, daß Mitwirkung von denn die näheren Umstände der Tat?)
Bürgern eine Bürgerpflicht ist; denn nur so können wir Wir als Bundestag haben nicht die Aufgabe, uns mit
gemeinsam die Kriminalität bekämpfen. Das ist, wie ich den Einzelheiten der Justiz in Sachsen zu beschäftigen.
bereits sagte, Bürgerpflicht in meinen Augen. Das soll der Sächsische Landtag, der meiner Kenntnis
Ich danke Ihnen. nach morgen darüber diskutiert, und das sollen die dort
Verantwortlichen tun. Es geht allenfalls um die Frage –
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der hier ist die Bundeszuständigkeit gegeben –: Hat sich der
F.D.P.) Bundesgrenzschutz in den letzten Jahren und bis zum
heutigen Tage ordnungsgemäß verhalten, oder gibt es
Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Wittig, etwas zu kritisieren bzw. zu verändern? Ich will mich
auch für Sie war dies die erste Rede in diesem Hohen lediglich auf diese Frage konzentrieren.
Haus. Deshalb auch an dieser Stelle für Sie die herzlich- Mir liegt aus dem Jahr 1997 eine Empfehlung des
sten Glückwünsche aller Kolleginnen und Kollegen. Bundesgrenzschutzes vor – ich denke, da muß man den
(B) Bundesgrenzschutz heftig kritisieren –, nach der Aus- (D)
(Beifall – Jürgen Türk [F.D.P.]: Und dann
noch so eine gute!) länder vor dem Transport nach Personalpapieren und der
Herkunft ihres Geldes zu fragen sind
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Hört! Hört!)
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und und die Beförderung abzulehnen ist, wenn sie dieser
Kolleginnen! Verehrter Zuschauer! Ich glaube, es ist nur Aufforderung nicht nachkommen. Ich suche nach einer
einer. Rechtsgrundlage für ein solches Verlangen. Wenn das
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Zwei!) im Jahr 1997 geschehen ist, dann ist das mindestens
rechtlich äußerst zweifelhaft und auch von uns in Frage
– Wir haben zwei. zu stellen.
Zur späten Stunde haben wir ein nicht unkomplizier- Nun sind Flugblätter verteilt worden – Sie hatten aus
tes Thema zu behandeln. Ich habe mir die Beiträge an- einem vorgelesen –, in denen es darum geht, daß Taxi-
gehört. Ich denke, es wird von völlig unterschiedlichen fahrer darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie sich
Sachverhalten gesprochen. weigern sollen, wenn sie darauf angesprochen werden,
sich für Schleusertätigkeiten zur Verfügung zu stellen.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Wenn also irgendein Bandenchef oder der Verbin-
Zum einen wurde vom Staatssekretär und auch von dungsmann einer Bande kommt und sagt: „Kannst du
Ihnen von der SPD von dem Sachverhalt gesprochen, das in Zukunft für uns machen? Du bekommst dafür das
daß ein Taxifahrer von einer Schleuserbande angewor- und das Geld“, dann soll der entsprechende Taxifahrer
ben wird und ihm gesagt wird: Du hilfst uns hinter der den Vorgang melden oder sich jedenfalls verweigern.
Grenze mit und fährst unsere Leute an irgendeinen si-
Aber es sind auch andere Flugblätter verteilt worden.
cheren Platz; dafür bekommst du deine Beschäftigung
Ich zitiere aus einem Flugblatt, in dem steht: „Bei Auf-
und ein hohes Salär.
nahme von Fahrgästen achten Sie bitte auf das äußere
Zum anderen wurde davon gesprochen, daß ein Taxi- Erscheinungsbild, auf den Kleidungszustand und andere
fahrer über die Landstraße fährt und am Straßenrand Auffälligkeiten.“ Würde ich nach diesen Kriterien vor-
oder in einem Ort eine Person stehen sieht. Die Person gehen, dann müßte ich, nachdem ich mich vorhin umge-
winkt, der Taxifahrer hält an, nimmt sie mit und be- schaut habe, feststellen, daß es hier durchaus Personen
kommt nachher ein Verfahren und wird verurteilt, weil gibt, die, wenn sie irgendwo in der Nähe von Zittau am
ihm nachgewiesen wird, daß er wissen mußte, daß es Straßenrand gestanden hätten, ihren Ausweis hätten vor-
952 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Hans-Christian Ströbele

(A) zeigen müssen, weil sie die hier angesprochenen Auf- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin in (C)
fälligkeiten aufweisen. der Debatte ist die Abgeordnete Petra Pau, PDS.
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wen meinen
Sie genau?) Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
Ich meine, daß das nicht geht. Die Polizei – auch wenn nen und Kollegen! Eine Kollegin fragte eben, worüber
es der Bundesgrenzschutz ist – kann nicht versuchen, Ta- wir eigentlich reden. Der Zeitung entnahm ich, daß die
xifahrer zu Hilfssheriffs zu machen. Dazu fehlt die Be- verehrte Kollegin Pieper, die jetzt nicht da ist, meinte,
fugnis. Es handelt sich um eine Praxis aus dem Jahr 1997, daß das hier überhaupt eine ganz abseitige Debatte sei.
die nicht korrekt und äußerst beanstandenswert ist. Abseitig ist hieran höchstens der Zeitpunkt und das In-
teresse, das an diesem Problem gezeigt wird.
Noch viel schlimmer sind für mich die Folgen. Wenn
Sie aus der Gegend dort kommen, dann müssen Sie wis- Je länger ich darüber nachdenke und mich damit be-
sen, daß Taxifahrer in Zittau heute mit einer Plakette fasse, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß
herumfahren, auf der steht: „Ich befördere keine Aus- diese Debatte am ehesten in den Kontext unseres allerer-
länder.“ Es gibt auch Busfahrer, die außen am Bus ein sten Tagesordnungspunktes paßt, in dem wir über Men-
Plakat mit der Aufschrift „Ich befördere keine Auslän- schenrechte und deren Unteilbarkeit geredet haben. Es
der“ befestigen, um sich möglicherweise BGS- handelt sich um keine kriminalpolitische Debatte und
Kontrollen zu entziehen oder vielleicht in der Bevölke- keine zur inneren Sicherheit, wie es der Staatssekretär
rung beliebt zu machen. Angesichts solcher Flugblätter, eben meinte, wenn ich ihn richtig verstanden habe.
solcher Praktiken und auch solcher Prozesse, die zu Es stand die Frage im Raum, worüber wir eigentlich
Verurteilungen führen, hat aber das Ganze eine Dimen- reden. Seit 1990 war die damalige Regierungskoalition
sion erreicht, bei der wir uns fragen müssen, ob das auf der Suche nach neuen Aufgaben für den BGS. An
nicht tatsächlich zu skandalösen Verhärtungen und Si- der Ostgrenze ist man fündig geworden. Die illegale
tuationen und möglicherweise im Ansatz zu Fremden- Einreise wird von vornherein der organisierten Krimi-
feindlichkeit führen kann. nalität zugeschrieben.
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genau darum geht es!) (Jürgen Türk [F.D.P.]: Was denn sonst?)
Deshalb ist es richtig und wichtig, genau hinzusehen. Flucht und Migration werden also inzwischen – so habe
Das haben Anwaltsvereinigungen und Vereinigungen ich leider den Beitrag des Staatssekretärs verstanden –
von Taxifahrern getan. Es gibt Protestschreiben, die von auch von der SPD als Bedrohung der inneren Sicherheit
mehreren hundert Taxifahrern aus dem ganzen Bundes- betrachtet. Nein, nicht Flucht und Migration bedrohen
gebiet unterschrieben sind. Wir müssen das ernst neh- die innere Sicherheit. Ich will deutlich unterstreichen,
(B) men und uns darum kümmern. Wir haben innerhalb der daß Schleuser- und Schlepperbanden, die auf die be- (D)
Regierungsfraktionen in einem Vorgespräch zu dieser schriebene Art und Weise zu menschenunwürdigen Be-
Debatte vereinbart, daß wir uns das dort selber einmal dingungen Menschen in das Land bringen, natürlich ent-
von den Beteiligten erzählen lassen und uns mit Leuten sprechend verfolgt und abgeurteilt werden müssen. Aber
vom Bundesgrenzschutz, von der Justiz und aus dem man kann doch, bitte schön, nicht Flüchtlinge und Mi-
Taxigewerbe unterhalten. So können wir uns dann ein granten von vornherein als Kriminelle abstempeln.
Bild darüber machen, ob es notwendig ist, hier zu ande-
ren Anweisungen zu kommen, und ob möglicherweise (Beifall bei der PDS)
auch eine Klarstellung in den einschlägigen §§ 92 und Man ist also an der Ostgrenze fündig geworden. Nun
92a des Ausländergesetzes notwendig ist, um Klarheit reicht die technische Abriegelung durch eine unsichtbare
zu schaffen, was mit schweren Strafen belegt werden Mauer, die durch Nachtsichtgeräte kontrolliert wird,
soll und was nicht. nicht aus, sondern es wird zusätzlich ein Klima von De-
nunziation und Bespitzelung geschaffen. Dabei geht es
Abschließend möchte ich sagen: Bei uns in der Frak-
tion gibt es niemanden, der Sympathien für Schleuser- schon längst nicht mehr allein um die Taxifahrer.
banden oder dafür hat, daß in Not geratene Menschen Wir haben uns die Situation vor Ort angesehen. Nicht
ausgenutzt werden, weil sie über die Grenze geschafft nur in der Presse ist zu lesen – darüber wird auch von
werden wollen. Wir alle haben die Bilder aus dem Fern- BGS-Beamten ganz stolz berichtet –, daß der BGS so-
sehen vor Augen, wo in Lieferwagen 80 Leute unterge- genannte VPs hat. Ich habe wirklich einen Moment dar-
bracht werden oder auf andere waghalsige und lebensge- über nachgedacht, was VP bedeutet. „Vertrauensperson“
fährliche Art und Weise Menschen in Not und Flücht- des BGS ist die Übersetzung.
linge über die Grenze geschafft werden. Denjenigen, die
Dazu wurde erklärt, daß sich eigentlich jeder Bewoh-
damit ihr Geld verdienen und Vermögen anhäufen, muß ner dieser Grenzregion als potentieller Informant des
das Handwerk gelegt werden; gegen sie muß vorgegan-
BGS verstehen und verdächtige Vorgänge melden soll.
gen werden. Darin sind wir uns einig. Ob das aber zu
Ich finde, daß diese Praxis nicht nur dringend überprü-
solchen Verhältnissen führen darf, wie sie aus der Ge- fungswürdig, sondern tatsächlich abzuschaffen ist. Die-
gend um Zittau berichtet werden, ist der Untersuchung
ses Stadium sollten wir überwunden haben.
wert. Damit müssen wir uns näher beschäftigen.
(Beifall bei der PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ich komme zu den Taxifahrern zurück. Ich habe heute
PDS) in Bonn einen Taxifahrer gefragt, ob er sich vorstellen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 953
Petra Pau

(A) könne, daß zu seinem Berufsbild die Überprüfung des Wir reden darüber, wie wir Straftaten verfolgen und (C)
Fahrgastes auf all die mehrfach genannten Kriterien ge- verhindern können. Wenn Sie uns vorwerfen, wir wür-
hört. Er hat mich einfach zurückgefragt – ich frage auch den Migration als organisierte Kriminalität bezeichnen,
Sie zurück –: Müssen Taxifahrer dann nicht überall und dann muß ich darauf antworten, daß wir dies sicherlich
zu jeder Zeit alle Fahrgäste, möglichst mit Hilfe des nicht tun. Migration ist ein Menschenrecht. Aber
nächsten Polizeireviers, darauf überprüfen lassen, ob es Schleusertum ist organisierte Kriminalität. Über diesen
sich bei ihnen nicht um Diebe, Triebtäter oder Steuer- Punkt können Sie mit uns nicht verhandeln.
flüchtlinge handelt?
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Ich denke, diese Anforderung kann nicht an Taxifah- F.D.P. sowie des Abg. Volker Beck [Köln]
rer, Besitzer von Hotels und Pensionen und an Menschen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
gestellt werden, die in der Öffentlichkeit Dienstleistungen
erbringen. Es muß die Aufgabe der dafür zuständigen Or- Wir werden mit aller Härte das Schleusertum verfolgen.
gane, also der Polizei und – bitte schön – auch des BGS, Auch Taxifahrer, die sich wie Schleuser verhalten, ge-
bleiben. Diese Aufgabe muß aber mit verhältnismäßigen fährden die innere Sicherheit und werden es mit uns zu
Mitteln erfüllt werden und nicht dadurch, daß wir Bürge- tun bekommen. Darüber gibt es keinen Zweifel.
rinnen und Bürger unterschiedlicher Herkunft auf diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Art und Weise aufeinanderhetzen. F.D.P.)
Ein dritter Gedanke, der hier bisher noch keine Rolle Mich überrascht einigermaßen das, was Sie in die
spielte. Ich habe unterstrichen, daß kommerzielle Vorfälle hineindichten. Sie beschuldigen nicht nur den
Fluchthilfe zu verfolgen ist. Wir sollten uns aber trotz- BGS der einseitigen Handhabung der Vorschriften. Sie
dem die entsprechenden Maßstäbe ansehen. Am 21. Fe- beschuldigen auch die gesamte Justiz. Der Vorwurf der
bruar 1980 hat das Bundesverfassungsgericht ein ein- Rechtsbeugung war noch der geringste Vorwurf, den Sie
schlägiges Urteil gesprochen. Ein Fluchthelfer hatte da- ins Feld geführt haben. Dazu muß ich sagen, daß ich
mals Vergütung eingeklagt. Das Gericht hat grundsätz- immer noch wesentlich mehr Zutrauen zu unserer unab-
lich entschieden, daß es nicht in jedem Fall anstößig ist, hängigen Justiz als zu den Aussagen der PDS habe.
eine Hilfeleistung, selbst die für einen Menschen in ei-
ner Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen. (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei
Heute ist es schon anstößig, ja strafwürdig, wenn Taxi- Abgeordneten der CDU/CSU)
fahrer Menschen in Not befördern, insbesondere dann –
Es geht doch ganz schlicht und einfach darum, Straf-
dies ist ein wörtliches Zitat aus den BGS-Papieren;
taten zu verhindern. Ich weiß mich mit der Mehrheit des
schreiben Sie diesen Ausdruck nicht mir zu –, wenn sie Hauses einig: Illegale Einreise, Unterstützung illegaler
(B) „undeutsch“ aussehen. Einreisen und Schleusertum sind Straftaten. Wir sind (D)
Ich finde, wir haben an diesem Tag, an dem wir am uns auch im wesentlichen darüber einig, daß das von uns
Morgen über Menschenrechte debattiert haben, allen nicht toleriert wird.
Grund, uns noch einmal der heute in der UNO-
(Beifall der Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]
Vollversammlung verabschiedeten Deklaration zuzu-
und Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])
wenden,
(Beifall bei der PDS) Der illegale Grenzübertritt und der Weitertransport
durch Taxen ins Binnenland haben, wie wir eben in Gott
in der nicht nur die Allgemeine Erklärung der Allgemei- sei Dank sehr sachlicher Weise von meiner Kollegin
nen Menschenrechte gewürdigt wurde, sondern vor allen Wittig und von Staatssekretär Körper gehört haben, seit
Dingen auch der Mensch, der unter Gefahren und unter 1992 sehr stark zugenommen und 1996 einen Höhe-
Androhung von Strafe versucht, menschenwürdig mit punkt erreicht. Es hat nicht nur eine Vielzahl von Er-
Verfolgten umzugehen und ihnen zu ihren Menschen- mittlungsverfahren, sondern auch eine Vielzahl von
rechten zu verhelfen. Verurteilungen gegeben. Das sind Verfahren gewesen,
die von unabhängigen Gerichten zum Abschluß gebracht
(Beifall bei der PDS)
worden sind und Wirkung gezeigt haben. Verurteilungen
haben ihre Wirkung sowohl im repressiven als auch im
präventiven Bereich.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat jetzt
der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD. Es geht hier doch nicht darum, unbedarfte Taxifahrer
zu verfolgen und vor den Kadi zu schleppen, die fahrläs-
sig oder unbewußt jemanden mitnehmen, sondern es
Hans-Peter Kemper (SPD): Frau Präsidentin! Mei- geht um Leute, die sich vorsätzlich oder grob fahrlässig
ne Damen und Herren! Ich will die gerade von der Kol- der Schleusung strafbar machen und viel Geld verdie-
legin Pau gestellte Frage aufgreifen. Auch ich frage nen, indem sie die Notlage der Menschen ausnutzen.
mich: Worüber reden wir eigentlich? Wenn ich Sie re-
den höre, dann komme ich zu dem Schluß, daß der (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie des
Zweck dieser Aktuellen Stunde nicht mehr klar zu er- Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])
kennen ist. In diesen Fällen ist eine konsequente Strafverfolgung
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido unabdingbar. Die Strafen haben ja auch bereits Wirkung
Westerwelle [F.D.P.]) gezeigt.
954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Hans-Peter Kemper

(A) Die Kritik am Bundesgrenzschutz ist völlig überzo- Die Kollegen der Koalition und der Opposition – mit (C)
gen. Wenn sich der Bundesgrenzschutz hier falsch ver- Ausnahme der PDS –, die hier gesprochen haben, haben
hält oder in Sprache und Verhalten überzogen reagiert, ja deutlich gemacht, daß es nichts mit Denunziantentum
dann muß das kritisiert und überprüft werden. Ich sehe zu tun hat, wenn der BGS jemanden aufruft, gesetzwid-
das zur Zeit aber nicht, obwohl mir die angesprochenen riges Verhalten zu melden. Ich bin ja froh, daß Sie von
Flugblätter auch bekannt sind. Sprache und Inhalt dieser der PDS die Katze heute aus dem Sack gelassen haben;
Flugblätter waren angemessen und zurückhaltend. denn aus Ihren Beiträgen wird vielen klar, wo Sie ste-
hen. Am Flugblatt des BGS – ich habe das scheinbar
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
autorisierte Flugblatt hier; ich weiß nicht, worüber Herr
Ich verstehe die Kritik am Bundesgrenzschutz auch Kollege Ströbele gesprochen hat, das müßte man einmal
nicht. Der Bundesgrenzschutz ist Bundespolizei. Er un- sehen – ist gar nichts auszusetzen. Das ist der ganz nor-
terliegt dem Legalitätsprinzip und ist verpflichtet, Straf- male Versuch einer Polizei, die Bürger zur Mithilfe bei
taten zu verfolgen. Nichts anderes tut er. der Verfolgung von Straftaten aufzufordern. Das ist le-
gitim.
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Eine weitere Aufgabe des Bundesgrenzschutzes und der
Polizei neben der Repression ist es, präventiv tätig zu Jetzt sage ich Ihnen aber etwas anderes – und da bin
werden. Wenn der BGS ein Flugblatt verteilt, in dem ich ganz giftig –: Wer wie die Kollegin Ostrowski hier
steht, man solle keine Straftaten begehen, keine illegalen sagt – ich habe es mir sofort mitgeschrieben –, daß wir
Einwanderer aufnehmen und sich nicht als Schleuser mit dieser Maßnahme des BGS „dem Polizeistaat wieder
betätigen, dann ist das keine Drohung und auch kein ein Stück näher kommen“,
überzogenes Handeln, sondern einfach ein Hinweis auf
geltende Gesetze. (Zurufe von der PDS: Jawohl!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der hat – so muß ich wirklich sagen – noch nichts von
F.D.P.) Demokratie verstanden.
Geltende Gesetze sind einzuhalten; da gibt es mit uns (Widerspruch von der PDS – Dr. Peter Ram-
überhaupt nichts zu verhandeln und zu diskutieren. Das sauer [CDU/CSU]: Und vom Rechtsstaat!)
sind Selbstverständlichkeiten, und Selbstverständlich-
keiten müssen auch nicht unbedingt zu dieser Zeit in – Natürlich. Ihr Gequatsche hat mit Rechtsstaat, mit
Aktuellen Stunden behandelt werden. Recht und Ordnung, überhaupt nichts zu tun.

Dort, wo es Verfehlungen gibt, wo sich Ermittlungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(B) behörden falsch verhalten, können Sie mit unserer Un- Heidemarie Lüth [PDS]: Das ist ja unver- (D)
terstützung rechnen. Das wird überprüft, und da werden schämt!)
die Verantwortlichen auch zur Rechenschaft gezogen. Dies ist es nicht einmal wert, darüber hier nachts um
Aber pauschale Verurteilungen ganzer Ermittlungsein- 22 Uhr noch zu sprechen. Ich meine das wirklich so.
heiten sind mit uns nicht zu machen.
Ich sage Ihnen ein Weiteres: Das, über was Sie hier
Schönen Dank.
diskutieren, in ein Verhältnis zu der weltweiten Verlet-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der zung von Menschenrechten zu bringen, ist genauso ab-
F.D.P.) surd. Das ist wirklich unterhalb jeder Gürtellinie. Damit
mag ich mich gar nicht abgeben.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht der (Zurufe von der PDS)
Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU.
Jetzt will ich zu den zwei wirklich bemerkenswerten
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Jetzt wird es Dingen dieser Diskussion kommen, nämlich zu den bei-
noch einmal munter!) den Redebeiträgen der Koalitionsabgeordneten der Grü-
nen. Die Besonderheit des Abends liegt darin
Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man (Hans-Peter Kemper [SPD]: Das gefällt ihm!)
den Text der Tagesordnung „Haltung der Bundesregie- – ja, das gefällt mir schon –, daß ein Bundesinnenmini-
rung zur öffentlichen Verunsicherung ... infolge der ster öffentlich sagt, die Grenze der Belastbarkeit durch
Verurteilung von Taxifahrern und Haltung der Bundes- Zuwanderung und Migration sei überschritten, während
regierung zum Vorgehen des Bundesgrenzschutzes in seine Koalitionsfreunde hier solche Reden halten. Man
diesem Zusammenhang“ nimmt und wenn man den bei- hat im Regierungslager eine gewisse Unruhe hinsicht-
den Rednern von der PDS zugehört hat, die hier das lich der beiden Beiträge der Grünen bemerkt, wobei ich
Thema behandelt haben, dann kann man nur den Ein- den Beitrag von Frau Voß als Jungfernrede verstehe und
druck gewinnen, daß die Herrschaften von ganz links sage: Sie wußte noch nicht, was sie tat.
außen ihr Verhältnis zum Rechtsstaat noch nicht berei-
nigt haben oder keine klare Haltung zum Rechtsstaat (Widerspruch bei der PDS)
haben.
Aber der Kollege Ströbele weiß natürlich ganz genau,
(Beifall bei der CDU/CSU) was er hier sagt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 955
Wolfgang Zeitlmann

(A) Ich bin gespannt, wie ihr das Problem löst, daß ihr richtige Erkenntnis vorgetragen – das können wir ihm (C)
zwar eine Regierung bildet, den Minister aber öffentlich zubilligen –, daß es natürlich um unterschiedliche Sach-
in Dingen kritisiert, in denen er recht hat, und nun hier verhalte geht. Aber ist es nun Aufgabe des Parlaments,
versucht, ihn im Rahmen der Themen BGS bzw. der in individuellen Fällen zu prüfen, wie der Sachverhalt
Durchsetzung von Recht und Gesetz an den Grenzen mit ist?
einer Menschenrechtsdebatte zu überfrachten. Ich warte
voller Genuß, wie das weitergeht und wie Sie das auflö- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das ist der
sen. Punkt!)

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ich auch!) Sollen wir jetzt im Parlament eine Beweisaufnahme
vollziehen? Es ist Aufgabe der Gerichte, die Zeugen zu
Das wird ungeheuer spannend und interessant. befragen, die richtigen Tatsachen-Feststellungen zu tref-
Herr Minister, ich wünsche Ihnen, daß Sie bei Ihren fen und dann zu einer Subsumtion, zu einer rechtlichen
Formulierungen zur Zuwanderung bleiben, die Sie ein- Bewertung, zu kommen.
mal getroffen haben, daß Sie sich Ihrer Koalitionspart-
ner erfolgreich erwehren können und daß Sie dann viel- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord-
leicht zu Ergebnissen kommen, die uns in die Lage ver-
neten der CDU/CSU)
setzen, auch Ihnen einmal Applaus zu spenden. Das wä-
re eine ganz positive Entwicklung. So geht es in einem Rechtsstaat zu. Das sollte Kollege
Die Damen und Herren der Grünen, die hier Kritik Ströbele auf Grund seiner guten juristischen Ausbildung,
geübt haben, sollten noch einmal in Klausur gehen und als guter Jurist, als den ich ihn kenne, eigentlich auch
sich überlegen, was sie hier angerichtet haben. wissen. Soweit zum repressiven Bereich.
Herzlichen Dank. Nun zum präventiven Bereich. Man kann zur Diskus-
sion stellen, ob sich der Bundesgrenzschutz richtig ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – halten hat. Natürlich ist es ein Problem, wie man prä-
Zuruf von der PDS) ventiv auf solche Situationen eingeht, weil es – das gebe
ich zu – ein Spannungsverhältnis ist, ob sich jemand
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege zum Mittäter oder zum Gehilfen macht. Dafür gebe ich
Zeitlmann, ich denke, wir sollten auch in einer Aktuel- ein sehr drastisches Beispiel: Ein Mann kommt mit ei-
len Stunde den Stil des Hauses bewahren und die Aus- nem großen Geldsack, aus dem noch ein paar Geld-
führungen der anderen Kolleginnen und Kollegen nicht scheine fallen, aus einer Bank heraus, hält vielleicht eine
unbedingt als Gequatsche disqualifizieren. Waffe in der Hand und ist maskiert. Wenn dieser Mann
(B) ein Taxi anhält, dann kann man natürlich sagen: Sie ha- (D)
(Beifall bei der PDS, der SPD und dem ben eine Beförderungsverpflichtung, nehmen Sie ihn
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang mit. Ein Polizeibeamter würde aber sagen: Ich mache
Zeitlmann [CDU/CSU]: Ich gelobe Wieder- Sie darauf aufmerksam, daß sie das nicht dürfen. Das ist
holung! – Gegenruf des Abg. Dr. Gregor Gysi eine klare Gehilfenschaft zu einer Straftat. – Es muß al-
[PDS]: Das gäbe eigentlich einen Ordnungs- so eine Abgrenzung vorgenommen werden. Die Tatsa-
ruf, wenn die Präsidentin jetzt streng wäre!) chen-Feststellung ist Aufgabe der Justiz, dafür haben
Nächster Redner ist jetzt der Bundesinnenminister, wir sie.
Otto Schily. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Der Bundesgrenzschutz hat die Aufgabe, in einer sol-
Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi- chen Situation präventiv mitzuwirken. Das tut er durch
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich bin ein Flugblatt, das ich vor mir habe.
schon etwas verwundert über das, was hier in dieser De-
batte vor sich geht. Wenn wir meinen, das Parlament sei (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist in Ord-
die oberste Instanz, um die Rechtsfindung herbeizufüh- nung!)
ren – –
– Dieses Flugblatt ist in Ordnung.
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist gar nicht unser
Thema!) Da steht:

– Doch, das ist Ihr Thema. Denn Sie haben Urteile an- Der Bundesgrenzschutz informiert: Nein zu
gegriffen und von Rechtsbeugung gesprochen. Das ist Schleppern und Schleusern.
ein massiver und frontaler Angriff auf die Unabhängig- Ist das zu beanstanden? Ich wüßte nicht, warum.
keit der Justiz. Es gehört zu den Grundelementen eines
Rechtsstaates, daß auch wir als Legislative Achtung vor An alle Taxifahrerinnen und Taxifahrer
der Unabhängigkeit der Judikative bewahren.
Nach meinem Kenntnisstand ist das mit der Taxifahrer-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE innung abgesprochen.
GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
Taxifahrerinnen und Taxifahrer werden nach unse-
Auch über den Diskussionsbeitrag des Kollegen Strö- ren Erkenntnissen oft von professionellen Schlep-
bele war ich einigermaßen überrascht. Er hat hier die pern und Schleusern angesprochen, um Personen,
956 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Bundesminister Otto Schily

(A) die illegal über die Grenze nach Deutschland ein- als er es hier gemacht hat. Dann können wir uns auch (C)
reisen, an deren Zielorte zu bringen. Hinter solchen über solche Fragen verständigen.
Angeboten stecken meist gut organisierte Schleu-
serbanden, die die Not von Menschen für ihre skru- Vielen Dank.
pellosen Geschäfte ausnutzen. (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei
Neben verstärkten Kontrollmaßnahmen wenden wir Abgeordneten der CDU/CSU)
uns mit diesem Informationsblatt und folgenden
Bitten an Sie:
Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in
Lassen Sie sich von Schleuserbanden nicht miß- dieser Debatte ist der Abgeordnete Günter Graf, SPD.
brauchen! Nehmen Sie keine offensichtlich illegal
eingereisten Personen in Ihrem Taxi mit! Teilen Sie
Anwerbungsversuche oder andere derartige Fest- Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Frau Präsidentin!
stellungen uns oder jeder anderen Polizeidienst- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, es
stelle mit – auf Wunsch auch diskret. ist in dieser Debatte alles gesagt worden. Der Bundesin-
Bei der Mitwirkung an illegalen Grenzübertritten nenminister hat in aller Deutlichkeit auf die Fakten hin-
ist mit folgenden Konsequenzen zu rechnen: Frei- gewiesen. Er hat sie juristisch bewertet, und ich habe
heits- oder Geldstrafe, eventuelle Einziehung des dem nichts hinzuzufügen.
Fahrzeuges oder auch Entzug der Konzession als Eines will ich jedoch in aller Deutlichkeit sagen:
Taxiunternehmer. Mich hat es schon sehr überrascht, als ich las, daß die
Wir danken Ihnen für Ihre Mithilfe und wünschen PDS eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.
Ihnen gute Fahrt! Worum geht es? Wir – das war die große Mehrheit die-
ses Hauses – haben den Bundesgrenzschutz an der
Was ist an diesem Flugblatt zu beanstanden? Gar nichts. Grenze eingesetzt, um insbesondere der illegalen Zu-
Das ist ein sehr sorgfältig und vernünftig ausgearbeitetes wanderung, den Schleusungen, dem Menschenhandel,
Flugblatt. dem Rauschgifttransfer usw. wirksamer begegnen zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der können. Dafür haben wir den BGS an die Grenze ge-
CDU/CSU und der F.D.P.) schickt.

Nun habe ich dem Kollegen Ströbele zugehört, der Daß sich der BGS, wie übrigens die gesamte Polizei
eine Passage aus einem angeblichen Flugblatt zitiert hat. in Deutschland, bei seiner Arbeit bestimmter Mittel be-
dient, wird von Ihnen hier kritisiert. Er kann aber nur er-
(B) Daraufhin habe ich den Kollegen Körper gebeten, Herrn folgreich arbeiten, wenn er darauf aufmerksam macht, (D)
Kollegen Ströbele zu bitten, mir doch das Flugblatt zur
Verfügung zu stellen. Dessen Text würde mir in der Tat was passieren könnte, und die Menschen um Unterstüt-
nicht so gut gefallen, wenn er so wäre, wie Sie das be- zung bittet, wenn sie etwas sehen. Nur wenn andere mit-
hauptet haben. Aber der Kollege Ströbele verfügt über helfen, kann er erfolgreich arbeiten.
dieses Flugblatt nicht. Wir haben Gott sei Dank eine offene Grenze. Wir ha-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das kann nicht ben Stacheldraht und Minengürtel abgebaut, Betonwän-
sein!) de eingerissen und schicken Bundesgrenzschützer – zi-
vilisiert – an die Grenzen, die ihre Aufgabe wahrnehmen
Das ist natürlich problematisch. Wenn man den Bundes- sollen, und Sie stellen sich hierhin und klagen das an.
grenzschutz in Mißkredit zu bringen versucht, dann habe Wenn Sie es mit diesem Thema ernst gemeint hätten –
ich, in meinem Amt als Bundesinnenminister, die einige von Ihnen sind dafür erfahren genug –, dann hät-
Pflicht, mich vor den Bundesgrenzschutz zu stellen. Das ten Sie sich mit dem Vorsitzenden des Innenausschusses
tue ich hiermit. in Verbindung gesetzt und gesagt: Laßt uns das einmal
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in einer Innenausschußsitzung bereden, der Bundesin-
der CDU/CSU und der F.D.P.) nenminister oder der Staatssekretär berichten über das
Thema Bundesgrenzschutz. Dann hätten wir vernünftig
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es für miteinander reden können. Sie jedoch ziehen eine Show-
die Kolleginnen und Kollegen des Bundesgrenzschutzes Veranstaltung ab, und so geht es nicht.
nun wahrlich keine leichte Aufgabe ist, die sie dort lei-
sten. Wenn man über solche Dinge redet, dann darf man (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Peter
auch über die Menschenrechte der Angehörigen des Ramsauer [CDU/CSU])
Bundesgrenzschutzes reden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Vizepräsidentin Petra Bläss: Die Aktuelle Stunde
CDU/CSU)
ist damit beendet.
Das richte ich an die Adresse der PDS, die hier einen
Ton anschlägt, der völlig unangemessen ist. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Bevor solche Behauptungen aufgestellt werden, so Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-
empfehle ich dem Kollegen Ströbele, sollte die private richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu
Beweisaufnahme etwas sorgfältiger vollzogen werden, der Verordnung der Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 957
Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Verordnung zur Verlängerung der Frist in Verbesserte Förderung der Wohnungsmoder- (C)
§ 27 des Investitionsvorranggesetzes nisierung im Altbaubestand und bei Wohn-
hochhäusern nach dem Investitionszulagenge-
– Drucksachen 14/50, 14/69 Nr. 2.2, 14/94 –
setz 1999
Berichterstattung: – Drucksache 14/127 –
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Astrid Voßhoff Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für (federführend)
Finanzausschuß
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Es ist Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
vereinbart worden, daß folgende Kolleginnen und Kol-
legen ihre Redebeiträge zu Protokoll geben: Hans- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Joachim Hacker, Andrea Voßhoff, Jürgen Türk, Gerhard Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Es ist verein-
Jüttemann und Hans-Christian Ströbele. Sind Sie damit bart worden, daß folgende Kolleginnen und Kollegen ih-
einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch.*) re Rede zu Protokoll geben: Dr. Christine Lucyga, Han-
nelore Rönsch (Wiesbaden), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be- Dr. Karlheinz Guttmacher, Gert Willner sowie Wolf-
schlußempfehlung des Rechtsausschusses zu der Ver- gang Spanier. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
ordnung der Bundesregierung zur Verlängerung der keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.*)
Frist nach dem Investitionsvorranggesetz auf den
Drucksachen 14/50 und 14/94. Wer stimmt für diese Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schlußempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit erteile ich der Abgeordneten Christine
Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig ange- Ostrowski, PDS, das Wort.
nommen.
Christine Ostrowski (PDS): Frau Präsidentin! Mei-
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12a bis 12c
ne Damen und Herren! Ich bitte um Nachsicht ob der
auf:
späten Stunde, aber auch Sie wohnen, und das Wohnen
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ist ein Thema, das uns alle angeht. Im übrigen geht es
ordneten Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi um einen wichtigen Gesetzentwurf unsererseits – das
und der Fraktion der PDS eingebrachten Ent- Wohngeldanpassungsgesetz –, der heute in der zweiten
wurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohn- und dritten Lesung auf der Tagesordnung steht.
geldrechtlichen Regelungen – Wohngeldanpas- Ich konnte so manches Spannende während der Be-
(B) sungsgesetz (WoGAG) ratung des Gesetzentwurfs beobachten: erstens wie sich (D)
– Drucksache 14/19 – das Verhalten ändert, wenn die politischen Rollen ver-
tauscht sind. CDU/CSU und F.D.P. entwickelten sich
(Erste Beratung 5. Sitzung) plötzlich zum Vorkämpfer einer Wohngeldnovelle.
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus- Hätten sie doch dieses Kämpfertum bewiesen, als sie an
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der Regierung waren.
(15. Ausschuß) (Beifall bei der PDS)
– Drucksache 14/142 – SPD und Grüne schienen sich wiederum ihrer Forde-
Berichterstattung: rungen aus der Oppositionszeit nur schwer zu erinnern,
Abgeordneter Wolfgang Spanier ihre Argumente erinnerten teilweise an die der Kohl-
Regierung.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christi- Zweitens war spannend, wie sich das Verhalten
ne Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf,
gleicht, wenn politische Rollen vertauscht sind. Die alte
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Regierungskoalition ging mit dem Wohngeldverspre-
Fortführung des Wohnraum-Modernisie- chen in den Wahlkampf und erfüllte es nie. Die neue
rungsprogramms der Kreditanstalt für Wie- Koalition versprach den Wählern dasselbe, konkrete In-
deraufbau bis zum Jahr 2000 itiativen unternahm sie bisher nicht; denn Bekenntnisse
sind keine Handlungen.
– Drucksache 14/126 –
Drittens war spannend, wie sich gleiches Verhalten
Überweisungsvorschlag: fortsetzt, obwohl politische Rollen vertauscht sind. Es
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
(federführend) war ein PDS-Gesetzentwurf, und in seiner Ablehnung
Finanzausschuß bewies man quer durch alle Parteien Kontinuität. Zur
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß glaubhaften Begründung mußten die merkwürdigsten
Argumente herhalten, zum Beispiel, das Gesetz sei nur
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christi- die 1995 vom Bundesrat beschlossene Härtefallrege-
ne Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf lung. Das stimmt. Wir haben sie aufgegriffen. Es war
und der Fraktion der PDS nur schwer nachzuvollziehen, warum ein Härtefall im
––––––––––––– ––––––––––
*) Anlage 7 *) Anlage 8
958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

Vizepräsidentin Petra Bläss

(A) Wohngeld 1995 gilt, aber 1998, wo sich die Verhält- durchschnittlich hohem Aufwand zu sanieren. Das Inve- (C)
nisse extrem verschärft haben, nicht mehr gelten soll. stitionszulagengesetz alleine kann die Sache nicht lei-
Auch das Argument, verwaltungsmäßig sei das über- sten, selbst wenn es novelliert werden würde.
haupt nicht mehr zu schaffen, ist merkwürdig, denn
Mit unserem zweiten Antrag schlagen wir Ihnen vor,
wenn man überlegt, welch grundlegende Gesetzesände-
das Investitionszulagengesetz zu novellieren, nämlich
rungen und Reformen wir in den letzten Tagen be-
die Förderung der Wohnungssanierung mit der Förde-
schlossen haben, die auch alle funktionieren, zieht das
rung des Mietwohnungsneubaus gleichzusetzen. Ich
wohl nicht. Auch das Argument, daß Ostwohngeldbe-
glaube, das ist das Mindeste, was man unter Beachtung
zieher durch unseren Entwurf bevorteilt würden, ist un-
der ostdeutschen Situation machen muß. Denn wir müs-
sinnig, denn jeder, der Augen zum Sehen hat, weiß, daß
sen bedenken: Falls Ihre Pläne der Steuerreform Wahr-
die Einkommensverhältnisse und die Modernisierungs-
heit werden, das heißt, falls die erhöhten Absetzungen in
mieten im Osten ausgesprochen auseinanderklaffen.
städtischen Sanierungsgebieten Wahrheit werden – –
Das vierte Spannende, was man als kleinste Oppositi-
on im Bundestag bewirken kann. Sie müssen es ja nicht
zugeben, aber es ist trotzdem so gewesen: Unser Gesetz- Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin
entwurf hat öffentlichen Druck bewirkt. Der Bundes- Ostrowski, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
kanzler verlor in seiner Regierungserklärung kein einzi- gin Dr. Lucyga?
ges Wort zum Wohnen und zum Wohngeld schon gar
nicht. Bundesminister Müntefering mußte sich, nachdem
wir unseren Entwurf eingebracht hatten, in der Debatte Christine Ostrowski (PDS): Am späten Abend? –
immerhin zu einem Termin durchringen, etwas nebulös Aber bitte schön, natürlich.
hieß es: im Jahre 1999. Als wenig später der Mieterbund
deutlich öffentliche Kritik übte, mußte sich Müntefering
auch in der Presse erklären, und jetzt haben es alle Mie- Dr. Christine Lucyga (SPD): Frau Kollegin, haben
ter in der Bundesrepublik lesen können. Meine Damen Sie sich, als Sie Ihre Anträge formuliert haben, vielleicht
und Herren, Sie müssen nun an die Wohngeldreform einmal mit dem Bauminister von Mecklenburg-
heran, ob Sie wollen oder nicht. Ich hatte es Ihnen ge- Vorpommern verständigt, der zwar nicht Ihrer Fraktion,
sagt: Wir helfen Ihnen, Ihre Wahlversprechen zu erfül- aber Ihrer Partei angehört, und wenn ja: War er bereit,
len. die Mehrausgaben aus seinem Ressort zu bestreiten? Hat
er Sie im weiteren darüber aufgeklärt, wie sich der
(Beifall bei der PDS)
Bauminister Mecklenburg-Vorpommerns zu dem Vor-
Daß allerdings noch immer keine konkreten Vorstel- haben der Bundesregierung zu verhalten gedenkt?
(B) (D)
lungen vorhanden sind, zeigt das Ausweichen des Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
desministers bei Anfragen im Ausschuß. Er hat keine
Ahnung, wie hoch das Finanzvolumen seiner vorausge-
sagten Wohngeldnovelle sein soll. Er kann keine Eck-
Christine Ostrowski (PDS): Liebe Kollegin, ich be-
punkte nennen. Er weiß eigentlich überhaupt nichts, und
rate mich grundsätzlich, bevor ich Anträge stelle. Eine
er sagt uns auch klipp und klar: Ich werde nichts Kon-
andere Arbeitsweise kennen wir überhaupt nicht.
kretes sagen.
(Lachen bei der SPD)
Ich vermute also, daß Sie dem Gesetzentwurf der
PDS nicht zustimmen werden, daß Sie noch nicht so Wir konsultieren nicht nur unsere eigenen Minister, die
weit sind. wir ja jetzt haben, sondern auch andere Leute. Sie kön-
nen ganz beruhigt sein, weil das Interessante an den
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anträgen, die ich soeben vorgeschlagen habe, ist, daß
Schade, gerade der späte Abend wäre für die Sternstun- sie eben nicht nur eine Geldausgabe sind,
de, die ich mir so sehr gewünscht hätte, richtig passend (Dr. Christine Lucyga [SPD]: Das müßten Sie
gewesen. doch mit Ihrem Minister absprechen können!)
Es stehen noch zwei weitere Anträge von uns auf der wie es jetzt in Ihrer Frage anklang, sondern Sie wissen
Tagesordnung, erstens die Fortführung des KfW- ganz genau: Wenn wir diese Mittel weiterhin einsetzen,
Modernisierungsprogramms. Mit diesem Programm dann wird dabei ein beschäftigungspolitischer Effekt
konnten über 3 Millionen Wohnungen im Osten saniert herauskommen, der ungefähr – die Experten streiten
werden. Das Programm läuft 1998 aus und wird 1999 sich dabei ein bißchen – ein Vierfaches bis Achtfaches
nur noch abfinanziert. Es muß dringend verlängert wer- der eingesetzten Finanzmittel bringt. Das heißt, Sie ha-
den ben also einen Gewinn.
(Iris Gleicke [SPD]: Lesen Sie doch einmal (Beifall bei der PDS)
die Regierungserklärung!)
Wir sollten also diese Programme fortsetzen; denn
– nein, in der Regierungserklärung ist das genauso ne- wenn es nämlich nicht passiert, das heißt Ihre Steuerplä-
bulös gesagt worden, wie sich Ihr Minister die ganze ne im Steuerentlastungsgesetz Wahrheit werden, dazu
Zeit verhält –, weil der Sanierungsbedarf im Osten noch das KfW-Programm nicht fortgesetzt wird und außer-
vorhanden ist; ein Drittel der Wohnungen sind mit über- dem die Zulagen bei der Modernisierung des Mietwoh-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 959
Christine Ostrowski

(A) nungsprogramms bei 180 DM pro Quadratmeter bleiben, wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? (C)
dann kann ich Ihnen nur sagen, daß Sie Ihre Koalitions- – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
vereinbarung in diesem Punkt mit der Klospülung hin- ter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
unterspülen können. Grünen, CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
Sie hatten sich vorgenommen, Ihren Schwerpunkt in ordnung die weitere Beratung.
der Bestandsförderung zu setzen. Wenn diese Program-
me wegfallen, dann ist auch dieses Bekenntnis in der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Koalitionsvereinbarung weggefallen. auf den Drucksachen 14/126 und 14/127 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Deshalb kann ich Ihnen nur raten – natürlich rate ich Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
Ihnen, unserem Wohngeldanpassungsgesetz zuzustim- sind die Überweisungen so beschlossen.
men, und selbstverständlich werden die Anträge beraten
–: Stimmen Sie unseren Anträgen zu. Wenn Sie das Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
nicht wollen, dann machen Sie doch einfach selber wel- Schluß unserer Tagesordnung. Da dies tatsächlich die
che. letzte Sitzung des Bundestagsplenums im Jahr 1998 war,
möchte ich Ihnen allen an dieser Stelle stellvertretend
(Beifall bei der PDS) für das Bundestagspräsidium ein friedliches und fröhli-
ches Weihnachtsfest wünschen und vor allem einen gu-
ten Start in das Jahr 1999.
Vizepräsidentin Petra Bläss: Wir sind damit am
(Beifall)
Ende dieser Debatte und kommen zur Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Anpassung Zum Schluß muß ich aber wieder ganz profan wer-
der wohngeldrechtlichen Regelungen auf Drucksache den: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
14/19. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Woh- destages auf Mittwoch, den 20. Januar 1999, 13.00 Uhr
nungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/142, den Ge- ein.
setzentwurf abzulehnen. Ich lasse nun über den Gesetz- Die Sitzung ist geschlossen.
entwurf der PDS auf Drucksache 14/19 abstimmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen (Schluß: 22.13 Uhr)

(B) (D)
960 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 3

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO


der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Hans-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis Joachim Otto (Frankfurt), Jörg van Essen,
einschließlich Walter Hirche, Dirk Niebel, Hans-Michael Gold-
mann, Marita Sehn, Ulrike Flach, Dr. Dieter
Balt, Monika PDS 10.12.98 Thomae, Dr. Max Stadler, Sabine Leutheusser-
Bläss, Petra PDS 10.12.98 Schnarrenberger, Klaus Haupt, Ernst Burg-
bacher, Klaus Kinkel, Gisela Frick (alle F.D.P.)
Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 10.12.98
Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 10.12.98 zur namentlichen Abstimmung über den An-
Carl-Detlev trag der Fraktion der CDU/CSU: Festigung
und Fortentwicklung der Europäischen Union
Hartnagel, Anke SPD 10.12.98 während der deutschen Ratspräsidentschaft im
Kampeter, Steffen CDU/CSU 10.12.98 1. Halbjahr 1999 (Drucksache 14/159) (Tages-
ordnungspunkt 4d), sowie
Kasparick, Ulrich SPD 10.12.98
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 10.12.98 über den Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorschau auf den
Kossendey, Thomas CDU/CSU 10.12.98 Europäischen Rat in Wien am 11./12. Dezember
Kraus, Rudolf CDU/CSU 10.12.98 1998 und Ausblick auf die deutsche Präsident-
Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 10.12.98 schaft in der ersten Jahreshälfte 1999 (Druck-
Karl A. sache 14/181) (Tagesordnungspunkt 4c)
Dr. Pfaff, Martin SPD 10.12.98 Auch im Namen meiner Kollegen möchte ich erklä-
ren, daß wir dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur
Pieper, Cornelia F.D.P. 10.12.98 Regierungserklärung zustimmen, den entsprechenden
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 10.12.98 Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE
Reiche, Kathrina CDU/CSU 10.12.98 GRÜNEN jedoch ablehnen.
(B) Dr. Richter, Edelbert SPD 10.12.98 Wir sind der Ansicht, daß die Aufhebung der grenz- (D)
überschreitenden Buchpreisbindung durch die EU-Kom-
Schemken, Heinz CDU/CSU 10.12.98
mission zwar große Probleme für die deutschen Verlage
Schmidt (Fürth), CDU/CSU 10.12.98 und Buchhandlungen bedeuten würde. Aber die Aufhe-
Christian bung der Teilwertabschreibung durch die neue Bundes-
von Schmude, Michael CDU/CSU 10.12.98 regierung bedeutet aus unserer Sicht eine zusätzliche
und weitaus größere Belastung. Das Verbot hat exi-
Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 10.12.98 stenzbedrohende Konsequenzen für eine Vielzahl mittel-
Christian ständischer Verlage und Buchhandlungen und in noch
Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 10.12.98 schwerwiegenderer Weise für den Kunsthandel, insbe-
Uldall, Gunnar CDU/CSU 10.12.98 sondere die Galerien. Mit dieser Maßnahme zerstört die
Bundesregierung mit ihrer Steuerpolitik Tausende von
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 10.12.98 Arbeitsplätzen. Das führt zu einer massiven Verarmung
Wissmann, Matthias CDU/CSU 10.12.98 der Vielfalt auf dem deutschen Literatur- und Kultur-
Zierer, Benno CDU/CSU 10.12.98 markt.
Den Antrag der SPD, der die Benachteiligung des
Mittelstandes durch die Abschaffung der Teilwertab-
schreibung nicht berücksichtigt, halten wir für schein-
heilig. Wir erwarten, daß die Bundesregierung ihre Plä-
ne zur Teilwertabschreibung zurücknimmt.
Anlage 2

Erklärung
Anlage 4
des Abgeordneten Friedhelm Ost (CDU/CSU)
zur namentlichen Abstimmung über den Ent- Erklärung nach § 31 GO
schließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf
der Drucksache 14/140 (Vgl. 12. Sitzung, Seite der Abgeordneten Annette Faße (SPD)
721 A): zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung
Ich habe an der namentlichen Abstimmung teilge- des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
nommen und mit Ja gestimmt. Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 961

(A) (C)
die Bundesregierung; Vorschlag für eine Richt- Dieses Gesetz lehnen wir, die Unterzeichnenden, ab,
linie des Rates zur Schaffung eines Ordnungs- weil durch die Außerkraftsetzung der Rentenreform, be-
rahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft sonders des darin enthaltenen demographischen Faktors,
im Bereich der Wasserpolitik (Tagesordnungs- dem Generationenvertrag als der Grundlage unserer
punkt 13d) Rentenversicherung schwerer Schaden zugefügt wird.
Ich stimme der Beschlußempfehlung des 16. Aus- Zudem enthält dieses Gesetz unsachgemäße Rege-
schusses zu, da ich die positiven Ansätze der Richtlinie lungen für den Bereich „Entsendegesetz“ und „Schein-
des Rates aus grundsätzlichen Erwägungen ausdrücklich selbständigkeit“.
begrüße.
Dagegen halten wir die Herabsetzung des Schwel-
Folgende Anmerkungen zu den Beratungen des lenwertes beim Kündigungsschutz von 10 auf 5 Be-
Richtlinienentwurfs halte ich jedoch für angebracht: schäftigte sowie die Regelung bei der Lohnfortzahlung
1. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungs- für vertretbar.
wesen des Deutschen Bundestages (15. Ausschuß) ist in
die Beratungen des Richtlinienentwurfs in keiner Weise
miteinbezogen worden, obwohl der Entwurf im Falle
seiner Umsetzung weitreichende Konsequenzen für den
Anlage 6
Verkehrsträger Wasserstraße hätte. Durch die Nichtbe-
teiligung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen bestand keine Möglichkeit, diese verkehr- Erklärungen nach § 31 GO
lichen Interessen in angemessener Form in die Beratun- zur Abstimmung über den von den Fraktionen
gen einzubringen. SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
2. Bei den weiteren Beratungen des Richtlinienvor- brachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung
schlages im Rat der Europäischen Union und in der der Solidarität in der gesetzlichen Krankenver-
Stellungnahme des Europäischen Parlaments sollte zwi- sicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz
schen den im Richtlinienentwurf formulierten Umwelt- (Tagesordnungspunkt 6)
zielen und konkurrierenden Zielen wie zum Beispiel der
Nutzung der Gewässer als Verkehrsweg genau abgewo- Hans-Ulrich Klose (SPD): Bei der Abstimmung
gen werden. Es sollte berücksichtigt werden, daß reinen über den genannten Gesetzentwurf werde ich mich der
Umweltzielen andere Belange entgegenstehen können, Stimme enthalten. Ich kann nicht gegen den Entwurf
die zumindest gleichrangig, gegebenenfalls höherrangig stimmen, weil er in Teilen wichtige Korrekturen ver-
(B) (D)
zu bewerten sind. Vergleichbare Rechtsnormen enthal- gangener Fehlentscheidungen bringt. Ich kann aber auch
ten dieses grundsätzliche Gebot der Abwägung zwi- nicht für den Entwurf stimmen, weil ich die Regelungen
schen konkurrierenden Zielen. Die von der EU-Kom- zur Budgetierung zwar aus der Sicht der Kassen verste-
mission und den EU-Mitgliedstaaten sowohl aus um- hen, aus der Sicht der Patienten und der Leistungser-
weltpolitischen wie aus wirtschaftlichen Gründen gefor- bringer aber auf keinen Fall gutheißen kann.
derte und geförderte Verkehrsverlagerung auf Wasser-
straßen darf deshalb nicht durch eine fehlende Be- Zum einen erscheint mir die Grundidee der Budgetie-
rücksichtigung der Gewässerfunktion als Verkehrsweg rung nicht nur fragwürdig, sondern sogar ethisch be-
gefährdet werden. denklich, weil sie den einzelnen Arzt in eine kaum auf-
lösbare Konfliktlage hineinführen kann: Vor allem im
dritten Monat eines Quartals werden Ärzte bei (aus ihrer
ärztlichen Überzeugung) notwendigen Verordnungen
zögern, weil eine Überschreitung des Arzneimittelbud-
Anlage 5 gets droht, mit der Konsequenz, daß die Ärzte dann für
ihre Leistung nicht nur kein Honorar erhalten, sondern
über den Arzneimittelregreß sogar auch noch die einge-
Erklärung nach § 31 GO
setzten Medikamente selbst bezahlen müssen. Da die
der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Rainer Ärzte (ein Teil von ihnen) dazu nicht bereit sein werden,
Eppelmann, Ingrid Fischbach, Dr. Rita Süss- ist nicht auszuschließen, daß entweder die angemesse-
muth, Eva-Maria Kors, Cajus Caesar, Renate ne/richtige Behandlung unterbleibt oder viele Patienten
Diemers, Dr.-Ing. Rainer Jork, Gerald Weiß unnötig in Krankenhäuser eingewiesen werden, was
(Groß-Gerau), Heinz Wiese (Ehingen), Franz dann die Kosten nicht reduzieren, sondern nach oben
Rommer, Peter Weiß (Emmendingen), Dr. treiben müßte. In solche Konfliktlagen, die kein Abge-
Maria Böhmer, Walter Link (Diepholz), Heinz ordneter für sich akzeptieren würde, darf der Gesetzge-
Schemken, Ulf Fink (alle CDU/CSU) ber auch andere Berufsgruppen nicht hineinstellen. Der
nachteilig Betroffene ist in dieser Konfliktlage in erster
zur namentlichen Abstimmung über den von Linie der Patient, und das darf nicht sein.
den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Geset- In dem Gesetz soll im übrigen dem § 75 folgender
zes zu Korrekturen in der Sozialversicherung Absatz 10 angefügt werden: „Zur Sicherung der wirt-
und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte schaftlichen Verordnungsweise können die Kassenärzt-
(Tagesordnungspunkt 5a) lichen Bundesvereinigungen und die Kassenärztlichen
962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
Vereinigungen auf der Grundlage der Richtlinien der Anlage 7
Bundesausschüsse die Vertragsärzte über verordnungs-
fähige Leistungen und deren Preise oder Entgelte infor- Zu Protokoll gegebene Reden
mieren sowie nach dem allgemein anerkannten Stand
der medizinischen Erkenntnisse Hinweise zu Indikation zu der Beschlußempfehlung des Rechtsaus-
und therapeutischem Nutzen geben.“ schusses zu der Verordnung der Bundesregie-
rung zur Verlängerung der Frist in § 27
Auch dem kann ich nicht zustimmen, weil es in der des Investitionsvorranggesetzes (Tagesordnungs-
Medizin bekanntlich unterschiedliche Therapie-Richtun- punkt 10)
gen und infolgedessen in vielen Teilen einen „allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ Hans-Joachim Hacker (SPD): Der im Einigungs-
nicht gibt. Weil das so ist, können die Kassenärztlichen vertrag festgeschriebene Grundsatz „Rückgabe vor Ent-
Vereinigungen die genannten „Hinweise“ gar nicht ge- schädigung“ hat zu weitreichenden Blockaden bei beab-
ben. Sie können es auch aus ganz praktischen Gründen sichtigten Verfügungen über Grundstücke in den neuen
um so weniger, als die Funktionsträger der Vereinigun- Ländern geführt. Richtig ist sicher, daß die rechtsstaatli-
gen in der Regel nicht mehr voll in der Praxis stehen, che und rechtsbeständige Klärung der sogenannten offe-
also auch nicht (mehr) über die notwendige Qualifi- nen Vermögensfragen aus der DDR-Zeit in einem be-
kation verfügen, um solche „Hinweise“ begründen zu achtlichen Umfang auch eine Vermögensrückgabe er-
können. Überdies weiß jeder Praktiker, daß bei forderte. Ich denke hierbei insbesondere an Ansprüche
Entscheidungen der Kassenärztlichen Vereinigungen von Verfolgungsopfern, wie zum Beispiel von Zwangs-
nicht immer nur objektive/sachliche Argumente aus- ausgesiedelten.
schlaggebend sind – auch dort werden „Interessen“ ver-
treten. Nicht vergessen sollten wir auch, daß der erste Schritt
in der Restitutionsfrage bekanntlich von Ministerpräsi-
Im übrigen ist mein Eindruck der, daß der gesamte dent Modrow mit der Rückgabe der 1972 verstaatlichten
Gesetzentwurf in erster Linie auf die Kostenlage der Betriebe getan worden war. Wenn man so will, ist Herr
Kassen reagiert, nicht aber auf die Frage, wie eine – aus Modrow, der Ehrenvorsitzende der PDS, der Erfinder
der Sicht der Patienten – bestmögliche und kostengün- der Restitution am Ende der DDR; die Koalition von
stige medizinische Versorgung gewährleistet werden CDU/CSU und F.D.P. hat diesen Ansatz perfektioniert.
kann. Letzteres müßte aber bei jeder Reform im Vorder- Wenn das Kabinett Modrow die juristischen Folgen der
grund aller Überlegungen stehen. Einzelfallentscheidung möglicherweise nicht übersehen
hat, war es dagegen der erklärte Wille der konservativen
(B) Koalition im Jahre 1990, aus ideologischen Gründen (D)
Monika Heubaum (SPD): Bei der Abstimmung über diese Lösung trotz erkennbarer Risiken zu wählen.
den genannten Gesetzentwurf werde ich mich der Stim-
me enthalten. Das GKV enthält wichtige Elemente zur Aber schon bald nach der deutschen Einheit wurde
notwendigen Korrektur einer verfehlten Weichenstel- allen Beteiligten klar, welche Blockade von dieser Poli-
lung in der Gesundheitspolitik. Ich kann dem GVK- tik ausging und daß Nutzer von Gebäuden, vor allem
SolG jedoch nicht zustimmen, weil ich insbesondere die Handwerker und Gewerbetreibende in den neuen Län-
Regelungen zur Budgetierung zwar aus der Sicht der dern, flächendeckend verunsichert wurden; denn das ge-
Kassen verstehen, aus der Sicht der Patienten und der nutzte Betriebsgrundstück war restitutionsbelastet und
Leistungserbringer (insbesondere der Ärzte) aber nicht damit die Betriebsperspektive unklar – eine fatale Be-
gutheißen kann. gleiterscheinung der Kohlschen Politik der „blühenden
Landschaften“. Diese Investitionsbremse, für deren Zu-
Es ist zweifellos medizinisch machbar und im Sinne standekommen der kleine, aber einflußreiche Partner der
einer wirtschaftlichen Vorgehensweise wünschenswert, damaligen Koalition, die F.D.P., die Hauptverantwor-
daß Behandlungen verstärkt aus dem stationären in den tung trägt, mußte wenigstens teilweise gelockert werden.
ambulanten Bereich verlegt werden. Hierfür schafft das Das geschah im Zuge der Gesetzgebung, zuletzt durch
GKV-SolG jedoch keine geeigneten Voraussetzungen. das Investitionsvorranggesetz. Bei der Verabschiedung
So ist es grundsätzlich nicht hinnehmbar, wie ärztliche des Gesetzes ist der Gesetzgeber davon ausgegangen,
Leistungen und Verordnungen künftig budgetiert wer- daß die Notwendigkeit besonderer Investitionsvorrang-
den sollen. Denn die vorgesehene Budgetierung, so ist regelungen nur bis zum 31. 12. 1995 bestehen würde.
zu befürchten, wird dazu führen, daß die niedergelasse- Jedoch wurde im Laufe des Jahres 1995 deutlich, daß
nen Ärzte gegen Quartalsende gezwungen sein werden, diese Annahme unrealistisch war, da mehr als eine Mil-
vermehrt stationäre Einweisungen vorzunehmen, um lion Anträge auf Rückgabe von über 2 Millionen Grund-
Budget-Überschreitungen zu vermeiden. Andernfalls stücken bestanden und die offensichtlichen Wirkungen,
werden diese Mediziner notwendige Medikamente, die nämlich Blockade und Stagnation, durch Investitions-
von ihnen verordnet wurden, aus der eigenen Tasche be- vorrangverfahren gemildert werden mußten.
zahlen müssen. Dies würde zu Konfliktsituationen füh-
ren, die eine verstärkte Einweisung von ambulant be- Jetzt sind die Ämter zur Regelung offener Vermö-
handelbaren Patienten in die Krankenhäuser zur Folge gensfragen und die Landesämter zur Regelung offener
hätten. Dabei stünde dies im krassen Gegensatz zu den Vermögensfragen vor allem mit Anträgen befaßt, die
Interessen der Partienten sowie zur angestrebten Wirt- sich durch besondere Kompliziertheit und damit Lang-
schaftlichkeit und würde somit die gewollte Zielrichtung wierigkeit auszeichnen. Wir alle wissen, daß die Kom-
konterkarieren. munen in den neuen Ländern bei den städtebaulichen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 963

(A) (C)
Entwicklungsplanungen durch restitutionsbedingte Be- Situation des Anmelders, der von einem Investititions-
sonderheiten belastet sind. Besonderheiten des Restituti- vorrangverfahren betroffen ist, bewerte, muß ich fest-
onsverfahrens wie Mehrfachanmeldungen, große Erben- stellen, daß an ihn eine Erlösauskehr (mindestens in Hö-
gemeinschaften und formale, zum Teil unbegründete he des Verkehrswertes) erfolgt. Eine Beeinträchtigung
Anspruchsanmeldungen blockieren dringend notwendi- seiner grundgesetzlich garantierten Rechte (Art. 14 GG)
ge Entscheidungen zur Entwicklung der Innenstädte. vermag ich daher auch bei Verlängerung der Frist für
Das Instrumentarium des Baugesetzbuches kann hier das Investitionsvorrangverfahren nicht zu erkennen, ins-
keine Abhilfe schaffen. Weiterhin gibt es eine Vielzahl besondere wenn ich diese Erlösauskehr mit anderen An-
restitutionsbelasteter Wohnhäuser im Bestand der städti- sprüchen bei ähnlich gelagerten Fällen des Entschädi-
schen Wohnungsunternehmen, deren Zustand marode ist gungsgesetzes vergleiche.
und die dringend saniert und modernisiert werden müssen.
Wir, die SPD, waren immer dafür eingetreten, die
Jeder Politiker, der vor Ort mit den daraus resultie- Schere zwischen den Immobilienwerten bei Natural-
renden Problemen, vor allem für die Mieter, aber auch restitution und gesetzlicher Entschädigung bei Unmög-
für die Verwalter in diesen Häusern konfrontiert wird, lichkeit der Vermögensrückgabe zu verringern. Und
weiß, daß hier weiterhin dringender Handlungsbedarf wenn man schon den Regierungen der neuen Länder, der
besteht, um den Verfall dieses Mietwohnungsbestandes Bundesregierung und der neuen Koalition im Deutschen
aufzuhalten und endlich die Ursachen für Ärger und Re- Bundestag nicht glaubt, dann – und das sage ich vor al-
signation in diesen Häusern zu beseitigen. Die Möglich- lem an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen der
keit der Veräußerung von sanierungsbedürftigen restitu- F.D.P. – sollte man die Argumente unabhängiger Sach-
tionsbehafteten Wohnungsbeständen durch die Woh- verständiger zur Kenntnis nehmen und akzeptieren. Die
nungsunternehmen ist eine entscheidende Vorausset- Notarkammer Mecklenburg-Vorpommern, deren Mit-
zung für die Lösung dieses Gordischen Knotens. Auch glieder ganz praktisch mit den Wirkungen des Investiti-
daher muß die Frist für die Anwendung des Investiti- onsvorranggesetzes konfrontiert werden, plädieren
onsvorrangverfahrens verlängert werden. nachdrücklich für eine Fristverlängerung. Ich zitiere aus
einem Schreiben des Stellvertretenden Präsidenten vom
Wer sich ernsthaft mit den Rechtsproblemen ausein- 21. Oktober 1998:
andersetzt, die das Investitionsvorrangverfahren betref-
fen, kommt nicht umhin zuzugestehen, daß es auch Ar- Der Investitionsvorrangbescheid ersetzt nach § 11
gumente gibt, die für ein Auslaufen der Frist in § 27 In- InVorG die Genehmigungen nach der Grund-
vestitionsvorranggesetz sprechen. Ich sehe hier insbe- stücksverkehrsordnung und der Kommunalverfas-
sondere das starke Argument des Eigentumschutzes, das sung sowie das Negativattest nach § 28 BauGB.
Damit trägt der Investitionsvorrangbescheid in er-
(B) sich aus Art. 14 GG ableiten läßt. Aber auch die Vorga- (D)
ben aus Art. 14 GG zwingen uns nicht, das Rechtsinsti- heblichem Maße zu einer Beschleunigung des
tut des Investitionsvorrangverfahrens auslaufen zu las- Grundstücksverkehrs bei.
sen; denn wie in diesen Fällen sind zahlreiche andere
Personengruppen in der DDR von Vermögenseingriffen Aus diesem Grunde wird angeregt, die am 31. 12.
betroffen gewesen. 1998 ablaufende Antragsfrist des § 27 InVorG zu
verlängern, um auf diese Weise sicherzustellen, daß
Auch die F.D.P. wird zur Kenntnis nehmen müssen, die in den neuen Bundesländern nach wie vor er-
daß es sich bei der Investitionsvorrangregelung nicht um forderlichen Investitionen im Grundstücksbereich
einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Rechte der beschleunigt und erleichtert werden.
Alteigentümer handelt, sondern daß die Verlängerung
der Frist des Investitionsvorrangverfahrens aus prakti- Die vorgelegte Verordnung der Bundesregierung ist
schen und juristischen Gründen im Interesse des wirt- dringend erforderlich. Der Rechtsausschuß des Bundes-
schaftlichen Aufbaus in den neuen Ländern dringend er- tages sieht keine rechtsförmlichen und verfassungs-
forderlich ist. Außerdem – und das muß hier nochmals rechtlichen Bedenken. Im Gegenteil: Bei Abwägung al-
sehr deutlich gesagt werden – können sich ja auch An- ler Argumente sprechen die rechtlichen und die sachli-
melder als Investoren an diesem Investitionsvorrangver- chen Aspekte für die Verlängerung des Investitionsvor-
fahren beteiligen. rangverfahrens bis zum 31. 12. 2000. Die Verordnung
ist notwendig und wichtig für den Aufbau in den neuen
Viele Antragsteller erhalten die Vermögenswerte Ländern. Die Initiative der Bundesregierung ist ein
nicht zurück, oft sind diese gar nicht mehr vorhanden weiterer Beleg dafür, daß diese Aufgabe Chefsache der
oder zu öffentlichen Zwecken genutzt worden. Der Ge- Bundesregierung unter Gerhard Schröder ist.
setzgeber mußte daher für die zahlreichen Fälle, bei de-
nen die gesetzlich begründeten Rückgabeansprüche ob- Ich bitte Sie daher, der Verordnung zuzustimmen.
jektiv nicht erfüllt werden können, eine Entschädigungs-
regelung finden, was mit Erlaß des Entschädigungs- Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Wie meine Vorredner
gesetzes 1994 geschehen ist. Wir alle wissen, daß die schon ausgeführt haben, geht es um ein formalrechtlich
Entschädigungsbeträge gering sind und der heutige überschaubares, in seinen Auswirkungen aber nicht ge-
Verkehrswert in der Regel weitaus höher ist. Das BVG ring einzuschätzendes Thema, nämlich um die Verord-
hat in den bekannten Entscheidungen zur Regelung von nung der Bundesregierung zur Verlängerung der Frist in
Eigentumsfragen in den neuen Ländern dem gesamt- § 27 des Investitionsvorranggesetzes. Mit einer Verlän-
deutschen Gesetzgeber einen weiten Handlungsspiel- gerung der dort genannten Antragsfrist wird es bis zum
raum eingeräumt. Wenn ich die vermögensrechtliche 31. Dezember 2000 weiterhin möglich sein, im be-
964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
schleunigten Verfahren Investitionen bei Bedarf auf nicht entschieden sind und auf denen nicht beschleunigt
anmeldebelasteten Vermögenswerten zu ermöglichen, investiert werden könnte, gäbe es das Investitionsvor-
die ansonsten wegen der nach wie vor langen Bearbei- rangsverfahren nicht.
tungszeiten der Vermögensämter nicht kurzfristig zu
realisieren wären. Auch in einer Pressemitteilung des Bundesamtes zur
Regelung offener Vermögensfragen vom 19. Mai 1998
Schon einmal wurde aus diesem Grunde mit Verord- wird deutlich, daß bei reduziertem Personalbestand und
nung vom 8. Dezember 1995 die Frist nach dem Inve- der Vielzahl von Widerspruchs- und Klageverfahren
stitionsvorranggesetz bis zum Ablauf des 31. Dezember immer weniger Zeit für die eigentliche Antragserledi-
1998 verlängert. Nunmehr handelt es sich hier um die gung bleibt, so daß sich die Bearbeitung der restlichen
zweite und durch Verordnung letztmalig mögliche Ver- Verfahren länger als bislang erwartet hinziehen wird.
längerung der Antragsfrist nach § 27 Investitionsvor- Zudem gibt es noch eine Vielzahl von städtebaulich re-
ranggesetz, gegen die sich rechtstechnische und rechts- levanten Grundstücken in den Kommunen, die restituti-
förmliche Bedenken – auch aus Sicht der CDU/CSU- onsbelastet sind.
Fraktion – nicht erheben.
Es ist zwar richtig, daß auch die §§ 86 ff. des Bauge-
Es stellt sich aber bei einer erneuten Verlängerung setzbuches ([Enteignung] sowie die §§ 136 ff. des Bau-
natürlich die Frage der Notwendigkeit und des Bedarfs, gesetzbuches [Ausweisung von Sanierungsgebieten])
und es gilt, den Bedenken derjenigen Rechnung zu tra- Möglichkeiten eröffnen, städtebauliche Planungen zu
gen, die hier eine Einschränkung der Eigentümerrechte verwirklichen. Dabei sind die verfahrenstechnischen
geltend machen. Von dort wird im wesentlichen argu- Hürden jedoch hoch. Im Gegensatz dazu ermöglicht das
mentiert, daß die Befugnisse des Eigentümers durch die Investitionsvorranggesetz hier eine flexiblere und
erneute Verlängerung der Antragsfrist weiter einge- schnellere Behandlung investiver Vorhaben und stellt
schränkt werden und der Bedarf auch in Anbetracht der dabei den berechtigten Alteigentümer materiell so, als
Erledigungszahlen der Ämter zur Regelung offener sei restituiert worden.
Vermögensfragen nicht mehr bestehe.
Auch darf nicht vergessen werden, daß der Eigentü-
Wir wissen nur zu gut, daß im Einigungsrecht immer mer selbst auch vom Investitionsvorrangsverfahren ja
auch der Interessenausgleich zwischen den Rückgabebe- profitieren kann, wenn er investieren will. Gerade Pri-
rechtigten und – wie in diesem Fall –, den für den Auf- vatinvestitionen sollen doch durch das Investitionsvor-
bau Ost dringend benötigten Investoren gefunden wer- ranggesetz gefördert und erleichtert werden.
den mußte. Ich will deshalb auch gar nicht bestreiten,
daß die Rechte der Restitutionsberechtigten durch An- Im Interesse des weiteren Aufbaus Ost bleibt deshalb
(B) meldung investiver Vorhaben Dritter nach dem Investi- – auch nach gründlicher Abwägung festzuhalten, daß die (D)
tionsvorranggesetz tangiert und auch eingeschränkt wer- letztmalige Verlängerung der Frist in § 27 Investitions-
den, auch wenn das InVorG durch entsprechende Rege- vorranggesetz trotz der dagegen geäußerten Bedenken
lung den Restitutionsberechtigten materiell so stellt, als als notwendig angesehen werden muß, und auch wir von
wenn restituiert worden wäre. Wir haben diesen Aspekt der CDU/CSU-Fraktion der Verordnung daher zustimmen.
nie vernachlässigt oder gar untergewichtet. Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß aber
Allerdings gibt es, bedingt durch die Deutsche Ein- eines an dieser Stelle klargestellt werden:
heit und das Bestreben, die Lebensverhältnisse der Bür-
Die zeitliche Rahmenvorgabe, nämlich die Möglich-
ger in den neuen Bundesländern denen in den alten Län-
keit, die Antragsfrist überhaupt bis zum Ablauf des
dern möglichst schnell anzugleichen, andere Grundent-
31. Dezember 2000 auf dem Verordnungsweg zu ver-
scheidungen, die wir ebenfalls in unsere Überlegungen
längern, wurde durch die CDU/CSU-geführte Bundes-
einzubeziehen haben. Dazu gehört auch die generelle
regierung bereits Ende 1993 im Registerverfahrensbe-
Entscheidung, für einen begrenzten Zeitraum investiven
schleunigungsgesetz (Verordnungsermächtigung des
Vorhaben auf restitutionsbelasteten Vermögen zur Si-
Artikel 18 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 bis 7 des Register-
cherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Sanie-
verfahrensbeschleunigungsgesetzes in der Fassung des
rung von Wohnraum und zur Durchführung notwendiger
Artikel 7 Abs. 4 des Wohnraummodernisierungssiche-
Infrastrukturvorhaben Vorrang vor den Belangen der
rungsgesetzes) verankert, um so flexibel auf die zukünf-
durch diese Maßnahmen betroffenen Eigentümern zu
tige Situation in den neuen Bundesländern eingehen zu
geben. Dies wurde – einhergehend mit einer deutlichen
können. Diese Verlängerung nunmehr, wie es Herr
Straffung des Verfahrens – mit den Vorschriften des In-
Staatsminister Schwanitz anläßlich der Regierungserklä-
vestitionsvorranggesetzes für einen befristeten Zeitraum
rung getan hat, großspurig als Punkt 5 eines Aufbaupro-
erreicht.
gramms der neuen Bundesregierung mit dem Namen
Nun konnten die Vermögensämter im Juni 1998 mit „Zukunft Ost“ zu verkünden, ist reines Blendwerk. Es
einer Erledigungsquote von zirka 86 Prozent bei Grund- ist schlicht und einfach so, daß die rotgrüne Bundesre-
stücken und bei Unternehmen zirka 81 Prozent aufwar- gierung mit dieser Verordnung die von der CDU/CSU-
ten. Besteht bei einer solchen Erledigungsquote dann geführten Regierung geschaffenen gesetzlichen Mög-
noch der Bedarf nach einer Fortsetzung dieser Rege- lichkeiten nutzt, da ihr der Wähler – für eine absehbare
lung? Ich denke – ja –, denn in absoluten Zahlen heißt Zeit – die Regierungsverantwortung übertragen hat. Man
dies nichts anderes, als daß noch – unterstellt die Zahlen kann auch sagen, Herr Staatsminister Schwanitz, Sie
der Bundesregierung stimmen – zirka 300 000 anmelde- trittbrettfahren auf der Investitionslokomotive Ost, die
belastete Vermögenswerte bestehen, die derzeit noch die CDU/CSU-geführte Bundesregierung angeschoben
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 965

(A) (C)
hat. Für eine vollmundige Ankündigung eines neuen Gerhard Jüttemann (PDS): Im Namen der Fraktion
Konzeptes „Zukunft Ost“ ein dürftiger Start. der PDS begrüße ich die vorliegende Fristverlängerung
in § 27 Investitionsvorranggesetz. Allerdings möchte ich
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE eines deutlich anmerken: Die immer wieder notwendige
GRÜNEN): Das Vermögensgesetz gibt Alteigentümern Fristverlängerung zeigt einmal mehr, daß das Prinzip
das Recht, Grundstücke, Gebäude und Unternehmen zu „Rückgabe vor Entschädigung“ einer der gravierendsten
beanspruchen. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädi- Fehler des Einigungsvertrages war. Die PDS hat darauf
gung“, das im Einigungsvertrag verankert ist, hat zu von Anfang an verwiesen. Alle späteren Regelungen des
vielen Problemen und Ungerechtigkeiten gegenüber den Gesetzgebers wie zum Beispiel im Vermögensgesetz
Nutzern geführt, die die Häuser und Grundstücke redlich und im Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz
erworben und häufig über mehrere Generationen be- hatten vor allem die Aufgabe die Nachteile des fatalen
wohnt hatten. Dies haben wir immer wieder kritisiert Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung“ wenigstens
und uns zum Programm gemacht, die Nachfolgerege- teilweise auszubügeln.
lungen zum Einigungsvertrag, die dieses Prinzip ver-
stärken, soweit rechtlich noch möglich, zu korrigieren. Zwei Millionen Anträge auf Rückübertragung von
Grundstücken, Häusern und Unternehmen lagen den
Die Regelungen des Vermögensgesetzes haben aber Vermögensämtern vor. Daß mit diesem gewaltigen
auch dazu geführt, daß für die Gesellschaft besonders Eigentumstransfer nicht nur Investitionen ausgelöst,
wichtige Investitionen nicht getätigt, Grundstücke nicht sondern auch viele Ostdeutsche von Grundstück und
genutzt werden können. Die Rekonstruktion der alten Haus vertrieben wurden, kann ich nicht unerwähnt las-
Eigentumsverhältnisse ist häufig schwierig, Rechte der sen.
Nutzer stehen einer freien Verfügung nicht selten entge-
gen. Noch heute, acht Jahre nach der Einheit, sind die Trotzdem: Die PDS stimmt für die Fristverlängerung.
Verhältnisse nicht geklärt. Wir begrüßen, daß die neue Bundesregierung sich nicht
den Standpunkt der abgewählten Regierung zu eigen
Das Investitionsvorranggesetz schränkt die Rück- gemacht hat, die noch im Sommer gegen eine Verlänge-
übertragungsrechte nach dem Vermögensgesetz ein, rung war. Und ich möchte auch klar sagen, warum. Es
wenn ein besonderer Investitionszweck gegeben ist. Sol- wäre nämlich sonst ein weiteres Mal passiert, daß sich
che Zwecke sind vor allem die Schaffung und die Siche- das Justizministerium voll und ganz den Standpunkt des
rung von Arbeitsplätzen oder auch die Schaffung neuen Zentralverbandes der Deutschen Haus-, Wohnungs- und
Wohnraumes. Auf Antrag kann ein Investitionsvorrang- Grundeigentümer zu eigen macht. Im Klartext darf man
bescheid ergehen. Solche Anträge können aber nur bis wohl auch sagen: einer milliardenschweren Immobilien-
(B) Ende dieses Jahres gestellt werden. Diese Frist reicht branche. Wenn ich an den Satz denke „Eigentum ver- (D)
nicht aus. Es ist nicht hinnehmbar, daß ab Anfang des pflichtet“, kann ich nur feststellen: Diese Branche ist
kommenden Jahres dringenden Investitionsbedürfnissen schon in der Vergangenheit nur selten ihrer gesell-
nicht mehr nachgegeben werden kann. Damit würde der schaftlichen Verantwortung gerecht geworden. Daran
besonders in den Ostbundesländern so besonders drin- hat sich nichts geändert. Man betrachte nur die jüngsten
genden und wichtigen wirtschaftlichen Entwicklung der Aussagen des Verbandes in der Sache. Denn wer wie
Boden und die Basis genommen. Das darf nicht sein. dieser Verband angesichts der Zahl von noch rund
Lang dauernde Rückübertragungsverfahren dürfen not- 300 000 anmeldebelasteten Vermögenswerten die Not-
wendige Investitionsvorhaben nicht behindern. Die In- wendigkeit der Fristverlängerung bestreitet, kann nur
teressen der Bevölkerung gehen den Eigentumsinteres- herzlich wenig für die sowieso schon großen Sorgen
sen vor. Wenigstens in diesen gesellschaftlichen Berei- der Kommunen in den neuen Bundesländern übrig
chen muß der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ haben.
zurückgedrängt werden.
Wir stimmen deshalb für die Fristverlängerung, weil
Weil die Rückübertragungsverfahren in den Ostbun- es im Interesse der Kommunen, der kommunalen Woh-
desländern noch lange nicht abgeschlossen sind und nungsgesellschaften und damit letztlich der Mieter ist,
voraussichtlich noch Jahre dauern, ist es dringend not- die noch immer auf die Sanierung ihrer Wohnung war-
wendig, die Frist des § 27 Investitionsvorranggesetzes ten. Wenigstens diese Komponente der Planungssicher-
um wenigstens zwei Jahre, also wie vorgesehen bis zum heit für Städte und Gemeinden, die mit dieser Verord-
31. Dezember 2000, zu verlängern. Damit werden nicht nung ermöglicht wird, muß erhalten bleiben.
direkt Arbeitsplätze, aber wichtige Voraussetzungen für
neue oder die Sicherung von Arbeitsplätzen geschaffen. Was man in diesem Zusammenhang auch unbedingt
erwähnen muß, ist der beschäftigungspolitische Aspekt
Die ablehnende Haltung der F.D.P. ist nur damit zu der Angelegenheit. Wer wirklich und ernsthaft an Inve-
erklären, daß sie bedingungslos und auch unter Inkauf- stitionen und damit auch der Sicherung von Arbeitsplät-
nahme des Verlustes von Arbeitsplätzen die Rücküber- zen im Baugewerbe interessiert ist, kann sich eigentlich
tragungsansprüche der Alteigentümer sichern will. Für nicht gegen das Weitergelten dieses Gesetzes ausspre-
Bündnisgrüne ist dies nicht nachvollziehbar. Zu Recht chen. Und wer es dennoch tut, sollte wenigstens den
hat die F.D.P. bei der Wahl in Ostdeutschland die Quit- Menschen so ehrlich gegenübertreten und offen sagen,
tung für diese Auffassung erhalten. Bündnisgrüne sehen daß ihm die Wünsche der nicht gerade notleidenden
sich dagegen den Interessen der Bevölkerung besonders Immobilienbranche näherliegen als das Wohl und Wehe
verpflichtet und werden für diese Fristverlängerung der Kommunen sowie Hunderttausender Menschen, die
stimmen. davon so oder so betroffen sind.
966 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
Wenn also schon eine Güterabwägung vorgenommen Anlage 8
wird, muß sie nach Ansicht der PDS im Sinne des Ge-
meinwohls ausfallen. Dazu haben wir in der Vergangen- Zu Protokoll gegebene Reden
heit gestanden, und deshalb wird meine Partei dieser
Verordnung auch ihre Zustimmung geben. zum

Jürgen Türk (F.D.P.): Nach dem jetzigen Stand des a – Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der
Gesetzes läuft das Investitionsvorranggesetz am 31. De- wohngeldrechtlichen Regelungen – Wohngeld-
zember 1998 aus. Die Bundesregierung möchte jedoch anpassungsgesetz –
das Investitionsvorranggesetz bis zum 31. Dezember b – Antrag der Abgeordneten Christine
2000, also um zwei Jahre, verlängern. Bei diesem Vor- Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf,
haben zeigt sich, daß die frühere Mehrheit aus F.D.P. Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS:
und CDU/CSU in diesem Hause nicht nur handwerklich Fortführung des Wohnraum-Modernisierungs-
gute, sondern auch kluge Gesetze gemacht hat, wovon programms der Kreditanstalt für Wiederauf-
die neue Regierungsmehrheit nur lernen kann. Klug war, bau bis zum Jahr 2000
im Gesetz eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember c – Antrag der Abgeordneten Christine
2000 durch Verordnung „vorsorglich“ einzubauen. Die- Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf
se eingebaute Fristverlängerung für das Investitionsvor- und der Fraktion der PDS: Verbesserte Förde-
ranggesetz möchte die neue Bundesregierung nun nut- rung der Wohnungsmodernisierung im Altbau-
zen. bestand und bei Wohnhochhäusern nach dem
Investitionszulagengesetz 1999 (Tagesordnungs-
Zu fragen ist, ob eine Verlängerung des Investitions- punkt 12)
vorranggesetzes auch inhaltlich gerechtfertigt ist, denn
die Bundesregierung sagt in ihrer Begründung selbst, Dr. Christine Lucyga (SPD): Die Zeit der Wunsch-
daß – ich zitiere: „... das im Investitionsvorranggesetz zettel ist da, denn Weihnachten steht vor der Tür. Und
zunächst verfolgte Ziel, einen Investitionen erst ermög- so haben wir denn auch – als letzten Tagesordnungs-
lichenden Grundstücksmarkt zu schaffen, im wesentli- punkt – einige „Wünsch-Dir-was-Anträge“ zu behandeln
chen erreicht ist.“ (mit und ohne Bart), die sich die PDS offenbar als
Weihnachtsgeschenke vorgestellt hat.
Festzuhalten ist, daß das eine Anerkennung für ein
von der F.D.P. initiiertes Gesetz und dessen Wirkung ist. Besonders deutlich wird dies beim Antrag der PDS
Das freut uns dann auch. auf Novellierung des Investitionszulagengesetzes. Die
(B) Frage ist nur, wer dieses Weihnachtsgeschenk bekom- (D)
Dennoch darf man sich den noch offenstehenden men soll, wer es braucht, wem es nützt und wer es denn
Problemen nicht verschließen, nämlich ob das Gesetz bezahlen soll, ganz abgesehen davon, daß es ein sehr
noch notwendig ist. Die Verlängerung ist notwendig.
kostspieliges Geschenk der Kategorie Luxusgut wäre,
Etwa 300 000 Fälle der Vermögenszuordnung stehen
wenn es denn noch auf den Gabentisch käme.
noch zur Entscheidung an und darunter befinden sich ei-
ne Vielzahl von komplizierten und langwierigen Fällen, Um nicht von vornherein mißverstanden zu werden:
die noch bearbeitet werden müssen. Wir sehen den Bedarf, Förderprioritäten auszubauen,
Programme weiterzuführen oder besser zu koordinieren,
Weiterhin stellt die Restitution bei Grundstücken für werden deshalb auch den weiterhin hohen Modernisie-
die städtebauliche Planung sowie bauliche Umsetzung
rungsbedarf, die Situation der Mieter oder die schwieri-
gerade im Innenstadtbereich eine nicht zu vernachlässi- ge Lage der mittelständischen Bauwirtschaft im Osten
gende Behinderung dar.
Deutschlands beachten und zum Beispiel bei einer Ver-
Ein durchaus stichhaltiges Argument ist auch, daß längerung des KfW-Modernisierungsprogramms die
immer noch durch Unklarheiten in der Vermögenszu- notwendigen Schwerpunkte setzen. Doch es muß im
ordnung ganze Straßenzüge ohne Fristverlängerung ver- Hinblick auf den Antrag zum Investitionszulagengesetz
rotten würden. Denn die Wohnungsunternehmen sind auch deutlich gesagt werden: Die Umstellung der För-
durch die Vielzahl dieser Wohnungsbestände mit der dersystematik in den neuen Ländern mit dem Auslaufen
Sanierung überfordert, und sie sind darum auf die Ver- des Fördergebietsgesetzes auf das Investitionszulagen-
äußerung an Investoren trotz Verfügungssperre des gesetz war eine sinnvolle Entscheidung, an der die SPD
Vermögensgesetzes angewiesen. Es muß aber auch im maßgeblich mitgewirkt hat. Und wir werden es weiter-
gesellschaftlichen Interesse liegen, daß ein Stadt- und führen. Mit diesem Gesetz gibt es eine klare Prioritäten-
Straßenbild mit heruntergekommenen Häusern und setzung für Modernisierungen gegenüber dem Mietwoh-
Straßenzügen in Ostdeutschland endgültig der Vergan- nungsneubau. Die Größenordnungen sind dergestalt, daß
genheit angehört. Modernisierungen einen mehrfachen Betrag dessen
ausmachen, was für die Förderung des Neubaus ange-
Nach Abwägen der vorgetragenen Argumente für und setzt wurde, und es wurden differenzierte Höchstförder-
wider einer Fristverlängerung des Investitionsvorrang- beträge gewählt, um nicht Luxusmodernisierungen zu
gesetzes, komme ich für meine Fraktion zum Schluß, fördern und um andererseits der Tatsache Rechnung zu
daß eine Fristverlängerung durchaus einen Sinn hat. Die tragen, daß Bauen im innerstädtischen Bereich und vor
F.D.P.-Fraktion wird deshalb der Fristverlängerung zu- allem eine Vollmodernisierung im Altbau aufwendig
stimmen. und kostenintensiv ist.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 967

(A) (C)
Aufwendige und kostspielige Modernisierungen ste- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Alle
hen in den neuen Ländern sowohl für historische Bau- im Bundestag vertretenen Fraktionen sind sich einig,
substanz im innerstädtischen Bereich auf der Tagesord- daß das Wohngeldrecht reformiert werden muß. Nach
nung als auch in den Plattenbausiedlungen. Daher hat der Bundestagswahl haben SPD und Grüne in ihrer Ko-
diese Regierungskoalition sich darauf verständigt, wie alitionsvereinbarung und der neue Minister dies auch
im Wahlprogramm ausgesagt, die Bestandserneuerung noch einmal bekräftigt. Nun warten die Mitglieder des
gegenüber dem Neubau zu stärken. Bundestages seit der Wahl darauf, daß Minister Münte-
fering im Bundestag oder im Ausschuß seine Ankündi-
Wir werden vor allem das Zusammenwirken der För- gungen erläutert und einen Gesetzentwurf vorlegt.
derinstrumente effizienter gestalten. Dies betrifft sowohl
die Städtebauförderung, die Um- und Ausbauförderung, Und was ist bisher passiert? Leider gar nichts, außer
den Denkmalschutz und die allgemeine Modernisie- substanzlosen Versprechungen und Vertröstungen – ich
rungsförderung als auch das KfW-Modernisierungs- befürchte, daß diese Regierung auch in der Wohnungs-
programm Ost, dessen Verlängerung wir wollen. Dabei politik die Regierungsarbeit völlig ohne ein eigenes
sind durchaus verbesserte Förderkonditionen für be- Konzept aufgenommen hat.
stimmte Fördernotwendigkeiten bei Altbauten oder
Plattenbaumodernisierung denkbar, über die jetzt vor Dabei hat der Parlamentarische Staatssekretär Groß-
Abschluß der Haushaltsverhandlungen noch keine kon- mann doch schon vor der Wahl gewußt, daß 1,5 Milliar-
kreten Aussagen möglich sind. Um es noch einmal den DM an Mehrausgaben für die Reform einzuplanen
deutlich zu sagen: Wir meinen durchaus, daß das Inve- seien. Er hatte doch Zeit, einen Gesetzentwurf zu erar-
stitionszulagengesetz verbessert werden kann und haben beiten und mit seinen Kollegen aus der Finanzpolitik die
in diese Richtung vorausgedacht. Uns geht es jedoch Finanzierung zu klären. Aber wir haben es schon beim
nicht – wie der PDS – um reine Schaufensteranträge vor Steuergesetz gemerkt. Das gesetzestechnische Hand-
Weihnachten, sondern um vernünftige und durchset- werk müssen Sie noch üben. Bei der Sitzung der Arge-
zungsfähige Vorlagen, und wir sehen keine Veranlas- bau in der letzten Woche hätte Minister Müntefering mit
sung, uns mit Anträgen, wie die PDS sie vorlegt, auf seinen Länderkollegen einen Gesetzentwurf diskutieren
wohnungs- und finanzpolitisches Glatteis führen zu las- können. Der Minister fehlte und der Staatssekretär
sen. wußte nicht, was der Minister wollte. Mit dieser Politik
enttäuscht die Bundesregierung die Menschen in unse-
Sie werden sich schon fragen lassen müssen, was da rem Land, und sie bricht ihr Wahlversprechen.
bei einer Altbauförderung von bis zu 4 000 DM denn
gefördert werden soll und wofür, wenn nicht für Luxus- Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf mit In-
(B) wohnraum, der irgendwann auch zu Luxusmieten führen krafttreten noch im kommenden Jahr angekündigt. Dies (D)
würde. Was in dem Antrag der PDS gefordert wird, ist ist kaum noch zu erreichen. Deshalb arbeiten Sie nun
eine Übersubventionierung, bei der gefragt werden muß, endlich einen soliden Entwurf aus, und hören Sie mit
wem sie nützen soll, und die nicht nur vertretbare För- den Ausreden auf.
dersachverhalte bei weitem übersteigt (auch der Ge-
samtverband der Wohnungswirtschaft bleibt bei allen Sehr gespannt habe ich in der letzten Woche auf die
einschlägigen Kalkulationen weit darunter), sondern die Vorschläge zur Wohngeldreform von Herrn Minister
auch weder quantitativ noch qualitativ erfaßt ist. Wir Vesper gewartet. Herr Vesper kündigte ein Inkrafttreten
wissen lediglich, daß es Mehraufwendungen in Milliar- zum 1. Juli 1999 an, eine Finanzierung über eine Absen-
denhöhe sind, die hier teilweise am tatsächlichen und kung der Einkommensgrenzen bei der Eigenheimzulage
sozial begründbaren Bedarf vorbei für Fehlförderung und durch die Streichung des Vorkostenabzuges, und er
ausgegeben würden, ginge es nach Ihrem Antrag. versprach, daß er der Argebau ein fertiges Konzept in
Absprache mit den SPD-Bauministern der Länder vorle-
Übrigens – so ganz ernstgemeint können die Anträge gen wollte.
wohl doch nicht sein, denn ich frage mich, welches par-
lamentarische Verfahren es noch ermöglichen sollte, die 2 Milliarden DM forderte Herr Vesper für dieses
in den Anträgen genannten Forderungen auch zum Zeit- Konzept. Das war in der vergangenen Woche. Nur wäh-
punkt 1. Januar 1999 in Kraft treten zu lassen. rend der Argebau-Sitzung hat Minister Vesper über-
haupt nichts vorgelegt. Bis heute warten die Mieterinnen
Da auch die Länder mit einem nicht unerheblichen und Mieter auf eine Aufklärung. Statt dessen forderte
Anteil an dieser Art der Förderung beteiligt werden Herr Vesper auch noch, daß sich der Bund aus dem so-
müßten, würde mich schon interessieren, ob sie diesen zialen Wohnungsbau zurückziehen soll. Bei dieser Poli-
Antrag zum Beispiel mit dem Bauminister von Meck- tik der Versprechungen sollten Sie bedenken, daß Sie
lenburg-Vorpommern abgestimmt haben, der bekannt- mit den Sorgen und Nöten von unseren Mitbürgern
lich Ihrer Partei, wenn auch nicht Ihrer Fraktion ange- spielen.
hört, und wenn ja, ob er bereit ist, aus dem Haushalt sei-
nes Ressorts die Mehrbelastungen für das Land zu über- Was hat Herr Minister Vesper nun mit der SPD abge-
nehmen. sprochen? Was haben die SPD-Länder hierzu gesagt?
Wollen Sie nun einen Entwurf vorlegen oder nicht?
Alles in allem mögen die Anträge ja – gut gemeint, Wollen Sie aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen?
wie sie sind – Freude auslösen, handwerklich sind sie Hierüber sollte der zuständige Bundesminister der SPD
verpfuscht und damit für eine parlamentarische Be- noch vor der Vorlage des Haushaltes den Bundestag
handlung zum jetzigen Zeitpunkt verfehlt. aufklären.
968 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
Vor allem sollten die bauwilligen Familien endlich Ähnliches gilt für die beiden anderen Anträge. Das
Klarheit bekommen, ob sie in Zukunft noch die Eigen- KfW-Modernisierungsprogramm muß fortgesetzt wer-
heimzulage nutzen können. Die CDU/CSU lehnt die den; da sind sich alle Fraktionen des Hauses einig. Ich
Kappung der Einkommensgrenzen ab, weil dies die er- denke, es gibt auch Korrekturbedarf bei den Zins- und
folgreiche Wohneigentumspolitik und den die Wohn- Tilgungskonditionen. Da das derzeitige Volumen im
baukonjunktur stützenden Eigenheimbau abwürgte. Laufe des nächsten Jahres ausgeschöpft sein wird, brau-
chen wir schon im nächsten Haushalt neue Mittel dafür.
Besonders gespannt warte ich auf die angekündigte Doch anstatt sich im Rahmen der Haushaltsberatungen
strukturelle Reform in dem Gesetzesvorhaben. Hier hat für notwendige Änderungen, Finanzbedarf und Gegenfi-
sich der Mieterbund bereits auf die CDU/CSU-Position nanzierung einzusetzen, stellt die PDS hier einen reinen
zubewegt. Auch Mieterbunddirektor Rips fordert nun, Schaufensterantrag.
die Ausgaben für das pauschale Wohngeld auf das heu-
tige Niveau zu begrenzen und damit die Kommunen da- Ohne Zweifel gibt es Korrekturbedarf bei den Förder-
zu anzureizen, die Kosten für Wohnungen von Sozialhil- sätzen der Investitionszulage. Die zu hohe Differenz
feempfängern niedrig zu halten. Gerade die Grünen ha- zwischen Neubau- und Altbauförderung wird den Ab-
ben diese Forderung bisher strikt abgelehnt. rißdruck auf den innerstädtischen Altbaubestand erhö-
hen; deswegen brauchen wir differenziertere Fördersät-
Herr Minister Müntefering, die CDU ist hier zu einer
ze. Doch die Kostenobergrenze für Instandsetzung und
konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Wir wünschen
Modernisierung einfach auf 4 000 DM anheben zu wol-
uns von Ihnen in Zukunft eine glücklichere Hand bei der
len – auch wieder ohne zu sagen, wie das finanziert
Führung Ihres Hauses.
werden soll, frei nach dem Motto „Allen wohl und nie-
Die von der PDS heute Abend zur Abstimmung stehen- mand weh“ –, das ist finanzpolitisch unverantwortlich
den Gesetzesentwürfe lehnt die CDU/CSU-Fraktion ab. und wohnungspolitisch nicht durchdacht.

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Ich denke, die PDS muß sich entscheiden, ob sie als
GRÜNEN): In allen drei Punkten, über die wir heute Reformkraft ernst genommen werden will, oder ob sie
sprechen, sehen wir Handlungs- und Reformbedarf in sich zu einer Art populistischer „Lega Ost“ entwickelt.
dieser Wahlperiode. Wir wollen eine gesamtdeutsche Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ihr hier vor-
Wohngeldreform im nächsten Jahr, die KfW-Förderung legt, ist ohne konzeptionelle Kraft und ohne finanzpoli-
muß fortgesetzt werden – dafür werden wir im nächsten tische Verantwortung. Eure Strategie zielt offenbar nur
Haushalt auch zusätzliche Mittel brauchen –, und wir darauf, aus der Ablehnung dieser völlig unrealistischen
sehen auch Korrekturbedarf bei den Fördersätzen des Forderungen populistischen Profit zu ziehen.
(B) Investitionszulagengesetzes. Dies haben wir in den Ko- (D)
alitionsvereinbarungen festgeschrieben. Ich bin entschieden gegen eine Diffamierung der
PDS. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
Allerdings scheint die PDS zu denken – ich habe das PDS, eine Partei, die immerhin 20 Prozent der Ostdeut-
schon im Ausschuß gesagt – die neue Bundesregierung schen vertritt, stiehlt sich aus der politischen Verant-
müsse all das, was sie sich für die nächsten vier Jahre wortung, wenn sie Forderungen stellt, die unter keiner
vorgenommen hat, in vier Wochen durchführen – mög- Bundesregierung finanzierbar sind, es sei denn, sie
lichst noch vor Weihnachten. Wir haben in den letzten könnte sich eine Legion von Dukateneseln halten. Eine
Wochen eine Vielzahl von Maßnahmen zur sozialen Partei, die ernst genommen werden will, darf den Men-
Entlastung auf den Weg gebracht, und auch wir haben schen in Ostdeutschland nicht vorgaukeln, alle Probleme
lernen müssen, daß Geschwindigkeit nicht alles ist. Bei könnten aus der Staatskasse gelöst werden und es gäbe
den Schnellschußanträgen der PDS scheint mir, daß die Reformen, die niemandem weh tun. Sie haben auch als
fachliche Qualität vollends dem Tempo geopfert wurde. Opposition politische Verantwortung dafür, daß die
Unbestritten: Wir brauchen eine schnelle Wohn- Kluft zwischen Ost und West nicht immer größer wird.
geldreform. Doch was die PDS hier vorlegt, ist kein Deswegen fordere ich Sie sehr ernsthaft auf, nicht mit
ernstzunehmender Reformvorschlag. Für die einzelnen uneinlösbaren Forderungen den Frust der Menschen in
Vorschläge gibt es keine Begründung. Warum sollen Ostdeutschland immer weiter zu vergrößern.
zum Beispiel die Miethöchstbeträge nur für Ost-
deutschland angehoben werden? In Westdeutschland Sie wissen wie wir, daß die Sanierung der ostdeut-
sind sie schon sehr viel länger unverändert. Warum sol- schen Städte eine Folge von 40 Jahren unterlassener In-
len die Beträge für eine Dreipersonenfamilie im Neubau standhaltung zu DDR-Zeiten sind, die die öffentlichen
um 235,– DM, für eine Vierpersonenfamilie aber nur um Kassen bis an die Grenzen der Belastbarkeit strapaziert.
185,– DM angehoben werden? Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, daß die
notwendigen Mittel dafür bereitgestellt werden. Ich er-
Die PDS will 1,5 Milliarden DM allein für eine Art warte aber von der PDS, daß sie sich ihrer historischen
„Vorläufer“ der Wohngeldreform ausgeben. Einen Ge- und politischen Verantwortung für das Herunterwirt-
genfinanzierungsvorschlag gibt es nicht, ebensowenig schaften der Städte und Dörfer durch die SED-Politik
eine Aussage darüber, was die „große“ Wohngeldreform bewußt ist. Wir wollen von Ihnen kein demonstratives
kosten und woraus sie finanziert werden soll. Die PDS Büßertum; aber wir erwarten, daß Sie jetzt Ihren Teil zur
fordert eine Reform zum 1. Januar 1999, obwohl allen Lösung der Probleme beitragen. Wir fordern Sie auf,
klar ist, daß dies selbst bei größter Eile völlig unreali- realistische und finanzierbare Vorschläge auf den Tisch
stisch ist. zu legen und den Ostdeutschen reinen Wein darüber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 969

(A) (C)
einzuschenken, was nicht finanzierbar ist und welche Das würde den Forderungen der Länder entgegen-
Probleme nicht in kurzer Zeit und nicht vom Staat gelöst kommen, die Wohngeldstellen von der bisherigen büro-
werden können. kratisch aufwendigen Prüfung der Frage der Zugehörig-
keit des Studenten/Auszubildenden zum Elternhaushalt
Treiben sie kein zynisches und gefährliches Spiel mit
entlasten. Ebenso sind die Leistungen des BAföG und
unerfüllbaren Hoffnungen! Stellen Sie sich endlich der
des Wohngeldes zur Unterstützung des Wohnens von
Debatte um die haushalts- und finanzpolitischen Gren-
Studenten und beruflich Erstauszubildenden zu harmo-
zen staatlicher Förderung oder staatlichen Handelns! Sie
nisieren.
tragen als Fraktion und Partei Verantwortung für die
politische Kultur in Ostdeutschland und für das Zusam- Die finanzielle Ausstattung muß sich an der Lei-
menwachsen Deutschlands. Wenn Sie als Reformkraft stungs- und Strukturnovelle des Wohngeldgesetzes
ernst genommen werden wollen, müssen Sie dieser Ver- orientieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß durch die
antwortung endlich gerecht werden. Strukturreform und dem vorgeschlagenen Abbau von
bürokratischen Regelungen vor allem bei den Ländern
Dr. Karl-Heinz Guttmacher (F.D.P.): Eine Lei- erhebliche dauerhafte Ersparnisse entstehen, die den
stungs- und Strukturnovelle des Wohngeldgesetzes ist Wohngeldempfängern zugute kommen müssen.
überfällig. Die uns vorgeführte verzögerte Anpassung
des Wohngeldes an die Entwicklung am Mietwoh- Der vorliegende Wohngeldgesetzentwurf der PDS
nungsmarkt hat zu nicht mehr hinnehmbaren Entwick- stellt keine sachgerechte und ausreichende Lösung der
lungen geführt. bestehenden Wohngeldproblematik dar. Da der Ge-
setzentwurf keinerlei strukturelle Reformansätze des
Das Wohngeld erfüllt weder seine sozialen noch sei- Wohngeldes vorsieht, die Aufteilung des Wohn-
ne wohnungswirtschaftlichen Funktionen. Trotz eines geldrechts in Ost und West festigt, keinen überzeugen-
zur Zeit ausgeglichenen Mietwohnungsmarktes und den Gegenfinanzierungsvorschlag enthält und das Ge-
teilweise sinkender Mieten droht das Wohngeld seine setz wegen des notwendigen Verwaltungsvorlaufes zum
Funktion als zielgenaues einkommensbezogenes För- vorgesehenen Zeitpunkt 1. Januar 1999 nicht umsetzbar
derinstrument zu verlieren. ist, lehnt die F.D.P. den Wohngeldgesetzentwurf der
Durch eine bloße Anhebung der Miethöchstbeträge PDS ab.
können die strukturellen Verwerfungen um Wohn-
geldrecht des PDS-Antrages ebensowenig beseitigt wer- In dem Antrag zur verbesserten Förderung der Woh-
den wie durch eine vorgeschlagene Anpassungspau- nungsmodernisierung im Altbaubestand und bei Wohn-
schale. Ein solcher Ansatz würde das Ungleichgewicht hochhäusern nach dem Investitionszulagengesetz 1999
fordert die PDS 400 DM pro Quadratmeter Wohnfläche
(B) zwischen dem derzeit noch bestehenden Wohngeld der (D)
alten und neuen Bundesländer zementieren. des Gebäudes, bei förderfähigen Kosten maximal 4 000
DM pro Quadratmeter Wohnfläche, sowie einen Förder-
Diesen sicher durch die PDS gewollten Ansatz der satz von 10 Prozent.
Wohngeldnovelle lehnen wir ab. Wir brauchen ein ein-
heitliches Wohngeld für ganz Deutschland. Wenn die Die F.D.P. geht von einer Investitionszulage von 180
Höhe der Wohngeldleistung wieder stimmen soll, müs- DM pro Quadratmeter Wohnfläche bei 15prozentigem
sen sich die Mietenobergrenzen und die Einkommens- Fördersatz 1999 aus.
grenzen des Wohngeldgesetzes diesen tatsächlichen
Für die von der PDS geforderten förderfähigen Ko-
Verhältnissen anpassen.
sten von 400 DM pro Quadratmeter Wohnfläche bei
Das Verhältnis zwischen zielgenauem Tabellen- förderfähigen Kosten maximal 4 000 DM pro Quadrat-
wohngeld und pauschaliertem Wohngeld muß zugunsten meter Wohnfläche, lassen sich heute neue Traumvillen
des Tabellenwohngeldes deutlich verbessert werden. Bei bauen. Die PDS läßt durch den Gesetzentwurf erkennen,
den Höchstbetragstabellen sollte berücksichtigt werden, daß sie sich für eine Luxussanierung einsetzt.
daß die Mietpreise pro Quadratmeter für kleinere Woh-
nungen höher anzusetzen sind. Dieser Ansatz der Förderung der Wohnungsmoderni-
sierung wird durch die F.D.P. nicht mitgetragen.
Die Wohngeldnovelle muß den Entbürokratisierungs-
und Deregulierungsstau auflösen. So sind Einsparungen
in Vollzug und Verwaltung möglich durch eine Verein- Gert Willner (CDU/CSU):Wohngeld ist eine Sozial-
heitlichung des Einkommensbegriffs, einfachere Regeln leistung mit Rechtsanspruch, die in Deutschland weit
bei Verletzung der Informationspflicht durch den über 2,7 Millionen Haushalte erhalten. Dieses System
Wohngeldbezieher und bei der Bemessung des Wohn- hat insbesondere auch in den neuen Ländern seine so-
geldes bei Wirtschafts- und Wohngemeinschaften von ziale Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Wir stel-
Nicht-Familienmitgliedern. Ebenso muß die wohn- len eine nachhaltige Verlangsamung des Mietenanstiegs
geldrechtliche Behandlung eheähnlicher Lebensgemein- fest. Der Mietenanstieg betrug in den ersten zehn Mo-
schaften berücksichtigt werden. naten dieses Jahres weniger als 2 Prozent. Damit liegt
der Mietanstieg in der Steigerung so gering wie seit
Die F.D.P. hält ein Wahlrecht von Vorteil, mit dem Mitte der 80er Jahre nicht mehr. Trotz dieser Verlang-
ein pauschales und im Verhältnis zum Tabellenwohn- samung des Mietanstieges besteht die Notwendigkeit ei-
geld niedrigeres Ausbildungs- und Studentenwohngeld ner familiengerechten Anpassung des Wohngeldes an
oder ein zielgenaues, aber prüfungsaufwendiges regulä- die Einkommens- und Mietenentwicklung. Hierüber be-
res Wohngeld beantragt werden kann. steht Einvernehmen.
970 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) (C)
CDU/CSU und F.D.P. haben deshalb bereits Anfang Sie tragen dazu bei, daß die Wohnnebenkosten sich
diesen Jahres vorgeschlagen, zum 1. Januar 1999 eine weiter zu einer zweiten Miete entwickeln und die Bürger
kleine Wohngeldnovelle mit einem zusätzlichen Finanz- doppelt zahlen müssen, nämlich einmal über die Ener-
volumen von 500 Millionen DM zu beschließen. Nach giesteuern und zweitens, weil diese Energiesteuern auch
diesen Plänen sollte das Wohngeld durchgängig in allen durch die Kommunen zu zahlen sind. Das heißt konkret
Mietstufen angehoben werden. Außerdem wollten wir höhere Gebühren vom Kindergarten bis zur Straßenrei-
das Wohngeld West an die etwas höheren Beträge im nigung.
Osten anpassen. Beim sogenannten pauschalen Wohn-
geld für Sozialhilfeempfänger sollten künftig ähnlich Zur Wohngeldreform sind unsere Forderungen klar
wie bereits bei allen übrigen Wohngeldempfängern und deutlich: Wir erwarten, daß die Bundesregierung so
Höchstbeträge gelten. Diese Deckelung – ohne Eingriff schnell wie möglich, in Verbindung mit der Haushalts-
in den status quo! – würde nach unserer Einschätzung vorlage einen Gesetzesvorschlag vorlegt. Wir gehen da-
den zu erwartenden weiteren Anstieg der Wohngeldaus- von aus, daß in diesem Gesetzesvorschlag eine Verein-
gaben von Bund und Ländern gebremst haben. Dies wä- fachung, eine Vereinheitlichung mit anderen Leistungs-
re ein wichtiger Einstieg in eine Wohngeldreform gewe- gesetzen der Wohnungsbauförderung sowie strukturel-
sen. len Verbesserungen und zwar als gesamtdeutsche
Wohngeldreform enthalten sind.
Die SPD hat hierzu nein gesagt. In Haushaltsanträgen
der SPD sind Verbesserungen um 500 Millionen DM als Ein Wort zum Wohnraummodernisierungsprogramm
nicht akzeptabel bezeichnet worden. Kollege Großmann, der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Über
jetzt Parlamentarischer Staatssekretär im dafür fachlich 700 000 Plattenbauten sind mit diesen Mitteln saniert
zuständigen Ministerium, hat insgesamt 1,5 Milliarden worden. Das entspricht etwa einem Drittel aller Platten-
DM für erforderlich gehalten. bauwohnungen in den neuen Ländern. Ich bin überzeugt
davon, daß dies ein erfolgreiches Programm ist für die
Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot- Menschen in den neuen Bundesländern. Dieses Pro-
grün haben jetzt die Chance das umzusetzen, was Sie gramm kann sich sehen lassen. CDU/CSU und F.D.P.
versprochen haben. Und dazu gehört, daß auch die Zu- haben deshalb 1997 für das Jahr 1998 eine Aufstockung
sagen des Bundeskanzlers Gerhard Schröder eingelöst um noch einmal 10 Milliarden DM auf 70 Milliarden
werden. In Schröders Wahlaussagen ist eine Wohn- DM ermöglicht, weil dadurch die mittelständische Bau-
geldreform so schnell wie möglich versprochen worden. wirtschaft und das Handwerk vor Ort gestärkt und sta-
Und die Grünen haben durch Joschka Fischer eine bilisiert wurde.
Wohngeldreform spätestens zum 1. Juli 1999 angekün-
digt. Unsere Praxis der Wohnungsbauförderung zeigte ein
(B) erfolgreiches Zusammenwirken von Modernisierung der (D)
Auf klare Fragen im Ausschuß nach der Zukunft des Wohnungen und Verbesserung des Wohnumfeldes. Wir
Wohngeldes sind unklare, verschwommene Antworten haben damit auch einen Beitrag zur sozialen Stabilisie-
gegeben worden. Dabei haben viele Mieter in unserem rung in den Städten geleistet. Für die Fortsetzung des
Land nach der Bundestagswahl erwartet, daß SPD und Programms erwarten wir eine konstruktive Aussage der
Grüne die von ihnen versprochene Wohngeldreform Bundesregierung im Zusammenhang mit der Vorlage
schnell verwirklichen. Bis heute liegen nicht mal an- des Haushalts. Wir erwarten auch Vorschläge, daß der
deutungsweise konkrete Überlegungen auf dem Tisch. gemeinsam kritisierte Belastungssprung nach fünf Jah-
Rotgrün hat offenbar weder ein Konzept noch das Geld ren vermieden wird.
für eine Wohngeldreform.
Wir sagen Ja zu einer Fortführung des Programms,
Zu einer Ausrede sollten Sie, Herr Großmann, sich
um die mittelständische Bauwirtschaft und das Hand-
dabei nicht flüchten: Ihre Behauptung (so am letzten
werk vor Ort zu stärken und weiterhin zu stabilisieren.
Freitag in der ARGEBau), Sie hätten im BM Bau kaum
Wir sagen Ja zu einer Fortführung einer Maßnahme, von
Vorarbeiten vorgefunden, ist zu billig und eine Beleidi-
der CDU/CSU und F.D.P. sagen können: Auch hier
gung der Beamten, die nicht erst seit dem 27. September
können wir auf konkrete Erfolge verweisen!
1998 an der Reform arbeiten.
Rotgrün muß erkennen, daß sie mit ihrem Nein zu Wolfgang Spanier (SPD): Es ist selten, daß alle
unserem Vorschlag eines Einstiegs in eine Wohngeldre- Fraktionen in diesem Hause in einer sozialpolitischen
form eine große Chance verpaßt haben. Hätten sie Ja ge- Frage übereinstimmen. Beim Wohngeld ist dies der Fall.
sagt, hätten alle Empfänger von Wohngeld im Schnitt Alle Fraktionen stimmen überein in der Beschreibung
eine Erhöhung von 38 DM ab 1. Januar 1999 gehabt. der sozialen Schieflage, die dadurch entstanden ist, daß
Hören Sie bitte genau zu: 38 DM! Das wäre noch mehr das Wohngeld seit 1990 nicht an die Einkommensent-
gewesen, als die von Ihnen so gefeierte Kindergeldlö- wicklung und nicht an die Mietenentwicklung angepaßt
sung. Und sie wäre finanziert gewesen. Durch Ihr Nein worden ist. Faktisch ist das Wohngeld seit Jahren radikal
fehlt die Wohngelderhöhung, fehlt dieses Geld allen gekürzt worden; das Wohnen ist teurer geworden, das
Wohngeldempfängern ab 1. Januar 1999. Wohngeld geringer.
Dafür gibt es durch Rotgrün eine zusätzliche Bela- F.D.P. und CDU/CSU mahnen die Bundesregierung
stung durch die sogenannte Ökosteuer, die in erster Li- zur Eile. Die F.D.P. fordert in ihrem Antrag „die unver-
nie Steuererhöhung und Einführung einer neuen Strom- zügliche Vorlage einer Leistungs- und Strukturnovelle
steuer ist, mit der Sie die privaten Haushalte belasten. des Wohngeldgesetzes“. Die CDU/CSU-Fraktion er-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998 971

(A) (C)
wartet, „daß die Bundesregierung so schnell wie mög- Ich will im folgenden einige Aspekte ansprechen, die
lich einen Gesetzesvorschlag für die Wohngeldreform deutlich machen, wo zur Zeit die strukturellen Probleme
dem Deutschen Bundestag vorlegen wird.“ Das ist schon unseres jetzigen Wohngeldgesetzes liegen, die bei einer
verwunderlich, wenn man bedenkt, daß beide Fraktionen Wohngeldreform beseitigt werden sollen. Zunächst ein-
und die abgewählte Bundesregierung im 13. Deutschen mal sage ich mit besonderer Betonung in die Richtung
Bundestag Gelegenheit hatten, endlich diesen Gesetz- der Regionalpartei PDS: Die derzeitige Regelung enthält
entwurf zur Wohngeldreform vorzulegen, daß dies aber massive soziale Verwerfungen zwischen dem Wohngeld
trotz vieler Ankündigungen ihrer Bundesbauminister in West und dem Wohngeld Ost. Ich will das an einem
diesen Jahren nicht erfolgt ist und daß ganz im Gegenteil Beispiel belegen: Bei 1 190 DM monatlichem Einkom-
immer wieder auch hier in diesem Haus geäußerte Ver- men, z.B. einer Rentnerin, und bei Mietstufe III einer
sprechungen schlicht und einfach gebrochen wurden. vor 1996 fertiggestellten Wohnung mit Bad und Sam-
melheizung beträgt der Wohngeldanspruch in den alten
Die Problemlage beschreib die PDS in ihrem Gesetz- Bundesländern 12 DM und in den neuen Bundesländern
entwurf zu einem Wohngeldanpassungsgesetz zutref- 80 DM. Dieser beträchtliche Unterschied ist nicht zu
fend. Seit Jahren schon erfüllt das Wohngeldgesetz nicht rechtfertigen. In einer Wohngeldreform muß diese Un-
mehr seine ihm ursprünglich zugedachte Funktion: Es gleichbehandlung beseitigt werden. Die Miethöchstbe-
sollte einkommensschwachen Haushalten helfen, sich träge einfach undifferenziert anzuheben reicht also nicht
mit ausreichenden Wohnraum zu versorgen, und die aus. Zusätzlich müssen wir sehen, wie wir Anreize schaf-
Mietbelastung für einkommensschwache Haushalte in fen, auch ältere und einfachere Wohnungen anzumieten.
erträglichen Grenzen halten. Diese Funktion erfüllt das Ich halte das für einen wichtigen Punkt. Eine strukturelle
Wohngeldgesetz nicht mehr. Ich will das an einem Bei- Wohngeldreform muß darüber hinaus die Unterversor-
spiel aus meinem Wahlkreis deutlich machen. Eine gung vor allem von Haushalten mit vier und mehr Per-
Rentnerin mit 1 250 DM monatlicher Rente und einer sonen, das heißt, Familien mit Kindern, endlich durch
Wohnkostenbelastung von zirka 620 DM in einer, was eine zweckmäßigere Tarifgestaltung beseitigen. Die jet-
die Ausstattung und Größe betrifft, völlig angemessenen zige Höchstbetragstabelle benachteiligt aber auch kleine
Wohnung hat nach Abzug des Beitrags zur Krankenver- Haushalte, denn die Quadratmetermieten kleiner Woh-
sicherung monatlich lediglich 550 DM zur Verfügung. nungen sind bekanntlich höher. Auch hier müssen die
Die Mietbelastung liegt bei fast 50 Prozent, dennoch hat Höchstbetragstabellen modifiziert werden. Wir brauchen
sie keinen Anspruch auf Wohngeld. An diesem Beispiel dringend eine Vereinfachung: Wenn Sie sich die Rege-
wird deutlich, daß das Wohngeld völlig unzureichend lung für die alten und die neuen Bundesländern einmal
ist und seinen ursprünglichen Zweck nicht mehr er- anschauen, sehen Sie, daß die Regelungen aus guten
füllt. Wenn wir es ernst meinen mit dem sozialpoliti- Gründen in den neuen Bundesländern deutlich einfacher
(B) schen Ziel des Wohngeldes, müssen wir endlich han- sind, das heißt, wir müssen prüfen, ob es bei den bishe- (D)
deln. rigen Baualtersklassen bleibt. Eine Wohngeldreform
muß die besondere Situation der Ballungsgebiete stärker
Dennoch lehnt die SPD-Bundestagesfraktion den
berücksichtigen, weil wir hier in den letzten Jahren ge-
vorliegenden Gesetzentwurf ab. Die PDS will im Vor-
radezu eine Mietenexplosion festzustellen haben.
griff auf eine allgemeine Reform des Wohngeldgesetzes
zum 1. Januar 1999 die Miethöchstbeträge anheben und Lassen Sie mich noch einige persönliche Anmerkun-
gleichzeitig auch eine Anpassung der Einkommensgren- gen zum pauschalierten Wohngeld machen. Die F.D.P.
zen vornehmen. Dieser Gesetzentwurf und auch die schlägt beim pauschalierten Wohngeld die Einführung
Vorgehensweise der PDS sind allen nur allzu bekannt. von Mietobergrenzen vor. Wenn dahinter die Absicht
Erneut kommt die PDS in allerletzter Sekunde und zu steht, Mittel für das pauschalierte Wohngeld zu kürzen
einem Zeitpunkt, wo allen klar ist, daß der Termin des oder zu deckeln, dann kann ich nur bekräftigen, was die
Inkrafttretens, der 1. Januar 1999, völlig unrealistisch Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD im Mai
ist. Es ist auch der PDS sicherlich klar, daß in der Zeit diesen Jahres in ihren Entschließungsanträgen zum
seit der Einbringung des Antrags mit Datum vom 5. No- Wohngeld- und Mietenbericht festgestellt haben: „Die
vember 1998 das Verfahren der Gesetzgebung, das na- geplante Kappung des pauschalierten Wohngeldes zu
türlich eine Abstimmung mit den Ländern beinhaltet, Lasten der Kommunen ist nicht hinnehmbar“; es ist
nicht zu leisten ist und daß auch der notwendige Vorlauf „von allen Überlegungen Abstand zu nehmen, die den
für die Verwaltung in den Kommunen, die das ja umset- Ländern und Gemeinden durch eine Neugestaltung des
zen muß, nicht gegeben ist. Zudem ist eine vorgezogene pauschalierten Wohngeldes Mehrkosten in dreistelliger
Härtefallregelung auch überflüssig, weil im nächsten Millionenhöhe aufbürden“. Das war einer der Schwach-
Jahr – und hier haben wir eine klare Aussage des Mi- punkte Ihres kläglichen Eckpunktepapiers in der letzten
nisters Franz Müntefering –, im ersten Halbjahr, ein Legislaturperiode. Das Ungleichgewicht zwischen Pau-
Entwurf einer Gesamtdeutschen Strukturnovelle des schal- und Tabellenwohngeld läßt sich sinnvoll nur
Wohngeldgesetzes vorgelegt wird und dieses Gesetz durch die Verbesserung des Tabellenwohngeldes besei-
dann, so ebenfalls die Zusage des Fachministers, noch tigen. Mit der von der alten Bundesregierung prakti-
im Jahre 1999 in Kraft treten wird. Daß dem Gesetzent- zierten Verlagerung von Kosten auf die Kommunen als
wurf der PDS eine seriöse Finanzierung fehlt, will ich Sozialhilfeträger muß endlich Schluß sein.
nur der Ordnung halber ergänzen. Wir brauchen eine ge-
samtdeutsche Wohngeldreform! Nicht nur eine Anpas- Grundsätzlich gilt: Wir sollten die anstehende Wohn-
sung an die Mietentwicklung und die Einkommensent- geldreform als Chance sehen, die notwendige Hilfe des
wicklung, sondern strukturelle Veränderungen. Staates für die Haushalte, die sich nicht aus eigener
972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1998

(A) Auf der Grundlage welcher Ergebnisse von Untersuchun- (C)


Kraft mit angemessenem Wohnraum versorgen können,
gen/Umfragen kommt die Bundesministerin der Justiz zu der
so treffsicher, so gezielt zu gestalten, daß das Wohn- Feststellung, „heute werden Ladendiebstähle im Wert bis
geldgesetz seine eigentliche Aufgabe wieder erfüllt. 150 DM de facto in keinem Bundesland verfolgt“ (Interview in
Deshalb reicht eine Härtefallregelung nicht aus. Deshalb der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 1998, S. 9), und
welche Einstellungskriterien nach § 153 der Strafprozeßordnung
ist es richtig, die anstehende Wohngeldreform sorgfältig gelten für die Staatsanwaltschaften tatsächlich in den einzelnen
vorzubereiten. Deshalb ist es richtig, das Gespräch mit Bundesländern?
den Ländern zu suchen. Wir unterstützen die Zusage des In Folge der Erhöhungen der Berufungssumme durch
Ministers, daß in 1999 die Wohngeldreform als Gesetz- das Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 17. Dezem-
entwurf vorgelegt wird und daß sie noch 1999 in Kraft ber 1990 (BGBl. I S. 2847) von 700 auf 1 200 DM und
tritt. durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom
11. Januar 1993 (BGBl. I S. 50) auf 1 500 DM ist die
Zahl der erstinstanzlichen Urteile des Amtsgerichts, die
Anlage 9
gleichzeitig letztinstanzliche Urteile sind, auf 41,7% der
Amtliche Mitteilung erledigten Gesamtverfahren angestiegen (Quelle: Stati-
stisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Zivil-
Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- gerichte, 1997, S. 26, laufende Nummern 11 bis 13). Bei
geteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der einer weiteren Erhöhung der Berufungssumme von
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der 1 500 auf 2 000 DM, wie sie im Bundesratsentwurf ei-
nachstehenden Vorlage absieht: nes Gesetzes zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Verfahrens und des Verfahrens der freiwilligen Ge-
schätzung richtsbarkeit in der letzten Legislaturperiode vorgesehen
Unterrichtung durch die Bundesregierung war (BT-Drucksache 13/6398), hätte unter Zugrundele-
Faktenbericht 1998
gung der Erledigungszahlen für 1995 bei den Amtsge-
zum Bundesbericht Forschung richten dazu geführt, daß ca. 51,3% der Verfahren auf
– Drucksachen 13/11091, 13/11203 Nr. 5 – den Streitwertbereich nur bis 2 000 DM entfallen wäre
und damit als letztinstanzliche Entscheidungen gelten
müßten (Stellungnahme der Bundesregierung zum Bun-
Anlage 10 desratsentwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des
zivilgerichtlichen Verfahrens und des Verfahrens der
Antwort
freiwilligen Gerichtsbarkeit, BT-Drucksache 13/6398,
des Parl. Staatssekretärs Dr. Eckhart Pick auf die Frage S. 46, Nr. 13). Darauf hat die Bundesministerin der
(B) des Abgeordneten Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Justiz hingewiesen. Insoweit wurde ihre Aussage in der (D)
(Drucksache 14/143, Frage 54) (Plenarprotokoll 14/13, zitierten AP-Meldung nicht im richtigen Zusammenhang
Seite 797 A) wiedergegeben.

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ISSN 0720-7980

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