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Plenarprotokoll 17/72

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

72. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 32: – zu der Unterrichtung durch die Bun-


desregierung: Bericht des GKV-Spit-
a) – Zweite und dritte Beratung des von
zenverbandes über die Erfahrungen
den Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP eingebrachten Entwurfs eines mit den durch das GKV-WSG be-
Gesetzes zur nachhaltigen und sozial wirkten Rechtsänderungen in § 13
ausgewogenen Finanzierung der Absatz 2 des Fünften Buches Sozial-
Gesetzlichen Krankenversicherung gesetzbuch
(GKV-Finanzierungsgesetz – GKV- (Drucksachen 17/3427, 17/1238, 16/12639,
FinG) 17/3696) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7847 D
(Drucksachen 17/3040, 17/3360, 17/3441) 7847 B
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7848 B
– Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent- Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7849 B
wurfs eines Gesetzes zur nachhal-
tigen und sozial ausgewogenen Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7850 D
Finanzierung der Gesetzlichen Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7853 A
Krankenversicherung (GKV-Finan-
zierungsgesetz – GKV-FinG) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 17/3360, 17/3441, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7856 C
17/3360, 17/3441) . . . . . . . . . . . . . . . 7847 B Dr. Philipp Rösler, Bundesminister
– Bericht des Haushaltsausschusses ge- BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7858 A
mäß § 96 der Geschäftsordnung
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7860 B
(Drucksache 17/3697) . . . . . . . . . . . . . 7847 C
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7862 B
Ausschusses für Gesundheit Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 7863 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Dr. Edgar Franke, Bärbel Bas, Petra DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7864 B
Ernstberger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Patienten- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . 7864 D
schutz statt Lobbyismus – Keine
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7867 B
Vorkasse in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7868 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/
Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7869 A
Schäfer, Harald Weinberg, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7870 A
LINKE: Solidarische Bürgerinnen- Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7871 A
und Bürgerversicherung in Gesund-
heit und Pflege einführen Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7873 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . .7874


. . . . C, 7875 A markts (Anlegerschutz- und Funktionsver-
besserungsgesetz)
(Drucksache 17/3628) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7902 A
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7878
. . . . A, 7880 A
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
Kathrin Vogler (DIE LINKE) BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7902 B
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 7875 B Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7903 B
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7907 A
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 7876 A
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7908 A
Harald Weinberg (DIE LINKE)
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 7876 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7908 C
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 7877 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7909 B
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 7910 B
Tagesordnungspunkt 33: Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7910 D
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Halina Wawzyniak, Ulla Jelpke, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Frak-
Tagesordnungspunkt 35:
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung des Grund- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
gesetzes (Einführung der dreistufigen schusses für Familie, Senioren, Frauen und
Volksgesetzgebung in das Grundgesetz) Jugend
(Drucksachen 17/1199, 17/3609) . . . . . . . . . . 7883 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Christel
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7883 B Humme, Willi Brase, Petra Crone, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7887 A
SPD: Mit gesetzlichen Regelungen die
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7888 C Gleichstellung von Frauen im Erwerbs-
leben umgehend durchsetzen
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7890 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7890 B
Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst,
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7890 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: Entgeltgleichheit zwischen
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ den Geschlechtern wirksam durchset-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7892 C zen
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7894 B – zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7896 C gierung: Dritte Bilanz der Vereinbarung
zwischen der Bundesregierung und den
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Spitzenverbänden der deutschen Wirt-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7897 A schaft zur Förderung der Chancen-
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . 7898 A gleichheit von Frauen und Männern in
der Privatwirtschaft
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 7898 B
(Drucksachen 17/821, 17/891, 16/10500,
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7899 D 17/1486) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7912 C
Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7901 A Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7912 D
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7914 A
Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 7901 D
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7915 B
Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 7917 A
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7905 A
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7918 B
Tagesordnungspunkt 18: Elisabeth Winkelmeier-Becker
Erste Beratung des von der Bundesregierung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7919 C
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7920 D
Stärkung des Anlegerschutzes und Verbes-
serung der Funktionsfähigkeit des Kapital- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 7922 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 III

Tagesordnungspunkt 36: Anlage 2


Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen
schusses für Wirtschaft und Technologie Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
– zu dem Antrag der Abgeordneten zes zur nachhaltigen und sozial ausgewoge-
Dr. Joachim Pfeiffer, Peter Bleser, Nadine nen Finanzierung der Gesetzlichen Kranken-
Schön (St. Wendel), weiterer Abgeordne- versicherung (GKV-Finanzierungsgesetz –
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie GKV-FinG) (Tagesordnungspunkt 32 a)
der Abgeordneten Paul K. Friedhoff,
Dr. Erik Schweickert, Claudia Bögel, wei- Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
terer Abgeordneter und der Fraktion der (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7933 D
FDP: Kinderfreundliche Nachbesserung Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 7934 A
der EU-Spielzeugrichtlinie dringend er-
forderlich Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7934 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und Anlage 3
der Fraktion der SPD: Offensive für ei-
nen wirksamen Schutz der Kinder vor Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Gift in Spielzeug Dr. Bärbel Kofler und Angelika Graf (Rosen-
heim) (beide SPD) zur namentlichen Abstim-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin mung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Binder, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finan-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion zierung der Gesetzlichen Krankenversiche-
DIE LINKE: Krebserregende Stoffe in rung (GKV-Finanzierungsgesetz – GKV-
Kinderspielzeugen durch Sofortmaß- FinG) (Tagesordnungspunkt 32 a) . . . . . . . . . 7935 A
nahmen ausschließen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kinder- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
spielzeug – Risiko für kleine Verbrau- Peter Weiß (Emmendingen), Ernst-Reinhard
cher Beck (Reutlingen), Veronika Bellmann, Heike
Brehmer, Ingrid Fischbach, Ingo Gädechens,
(Drucksachen 17/3424, 17/2345, 17/1563, Frank Heinrich, Rudolf Henke, Robert
17/656, 17/3695) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7924 A Hochbaum, Axel Knoerig, Dr. Hermann
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7924 B Kues, Katharina Landgraf, Ingbert Liebing,
Matthias Lietz, Rita Pawelski, Erwin Rüddel,
Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7925 B Anita Schäfer (Saalstadt), Karl Schiewerling,
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 7926 D Uwe Schummer, Armin Schuster (Weil am
Rhein), Volkmar Vogel (Kleinsaara),
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7927 D Dr. Johann Wadephul, Marcus Weinberg
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ (Hamburg), Peter Wichtel, Dr. Matthias
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7928 D Zimmer und Willi Zylajew (alle CDU/CSU)
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 7929 D wurf eines Gesetzes zur nachhaltigen und
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ sozial ausgewogenen Finanzierung der Ge-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7930 B setzlichen Krankenversicherung (GKV-Finan-
zierungsgesetz – GKV-FinG) (Tagesord-
nungspunkt 32 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7935 D
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7931 C

Anlage 1 Anlage 5
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7933 A Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7936 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7847

(A) (C)

Redetext

72. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Berichterstattung:


Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- Abgeordnete Jens Spahn
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Dr. Karl Lauterbach
Ulrike Flach
(Thomas Oppermann [SPD]: Nur ein Minister Harald Weinberg
da, Herr Präsident! – Weiterer Zuruf von der Birgitt Bender
SPD: Volle Solidarität!)
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
– Aber das ist doch auch der, der jetzt gebraucht wird. gemäß § 96 der Geschäftsordnung
(Elke Ferner [SPD]: Aber das Kabinett lässt
– Drucksache 17/3697 –
Sie ganz schön alleine!)
– Na ja, aber die ganze Weide hier ist ja auch noch ein Berichterstattung:
bisschen übersichtlich. Abgeordnete Alois Karl
(B) Ewald Schurer (D)
Ich möchte darauf hinweisen, dass der Ältestenrat Ulrike Flach
gestern in seiner Sitzung vereinbart hat, während der Michael Leutert
Haushaltsberatungen in unserer nächsten Sitzungswo- Sven-Christian Kindler
che ab dem 22. November, wie auch sonst üblich, keine
Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Darf ich
schuss)
dazu allgemeines Einvernehmen feststellen? – Das ist
offensichtlich der Fall. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b Franke, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Patientenschutz statt Lobbyismus – Keine
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversi-
Entwurfs eines Gesetzes zur nachhaltigen und cherung
sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetz- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
lichen Krankenversicherung (GKV-Finanzie- Bunge, Kathrin Senger-Schäfer, Harald
rungsgesetz – GKV-FinG) Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Frak-
– Drucksache 17/3040 – tion DIE LINKE

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversi-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes cherung in Gesundheit und Pflege einführen
zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
Finanzierung der Gesetzlichen Kranken- rung
versicherung (GKV-Finanzierungsgesetz –
GKV-FinG) Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die
Erfahrungen mit den durch das GKV-WSG
– Drucksachen 17/3360, 17/3441 – bewirkten Rechtsänderungen in § 13 Ab-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- satz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
ses für Gesundheit (14. Ausschuss) – Drucksachen 17/3427, 17/1238, 16/12639,
– Drucksache 17/3696 – 17/3696 –
7848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Berichterstattung: Das Einfrieren des Arbeitgeberanteils sichert Be- (C)
Abgeordnete Jens Spahn schäftigung, weil sich die Lohnzusatzkosten eben nicht
Dr. Karl Lauterbach mehr erhöhen. Schwankungen der Konjunktur und hö-
Ulrike Flach here Arbeitslosigkeit schlagen damit nicht mehr so stark
Harald Weinberg auf die Gesundheitsfinanzierung durch. Die Weiterent-
Birgitt Bender wicklung der Zusatzbeiträge mit Sozialausgleich
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU (Elke Ferner [SPD]: Kopfpauschale ist das!)
und FDP liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktio-
nen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen stellt sicher, dass Geringverdiener nicht überfordert wer-
vor. den und einen sozialen Ausgleich erhalten. Auch das
muss man an dieser Stelle sagen. Das ist neu, meine Da-
Über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ men und Herren.
CSU und FDP sowie über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke werden wir später namentlich ab- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stimmen. Das haben eine sozialdemokratische und auch eine rot-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für grüne Regierung nie geschafft. Wir schaffen einen sozia-
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- len Ausgleich im deutschen Gesundheitssystem.
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]:
die Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion. Das glauben Sie doch selbst nicht! – Weitere
Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Außerdem haben wir auf das Milliardendefizit bei
den gesetzlichen Krankenversicherungen reagiert und
dies durch harte Einsparungen bei den Leistungsträgern
Ulrike Flach (FDP): sowie mit Anpassungen der Beiträge und Rückführun-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das GKV- gen auf den Vorkrisenstand bei Arbeitnehmern und Ar-
Finanzierungsgesetz, das wir heute hier beraten, bedeu- beitgebern ausgeglichen. Was wir aber nicht getan ha-
tet eine deutliche Zäsur in der deutschen Gesundheits- ben, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir belasten nicht
politik. die Patienten in diesem Lande.
(Andrea Nahles [SPD]: Allerdings! Das kann (Elke Ferner [SPD]: Doch! Sie plündern sie
(B) man wohl sagen! – Weiterer Zuruf von der aus! – Weitere Zurufe von der SPD) (D)
LINKEN: Das kann man wohl sagen! – Ge-
genruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Die Patienten können darauf setzen, dass dieses Gesund-
Nur kein Neid!) heitssystem auch in Zukunft funktioniert. Sie können
sich auf uns verlassen. Nicht die Patienten werden ge-
Wir schaffen heute den Einstieg – das ist etwas, was hier troffen, sondern die Leistungsträger, die bei diesen Ein-
in diesem Hause oft genug bezweifelt worden ist – in die sparungen dabei sein müssen.
strukturelle Umstellung auf eine einkommensunabhän-
gige und damit natürlich konjunkturunabhängige Finan- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
zierung des Gesundheitssystems. Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben Ihr eige-
nes Gesetz nicht gelesen!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Aha! Wir sichern die Einnahmeseite, und wir stabilisieren
Seehofer ist umgefallen!) die Ausgabenseite. Das ist erheblich mehr, als alle ande-
ren in diesem Hause vor uns geschafft haben. In einer
Wir sehen doch seit vielen Jahren, dass die Ausgaben Gesellschaft des längeren Lebens mit weniger Kindern
der gesetzlichen Krankenversicherung schneller wach- und erheblichem medizinischem Fortschritt wird Ge-
sen als die beitragspflichtigen Einnahmen. Wir müssen sundheit in der Tendenz teurer. Jeder, der etwas anderes
uns deshalb – das muss jeder in diesem Lande wissen, behauptet, macht den Leuten doch etwas vor, meine Da-
der auf die Oppositionspolemik der vergangenen Wo- men und Herren.
chen hereinfällt – vom Lohnbezug der Beiträge lösen;
denn steigende Beiträge führen zu steigenden Lohn- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]:
nebenkosten und sie gefährden damit Arbeitsplätze. Un- Märchenstunde!)
ser Ziel ist, genau dies zu verhindern.
Die Alternative zu dem heutigen Gesetz wäre, dass
(Elke Ferner [SPD]: Geht es hier um Gesund- wir Leistungen streichen müssten. Genau dies werden
heit oder Arbeitsplätze?) wir nicht tun, genau dies wollen wir nicht. Dafür ist das
heute zu beratende Gesetz da.
Die Sicherung von Arbeitsplätzen ist eines der großen
Ziele dieser Koalition und damit auch ein entscheiden- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
des Element der liberal-christlich-demokratischen So-
Unsere Maßnahmen werden die Ausgaben stabilisie-
zialpolitik.
ren. Das hat der Schätzerkreis vor wenigen Tagen erneut
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bestätigt. Die Ausgaben der GKV werden im nächsten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7849
Ulrike Flach
(A) Jahr voll gedeckt werden können, und der durchschnittli- in die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversi- (C)
che Zusatzbeitrag wird 2011 bei null Euro liegen. Das ist cherung. Hier wird aus meiner Sicht versucht, die Prin-
eine gute Botschaft für die Versicherten. Hätten wir zipien der privaten Krankenversicherung einer im Kern
nämlich Ihr System weiterlaufen lassen, liebe Damen intakten Solidargemeinschaft überzustülpen. Meiner
und Herren von der Sozialdemokratie, dann wären zahl- Meinung nach ist das vor allem schlecht für 70 Millio-
reiche Kassen in diesem Lande in den Ruin gelaufen. nen gesetzlich Versicherte, für alle Patientinnen und Pa-
tienten. Es geht Ihnen doch in Wirklichkeit nicht um die
(Elke Ferner [SPD]: Schwachsinn! Das glau-
Reform des Systems. Sie wollen den Wechsel des Sys-
ben Sie doch selber nicht!)
tems, Herr Rösler. Das ist der entscheidende Punkt.
Viele Menschen hätten Zusatzbeiträge zahlen müssen.
Das haben wir verhindert; das ist auch das Ziel unserer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Reform gewesen. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben hier im Grunde genommen einen groß an-
gelegten Feldversuch, in dem die Menschen an die Prin-
Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch zwei Worte zipien der privaten Krankenversicherung herangeführt
zu dem sagen, was man, abgelesen von kleinen Zetteln, werden sollen, und das wollen die Menschen in Deutsch-
in diesen Tagen so von Ihnen hört. Der Arbeitskreis der land nicht.
SPD hat wohl getagt und ein Mäuschen geboren, das er
Bürgerversicherung nennt. Sie haben nichts durchge- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was haben Sie denn
rechnet, überhaupt nichts durchgerechnet. Sie haben sich in der Großen Koalition gemacht?)
mit keinerlei technischen Problemen befasst. Technische
Was wollen denn die Menschen eigentlich? Sie wollen
Probleme, wie Sie sie bei uns immer anprangern, können
zweierlei: Erstens wollen sie, wenn sie krank werden, Si-
bei Ihnen gar nicht vorkommen, weil Sie sich überhaupt
cherheit haben, dass sie die bestmögliche medizinische
nicht damit befassen.
Versorgung bekommen. Das Zweite, was Menschen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wollen, ist, dass es dabei gerecht zugeht, und zwar so-
der CDU/CSU) wohl im Wartezimmer als auch auf dem Lohnzettel oder
im Rentenbescheid.
Sie sagen den Leuten übrigens auch nicht, ob zum Bei-
spiel die Ehefrauen in Zukunft noch mitversichert sein (Beifall bei der SPD)
werden. Es würde mich einmal interessieren, ob Sie das
tun. Was legen Sie demgegenüber heute hier vor? Den Pa-
tienten wird es nicht besser gehen. Die Versorgung wird
(B) (Elke Ferner [SPD]: Wer bestreitet das denn? nicht verbessert, in keinem Punkt. Aber es wird an vielen (D)
Absurd!) Punkten für die Mehrheit der Versicherten in Deutsch-
Von den Grünen haben wir darauf eine klare Antwort, land ungerechter werden.
dass es nicht so sein wird. (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/
(Andrea Nahles [SPD]: Jetzt werfen Sie aber CSU]: Können wir mal etwas Konkretes hö-
Nebelkerzen!) ren?)
Sie haben natürlich auch kein Modell für die Wirk- Deswegen, lieber Herr Rösler, muss man auch einmal
lichkeit vorgelegt. Das, was Sie den Menschen in diesem klar benennen, welche Interessen Sie heute hier vertre-
Hause und draußen vor den Fernsehern erzählen, ist ne- ten. Sie vertreten nämlich nicht die Interessen der Versi-
bulös und hat mit einer Lösung für dieses Gesundheits- cherten, Sie verdienen den Namen Gesundheitsminister
system nichts zu tun. Wir hingegen haben etwas vorge- nicht. Sie sind der Cheflobbyist der 4 Prozent Spitzen-
legt. Wir sorgen dafür, dass das Ganze laufen kann, und verdiener, die in den Umfragen als Letzte treu zur FDP
wir freuen uns auf die Reformen der nächsten Monate. stehen. Das kann man hier doch einmal schlicht zusam-
menfassen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/
CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Andrea Nahles für Die Aussage hinsichtlich des Cheflobbyismus will ich
die SPD-Fraktion. auch begründen: Sie haben allen Ernstes die Chuzpe, die
Arbeitgeberbeiträge einzufrieren. Dies geschieht in ei-
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ ner Zeit, in der die gesundheitlichen Belastungen für
CSU: Jetzt kommt die Gesundheitsexpertin Arbeitnehmer nachweislich durch Überstunden und
schlechthin!) Leistungsverdichtung stetig steigen. Insbesondere psy-
chische Erkrankungen sind mittlerweile zu einer der gro-
Andrea Nahles (SPD): ßen Volkskrankheiten geworden. In dieser Situation ent-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lassen Sie die Arbeitgeber aus der Verantwortung für die
Kollegen! Eine Zäsur ist es wohl, Frau Flach. Nach mei- Gesundheit der Arbeitnehmer. Das ist mies. Ihre Politik
ner Auffassung erleben wir hier heute den ersten Schritt bedeutet eines: mehr Netto – allerdings nur für die Ar-
7850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Andrea Nahles
(A) beitgeber in Deutschland. Etwas anderes wird durch Ihre wenn er Geld auf die Anmeldetheke der Arztpraxis legt. (C)
Maßnahmen nicht erreicht. Das wird die Realität in Deutschland werden. Das bringt
nichts außer Verdruss.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der
Wir erleben hier die Einführung einer Kopfpauschale.
CDU/CSU und der FDP)
Je weniger man verdient, desto höher ist die Belastung.
Das kehrt das Solidarprinzip um. Ich kann Ihnen nur sa- Sie führen hier ein Großexperiment durch. Ich sage
gen: Die Menschen werden dies merken. Bei 1 000 Euro Ihnen: Mit der Gesundheit von 70 Millionen Versicher-
Rente entspricht eine Kopfpauschale in Höhe von ten macht man keine Experimente, meine Damen und
40 Euro einer 4-prozentigen Rentenkürzung. Das wer- Herren von der Bundesregierung.
den die 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland sehr bald in ihrem Rentenbescheid erken- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nen können. der LINKEN)

Herr Rösler, Sie sprechen von Sozialausgleich. Sie Frau Flach, es gibt sehr wohl eine Alternative, die
bekommen noch nicht einmal in Ihren eigenen Reihen eine hochwertige Gesundheitsversorgung mit gleichem
ein Gerechtigkeitsattest. Herr Spahn, Herr Straubinger Zugang zu medizinischen Leistungen für alle Bürgerin-
und Frau Flach haben es Ihnen doch am 4. November nen und Bürger sicherstellt. Dieser Weg setzt auf mehr
schriftlich gegeben – ich zitiere –: Solidarität und nicht auf die weitere Spaltung dieses
Landes. Was mir besonders wichtig ist: Nur die Bürger-
So kann es passieren, dass jemand einen Steuerzu- versicherung kann verhindern, dass die Patienten den
schuss erhält, obwohl der Versicherte etwa über Lobbyisten in diesem Land ausgeliefert werden.
hohe Zins- und Mieteinnahmen verfügt. Das ist
nicht gerecht. (Widerspruch bei der FDP)

(Beifall bei der SPD – Beifall des Abg. Volker Deswegen setzen wir uns dafür ein.
Kauder [CDU/CSU] – Volker Kauder [CDU/ (Beifall bei der SPD)
CSU]: Wir sind nicht auf einem Parteitag!)
Ich bin davon überzeugt – das ist auch die Überzeu-
Herr Spahn, Herr Straubinger und Frau Flach, wenn gung meiner Partei, die dieses System entwickelt hat –,
Sie diese Reform nicht für gerecht halten, dann haben
Sie doch das Kreuz und verhindern Sie diese Reform. (Lachen des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU])
Der zweite Streich des Ministers ist die Vorkasse. Ich dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land die
(B) kann Ihnen nur sagen: Wir haben bisher überhaupt kein Bürgerversicherung unterstützen wird. (D)
Problem mit dem Sachleistungsprinzip in der gesetzli- (Lars Lindemann [FDP]: Ihre Partei ist die
chen Krankenversicherung gehabt. Mehrheit? Da lachen ja die Hühner!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zu Stuttgart 21 Indem wir die Bürgerversicherung einführen, werden
haben Sie noch nichts gesagt!) wir die Solidarität stärken. Sie werden bei der nächsten
Bei der Vorkasse gibt es aber das Problem, dass die Wahl für Ihre Politik die Quittung bekommen.
Leute allein auf den Risiken sitzen bleiben, wenn der Vielen Dank.
Arzt mehr abrechnet, als die Kasse ihnen erstattet.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Ulrike Flach [FDP]: Sie haben das Gesetz gar der LINKEN)
nicht gelesen!)
Das wird massenhaft passieren. Das ist Scheckbuchme- Präsident Dr. Norbert Lammert:
dizin. Das können wir den Menschen nicht zumuten. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Koschorrek
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die CDU/CSU-Fraktion.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatsch!) Volker Kauder [CDU/CSU]: Rolf, sag ihr mal,
Die Vorkasse ist für mich die Einführung eines Drei- was wahr ist!)
klassensystems. Jeder von uns kennt doch die Situation
– ich bin AOK-Versicherte –, dass man als gesetzlich Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU):
Versicherter schon jetzt immer länger warten muss Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Nahles, ich habe heute mit großer Erwartung
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie bestimmt
hier gesessen, um zu hören, was Sie konkret zu den
nicht!)
Maßnahmen der Regierung sagen. Es hat mich auch in-
und dass man einen schlechteren Zugang zu Spezialisten teressiert, ob Ihre Ausführungen zu der Frage, was die
hat. Dies ist so, weil es Privatpatienten gibt. Jetzt wird Bürgerversicherung auszeichnet, über die blumigen und
eine weitere Klasse von Versicherten eingeführt. Sie sa- eher nebulösen Ankündigungen auf Ihrer Pressekonfe-
gen, die Vorkasse sei freiwillig. Wissen Sie, wie es nach- renz Anfang dieser Woche hinausgehen. Das, was wir
her in den Praxen läuft? Wer schnell behandelt werden hier eben erlebt haben, war ein großes schwarzes Loch:
will, bekommt einen kurzfristigen Termin nur dann, wieder einmal schlicht gar nichts.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7851
Dr. Rolf Koschorrek
(A) Das, was wir in der Regierungskoalition gestern und (Elke Ferner [SPD]: Einfrieren! Aus der (C)
heute im Gesetzgebungsverfahren dem Parlament vorle- Solidarität heraus!)
gen, ist gelebte Solidarität. Wir sorgen dafür, die finan-
zielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung zu sodass wir die Arbeitgeber weiterhin an der Finanzierung
stabilisieren. des Gesundheitswesens beteiligen, aber der Wirtschaft
auch genügend Luft zum Atmen geben. Wir sorgen so für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Verlässlichkeit, damit der Wirtschaftsstandort Deutsch-
chen bei der SPD und der LINKEN – Elke land Vorteile aus unserem gesetzlichen Tun zieht.
Ferner [SPD]: Stimmt doch nicht!)
Selbstverständlich bleibt es bei dem Prinzip der kos-
Wir stellen das anerkannt gute deutsche Gesundheitssys- tenlosen Mitversicherung von Kindern und von Ehegat-
tem auf eine solide finanzielle Basis und schaffen uns ten, die kein eigenes Einkommen haben. Es bleibt bei
dafür Raum, in den kommenden Monaten und im nächs- dem bekannten und bewährten Leistungskatalog der ge-
ten Jahr die restlichen Vorhaben der Koalition, die wir setzlichen Krankenkasse; es gibt keinerlei Leistungskür-
im Koalitionsvertrag festgelegt haben, in Angriff zu neh- zungen für Kassenpatienten, keine neuen oder höheren
men. Dann wollen wir genau die Punkte umsetzen, die Zuzahlungen, weder bei Medikamenten noch bei Kran-
Sie kritisieren – das ist recht so –: Wir gehen an die kenhausaufhalten.
Strukturen heran; wir werden die Effizienz des Systems Es bleibt beim Sachleistungsprinzip.
steigern.
(Elke Ferner [SPD]: Warum machen Sie dann
Das funktioniert nur, wenn wir vorher dafür gesorgt den Murks mit der Vorkasse?)
haben, dass die finanzielle Basis, auf der wir die ganze
gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland organi- Jeder Krankenversicherte, der seine Versicherungskarte
sieren, solide ist. Nichts anderes tun wir, und zwar nach- beim Arzt vorlegt, hat wie eh und je Anspruch auf alle
haltig und deutlich über das Maß der in den letzten Le- Leistungen der medizinischen Versorgung in der gesetz-
gislaturperioden verabschiedeten großen Reformgesetze lichen Krankenversicherung.
hinaus.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir alle reden über Eigenverantwortung, über Trans-
Wir erhalten die bewährten Grundprinzipien unseres parenz und die Beteiligung der Bürger. Wir ermöglichen
solidarischen Gesundheitswesens: jetzt ein System der Kostenerstattung. Es geht nicht da-
rum, vom Sachleistungsprinzip zum Kostenerstattungs-
(Elke Ferner [SPD]: Das ist schon mal falsch! prinzip überzugehen; das steht in keinem Satz dieses Ge-
(B) Das stimmt nicht!) setzes. (D)
Breite Schultern tragen nach wie vor deutlich mehr als (Andrea Nahles [SPD]: Kennen Sie Ihre
schmale. eigenen Gesetze nicht?)
(Elke Ferner [SPD]: Aber nicht mehr so viel Ein großer Teil der Versicherten in der gesetzlichen
wie vorher!) Krankenversicherung will aber Kostentransparenz; sie
wollen Kenntnis über die Kosten haben, die ihre Be-
Die hochwertige medizinische Versorgung wird weiter-
handlung verursacht.
hin jedem unabhängig von Alter und sozialem Status zur
Verfügung stehen. Wir passen die überholten Regelun- (Elke Ferner [SPD]: Wer sitzt denn am längeren
gen an die Anforderungen einer deutlich älter werdenden Hebel: der Arzt oder der Patient?)
Gesellschaft und einer völlig veränderten gesellschaftli-
chen Basis an. Frau Ferner, da hilft es nichts, dass Sie Das werden wir ermöglichen; nichts anderes setzen wir
jetzt Schlagworte einwerfen. Ich bin gerne bereit, sach- um. Es geht überhaupt nicht darum, jemanden abzuzo-
lich mit Ihnen zu debattieren; aber es entbehrt doch jeder cken oder zur Vorkasse oder zu anderen Drolligkeiten zu
Grundlage, dass Sie uns immer wieder unsolidarisches zwingen.
Verhalten vorhalten. (Elke Ferner [SPD]: Das wäre das erste Mal,
dass es bei Ihnen nicht darum geht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Ferner [SPD]: Das ist aber so! Wie soll man Es geht einfach darum, die für das Gesundheitssystem ge-
das sonst nennen?) wünschte Transparenz mit gesetzlichen Maßnahmen zu
flankieren, damit der Patientenkreis, der freiwillig das
Wir stabilisieren das System in einer Weise, die deut- Kostenerstattungsprinzip nutzen möchte, dies auch tun
lich über diese Legislaturperiode hinaus und weit in die kann. Wir haben in der letzten Legislaturperiode in der
Zukunft hinein dafür sorgen wird, dass es zu einer ver- Großen Koalition schon einiges auf den richtigen Weg
lässlichen Finanzierung unserer wirklich guten Kranken- gebracht. Allerdings war die Nutzung des Kostenerstat-
versorgung kommt. Wir werden den Beitragssatz, wie tungsprinzips strafbewehrt. Wir heben die Strafbeweh-
vor zwei Jahren angekündigt, auf das vor der Finanz- rung – die Patienten mussten für den Zugewinn an Trans-
krise verabredete Maß von 15,5 Prozent anheben. Wir parenz zahlen – nun auf. Das ist wohl wahr.
wollen eben nicht – Frau Nahles, das haben Sie gerade
behauptet – den Arbeitgeberanteil abschaffen, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
ihn stabil halten, Ferner [SPD]: Im Gegenteil!)
7852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dr. Rolf Koschorrek


(A) Wir wollen eindeutig dafür sorgen, die Nutzung des – Frau Ferner, nun hören Sie doch erst einmal zu. Sie ha- (C)
Kostenerstattungsprinzips zu ermöglichen. ben doch nachher, wenn ich die Rednerliste richtig lese,
noch ausreichend Möglichkeiten, Ihre Ideen hier ins Ple-
Sie haben jetzt geäußert, dass wir stattdessen Patien- num zu senden.
tenquittungen einführen sollten. Das führt doch völlig
am Ziel vorbei. Was bringt denn eine Patientenquittung? (Elke Ferner [SPD]: Richtig! Werde ich auch!)
Sie können es nachlesen – dafür hat der amerikanische
Wir sind der Meinung, dass die steuerliche Basis der
Wissenschaftler Pauli schon in den 20er-Jahren des letz-
ten Jahrhunderts einen Nobelpreis bekommen –: Eine Erfassung eine deutlich gerechtere ist als das, was wir
reine Erkenntnislage bei den Leistungen einer Versiche- heute im Beitragssystem erreichen können.
rung, die keine Konsequenzen hat, führt genau zum ge- (Elke Ferner [SPD]: Die einen mehr, die
genteiligen System; das würde zu einer Leistungsopti- anderen weniger!)
mierung zulasten der Krankenkassen führen. Das wollen
wir eben nicht. Wir wollen Transparenz. Deswegen werden wir genau diese Änderungen vorneh-
men.
Dafür bieten wir denjenigen, die das für den Bereich
Kostenerstattung wünschen, ein System, das fair und Beide Gesetzespakete – sowohl das AMNOG, gestern
verlässlich ist und niemanden überfordert. Denn es geht, hier beschlossen, als auch das GKV-Finanzierungsge-
wie gesagt, um eine freiwillige Beteiligung. Es geht setz, das wir heute beschließen – sorgen dafür, dass wir
überhaupt nicht um Vorkasse, sondern um ein gut formu- die finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversiche-
liertes und sauber austariertes System, in dem niemand rung solide gestalten.
hinten runterfällt und wir in Zukunft die Transparenzge- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Selbstlob
winne, die wir uns davon versprechen, zusammen mit stinkt!)
den Kassen und den Patienten auch erreichen werden.
– Es geht gar nicht darum, dass hier irgendetwas stinkt
Wir werden natürlich nicht um den Bereich der Kos- oder nicht, sondern es geht darum, dass wir hier aufge-
tendynamik im Gesundheitswesen herumkommen. Fakt fordert sind, die gesetzlichen Maßnahmen der Regie-
ist, dass wir, bedingt durch die demografische Entwick- rungskoalition zu erläutern.
lung, durch Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und
viele andere Komponenten – Sie alle wissen das genauso (Elke Ferner [SPD]: Beweihräucherung!)
gut wie ich –, zu einer höheren Eigenbeteiligung kom-
men werden. Nichts anderes tue ich. – Gestatten Sie mir, zu sagen,
dass ich, der ich an diesen Verhandlungen beteiligt war,
(B) (Elke Ferner [SPD]: Ah, guck an! Das Nächste mit dem Ergebnis durchaus zufrieden bin; denn wir set- (D)
ist höhere Eigenbeteiligung!) zen genau das um, was wir uns vorgenommen haben.

Wir machen das über die weitere Ausgestaltung der Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
satzbeiträge, die wir ja schon in der letzten Legislaturpe- Ferner [SPD]: Herzlichen Glückwunsch! Wenn
riode festgelegt haben, und jetzt durch die Erhöhung der Sie das zufrieden macht: wunderbar!)
prozentualen Beteiligung von 1 auf 2 Prozent. Lassen Sie mich zum Schluss einige Sätze auch dafür
(Zurufe von der SPD: Ah! – Elke Ferner verwenden: Wir schaffen die Basis für das, was in Zu-
[SPD]: Das ist ja interessant!) kunft zu regeln ist. Als nächstes gesetzliches Vorhaben

Denn Sie wissen selbst, dass die Beteiligung von (Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie die Pflege-
1 Prozent damals ein nicht zu umgehender Kompromiss versicherung ruinieren!)
war, der aber das ganze System nicht praktikabel ge- werden wir die Sicherstellung der flächendeckenden
macht hat. Insofern passen wir uns den Gegebenheiten Versorgung mit guter Medizin in Deutschland auf eine
an. Dieses System wird über viele Jahre tragen, sodass neue Basis stellen. Wir werden dort die bisherigen Reg-
wir an dem System der Finanzierung der gesetzlichen lungsmechanismen überprüfen und, wo nötig, durch
Krankenversicherung nicht wieder durch gesetzgeberi- neue ersetzen. Die Strukturen der Selbstverwaltung in-
sche Maßnahmen arbeiten müssen. nerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung werden
wir darauf überprüfen, ob sie wirklich die Grundsätze
Wie ich schon eben sagte, ist der Arbeitgeberanteil der demokratischen Legitimation und Transparenz, die
nach wie vor Bestandteil der Finanzierung der Kranken- erforderlich sind, heute noch in jedem Punkt erfüllen
versicherung. Um es Ihnen noch einmal zu sagen: Es und ob die Rechtssicherheit für alle Beteiligten im Sys-
bleibt dabei, dass die wirtschaftlich Kräftigeren in unse- tem ausreichend gewährt ist. Wir werden uns im nächs-
rem Lande auch mehr zahlen müssen, und zwar deutlich ten Jahr auch der Zukunftsfestigung der Pflegeversiche-
mehr, als wenn sie es nur über das Beitragssystem täten. rung ausführlich widmen.
Das geschieht nämlich über die Zunahme der steuerli-
chen Finanzierung der Gesundheitskosten. Ich freue mich auf weitere, hoffentlich konstruktivere
Debatten. Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Wochen-
(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch absurd! Das ende.
glauben Sie doch nicht selber nicht, Herr
Koschorrek!) Danke schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7853
Dr. Rolf Koschorrek
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das Neue, das Sie eingeführt haben, ist aber – das dürfen (C)
neten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wenn Sie Sie nicht vergessen –, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag
diesen Pfad weitergehen, mit Sicherheit nicht!) bei 7,3 Prozent einfrieren.
(Ulrike Flach [FDP]: Genau!)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie sagen: Alle weiteren Steigerungen haben allein die
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für Versicherten zu zahlen.
die Fraktion Die Linke.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das
(Beifall bei der LINKEN) stimmt nicht!)
Das ist dermaßen sozial ungerecht, dass man darüber gar
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): nicht zu diskutieren braucht.
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Herren! Heute sind wir dabei, eine Dreiklassenmedizin neten der SPD)
einzuführen. Darauf sind Sie komischerweise auch noch
stolz, anstatt sich wenigstens zu schämen. Sie führen Jetzt machen Sie auch noch Folgendes: Sie führen
nämlich drei verschiedene Sorten von Kranken in Zusatzbeiträge als Kopfpauschale ein.
Deutschland ein: Die eine Gruppe sind die Privatversi- (Ulrike Flach [FDP]: Ich finde, Sie sollten sich ein
cherten, die stark bevorzugt werden. Die zweite Gruppe bisschen mehr mit dem Thema befassen!)
sind die gesetzlich Krankenversicherten, die aber Vor- Ich werde Ihnen sagen, warum Sie das machen: Der Ver-
schuss leisten, das heißt, die die Rechnungen selbst be- sicherte, der 1 000 Euro verdient, und der Versicherte,
zahlen, um das Ganze dann mit ihrer gesetzlichen Kran- der 10 000 Euro verdient, haben exakt denselben Zusatz-
kenkasse abzurechnen, wobei sie einen Teil nicht beitrag zu zahlen; das gab es noch nie in Deutschland.
erstattet bekommen. Dann gibt es noch die dritte Das führen Sie jetzt ein, weil Sie die Anbindung an das
Gruppe. Das sind diejenigen, die sich das alles nicht leis- Einkommen aufgeben wollen.
ten können und – in Anführungsstrichen – „nur“ gesetz-
lich krankenversichert sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Sie ha-
Das Problem ist ganz klar: An der ersten und zweiten ben keine Ahnung!)
Gruppe verdienen die Ärzte mehr. Deshalb genießen
Bisher gab es einen Konsens. Ich will Ihnen sagen,
diese Gruppen Vorzüge bei den Ärzten. Bestimmte Leis-
warum dieser Konsens wichtig war. Die paritätische Fi-
tungen und Medikamente bekommen die gesetzlich nanzierung
(B) Krankenversicherten nicht mehr erstattet. Außerdem (D)
müssen sie immer längere Wartezeiten hinnehmen. Das (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die gibt es schon
alles widerspricht dem Grundgesetz unserer Bundesre- seit Rot-Grün nicht mehr!)
publik Deutschland. durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der ei-
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ nen Seite und Unternehmen auf der anderen Seite führte
CSU]: Ei, ei, ei!) dazu, dass beide Gruppen daran interessiert waren, die
Kosten für das Gesundheitswesen in Grenzen zu halten.
– Das werde ich Ihnen beweisen. (Ulrike Flach [FDP]: Das haben wir in der
(Heinz Lanfermann [FDP]: Einmal im Grund- Vergangenheit ja leidvoll erfahren!)
gesetz lesen, wenn Sie so lange im Wartezim- Dadurch, dass Sie den Beitrag der Unternehmen einfrie-
mer sitzen!) ren und diese nie mehr als 7,3 Prozent zu zahlen brau-
chen, sorgen Sie dafür, dass es den Unternehmen völlig
Sie haben das Ende der Solidarität eingeleitet. Ich gleichgültig sein kann, wie stark die Kosten für das Ge-
werde Ihnen sagen, wodurch. Die Beiträge zur gesetzli- sundheitswesen steigen.
chen Krankenversicherung steigen im nächsten Jahr um
0,6 Prozentpunkte. Dann liegen die Beitragssätze bei (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Was
15,5 Prozent. Die Unternehmen müssen 7,3 Prozent und haben Sie denn für ein Bild? Das ist wieder ty-
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 8,2 Prozent pisch!)
zahlen. Die Mehrkosten haben allein die Versicherten zu bezah-
len und nicht die Unternehmen.
(Ulrike Flach [FDP]: Das stimmt jetzt aus-
nahmsweise!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/
Das ist das Ende der paritätischen Finanzierung. CSU]: So ein Schwachsinn! Wer zahlt für die
ersten sechs Wochen Lohnfortzahlung?)
(Ulrike Flach [FDP]: Nein! Das ist die Rück-
führung!) Nun muss ich allerdings sagen, dass die SPD auch bei
der Kopfpauschale Türöffner war, und zwar zur Zeit der
Zwar ist das von SPD und Grünen schon im Jahr 2005 Großen Koalition.
eingeläutet worden – das stimmt –;
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das stimmt
(Ulrike Flach [FDP]: Richtig!) nicht!)
7854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) – Natürlich! – Sie haben einen Zusatzbeitrag von 8 Euro Dann haben Sie sich gesagt, dass Sie einen Sozialaus- (C)
pro Monat eingeführt und das Ganze auf 1 Prozent des gleich einführen müssen,
beitragspflichtigen Jahreseinkommens begrenzt.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ohne Sozial-
ausgleich!) der dann greift, wenn der Zusatzbeitrag mehr als
2 Prozent des Jahreseinkommens ausmacht. Auch das ist
Jetzt kommen Union und FDP und sagen: Die Begren- interessant.
zung pro Monat wird aufgegeben, und bezogen auf das
Jahr begrenzen wir das Ganze auf 2 Prozent. Sie verdop- Sie ziehen für die Ermittlung aber die durchschnitt-
peln den Zusatzbeitrag also erst einmal. liche Beitragssteigerung heran. Ich nenne ein Beispiel:
Eine Arbeitnehmerin verdient im Monat 1 000 Euro, und
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sozial- ihre Krankenkasse möchte pro Monat 40 Euro mehr ha-
ausgleich! – Ulrike Flach [FDP]: Herr Gysi, ben. Sie berechnen den Durchschnittswert aller Kassen
Sie sollten das Fachleuten überlassen!) und kommen zu dem Ergebnis, dass dieser bei 30 Euro
Das bezahlen die Versicherten ganz allein, egal wie viel liegt. Daher sagen Sie, dass diese Versicherte 20 Euro
sie verdienen. selbst zahlen muss: 10 Euro wegen des Durchschnitts,
bis zu 30 Euro werden übernommen, und weitere
Nehmen wir ein Beispiel. Rechnen wir es den Leuten 10 Euro muss sie selbst zahlen.
doch einmal vor: Sagen wir, eine Arbeitnehmerin hat
jetzt alleine 7,3 Prozent zu zahlen. (Ulrike Flach [FDP]: Was für Zahlen haben
Sie?)
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist peinlich!)
Man habe ja die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln.
0,9 Prozentpunkte kommen hinzu. Jetzt sagen Sie: noch Das wird ein munteres Kassenwechseln. Das, was Sie
einmal maximal 2 Prozent des Jahreseinkommens. Im hier organisieren, ist völlig absurd.
nächsten Jahr könnte die Arbeitnehmerin also bei
10,2 Prozent landen. Was Sie nicht sagen, ist Folgendes: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Ein Jahr später dürfen wieder 2 Prozent hinzukommen. neten der SPD)
Falls es keine Lohnsteigerung gibt, ist sie dann schon bei Bei den Hartz-IV-Beziehenden machen Sie Folgen-
12,2 Prozent. Ein weiteres Jahr später dürfen wieder des: Sie erstatten ihnen den durchschnittlichen Zusatz-
2 Prozent hinzukommen. Dann ist sie, falls es keine beitrag. Wenn die Kasse aber einen höheren Zusatzbei-
Lohnsteigerung gibt, schon bei 14,2 Prozent. trag fordert, darf sie selber entscheiden, ob sie das bei
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was?) den Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfän-
(B) gern abrechnet oder nicht. Das ist blanke Willkür. Geben (D)
Nirgendwo haben Sie eine Grenze gezogen. Sie haben Sie doch den Menschen diesbezüglich Rechtssicherheit
nie gesagt: Der Prozentsatz XY darf nicht überschritten und nicht das Gefühl, dass sie bei ihrer Krankenkasse
werden. Auch das ist sozial ungerecht. betteln gehen müssen.
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ (Beifall bei der LINKEN)
CSU]: 2 Prozent! Lesen würde helfen!)
Der Gesundheitsökonom Professor Wasem hat übri-
Ich werde jetzt noch ein anderes Beispiel anführen, gens ausgerechnet, dass der Zusatzbeitrag 2020 schon
eine andere Berechnung durchführen, die Sie nicht wi- bei 80 Euro liegen wird. Andere gehen sogar von
derlegen können. Nehmen wir einmal an, dass der Zu- 100 Euro aus. Das belastet dann übrigens nicht nur die
satzbeitrag, Ihre Kopfpauschale, 16 Euro beträgt. Versicherten, sondern aufgrund Ihres komischen Sozial-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das darf nicht ausgleichs auch beachtlich den Bundeshaushalt.
wahr sein!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was jetzt? Steuerfi-
Für einen Versicherten, der 800 Euro verdient, sind das nanzierung oder nicht?)
10,2 Prozent seines Einkommens. Wenn der Versicherte
Sie haben noch gar nicht gesagt, wie das Ganze finan-
2 000 Euro verdient, sind das nur 9 Prozent des Einkom-
ziert werden soll. Ich sage Ihnen: Schon jetzt müssen die
mens. Wenn er 3 750 Euro verdient, sind das nur
Versicherten pro Jahr 35 Milliarden Euro zahlen; das hat
8,6 Prozent des Einkommens. Wenn er 6 000 Euro ver-
das Statistische Bundesamt errechnet. Das kalkulieren
dient, sind das nur 5,4 Prozent des Einkommens.
Sie ein, und das erweitern Sie auch noch.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Was
Nun schaffen Sie die Möglichkeit, dass Patienten
erzählt der da!)
beim Arzt sagen: Ich bin nur gesetzlich krankenversi-
Das ist Ihr Gerechtigkeitsverständnis. Das hat mit unse- chert, aber Sie können mir die Rechnung schicken, ich
rem Gerechtigkeitsverständnis und dem des Grundgeset- begleiche sie selbst und rechne das dann gegenüber mei-
zes nichts zu tun. ner Krankenkasse ab. In so einem Fall dürfen die Ärztin-
nen und Ärzte natürlich höhere Honorare berechnen. Da-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
durch bleibt am Ende eine Differenz übrig, für die der
neten der SPD)
Patient selber aufkommen muss. Im Kern sagen Sie doch
Nun ist selbst der Union und der FDP aufgefallen, nichts anderes als: Du bist Besserverdiener; zahle etwas
dass das in einem zu hohen Maße sozial ungerecht ist. dazu, dann wirst du besser behandelt. Das ist Ihre Logik,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7855
Dr. Gregor Gysi
(A) und diese Logik ist unmoralisch. Das muss ich Ihnen (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie (C)
ganz klar sagen. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- [CDU/CSU]: Das ist peinlich, was Sie hier ab-
neten der SPD) liefern!)
Sie sagen: Die Patienten können mit den Ärzten Ho-
norare vereinbaren. Sagen Sie einmal, da sitzt man dann Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Die alten EU-Mit-
mit Schmerzen und vereinbart ein Honorar? Dabei wird gliedsländer – außer Deutschland – kennen das Struktur-
ja etwas Tolles herauskommen. Zu diesem albernen Vor- system, das in Deutschland gilt, nicht. Dort gibt es nur
haben muss man wohl nichts weiter sagen. die gesetzlichen Krankenversicherungen, und für zusätz-
liche Leistungen kann man eine private Krankenver-
(Beifall bei der LINKEN) sicherung abschließen. Dass man die Möglichkeit der
Wahl zwischen einer gesetzlichen und einer privaten
Jetzt werde ich Ihnen zeigen, wie Sie die privaten
Krankenkasse hat, gibt es in den alten 15 EU-Mitglieds-
Krankenversicherungen fördern. Wir hatten bisher die
ländern nur in Deutschland. Denken Sie einmal darüber
Regelung, dass man drei Jahre gesetzlich krankenversi-
nach, warum die 14 anderen Länder das anders organi-
chert sein musste, bevor man in die private Krankenver-
siert haben.
sicherung wechseln durfte. Sie sagen jetzt, dass das nicht
mehr infrage kommt, man dürfe schon nach einem Jahr (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Denken Sie
wechseln. einmal darüber nach, warum wir das beste
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So war es frü- System haben!)
her immer!) – Ich denke zurzeit darüber nach, warum der Bundesge-
Sie führen diese neue Regelung so ein, dass das Wech- sundheitsminister einen Vertreter des Verbandes der pri-
seln schon im nächsten Jahr möglich ist. Sachverstän- vaten Krankenversicherung in seine Grundsatzabteilung
dige haben ausgerechnet, dass circa 40 000 Junge, Ge- geholt hat. Seitdem läuft dort alles im Interesse der pri-
sunde, Singles von der gesetzlichen in die private vaten Krankenversicherungen.
Krankenversicherung wechseln werden. Die Folge ist
eine Mindereinnahme für die gesetzlichen Krankenversi- (Beifall bei der LINKEN und der SPD – Zu-
cherungen in Höhe von circa 200 Millionen Euro. rufe von der FDP: Oh!)

(Ulrike Flach [FDP]: Von Freiheit halten Sie – Entschuldigen Sie, aber das Gesamtkonzept des Arz-
nicht viel, Herr Gysi?) neimittelneuordnungsgesetzes ähnelt dem Konzept des
(B) Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller vom (D)
Die gesetzlichen Krankenkassen dürfen mit der Phar- 16. Februar 2002 derart,
maindustrie Rabattverträge abschließen. Dafür zahlen
sie Geld. Sie müssen Gutachten in Auftrag geben. Sie (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bitte
müssen alles Mögliche tun, um zu einem Rabattvertrag mal etwas Neues!)
zu kommen. Das soll jetzt auch für die privaten Kran-
kenversicherungen gelten. Diese haben zwar nichts da- dass das vielen, nicht etwa nur mir, aufgefallen ist. Das
für gezahlt – dafür zahlen allein die gesetzlichen Kran- sagt alles darüber aus, welche Art von Klientelpolitik
kenversicherungen –, aber den Nutzen haben auch sie. hier betrieben wird.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn man Ich muss sagen: Die SPD betätigt sich immer als Tür-
keine Ahnung hat, sollte man nicht reden!) öffner – natürlich mit Beschränkungen. Ich sage ganz
klar
Sie argumentieren in diesem Kontext auch mit dem
Kartellrecht. Ich bitte Sie! Früher durften die gesetzli- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ach! Was soll denn
chen Krankenkassen zusammen verhandeln. Dadurch das? Da drüben sitzt doch das Problem!)
waren sie starke Verhandlungspartner gegenüber der
Pharmaindustrie. Jetzt sagen Sie, dass das dem Kartell- – nein; das müssen Sie sich anhören –: Sie haben die
recht widerspricht und dass jede kleine Krankenkasse Praxisgebühr, die man bei Ärzten, Zahnärzten, Psycho-
ganz allein mit der Pharmaindustrie verhandeln muss. therapeuten und für ambulante Behandlungen zahlen
Sie wollen die gesetzlichen Krankenkassen schwächen. muss, eingeführt.
Das ist alles, was Sie diesbezüglich anstreben.
(Elke Ferner [SPD]: Durch Wiederholen wird
(Beifall bei der LINKEN und der SPD – es nicht richtiger! Ja, wir waren dabei! Aber
Ulrike Flach [FDP]: Keine Ahnung!) wir waren nicht alleine! – Dr. Karl Lauterbach
[SPD]: Wir waren doch in der Großen Koali-
– Es kann schon sein, dass Sie im Unterschied zu mir tion!)
mehr Ahnung haben.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hat Sie haben eine Erhöhung der Arzneimittelzuzahlung
den Gesetzentwurf nicht einmal gelesen!) vorgenommen. Sie haben das Sterbegeld aus dem Leis-
tungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ge-
Aber hier geht es um Kenntnisse. Diese fehlen Ihnen; strichen. Frau Nahles, Sie haben übrigens auch das Ent-
das ist das Problem. bindungsgeld gestrichen.
7856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) (Elke Ferner [SPD]: Ich weiß gar nicht, wann Eine zusätzliche private Krankenversicherung würde üb- (C)
die SPD mal alleine regiert hat! Im Gegensatz rigens auch ich abschließen,
zur SED!)
(Ulrike Flach [FDP]: Mein Gott! Das ist ja
Sie haben die nicht verschreibungspflichtigen Arznei- eine Weltrevolution!)
mittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Kran-
kenversicherung herausgenommen. Sie haben den Son- und zwar, um im Krankenhaus einen Anspruch auf ein
derbeitrag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Einzelzimmer zu haben. Wenn Herr Kauder und ich ge-
Höhe von 0,9 Prozent eingeführt. setzlich krankenversichert wären, bekämen wir die glei-
che Behandlung.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist aber deut-
In gewisser Hinsicht – ich habe es schon gesagt – sind lich mehr als ein Satz, Frau Präsidentin!)
Sie auch für Kopfpauschale und Vorkasse mitverant-
wortlich. Wenn ich mit ihm zusammen in einem Zimmer liegen
(Elke Ferner [SPD]: Wir haben doch nicht al- würde, würde ich aber nie gesund werden. Deshalb
leine regiert!) würde ich eine private Zusatzversicherung abschließen.

– Das stimmt trotzdem. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Jens
Spahn [CDU/CSU]: Ach, sind Sie witzig! Sie
Ich will Ihnen Folgendes sagen: Union und FDP haben sich mal wieder selbst unterboten! –
trauen sich nicht, bestimmte Türen zu öffnen. Dafür Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Bambi ist
brauchen sie immer die SPD. gestern Abend verliehen worden!)
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie wissen doch,
dass wir nicht allein regiert haben! – Elke Vizepräsidentin Petra Pau:
Ferner [SPD]: Wir sind die SPD und nicht die Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
SED!) Kollegin Birgitt Bender das Wort.
Die SPD nimmt Beschränkungen vor, und Union und
FDP heben diese Beschränkungen später auf. So funk- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tioniert das System. Das darf so nicht weiter funktionie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In die-
ren. Sie müssen sich diesbezüglich endlich korrigieren. sen Tagen werden wir Augenzeugen einer grotesken Si-
(Beifall bei der LINKEN) tuation. Das Gesetzgebungsverfahren ist beinahe abge-
schlossen, da schreiben die gesundheitspolitischen
(B)
Vizepräsidentin Petra Pau: Sprecher der Koalitionsfraktionen einen offenen Brief: (D)
Kollege Gysi, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie haben entdeckt, die Reform sei ungerecht,
(Ulrike Flach [FDP]: Das steht im Gesetz,
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Bender!)
Gut. Dann nenne ich Ihnen nur noch die Lösung.
weil im Hinblick auf den Sozialausgleich für Geringver-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja! Einen Satz zur dienende nur Löhne, Gehälter und Renten einbezogen
Lösung!) werden.
– Frau Präsidentin, der Kollege würde gerne einen Satz (Ulrike Flach [FDP]: Frau Bender, Sie sollten
zur Lösung hören. das Gesetz lesen!)
(Ulrike Flach [FDP]: Die Lösung ist, dass Sie So könne es kommen – so schreiben Sie –, dass ein
sich gleich setzen!) Rentner mit einer kleinen Rente, aber hohen Zinsein-
künften Anspruch auf Sozialausgleich habe. Wohl wahr,
Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Flach, das ist ungerecht. Aber sagen Sie einmal:
Einen Schlusssatz, bitte. Wo waren Sie eigentlich während des Gesetzgebungs-
verfahrens?
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
(Ulrike Flach [FDP]: Noch einmal: Das steht
Wir müssen alle Einkunftsarten einbeziehen. Wir
im Gesetz!)
müssen die Beitragsbemessungsgrenze aufheben.
(Ulrike Flach [FDP]: Aha! Interessant! – Jens Am Verhandlungstisch saßen Sie offensichtlich nicht.
Spahn [CDU/CSU]: Sozialismus ist also die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lösung! – Johannes Singhammer [CDU/ sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
CSU]: Es soll also deutlich teurer werden, ja?) KEN)
Wir müssen alle Zuzahlungen abschaffen. Wenn wir Da inzwischen selbst Sie, Frau Flach, herausgefunden
klare Regelungen zur gesetzlichen Krankenversicherung haben, was eine Ungerechtigkeit ist, frage ich Sie: Wieso
hätten, könnten wir uns auch eine zusätzliche private
erkennen Sie eigentlich nicht die Ungerechtigkeit, die
Krankenversicherung leisten.
darin besteht, dass Beiträge – im nächsten Jahr liegt der
(Birgit Homburger [FDP]: Hinsetzen!) Beitragssatz bei 15,5 Prozent – nur auf Löhne, Gehälter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7857
Birgitt Bender
(A) und Renten und nicht auf andere Einkunftsarten erhoben Das ist doch ein Wolkenkuckucksheim. (C)
werden?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrike KEN)
Flach [FDP]: Weil es ungerecht wäre!)
Frau Kollegin Flach, Sie erzählen uns, Sie belasteten
Das müsste man ändern. die Patienten nicht.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Tun wir doch!) (Ulrike Flach [FDP]: Das tun wir auch nicht!)
Das wäre ein Schritt in Richtung einer Bürgerversiche- Ich kann Ihnen sagen – ich habe gerade geschildert, dass
rung. Aber genau davor wollen Sie sich drücken. Ihre Finanzierung überhaupt nicht aufgeht, ganz abgese-
hen von der Ungerechtigkeit –: Aus diesem Dilemma
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein! Genau das tun führen verschiedene Wege hinaus. Es gibt einige
wir an dieser Stelle doch!) Schlupflöcher.
Es ist doch so: Unser System hat Gerechtigkeitslü- Erster Weg: die Änderung der Belastungsobergrenze.
cken; das wissen auch Sie. Es ist nun einmal nicht ge- In den nächsten Jahren werden Sie darüber reden wollen,
recht, wenn Einkünfte, die keine Löhne, Gehälter oder ob man statt einer Belastungsobergrenze von 2 Prozent
Renten sind, beitragsfrei bleiben. Es ist nicht gerecht, der jährlichen Bruttoeinnahmen nicht besser 3, 4, 5 oder
dass sich Besserverdienende vom Solidarausgleich ver- 6 Prozent wählt.
abschieden können.
(Elke Ferner [SPD]: Das wurde ja schon ange-
(Ulrike Flach [FDP]: Das tun sie doch gar kündigt!)
nicht! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha!
Und wieso zahlen die dann 15 Milliarden Euro Zweiter Weg. Man könnte auch sagen: Der Leistungs-
Steuern?) katalog ist zu groß, er muss verringert werden, weil das
über den Bundeshaushalt nicht finanziert werden kann.
Es ist nicht gerecht, dass es eine Trennung zwischen ge- Das wäre dann Gesundheitspolitik nach Kassenlage.
setzlicher und privater Krankenversicherung gibt, dass
die Behandlung mithin nicht von der Schwere der Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
krankung, sondern von der Art des Versicherungsschut- sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang
zes abhängig ist. Das wollen wir ändern. Zöller [CDU/CSU]: Wir sind doch nicht in der
Geisterbahn!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD) Dritter Weg. Sie werden den Sozialausgleich aus Bei- (D)
tragsmitteln finanzieren. Diesen Weg beschreiten Sie
Was tun Sie? Sie tun alles, um diese Ungerechtigkei- schon jetzt. Was passiert denn? Der Sozialausgleich, so-
ten zu zementieren. Sie erleichtern gesetzlich Versicher- weit er jetzt fällig wird, wird direkt aus dem Gesund-
ten, in die PKV zu wechseln; dies wird für das Solidar- heitsfonds finanziert,
system zu einem Aderlass in Millionenhöhe führen. Sie
erleichtern die Kostenerstattung. So sorgen Sie dafür, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!)
dass die Zweiklassenmedizin, die es ohnehin schon gibt,
und die Mittel des Gesundheitsfonds sind zu 90 Prozent
auch im Solidarsystem Einzug hält, weil Patienten mit
Beitragsmittel.
und Patienten ohne Kostenerstattung künftig unter-
schiedlich behandelt werden. Es gibt einen Sozialausgleich im derzeitigen System
des Gesundheitsfonds.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Genau!)
Tun Sie etwas zur Erweiterung der Finanzierungsbasis? Das ändert sich bei Ihnen überhaupt nicht. Ändern wird
Nein! Sie sagen lediglich, Sie wollten Steuereinnahmen; sich, dass die Empfänger unterer Einkommen verhältnis-
das sei angeblich gerechter. mäßig mehr bezahlen werden und dass es einen Verwal-
tungsaufwand geben wird, für dessen Beschreibung Sie
Schauen wir einmal näher hin. Bei Ihrer Konstruktion
im Gesetzentwurf drei Seiten benötigen. Dazu kann ich
einer kleinen Kopfpauschale und eines Sozialaus-
nur sagen: Das ist eine Reform, die den Namen nicht
gleichs werden in 15 Jahren, wenn es so bliebe, fast alle
verdient.
Versicherten Anspruch auf einen Sozialausgleich haben,
weil alle Kostensteigerungen die Kopfpauschale in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Höhe treiben. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass Sie und bei der SPD)
eine hohe zweistellige Milliardensumme aus dem Bun-
deshaushalt benötigen werden. Wie soll das möglich Schauen wir uns einmal die von Ihnen geplante Struk-
sein? Angesichts einer Rekordverschuldung und einer in tur an, nämlich die zunächst kleine und dann immer grö-
der Verfassung verankerten Schuldenbremse ist das ßer werdende Kopfpauschale. Dieser Weg führt heraus
schlicht undenkbar. Zusätzlich redet die FDP auch noch aus dem Solidarsystem hin zu einem reinen Versiche-
von Steuersenkungen, Frau Flach. rungssystem. Es wird, wie in der privaten Krankenver-
sicherung, einfach nur ein Risiko abgedeckt. Das ist also
(Ulrike Flach [FDP]: Tue ich nicht!) der Weg in Richtung Privatisierung. Deshalb ist es kein
7858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Birgitt Bender
(A) Zufall, dass vor kurzem ein führender Lobbyist der pri- ein hohes Maß an Unzufriedenheit und fehlende Effi- (C)
vaten Krankenversicherung als Kommentar zu Ihrer Re- zienz – auch von Zwischenrufen, Frau Ferner; die hört
form sagte: Besser hätten wir es auch nicht gemacht. nämlich keiner.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was? Wer hat das (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
denn gesagt? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Hört! Hört!) Das führt dazu, dass das eingesetzte Geld am Ende nicht
bei den Menschen ankommt. Ihre Vorschläge zeigen,
Herr Minister, ich kann dazu nur sagen: Wer sich als dass Sie noch stärker in den Sumpf der Planwirtschaft
Verantwortlicher für ein Solidarsystem ein solches Kom- hineinwollen.
pliment einhandelt, der ist seiner Verantwortung für die-
ses Solidarsystem nicht gerecht geworden. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Mein Gott!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Regierungskoalition hingegen will aus dem Sumpf
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der Planwirtschaft im Gesundheitssystem endlich he-
LINKEN) raus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau: Wahrscheinlich könnte sich jeder von uns ein ideales
Das Wort hat der Bundesminister für Gesundheit, Gesundheitssystem auf einem weißen Blatt Papier auf-
Dr. Philipp Rösler. malen. Aber wir können in der deutschen Gesundheits-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) politik eben nicht bei null anfangen. Die Kunst besteht
darin, einen Weg zu finden, der uns vom heutigen Zu-
stand, der nicht optimal ist, zu einem besseren Zustand
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
in der Zukunft führt. Dabei fangen wir allerdings nicht
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und bei null an, sondern, Herr Kollege Dr. Lauterbach, bei
Herren Abgeordnete! Ich bin ein bisschen enttäuscht, minus 9 Milliarden Euro.
weil ich dachte, von den drei linken Fraktionen, die extra
vor mir geredet haben, würden mir konkrete Lösungs- (Elke Ferner [SPD]: Das war doch bei Ihnen!
vorschläge oder eine detaillierte Ausgestaltung der Bür- Ulla Schmidt hatte einen Überschuss!)
gerversicherung vorgelegt.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Petra Pau:
NEN]: Sie müssen sich dem eigenen Murks Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
(B) stellen!) Kollegen Lauterbach? (D)
Das Wenige, was wir von Ihnen gehört haben, kann man
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
mit einem Satz zusammenfassen: Die Umsetzung Ihrer
Vorschläge würde für die Menschen eindeutig mehr Be- Nein, vielen Dank. – Frau Ferner, da Sie Ulla Schmidt
lastungen bei weniger Leistungen bedeuten. Das ist das erwähnt haben: Die 9 Milliarden Euro Defizit, die wir
Ergebnis der sogenannten solidarischen Bürgerversiche- aktuell im Gesundheitswesen vorfinden, sind ein Ergeb-
rung. nis gerade der Politik Ihrer Kollegin Schmidt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ferner [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das ist
falsch, Herr Minister! Das werde ich Ihnen
Das Problem ist nämlich, Frau Ferner, dass Sie weiter gleich beweisen! Sie lügen hier, ohne rot zu
in die planwirtschaftlichen Strukturen einsteigen wollen. werden!)
Wir sagen Ihnen aber: Es gibt in Deutschland kein Sys-
tem, das regulierter als das deutsche Gesundheitssystem – Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind für dieses De-
ist. fizit nicht verantwortlich; aber wir wären dafür verant-
wortlich, wenn es dabei bliebe, Frau Ferner. Deswegen
(Elke Ferner [SPD]: Sie machen es gerade gleichen wir es aus mit den Maßnahmen, die wir uns
kaputt!) vorgenommen haben.
Selbst das Steuersystem kann nur mäßig mithalten. Alles Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden durch die
ist vorgegeben: wer wann welche Leistung bei wem an Rückführung des Krankenversicherungsbeitrages auf die
welchem Ort erbringen darf oder eben nicht. Wenn man 15,5 Prozent, die die Sozialdemokraten damals einge-
planwirtschaftliche Strukturen hat, führt haben – das sollten wir nicht vergessen –, gleicher-
maßen in die Verantwortung genommen. Gleichzeitig
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje, oje!)
werden die Leistungserbringer, die Teilnehmer am Sys-
dann darf man sich nicht über all die Probleme wundern, tem – wir sprechen auch gerne von Heilberufen –, in die
die Planwirtschaften mit sich bringen – die Kollegen von Verantwortung genommen. Die einzige Gruppe, die wir
der Linkspartei erinnern sich noch –: viel Bürokratie, nicht belasten – das hat Frau Flach vollkommen zu
Recht gesagt –, sind die Kranken,
(Elke Ferner [SPD]: Sie bauen doch noch
mehr Bürokratie auf! Sie machen doch Plan- (Mechthild Rawert [SPD]: Aber die Einzigen,
wirtschaft!) die es merken werden! – Birgitt Bender
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7859
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden ist. Wenn man an der Grenze ist, muss man einen Antrag (C)
es ausbaden müssen!) bei seiner Krankenversicherung stellen. Sie machen die
Menschen zu Bittstellern. In unserem System funktio-
die am 1. Januar 2011 wieder zu ihrem Arzt gehen kön-
niert der Sozialausgleich künftig automatisch. Das ist
nen und sicher sein können, dass sie überhaupt ein Ge-
nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch des Um-
sundheitssystem vorfinden. Sie werden nicht durch eine
gangs mit den Menschen.
höhere Praxisgebühr oder andere Formen der Zuzahlung
belastet. Ihre Alternative zum Ausgleich der 9 Milliar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
den Euro wären schlichtweg Leistungskürzungen für die der CDU/CSU)
Menschen gewesen. Wir sind nicht bereit, diesen Weg
mit Ihnen zu gehen. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
ruf von der SPD: Das ist eine Milchmädchen- Kollegin Bunge?
rechnung!)
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Auch die unangenehmen Maßnahmen, zum Beispiel
Nein, vielen Dank. Die Zwischenfragen zu den vorhe-
die Rückführung des Beitrags und Sparmaßnahmen im
rigen Reden waren nicht bereichernd für die gesamte
System, kann man verantworten, weil wir unter anderem
Debatte.
strukturelle Veränderungen auf den Weg bringen. In der
Tat, wir schreiben den Arbeitgeberbeitrag künftig fest, Finanziert wird der Sozialausgleich mit 2 Milliarden
und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wir wollen Euro aus Steuermitteln. Diese 2 Milliarden Euro sind
nicht zulassen, dass bei steigenden Gesundheitsausgaben keine Beitragsgelder, sondern Steuergelder. Der Aus-
aufgrund der demografischen Entwicklung und des tech- gleich zwischen Arm und Reich in der gesetzlichen
nischen Fortschritts ständig Gesundheit gegen Arbeit Krankenversicherung erfolgt bisher nämlich nur zwi-
ausgespielt wird. Deswegen sorgen wir für Stabilität der schen den gesetzlich Versicherten. Er erfolgt eben nicht
Lohnzusatzkosten. Das ist unser Beitrag zu mehr Wachs- bezogen auf alle Einkunftsarten, sondern nur in Bezug
tum und Beschäftigung. auf das Lohneinkommen, Frau Ferner.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Wo werden denn die an-
deren mehr belastet?)
Künftige Kostensteigerungen werden sich in der Tat in
Zusatzbeiträgen niederschlagen, die sozial ausgeglichen Deswegen halte ich es für richtig, die Solidarität auf eine
werden. Wir geben dem System damit das zurück, was breitere Basis zu stellen.
(B) Sie ihm mit der Einführung Ihres gesundheitspolitischen (D)
(Elke Ferner [SPD]: Das tun Sie ja nicht! –
Einheitspreises, Ihres Gesundheitsfonds, genommen ha-
Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Sind 20 Mil-
ben: den fairen Wettbewerb der Krankenversicherungen
liarden Euro weniger als 10 Milliarden, oder
untereinander. Künftig können die Versicherungen wie-
was? Man darf Sie ja nichts fragen! Ich würde
der entscheiden, ob und, wenn ja, in welcher Höhe sie Zu-
das ja gerne machen!)
satzbeiträge erheben. Damit erreichen wir einen Wettbe-
werb, den Sie verhindern wollten. Anders als Sie sind wir Künftig erfolgt der Sozialausgleich aus Steuermitteln;
davon überzeugt, dass die Menschen den besten Beitrag im Steuersystem wird jeder nach seiner Leistungsfähig-
zur Kontrolle ihrer Kosten leisten können, indem sie keit besteuert. Damit trägt jeder zum Sozialausgleich
selbst ihre Krankenversicherung auswählen. Das ist bes- bei, auch die Bezieher höherer Einkommen und Privat-
ser, als wenn eine Gesundheitsverwaltung vorgibt, wie versicherte. Das bedeutet künftig nicht weniger, sondern
hoch der Krankenversicherungsbeitrag sein darf. mehr Solidarität in unserem Gesundheitssystem.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
2 Milliarden Euro sind deutlich mehr als nichts, Frau
Jetzt zur Frage des Sozialausgleichs. Wir wollen ein- Ferner.
mal festhalten, dass wir jetzt einen echten Sozialaus-
gleich einführen. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Unglaublich! Das
glauben Sie doch selber nicht!)
(Elke Ferner [SPD]: Stimmt doch gar nicht!
Jetzt komme ich noch kurz zu Ihrem System. Sie ha-
Das ist schon wieder gelogen!)
ben wiederum keine Zahlen zu Ihrer sogenannten Bür-
Das, was Sie bisher geschaffen haben, war ein sozialer gerversicherung vorgelegt. Warum nicht?
Deckel, der mit einem echten Ausgleich nichts, aber
(Elke Ferner [SPD]: Wir debattieren heute über
auch gar nichts zu tun hat.
Ihren Gesundheitsmurks! – Birgitt Bender
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gucken
Ferner [SPD]: Schon wieder gelogen, Herr Sie doch mal in unser Gutachten, wenn Sie
Rösler!) Zahlen wollen!)
Es ist fast schon zynisch, dass man als Versicherter Weil Sie genau wissen, dass Sie den Menschen damit sa-
bisher selber den Antrag stellen muss. Bisher muss man gen würden, dass Sie bereit wären, alle Formen der Ren-
nämlich selber prüfen, ob man an der Ausgleichsgrenze ten und Altersvorsorge mit zu besteuern. Wenn eine
7860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) Großmutter ein kleines Sparguthaben angespart hat, Können und Nichtkönnen ist? Der Unterschied zwischen (C)
dann wollen Sie ihre Zinsen künftig ebenfalls mit dem Können und Nichtkönnen zeigt sich daran, dass 2009 die
Beitragssatz von 15,5 Prozent belegen. Krankenversicherungen mit einem Überschuss von
1 Milliarde Euro abgeschlossen haben – das war die Ab-
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar schlussbilanz von Ulla Schmidt –, dass aber für das
nicht!) nächste Jahr, für 2011, ein Defizit von 9 Milliarden Euro
Ich frage Sie: Ist es darüber hinaus gerecht, wenn Sie die prognostiziert wird. Sie legen jetzt einen solchen Murks
10 Prozent unserer Gesellschaft enteignen wollen, die als Gesetzentwurf vor; wir werden ihn ablehnen. Das ist
durch Ansparung eines Kapitalstockes wenigstens schon der Unterschied zwischen Können und Nichtkönnen.
Altersvorsorge betrieben haben?
(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]:
(Mechthild Rawert [SPD]: Wer will enteig- Das glauben Sie doch wohl selber nicht, Frau
nen?) Ferner!)
Ihre Bürgerversicherung ist das Gegenteil von Ge- Sie, meine lieben Kollegen und Kolleginnen von
rechtigkeit. Es ist der Versuch, eine Einheitsversicherung Schwarz-Gelb, wollen nichts anderes, als die gesetzliche
auf den Weg zu bringen. Dabei sollten Sie wissen, dass Krankenversicherung zu Grabe zu tragen. Das Grab ha-
20 Jahre nach der Wiedervereinigung bewiesen ist, dass ben Sie zwar schon ausgehoben, aber die drei Jahre, die
Sie bei dem Versuch, alle Menschen gleich zu behan- Sie noch regieren werden, werden nicht reichen, um die
deln, sie niemals gleich gut behandeln, sondern im Er- gesetzliche Krankenversicherung ins Grab zu bringen.
gebnis immer gleich schlecht. Das werden wir verhindern. Wir werden diesen Murks
nach der Bundestagswahl 2013 komplett rückgängig ma-
(Elke Ferner [SPD]: Gerecht behandeln, nicht
chen.
gleich! Sie behandeln alle gleich!)
Das ist Ihr Weg in der Bürgerversicherung. Sie reden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
von Gerechtigkeit und sorgen für Ungerechtigkeit. Das der LINKEN)
ist das Unfaire an Ihrem Gesundheitssystem. Sie hebeln die tragenden Fundamente der gesetzli-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chen Krankenversicherung aus. Sie hebeln das Sachleis-
tungsprinzip aus. Sie hebeln die gerechte und paritäti-
Was wir auf den Weg bringen, ist der Einstieg in ein sche Finanzierung aus, und Sie hebeln vor allen Dingen
System mit mehr Wettbewerb, mehr Eigenverantwor- die einkommensabhängige Beitragszahlung aus. Das ist
tung und gleichzeitiger Stärkung der Solidarität. Wir hät- alles andere als gerecht, Herr Rösler. Das ist ungerecht.
(B) ten uns auch größere Schritte gewünscht; aber Verände- Es war bisher gesellschaftlicher Konsens, dass die star- (D)
rungen sind in diesem großen System mit mehr als ken Schultern mehr tragen als die schwachen und im
80 Millionen Menschen nur in kleinen Schritten mög- Krankheitsfall alle die gleiche gute medizinische Leis-
lich. Wir wollen allerdings lieber kleine Schritte in die tung bekommen. Damit machen Sie jetzt Schluss. Sie
richtige Richtung als einen großen Schritt zurück. wollen die Privatisierung der gesetzlichen Krankenversi-
Wir sind davon überzeugt, dass wir nicht nur die Pro- cherung. Das wollen wir nicht.
bleme für das Jahr 2011 gelöst, sondern auch den Ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
stieg in ein faires und besseres System der Finanzierung der LINKEN)
der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne einer
langfristigen Bewältigung der Zukunft gewagt haben. Was haben die Versicherten jetzt zu erwarten? Zum
1. Januar 2011 haben sie erst einmal eine Rentenkürzung
(Elke Ferner [SPD]: Weder fair noch besser!) und eine Gehaltskürzung zu erwarten. Das ist aber noch
Ich bin froh, dass Sie ein bisschen über Ihre alternative die gute Nachricht. Es kommt nämlich viel schlimmer:
Bürgerversicherung gesprochen haben. Das zeigt den Mit der Vorkasse, die Sie als transparent und toll be-
Unterschied zwischen Können und Nichtkönnen in der zeichnen, wollen Sie den Einstieg in die Abschaffung
gesetzlichen Krankenversicherung. des Sachleistungsprinzips.
(Elke Ferner [SPD]: Dass Sie das nicht kön- Man muss sich einmal vor Augen halten, was Vor-
nen, steht fest!) kasse bedeutet: Die Versicherten haben die Sachleistung
mit ihrem Beitrag schon bezahlt. Wenn sie zum Arzt ge-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. hen, sollen sie zusätzlich bezahlen. Die Erstattungsquo-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten derjenigen, die heute Vorkasse wählen, betragen im
Durchschnitt nur rund 50 Prozent.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Jens Spahn [CDU/CSU]: Vorkasse kann man
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Elke nicht wählen!)
Ferner.
Nur 50 Prozent bekommen die Menschen von ihrer
Kasse erstattet; es können aber auch nur 30 Prozent sein.
Elke Ferner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben es nicht
Herr Rösler, wissen Sie, was der Unterschied zwischen verstanden!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7861
Elke Ferner
(A) Was bringt das für einen Vorteil für den Patienten? durch die guten Verhandlungsergebnisse der GKV noch (C)
Der Einzige, der einen Vorteil hat, ist der Arzt, weil er attraktiver wird. Das ist absurd.
mehr bekommt, als er von der Kasse bekommen würde.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Ich kann jedem nur raten, nicht in die private Kranken-
Ich will Ihnen einmal deutlich machen, wie das in versicherung zu wechseln.
Facharztkreisen – etwa in Internetforen des Facharztver- Die Krönung ist die Kopfpauschale, von der Sie sa-
bandes – diskutiert wird. gen, es sei keine Kopfpauschale.
(Ulrike Flach [FDP]: Das, was Sie da erzählen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!)
ist nicht das, was im Gesetz steht!)
Was ist es anderes, wenn jedes GKV-Mitglied unabhän-
Da heißt es – hören Sie gut zu –: Wenn wir den Einstieg gig vom Einkommen gleich viel bezahlen muss? Das ist
in die Kostenerstattung respektive in die Direktabrech- eine Kopfpauschale, auch wenn Sie es tausendmal be-
nung mit dem Patienten auf dem Silbertablett serviert streiten.
bekommen, dann müssen wir jetzt in die Vollen gehen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Heinz
Werbung! Werbung! Werbung! Endlich auch Privatpa-
Lanfermann [FDP]: Das ist doch völlig falsch!
tienten. Nie wieder Zweiklassenmedizin. Erstklassige Sie haben nichts verstanden!)
Medizin zu vernünftigen Preisen.
Wir haben einen Sozialausgleich, der eigentlich gar
Weiter heißt es da: Wir müssen immer wieder darauf keiner ist, weil selbst diejenigen einen Ausgleich bekom-
hinweisen, dass an der Schlechterstellung der Nichtkos- men, die gar keine Kopfpauschale zahlen. Selbst diejeni-
tenerstattungspatienten die kranken Kassen schuld sind, gen, die noch etwas herausbekommen würden, erhalten
die für Verwaltung inzwischen fast so viel ausgeben wie nach Ihrem Gesetz einen Sozialausgleich. Das finden
für die ambulante Versorgung. auch Herr Spahn, Frau Flach und Herr Singhammer
Letzteres ist absoluter Nonsens. An diesen Aussagen falsch. Das haben Sie selbst aufgeschrieben. Dann frage
wird aber deutlich, wie ein Teil der Ärzteschaft tickt. ich mich aber, warum Sie es nicht machen.
Glauben Sie denn, sie werden den Versuch unterlassen, (Ulrike Flach [FDP]: Hier steht, dass wir es
die Patienten nach Strich und Faden abzuzocken? Was machen!)
soll denn eine Mutter mit einem kleinen Kind machen,
wenn sie vor der Entscheidung zwischen einer sofortigen Das, was Sie hinsichtlich des Sozialausgleichs wol-
len, ist das, was wir für den gesamten Beitrag wollen.
Behandlung gegen Vorkasse und einem Arzttermin drei
Das wäre gerechter, und das wäre dann die Bürgerversi-
(B) Wochen später steht? (D)
cherung. Aber in Teilen bewegen Sie sich schon auf uns
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Jens zu.
Spahn [CDU/CSU]: Was Sie hier machen ist (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie hätten sich
unglaublich! Unglaublich!) schon auf die Rede vorbereiten müssen, Frau
– Das ist nicht unglaublich. Das ist die Realität. Das hö- Ferner!)
ren wir doch alle in unseren Sprechstunden, Herr Spahn. – Herr Lanfermann, Sie können mir gerne eine Zwi-
Aber damit nicht genug. Sie machen noch eine Frisch- schenfrage stellen, wenn Sie die Antwort aushalten.
zellenkur für die PKV, indem Sie den Gut- und Besserver- (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben sich ja
dienenden einen Turbowechsel in die PKV – möglichst nicht vorbereitet!)
schnell aus der Solidarität heraus – ermöglichen. Junge
und Gesunde sollen möglichst schnell in die private Kran- Sie suggerieren, es gebe beim Modell der Kopfpau-
kenversicherung. schale einen Sozialausgleich. Das ist aber falsch. Sie sa-
gen, im nächsten Jahr werde es keine durchschnittliche
(Ulrike Flach [FDP]: Was ist eigentlich mit Kopfpauschale geben. Die Überraschung für die Versi-
den kleinen Beamten, Frau Ferner? Interessie- cherten ist aber, dass es dann auch keinen Sozialaus-
ren Sie die Polizisten gar nicht?) gleich geben wird, und zwar auch nicht für diejenigen,
die einen Zusatzbeitrag bezahlen.
Neugierige kann ich aber nur warnen: Die privaten Kran-
kenversicherungen erhöhen ihre Beiträge deutlich schnel- (Heinz Lanfermann [FDP]: Wer nichts zahlt,
ler als die gesetzlichen, und die älteren Privatversicherten der kriegt auch nichts zurück!)
haben heutzutage häufig Mühe, die hohen Beiträge zu be- – Das stimmt doch nicht, Herr Lanfermann.
zahlen. Das PKV-System ist trotz der Alterungsrückstel-
lungen nicht zukunftsfest. Das ist das Schlimme. Zum anderen muss man Folgendes sehen: Wenn die
Kopfpauschale 30 Euro beträgt, sind drei Viertel aller
(Heinz Lanfermann [FDP]: Die sind zwar alle Rentnerinnen und Rentner auf Almosen angewiesen.
zufrieden, aber wir reden das noch klein!) Weiterhin sind mehr als die Hälfte aller GKV-Versicher-
ten auf den sogenannten Sozialausgleich angewiesen.
Außerdem sollen die privaten Krankenversicherun- Das ist absurd.
gen noch von den Rabattverhandlungen der gesetzlichen
Krankenversicherungen profitieren. Wozu? Damit die (Heinz Lanfermann [FDP]: Das Wort „absurd“
Beiträge der PKV noch niedriger werden, und die PKV ist hier zutreffend!)
7862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Elke Ferner
(A) Das ist weder gerecht noch zukunftsfest. Unbürokratisch Natürlich gibt es zentrale Verhandlungen des GKV-Spit- (C)
ist es schon gar nicht, weil Sie, Herr Rösler, mit Ihrem zenverbandes mit den pharmazeutischen Unternehmern.
komischen Sozialausgleich Natürlich werden in einem ersten Schritt alle Kranken-
kassen gemeinsam verhandeln und eine kostengünstige
(Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist denn daran Lösung für die Versicherten finden. Diese Verhandlun-
komisch?) gen hat der vfa, der Verband Forschender Arzneimittel-
mindestens 600 Millionen einzelne Meldungen der Ar- hersteller, heftigst bekämpft. Natürlich haben wir eine
beitgeber, der Rentenversicherungsträger und der Ar- zentrale Veröffentlichung von klinischen Studien einge-
beitslosenversicherung produzieren, die die Krankenkas- führt. Auch dagegen hat sich die Pharmaindustrie ge-
sen erst einmal zusammenführen müssen, um überhaupt wehrt, wie sie sich auch dagegen gewehrt hat, dass es
entscheiden zu können, ob jemandem ein Sozialaus- eine Zusatznutzenbewertung geben soll.
gleich zusteht oder nicht. Also: mehr Bürokratie, weni-
ger Gerechtigkeit, Einstieg in die Privatisierung der (Heinz Lanfermann [FDP]: Das alles stand im
gesetzlichen Krankenversicherung. Das ist Ihre Gesund- Neuen Deutschland nicht drin, Herr Kollege!)
heitspolitik. Eines kann man schon verlangen, auch wenn Sie sich
Herr Koschorrek hat die Katze aus dem Sack gelas- als Fraktionsvorsitzender zu Wort melden. Wir haben
sen. Das Nächste, was kommt, ist die Abschaffung der hier elf Minuten faktenfreies Gerede mit Unwahrheiten
Chronikerregelung. Sie haben eben gesagt, dass die und Falschheiten gehört. Man kann von einem Frak-
Zuzahlung statt 1 Prozent künftig 2 Prozent des Einkom- tionsvorsitzenden verlangen, dass er zumindest das Ge-
mens betragen soll; es sei denn, ich hätte mich verhört. setz gelesen hat, bevor er hier an das Podium tritt.
Das alles ist aber nicht neu; denn Sie haben sowohl bei
der Gesundheitsreform 2003 als auch bei der letzten Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sundheitsreform immer wieder versucht, die Zuzahlung Zum Zweiten lasse ich mir nicht von jemandem, der zur
der Patientinnen und Patienten zu erhöhen. Nomenklatura der SED gehört hat, hier Zweiklassenme-
dizin vorwerfen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Ferner, achten Sie bitte auf die Zeit. (Widerspruch bei der LINKEN)
In der ehemaligen DDR wurden aus dem Westen Arznei-
Elke Ferner (SPD): mittel für diejenigen importiert, die zur Nomenklatura
Sie wollten damals beispielsweise 10 Prozent Eigen- gehört haben. Die Zustände für diejenigen, die an die
beteiligung an den Behandlungskosten, und zwar aller Dialyse mussten, waren eine Katastrophe. Von so jeman-
(B) Behandlungskosten. Das werden wir nicht mitmachen. dem lasse ich mir keine Zweiklassenmedizin vorwerfen, (D)
Wir werden diesen Murks spätestens 2013 zurückneh- an keiner Stelle.
men. Dann können Sie sich wieder auf den Oppositions-
bänken einrichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
derspruch bei der SPD und der LINKEN)
Vielen Dank.
Zur Wahrheit gehört – diese Wahrheit muss man ehr-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich aussprechen –, dass Gesundheit in einer älter wer-
der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wie denden Gesellschaft, die medizinischen Fortschritt will,
man mit 20 Prozent in den Umfragen so eine teurer wird. Eigentlich ist das etwas Positives. Wir alle
große Klappe haben kann!) wollen doch möglichst gesund möglichst alt werden.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Jens – Wer schreit denn da überhaupt? Ach, Frau Kollegin
Spahn. Hendricks. Ich musste mich erst einmal orientieren, wer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dazwischenruft. – Die Menschheitsgeschichte ist voll
von Erzählungen, dass Menschen danach streben, ein
Jens Spahn (CDU/CSU):
möglichst hohes Alter zu erreichen. Es ist etwas Positi-
ves, dass wir das können. Zur Wahrheit gehört aber auch,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
dass Gesundheit teurer wird, wenn man eine gute medi-
Lieber Herr Kollege Gysi,
zinische Versorgung will, wenn man Zugang zu Innova-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hast du tionen und neuen Arzneimitteln will. Diese Wahrheit
„lieber“ gesagt?) sprechen wir ehrlich aus.
natürlich zahlen auch die privaten Krankenversiche- (Andrea Nahles [SPD]: Reden Sie doch einmal
rungen dafür, dass sie bei den Arzneimittelkosten von zur Sache!)
der Systematik im Bereich der gesetzlichen Krankenver-
sicherung profitieren. Sie müssen sich an den Kosten für Weil die steigenden Gesundheitskosten in dem heuti-
den Gemeinsamen Bundesausschuss und für das Institut gen System die Lohnnebenkosten erhöhen,
beteiligen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber doch nicht so
(Elke Ferner [SPD]: Mir kommen die Tränen!) teuer!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7863
Jens Spahn
(A) somit die Arbeitskosten in Deutschland verteuern und Dass steigende Gesundheitskosten die Lohnneben- (C)
Arbeitsplätze gefährden, stellen wir die Finanzierung kosten in Deutschland belasten, haben wir in der Großen
um. Das ist die richtige Antwort auf die Herausforde- Koalition schon erkannt. Auch Rot-Grün hat das er-
rung, vor der wir stehen. Darum geht es heute im Kern, kannt; deswegen haben Sie ja etwas an der Parität verän-
liebe Kolleginnen und Kollegen. dert. Damals fanden Sie das noch gut. Wenn das aber so
ist, dann muss man sich doch Gedanken darüber ma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen, wie man die gesetzliche Krankenversicherung in
der Zukunft anders finanzieren kann, damit sie die
Vizepräsidentin Petra Pau: Wachstumsdynamik, die wir wollen, entfalten kann,
Herr Kollege Spahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage ohne dass wir uns immer in einer Debatte über Lohnne-
des Kollegen Lauterbach? benkosten befinden. – Die Gesundheitsbranche ist übri-
gens mit über 4 Millionen Beschäftigten die größte
Branche, die wir in Deutschland haben. – Das ist der
Jens Spahn (CDU/CSU):
Kerngedanke unseres Gesetzes.
Auch wenn er gleich noch Redezeit hat, gerne.
Deshalb haben wir gesagt: Wir schreiben den Arbeit-
geberbeitrag in der Fortsetzung dessen, was wir in der
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Großen Koalition gemacht haben, fest, und wir entwi-
Die gleiche Frage hätte ich auch dem Minister ge- ckeln den Zusatzbeitrag als lohnunabhängige Kom-
stellt, wenn er sie zugelassen hätte. ponente weiter, um aus der reinen lohnabhängigen
Mich interessiert, weshalb wir hier nichts Konkretes Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung he-
zu Ihrem Gesetz hören. Sie erklären uns, dass die Men- rauszukommen. Denn nur wenn das gelingt, können Sie
schen älter werden wollen. Sie erzählen uns etwas über tatsächlich dauerhaft und flächendeckend eine gute me-
die DDR, was niemanden interessiert und auch noch dizinische Versorgung für alle sicherstellen.
falsch ist, aber wir hören nichts über Ihr erbärmliches Das ist der Kerngedanke dessen, was wir tun, und ich
Gesetz. glaube, dieser Kerngedanke wird am Ende auch viel Un-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ist terstützung in der Bevölkerung finden, liebe Kollegin-
daran falsch? – Zuruf von der CDU/CSU: Sie nen und Kollegen.
haben doch keine Ahnung! – Weitere Zurufe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
von der CDU/CSU) Mechthild Rawert [SPD]: Das wird er nicht! –
Heinz Lanfermann [FDP]: Ich fürchte, er ver-
Wieso reden Sie nicht zum Gesetz, Herr Spahn? steht es trotzdem nicht!)
(B) (D)
Jens Spahn (CDU/CSU): Das Entscheidende bei diesem Zusatzbeitrag ist, dass
wir sagen: Wir finden eine breitere Grundlage auch für
Lieber Herr Kollege Lauterbach, von meinen zwölf
den Sozialausgleich.
Minuten Redezeit habe ich erst einige wenige genutzt.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Um dummes NEN]: Eben nicht! Wo sind sie denn, die Steu-
Zeug zu reden!) ermittel?)
Ich wollte dies jetzt gerade, hätten Sie mich nicht durch Heute werden die Kosten für den Sozialausgleich nahezu
eine Zwischenfrage unterbrochen, herleiten. ausschließlich von den abhängig Beschäftigten und von
(Michael Groschek [SPD]: Das war die den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Land getra-
Chance zum Nachdenken!) gen. Diese alleine finanzieren das Gesamtsystem. Alle
anderen Einkünfte, übrigens auch die Einkünfte über der
Denn man muss das, was man konkret mit dem Gesetz Beitragsbemessungsgrenze von gut 3 700 Euro, spielen
tut und was ich gleich erklären werde, schon vernünftig keine Rolle.
begründen. Das ist eben der Unterschied zwischen Ihnen
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und uns. Bei uns steckt eine größere Idee hinter dem,
NEN]: Aha! – Elke Ferner [SPD]: Das wollten
was wir tun. Deswegen muss man die Dinge schon her-
Sie doch gar nicht ändern! Dabei haben Sie
leiten.
sich doch verweigert!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist übrigens im heutigen System schon so. Sie haben
dies ja kritisiert.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- NEN]: Deswegen wollen wir die Bürgerversi-
frage, diesmal der Kollegin Bunge? cherung!)

Jens Spahn (CDU/CSU): Genau da setzen wir an. Wir sagen, dass der Sozial-
ausgleich für diesen Zusatzbeitrag aus Steuern finanziert
Bevor mir wieder vorgeworfen wird, ich sagte nichts
wird. Steuern werden in Deutschland nach der tatsächli-
zum Gesetz, möchte ich zunächst sagen, warum wir was
chen Leistungsfähigkeit des Einzelnen erhoben.
tun. Dann können wir gerne mit Zwischenfragen weiter-
machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
7864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Jens Spahn
(A) Miete, Kapitaleinkünfte, Zinseinkünfte, Unternehmens- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke (C)
gewinne – all diese Dinge werden mit berücksichtigt. Ferner [SPD]: Das wird ruck, zuck aufge-
Deswegen ist das, was wir einführen wollen, gerechter braucht sein!)
als das System, das wir heute haben. Dies ist ein erster
wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aus diesem Es sind nachweislich Steuermittel. Ab 2014 muss im
ersten Schritt ergibt sich eine Perspektive für die weite- Bundeshaushalt dann spitz abgerechnet das nötige Geld
ren Schritte, Frau Kollegin Bender. Das ist das, was die zur Verfügung gestellt werden.
Kollegin Flach, der Kollege Straubinger und ich aufge- Zum Zweiten. Natürlich ist die Verteilung nach dem
zeigt haben: zunächst der erste und dann der zweite Steuersystem so, wie sie ist, aber zur Wahrheit gehört
Schritt. Die Reihenfolge ist wichtig. Aber die entschei- doch auch, dass der Ausgleich über das Steuersystem
dende Botschaft am heutigen Morgen lautet: Es ist bes- wesentlich gerechter ist
ser und gerechter als das, was wir heute haben.
(Elke Ferner [SPD]: Das wollen Sie ja
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke ändern!)
Ferner [SPD]: Das ist es nicht!)
als das, was wir heute in den Sozialversicherungssyste-
men als Ausgleichsmechanismen haben,
Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Kollege Spahn, es gibt mehrere Wünsche nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zwischenfragen. Ich habe unter anderem die Kollegin
Bender und die Kollegin Bunge auf der Liste. weil Mieten, Dividenden, Zinseinkünfte berücksichtigt
werden, weil auch Unternehmensgewinne berücksichtigt
(Iris Gleicke [SPD]: Weil der Minister ja nicht werden,
antworten wollte!)
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)
Jens Spahn (CDU/CSU): weil auch die Einkommen von privat Krankenversicher-
Gerne. ten und die Einkommen über der Beitragsbemessungs-
grenze berücksichtigt werden.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Elke Ferner [SPD]: Aber Sie wollen doch ent-
Zunächst erhält die Kollegin Bender das Wort. lasten! – Heinz Lanfermann [FDP]: Auch Sie
tragen dazu bei, Frau Bender!)
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist gerechter als das, was wir heute haben, und das (D)
(B)
Herr Kollege Spahn, wenn Sie darauf hinweisen, dass wissen Sie doch eigentlich auch, Frau Kollegin Bender.
im Steuersystem jeder nach seiner Leistungsfähigkeit
besteuert werde und dass es deswegen besonders gerecht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sei, Steuermittel ins System zu holen, dann schließen
sich daran zwei Fragen an. Vizepräsidentin Petra Pau:
Erstens. Warum holen Sie die Steuermittel nicht ins Geschäftsleitend Folgendes: Es gibt eine ganze Reihe
System? Denn es gibt ja in Wirklichkeit keinen steuer- von Fragen. Nun wollen wir den Beitrag ja nicht um das
finanzierten Sozialausgleich. Dreifache verlängern. Ich würde noch zwei Fragen zu-
lassen, die der Kollegin Bunge und die der Kollegin
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was? Wo kom- Vogler. Aber natürlich müssen Sie entscheiden, Herr
men denn die 15 Milliarden her?) Kollege, auf was Sie noch antworten wollen.
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, dass zum Steueraufkom- Kollegin Bunge.
men die Einkommensteuer, bei der tatsächlich die Ein-
kommenshöhe über die Steuerhöhe bestimmt, während Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
alle anderen Steuerarten nicht progressiv sind, nur zu
Kollege Spahn, Sie haben behauptet, dass die Zusatz-
35 Prozent beiträgt?
beiträge, die wir ablehnen, durch den Sozialausgleich so-
zialer würden. Mich würde einfach einmal Ihre Mathe-
Jens Spahn (CDU/CSU): matik interessieren.
Frau Kollegin Bender, zum Ersten. Die Steuerfinan-
zierung des Sozialausgleichs ist natürlich sichergestellt (Elke Ferner [SPD]: Das kann er nicht erklä-
– das wissen Sie doch eigentlich –, weil wir im nächsten ren! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es gibt
Jahr 2 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt – das nur eine Mathematik!)
sind unstrittig Steuermittel – Wenn jemand 1 000 Euro bekommt – „verdient“ will
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) ich nicht sagen; denn wir wissen: viele sind unterbezahlt;
die meisten verdienen eigentlich, im wahrsten Wortsinn,
in die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds, also der mehr –, bezahlt er nach der jetzigen Regelung einen Zu-
gesetzlichen Krankenversicherung, geben. Daraus wer- satzbeitrag von maximal 10 Euro, nach der 2-Prozent-
den wir in den nächsten Jahren den Steuerausgleich Regelung 20 Euro. Da wirkt der Sozialausgleich gar
finanzieren. nicht. Was ist daran sozial?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7865
Dr. Martina Bunge
(A) Was machen Sie mit dem Sozialausgleich? Das Ge- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
setz soll doch in die Zukunft wirken. Wenn wir wieder NEN]: Ich bin gespannt, ob es noch etwas In-
vor einer Krisensituation, etwa einem Börsencrash, ste- teressantes gibt!)
hen, die Zusatzbeiträge im Jahr 2020 eh schon bei 60
und dann können wir nachher noch einmal schauen.
oder 100 Euro liegen, viele im Sozialausgleich sind, ein
Haufen Steuermittel notwendig ist, die Steuern durch
den Börsencrash aber wegbrechen, wer bezahlt dann Vizepräsidentin Petra Pau:
bitte schön? Gut.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was wäre die Jens Spahn (CDU/CSU):


Alternative?) Zu der Frage, was die Alternative sein soll, muss
man hier zwei, drei Sätze sagen dürfen. Es ist eine Pro-
Jens Spahn (CDU/CSU): jektgruppe der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-
Das Problem, Frau Kollegin Bunge, ist Folgendes lands eingesetzt worden, die sich mit der gesetzlichen
– das ist das, was ich eingangs dargestellt habe; deswe- Krankenversicherung beschäftigt. Man ist sich unsicher,
gen ist es schon wichtig, Herr Kollege Lauterbach, die ob es im Kern darum ging, ein neues Konzept für die ge-
Dinge auch ein bisschen herzuleiten –: Sie stellen eine setzliche Krankenversicherung zu schaffen, oder darum,
statische Betrachtung an. Aber eine Wahrheit müssen der Generalsekretärin ein Aufgabenfeld zu geben, in
auch die linken Parteien in diesem Parlament endlich dem sie wahrgenommen werden kann.
einmal anerkennen – diese ehrliche Botschaft muss man (Beifall bei der FDP)
verkünden, auch wenn sie vielleicht nicht populär ist –:
Die Gesundheitsversorgung, insbesondere dann, wenn Unabhängig davon: Was steht am Ende in diesem
sie flächendeckend aufrechterhalten werden soll – ich Konzept? Der Kollege Lauterbach hat uns im Dezember
komme aus dem Münsterland, also einer ländlichen Re- hier im Deutschen Bundestag angekündigt, er werde ein
gion – und wenn wir den Zugang zu Innovationen mög- durchgerechnetes Konzept zur Bürgerversicherung auf
lich machen wollen – die Kosten steigen ja nicht beim den Tisch legen. Das kündigt er seit Jahren an. Wenn ich
Hustensaft, sondern sie steigen zum Beispiel bei Krebs- mir anschaue, was Sie vorgelegt haben, dann sehe ich,
medikamenten –, wird teurer. Das ist die erste ehrliche dass in diesem durchgerechneten Konzept nicht eine ein-
zige Zahl steht. Sie sagen nicht, wie hoch der Beitrags-
Botschaft, die in Ihrer Frage leider völlig ausgeblendet
satz sein soll. Sie sagen nicht, was alles mit verbeitragt
wird.
werden soll. Sie sagen nicht, wie hoch die Beitragsbe-
(B) Zum Zweiten muss man in der Perspektive sehen, messungsgrenze sein soll. Sie sagen nicht, wie viele (D)
dass die Kosten steigen – sie werden steigen –, egal wie Steuermittel in das System fließen sollen. Sie sagen mit
wir die Ausgaben finanzieren, ob wir sie über Beiträge, keinem Wort und vor allem mit keiner Zahl – und rech-
über Steuern oder über einen Zusatzbeitrag finanzieren. nen tut man meistens mit Zahlen, Herr Kollege
Lauterbach –, was Ihr Konzept eigentlich bedeutet.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber wenn
(Elke Ferner [SPD]: Sie können noch nicht
der Crash noch dazukommt?)
einmal mit Zahlen rechnen!)
Das vorausgeschickt, sage ich: Es ist dann natürlich Das lassen wir Ihnen so pauschal und billig nicht durch-
wichtig, zu erklären: Niemand muss mehr als 2 Prozent gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
seines Einkommens für den Zusatzbeitrag ausgeben.
Das stellen wir sicher. Im Unterschied zu dem, was die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frau Kollegin Schmidt als Gesundheitsministerin einge- Sie wissen genau, warum Sie das nicht sagen; denn
führt hat, stellen wir sicher, dass das Geld, das in der ge- auch Sie kämen nicht um die Botschaft herum, die Sie
setzlichen Krankenversicherung nicht ankommt, weil es vermeiden, die wir aber ehrlich aussprechen, nämlich
einen Deckel gibt, doch im System verfügbar ist, dann dass es teurer wird. Sie würden vor allem die Facharbei-
eben aus Steuermitteln finanziert. Das ist dann am Ende ter – die Mittelschicht – zusätzlich belasten, diejenigen,
gerechter als das, was wir heute haben. Ein Sozialaus- die zusätzlich ein wenig zur Seite gelegt oder eine Miet-
gleich aus Steuermitteln findet heute nicht statt. Genau wohnung geerbt haben.
das ändern wir, und das ist gerechter als das, was wir
heute haben. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!
Das ist blanke Panikmache!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Diejenigen würden Sie zusätzlich belasten, weil die Bei-
tragsbemessungsgrenze natürlich auch in Ihrem Konzept
weiter gelten würde. Genau deswegen ist es übrigens ge-
Vizepräsidentin Petra Pau: rechter, das über Steuern zu machen.
Gestatten Sie noch die Frage der Kollegin Vogler? (Mechthild Rawert [SPD]: Fakten und Zahlen
bitte!)
Jens Spahn (CDU/CSU): Im Steuerrecht gibt es keine Beitragsbemessungsgrenze.
Ich würde jetzt gern fortfahren, Im Sozialrecht muss es sie nach dem Verfassungsrecht
7866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Jens Spahn
(A) geben. Deswegen ist es richtiger, diesen Ausgleich über dann würden im nächsten Jahr viele Krankenkassen (C)
Steuermittel zu machen, liebe Kolleginnen und Kolle- – auch große Krankenkassen – aufgrund der Systematik,
gen. wie sie heute ist, in die Insolvenz gehen müssen. Es
würde eine wahnsinnig große Verunsicherung in der Be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
völkerung geben. Deswegen stellen wir uns nicht nur der
Ferner [SPD]: Wo ist denn die Gesundheits-
Entscheidung darüber, wie wir bei steigenden Gesund-
steuer?)
heitskosten die gesetzliche Krankenversicherung lang-
– Ich weiß, es tut weh, weil es Sie an Ihre eigenen Ent- fristig finanzieren wollen, sondern auch der Herausfor-
scheidungen erinnert. derung im Rahmen der Frage, wie wir mit dem Defizit
im nächsten Jahr umgehen werden.
(Elke Ferner [SPD]: Nein, gar nicht! Sie tun
weh!) Hier holen wir alle ins Boot: Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer, indem wir zum alten Beitragssatz von 15,5 Pro-
Ich wundere mich darüber, wie Sie sich da überall in zent zurückkehren, den wir übrigens vor der Krise in der
die Büsche schlagen. Sie haben mit uns in der Großen Großen Koalition eingeführt haben. Wir holen die Kran-
Koalition den Zusatzbeitrag eingeführt, kenhäuser mit ins Boot und die Krankenkassen, die
(Elke Ferner [SPD]: Nein, das waren Sie! Sie Ärzte, die Zahnärzte, die Pharmaindustrie, die Apothe-
lügen schon wieder!) ker und den Großhandel,
sodass heute von einigen Kassen 8 Euro erhoben wer- (Mechthild Rawert [SPD]: Die einen müssen
den. Übrigens gibt es wunderschöne Reden von Ulla paddeln, und die anderen sitzen auf dem Lu-
Schmidt darüber, warum es richtig ist, einen Zusatzbei- xusdampfer!)
trag einzuführen, nämlich um die Loslösung von den bei denen wir Zuwächse begrenzen und zum Teil effek-
Lohnkosten zu erreichen. Sie haben mit uns gemeinsam tiv Geld einsparen, um am Ende dieses Defizit von
die Wahltarife in der gesetzlichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro unter Beteiligung aller im Gesund-
eingeführt und fortentwickelt. heitswesen in den Griff zu bekommen. Die Prognose ist
(Elke Ferner [SPD]: Nein, nein! Sie verab- so, dass es uns tatsächlich gelingen wird, in der gesetzli-
schieden sich gerade von allem!) chen Krankenversicherung zu einer ausgeglichenen Bi-
lanz zu kommen.
Sie haben mit uns gemeinsam die Kostenerstattung ein-
geführt. Man kann von der Opposition erwarten, dass sie zu-
mindest zwei oder drei Sätze über die Herausforderung
(Elke Ferner [SPD]: Nein! Das stimmt nicht! im nächsten Jahr verliert. Man kann erwarten, dass Sie (D)
(B) Das ist gelogen!) eine Alternative aufzeigen, wenn Sie nicht damit einver-
– Sie haben mit uns gemeinsam die Regelungen zur Kos- standen sind. Sie wissen wie ich, dass Nichtstun in die-
tenerstattung eingeführt, weil Sie damals noch der Über- ser Situation keine Option ist, dass Krankenkassen dann
zeugung waren, es wäre gut, wenn auch gesetzlich Versi- in die Insolvenz müssen.
cherte die Möglichkeit hätten, für sich einen Wahltarif (Elke Ferner [SPD]: Aber Sie haben ein
nach ihren eigenen Wünschen ein Stück weit gestalten ganzes Jahr nichts getan!)
zu können.
Da kann man sogar von einer Opposition verlangen, dass
(Elke Ferner [SPD]: Das ist gelogen! Sie ver- von ihr zwei oder drei Sätze darauf verwendet werden,
abschieden sich gerade von allem!) was mit dem Defizit im nächsten Jahr zu tun wäre, wenn
Heute wollen Sie von all dem nichts mehr wissen. Sie Sie nicht das tun wollen, was wir tun. Unsere Antwort ist
schlagen sich in die Büsche. Sie versuchen, im Wettbe- ein gerechter Ausgleich, liebe Kolleginnen und Kolle-
werb um Gleichmacherei die Linkspartei zu überholen, gen.
aber das wird Ihnen nicht gelingen, das ist ein billiger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Abklatsch. Es wäre besser, Sie würden sich zu dem be-
kennen, was wir einmal gemeinsam verabschiedet ha- Die christlich-liberale Koalition stellt sich nämlich
ben, liebe Kolleginnen und Kollegen. dieser Verantwortung. Wir stellen uns dieser Verantwor-
tung, auch wenn es unschöne Botschaften sind,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mechthild Rawert [SPD]: Fakten und Zahlen, (Zurufe von der LINKEN)
Herr Spahn!)
unschöne Botschaften für Arbeitnehmer, Arbeitgeber,
Wenn es um die Frage geht, was im nächsten Jahr ist, auch für viele, die im Gesundheitswesen tätig sind. Nie-
dann ist von Ihnen auch nichts zu hören. Wir haben im mand hat ja gerne, dass bei ihm gespart wird.
nächsten Jahr in der gesetzlichen Krankenversiche-
(Mechthild Rawert [SPD]: Die Beschäftigten
rung ein Defizit von 9 Milliarden Euro.
sind sowieso am schlechtesten dran!)
(Zuruf von der FDP: So weit denken die
Aber wir stellen uns dieser Verantwortung. Wir stellen
nicht!)
uns übrigens auch der Verantwortung, den Menschen
Das ist das größte Defizit in der Geschichte der gesetzli- ehrlich zu sagen, dass in einer älter werdenden Gesell-
chen Krankenversicherung. Wenn wir nichts tun würden, schaft die Gesundheitskosten steigen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7867
Jens Spahn
(A) (Elke Ferner [SPD]: Stimmt doch überhaupt finanzieren zu lassen, weil Sie das nicht zugelassen ha- (C)
nicht! Sie lügen schon wieder, ohne rot zu ben. Insbesondere Frau Merkel hat darauf bestanden,
werden! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das dass es auch die Option geben muss, feste Beiträge neh-
ist ein Mythos, Herr Spahn!) men zu können. Wir haben damals vereinbart, dass die
Kassen selbst entscheiden können, ob sie prozentuale
Um diese Aussage drücken Sie sich ja leider bis heute
oder feste Zusatzbeiträge erheben. Dieses Entschei-
herum. Aber es ist nun einmal so: Wenn wir medizini-
dungsrecht nehmen Sie den Kassen jetzt.
schen Fortschritt für alle flächendeckend wollen, muss
das auch entsprechend finanziert werden. Der zweite Punkt ist, dass wir folgende Forderungen
Ihrer Fraktion, Herr Spahn, die Sie während der Ver-
Wir nennen nicht nur ehrlich die Herausforderungen,
handlungen zur Gesundheitsreform erhoben haben, ab-
sondern wir liefern auch noch die Lösungen,
gelehnt haben: Sie wollten Leistungsausgliederungen,
(Elke Ferner [SPD]: Ja, genau! Die kleinen beispielsweise sollte die Kostenerstattung von privaten
Leute abzocken! Das ist die Lösung!) Unfällen durch die Krankenversicherung aus dem
Leistungskatalog herausgenommen werden. Das hätte
indem wir sagen, dass es eine weitere ergänzende Finan- 0,7 Beitragssatzpunkte gebracht. Das haben wir abge-
zierung braucht, die lohnunabhängig ist und durch die lehnt, weil wir das für unverantwortlich halten. Außer-
künftige Kostensteigerungen abgefedert werden können, dem wollten Sie, dass bei jedem Arztbesuch eine Praxis-
ohne tatsächlich automatisch immer die Lohnnebenkos- gebühr fällig wird. Auch das haben wir abgelehnt, weil
ten zu erhöhen, wodurch ja Arbeitsplätze in Deutschland es die Kranken zu sehr belastet.
gefährdet werden.
Nun zur Kostenerstattung, werter Herr Spahn. Hier
(Elke Ferner [SPD]: Nur bei den kleinen Ein- richte ich mich auch an Herrn Bahr, der ja in der letzten
kommen! Rentnerinnen und Rentner sind die Woche im Fernsehen ähnlichen Unsinn wie Sie behaup-
Dummen!) tet hat. Es mag Ihrem jugendlichen Alter geschuldet
Es ist am Ende übrigens die beste Sozialpolitik, Arbeits- sein, dass Sie sich vielleicht nicht mehr so sehr daran er-
plätze in Deutschland zu sichern und die Schaffung von innern können. Die Möglichkeit zur Kostenerstattung
neuen möglich zu machen. wurde 1996 von Bundesgesundheitsminister Seehofer
eingeführt. Ich kann mich noch daran erinnern – ich
(Elke Ferner [SPD]: Arbeitnehmerinnen und weiß nicht, wie es bei Ihnen ist –: Damals haben CDU/
Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner wer- CSU und FDP regiert. Diese Möglichkeit wurde 1998
den von Ihnen gnadenlos abgezockt!) von Rot-Grün wieder abgeschafft. Wiedereingeführt
wurde sie 2003 auf Druck der Union im Rahmen eines
(B) Damit stellt sich die christlich-liberale Koalition ihrer (D)
Verantwortung. Darauf kommt es an. Vermittlungsausschussverfahrens. Damals wurde festge-
legt, dass die Bindungsfrist mindestens ein Jahr beträgt
(Andrea Nahles [SPD]: Alles nur Gesülze!) und dass sie, vor allen Dingen, entweder alle Leistungen
Man kann von einer Opposition ein bisschen mehr er- oder keine Leistungen umfassen muss. Bei der Gesund-
warten als nur Worthülsen und Überschriften. heitsreform von 2007 war eines Ihrer großen Themen,
die Möglichkeiten zur Kostenerstattung auszuweiten.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Von denen Wir haben uns dann im Rahmen eines Kompromisses
nicht!) dazu bereit erklärt – wir wollten es nicht, es war aber Ihr
Wenigstens ein bisschen Konzept wäre ganz hilfreich, Anliegen –, einen Wahltarif mit einer Drei-Jahres-Bin-
zumindest, wenn Sie für sich in Anspruch nehmen wol- dung einzuführen. Wir konnten dann nur noch sicherstel-
len, hier noch ernsthaft mitzureden. len, dass dieser möglichst selten in Anspruch genommen
wird. Dem haben Sie damals zugestimmt. Jetzt kippen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie dies wieder wie auch einige andere Punkte, denen
Sie damals zugestimmt haben, wie beispielsweise die
Vizepräsidentin Petra Pau: Deckelung der Zusatzbeiträge und damit die Sozialver-
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin träglichkeit der Zusatzbeiträge.
Ferner das Wort. Ich meine, Herr Spahn, zur Redlichkeit gehört, nicht
nur zu sagen: „Ja, wir waren dabei“, sondern auch zu sa-
Elke Ferner (SPD): gen: „Aber wir waren es nicht allein.“
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Spahn hat ja
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ach, Sie waren
eben wieder versucht, Geschichtsklitterung zu betreiben.
dabei, aber eigentlich nicht!)
Deshalb möchte ich hier wirklich noch einmal ein paar
Dinge klarstellen. Die SPD hat leider noch nie mit absoluter Mehrheit in
diesem Land regiert – Herr Gysi, dies auch zu Ihnen.
Die letzte Gesundheitsreform, die von Ihnen und
von uns mitgetragen worden ist, bestand aus einem Man sollte schon so ehrlich sein und so viel Rückgrat
Kompromiss. haben, Herr Spahn, deutlich zu machen, was Sie eigent-
lich wollten.
Zu diesem Kompromiss hat erstens dazugehört, dass
wir, obwohl wir das wollten, darauf verzichtet haben, die (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist aber eine
Zusatzbeiträge paritätisch und einkommensabhängig lange Intervention!)
7868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: nicht gemeinsam Politik, liebe Kolleginnen und Kolle- (C)
Kollegin Ferner, Sie müssen bitte zum Schluss kom- gen.
men. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heinz
Lanfermann [FDP]: Glatte Lüge!)
Elke Ferner (SPD):
Was die Frage des Kompromisses angeht, so wollten
Sie wollten – das setzen Sie jetzt mit der FDP um –
Sie zum einen Verkehrsunfälle aus der gesetzlichen
eine zusätzliche Belastung der Patientinnen und Patien-
Krankenversicherung herausnehmen.
ten und der unteren Einkommen zugunsten der Entlas-
tung der oberen Einkommen. Das ist Ihre Klientelpolitik, (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar
die Sie nach wie vor betreiben. nicht! Sie lügen hier, Herr Spahn! Nehmen Sie
das zurück! – Gegenruf des Abg. Heinz
(Beifall bei der SPD) Lanfermann [FDP]: Jetzt hören Sie doch mal
zu, Frau Ferner! Sie können doch etwas ler-
Vizepräsidentin Petra Pau: nen!)
Sie haben das Wort, Herr Spahn.
– Wissen Sie, das ist doch alles müßig.
(Ulrike Flach [FDP]: Es wird nicht gesendet, (Weitere Zurufe von der SPD)
Frau Ferner! Sie brauchen sich nicht so anzu-
strengen! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner – Es muss ja irgendwie wehtun.
[SPD]: Das ist mir egal, ob das gesendet wird!) (Elke Ferner [SPD]: Nein! Es ist nicht wahr! –
Heinz Lanfermann [FDP], an die SPD ge-
Jens Spahn (CDU/CSU): wandt: Jetzt hören Sie doch einmal zu!)
Liebe Frau Kollegin Ferner! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zuerst zu den Wahltarifen und zu den Ände- Vizepräsidentin Petra Pau:
rungen, die wir hierbei jetzt vornehmen. Überwiegend hat der Kollege Spahn das Wort.
Ich glaube nicht, dass es der gesetzlich Versicherte, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wenn Sie ihn auf der Straße danach fragten, für richtig der FDP)
hielte, dass Chefarztbehandlung oder die Inanspruch-
nahme eines Einbettzimmers von dem normalen Bei- Jens Spahn (CDU/CSU):
tragszahler quersubventioniert werden, Vielen Dank. – Erst einmal gute Besserung, Frau Prä-
(B) (Mechthild Rawert [SPD]: Fakten!) sidentin. (D)
sondern vielmehr, dass es durch diejenigen bezahlt wird,
Vizepräsidentin Petra Pau:
die sich dafür entscheiden. Deswegen sorgen wir dafür,
Danke.
dass es diese Quersubventionierung nicht gibt, mit der
einige Krankenkassen versuchen, sich eine bestimmte
Klientel heranzuziehen. Wir stellen klar: Diese Tarife Jens Spahn (CDU/CSU):
müssen sich selber tragen, weil Chefarztbehandlung et- Unabhängig davon gehört es doch in solchen Beratun-
was ist, was man für sich selbst finanzieren und bezahlen gen dazu – Frau Kollegin Ferner, ich antworte Ihnen –
muss. Das war bisher in Form der Quersubventionierung (Elke Ferner [SPD]: Ich höre Ihnen zu!
ungerecht geregelt, und deswegen ändern wir das. Multitasking!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke – Multitasking, okay –, dass man natürlich verschiedene
Ferner [SPD]: Gucken Sie doch einmal ins Ge- Optionen miteinander durchspielt. Wir haben uns am
setz!) Ende entschieden, nicht Leistungen auszugrenzen, son-
Zweitens komme ich zur Kostenerstattung. Sie be- dern stattdessen zu einer zusätzlichen Belastung etwa in
mühen dabei immer gern das Wort „Vorkasse“. Viel- Form der Praxisgebühr oder anderem zu kommen. Das
leicht sollten Sie den Menschen einmal erklären, was Gleiche tun wir jetzt übrigens wieder. Wir haben gesagt,
denn Vorkasse ist: Vorkasse heißt, dass ich vor Inan- wir wollen bei dieser Gesundheitsreform bewusst nicht
spruchnahme der Leistung zahlen muss. Das wollte nie Leistungen ausgliedern. Wir muten dann aber – das ge-
jemand, das will nie jemand, und das wird es in der deut- hört dann zur Wahrheit dazu; vor dieser Wahrheit ducken
schen Krankenversicherung auch nie geben. Sie sich dann immer weg – den Menschen zu, dass die
Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung steigen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – damit der bisherige Leistungsumfang erhalten bleibt.
Elke Ferner [SPD]: Vorkasse heißt, dass Sie
mehr bezahlen, als Sie erstattet bekommen!) Aber eines lasse ich Ihnen nicht durchgehen; das ist
irgendwann eine Frage der politischen Kultur. Wenn
Sie jedoch suchen bei dem, was wir hier tun, verzwei- man gemeinsam in der Großen Koalition einen Kompro-
felt nach Angriffspunkten, denken sich selber ein Wort miss gefunden hat, bei dem beide Seiten selbstverständ-
aus, das ganz furchtbar klingt, und unterstellen dann mit lich Abstriche machen müssen, dann gehört es meines
großem Getöse, dass hier irgendjemand so etwas einfüh- Erachtens dazu – übrigens auch in der Wahrnehmung der
ren wolle. Das ist unredlich. So macht man eigentlich Bürgerinnen und Bürger –, dass man zu dem, was man
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7869
Jens Spahn
(A) gemeinsam vereinbart und gemeinsam hier beschlossen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein, um die Bera- (C)
hat, auch steht und sich nicht in die Büsche schlägt. Es tung möglich zu machen!)
hat Sie ja keiner gezwungen, zuzustimmen, sondern Sie
haben am Ende ebenso wie wir gesagt: Das ist ein Kom- Das ist Sparen zur falschen Zeit und an der falschen
promiss, der in die richtige Richtung geht. Anderenfalls Stelle.
würden Sie doch nicht zugestimmt haben. Dies wäre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
politische Kultur, Frau Kollegin Ferner.
Es verzögert doch nur eine bessere Versorgung mit mehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Qualität und Wirtschaftlichkeit.
Elke Ferner [SPD]: Sie verabschieden sich
gerade!) Trotzdem habe ich mich auf die Suche nach Hinwei-
sen im Gesetzentwurf darauf gemacht, wohin die Reise
der Koalition bei Strukturveränderungen gehen könnte.
Vizepräsidentin Petra Pau: Ich bin fündig geworden: zunächst beim Notopfer der
Nun hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Krankenhäuser. Mit dem Mehrleistungsabschlag bestra-
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. fen Sie die Krankenhäuser, die im Qualitätswettbewerb
um Patienten erfolgreicher sind als andere Häuser und
die so mit den Krankenkassen mehr Leistungen verein-
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
baren können. Das ist wettbewerbs- und leistungsfeind-
Frau Präsidentin, erst einmal wünsche ich gute Besse- lich. Wie sagt die FDP doch so schön? Leistung muss
rung! – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu- sich lohnen.
nächst muss ich Folgendes anmerken: Herr Bundes-
minister Rösler und auch Herr Spahn beklagen sich (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
immer darüber, die Opposition trage nichts zu der Dis- NEN)
kussion bei. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich für
Mit Leistung und Wettbewerb haben Sie ohnehin
alle Oppositionsparteien hier sagen muss, dass der
Ihre Probleme, jedenfalls immer dann, wenn es um die
Grundwert sozialer Gerechtigkeit beigetragen wird, le-
Begünstigung der PKV oder wenn es um die hausärztli-
gen wir mit der grünen Bürgerversicherung konkrete
che Versorgung geht. Wahlfreiheit und Wettbewerb wer-
Zahlen auf den Tisch. Sie setzen sich aber mit keinem
den verschoben. Wegen des Grollens aus den bayeri-
Wort damit auseinander.
schen Bergen belassen Sie es bei den unsinnigen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Monopolverträgen und schleifen zudem mit der Fallwert-
sowie bei Abgeordneten der SPD) orientierung die Leistungsanreize für eine verbesserte
(B) hausärztliche Versorgung. (D)
Wir hingegen setzen uns mit Ihnen deutlich auseinander.
Das werden Sie ja gemerkt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: In Bayern stel-
Nun zu dem Gesetz. Als der Gesetzentwurf aus dem len die Grünen aber andere Anträge!)
Kabinett kam, sprach die Regierung davon, ein faires
Sie setzen mit der Grundlohnratenanbindung für die
und stabiles Gesundheitssystem auch für zukünftige Ge-
Krankenhäuser eine Regelung fort, bei der wir uns alle
nerationen sichern zu wollen. Dass wir Bündnisgrüne
einig waren, dass sie abgeschafft werden müsste, weil
eine andere Auffassung von fair und gerecht haben,
sie sich immer weiter von der Realpreisentwicklung ent-
dürfte hinreichend klar geworden sein. Aber ich dachte,
fernt. Das gilt erst recht für den Fall, dass die Rate auch
ein Gesundheitssystem für künftige Generationen hat
noch reduziert wird.
doch etwas mit Zukunft, Vorausschau und Nachhaltig-
keit sowie mit der Frage zu tun, wie man sich auf die (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
sich dramatisch verändernden Versorgungsbedingungen DIE GRÜNEN]: Genau!)
einer immer älter werdenden Bevölkerung mit Zunahme
von chronischen und Mehrfacherkrankungen vorberei- Zu dem Füllhorn über einem Teil der niedergelassenen
tet. Ärzteschaft gesellen Sie die Axt im Krankenhaus und
riskieren Personalabbau und schlechtere Arbeitsbedin-
Zukunft gestalten heißt doch, die Strukturen zu verän- gungen besonders beim Pflegepersonal. Das wird zulas-
dern hin zu einer besseren Versorgung mit mehr Quali- ten der Patienten gehen.
tät, mit Vernetzung und Integration, mit einer besseren
Gesunderhaltung und mehr gemeinsamer und gegensei- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
tiger Verantwortung für alle Beteiligten. Davon ist im Ihr Gesetzentwurf mit den geplanten Entlastungen für
Gesetzentwurf nichts zu finden. Besserverdienende und der von mir aufgezeigten Ziel-
richtung der Strukturveränderungen ist wahrlich christ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich-liberal. Nehmt den Ärmeren und gebt den Besser-
verdienenden! Wer mehr leistet, soll weniger
Es ist eine Ankündigung ohne Inhalt. bekommen.
Kollege Spahn hat vorgestern im Ausschuss argumen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
tiert, das Finanzierungsgesetz bewusst von dem Struk- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vor drei Minu-
turgesetz getrennt zu haben, um 1 000 Seiten zu sparen. ten waren Sie mir noch sympathischer!)
7870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: derlich ist, um weiterhin die hohe Versorgungsqualität (C)
Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die für die Patienten vor Ort sicherzustellen.
Unionsfraktion. Wir haben deshalb dafür gesorgt, dass in allen Regio-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen Deutschlands die hervorragende Qualität unserer
ambulanten ärztlichen Versorgung gewahrt bleibt. Wir
haben auch dafür gesorgt, dass die hausarztzentrierte
Stephan Stracke (CDU/CSU): Versorgung unverändert weiterbesteht: Bestehende
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Hausarztverträge haben einen Bestandsschutz bis zum
Kolleginnen und Kollegen! Die christlich-liberale Koali- Juni des Jahres 2014 und damit eine sichere Rechts-
tion ist angetreten, das Gesundheitssystem solide und grundlage.
nachhaltig weiterzuentwickeln und damit auch künftigen
Generationen eine Versorgung auf hohem Niveau zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gewährleisten. Genau das machen wir, meine sehr ver- Wir begrenzen nicht nur die Ausgaben, sondern stär-
ehrten Damen und Herren von der Opposition. Was wir ken auch die Finanzierungsgrundlagen.
heute gemeinsam auf den Weg bringen, ist gut, weil wir
angesichts des hohen Defizits von rund 9 Milliarden
Euro, welches für das Jahr 2011 erwartet wird, die Aus- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gaben in der gesetzlichen Krankenversicherung mit Au- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
genmaß und der richtigen Balance begrenzen. Es ist
auch deswegen gut, weil wir die Finanzierungsgrundla- Stephan Stracke (CDU/CSU):
gen für die Zukunft stärken und dabei die soziale Ausge- Nein, erst einmal nicht. – Die großen Herausforderun-
wogenheit wahren. gen sind dabei die demografische Entwicklung und der
medizinisch-technische Fortschritt. Je größer der Anteil
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der älteren Menschen wird – darauf müssen wir hinwei-
neten der FDP)
sen –, desto höher sind die Ausgaben im Gesundheits-
Dabei stellen wir sicher, dass auch in Zukunft jeder system. Deswegen werden die Gesundheitsausgaben
den direkten Zugang zu unserem hervorragenden Ge- auch in Zukunft steigen. Aus diesem Grund entwickeln
sundheitssystem hat und niemand von der Exzellenz un- wir das Finanzierungssystem weiter. Dabei ist der Kern-
seres Gesundheitswesens ausgegrenzt wird. Die Alterna- gedanke, den Arbeitgeberbeitrag festzuschreiben, damit
tive dazu wären Abstriche vom Leistungskatalog, die Lohnkosten nicht weiter anwachsen. Wir finanzieren
Leistungsausgrenzung oder gar, wie manche fordern, dies über einen Zusatzbeitrag, der von einem Sozialaus-
(B) Priorisierungen von medizinischen Maßnahmen. Das ist gleich flankiert wird. (D)
nicht unsere Politik; das ist nicht unser Weg. Deshalb
Was setzt nun die werte Opposition entgegen? Was
machen wir das nicht.
erleben wir in der heutigen Debatte? Sie haben außer ne-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gativen Schlagworten nichts anzubieten. Sie folgen der
Maxime, dem Motto: Erlaubt ist, was gefällt. – Auch heute
Die christlich-liberale Koalition stand vor einer gro- wird wieder deutlich: Die Opposition setzt auf eine Politik,
ßen Herausforderung: Wie gehen wir mit dem Defizit die Neid als Keil einsetzt und Solidarität als Keule.
von 9 Milliarden Euro um? Dieses Defizit ist im Übrigen
nicht vom Himmel gefallen, sondern aufgrund der be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
wusst getroffenen Entscheidung der Großen Koalition Elke Ferner [SPD]: Das sagt der Klientelpoliti-
entstanden, Ausgabensteigerungen insbesondere im am- ker!)
bulanten und stationären Bereich vorzunehmen, die dazu Wir haben es mit der Unterstellung zu tun, die Fest-
dienten, die Versorgungsqualität weiter zu verbessern. schreibung der Arbeitgeberbeiträge sei unsolidarisch.
Wir handeln nun angesichts dieses Defizites. Dabei Aber wir – Sie und ich – wissen doch, dass steigende
haben wir die Grundsatzentscheidung getroffen, das De- Gesundheitskosten die Lohnnebenkosten erhöhen. Wir
fizit nicht ausschließlich auf der Einnahmeseite anzuge- wissen doch, dass sich dadurch die Wettbewerbsfähig-
hen, sondern auch über eine Begrenzung der Ausgaben. keit Deutschlands auf Dauer verschlechtern würde; da-
Das ist sicherlich nicht der einfache, bequeme Weg, aber durch würden Arbeitsplätze nicht gesichert, sondern ge-
ein Weg, der verantwortbar ist, weil er die Interessen der fährdet. Genau das wollen wir nicht. Deshalb ist die
Versicherten, vor allem der Beitragszahler, im Blick be- Festschreibung der Arbeitgeberbeiträge der richtige An-
hält. satz im Interesse aller Menschen in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben es auch mit der irrigen Annahme zu tun,
dass die Beitragszahler angesichts der in Zukunft stei-
Wir begrenzen die Ausgaben, aber nicht einseitig, genden Gesundheitsausgaben alleingelassen würden.
sondern mit dem rechten Maß, indem wir hier alle Betei- Das ist nichts anderes als eine verunglimpfende Stim-
ligten in die Verantwortung nehmen: die Arzneimittel- mungsmache; denn richtig ist, dass wir unseren Zusatz-
hersteller, die Ärzte, die Krankenhäuser, aber auch die beitrag mit einem Sozialausgleich über Steuern flankie-
Krankenkassen. Dabei wahren wir die Balance zwischen ren und somit alle Einkommensarten einbeziehen. Sie
dem, was einerseits notwendig ist, um die Ausgabenzu- wissen doch genauso wie ich, dass die 10 Prozent mit
wächse zu begrenzen, und dem, was andererseits erfor- den höchsten Einkommen um die 50 Prozent des Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7871
Stephan Stracke
(A) kommensteueraufkommens erbringen. Diese Mittel set- Sie haben gesagt, wir hätten das Defizit verursacht und (C)
zen wir im Rahmen des Sozialausgleichs ein. Das ist ge- machten jetzt keine Vorschläge.
recht, und das ist auch solidarisch.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Reiner Irrealis!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie produzieren innerhalb eines Jahres ein Defizit von
Wir setzen auf die Anreize, sich wirtschaftlich gegen- 10 Milliarden Euro und werfen uns dann vor, dass wir
über der Solidargemeinschaft zu verhalten. Das ist auch keine Vorschläge machen. Ja, wer regiert denn, Herr
der Hintergrund, warum wir sagen: Wir erstatten den So- Spahn, meine sehr verehrten Damen und Herren? Das ist
zialausgleich nur bis zum durchschnittlichen Zusatzbei- ja ein Witz.
trag. Das ist gerecht, das ist sozial. Wir machen uns hier
gemeinsam auf den Weg, die Finanzen der gesetzlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Krankenversicherung auf eine vernünftige Basis zu set- DIE GRÜNEN)
zen. Wir handeln verantwortlich und gewährleisten da- Wir haben Ihnen das Ministerium im dritten Quartal
durch, dass die hohe Versicherungs- und Versorgungs- mit 1,9 Milliarden Euro Überschuss übergeben. Jetzt ha-
qualität der Menschen auch in Zukunft garantiert wird. ben wir 10 Milliarden Euro Defizit, und Sie beklagen
Herzlichen Dank. sich, dass wir keine Vorschläge bringen. Das ist doch ab-
surd.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Da lachen Sie sich
ja selbst kaputt!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Karl Lauterbach – Nein, das ist die Wahrheit. Sie werden ausgelacht. Die
für die SPD-Fraktion. Leute lachen nicht über mich, sondern die Leute lachen
mit mir über Sie. Das ist die Tatsache!
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Karl Lauterbach (SPD): GRÜNEN und der LINKEN – Lachen bei der
CDU/CSU und der FDP)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine persönliche – Ja, das ist so.
Bemerkung. Diverse Male wurden heute von der Oppo-
sition Sachthemen angesprochen. In der Kritik unserer Jetzt zum Inhalt – –
Reden heißt es, wir würden nicht viel über die eigenen
Konzepte sagen. Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, wie Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) ungewöhnlich blass und inhaltslos die Rede des Minis- Herr Kollege Lauterbach, es wäre schon schön, wenn (D)
ters gewesen ist? Wann hört man eine so schwache Rede wir auch noch zur Sache debattieren würden.
eines Ministers, wenn er sein erstes großes Gesetz vor-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
stellt?
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Dr. Karl Lauterbach (SPD):
GRÜNEN und der LINKEN) Ich rede zur Sache. Herr Präsident, ich habe auf jeden
Wir haben doch nichts gehört. Der Minister war nicht in Fall schon mehr zur Sache geredet als der Minister in
der Lage, eine einzige Zwischenfrage zuzulassen. Ich seinem Redebeitrag.
kann mich bereits jetzt nicht mehr erinnern, meine sehr (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
verehrten Damen und Herren, weil er nichts gesagt hat. GRÜNEN und der LINKEN – Lachen bei der
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU und FDP – Heinz Lanfermann
GRÜNEN und der LINKEN – Lachen bei der [FDP]: Sie können sich doch gar nicht erin-
CDU/CSU und der FDP – Heinz Lanfermann nern, was er gesagt hat!)
[FDP]: Genau, das haben Sie nicht verstan- Hier wird vorgetragen, wir wären es gewesen, die die
den!) kleine Kopfpauschale, die am heutigen Tage durch die
Auch Sie wissen das. Diejenigen, die das bestreiten, Hintertür eingeführt wird, eingeführt hätten. Das ist eine
frage ich: Wer kann sich erinnern? Niemand weiß etwas. Unwahrheit. Wir haben Zusatzbeiträge eingeführt, die
5 Prozent der Gesamtausgaben nicht übersteigen durf-
So, und jetzt zu Ihnen, Herr Spahn. ten. Das heißt, jede weitere Ausgabensteigerung wäre zu
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Können Sie sich da- 5 Prozent in die Kopfpauschale gelaufen. Jetzt laufen
ran noch erinnern?) 100 Prozent der Ausgabensteigerung in die Kopfpau-
schale. Das ist der Unterschied. Von daher ist die Zusatz-
– An Ihre Rede kann ich mich erinnern. Ihnen will ich prämie heute zur Kopfpauschale geworden. Das ist heute
einen rhetorischen Rat geben. Im Rheinland sagt man: zu vertreten.
Die Menschen, die in ihrer Rede zu häufig von der Ehr-
lichkeit sprechen, sind die größten Lügner. Das trifft (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
heute auf Ihren Redebeitrag zu; denn Sie haben gesagt, GRÜNEN und der LINKEN)
dass wir die kleine Kopfpauschale wollten.
Sie versuchen, die Leute zu verdummen, indem Sie
(Beifall bei der SPD) sagen, die Parität könne sich wirtschaftlich nicht länger
7872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dr. Karl Lauterbach


(A) halten, das paritätische System sei am Ende. Seien Sie Für Sie haben die Arbeitgeber, die private Krankenversi- (C)
doch so ehrlich und räumen Sie ein, dass wir es mit der cherung und die Ärzte Priorität, nicht die Rentnerinnen
Parität geschafft haben, die Arbeitslosenzahl unter und Rentner.
3 Millionen zu drücken. Das System ist nicht kaputt, es
funktioniert. Sie wollen die Privatisierung, den System- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wechsel. Es geht Ihnen nicht um die Lohnzusatzkosten. Der Erfolg Ihrer Partei hängt wie bei keiner anderen Par-
Sie wollen das System amerikanisieren und privatisie- tei von den Wählerstimmen der Rentner ab.
ren. Sie sind aber zu feige, das ehrlich zuzugeben, meine
sehr verehrten Damen und Herren. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Können Sie einmal
anders als wahltaktisch argumentieren?)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN) Sie werden abgestraft werden. Die Menschen werden
das im Januar begreifen. Im Januar flattern die Rechnun-
In Wahrheit kassieren Sie die Rentner und die Gering- gen ins Haus, Herr Kauder. Dann werden die Leute ka-
verdiener ab, um den Arbeitgeberbeitrag einfrieren zu pieren, was diese Reform bedeutet. Dann werden nicht
können. Darauf läuft es hinaus. Der Rentner, der nur Ihre Umfrageergebnisse schlechter. Dann erhalten
800 Euro bezieht, bekommt bei einer durchschnittlichen Sie die Strafe dafür, dass Sie hier abkassieren.
Kopfpauschale von 20 Euro nur 4 Euro Sozialausgleich.
Wissen Sie, wie ich das nenne? Das ist kein Sozialaus- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Kennen Sie ei-
gleich; das ist ein Almosen. gentlich die Umfragen zur SPD in Baden-
Württemberg? Sie laufen den Grünen hinter-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie her! Sie sind die Fußkranken in Baden-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Württemberg!)
GRÜNEN)
Sie sind nicht bereit, offen dazu zu stehen.
Bei einer Rente von 1 000 Euro bekommt er gar keinen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sozialausgleich. Kein Geringverdiener mit einem mittle- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jens
ren Einkommen von 1 500 Euro kann einen Sozialaus- Spahn [CDU/CSU]: Das sind aber lange sie-
gleich erhalten, wenn die Kopfpauschale im Durch- ben Minuten!)
schnitt 30 Euro beträgt. Das ist ein Abkassieren bei den
kleinen Leute. Das ist weniger Netto vom Brutto für die Gestern wurde uns von Ihnen der Entwurf eines Ge-
Leute, die Guido Westerwelle als Leistungsträger be- setzes vorgelegt, das gut für die Pharmaindustrie und ge-
zeichnet hat. gen die Patienten gerichtet ist. Heute liegt uns ein Ge-
(B) setzentwurf vor, der gut für die Arbeitgeber und die (D)
Herr Westerwelle, die Leistungsträger, die 1 500 Euro private Krankenversicherung und ebenfalls gegen die
verdienen, büßen bei einer Kopfpauschale in Höhe von Patienten und Versicherten gerichtet ist. Ein solches Vor-
30 Euro 2 Prozent ihres Nettoeinkommens ein – ohne je- gehen ist einer Partei, die sich damit brüstet, eine christ-
den Sozialausgleich. Wollen Sie das den Geringverdie- liche Partei zu sein, unwürdig. Wo sind denn die christli-
nern, den Leistungsträgern und den Menschen in den chen Elemente in diesem Gesetzentwurf, Herr Kauder?
neuen Bundesländern anbieten? Davon ist nichts zu sehen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Jetzt
Ihnen geht es nicht um die Leistungsträger. Ihnen geht es
wird es ein bisschen maßlos!)
um die PKV. Ihnen geht es um die Arbeitgeber. Das ist
die Koalition des Kapitals, Herr Kauder. Dafür werden Dazu, dass die Vorkasse, die Abkassiererei eingeführt
Sie in Baden-Württemberg abgestraft. Darauf können wird, sagt uns der Minister: Die Menschen müssen das ja
Sie sich verlassen. Das kann ich Ihnen versichern, Herr nicht machen. Niemand hier ist so dumm, zu glauben,
Kauder. dass die Menschen das machen müssen. Als Minister ha-
ben Sie aber die Pflicht, die Menschen vor der Abzocke
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der zu schützen, und nicht, sie einzuführen, Herr Minister.
CDU/CSU: Oh!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
In diesen Tagen bin ich im Rahmen des Vorwahl- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
kampfes häufig in Baden-Württemberg. GRÜNEN)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die laden Sie Ich komme zum Schluss, bevor ich abgemahnt werde.
freiwillig ein?) Meine Redezeit ist abgelaufen.
Sie liegen falsch, wenn Sie glauben, dass es den Men- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihre Zeit ist rum,
schen dort nur um den Bahnhof in Stuttgart geht. Die nicht abgelaufen!)
Leute wissen ganz genau, wo Sie abkassieren.
Sie werden sich noch an meine Worte erinnern. Sie wer-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden den schon sehen. Ich habe gesagt: Wegen der miserablen
Unsinn!) Gesundheitspolitik wird Jürgen Rüttgers in Nordrhein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7873
Dr. Karl Lauterbach
(A) Westfalen demnächst seinen Stuhl räumen müssen. Ge- Selbstverwaltung vorgesehen. Davon profitieren insbe- (C)
nau so ist es gekommen. Das habe ich hier vorgetragen. sondere auch neue Bundesländer.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ein Prophet!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jetzt sage ich voraus: Herr Mappus wird der Nächste Bemerkenswert ist: Unser Vorgehen hat – das ist er-
sein, der sich wegen dieser Gesundheitspolitik verab- freulich – sogar die ausdrückliche Unterstützung von
schiedet. Hausärzten gefunden. In seiner jüngsten Pressemittei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lung lobt der Hausärzteverband Mecklenburg-Vorpom-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mern unsere beiden Gesetzesvorlagen und fordert sogar
seinen Dachverband zu einer konstruktiven Haltung auf.
Ob die Grünen oder wir dann vorne liegen, ist mir egal. Anders die stellvertretende SPD-Vorsitzende, Landes-
Hauptsache, es ist eine progressive, linke Partei, die ministerin Schwesig. Sie redet von angeblichen – ich zi-
weiß, wo das Herz schlägt. tiere wörtlich – „Millionen-Verlusten der Krankenhäuser
durch die Entscheidung der Bundesregierung gegen ei-
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
nen bundesweit einheitlichen Landesbasisfallwert“. Tat-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sächlich gibt es aber weder eine solche Entscheidung
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE noch die behaupteten Millionenverluste. Tatsächlich fin-
GRÜNEN) det nämlich 2010 bis 2014 die gesetzlich vorgeschrie-
bene Angleichung der Landesbasisfallwerte an den ge-
Präsident Dr. Norbert Lammert: setzlich vorgeschriebenen Korridor unverändert statt.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Das heißt, hier ändert sich in den nächsten vier Jahren
Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion. nichts. Die Krankenhäuser haben Planungssicherheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ach, sieh
an!)
Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Auch wird die im Gesetzentwurf vorgesehene wissen-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen schaftliche Untersuchung über die Ursachen unter-
und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! schiedlicher Basisfallwerte der Länder nicht gestrichen.
Wir legen heute den Entwurf eines GKV-Finanzierungs- Sie muss bis zum 30. Juni 2011 in Auftrag gegeben wer-
gesetzes vor, mit dem die Finanzierung der gesetzlichen den; dabei bleibt es.
Krankenversicherung stabilisiert wird, mit dem auch in
Und jetzt, Herr Kollege Lauterbach, zu Ihnen und Ih-
(B) langfristiger Hinsicht Weichen gestellt werden. rem Erinnerungsvermögen. Sie haben am 17. Dezember (D)
Die christlich-liberale Koalition hat gehandelt. Des- 2009 hier im Plenum des Deutschen Bundestages ein
halb wird es das befürchtete Milliardenloch im Gesund- durchgerechnetes Konzept versprochen. Wörtlich:
heitssystem nicht geben. Es ist eine gute Nachricht, dass
keine Leistungen gestrichen werden, sondern die Versor- Wir werden einen konkreten, durchfinanzierten
gung der Patienten unverändert gesichert ist. Vorschlag für eine Bürgerversicherung machen.
Das kündige ich hiermit an.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aha!)

Aus Sicht der neuen Bundesländer – ich spreche hier Sie haben angekündigt, dass wir uns damit – ich zi-
als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern – ist tiere wörtlich – „in Kürze auseinandersetzen müssen“.
die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung insbeson- Das war vor einem Jahr.
dere im ländlichen Raum eine der großen Sorgen. Die- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Demenz! Ich sage
ser Gesetzesentwurf wird hier zu spürbaren Verbesserun- nur: Demenz!)
gen führen.
Was ist aus dem lange angekündigten konkreten,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durchfinanzierten Vorschlag geworden? Der Berg
Erstens. Wir passen das Honorar der Zahnärzte in den kreißte, und am Montag hat das SPD-Präsidium ein Pa-
neuen Bundesländern in Richtung Westniveau an. pier zur Beschäftigung ihrer Generalsekretärin beschlos-
20 Jahre nach der deutschen Einheit ist das mehr als sen.
überfällig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Zweitens. Wir führen die Möglichkeit von Sicherstel- neten der FDP)
lungszuschlägen wieder ein. Damit können für nieder-
Darin stellt die SPD fest, dass ihr veraltetes Konzept ei-
lassungsinteressierte Ärzte gezielt Anreize gesetzt wer-
ner Bürgerversicherung aus dem Jahre 2004 seit spätes-
den, insbesondere in ländlichen Regionen.
tens 2006 überholt ist und überarbeitet werden muss.
(Beifall bei der CDU/CSU) Dazu, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie
nur vier Jahre gebraucht.
Drittens. Weil sich die bisherige Honorarreform der
Ärzte regional unterschiedlich ausgewirkt hat, ist eine (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
asymmetrische Aufteilung des Zuwachses durch die CDU/CSU und der FDP)
7874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dietrich Monstadt
(A) Mit der Überarbeitung ist die SPD noch nicht weit ge- rungen einer älter werdenden Bevölkerung, des medizi- (C)
kommen. Offenbar hat sie die erforderliche Muße noch nisch-technischen Fortschritts und steigender Kosten be-
nicht finden können. gegnen und gleichzeitig für alle Versicherten den
Zugang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbe
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sagen Sie etwas
deshalb um Ihre Zustimmung.
zur Sache! – Thomas Oppermann [SPD]: Re-
den Sie einmal über Ihren Gesetzentwurf!) Herzlichen Dank.
In dem SPD-Papier findet sich keine Spur des durch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
finanzierten Konzepts einer Bürgerversicherung, das
Sie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, vor einem Jahr ver-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
sprochen haben. Stattdessen wird in dem SPD-Papier die
Einsetzung einer Projektgruppe angekündigt, immer Ich schließe die Aussprache.
nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann Wir kommen nun zu den Abstimmungen über den
gründ’ ich einen Arbeitskreis. von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP einge-
(Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU]) brachten Entwurf eines GKV-Finanzierungsgesetzes.
Herr Kollege Dr. Lauterbach, erlauben Sie mir noch eine Ich bitte um Aufmerksamkeit für folgende Hinweise:
persönliche Bemerkung: Demenzbehandlung wird von Mir liegen zahlreiche persönliche Erklärungen zur Ab-
der gesetzlichen Krankenversicherung immer noch stimmung vor. 28 Kolleginnen und Kollegen aus den
finanziert. Reihen der CDU/CSU-Fraktion
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Zurufe von der SPD: Oh! – So viele?)
CDU/CSU und der FDP)
und zwei aus den Reihen der SPD-Fraktion geben solche
Und dann das unermüdliche Lamentieren über die an- persönliche Erklärungen zu Protokoll.1)
gebliche Einführung der Vorkassenregelung! Gemeint
ist die Wahlmöglichkeit von Patienten, Darüber hinaus möchten fünf Kolleginnen und Kolle-
gen aus den Reihen der Fraktion Die Linke persönliche
(Elke Ferner [SPD]: Sich abzocken zu lassen!) Erklärungen zur Abstimmung vortragen. Ich werde diese
sich für Kostenerstattung statt Sachleistung zu entschei- persönlichen Erklärungen nach den beiden namentlichen
den. Diese Wahlmöglichkeit existiert schon seit vielen Abstimmungen aufrufen. Ich weise schon jetzt darauf
Jahren. Sie wurde mehrfach umgestaltet und erweitert, hin, dass der Gegenstand dieser persönlichen Erklärun-
übrigens immer mit Zustimmung der SPD. Kostenerstat- gen nicht die Verlängerung der Debatte, sondern die Er-
(B)
tung ist aber nicht das Gleiche wie Vorkasse. Vorkasse läuterung persönlicher Motive mit Blick auf den jeweili- (D)
bedeutet, dass abweichend vom üblichen Vorgehen zu- gen Gegenstand ist, was in Anbetracht der verfügbaren
nächst eine Bezahlung der Ware oder Dienstleistung Zeit zu einer auf beiden Seiten verträglichen Konzentra-
erfolgt. Erst danach beginnt der Verkäufer oder Dienst- tion führen könnte.
leistungserbringer mit der Warenlieferung oder Dienst- Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-
leistung. schlussempfehlung auf Drucksache 17/3696, in Kennt-
Bei der Kostenerstattungsoption gibt es offensichtlich nis des Berichts des GKV-Spitzenverbandes über die Er-
keine Vorkasse im Verhältnis zwischen Patient und Arzt, fahrungen mit den Rechtsänderungen in § 13 Abs. 2 des
da der Arzt zuerst die Leistung erbringt und erst später Fünften Buches Sozialgesetzbuch, unter Buchstabe a,
eine Rechnung stellt. Auch im Verhältnis zwischen den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
Krankenkasse und Patient passt der Begriff Vorkasse der FDP auf Drucksache 17/3040 in der Ausschussfas-
nicht. Denn bevor der Patient seinen Erstattungsan- sung anzunehmen.
spruch bei der Krankenkasse geltend gemacht hat, sind Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
der Kasse diese Kosten weder nach Art noch nach Höhe Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
bekannt. Der Kostenerstattungsanspruch entsteht erst chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
zum Zeitpunkt der Vorlage. Erst dann kann und darf die mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit der
Kasse leisten. Der Begriff „Vorkasse“ ist im Hinblick auf Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
die Kostenerstattungsoption unter keinem tatsächlichen tion angenommen.
und rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
Wir kommen zur
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es
richtig!) dritten Beratung
Er ist einfach nur unseriös. und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-
men wir auf Verlangen der SPD-Fraktion namentlich ab.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, wir haben die letzten Mo- Ich mache darauf aufmerksam, dass im Anschluss an
nate genutzt, um den heute zur Abstimmung stehenden diese namentliche Abstimmung eine weitere namentli-
Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung che Abstimmung erfolgt.
unseres Gesundheitssystems zu erarbeiten. Mit dem
GKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforde- 1) Anlagen 2 bis 4
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7875
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Mitglied der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (C)
Plätze an den vorgesehenen Stellen einzunehmen. – Ich kenne ich viele kranke Menschen, chronisch kranke und
habe den Eindruck, dass alle Plätze ordnungsgemäß be- behinderte Menschen, die dauerhaft in ärztlicher Be-
setzt sind, und eröffne die Abstimmung. handlung sind. Gerade für sie ist ein Kassenwechsel oft
mit großen Problemen und Ängsten verbunden. Weil ich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: diese Ängste ernst nehme, muss ich diesen Gesetzent-
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine wurf ablehnen.
Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das scheint mir (Heinz Lanfermann [FDP]: Es kann nicht sein,
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim- dass Sie eine Rede halten! Das ist nicht zur
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, Abstimmung!)
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben.1) – Herr Lanfermann, es ist nicht Ihre Entscheidung, ob
ich hier zur Abstimmung rede oder nicht, sondern die
Wir setzen die namentlichen Abstimmungen fort und der Präsidentin.
kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/3708, zu dem ebenfalls na- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mentliche Abstimmung verlangt wurde. Ich bitte die Es geht hier um persönliche Erklärungen zur Abstim-
Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzu- mung. Das muss gewährleistet sein.
nehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das scheint der
Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Haben alle, die das wollen, ihre Stimmkarte abgeben Ich habe deshalb häufig die besorgte Frage von Bür-
können? – Alle konnten ihre Stimmkarte abgeben? gerinnen und Bürgern im Wahlkreis gehört, ob sie sich
(Zurufe: Nein!) ihre Krankenkasse im nächsten Jahr überhaupt noch leis-
ten können. Ich finde diese Frage nur zu berechtigt, auch
– Noch nicht. – Konnten jetzt alle ihre Stimmkarte abge- angesichts des Wahltarifs in Bezug auf die sogenannte
ben? – Das ist nun der Fall. Dann schließe ich die Ab- Kostenerstattung, bei der man das Geld für die Arztrech-
stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- nung aus eigener Tasche vorstrecken kann. Wer soll das
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis machen? Vor allem Behinderte und chronisch Kranke
wird Ihnen ebenfalls später bekannt gegeben.2) werden sich das nicht leisten können. Sie werden es sich
auch nicht leisten können, auf einem Teil ihrer Behand-
Verabredungsgemäß erteile ich jetzt das Wort zu per- lungskosten sitzen zu bleiben. Deswegen halte ich den
(B) sönlichen Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord- Gesetzentwurf für diskriminierend und ausgrenzend und (D)
nung, zunächst Kathrin Vogler. habe dagegengestimmt.

Kathrin Vogler (DIE LINKE): Ich habe auch deshalb gegen den Gesetzentwurf ge-
stimmt, weil unter Ausschaltung der Rechte der Opposi-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
tion erst vor vier Tagen durch einen Änderungsantrag ein
und Kollegen, ich möchte doch noch einmal erklären,
völlig neuer Sachverhalt hineingeschmuggelt wurde. Die
warum ich dieses GKV-Finanzierungsgesetz abgelehnt
umstrittene elektronische Gesundheitskarte soll jetzt be-
habe. Ich habe das getan als Mitglied einer gesetzlichen
schleunigt eingeführt werden. Mindestens 10 Prozent
Krankenkasse, das sich entschieden für eine Kranken-
der Versicherten sollen innerhalb eines Jahres damit aus-
versicherung einsetzen will, in der die Gesunden für die
gestattet werden. Schaffen die Krankenkassen das nicht,
Kranken und die finanziell Stärkeren für die finanziell
dann werden sie finanziell bestraft.
Schwächeren einstehen. Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf wird dieser verbliebene Rest an Solidarität auf- Für mich sind in diesem Punkt noch zu viele Fragen
gekündigt. offen, die wir nicht in einem ordentlichen parlamentari-
schen Verfahren klären konnten, zum Beispiel zur Da-
Mit dem, was Sie als einkommensunabhängige Zu- tensicherheit und zu den immensen Kosten, die dieses
satzbeiträge einführen, nämlich der Kopfpauschale, soll Projekt zur Karte 21 machen könnten. Das kann ich
ich als Bundestagsabgeordnete nächstes Jahr womöglich nicht verantworten.
den gleichen Zusatzbeitrag wie die Sachbearbeiterin in
meinem Büro zahlen. Ihr Beitrag erhöht sich dadurch Aus all diesen Gründen habe ich den Gesetzentwurf
aber sehr viel stärker als meiner. Das halte ich für unge- abgelehnt.
recht – und die Sachbearbeiterin wahrscheinlich noch
(Beifall bei der LINKEN)
mehr. Deswegen kann ich diesem Gesetzentwurf nicht
zustimmen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Martina Bunge.
Sie halten uns entgegen, man könne die Zusatzbei- (Zuruf von der FDP: Sie hat doch schon ge-
träge minimieren, indem man die Kasse wechsele. Als sprochen! – Gegenruf der Abg. Dr. Martina
Bunge [DIE LINKE]: Ich habe noch nicht ge-
1) Ergebnis Seite 7878 A sprochen! – Weiterer Zuruf von der LINKEN:
2) Ergebnis Seite 7880 C Das war gestern!)
7876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) – Ich weise noch einmal darauf hin, dass es hier um per- keine persönliche Erklärung, sondern eine Verlängerung (C)
sönliche Erklärungen und nicht um eine Verlängerung der Debatte ist.
der Debatte geht.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Gut. Ich lasse den Namen weg.
Danke, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegen und
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist ja nun das
Kolleginnen! Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil Sie
zwar vorgeben, damit eine nachhaltige und sozial ausge- Allerschlimmste! Für wie blöd halten Sie uns
wogene Finanzierung zu erreichen – so heißt es zumin- denn?)
dest im Titel des Entwurfs –, weil Sie aber tatsächlich Der Punkt ist vorhin betont worden.
durch die Hintertür die Kopfpauschale einführen, die
Beiträge der Arbeitgeber einfrieren und die Versicherten (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sollten mal
künftig mit allen Kostensteigerungen allein lassen. So die Geschäftsordnung lesen!)
zerschlägt Schwarz-Gelb die solidarische Krankenversi- Die Frage ist jetzt, ob Löhne erhöht werden oder Per-
cherung. sonal aufgestockt wird. Beides wäre nötig. Aber das un-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben keine terbinden Sie. Deshalb lehne ich den Gesetzentwurf ab.
Redezeit von Ihrer Fraktion bekommen! Des- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
halb dürfen wir uns das jetzt anhören!) Besser wäre es, Sie träten ab!)
Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Ich lehne ihn auch deshalb ab, weil er unnötig ist. Der
Herr Lanfermann. Umstieg in die Kopfpauschale könnte mit einer Sofort-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, natürlich!) maßnahme vermieden werden. Das Milliardenloch
könnte anders gestopft werden.
Das ist zutiefst sozial ungerecht.
Wir schlagen vor, die Verschiebebahnhöfe zwischen
(Heinz Lanfermann [FDP]: Danke!) den Sozialversicherungskassen, zum Beispiel bei den
Deshalb stimme ich gegen diesen Gesetzentwurf. Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Beziehern, end-
lich zu beseitigen. Dann wäre das Gesetz unnötig, und
(Beifall bei der LINKEN) wir könnten uns in Ruhe mit einer solidarischen Lösung
Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil Sie des Weite- für das Gesundheitssystem beschäftigen. Die Bevölke-
ren den Angleichungsprozess der Bundesländer nicht rung ist für dieses System. 80 Prozent stehen dahinter.
Wir müssen es erhalten und ausbauen, wir müssen es fit-
(B) nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen machen für die Zukunft. Eine Bürgerinnen- und Bürger- (D)
Nord und Süd aufhalten. Ganz massiv wirkt sich das bei-
spielsweise auf die Krankenhäuser in meinem Bundes- versicherung wäre der beste Weg.
land Mecklenburg-Vorpommern aus. Dort haben wir den Da Sie nicht vernünftig diskutieren, sondern alles in
niedrigsten Landesbasisfallwert der Bundesrepublik. drei Sitzungswochen durchziehen, lehne ich den Gesetz-
Der Fahrplan hin zu einem einheitlichen Wert für das ge- entwurf ab.
samte Bundesgebiet war bereits geregelt. Sie kippen das
Ganze. Die Zeit ist reif, dass eine Blinddarmoperation in (Beifall bei der LINKEN)
Mecklenburg-Vorpommern das gleiche Geld bringt wie
eine Blinddarmoperation in Rheinland-Pfalz. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Ulrike Flach [FDP]: Was hat das jetzt damit Ich weise ein letztes Mal darauf hin, dass es sich um
zu tun?) persönliche Erklärungen handeln muss.
Es mag zwar regionale Unterschiede geben, aber wenn (Thomas Oppermann [SPD]: Das sind alles
Sie in diesem Bereich auf Wettbewerb setzen, dann kann Debattenbeiträge!)
ich dieser Ausrichtung nicht folgen. Dazu gehört es gegebenenfalls auch nicht, die Positionen
(Beifall bei der LINKEN) der eigenen Fraktionen darzustellen. Diesen Unterschied
müssen wir machen.
Im Übrigen bringt die unterschiedliche Bezahlung,
die Sie beibehalten wollen, die Krankenhäuser weiter in Als Nächster hat Harald Weinberg das Wort.
Bedrängnis. Wenn das Geld fehlt, geht das zulasten der (Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt kommt
Beschäftigten und der Patientinnen und Patienten. Kol- noch mal so ein Debattenbeitrag! Das ist doch
lege Monstadt, es trifft nicht zu, dass alles gut weiterge-
nicht in Ordnung, Frau Präsidentin! – Gegen-
hen kann. Alle Kalkulationen werden mit diesem Ge-
ruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
setzentwurf null und nichtig.
LINKE]: Sie haben ihn ja noch nicht einmal
gehört!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Bunge, ich muss Sie darauf hinweisen, dass der Harald Weinberg (DIE LINKE):
Disput mit anderen Abgeordneten
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht zulässig legen! Meine Damen und Herren! Ich lehne dieses Ge-
ist!) setz ab und habe dagegen gestimmt, weil diese Regelun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7877
Harald Weinberg
(A) gen dazu führen, dass das kommunale Klinikum in veranlasst mich, von meinem parlamentarischen Recht (C)
meiner Heimatstadt Nürnberg mit Sicherheit in eine Gebrauch zu machen, mein Abstimmungsverhalten vor
schwierige finanzielle Lage kommt. Bis vor einem Jahr dem Deutschen Bundestag zu begründen.
war ich Stadtrat in meiner Heimatstadt und damit auch Ich stimme dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht
mitverantwortlich für das kommunale Klinikum. Als zu; denn dieses Gesetz wird das seit 127 Jahren beste-
Verdi-Mitglied bin ich ebenfalls mitverantwortlich für hende Solidarprinzip als Fundament der solidarischen
die Mitarbeiter in diesem Klinikum. und paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems
Das genannte Krankenhaus hat es mit Mühe ge- in nie dagewesener Weise beschädigen.
schafft, im letzten Jahr wieder in die schwarzen Zahlen Ich stimme dagegen, weil, anstatt das Solidarprinzip
zu kommen. Insgesamt steigen die Erlöse pro Fall für die in der gesetzlichen Krankenversicherung auszubauen
Krankenhäuser im Jahr 2011 gerade einmal um und weiterzuentwickeln, heute mit den Stimmen von
0,9 Prozent. Damit können die Krankenhäuser die Tarif- Union und FDP die Solidarität zwischen den Gesunden
steigerungen nicht bezahlen. Der Marburger Bund und den Kranken, den Armen und den Reichen und zwi-
– Herr Henke wird das als Vorsitzender sicher bestätigen schen den Jungen und den Alten folgenschwer aufge-
können – wird sich nicht mit einer Steigerung von kündigt wird.
1 Prozent abspeisen lassen. Umso weniger Geld wird es
für die berechtigten Forderungen von Verdi und der Als pflegepolitische Sprecherin der Fraktion Die
Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger geben. Linke im Bundestag und als gewählte Vertreterin der
Menschen in meinem Wahlkreis Ludwigshafen/
Hinzu kommen die steigenden Sachkosten. Nach mei- Frankenthal, im Rhein-Pfalz-Kreis und darüber hinaus
ner Auffassung wird die Folge ein noch höherer Druck muss ich der Tatsache Rechnung tragen, dass das zur
auf die Beschäftigten in den Krankenhäusern sein. Da- Abstimmung gestellte Finanzierungsgesetz an den Be-
mit wird die Behandlungsqualität zwangsläufig weiter dürfnissen der Versicherten, der Patienten und insbeson-
sinken. Dennoch werden die Sparbemühungen nicht aus- dere der pflegebedürftigen Menschen komplett vorbei-
reichen. Viele Krankenhäuser werden wie das Kranken- geht.
haus in meiner Heimatstadt Nürnberg wieder in die roten (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, natürlich!)
Zahlen rutschen, und dann werden die Privatisierungs-
diskussionen wieder anfangen. Dieses Gesetz setzt allein auf eine Finanzreform und
folgt dabei dem Kalkül, das Erfordernis der Zustimmung
Die Versicherten, die Patientinnen und Patienten so- durch den Bundesrat zu umgehen.
wie ein großer Teil der Beschäftigten im Gesundheitswe-
sen zahlen die Zeche. Das ist kein Unfall, sondern die (Heinz Lanfermann [FDP]: Wo weicht denn
(B) Politik von CDU/CSU und FDP. Das ist ein Skandal. Ihre Meinung von der Ihrer Fraktion ab? Sie (D)
wiederholen hier nur die Argumente, die schon
Deshalb stimme ich diesem Gesetz nicht zu. einmal vorgetragen wurden, und lassen Herrn
Gysi sprechen, der keine Ahnung hat, und wie-
Es wird auch dazu führen, dass wir in den Kliniken
derholen die Argumente alle nachher!)
Personalabbau haben werden. Ich werde die Folgen die-
ses Gesetzes in der Öffentlichkeit thematisieren. Ich – Wer schreit, hat unrecht.
werde versuchen, den Menschen zu vermitteln, dass (Beifall bei der LINKEN)
diese Bundesregierung, die sich gegen die Mehrheit der
Menschen durchgesetzt hat, abgewählt gehört, und das Im Wesentlichen wird damit auf eine einseitige Erhö-
einzig Gute an diesem Gesetz ist, dass es 2013 wieder hung der Abgabenlast gesetzt. Das ist für mich inakzep-
einkassiert werden kann. tabel. Ich erachte es für notwendig, dass bei Reformpro-
jekten im Gesundheitsbereich gerade den Wünschen und
Danke. Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten und der
(Beifall bei der LINKEN) pflegebedürftigen Menschen entsprochen wird.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Der Kollege Ilja Seifert hat seine Erklärung schrift- Frau Kollegin, kommen Sie jetzt zum persönlichen
lich abgegeben. Jetzt hat die Kollegin Senger-Schäfer Teil Ihrer persönlichen Erklärung?
das Wort.1) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Glatter Miss-
brauch! Jetzt ist mal Schluss hier!)
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
Auch ich möchte eine persönliche Erklärung dazu abge- Ich stimme dagegen, weil es keine Lösung ist, allein
ben, warum ich diesem Gesetz nicht zustimme. Ich auf die Finanzierung zu setzen. Für uns gilt: Gesundheit
stimme dagegen, weil dieses Gesetz in seinen zukünfti- ist keine Ware. Deshalb stimme ich dagegen.
gen Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann
der Bürgerinnen und Bürger nach meiner Auffassung [FDP]: Wofür haben wir eigentlich Regeln? –
einmalig ist. Diese Einmaligkeit seiner Auswirkungen Volker Kauder [CDU/CSU]: Frechheit! –
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Unerhört,
1) Anlage 2 was hier stattfindet!)
7878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich komme zunächst zum Entwurf eines Gesetzes zur (C)
Ich gebe Ihnen jetzt die von den Schriftführerinnen nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der
und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der nament- Gesetzlichen Krankenversicherung, Drucksachen 17/3040
lichen Abstimmungen bekannt. und 17/3696. Abgegebene Stimmen 559. Mit Ja haben
gestimmt 306, mit Nein haben gestimmt 253.

Endgültiges Ergebnis Ingo Gädechens Manfred Kolbe Josef Rief


Abgegebene Stimmen: 558; Dr. Thomas Gebhart Dr. Rolf Koschorrek Klaus Riegert
davon Norbert Geis Hartmut Koschyk Dr. Heinz Riesenhuber
Alois Gerig Thomas Kossendey Johannes Röring
ja: 305
Eberhard Gienger Michael Kretschmer Dr. Christian Ruck
nein: 253 Michael Glos Gunther Krichbaum Erwin Rüddel
Peter Götz Dr. Günter Krings Albert Rupprecht (Weiden)
Ja Dr. Wolfgang Götzer Rüdiger Kruse Anita Schäfer (Saalstadt)
Reinhard Grindel Bettina Kudla Dr. Andreas Scheuer
CDU/CSU Hermann Gröhe Dr. Hermann Kues Karl Schiewerling
Michael Grosse-Brömer Günter Lach Tankred Schipanski
Ilse Aigner Markus Grübel Andreas G. Lämmel Georg Schirmbeck
Peter Altmaier Manfred Grund Dr. Norbert Lammert Christian Schmidt (Fürth)
Peter Aumer Monika Grütters Katharina Landgraf Patrick Schnieder
Dorothee Bär Dr. Karl-Theodor Freiherr Ulrich Lange Dr. Andreas Schockenhoff
Thomas Bareiß zu Guttenberg Dr. Max Lehmer Dr. Ole Schröder
Norbert Barthle Olav Gutting Paul Lehrieder Bernhard Schulte-Drüggelte
Günter Baumann Florian Hahn Dr. Ursula von der Leyen Uwe Schummer
Ernst-Reinhard Beck Holger Haibach Ingbert Liebing Armin Schuster (Weil am
(Reutlingen) Dr. Stephan Harbarth Matthias Lietz Rhein)
Manfred Behrens (Börde) Jürgen Hardt Dr. Carsten Linnemann Detlef Seif
Veronika Bellmann Gerda Hasselfeldt Patricia Lips Johannes Selle
Dr. Christoph Bergner Dr. Matthias Heider Dr. Jan-Marco Luczak Reinhold Sendker
Peter Beyer Mechthild Heil Dr. Michael Luther Dr. Patrick Sensburg
Steffen Bilger Ursula Heinen-Esser Karin Maag Bernd Siebert
(B) Clemens Binninger Frank Heinrich Dr. Thomas de Maizière Thomas Silberhorn (D)
Peter Bleser Rudolf Henke Hans-Georg von der Marwitz Johannes Singhammer
Dr. Maria Böhmer Michael Hennrich Andreas Mattfeldt Jens Spahn
Wolfgang Börnsen Jürgen Herrmann Stephan Mayer (Altötting) Carola Stauche
(Bönstrup) Ansgar Heveling Dr. Michael Meister Dr. Frank Steffel
Wolfgang Bosbach Ernst Hinsken Maria Michalk Erika Steinbach
Norbert Brackmann Peter Hintze Dr. h. c. Hans Michelbach Christian Freiherr von Stetten
Klaus Brähmig Christian Hirte Dr. Mathias Middelberg Dieter Stier
Michael Brand Robert Hochbaum Philipp Mißfelder Gero Storjohann
Helmut Brandt Franz-Josef Holzenkamp Dietrich Monstadt Stephan Stracke
Dr. Ralf Brauksiepe Joachim Hörster Marlene Mortler Karin Strenz
Dr. Helge Braun Anette Hübinger Stefan Müller (Erlangen) Thomas Strobl (Heilbronn)
Heike Brehmer Thomas Jarzombek Nadine Schön (St. Wendel) Lena Strothmann
Ralph Brinkhaus Dieter Jasper Dr. Philipp Murmann Michael Stübgen
Gitta Connemann Dr. Franz Josef Jung Bernd Neumann (Bremen) Dr. Peter Tauber
Leo Dautzenberg Andreas Jung (Konstanz) Michaela Noll Antje Tillmann
Alexander Dobrindt Dr. Egon Jüttner Dr. Georg Nüßlein Dr. Hans-Peter Uhl
Thomas Dörflinger Bartholomäus Kalb Franz Obermeier Arnold Vaatz
Marie-Luise Dött Hans-Werner Kammer Henning Otte Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Dr. Thomas Feist Steffen Kampeter Dr. Michael Paul Stefanie Vogelsang
Enak Ferlemann Alois Karl Rita Pawelski Andrea Astrid Voßhoff
Ingrid Fischbach Bernhard Kaster Ulrich Petzold Dr. Johann Wadephul
Hartwig Fischer (Göttingen) Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Joachim Pfeiffer Marco Wanderwitz
Dirk Fischer (Hamburg) Schwenningen) Sibylle Pfeiffer Kai Wegner
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Volker Kauder Beatrix Philipp Marcus Weinberg (Hamburg)
Land) Dr. Stefan Kaufmann Ronald Pofalla Peter Weiß (Emmendingen)
Dr. Maria Flachsbarth Roderich Kiesewetter Christoph Poland Sabine Weiss (Wesel I)
Klaus-Peter Flosbach Eckart von Klaeden Ruprecht Polenz Ingo Wellenreuther
Dr. Hans-Peter Friedrich Ewa Klamt Eckhard Pols Karl-Georg Wellmann
(Hof) Volkmar Klein Daniela Raab Peter Wichtel
Michael Frieser Jürgen Klimke Dr. Peter Ramsauer Annette Widmann-Mauz
Erich G. Fritz Axel Knoerig Eckhardt Rehberg Klaus-Peter Willsch
Hans-Joachim Fuchtel Jens Koeppen Katherina Reiche (Potsdam) Elisabeth Winkelmeier-
Alexander Funk Dr. Kristina Schröder Lothar Riebsamen Becker
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7879
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Dr. Matthias Zimmer Hans-Joachim Otto Dagmar Freitag Anton Schaaf (C)
Wolfgang Zöller (Frankfurt) Peter Friedrich Axel Schäfer (Bochum)
Willi Zylajew Gisela Piltz Sigmar Gabriel Marianne Schieder
Dr. Christiane Ratjen- Michael Gerdes (Schwandorf)
FDP Damerau Martin Gerster Werner Schieder (Weiden)
Dr. Birgit Reinemund Iris Gleicke Silvia Schmidt (Eisleben)
Christian Ahrendt Olaf Scholz
Dr. Peter Röhlinger Günter Gloser
Christine Aschenberg- Björn Sänger Swen Schulz (Spandau)
Angelika Graf (Rosenheim)
Dugnus Frank Schäffler Ewald Schurer
Michael Groschek
Daniel Bahr (Münster) Christoph Schnurr Frank Schwabe
Michael Groß
Florian Bernschneider Jimmy Schulz Rolf Schwanitz
Wolfgang Gunkel
Sebastian Blumenthal Marina Schuster Stefan Schwartze
Hans-Joachim Hacker
Claudia Bögel Dr. Erik Schweickert Rita Schwarzelühr-Sutter
Bettina Hagedorn
Nicole Bracht-Bendt Werner Simmling Dr. Carsten Sieling
Klaus Hagemann
Klaus Breil Judith Skudelny Michael Hartmann Sonja Steffen
Rainer Brüderle Dr. Hermann Otto Solms (Wackernheim) Peer Steinbrück
Angelika Brunkhorst Joachim Spatz Hubertus Heil (Peine) Dr. Frank-Walter Steinmeier
Ernst Burgbacher Dr. Max Stadler Rolf Hempelmann Christoph Strässer
Marco Buschmann Torsten Staffeldt Dr. Barbara Hendricks Kerstin Tack
Sylvia Canel Stephan Thomae Gabriele Hiller-Ohm Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Helga Daub Florian Toncar Petra Hinz (Essen) Franz Thönnes
Reiner Deutschmann Serkan Tören Frank Hofmann (Volkach) Wolfgang Tiefensee
Dr. Bijan Djir-Sarai Johannes Vogel Dr. Eva Högl Rüdiger Veit
Patrick Döring (Lüdenscheid) Christel Humme Dr. Marlies Volkmer
Mechthild Dyckmans Dr. Daniel Volk Josip Juratovic Heidemarie Wieczorek-Zeul
Rainer Erdel Dr. Guido Westerwelle Oliver Kaczmarek Dr. Dieter Wiefelspütz
Jörg van Essen Dr. Claudia Winterstein Johannes Kahrs Waltraud Wolff
Ulrike Flach Dr. Volker Wissing Ulrich Kelber (Wolmirstedt)
Otto Fricke Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Lars Klingbeil Manfred Zöllmer
Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Ulrich Klose Brigitte Zypries
Hans-Michael Goldmann Dr. Bärbel Kofler
Heinz Golombeck
Nein DIE LINKE
Daniela Kolbe (Leipzig)
Miriam Gruß Anette Kramme
CDU/CSU Agnes Alpers
Joachim Günther (Plauen) Nicolette Kressl
Josef Göppel Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Christel Happach-Kasan Angelika Krüger-Leißner
(B) Heinz-Peter Haustein Max Straubinger Herbert Behrens (D)
Ute Kumpf Karin Binder
Manuel Höferlin Christine Lambrecht
SPD Matthias W. Birkwald
Elke Hoff Christian Lange (Backnang) Heidrun Bluhm
Birgit Homburger Ingrid Arndt-Brauer Dr. Karl Lauterbach Steffen Bockhahn
Dr. Werner Hoyer Rainer Arnold Steffen-Claudio Lemme Eva Bulling-Schröter
Heiner Kamp Heinz-Joachim Barchmann Burkhard Lischka Dr. Martina Bunge
Michael Kauch Doris Barnett Gabriele Lösekrug-Möller Roland Claus
Dr. Lutz Knopek Dr. Hans-Peter Bartels Caren Marks Sevim Dağdelen
Pascal Kober Klaus Barthel Katja Mast Dr. Diether Dehm
Dr. Heinrich L. Kolb Sören Bartol Hilde Mattheis Heidrun Dittrich
Gudrun Kopp Bärbel Bas Petra Merkel (Berlin) Werner Dreibus
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dirk Becker Dr. Matthias Miersch Dr. Dagmar Enkelmann
Sebastian Körber Uwe Beckmeyer Franz Müntefering Wolfgang Gehrcke
Holger Krestel Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Rolf Mützenich Nicole Gohlke
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Gerd Bollmann Andrea Nahles Diana Golze
Heinz Lanfermann Klaus Brandner Manfred Nink Annette Groth
Sibylle Laurischk Willi Brase Thomas Oppermann Dr. Gregor Gysi
Harald Leibrecht Bernhard Brinkmann Holger Ortel Heike Hänsel
Sabine Leutheusser- (Hildesheim) Aydan Özoğuz Inge Höger
Schnarrenberger Edelgard Bulmahn Heinz Paula Dr. Barbara Höll
Lars Lindemann Ulla Burchardt Johannes Pflug Andrej Hunko
Christian Lindner Petra Crone Joachim Poß Ulla Jelpke
Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Peter Danckert Dr. Wilhelm Priesmeier Katja Kipping
Michael Link (Heilbronn) Martin Dörmann Dr. Sascha Raabe Harald Koch
Dr. Erwin Lotter Elvira Drobinski-Weiß Mechthild Rawert Jan Korte
Horst Meierhofer Garrelt Duin Gerold Reichenbach Jutta Krellmann
Patrick Meinhardt Sebastian Edathy Dr. Carola Reimann Katrin Kunert
Gabriele Molitor Siegmund Ehrmann Sönke Rix Caren Lay
Petra Müller (Aachen) Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Ernst Dieter Rossmann Sabine Leidig
Burkhardt Müller-Sönksen Petra Ernstberger Karin Roth (Esslingen) Ralph Lenkert
Dr. Martin Neumann Elke Ferner Michael Roth (Heringen) Michael Leutert
(Lausitz) Gabriele Fograscher Marlene Rupprecht Ulla Lötzer
Dirk Niebel Dr. Edgar Franke (Tuchenbach) Thomas Lutze
7880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Ulrich Maurer Halina Wawzyniak Dr. Anton Hofreiter Dr. Konstantin von Notz (C)
Dorothee Menzner Harald Weinberg Ingrid Hönlinger Omid Nouripour
Cornelia Möhring Jörn Wunderlich Thilo Hoppe Friedrich Ostendorff
Kornelia Möller Uwe Kekeritz Dr. Hermann Ott
Wolfgang Nešković BÜNDNIS 90/ Katja Keul Lisa Paus
Thomas Nord DIE GRÜNEN Memet Kilic Brigitte Pothmer
Petra Pau Sven-Christian Kindler Tabea Rößner
Jens Petermann Kerstin Andreae Maria Klein-Schmeink Claudia Roth (Augsburg)
Richard Pitterle Marieluise Beck (Bremen) Ute Koczy Manuel Sarrazin
Yvonne Ploetz Volker Beck (Köln) Tom Koenigs Elisabeth Scharfenberg
Ingrid Remmers Cornelia Behm Sylvia Kotting-Uhl Christine Scheel
Birgitt Bender Oliver Krischer
Paul Schäfer (Köln) Dr. Gerhard Schick
Viola von Cramon-Taubadel Agnes Krumwiede
Dr. Ilja Seifert Dr. Frithjof Schmidt
Ekin Deligöz Fritz Kuhn
Kathrin Senger-Schäfer Stephan Kühn Dorothea Steiner
Raju Sharma Katja Dörner Dr. Wolfgang Strengmann-
Hans-Josef Fell Renate Künast
Dr. Petra Sitte Markus Kurth Kuhn
Kersten Steinke Dr. Thomas Gambke Hans-Christian Ströbele
Undine Kurth (Quedlinburg)
Sabine Stüber Kai Gehring Monika Lazar Dr. Harald Terpe
Alexander Süßmair Katrin Göring-Eckardt Nicole Maisch Markus Tressel
Dr. Kirsten Tackmann Britta Haßelmann Agnes Malczak Jürgen Trittin
Dr. Axel Troost Bettina Herlitzius Jerzy Montag Daniela Wagner
Alexander Ulrich Winfried Hermann Kerstin Müller (Köln) Wolfgang Wieland
Kathrin Vogler Priska Hinz (Herborn) Beate Müller-Gemmeke Dr. Valerie Wilms
Johanna Voß Ulrike Höfken Ingrid Nestle Josef Philip Winkler

Jetzt komme ich zur namentlichen Abstimmung über nen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversiche-
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke rung. Abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben ge-
– Drucksachen 17/3708 und 17/3696 – zum Entwurf stimmt 61, mit Nein haben gestimmt 308. Enthaltungen
eines Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewoge- gab es 186.

(B) (D)
Endgültiges Ergebnis Inge Höger Dr. Kirsten Tackmann Klaus Brähmig
Abgegebene Stimmen: 555; Dr. Barbara Höll Alexander Ulrich Michael Brand
davon Andrej Hunko Kathrin Vogler Helmut Brandt
Ulla Jelpke Johanna Voß Dr. Ralf Brauksiepe
ja: 61
Harald Koch Halina Wawzyniak Dr. Helge Braun
nein: 308 Jan Korte Harald Weinberg Heike Brehmer
enthalten: 186 Jutta Krellmann Jörn Wunderlich Ralph Brinkhaus
Katrin Kunert Gitta Connemann
Ja Caren Lay Leo Dautzenberg
Nein
Sabine Leidig Alexander Dobrindt
DIE LINKE Ralph Lenkert CDU/CSU Thomas Dörflinger
Michael Leutert Marie-Luise Dött
Agnes Alpers Ulla Lötzer Ilse Aigner Dr. Thomas Feist
Dr. Dietmar Bartsch Thomas Lutze Peter Altmaier Enak Ferlemann
Herbert Behrens Ulrich Maurer Peter Aumer Ingrid Fischbach
Karin Binder Dorothee Menzner Dorothee Bär Hartwig Fischer (Göttingen)
Matthias W. Birkwald Cornelia Möhring Thomas Bareiß Dirk Fischer (Hamburg)
Heidrun Bluhm Kornelia Möller Norbert Barthle Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Steffen Bockhahn Wolfgang Nešković Günter Baumann Land)
Eva Bulling-Schröter Thomas Nord Ernst-Reinhard Beck Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Martina Bunge Petra Pau (Reutlingen) Klaus-Peter Flosbach
Roland Claus Jens Petermann Manfred Behrens (Börde) Dr. Hans-Peter Friedrich
Sevim Dağdelen Richard Pitterle Veronika Bellmann (Hof)
Dr. Diether Dehm Yvonne Ploetz Dr. Christoph Bergner Michael Frieser
Heidrun Dittrich Ingrid Remmers Peter Beyer Erich G. Fritz
Werner Dreibus Paul Schäfer (Köln) Steffen Bilger Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Ilja Seifert Clemens Binninger Alexander Funk
Wolfgang Gehrcke Kathrin Senger-Schäfer Peter Bleser Ingo Gädechens
Nicole Gohlke Raju Sharma Dr. Maria Böhmer Dr. Thomas Gebhart
Diana Golze Dr. Petra Sitte Wolfgang Börnsen Norbert Geis
Annette Groth Kersten Steinke (Bönstrup) Alois Gerig
Dr. Gregor Gysi Sabine Stüber Wolfgang Bosbach Eberhard Gienger
Heike Hänsel Alexander Süßmair Norbert Brackmann Michael Glos
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7881
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Josef Göppel Ulrich Lange Dr. Patrick Sensburg Ulrike Flach (C)
Peter Götz Dr. Max Lehmer Bernd Siebert Otto Fricke
Dr. Wolfgang Götzer Paul Lehrieder Thomas Silberhorn Dr. Edmund Peter Geisen
Reinhard Grindel Dr. Ursula von der Leyen Johannes Singhammer Hans-Michael Goldmann
Hermann Gröhe Ingbert Liebing Jens Spahn Heinz Golombeck
Michael Grosse-Brömer Matthias Lietz Carola Stauche Miriam Gruß
Markus Grübel Dr. Carsten Linnemann Dr. Frank Steffel Joachim Günther (Plauen)
Manfred Grund Patricia Lips Erika Steinbach Dr. Christel Happach-Kasan
Monika Grütters Dr. Jan-Marco Luczak Christian Freiherr von Stetten Heinz-Peter Haustein
Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Michael Luther Dieter Stier Manuel Höferlin
zu Guttenberg Karin Maag Gero Storjohann Elke Hoff
Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Stephan Stracke Birgit Homburger
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Max Straubinger Dr. Werner Hoyer
Holger Haibach Andreas Mattfeldt Karin Strenz Heiner Kamp
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Kauch
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Lena Strothmann Dr. Lutz Knopek
Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Michael Stübgen Pascal Kober
Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Peter Tauber Dr. Heinrich L. Kolb
Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Antje Tillmann Gudrun Kopp
Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Frank Heinrich Dietrich Monstadt Arnold Vaatz Sebastian Körber
Rudolf Henke Marlene Mortler Volkmar Vogel (Kleinsaara) Holger Krestel
Michael Hennrich Stefan Müller (Erlangen) Stefanie Vogelsang Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Jürgen Herrmann Nadine Schön (St. Wendel) Andrea Astrid Voßhoff Heinz Lanfermann
Ansgar Heveling Dr. Philipp Murmann Dr. Johann Wadephul Sibylle Laurischk
Ernst Hinsken Bernd Neumann (Bremen) Marco Wanderwitz Harald Leibrecht
Peter Hintze Michaela Noll Kai Wegner Sabine Leutheusser-
Christian Hirte Dr. Georg Nüßlein Marcus Weinberg (Hamburg) Schnarrenberger
Robert Hochbaum Franz Obermeier Peter Weiß (Emmendingen) Lars Lindemann
Franz-Josef Holzenkamp Henning Otte Sabine Weiss (Wesel I) Christian Lindner
Joachim Hörster Dr. Michael Paul Ingo Wellenreuther Dr. Martin Lindner (Berlin)
Anette Hübinger Rita Pawelski Karl-Georg Wellmann Michael Link (Heilbronn)
Thomas Jarzombek Ulrich Petzold Peter Wichtel Dr. Erwin Lotter
Dieter Jasper Dr. Joachim Pfeiffer Annette Widmann-Mauz Horst Meierhofer
(B) Dr. Franz Josef Jung Sibylle Pfeiffer Klaus-Peter Willsch Patrick Meinhardt (D)
Andreas Jung (Konstanz) Beatrix Philipp Elisabeth Winkelmeier- Gabriele Molitor
Dr. Egon Jüttner Ronald Pofalla Becker Petra Müller (Aachen)
Bartholomäus Kalb Christoph Poland Dr. Matthias Zimmer Burkhardt Müller-Sönksen
Hans-Werner Kammer Ruprecht Polenz Wolfgang Zöller Dr. Martin Neumann
Steffen Kampeter Eckhard Pols Willi Zylajew (Lausitz)
Alois Karl Daniela Raab Dirk Niebel
Bernhard Kaster Dr. Peter Ramsauer SPD Hans-Joachim Otto
Siegfried Kauder (Villingen- Eckhardt Rehberg (Frankfurt)
Bernhard Brinkmann
Schwenningen) Katherina Reiche (Potsdam) Gisela Piltz
(Hildesheim)
Volker Kauder Lothar Riebsamen Dr. Christiane Ratjen-
Dr. Stefan Kaufmann Josef Rief Damerau
FDP
Roderich Kiesewetter Klaus Riegert Dr. Birgit Reinemund
Eckart von Klaeden Dr. Heinz Riesenhuber Christian Ahrendt Dr. Peter Röhlinger
Ewa Klamt Johannes Röring Christine Aschenberg- Björn Sänger
Volkmar Klein Dr. Christian Ruck Dugnus Frank Schäffler
Jürgen Klimke Erwin Rüddel Daniel Bahr (Münster) Christoph Schnurr
Axel Knoerig Albert Rupprecht (Weiden) Florian Bernschneider Jimmy Schulz
Jens Koeppen Anita Schäfer (Saalstadt) Sebastian Blumenthal Marina Schuster
Dr. Kristina Schröder Dr. Andreas Scheuer Claudia Bögel Dr. Erik Schweickert
Manfred Kolbe Karl Schiewerling Nicole Bracht-Bendt Werner Simmling
Dr. Rolf Koschorrek Tankred Schipanski Klaus Breil Judith Skudelny
Hartmut Koschyk Georg Schirmbeck Rainer Brüderle Dr. Hermann Otto Solms
Thomas Kossendey Christian Schmidt (Fürth) Angelika Brunkhorst Joachim Spatz
Michael Kretschmer Patrick Schnieder Ernst Burgbacher Dr. Max Stadler
Gunther Krichbaum Dr. Andreas Schockenhoff Marco Buschmann Torsten Staffeldt
Dr. Günter Krings Dr. Ole Schröder Sylvia Canel Stephan Thomae
Rüdiger Kruse Bernhard Schulte-Drüggelte Helga Daub Florian Toncar
Bettina Kudla Uwe Schummer Reiner Deutschmann Serkan Tören
Dr. Hermann Kues Armin Schuster (Weil am Dr. Bijan Djir-Sarai Johannes Vogel
Günter Lach Rhein) Patrick Döring (Lüdenscheid)
Andreas G. Lämmel Detlef Seif Mechthild Dyckmans Dr. Daniel Volk
Dr. Norbert Lammert Johannes Selle Rainer Erdel Dr. Guido Westerwelle
Katharina Landgraf Reinhold Sendker Jörg van Essen Dr. Claudia Winterstein
7882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Dr. Volker Wissing Hubertus Heil (Peine) Marlene Rupprecht Priska Hinz (Herborn) (C)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Rolf Hempelmann (Tuchenbach) Ulrike Höfken
Dr. Barbara Hendricks Anton Schaaf Dr. Anton Hofreiter
Gabriele Hiller-Ohm Axel Schäfer (Bochum) Ingrid Hönlinger
Enthalten
Petra Hinz (Essen) Marianne Schieder Thilo Hoppe
SPD Frank Hofmann (Volkach) (Schwandorf) Uwe Kekeritz
Dr. Eva Högl Werner Schieder (Weiden) Katja Keul
Ingrid Arndt-Brauer Christel Humme Silvia Schmidt (Eisleben) Memet Kilic
Rainer Arnold Josip Juratovic Olaf Scholz Sven-Christian Kindler
Heinz-Joachim Barchmann Oliver Kaczmarek Swen Schulz (Spandau) Maria Klein-Schmeink
Doris Barnett Johannes Kahrs Ewald Schurer Ute Koczy
Dr. Hans-Peter Bartels Ulrich Kelber Frank Schwabe Tom Koenigs
Klaus Barthel Lars Klingbeil Rolf Schwanitz Sylvia Kotting-Uhl
Sören Bartol Hans-Ulrich Klose Stefan Schwartze Oliver Krischer
Bärbel Bas Dr. Bärbel Kofler Rita Schwarzelühr-Sutter Agnes Krumwiede
Dirk Becker Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Carsten Sieling Fritz Kuhn
Uwe Beckmeyer Anette Kramme Sonja Steffen Stephan Kühn
Lothar Binding (Heidelberg) Nicolette Kressl Peer Steinbrück Renate Künast
Gerd Bollmann Angelika Krüger-Leißner Dr. Frank-Walter Steinmeier Markus Kurth
Klaus Brandner Christoph Strässer
Ute Kumpf Undine Kurth (Quedlinburg)
Willi Brase Kerstin Tack
Christine Lambrecht Monika Lazar
Edelgard Bulmahn Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Christian Lange (Backnang) Nicole Maisch
Ulla Burchardt Franz Thönnes
Dr. Karl Lauterbach Agnes Malczak
Petra Crone Wolfgang Tiefensee
Steffen-Claudio Lemme Jerzy Montag
Dr. Peter Danckert Rüdiger Veit
Burkhard Lischka Kerstin Müller (Köln)
Martin Dörmann Dr. Marlies Volkmer
Elvira Drobinski-Weiß Gabriele Lösekrug-Möller Beate Müller-Gemmeke
Caren Marks Heidemarie Wieczorek-Zeul Ingrid Nestle
Garrelt Duin Dr. Dieter Wiefelspütz
Sebastian Edathy Katja Mast Dr. Konstantin von Notz
Hilde Mattheis Waltraud Wolff Omid Nouripour
Siegmund Ehrmann (Wolmirstedt)
Dr. h. c. Gernot Erler Petra Merkel (Berlin) Friedrich Ostendorff
Dr. Matthias Miersch Manfred Zöllmer Dr. Hermann Ott
Petra Ernstberger Brigitte Zypries
Elke Ferner Franz Müntefering Lisa Paus
Gabriele Fograscher Dr. Rolf Mützenich Brigitte Pothmer
Andrea Nahles BÜNDNIS 90/ Tabea Rößner
Dr. Edgar Franke DIE GRÜNEN
(B) Dagmar Freitag Manfred Nink Claudia Roth (Augsburg) (D)
Peter Friedrich Thomas Oppermann Kerstin Andreae Manuel Sarrazin
Sigmar Gabriel Holger Ortel Marieluise Beck (Bremen) Elisabeth Scharfenberg
Michael Gerdes Aydan Özoğuz Volker Beck (Köln) Christine Scheel
Martin Gerster Heinz Paula Cornelia Behm Dr. Gerhard Schick
Iris Gleicke Johannes Pflug Birgitt Bender Dr. Frithjof Schmidt
Günter Gloser Joachim Poß Viola von Cramon-Taubadel Dr. Wolfgang Strengmann-
Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Wilhelm Priesmeier Ekin Deligöz Kuhn
Michael Groschek Dr. Sascha Raabe Katja Dörner Hans-Christian Ströbele
Michael Groß Mechthild Rawert Hans-Josef Fell Dr. Harald Terpe
Wolfgang Gunkel Gerold Reichenbach Dr. Thomas Gambke Markus Tressel
Hans-Joachim Hacker Dr. Carola Reimann Kai Gehring Jürgen Trittin
Bettina Hagedorn Sönke Rix Katrin Göring-Eckardt Daniela Wagner
Klaus Hagemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Britta Haßelmann Wolfgang Wieland
Michael Hartmann Karin Roth (Esslingen) Bettina Herlitzius Dr. Valerie Wilms
(Wackernheim) Michael Roth (Heringen) Winfried Hermann Josef Philip Winkler

Ich komme jetzt zu den weiteren Entschließungs- haben gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die Linke,
anträgen, zunächst zum Entschließungsantrag der Frak- dagegen die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD
tion der SPD auf Drucksache 17/3707. Wer stimmt da- hat sich enthalten.
für? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt gegen die Stimmen Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
der einbringenden Fraktion und von Bündnis 90/Die lung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-
Grünen und mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP. sache 17/3696 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Die Linke hat sich enthalten. Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung – Drucksachen 17/3360
Ich komme zum Entschließungsantrag der Fraktion und 17/3441 – für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3709. Wer diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Dafür mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7883
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen hat die Linke ge- Wir haben heute zwar erst den 12. November, doch (C)
stimmt. Die SPD hat sich enthalten. die Linke möchte wohl schon das Weihnachtslied Alle
Jahre wieder anstimmen. Wieder einmal geht es um die
Tagesordnungspunkt 32 b. Der Ausschuss empfiehlt Forderung, direktdemokratische Elemente auf Bun-
unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ab- desebene einzuführen,
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/3427 mit dem Titel „Patientenschutz statt Lob- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie-
byismus – Keine Vorkasse in der gesetzlichen Kran- derholung ist die Mutter der Weisheit!)
kenversicherung“. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
um angeblich die Mitwirkungsmöglichkeit der Bevölke-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die
rung an der demokratischen Willensbildung zu stärken.
Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen
Ich habe zum Thema Volksabstimmung bereits mehrfach
der Koalitionsfraktionen. Dagegen haben die Opposi-
an dieser Stelle gesprochen. Ich bin überzeugter Demo-
tionsfraktionen gestimmt.
krat, und an meinen Argumenten zu dieser staatspoliti-
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- schen Grundsatzfrage hat sich auch Jahre nach meiner
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der ersten Rede nichts geändert.
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1238 mit dem Ti-
Ich wiederhole mich eigentlich nur ungern. Sollte dies
tel „Solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
allerdings einen Lernprozess in Gang setzen und würden
in Gesundheit und Pflege einführen“. Wer stimmt für die
dadurch die Vorzüge der parlamentarischen Demokratie
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
und des Grundgesetzes besser begriffen, so tue ich dies
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
natürlich gern.
men. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen und
Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt hat die Frak- Gerade von der Linken, die den heute zu behandeln-
tion Die Linke. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. den Gesetzentwurf vorgelegt hat, wissen wir allerdings,
dass sie sich mit der Demokratie immer noch schwertut.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 33 auf:
(Lachen bei der LINKEN – Dr. Dagmar
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Enkelmann [DIE LINKE]: Woher haben Sie
neten Halina Wawzyniak, Ulla Jelpke, Jan Korte, das denn? – Zuruf von der CDU/CSU: Was ist
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE das, fragt sich die Linke!)
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-
zes zur Änderung des Grundgesetzes (Einfüh- Deshalb betreiben Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vor al-
rung der dreistufigen Volksgesetzgebung in lem eines: einen Etikettenschwindel. Dort, wo Sie vorge-
(B) das Grundgesetz) ben, die Demokratie stärken zu wollen, geht es Ihnen (D)
nämlich in Wahrheit um eine populistische Forderung,
– Drucksache 17/1199 – die mehr Risiken birgt, als Vorteile bringt. Gleichwohl
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- oder gerade deshalb möchte ich Ihnen wie schon in der
schusses (4. Ausschuss) Vergangenheit darlegen, warum wir als CDU/CSU-Frak-
tion an den bewährten Prinzipien einer repräsentativen
– Drucksache 17/3609 – Demokratie festhalten, wie sie die Väter und Mütter des
Berichterstattung: Grundgesetzes entwickelt haben, und warum wir die
Abgeordnete Ingo Wellenreuther Einführung einer dreistufigen Volksgesetzgebung in das
Gabriele Fograscher Grundgesetz ablehnen.
Jimmy Schulz (Alexander Süßmair [DIE LINKE]:
Halina Wawzyniak Stuttgart 21!)
Wolfgang Wieland
– Dazu komme ich noch.
Über diesen Gesetzentwurf werden wir später na-
mentlich abstimmen. Erstens ist festzustellen: Seit über 60 Jahren hat die
repräsentative Demokratie unserem Land Stabilität in
Es ist verabredet, hierzu eineinhalb Stunden zu debat- Frieden und Freiheit gegeben. Unser System hat sich seit
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. dem Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet bewährt. Dies gilt
für wesentliche Meilensteine der Gesetzgebung genauso
Ich gebe das Wort zunächst dem Abgeordneten Ingo
wie für entschlossenes Handeln in Krisensituationen.
Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion.
Natürlich stimmt es, dass dabei auch unpopuläre Ent-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) scheidungen auf den Weg gebracht wurden, aber mittel-
und langfristig wurden diese Entscheidungen allgemein
Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
als richtig eingeschätzt und für gut befunden. Ich darf an
dieser Stelle als Beispiele die Wiederbewaffnung mit
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- dem Aufbau der Bundeswehr, den Beitritt der Bundesre-
ginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich an- publik zur NATO oder den NATO-Doppelbeschluss nen-
kündigen, dass ich versuchen will, den eingetretenen nen.
Zeitverzug einigermaßen wettzumachen. Haben Sie also
keine Angst, wenn Sie auf die Rednerliste und die vorge- Zweitens ist nachvollziehbar, dass in der heutigen
sehene Redezeit blicken. Zeit der Globalisierung bei vielen Menschen die Sehn-
7884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Ingo Wellenreuther
(A) sucht nach einfachen Antworten wächst. Aber einfache beispielhaft an Großprojekten – jetzt komme ich dazu –, (C)
Antworten gibt es in der Regel nicht. Realität ist, dass die oftmals jahrzehntelange Planungsverfahren erforder-
gerade auf Bundesebene die Fragestellungen immer lich machen. In dieser Zeit können natürlich Stimmun-
komplizierter und komplexer werden. gen und Meinungen der Bürger zu den oftmals schwieri-
gen Projekten durchaus schwanken; aber bei
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das Gleiche Volksentscheiden birgt dies die Gefahr wahltaktischer
habe ich schon oft gehört!) Stimmungsmache, wie das Beispiel von Stuttgart 21
Auf kommunaler und landespolitischer Ebene sind die ganz deutlich zeigt. An anderen ähnlich umstrittenen
Entscheidungszusammenhänge meistens weniger kom- Projekten wie zum Beispiel dem Rheinufertunnel in
plex und die Fragestellungen auch überwiegend über- Düsseldorf oder dem Berliner Bahnhofsneubau erweist
schaubarer. sich nach deren Realisierung, dass diese allgemein aner-
kannt und erfolgreich sind und dass es, im Nachhinein
Meine Damen und Herren, ich bin durchaus ein Be- betrachtet, auch richtig war, daran festzuhalten. Ich bin
fürworter direkter Demokratie, allerdings in den Kom- mir sicher, dass dies trotz der Kostensteigerungen auch
munen und auf Landesebene. bei Stuttgart 21 der Fall sein wird und das Projekt später
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und einmal in der Rückschau als wegweisend angesehen
warum nicht im Bund?) werden wird.

– Das erkläre ich Ihnen gleich. – Wo es um Problemlö- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sungen vor Ort geht, ist die Einflussnahme des Bürgers neten der FDP)
sinnvoll. Auf der regionalen Ebene ergänzen Bürgerini- Die repräsentative Demokratie leistet die dazu notwen-
tiativen und Bürgerentscheide das repräsentative System dige Kontinuität und Stabilität unabhängig von vorüber-
recht gut. Aber auf Bundesebene können Volksent- gehenden Stimmungsschwankungen.
scheide oder ähnliche Verfahren den oft komplexen Fra-
gen unserer Gesellschaft nicht gerecht werden, insbeson- Fünftens. Die parlamentarische Demokratie hat auch
dere auch unter Berücksichtigung der ständig steigenden deshalb wesentliche Vorteile gegenüber einer Volksge-
Normenflut der europäischen Institutionen. setzgebung auf Bundesebene, weil sie ein lernendes
Verfahren ist, was in dieser Form die direkte Demokra-
In diesem Sinne hat sich auch die frühere Präsidentin tie nicht leisten kann. Die eben genannten komplexen
des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, skep- Fragestellungen erfordern oftmals ein vielschichtiges
tisch dazu geäußert, die bekannten Formen der direkten Gesetzgebungsverfahren, das eine kaum überschaubare
Demokratie auf die Bundesebene zu übertragen. Ich zi- Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen berück-
tiere Frau Limbach: sichtigt.
(B) (D)
Je größer der politische Raum ist, umso mehr sind Zu zufriedenstellenden Antworten kann man nur ge-
wir auf das Prinzip der Repräsentanten angewiesen langen, wenn, wie im Deutschen Bundestag, auf dem
und umso weniger können wir uns direkte Demo- Weg der Gesetzgebung ein Verfahren angewandt wird,
kratie leisten. das ein hohes Maß an thematischer Tiefe und Flexibilität
erlaubt. Auf der Grundlage von drei Lesungen, Aus-
Es ist etwas grundsätzlich anderes, über den Bau einer schussberatungen, Sachverständigenanhörungen und
Stadthalle, einer U-Bahn und über das Rauchverbot oder Berichterstattergesprächen wird eine ausgewogene und
über das Euro-Rettungspaket abzustimmen. Hier besteht faire Gesetzgebung und Gesetzesfindung sichergestellt.
ein elementarer Unterschied. Hinzu kommen eine Folgenabschätzung und eine Über-
Drittens. Die Befürworter von Volksentscheiden nen- prüfung der möglichen Bürokratie durch den Normen-
nen stets die Schweiz als Musterland der direkten Demo- kontrollrat. Dieser Weg bietet den notwendigen Spiel-
kratie. Aber schauen wir uns die Schweiz etwas genauer raum für Änderungen und Anpassungen. Es wird ein
an. Die Schweiz hat einen neutralen Status in der inter- dokumentiertes, ein transparentes Verfahren mit detail-
nationalen Politik; ihre politischen Prozesse sind auf na- reicher Abstimmung gewährleistet, das bei Volksent-
tionale Interessen beschränkt und zum Teil auch viel scheiden in dieser Intensität schlichtweg fehlt.
langsamer. Das ist für die Schweiz in Ordnung, auch Volksentscheidungen sind Fragestellungen, die mit Ja
weil es seit Hunderten von Jahren deren politischer Kul- oder Nein zu beantworten sind. Bundespolitische Fragen
tur und dem Selbstverständnis der Bürger dort ent- lassen sich so einfach nicht entscheiden.
spricht. Die Schweiz ist ein kleines Land. Sie hat
8 Millionen Einwohner. Das entspricht ungefähr der (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr
Größe des Bundeslandes Hessen. Deutschland hat im richtig!)
Gegensatz hierzu 80 Millionen Einwohner, und als
Darüber hinaus sind sie oft auch von existenzieller Be-
große Volkswirtschaft ist Deutschland eng mit der Euro-
deutung für Deutschland, zum Beispiel Auslandsein-
päischen Union verflochten. Das erfordert eine politi-
sätze der Bundeswehr, Fragen der Landesverteidigung,
sche Verlässlichkeit und Handlungsfähigkeit, die die re-
Steuerfragen oder Fragen der Energieversorgung. Solche
präsentative Demokratie in idealer Weise gewährleistet.
Themen lassen sich nur in einem lernenden Verfahren
(Beifall bei der CDU/CSU) bewältigen und nicht einfach mit einem schlichten Ja
oder Nein entscheiden.
Viertens. Auch innerstaatlich leistet die repräsentative
Demokratie einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
rung unseres gesellschaftlichen Gefüges. Dies zeigt sich neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7885
Ingo Wellenreuther
(A) Sechstens. Wer durch direkte Demokratie auf Bun- tel gegen Politikverdrossenheit und führt eben nicht zu (C)
desebene die Entscheidung über wichtige Sachfragen ab- einer höheren Wahlbeteiligung. Aufgrund der Zahlen,
gibt, gibt auch die Verantwortung ab. Wenn alle ent- die ich gerade genannt habe, haftet den Volksentschei-
scheiden, entscheidet letztendlich niemand mehr. Man den selbstverständlich auch der Malus der mangelhaften
kann die Volksentscheider auch nicht abwählen. Plebis- Legitimation an.
zite bedeuten daher immer auch die Anonymisierung
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von Verantwortung. Sie bringen für die gewählten Parla-
NEN]: Warum machen sie sie dann immer? In
mentarier die Versuchung mit sich, unpopuläre oder
Berlin jeden Monat!)
schwierige Entscheidungen dem Volk zu überlassen.
Hier im Bundestag hätten bestimmt einige gern auch die – Herr Wieland, soweit ich weiß, ist Berlin ein Bundes-
Überführung der Castorbehälter nach Gorleben zur Ab- land und nicht die Bundesebene; aber wir können uns
stimmung gestellt. Ohne Verantwortungsbewusstsein gern darüber austauschen.
und Weitsicht hätte man die Frage „Wohin damit?“ und
die Tatsache, dass es sich um Müll von Brennstäben han- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
delt, deren Leistung wir alle schon verbraucht haben, NEN]: Ach so! Das ist etwas ganz anderes!)
gern ausgeblendet. Daran schließt sich die Frage an – die – Genau, das ist der Unterschied. Da muss man sich die
hat mir noch niemand beantworten können – wie das Sache differenziert anschauen.
Vertrauen der Bürger in die Politik und die Abgeordne-
ten ausgerechnet steigen soll, wenn sich das Parlament Die Befürworter preisen Volksentscheide stets als ur-
in schwierigen Entscheidungen der Verantwortung ent- demokratisches Modell, in dem Volkes Wille ideal zur
zieht. Geltung käme. Anders ist es, wenn es konkret wird.
– Herr Wieland, Sie können aufpassen, weil es auch die
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr Grünen betrifft. – Denken wir einmal an Hamburg und
richtig!) an die dortige Volksabstimmung bezüglich des Schulsys-
Siebtens. Die repräsentative Demokratie mit ihren tems.
gründlichen Verfahren bietet die Möglichkeit, auch (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das haben
Kompromisse auszuhandeln – zum Wohle der Allge- Sie gemeinsam gemacht!)
meinheit, aber auch zum Wohle und zum Schutz von
Minderheiten. Bei Volksentscheiden ist ein solch ausge- Den Grünen, stets Befürworter der direkten Demokratie,
wogenes Verfahren in dieser Form nicht möglich. Dies passte das Ergebnis nämlich überhaupt nicht.
würde insbesondere zulasten von Minderheiten und von (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gesellschaftlich benachteiligten Gruppen gehen. Das ist NEN]: Ja, aber wir akzeptieren es!)
(B) (D)
umgekehrt gerade ein tragendes Argument für die unver-
änderte Beibehaltung unserer repräsentativen parlamen- Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang die Er-
tarischen Demokratie auf Bundesebene. Sie stellt näm- klärung der grünen Schulsenatorin, Frau Goetsch, zum
lich durch ihr ausgewogenes und abwägendes Verfahren Volksentscheid in Hamburg in diesem Jahr: Die Gegner
den Schutz von Minderheiten gerade sicher. Auch dazu der Schulreform hätten irrationale Ängste geschürt, mit
Jutta Limbach – sie hat es treffend formuliert –: denen die Hamburger verunsichert worden seien.
In der repräsentativen Demokratie ist es Sache des (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Parlaments, die gegensätzlichen Interessen abzuwä- NEN]: Das kann ja sein!)
gen und einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Mit anderen Worten: Weil das Ergebnis des Volksent-
Achtens. Bei Volksentscheiden geht es oftmals um scheids den Grünen gerade nicht in den Kram passte,
viel mehr als um die zur Entscheidung gestellte Frage. sind die Menschen auf einmal gerissenen Bauernfängern
Die Gelegenheiten werden gern genutzt – das ist auch auf den Leim gegangen.
bekannt –, um der gerade amtierenden Regierung die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Rote Karte zu zeigen bzw. einen Denkzettel zu verpas- NEN]: Warum? Das kann passieren!)
sen, und das schadet der eigentlichen Sache, denn sie
wird aufgrund unsachlicher Gründe und unsachlicher Das nenne ich Doppelzüngigkeit, Herr Wieland.
Nebeneffekte entschieden. (Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, das waren die Gründe, die
ich Ihnen anführen wollte. Darüber hinaus liefern Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
selbst eines der wichtigen Argumente gegen Ihren Ge- Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulas-
setzentwurf. Ihr Standardargument lautet ja, dass durch sen?
die Möglichkeit von Plebisziten auch auf Bundesebene
der Politikverdrossenheit entgegengetreten werden kann. Ingo Wellenreuther (CDU/CSU):
Dieses Argument ist nachweislich falsch. Alle Volksent-
Nein, ich bin bald fertig; wir wollen ja auch Zeit auf-
scheide der jüngeren Zeit, ob in Hamburg, Berlin oder
holen.
Bayern, beweisen das Gegenteil. Die Wahlbeteiligung
war immer konstant niedrig, zwischen 29 und 39 Pro- Weiterhin gefiel den Grünen in Hamburg nicht, dass
zent. Diese Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. nachgewiesenermaßen die Wahlbeteiligung mit der
Direkte Demokratie ist also gerade nicht ein Allheilmit- Höhe des Einkommens stieg. Herr Özdemir sah darin die
7886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Ingo Wellenreuther
(A) Gefahr, dass Reformen im Sinne angeblich Benachteilig- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das (C)
ter von Leuten torpediert würden, die – ich zitiere – ist aber demokratischer! Das müssen Sie zuge-
ben!)
besser situiert und besser vernetzt sind und durch
ihren Bildungshintergrund besseren Medienzugang – Das ist aber ein Verstoß gegen das Grundgesetz, meine
haben. Dame.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Unerhört!) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig
erkannt!)
Deshalb müsse man sich fragen, so Özdemir weiter,
„wie eine gleichberechtigte Mitwirkung von allen mög- Wir haben in der Bundesrepublik aus guten Gründen
lich ist“. ein föderales System. Die Länder haben eigene Interes-
sen, die Sie mit Ihrem Modell offensichtlich untergraben
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gute wollen. Das von Ihnen vorgeschlagene Modell erlaubt
Frage!) zwar eine formale Berücksichtigung der Landesvölker,
– Ja, gute Frage. – Wenn also ein mehrheitlicher Bürger- nicht aber die Berücksichtigung des organschaftlich ge-
wille zum Ausdruck kommt, der nicht passt, dann sind bildeten Willens der einzelnen Länder. Ihr Entwurf ge-
es die Befürworter selbst, die ihn nicht akzeptieren wol- nügt daher nicht den Anforderungen des Art. 79 Abs. 3
len, Grundgesetz; er ist verfassungswidrig. Allein deshalb ist
Ihr Gesetzentwurf abzulehnen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
NEN]: Wir akzeptieren es! Erzählen Sie doch
neten der FDP)
nichts!)
Zweitens. Die notwendige Zahl an Beteiligten für Ihr
und es wird versucht, ihn passend zu machen. Herr
dreistufiges Volksgesetzgebungsmodell ist vollkommen
Wieland, scheinheiliger geht es nimmer.
unzureichend. Schon 100 000 Wahlberechtigte sollen
(Beifall bei der CDU/CSU) eine Volksinitiative starten können. Damit wäre es zum
einen gut organisierten Lobbyistengruppen, die der Lin-
Ein weiteres Argument: Sie werfen uns immer vor, ken ja ein Dorn im Auge sind, ein Leichtes, die notwen-
wir hätten kein Vertrauen in die Bevölkerung, aber ins- dige Anzahl von Bürgern zu mobilisieren, um ihre Inte-
besondere bei den Linken scheint das Vertrauen in das ressen durchzusetzen. Zum anderen öffnen Sie damit
Volk seine Grenzen zu haben; denn Volksinitiativen zum Bagatellinitiativen Tür und Tor.
Haushaltsgesetz sollen nach Ihrem eigenen Gesetzent-
(B) wurf gerade nicht möglich sein. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber da ist (D)
ja nicht Schluss! Es geht ja weiter!)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Zum
Gesetz schon!) Ungenügend ist auch, dass Ihr Gesetzentwurf beim ei-
gentlichen Volksentscheid, außer bei einer Grundge-
Neben diesen allgemeinen Erwägungen gegen die Ar- setzänderung, überhaupt keine Mindestbeteiligung vor-
gumente der Befürworter von mehr direkter Demokratie sieht. Bei den genannten geringen Wahlbeteiligungen,
auf Bundesebene leidet der vorliegende Gesetzentwurf die ich vorhin genannt habe, kann dies die gefährliche
ganz konkret an zwei gravierenden Mängeln: Folge haben, dass eine nicht repräsentative Mehrheit
politisch bedeutsame Fragen entscheidet.
Erstens. Ihr Entwurf ist glatt verfassungswidrig, weil
er nicht den Anforderungen des Art. 79 Abs. 3 genügt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese Argumente
Dieser Grundsatz steht unter der Ewigkeitsgarantie des führen zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die
Grundgesetzes, das heißt, er ist unabänderlich. Darin CDU/CSU-Bundestagsfraktion den vorliegenden Ge-
sieht das Grundgesetz zwingend die grundsätzliche Mit- setzentwurf ablehnt. Das habe ich am Anfang schon an-
wirkung der Länder bei der Gesetzgebung vor. Diese gekündigt. Wünschenswert wäre, wenn ich Sie vielleicht
Mitwirkung der Länder darf sich nicht in einer lediglich heute überzeugt hätte; dann bestünde nämlich schon ein
formalen Beteiligung erschöpfen. Sie muss vielmehr be- Anlass zu vorweihnachtlicher Freude.
stimmenden Einfluss ermöglichen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Der Entwurf der Linken greift laut seiner Begründung NEN]: Das glauben Sie doch nun wirklich
im Falle zustimmungspflichtiger Gesetze auf das Modell nicht, dass sich irgendjemand darüber freut!)
des schweizerischen Volks- und Ständemehrs zurück.
Demnach soll beim Volksentscheid in Deutschland das Ich bedanke mich fürs Zuhören. Drei Minuten haben
Ergebnis der Abstimmung in einem Land als Abgabe wir gespart.
seiner Bundesratsstimmen gelten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Genau das ist aber eine rein rechnerische, formale Das Wort hat Gabriele Fograscher für die SPD-Frak-
Methode und weit entfernt von der grundgesetzlich ge- tion.
forderten inhaltlichen Mitwirkung der Länder. Damit
wird der Einfluss der Länder in keiner Weise gesichert. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7887

(A) Gabriele Fograscher (SPD): ben klug gesetzt ist, werden Bagatellinitiativen und ein (C)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- inflationärer Gebrauch des Instruments „direkte Demo-
gen! Einen Lernprozess, Herr Wellenreuther, würden wir kratie“ vermieden.
von Ihrer Fraktion auch einmal erwarten. Sehr geehrter Herr Kollege Brandt, ein Argument, das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie in der ersten Lesung gebracht haben und das Herr
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wellenreuther heute aufgegriffen hat, lautete:
GRÜNEN) Mit Volksabstimmungen kann man den immer
Ihre Argumente sind immer die gleichen, und sie wirken schwierigeren und komplexen Fragestellungen un-
sehr bemüht. Sie sollten vielleicht auch einmal zur serer pluralistischen Welt gerade nicht gerecht wer-
Kenntnis nehmen, dass sich mehr als 60 Jahre nach Ein- den.
führung des Grundgesetzes auch die Gesellschaft verän- Ich glaube nicht,
dert hat.
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das hat nichts mit
Wir als Politikerinnen und Politiker erleben doch seit Glauben zu tun! Das ist eine Tatsache!)
längerem – ganz aktuell ja Sie, Schwarz-Gelb –, dass die
Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger zum Bei- dass nur wir Politiker und Politikerinnen klug genug
spiel bei der Bundestagswahl eben nicht automatisch als sind, komplexe Sachverhalte zu verstehen und über sie
Legitimation, als Zustimmung zu einzelnen Entschei- zu entscheiden.
dungen angesehen wird. Ein Beispiel: Sie begründen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke damit, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dass Bürgerinnen und Bürger Sie gewählt haben und LINKEN)
demzufolge auch die längeren Laufzeiten wollten. Die
massiven Proteste aber, die erst begonnen haben, zeigen Ich befürchte im Gegenteil, dass solche Aussagen die
da etwas anderes. Kluft zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“
vergrößern. Das Volk ist nicht dümmer oder klüger als
Wir erleben in Stuttgart, dass zwar die formalen und wir.
rechtlichen Mitwirkungsrechte eingehalten wurden, aber
die Bürgerinnen und Bürger diese Entscheidung der zu- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
ständigen Gremien eben nicht mehr automatisch mittra- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
gen. Wir erleben, dass das Ansehen der Politiker, das GRÜNEN)
Vertrauen in politische Entscheidungen, die Akzeptanz Den mündigen Bürger gibt es nicht nur in Sonntagsre-
(B) von Mehrheitsentscheidungen der Abgeordneten, die re- den, sondern auch im echten Leben. Die Möglichkeit (D)
präsentativ für die Bürgerinnen und Bürger Entscheidun- von Volksbegehren zwingt Politik dazu, Entscheidungen
gen treffen, abnehmen. „Die da oben entscheiden, wir da zu erklären, zu begründen, zu kommunizieren, um
unten werden nicht gefragt“, so ist doch die Stimmung Volksbegehren möglichst zu vermeiden.
im Lande. Wenn sich diese Einstellung verfestigt, dann
ist auch Demokratie gefährdet. Wir tun auch deshalb gut Die SPD setzt sich schon seit vielen Jahren dafür ein,
daran, nicht als Ersatz, nicht als Beruhigungspille, nicht Elemente direkter Demokratie ins Grundgesetz aufzu-
anstelle der repräsentativen Demokratie, sondern in Er- nehmen. In unserem Wahlprogramm steht es; und auch
gänzung dazu, Instrumente direkter Demokratie und im Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
Mitsprache einzuführen. nen von 1998 heißt es:

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen
LINKEN) wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbe-
gehren und Volksentscheid durch Änderung des
Wir haben diese Möglichkeiten auf kommunaler Ebene, Grundgesetzes einführen.
wir haben sie auf Landesebene, und wir werden sie auf
europäischer Ebene bekommen. Warum dann also nicht Dementsprechend haben wir Anfang 2002 einen Gesetz-
auf Bundesebene? entwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht. Er
enthält gestufte Quoren, Fristen und schließt Themen
Bürgerinnen und Bürger – das haben die Erfahrungen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe für Volksent-
in den Kommunen und in den Bundesländern gezeigt – scheide aus. Wir halten diesen Gesetzentwurf heute im-
gehen mit diesen Instrumenten verantwortungsvoll um. mer noch für richtig und wichtig,
Es gibt keine Unzahl von Volksinitiativen und auch kei-
nen Unsinn bei Volksinitiativen. Die Ergebnisse von (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Volksentscheiden mögen einem gefallen oder nicht. Dies NEN]: Er ist gut!)
gilt ebenso für andere politische Entscheidungen. Aber sind aber in der 14. Wahlperiode an der Ablehnung der
ein Volksentscheid kann befrieden. Wer da unterliegt, CDU/CSU und somit auch an der notwendigen Zwei-
fügt sich, nicht mit Begeisterung, aber ohne Hass und drittelmehrheit gescheitert.
Groll; so hat es Erhard Eppler formuliert.
Ich möchte hier auch eines klarstellen: Der Kollege
Wenn der Rahmen für die Quoren, also für die Min- Thomas Strobl hat am 7. September 2010 in einer Phoe-
destbeteiligung, für die Voraussetzungen, für die Vorga- nix-Runde zum Thema „Ignoranz der Mächtigen? – Bür-
7888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Gabriele Fograscher
(A) ger kontra Politiker“ erklärt, die rot-grüne Bundesregie- Die repräsentative Demokratie stößt erkennbar an (C)
rung habe aus guten Gründen keinen bundesweiten ihre Grenzen. … Wer jetzt nicht mehr Demokratie
Volksentscheid eingeführt. Das stimmt nicht; wagt, wird sehr viel mehr Polizei brauchen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die meisten Mit-
NEN]: Hört! Hört!) glieder dieses Hauses – dabei schließe ich die FDP mit
ein, die ja in der vergangenen Wahlperiode einen Gesetz-
denn wir haben mit der Drucksache 14/8503 einen ent- entwurf zur Einführung von Elementen direkter Demo-
sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Herr Strobl sagte kratie in den Bundestag eingebracht hat – sind für die
in dieser Sendung, wir hätten nicht über einen solchen Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und
Gesetzentwurf entschieden. Das ist falsch; denn darüber Volksentscheid auf Bundesebene. Bis auf die Unions-
wurde am 7. Juni 2002 namentlich abgestimmt. Kollege fraktion sind wir uns hier im Hause einig über das Ziel,
Strobl hat laut Plenarprotokoll an dieser Abstimmung mehr direkte Demokratie auf Bundesebene zu ermögli-
teilgenommen und mit Nein votiert. – Auch wenn Sie chen. Über den Weg dahin sollten wir ernsthaft diskutie-
gegen die Einführung von plebiszitären Elementen in ren.
unsere Verfassung sind, so halte ich es einfach für unan-
ständig, in aller Öffentlichkeit solche Unwahrheiten zu Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
behaupten. Sie sollten das hier auch klarstellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
muss sich sowieso entschuldigen! Das kann er Jimmy Schulz hat das Wort für die FDP.
auch hier machen!)
(Beifall bei der FDP)
Nun aber zum Gesetzentwurf der Linksfraktion. Ich
habe bereits in der ersten Lesung vorgetragen, dass die Jimmy Schulz (FDP):
vorgesehenen Quoren für Volksinitiative und Volksbe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
gehren von 100 000 Abstimmenden viel zu gering sind; und Kollegen! Nun stehe ich noch ein zweites Mal hier,
das ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung eines um über den Entwurf eines Gesetzes der Linken zur Ein-
Wahlkreises. Damit öffnen Sie Bagatellinitiativen Tür führung der dreistufigen Volksgesetzgebung zu reden.
und Tor. Das Thema ist, wie Sie alle wissen, nicht neu. Wie wir in
(B) Weiterhin halte ich den Vorschlag für problematisch, den letzten Wochen und Monaten gesehen haben, ist es (D)
dass die Fraktionen des Bundestages das Recht bekom- aber ein aktuelles Thema.
men sollen, eine Sachfrage zur Abstimmung zum Ter- Wir werden die Bürgerinnen und Bürger intensiver in
min der nächsten Bundestagswahl vorzuschlagen und den politischen Diskussionsprozess einbinden. Wir brau-
den neu gewählten Bundestag für die Dauer der Legisla- chen mehr Transparenz im politischen Prozess; denn
turperiode an diese Entscheidung zu binden. Volksent- Transparenz schafft Verständnis. Wer seine Rechte
scheide sollen den Bürgerinnen und Bürgern ja gerade kennt, der will sich einmischen, der will mitmischen, der
zwischen den Bundestagswahlen die Möglichkeit geben, will partizipieren. Direkte Demokratie gibt es schon auf
sich zu Sachfragen zu äußern. Auch konnten Sie mir bis- vielen politischen Ebenen. Sie gibt es auf kommunaler
her nicht erklären, warum nur die im Bundestag vertrete- und auf Länderebene. Demnächst gibt es sie hoffentlich
nen Parteien und nicht alle Parteien, die zur Bundestags- auch auf europäischer Ebene.
wahl zugelassen sind, Sachfragen stellen können sollen.
Ich halte Ihre Vorschläge für eine Volksgesetzgebung für Mein Lieblingsbeispiel in diesem Zusammenhang ist
nicht praktikabel. Volksentscheide sollen aus der Mitte der Nichtraucherschutz. Dazu gab es in Bayern kürzlich
des Volkes kommen und nicht von den Bundestagsfrak- einen Volksentscheid. Man kann dafür oder so wie ich
tionen vorgegeben werden. Damit würden Sie dieses dagegen gewesen sein. Trotzdem bin ich ein großer Fan
Instrument ad absurdum führen. Wir werden Ihren Ge- von Volksentscheiden auf Länderebene.
setzentwurf deshalb ablehnen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Vorgänge in NEN]: Sehr richtig!)
Stuttgart, in Gorleben und anderswo zeigen, dass die Ich bin aus folgendem Grund ein großer Fan von Volks-
Bürgerinnen und Bürger immer mehr das Gefühl haben, entscheiden auf Länderebene: Beispielsweise kann in
dass ihre Volksvertreter sie nicht mehr verstehen, sich Bayern die Verfassung nur durch Volksabstimmung ge-
entfremden, sie nicht ernst nehmen. Ich will noch einmal ändert werden, was eine schützende Wirkung hat. Bisher
Erhard Eppler zitieren, der in der Süddeutschen Zeitung ist dies allerdings nur sehr selten passiert. Diesen Schutz
vom 26. Oktober 2010 schrieb: hätte ich mir manchmal auch für das Grundgesetz ge-
wünscht.
Aber es gibt ein Mittel gegen die Spaltung zwi-
schen unten und oben: das Plebiszit. Wenn alle Ge- (Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland
walt vom Volke ausgeht, dann muss das Volk not- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen
falls auch das letzte Wort haben. wir es doch! Jetzt mal zum Thema!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7889
Jimmy Schulz
(A) Auch auf europäischer Ebene werden wir mithilfe ges unter Beteiligung der zuständigen Ausschüsse (C)
der europäischen Bürgerinitiative neue Elemente schaf- vorsehen.
fen, um die Bürger am Gesetzgebungsprozess aktiv zu
beteiligen. Das schafft gerade auf europäischer Ebene (Beifall bei der FDP)
eine neue Transparenz, aber auch eine neue Möglichkeit Sie sehen also: Wir machen die ersten Schritte – wenn es
der Identifikation, die gerade, was Europa angeht, den auch nur kleine Schritte sind – in die richtige Richtung.
Bürgerinnen und Bürgern an dieser oder jener Stelle
noch fehlt und die eine Voraussetzung dafür ist, dass sie (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
aktiv an Entscheidungsprozessen mitwirken. NEN]: Was hat das mit Volksentscheiden zu
tun?)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Auch das ist richtig!) Denn Deutschland bleibt eine repräsentative Demokra-
tie.
– Danke sehr.
(Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zwischenfrage)
NEN]: Aber nun mal zur Bundesebene! Nun
zum Thema!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Direkte Demokratie existiert und funktioniert bereits Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage beant-
hervorragend, wie Sie sehen. Nun wollen wir weitere worten?
Schritte in die Wege leiten. Wir wollen die Anregungen
der Bürgerinnen und Bürger aufgreifen und uns nicht Jimmy Schulz (FDP):
hinter funktionierenden Mechanismen auf anderen Ebe- Nein, danke.
nen verstecken. Wir wollen etwas verändern. Den Ent-
wurf eines Gesetzes der Linken zur Einführung der drei- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stufigen Volksgesetzgebung lehnen wir hingegen ab. NEN]: Er weiß, warum!)
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Sehr gut!) Teilhabe muss überlegt sein. Der Gesetzentwurf der
Linken ist ein unüberlegter Schritt. Wir wollen die Betei-
Sie wissen ja – das wurde schon gesagt –, dass die ligung der Bürger, nicht aber die Diktatur durch Minder-
FDP in der letzten Legislaturperiode einen eigenen Ent- heiten.
wurf zu diesem Thema eingebracht hat.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von der LINKEN: Oh!)
(B) (D)
NEN]: Der war auch völlig in Ordnung! Brin-
gen Sie ihn wieder ein!) 100 000 Unterstützer sind ein deutlich zu niedriger
Schwellenwert. Volksinitiativen müssen deutlich breiter
Wir bleiben dabei: Wir wollen mehr partizipative Ele- aufgestellt werden.
mente auf Bundesebene. Daran hat sich nichts geändert.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem NEN]: Ja!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der LINKEN – Dr. Dagmar Die FDP hat deshalb immer deutlich höhere Hürden ge-
Enkelmann [DIE LINKE]: Nur der Koalitions- fordert.
partner macht nicht mit!) Auch die zweite Stufe, die Verankerung einer absolu-
Wir wollen mehr Bürgerbeteiligung und mehr Teilhabe ten Zahl im Grundgesetz, ist natürlich Mumpitz. Dann
an den Entscheidungsprozessen. Wir wollen die Stär- müssten wir das Grundgesetz jedes Mal ändern, wenn
kung der Legitimation. sich die Bevölkerungszahl ändert. Eine prozentuale
Koppelung wäre der einzig gangbare Weg. Der Vor-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: schlag der Linken ist also kein Schritt in die richtige
Einbringen!) Richtung. Er verrennt sich; denn er setzt Grundgesetz-
änderungen voraus. Was ich davon halte, hatte ich schon
Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag die Bürger-
gesagt.
beteiligung aufgenommen;
Ein wichtiges Thema, das immer wieder ignoriert
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: wurde, ist die Notwendigkeit von mehr Transparenz. Die
Einbringen!) Bürgerinnen und Bürger wollen nicht nur öfter abstim-
wir wollen das Petitionsrecht ausbauen. Ich zitiere: men; sie wollen vor allen Dingen besser informiert sein
und in aktuellen Debatten über Zukunftsthemen mitre-
Wir wollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Be- den und ihre Sorgen und Nöte artikulieren. Deshalb ha-
völkerung an der demokratischen Willensbildung ben wir in der Enquete-Kommission „Internet und digi-
stärken. Dazu werden wir das Petitionswesen wei- tale Gesellschaft“ neue Formen der Bürgerbeteiligung
terentwickeln und verbessern. Bei Massenpetitio- vorgesehen. Wir haben in dem Einsetzungsbeschluss in-
nen werden wir über das im Petitionsausschuss be- terfraktionell festgestellt, „die Bürgerinnen und Bürger
stehende Anhörungsrecht hinaus eine Behandlung mithilfe einer Online-Beteiligungsplattform zur Mitar-
des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundesta- beit einzuladen“ und so „die Öffentlichkeit in einem be-
7890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Jimmy Schulz
(A) sonderen Maße mit in die Arbeit der Kommission einzu- Halina Wawzyniak (DIE LINKE): (C)
beziehen“. Die Enquete-Kommission sieht den Bürger Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
als 18. Sachverständigen an. Er wird gebeten, seine Mei- Herren! Als ich 16 war, riefen die Menschen: Wir sind
nung offen zu äußern. das Volk!
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wer hat (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
es erfunden?) NEN]: Hast du mitgerufen?)
Sie sehen also: Wir wollen mehr Beteiligung nicht nur Ein Staat brach zusammen, und das nicht ohne Grund.
probieren, sondern sie etablieren. Wir glauben, dass wir Demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten entwickelten
damit eine Vorbildfunktion für andere Ausschüsse und sich von null auf 100. Es herrschte Aufbruchstimmung.
Gremien des Hauses wahrnehmen können. Die Menschen fühlten sich ernst genommen und mitge-
Moderne Formen der Beteiligung sind dialogorien- nommen. Wichtige politische Entscheidungen wurden
tiert und offen. Diskussionen mit Bürgerinnen und Bür- am Runden Tisch gefällt, an dem Vertreterinnen und
gern im Rahmen des politischen Diskussionsprozesses Vertreter aller gesellschaftlichen Organisationen saßen.
– bevor Entscheidungen getroffen sind – sind der rich- Das war gelebte Demokratie.
tige Weg zu mehr Partizipation; das ist die richtige Rich- (Beifall bei der LINKEN)
tung. Neue Beteiligungsformen sollen sich nachhaltig in
die repräsentative Demokratie integrieren. Wir setzen Der Runde Tisch entwickelte sogar einen Verfas-
die Bürgerbeteiligung jetzt um, anstatt jahrelang darüber sungsentwurf. In diesem Verfassungsentwurf stand in
zu reden. Art. 89:
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Gilt das auch Die Gesetze werden durch die Volkskammer oder
für Stuttgart 21?) durch Volksentscheid beschlossen.
Vielen Dank. Art. 98 des Verfassungsentwurfs enthielt Regelungen
zum Volksentscheid. Für mich war das die demokra-
(Beifall bei der FDP) tischste Zeit, die ich in meinem ganzen Leben erlebt
habe. Es hätte der alten Bundesrepublik gutgetan, sich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dieses Entwurfes des Runden Tisches anzunehmen, an-
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Mast statt die Ideen des demokratischen Aufbruchs einfach zu
das Wort. ignorieren; aber genau das ist geschehen.
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Katja Mast (SPD): (D)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kol- Auch deshalb gibt es immer noch keine Möglichkeit der
lege Schulz, Sie haben aus dem Koalitionsvertrag zitiert, Bevölkerung, jenseits von Wahlen direkt auf politische
dass Sie „das Petitionswesen weiterentwickeln und ver- Prozesse Einfluss zu nehmen. Beantworten Sie mir die
bessern“ möchten. Meine Frage ist: Wann dürfen wir Frage – Sie haben das bisher nicht getan –, warum das
hier im Parlament mit Ihren Änderungsvorschlägen auf Landesebene möglich ist, aber auf Bundesebene un-
rechnen? Ich glaube, Sie können das kurz beantworten. möglich sein soll.
Vielen Dank. (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Wir haben mit
17 Sachverständigen darüber gesprochen!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wovor haben Sie eigentlich Angst?
Herr Schulz. Derzeit erleben wir eine Unzufriedenheit mit der Par-
teiendemokratie, und zwar zu Recht. Wir erleben Unzu-
Jimmy Schulz (FDP): friedenheit mit der Arbeit des Parlamentes, und zwar zu
Wir arbeiten intensiv an einer Lösung. Darüber muss Recht.
natürlich diskutiert werden. Der Koalitionsvertrag ist
nicht auf zwölf Monate angesetzt; er ist ein Programm (Jimmy Schulz [FDP]: Aber das liegt doch an
für vier Jahre. Wir werden baldmöglichst ein Papier dazu Ihnen!)
vorlegen. Wir beschließen Gesetze im Hauruckverfahren. Rele-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – vante Ausschusssitzungen sind nichtöffentlich. Bei der
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was Gesetzgebung fehlen Informationen, zum Beispiel: Wel-
auch immer das heißt! – Weiterer Zuruf von cher Leihbeamte hat gerade für welches Unternehmen an
der LINKEN: Tosender Beifall! – Christian welchem Gesetzentwurf mitgearbeitet? Im Jahr 2007 sa-
Lange [Backnang] [SPD]: Sankt-Nimmer- ßen mindestens 100 Beschäftigte von Unternehmen und
leins-Tag!) Verbänden in den Ministerien und arbeiteten an Geset-
zesvorlagen. Wir fordern das Verbot von Leihbeamten in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ministerien.
Ich gebe das Wort der Kollegin Halina Wawzyniak (Beifall bei der LINKEN)
für die Fraktion Die Linke.
Es fehlt auch an Zahlenmaterial. Wir reden über Netz-
(Beifall bei der LINKEN) neutralität und darüber, dass es zu Datenstaus kommt,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7891
Halina Wawzyniak
(A) aber wir wissen nicht, wo und wann. Es gibt Zusatzver- SPD haben in den Medien im Sommer immer wieder die (C)
einbarungen, die am Parlament vorbei getroffen werden, Forderung nach mehr direkter Demokratie erhoben. Bis-
zum Beispiel beim Atomdeal. lang blieb es allein bei der Forderung. Sie haben keine
Anstalten im Bereich der direkten Demokratie unter-
Bundestagspräsident Lammert spricht – ich habe es nommen. Auch Ihr großer Vorsitzender ist heute nicht
schon zitiert – von einem Hauruckverfahren in der Ge- da. Ich kenne die Kritik von Grünen, SPD und FDP.
setzgebung. Damit hat er recht. Bettina Gaus spricht in Über die Union rede ich nicht; die ist in dieser Frage
der taz von einer Alibiveranstaltung, die wir hier abhal- nicht satisfaktionsfähig. Obwohl: Der neu gewählte Ver-
ten. Damit hat sie recht. Wir können das parlamentari- fassungsrichter Professor Dr. Peter Huber hat sich in der
sche Verfahren verbessern. Einverstanden! Wir können Festschrift „20 Jahre Mehr Demokratie“ für eine weitere
aber auch weiter gehen und mehr Demokratie wagen. Beförderung der direkten Demokratie auch auf Bundes-
(Beifall bei der LINKEN) ebene ausgesprochen. Vielleicht überzeugt er Sie. Grüne
und SPD wenden ein, die Quoren seien zu niedrig. Be-
Wir können innerhalb des Parlaments mehr Transpa- reits am 8. Juli haben wir Ihnen angeboten, mit uns da-
renz einführen, beispielsweise durch konsequent öffent- rüber zu reden. Wo sind Ihre Änderungsanträge? Statt im
liche Ausschusssitzungen. Wir können ein verpflichten- Sommer große Töne zu spucken, hätten Sie mit uns re-
des Lobbyistenregister einführen. Der Gesetzentwurf den können, wenn es Ihnen mit diesem Thema wirklich
meiner Fraktion sieht beispielsweise vor, dass ein Ge- ernst ist.
setzentwurf, sobald eine Person außerhalb des Bundesta-
ges oder der Bundesregierung ihn erhält, für alle öffent- (Beifall bei der LINKEN)
lich zugänglich sein muss. Wir können zudem das Der Justizministerin will ich in Erinnerung rufen, was
Akteneinsichtsrecht für Bürgerinnen und Bürger erwei- sie in der Festschrift „20 Jahre Mehr Demokratie“ gesagt
tern. Niemand hindert uns daran, das emanzipatorische hat:
Potenzial des Internets zu nutzen und auch auf diesem
Weg den Einfluss der Bürgerinnen und Bürger zu erhö- Die Zeit ist reif, dass, beginnend mit der Volksini-
hen. Warum erlauben wir den Bürgerinnen und Bürgern tiative, zumindest schrittweise plebiszitäre Ele-
nach der ersten Lesung nicht, im Rahmen von Internet- mente auch auf Bundesebene eingeführt werden.
portalen uns ihre Meinung kundzutun, um dann darüber Die Einwände des Rests sind absurd. Herr Brandt hat ge-
zu entscheiden, ob wir die Anregungen aufnehmen wol- sagt – Herr Wellenreuther hat das heute wiederholt –, es
len? handele sich um eine populistische Forderung der Lin-
(Beifall bei der LINKEN) ken, die keinen Nutzen für die Demokratie habe. Er hat
weiter ausgeführt: „Volksabstimmungen bergen die Ge-
(B) Wir leben in einer Zeit, in der faktisch neue Verfahren (D)
fahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisie-
zur Konfliktbewältigung eingeführt werden, weil sie rung in sich.“ Er hat damals sogar noch auf die Weima-
notwendig sind. Ich nenne die Schlichtung zu rer Republik – offensichtlich ohne Geschichtskenntnis –
Stuttgart 21, aber auch die Mediation betreffend den Bezug genommen. Stefan Schmitz spricht im Stern von
Frankfurter Flughafen. Diese neuen Verfahren belegen: einem Zweckargument. Der Wissenschaftler Otmar Jung
Das Interesse der Menschen an politischen Prozessen ist von der FU Berlin sagt: Nicht die Erfahrungen aus der
groß. Sie sind nicht politikverdrossen, sie sind parteien- Weimarer Republik hatte der Parlamentarische Rat im
verdrossen. Erweitern wir unsere parlamentarische De- Blick, als er für die Nichtaufnahme direktdemokrati-
mokratie, die mehr und mehr zu einer Demokratie der scher Elemente plädierte. Woher hätten im Übrigen auch
vermeintlichen Eliten wird. Nehmen wir Art. 20 Abs. 2 die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik
GG ernst: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ kommen sollen? Von acht Volksbegehren zwischen 1919
(Beifall bei der LINKEN) und 1933 gelangten gerade einmal zwei zur Abstim-
mung.
Und an uns Parteien gerichtet: Setzen wir Art. 21 Abs. 1
Herr Brandt und Herr Wellenreuther, Sie haben ge-
Satz 1 „Die Parteien wirken bei der politischen Willens-
sagt: Mit Volksabstimmungen kann man schwierigen
bildung des Volkes mit“ um. Es gibt kein Monopol von
und komplexen Fragestellungen unserer pluralistischen
Parteien auf politische Willensbildung. Auch deshalb ha-
Welt nicht gerecht werden. Im Parlament würden Exper-
ben wir eine Vorlage vorgelegt, die Spenden von Unter-
tengespräche geführt, Sachverständigenanhörungen
nehmen und Wirtschaftsverbänden an Parteien verbietet
durchgeführt und Folgeabschätzungen vorgenommen.
und Spenden von natürlichen Personen beschränkt. Alle
Herr Frieser hatte damals ergänzend gefragt: Wie wollen
Menschen, die hier länger leben, müssen die Möglich-
Sie Sachverständigenanhörungen und Sachverständigen-
keit haben, auf politische Entscheidungsprozesse Ein-
gremien in Volksabstimmungen einbeziehen? – Meine
fluss zu nehmen, auch durch Beteiligung an Volksinitia-
Antwort könnte einfach sein. Wir könnten die Einbezie-
tiven, Volksbegehren, Volksentscheiden und Wahlen.
hung so gestalten wie hier im Parlament: als Alibiveran-
Am 8. Juli haben wir das erste Mal über ein konkret staltung.
auf dem Tisch liegendes Angebot für mehr direkte De-
(Zuruf von der FDP: Sie brauchen keine Sach-
mokratie geredet. Heute wird sich zeigen, wie die medi-
verständigen!)
ale Sommerlochforderung nach mehr direkter Demokra-
tie praktisch ihre Umsetzung findet. Auch deshalb haben Aber ernsthaft: Der Prozess der dreistufigen Volksge-
wir namentliche Abstimmung beantragt. Sie von der setzgebung dauert länger als die Hauruckverfahren im
7892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Halina Wawzyniak
(A) Parlament. Es gibt eine öffentlich-mediale Begleitung. wollen. Seien Sie beruhigt: Sie stünden damit auf der (C)
Mehr Sachverstand ist gar nicht möglich. Seite der Mehrheit der Bevölkerung. Die neueste Forsa-
Umfrage belegt, dass sich 79 Prozent der Bürgerinnen
(Beifall bei der LINKEN) und Bürger Volksentscheide auch auf Bundesebene wün-
Erklären Sie mir einmal: Wieso kann man mit Volks- schen.
abstimmungen den immer schwierigeren und komplexe-
Demokratie, insbesondere direkte Demokratie, ist Zu-
ren Fragestellungen der pluralistischen Welt nicht ge-
mutung und Versprechen zugleich. Zumutung für die
recht werden, im Parlament aber schon? Sie haben
Parteien und Abgeordneten, Versprechen für die Bürge-
wieder das Argument vorgebracht, man könne bei Volks-
rinnen und Bürger. Wir sollten uns diese Zumutung zu-
abstimmungen nur mit Ja oder Nein stimmen. Entschul-
muten.
digung, aber das machen wir hier den ganzen Tag.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN –
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das ist ja wie
Formal findet hier eine Folgenabschätzung statt, aber früher bei euren Parteitagen!)
eben nur formal. Tatsächlich geht es immer um einen in-
haltlich-konkreten Vorschlag. Dieser steht allein zur Ab- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
stimmung. Alle gesellschaftlichen Aspekte dieses Vor- Das Wort hat jetzt Ingrid Hönlinger für Bündnis 90/
schlags werden nicht in einem breit angelegten Prozess Die Grünen.
beleuchtet. Wenn wir das wollen, gründen wir eine
Enquete. Eine Volksgesetzgebung mit einem dreistufi-
gen Verfahren dauert viel länger; darauf habe ich schon Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hingewiesen. Dadurch bleibt viel mehr Zeit, um sich Ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
danken über die Dinge zu machen. Hier verlassen wir Kollegen!
uns auf Experten und beschließen Gesetzentwürfe wie
Demokratie lebt vom Streit, von der Diskussion um
den zur Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwer-
den richtigen Weg.
ken.
Das ist ein Zitat des früheren Bundespräsidenten Richard
Herr Brandt und Herr Wellenreuther haben gesagt, die
von Weizsäcker. Wenn wir dieses Zitat ernst nehmen,
Gefahr bestehe, dass bei wichtigen Fragen nicht nach
dann müssen wir eingestehen, dass wir momentan an
sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden wird, son-
vielen Orten der Republik wahre Sternstunden der De-
dern danach, welche Interessengruppe die bessere
mokratie erleben. Die Bürgerinnen und Bürger machen
Lobbyarbeit macht.
(B) von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung selbstbe- (D)
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: So ist es!) wusst Gebrauch. Sie streiten für ihre Positionen. Sie ge-
hen für ihre Anliegen sogar auf die Straße, wenn die Re-
Dazu sage ich Ihnen: Total überzeugend! Tun Sie doch gierungspolitik ihre Anliegen nicht wahrnehmen will.
nicht so, als würde das hier im Parlament nicht so laufen.
Ich möchte zwei aktuelle Ereignisse in den Mittel-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) punkt rücken. Mein Wahlkreis ist Ludwigsburg. Das ist
Wir entscheiden doch mitnichten allein nach sachbezo- 15 Kilometer von Stuttgart entfernt. In Stuttgart und an-
genen Gesichtspunkten. dernorts gehen jede Woche Zehntausende Menschen auf
die Straße. Sie äußern ihre Unterstützung für den
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das ist bei Ihnen Kopfbahnhof 21. Sie äußern ihre Kritik am Bahnprojekt
sicherlich der Fall! Darin unterscheiden wir Stuttgart 21. Dafür haben sie gute Gründe: Dieses Pro-
uns gerade!) jekt droht in finanzieller Hinsicht ein Fass ohne Boden
Der Einfluss von Lobbyisten auf parlamentarische Ent- zu werden. Der verkehrspolitische Nutzen ist fragwür-
scheidungsprozesse ist nachgewiesen. Worin besteht dig. Außerdem ist zu befürchten, dass die Profite in die
bitte der Unterschied zwischen dem Einfluss von Lobby- Taschen von Banken und Baukonzernen wandern, wäh-
isten auf Entscheidungen der Parlamente und dem Ein- rend die Bürgerinnen und Bürger die Zeche zahlen.
fluss von Lobbyisten auf die Volksgesetzgebung? Im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Übrigen sind Politikerinnen und Politiker genauso anfäl-
lig für Populismus wie die Bevölkerung. Steigen wir Je schwächer die Argumente für Stuttgart 21 werden,
also ab vom hohen Ross! Hören wir auf, so zu tun, als desto lauter werden die Durchhalteparolen. Jetzt gibt es
seien wir besser und kompetenter als der Durchschnitt sogar Anzeigenkampagnen der Wirtschaft für Stutt-
der Bevölkerung! Das ist Quatsch. gart 21. Auch die Joggingveranstaltungen für Stutt-
gart 21 werden mit Anzeigen der Landesregierung be-
Die Linke hält, was sie verspricht. Unser konkretes worben. Wir Grünen gestehen ein: Den größeren Marke-
Angebot liegt auf dem Tisch. Sie können entscheiden: Ja tingetat haben die Tunnelbauer. Aber wir haben die bes-
oder nein? Da für die Änderung eine Zweidrittelmehr- seren Argumente. Diese werden sich am Ende gegen die
heit notwendig ist, wird das Vorhaben an der Blockade- Werbemillionen durchsetzen.
haltung der Union scheitern, wie wir wissen. Insofern
können die anderen Fraktionen ein Symbol setzen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
zeigen, dass sie für mehr direkte Demokratie sind, dass Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das werden wir
sie die Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden lassen einmal abwarten!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7893
Ingrid Hönlinger
(A) Ein weiteres Schlaglicht auf die Lage in der Republik viel mehr Gebrauch von dieser bürgerfreundlichen Poli- (C)
haben wir am Wochenende im Wendland erlebt. Dort tik machen.
sind wiederum Tausende Menschen auf die Straße ge-
gangen und haben sich für den Atomausstieg eingesetzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Sie haben kritisiert, dass die Laufzeiten der Atomkraft- Helmut Brandt [CDU/CSU]: Keine Horrorsze-
werke von dieser Regierungskoalition verlängert worden narien am Freitagmittag!)
sind. Sie haben auch stark kritisiert, dass weitere große Natürlich bleibt das Parlament bei der direkten De-
Mengen an radioaktivem Müll produziert werden. Wir mokratie der zentrale Ort der Auseinandersetzung und
Grünen – das sage ich ganz klar – unterstützen den fried- der Entscheidungen. Wir können jederzeit eigene Ge-
lichen Protest gegen die Laufzeitverlängerung und gegen setze beschließen; das ist uns allen hier klar. Wir meinen,
die Atommülltransporte. dass Volksabstimmungen die Politik nicht behindern,
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Aber distanzie- sondern ergänzen. Sie sehen also, meine Damen und
ren sich nicht von den anderen!) Herren insbesondere von der CDU/CSU: Es gibt wenige
Gründe gegen, aber ziemlich viele gute Gründe für die
Wir setzen uns für den Atomausstieg und für die ver- Einführung einer Volksgesetzgebung auch auf Bundes-
stärkte Nutzung erneuerbarer Energien ein. Wir setzen ebene.
uns auch für einen oberirdischen Kopfbahnhof in Stutt-
gart ein. Für uns steht nicht der Profit für wenige im Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
dergrund, sondern der Nutzen für alle. Wir sind keine Helmut Brandt [CDU/CSU]: Aber jetzt zum
Blockadepartei; wir sind eine Zukunftspartei. Vorschlag der Linken!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – – Dazu komme ich noch. – Vorher möchte ich sagen,
Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ich glaube, die dass auch wir Grünen uns schon sehr lange für diese
Zeiten sind vorbei!) Weiterentwicklung der Demokratie einsetzen. Wir wol-
len, dass durch Volksinitiativen Gesetzesvorschläge von
Zum Respekt vor der Meinung anderer gehört auch außen in das Parlament getragen werden. Wir wollen,
der Respekt der Regierenden vor dem Willen der Bevöl- dass Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Ent-
kerung. Jetzt wird kritisiert – darauf hat auch Kollege scheidungen einbezogen werden. Wir wollen, dass die
Wellenreuther hingewiesen –, dass in unserer Gesell- Bevölkerung wichtige Sachfragen auch zwischen den
schaft große Politikverdrossenheit und Demokratiever- Wahltagen entscheiden kann.
drossenheit herrschen. Diese Feststellung ist richtig.
Dazu gehört aber auch, dass wir den Willen der Bevölke- Wir haben dabei im Blick – auch das ist schon thema-
rung ernst nehmen müssen, wenn wir die Bevölkerung tisiert worden –, dass Formen der direkten Demokratie
(B)
zu Willensbekundungen auffordern. Wer den Bürgerwil- besonders Menschen ansprechen, die engagiert und poli- (D)
len als Blockadehaltung abtut, wer Schüler niederknüp- tisch interessiert sind. Zwar kann die Politikbeteiligung
pelt und Bürgerargumente mit Pfefferspray bekämpft, von Interessengruppen, insbesondere von finanzstarken,
hat ein falsches Verständnis von Demokratie. Wir Grü- dominiert werden. Das sind für uns aber keine Argu-
nen wollen so etwas nicht mehr erleben, weder in Stutt- mente gegen direkte Demokratie. Wir meinen, dass wir
gart noch im Wendland. vielmehr faire Rahmenbedingungen für direkte Demo-
kratie schaffen müssen und dass wir die Bürgerinnen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Bürger möglichst frühzeitig an den Entscheidungen
sowie bei Abgeordneten der SPD) beteiligen müssen.
Demokratie bedeutet Regierung durch und für das Wir sehen auch den großen Nutzen der direkten De-
Volk. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Demokratie mokratie. Sie führt zu mehr politischer Information, zu
von der Einmischung und dem Engagement der Bürge- mehr Motivation und zu mehr Diskussion. Auch die
rinnen und Bürger lebt, dass sie dadurch lebendiger und politische Qualifikation der Bürgerinnen und Bürger
manchmal auch sachlicher und kreativer wird. Deshalb wird dadurch verbessert.
wollen wir den Bürgerwillen stärker in politische Ent-
scheidungen einbeziehen. (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ich sage nur:
Beispiel Schweiz!)
Viele Bundesländer – auch das wurde schon gesagt –
haben zahlreiche positive Erfahrungen mit Bürgerent- Wenn Sie zum Beispiel einen Stuttgarter auf den Bahn-
scheiden gemacht. Die Volksabstimmungen haben dort hof ansprechen, dann werden Sie mit ihm fachgerecht
die Kluft zwischen Staatsmacht und Volk verringert. über die Pläne zum Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs dis-
Hinzu kommt: Wenn Bürgerinnen und Bürger Entschei- kutieren können. Vielleicht werden Sie sogar erfahren,
dungen mitbestimmen können, sind sie eher bereit, die dass die tiefen Tunnel die Mineralwasservorkommen in
Folgen dieser Entscheidungen mitzutragen. Und die Bad Cannstatt gefährden. Sie sehen: Bürgerbeteiligung
Menschen wollen sich an den Entscheidungen beteili- fördert die Partizipation und das Bürgerengagement.
gen. Das hat das neueste Volksbegehren in Berlin, das (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie
„Wasser-Volksbegehren“, gezeigt. Es gab mehr als aber alle Argumente auf den Kopf gestellt!)
280 000 Unterschriften für dieses Volksbegehren. Das ist
ein wichtiger Schritt in Richtung einer bürgerfreundli- Wenn mehr Menschen an der Gestaltung unserer Gesell-
chen, einer transparenten Politik. Wenn wir erst eine schaft mitwirken, dann führt dies zu mehr Identifika-
neue Bürgermeisterin in Berlin haben, werden wir noch tion mit den Entscheidungen und zu mehr Teilhabe.
7894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Ingrid Hönlinger
(A) Jetzt zu dem Symbol, das Sie, Frau Kollegin heute erleben, sei ein Wettstreit in Demokratieversessen- (C)
Wawzyniak, gefordert haben. Wir werden uns bei der heit.
Abstimmung über Ihren Gesetzentwurf enthalten.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Aber
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ui!) von Herzen!)
Das Thema finden wir zwar gut; aber ihr Gesetzentwurf Für unsere Satisfaktionsfähigkeit bedarf es keines Be-
hat leider einige gravierende Mängel. weises. Vor allem müssen wir uns nicht von Ihnen sagen
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: „Leider“? Wieso lassen, wer Anhänger direkter Demokratie ist. Es wird
diese Einschränkung? Sie brauchen sich doch Ihnen nicht gelingen, deutlich zu machen, dass CDU und
nicht zu entschuldigen, weil Sie nicht zustim- CSU – das gilt auch für die FDP – gegen Plebiszite
men! – Michael Frieser [CDU/CSU]: Sie brau- seien. Im Gegenteil: Dort, wo sie richtig und angebracht
chen sich nicht zu rechtfertigen, Frau Kolle- sind, und in geeigneten Organisationsformen funktio-
gin!) niert direkte Demokratie. Das hat sich erwiesen.
Die Quoren sind zu niedrig angesetzt, die Fristen für den Die Linken führen das System der direkten Demokra-
Übergang von Volksinitiative zu Volksbegehren und tie ad absurdum. Über diese Formen der Beteiligung dis-
Volksentscheid zu kurz. Wir finden es nicht sinnvoll und kutieren wir schon seit Jahren. Frau Hönlinger, was den
nicht gut, dass Sie die Abstimmung über Sachfragen mit Gesetzentwurf der Linken betrifft, geht es nicht nur um
Wahlen verbinden wollen. Übrigens wollen wir nicht nur Missverständnisse und handwerkliche Fehler. Vielmehr
en passant, am Rande des Plenums, kurz über einen gu- wurde ein Jahr lang diskutiert, ohne dass Sie auf Ge-
ten Gesetzentwurf diskutieren. Lassen Sie uns die Sache genargumente eingegangen sind. Ich frage mich, inwie-
richtig angehen und fraktionsübergreifend vorgehen! weit der Diskussionsprozess hier noch funktioniert.
Dann finden wir gute Lösungen.
Worum geht es den Linken? Sie versuchen, mit Ihrem
Das wachsende Bürgerengagement, das wir derzeit Gesetzentwurf zu politisieren.
im Hinblick auf den Kopfbahnhof 21 und den Atomaus-
stieg erleben, ist ein Lehrstück für unsere Demokratie. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Oh! Wie
Das Land ist durch das Bürgerengagement aufgerüttelt schlimm! Auweia!)
worden. Wir erleben, dass unsere Demokratie, die mehr
als 60 Jahre alt ist, reifer geworden ist. Sie hat hinzuge- Ich würde Ihnen gerne glauben, dass Sie es mit der De-
wonnen, und die Bürgerinnen und Bürger sind selbstbe- mokratie gut meinen. Ich würde Ihnen gerne glauben,
wusster geworden. Heiner Geißler, der Vermittler im dass Ihre Vorschläge dazu beitragen sollen, die Demo-
(B) Schlichtungsprozess zu Stuttgart 21, hat es so ausge- kratie unmittelbarer, erfahrbarer und erlebbarer zu ma- (D)
drückt: Die Zeiten der Basta-Entscheidungen sind vor- chen. Letztlich geht es Ihnen aber darum, eine Dagegen-
bei. Demokratie zu etablieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ah!)
Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ja! Schröder ist
ja weg! Der macht jetzt die Gazprom-Ge- Was Sie beabsichtigen, ist die Instrumentalisierung
schichte für euch! – Michael Frieser [CDU/ von Minderheiten. Sie wollen dem Land und der Be-
CSU]: Schröder ist weg! Das habt ihr Grüne völkerung vortäuschen, dass es hier eine gesamtgesell-
gut gemacht!) schaftliche Bewegung gibt. Ihnen geht es aber nur um
Minderheiten. Die Linke ist immer bass erstaunt und zu-
Auf diesem Weg werden wir Grüne weitergehen, tiefst enttäuscht von diesem Volk, wenn sie sich der so-
gerne zusammen mit den anderen Fraktionen im Bun- genannten Volksseele wirklich einmal stellt. Das lässt
destag; ich setze meine Hoffnungen hier insbesondere sich relativ leicht anhand des Themenkatalogs nachwei-
auf die FDP. Wir würden uns wirklich freuen, wenn es sen, über den wir hier reden. Natürlich soll über mora-
uns gelingen würde, mehr Elemente direkter Demokratie lisch-ethische Themen und alles, was in irgendeiner Art
auf Bundesebene einzuführen. Wir Grüne wollen mehr und Weise mit Religion zu tun hat, nicht abgestimmt
Demokratie, und zwar direkt. werden.
Vielen Dank.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wo lesen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie das?)
– Ich glaube nicht, dass man in diesem Land gerne eine
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Volksabstimmung auf Bundesebene über Minarette
Michael Frieser hat jetzt das Wort für die CDU/CSU- durchführen würde. Man will auch keine Abstimmung
Fraktion. zum Thema Todesstrafe. Ich jedenfalls will das nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn dann doch einmal eine Volksabstimmung in ei-
nem Bundesland durchgeführt wird – das Thema wurde
Michael Frieser (CDU/CSU): vom Kollegen Wellenreuther schon angesprochen; es
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und geht um Hamburg –, dann passt Ihnen das Ergebnis
Herren! Man könnte den Eindruck haben, das, was wir nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7895
Michael Frieser
(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Michael Frieser (CDU/CSU): (C)
NEN]: Aber es wird akzeptiert! Du meine Herr Kollege Wieland, man darf nicht so lange war-
Güte!) ten, bis eine Minderheit gegen die Mehrheit entscheidet,
– Herr Kollege Wieland, weil Sie sich so lautstark zu erst recht nicht in bestimmten Punkten. Man darf sich als
Wort melden, darf ich Sie einmal fragen – hören Sie bes- Abgeordneter einer repräsentativen Demokratie nicht
ser zu; dann können Sie etwas lernen –: Glauben Sie al- aus der Verantwortung stehlen und muss zu der Politik
len Ernstes, dass man über Berlin als Hauptstadt wirk- stehen, die man in diesem Land durchsetzen will.
lich hätte abstimmen lassen können? Glauben Sie, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
diese Entscheidung damals dann zugunsten von Berlin
hätte getroffen werden können? Es darf nicht zu einer Art Guerillamarketing kom-
Sie legen hier einen Abstimmungskatalog vor, in dem men; das gab es schon. Derjenige, der am aggressivsten
steht, worüber Ihrer Ansicht nach auf Bundesebene ab- in die politische Auseinandersetzung geht, der am lau-
gestimmt werden könnte. Das muss ein Zeitgeistkatalog testen tönt und der am besten eine mediale Empörung
bleiben. Insofern ist der Gesetzentwurf nicht nur hand- hervorrufen kann, darf nicht zum Mehrheitsmacher in
werklich schlecht. Vielmehr geht es auch inhaltlich in diesem Land werden. Hierdurch würden wir meines Er-
die falsche Richtung. achtens die falsche Richtung einschlagen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
NEN]: Das Volk ist klüger als die CSU gewe-
sen!) Es wurde in diesem Land noch nie so viel kommuni-
ziert wie im Augenblick, aber es wurde auch noch nie so
Es besteht immer die Gefahr, dass Protestbewegun- wenig zugehört wie im Augenblick. Wir müssen versu-
gen zur Meinungsmache instrumentalisiert werden. Im chen, das hypernervöse Grundrauschen, das in diesem
Ergebnis kann es darauf hinauslaufen, dass eine radikali- Land manchmal herrscht und dazu führt, dass Wichtiges
sierte, politisierte Minderheit über die Gesetzgebung be- und Unwichtiges ineinander übergehen, abzustellen.
stimmt, und das gegen die Mehrheit. Das wird nicht Hier haben gerade Politiker und Journalisten eine große
funktionieren. Verantwortung. Sie müssen in der Lage sein, wirklich
objektiv zu berichten, zu bewerten und zu gewichten. Ich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: glaube, das ist eine der wesentlichen Aufgaben, die wir
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von in diesem Land haben. Bei allen Themen, die im Mo-
Herrn Lenkert zu? ment durch die Gegend schwirren, muss man feststellen:
(B) Wir haben sehr viele Sender, aber nur ganz wenige Emp- (D)
(Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE fänger. Denn jeder kann aufgrund der Masse an Informa-
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- tionen nur noch das hören, was ihn vielleicht wirklich
frage) enerviert. Wir dürfen die Demokratie an dieser Stelle
nicht kleinreden. Diese Debatte sollte nicht dazu da sein.
Michael Frieser (CDU/CSU):
Es kommt darauf an, dass es einen Diskurs gibt. Ich
Herr Wieland, Ihre Frage wird sicherlich bis zum
kann es nur immer wieder sagen: Es gibt das pädagogi-
Ende meiner Rede beantwortet sein. Wenn nicht, sollten
sche Prinzip der Wiederholung. Man muss Dinge nun
Sie so viel Geduld haben, um sie dann zu stellen.
einmal öfter ankündigen. Es ist vollkommen falsch, zu
glauben, dass man mit 80 Millionen Menschen und mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: soundso vielen Wahlberechtigten einen Diskurs führen
Herr Kollege, es geht nicht um eine Frage von Herrn kann, wenn es um wirklich komplizierte Vorgänge, ver-
Wieland, sondern um eine Frage von Herrn Lenkert. bunden mit Anhörungen von Sachverständigen, geht.
Möchten Sie sie zulassen? Wie wollen Sie denn in einer öffentlichen Debatte eine
Anhörung von Sachverständigen durchführen?
Michael Frieser (CDU/CSU):
Als Beispiel nenne ich die Themen Internetsperre und
Darf ich die Fragen vielleicht am Ende meines Ge- Datenschutz. Dabei geht es um das Löschen und Sper-
dankenganges zulassen? Das würde mir weiterhelfen. ren. Wir haben monatelang in kleinen Runden versucht,
die Dinge bis ins Detail auszuloten. Ich will niemandem,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der sich lange mit diesen Themen befasst hat, abspre-
Können Sie uns sagen, wann der Gedankengang zu chen, dass er zu einem richtigen und guten Ergebnis
Ende ist? kommt. Sollen wir aber Expertenanhörungen tatsächlich
einer aggressiven Öffentlichkeitsarbeit opfern? Ich
Michael Frieser (CDU/CSU): glaube, das wäre der falsche Weg.
Ich werde Ihnen das mitteilen, Frau Präsidentin, falls Ich meine auch, dass wir schauen müssen, dass eine
Sie das nicht mitbekommen sollten. Idee, die dieses Land und diese Gesellschaft weiterbrin-
gen soll, im Sinne des demokratischen Prinzips zu einem
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Konsens geführt werden muss. Das ist eine der wesentli-
Das ist schön. chen Aufgaben der Politik.
7896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Michael Frieser
(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werklichen Beschaffenheit des Gesetzentwurfes der Lin- (C)
NEN]: Jetzt ist der Gedankengang aber zu ken nur dazu dient, diesem nicht zustimmen zu müssen.
Ende!) Das kritisieren wir. Ich glaube, dass wir mit dieser Art
und Weise der Auseinandersetzung nicht weiterkommen.
– Ich befürchte, Kollege Wieland, Sie haben den Gedan- Bekennen Sie Farbe! Wenn Sie etwas Bestimmtes wol-
kengang noch nicht verstanden. Deshalb möchte ich ihn len, dann sagen Sie es. Wenn Sie es nicht wollen, dann
kurz erläutern: Entscheidend ist, dass wir in diesem Par- lassen Sie es bleiben.
lament für eine Idee kämpfen und uns gegenseitig über-
zeugen. Dazu gehört natürlich, dass man zuhört, Herr Vielen Dank. – Jetzt darf er fragen, Frau Präsidentin.
Kollege Wieland;
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
NEN]: Das tue ich!) Zuerst wäre da eine Frage von Herrn Lenkert gewe-
sen. Wollen Sie die zuerst zulassen?
anders funktioniert es nicht.
Im Rahmen dieses Diskurses muss man Michael Frieser (CDU/CSU):
(Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE Jetzt muss sich Herr Wieland auch noch hinten anstel-
GRÜNEN] meldet sich erneut zu einer Zwi- len; das tut mir furchtbar leid.
schenfrage) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– vielleicht stellen Sie Ihre Frage dann zu diesem Gedan- NEN]: Das muss ich sowieso die ganze Zeit!)
kengang, Herr Kollege Wieland – auch die Frage be-
rücksichtigen, ob ein Plebiszit wirklich dazu führen Ralph Lenkert (DIE LINKE):
kann, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Ich wage das zu Vielen Dank, Herr Kollege Frieser, für die Gelegen-
bezweifeln. Ich komme aus einem Land, in dem durch- heit zur Zwischenfrage. – Ich hatte gehofft, Sie würden
aus – Kollege Schulz hat darauf hingewiesen – sehr inte- unseren Gesetzentwurf richtig lesen. Sie haben vorhin
ressante Volksentscheide und Bürgerentscheide zur Ab- die Behauptung aufgestellt,
stimmung stehen; dadurch erhöht sich allerdings nicht
die Wahlbeteiligung insgesamt. Das heißt nicht, dass (Zuruf von der CDU/CSU: Fragen!)
Plebiszite schlecht sind. Aber Sie verknüpfen zwei dass danach ein Volksentscheid zur Todesstrafe möglich
Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Der Satiriker wäre. Wenn Sie richtig gelesen hätten, dann hätten Sie
Karl Kraus hat einmal gesagt: Es gibt Dinge, die so gelesen, dass in dem in unserem Gesetzentwurf vorgese-
(B) falsch sind, dass noch nicht einmal das Gegenteil henen Art. 82 a Abs. 2 des Grundgesetzes steht: (D)
stimmt.
Volksinitiativen, durch die … die in den Artikeln 1
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden
und der FDP) … sind unzulässig. Volksinitiativen zur Änderung
Das gilt auch bei diesem Argument. Man muss deutlich des Grundgesetzes dürfen kein Grundrecht in sei-
sagen: Man kann keine Begründung heranziehen, die mit nem Gehalt antasten.
der Sache gar nichts zu tun hat. Gleichzeitig besteht, wie bei jedem Gesetz, die Mög-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lichkeit, auch einen per Volksgesetzgebung zustandege-
kommenen Gesetzentwurf vom Verfassungsgericht über-
Ich würde wirklich gerne glauben, dass es an dieser prüfen zu lassen. Unter diesem Aspekt frage ich Sie, wie
Stelle um die Demokratie geht. Aber ich finde es schon Sie zu der falschen Behauptung kommen, dass wir die
seltsam – Herr Kollege Wieland, Sie sind wirklich gleich Einführung der Todesstrafe befürchten müssten, wenn
dran; vertrauen Sie mir; ich habe extra fünf Minuten Ar- eine Volksgesetzgebung eingeführt würde.
gumentationszeit für Sie reserviert –, wenn man eine
Reihe von im Augenblick stattfindenden Diskussionen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
zu Protestbewegungen ummünzt und dann im Ergebnis
sagt, das stelle die Mehrheit dar. Ich weiß nicht, ob das, Michael Frieser (CDU/CSU):
was im Augenblick im Wendland passiert, wirklich gut Herr Lenkert, ich bin fast versucht, mich bei Ihnen für
ist, wenn ich sehe, dass der Vorsitzende der Fraktion der diese Zwischenfrage zu bedanken. So kann ich dem Ein-
Linken das Ergebnis beeinflusst, indem er sich mit sei- druck entgegentreten, ich wäre Anhänger eines Plebis-
nem Wagen zu einer Protestbewegung fahren lässt, die zits über die Todesstrafe. Das ist verkehrt. Das sage ich
ohnehin überarbeitete Polizei dazu abstellt, auf sein deutlich, falls dieser Eindruck entstanden sein sollte. Sie
Auto aufzupassen, um sich dann in einen Trecker zu nehmen eindeutig bestimmte Fragen aus dem Katalog
wuchten und hinterher zu sagen: Ich repräsentiere hier heraus. Nicht nur, dass das Grundgesetz schon darüber
die Mehrheit. – Das macht die Politik absurd und führt Auskunft gibt; ich will damit auch deutlich machen, dass
im Ergebnis mit Sicherheit nicht weiter. es einen ganzen Katalog an Fragestellungen gibt, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich – das geben Sie mit Ihrer Frage auch zu – ohnehin
einer Abstimmung durch ein Plebiszit auf Bundesebene
Ich glaube – jetzt bin ich bei Ihnen, Herr Kollege entziehen, weil wir das nicht machen dürfen. Das be-
Wieland –, dass die Kritik der Grünen an der hand- streite ich nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7897
Michael Frieser
(A) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das Michael Frieser (CDU/CSU): (C)
haben auch wir nicht bestritten!) Herr Kollege Wieland, das entscheidende Problem ist,
Ich will damit nur deutlich machen, dass es einen gan- dass Sie den Ausführungen anscheinend nicht ganz auf-
zen Katalog gibt. Die Auflistung war klar. Es ging um merksam gelauscht haben.
religiöse, moralische und ethische Fragen. Diese Fragen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
können wir nicht dem Zeitgeist gemäß zur Abstimmung
NEN]: Sie waren auch sehr langatmig!)
stellen.
Nehmen Sie als nächstes Beispiel die Sicherungsver- Denn der Großteil Ihrer Argumentation wurde schon bei
wahrung. Ich glaube, dass wir in diesem Land nicht un- der Rede des Kollegen Wellenreuther angesprochen.
bedingt zu einem richtigen und konformen Ergebnis ge-
Worum geht es? Ich schätze Friedbert Pflüger sehr. Er
kommen wären, wenn wir sie zur Abstimmung gestellt
ist zwar nicht mein Fraktionsvorsitzender, aber als direkt
hätten.
gewählter Abgeordneter aus Bayern kann ich sagen, dass
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie es sehr wohl eine ganze Reihe von Fragen gibt, über die
unterschätzen das Volk! – Halina Wawzyniak man gut und richtig abstimmen kann, wenn sich die Fra-
[DIE LINKE]: Das ist Nebelkerzen-Werfen!) gestellung eindeutig auf eine Ja-Nein-Konstellation re-
duzieren lässt. Ich bin der Auffassung, dass es dann
– Nein, überhaupt nicht. funktioniert.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


Herr Wieland. NEN]: Berlin als Bundeshauptstadt hätte man
ohne Weiteres mit Ja oder Nein beantworten
können!)
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Frieser, als Abgeordneter aus Berlin Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Bürger von
sind mir bei Ihrer Rede etliche Fragen gekommen. Ich Berlin in der Lage sind, entsprechende Fragen, vor allem
will sie komprimieren. Es bleibt mir nichts anderes die ihrer kommunalen Verfassung, zu entscheiden. Ich
übrig, als sie zusammenzufassen. will aber noch einmal darauf hinweisen, dass es in unse-
Habe ich es richtig in Erinnerung, dass die Abgeord- rem föderalen System aufgrund der Tatsache, dass es
neten der CSU beispielsweise beinahe geschlossen ge- eine Reihe von Argumenten und Themen gibt, die sich
gen Berlin als Bundeshauptstadt gestimmt haben, und einer Abstimmung auf Bundesebene entziehen, nicht
möglich ist, eine Volksabstimmung auf Bundesebene
(B) wäre das Volk dabei nicht möglicherweise klüger als die (D)
CSU gewesen? durchzuführen.

(Heiterkeit bei der LINKEN) (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie sind also
generell dagegen! Sagen Sie es doch!)
Wie kommt es ferner, dass Ihre Partei in Berlin da, wo
wir in der Regel gegen den Willen dieser Partei die Mög- Alle Beispiele, die Sie nennen, stehen bewusst in einem
lichkeiten zu Volksbegehren und Volksentscheide haben, unmittelbaren kommunalen Zusammenhang, in dem die
bei Bürgerbegehren immer eine Dagegen-Partei ist? Bei Bürger vor Ort sehr sachkundig über die Fragen ent-
dem Bürgerbegehren gegen die Umbenennung in Rudi- scheiden können.
Dutschke-Straße war die CDU-Kreuzberg vorneweg.
Es hilft letzten Endes nicht, dass Sie versuchen, die
Sie war als Dagegen-Partei auch gegen die Schlie- Argumente auf die Bundesebene zu übertragen. Denn
ßung des Flughafens Tempelhof. In einer so komplizier- damit lassen sich die Fragen zu diesem Thema nicht be-
ten Frage, wie Sie es gerade geschildert haben, bei der antworten.
Experten eingebunden waren und ein Planfeststellungs-
verfahren durchgeführt wurde, hat Ihr damaliger Frak- Im Ergebnis darf ich darauf hinweisen, dass eine
tionsvorsitzender Friedbert Pflüger am Abend der Aus- Volksgesetzgebung nur dann sinnvoll ist, wenn sie die
zählung gesagt, diese Niederlage sei ein großer Erfolg Themen so klar zuschneidet, dass eindeutige Fragen zur
für die CDU. Wie er dazu kam, weiß ich nicht. Aber er Abstimmung gestellt werden können. Schließlich kann
hat sich in einer solchen Weise an die Spitze dieses die gesamte Diskussion nicht so aufgerollt werden, wie
Volksbegehrens gestellt, dass die CDU-Initiatoren des es etwa mithilfe von Sachverständigenanhörungen in der
nächsten Volksbegehrens zum Thema „Religion als Regel notwendig ist. Deshalb glaube ich, dass wir mit
Wahlpflichtfach“ Angst hatten, dass auch dieses Volks- unserer Verfassung, die Plebiszite auf kommunaler Ebene
begehren ein solches CDU-Label bekommt, dass es am und auf Länderebene vorsieht, durchaus gut beraten
Ende scheitert. sind. Dort funktionieren sie. Ich glaube, dass man den
Gesetzentwurf der Linken aus guten Gründen ablehnen
Warum sollen Ihre ganzen Argumente, dass das große
muss.
Geld zählt, dass es um Marketing geht, dass es zu einer
Dagegen-Demokratie kommt und dass sich damit Min- Vielen Dank.
derheiten durchsetzen wollen – in Berlin ist die CDU
eine Minderheit, das gebe ich zu –, hier gelten, aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nicht in den Bundesländern? der FDP)
7898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Demokratie gerade in den neuen Ländern geringer wird, (C)
Herr Kollege, möchten Sie noch eine Zwischenfrage dass sie ohnehin schon erschreckend gering ist.
des Kollegen Wellmann zulassen?
Wenn man genau nachfragt, erfährt man erstaunliche
Sachen: Eine repräsentative Studie der Friedrich-Ebert-
Michael Frieser (CDU/CSU): Stiftung hat zum Beispiel ergeben, dass 93 Prozent un-
Wenn Sie möchten. serer Bevölkerung der Grundidee der Demokratie zu-
stimmen. Jedoch sind nur 46 Prozent zufrieden damit,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wie die Demokratie derzeit funktioniert. Um die andere
Bitte schön. Hälfte dieser mit der Demokratie grundsätzlich einver-
standenen Menschen müssen wir ganz besonders hart
kämpfen.
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU):
Herr Kollege, wären Sie bereit, den Kollegen Wieland Demokratie ist kein abgeschlossener Prozess; sie ent-
darauf hinzuweisen, dass der CDU-Fraktionsvorsitzende steht ständig neu. Wir müssen sie immer wieder neu er-
im Berliner Abgeordnetenhaus gerade eine Volksbefra- klären und die Menschen dafür begeistern. Wir müssen
gung zur Verlängerung der A 100 vorgeschlagen hat und sie auch dadurch rechtfertigen, dass sie eine gerechte
es die Grünen waren, die öffentlich erklärt haben, sie Politik im Sinne der Menschen hervorbringt.
seien gegen eine solche Volksbefragung?
Studien wie die von Serge Embacher haben ergeben,
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah! dass die Zustimmung zur Demokratie abnimmt, wenn
– Doppelmoral! – Wolfgang Wieland [BÜND- die Menschen den Eindruck haben, dass es im Land
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das beweist doch nicht gerecht zugeht. Wenn wir heute über den Zustand
nur, dass die CDU die Volksbegehrenspartei der Demokratie und über mehr direkte Demokratie de-
ist!) battieren, dann sollten wir auch das im Blick behalten.
Es geht nicht nur um die Form der Demokratie, sondern
Michael Frieser (CDU/CSU): es geht auch um ihren Inhalt. Schwarz-Gelb hat unserer
Vielen Dank, Herr Kollege, den Gedanken greife ich Demokratie im letzten Jahr mit seiner Politik, einer Poli-
gerne auf und erweitere ihn zu einer Anfrage an Herrn tik für Lobbyisten und gegen die Mehrheit der Men-
Wieland, die wir gerne bilateral mit ihm diskutieren kön- schen, jedenfalls keinen Gefallen getan.
nen. Ich glaube nicht, dass die Grünen bereit sind, eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Abstimmung über alle Arten von Trassen- und Verkehrs- der LINKEN)
(B) problemen herbeizuführen. Ich gebe das gerne an den Für die SPD ist Demokratie seit fast 150 Jahren Ziel
(D)
Kollegen Wieland weiter.
und Mittel gleichzeitig. Wir wollen, dass möglichst alle
Vielen Dank. Menschen in unserem Land an der Demokratie beteiligt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind und mitbestimmen, in welche Richtung sich unsere
Gesellschaft entwickeln soll. Demokratie ist mehr, als
alle vier Jahre zur Wahl zu gehen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Daniela Kolbe hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja
logisch!)
(Beifall bei der SPD)
Wir wollen weiterhin eine Demokratisierung der gesam-
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): ten Gesellschaft.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gemeinschafts-
Liebe Bürgerinnen und Bürger, vielleicht haben Sie ei- kunde leicht gemacht!)
nen weiten Weg genommen, um heute hier bei uns zu
sein. Schön, dass Sie da sind! Dazu gehören für uns Demokratie in den Unternehmen,
in den Schulen, in den Hochschulen, bei Demonstratio-
Wir alle hier im Saal sind überzeugte Demokratinnen nen, aber eben auch über direkte Mitsprache bei Bürger-
und Demokraten. Aber schon wenn es um eine Einschät- entscheiden und Bürgerinitiativen. Direkte Demokratie
zung der Situation unserer Demokratie geht, gehen un- ist für uns ein Mittel, um die Menschen wieder stärker zu
sere Positionen offenbar weit auseinander. beteiligen.
Unsere Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Auch aus diesem Grund – das wurde schon angespro-
Sie wurde vielfach erkämpft, und wir haben sie auch chen – hat die SPD bereits 2002 einen entsprechenden
schon einmal verloren. Für viele Menschen in unserem Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Grundsatz gilt für uns
Land war Demokratie für mehr als 60 Jahre nur ein weiterhin. Leider ist mit Blick auf die rechte Seite dieses
Traum. Für diesen Traum sind im Jahr 1989 in der DDR Hauses eine dazu notwendige Änderung des Grundge-
Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen; sie setzes schon rein rechnerisch nicht möglich. Das finden
haben zum Teil ihr Leben dafür riskiert. Diese Menschen wir mehr als bedauerlich.
kennen den Wert von Demokratie und freier Meinungs-
äußerung sehr gut, vielleicht sogar besser als andere. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Demo-
Umso erschreckender ist es, dass die Zustimmung zur kratie! Man wird wohl noch eine andere Mei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7899
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) nung haben dürfen! Oder wollen Sie das auch Kritisch sehen wir auch Ihren Vorschlag, die Bundes- (C)
noch verbieten?) tagswahlen zur Abstimmung über Teile der Wahlpro-
gramme zu machen. Bundestagswahlen würden dann zu
Gerade bei Ihnen in der Union ist die Angst vor Elemen- Kreuzeltests werden. Statt demokratische Debatten über
ten direkter Demokratie unheimlich groß. Für Teile der schlüssige Programme zu führen, soll die Debatte auf
Union scheint Demokratie sich auf den Parlamentaris- eine Handvoll plakativer Auseinandersetzungen einge-
mus zu beschränken. dampft werden. Verflachung ist dabei eindeutig pro-
grammiert. Außerdem ginge das Grundprinzip plebiszi-
Anders als für die Union ist für uns mit dem wahren
tärer Elemente verloren, nämlich Ideen der Bevölkerung
Satz – er ist wahr – „Der Parlamentarismus hat dieses
aufzunehmen. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass
Land weit gebracht“ eben nicht alles gesagt. Wir nehmen die Idee aus Sicht der Linken mehr als verlockend ist.
zur Kenntnis, dass sich zunehmend eine Kluft zwischen Immerhin kann man so als Daueroppositionspartei In-
politisch Aktiven und dem Rest der Bevölkerung entwi- halte durchsetzen. Die SPD aber befürwortet mehr
ckelt. Das geflügelte Wort von „denen da oben“ ist er- direkte Demokratie nicht, um die parlamentarische Op-
schreckend weit verbreitet. Zugegeben: Mitunter habe position zu stärken, sondern die demokratische Mitbe-
ich den Eindruck, dass die eine oder andere Bürgerinit- stimmung der Bevölkerung soll über den Wahltag hinaus
iative vor allem zum Ziel hat, es „denen da oben“ – ge- gestärkt werden.
meint sind wir – einmal richtig zu zeigen. Andererseits
habe ich bei Ihnen, der Koalition – zum Beispiel war das (Beifall bei der SPD)
vorgestern bei manchem Redebeitrag zum Thema Castor Ich fasse zusammen. Für die SPD ist klar: Mehr De-
der Fall –, den Eindruck, dass Sie sich sehnlich wün- mokratie ist nötig. Mehr direkte Demokratie ist deshalb
schen, dass die Menschen draußen endlich einmal die eine sehr gute Idee. Wir werden auch weiterhin dafür ar-
Klappe halten und Ihre Entscheidungen hinnehmen. Im beiten, dass in diesem Haus eine Zweidrittelmehrheit da-
Zweifel setzt man solche Entscheidungen mit Polizeige- für zustande kommt. Wir rufen der Union zu: Haben Sie
walt durch. Wenn aber Parlamentarismus bedeutet, keine Angst vor der Bevölkerung.
dass plötzlich die Bevölkerung gegen die Parlamente ist,
dann ist eines eindeutig klar: Bei dieser Auseinanderset- (Michael Frieser [CDU/CSU]: Wir haben
zung können beide Seiten nur verlieren. überhaupt keine Angst! Im Gegenteil!)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drehen Sie sich einmal um und schauen Sie zur Tribüne.
der LINKEN) Vor diesen interessierten Menschen muss man wirklich
keine Angst haben. Wir sagen aber auch: Mehr direkte
Deshalb freue ich mich, dass wir über eine Ergänzung Demokratie muss gut gemacht sein. Der Antrag der Lin-
(B) des Parlamentarismus durch Elemente der direkten De- ken wird dem leider nicht gerecht. Deshalb lehnt die (D)
mokratie diskutieren. Direkte Demokratie kann dazu SPD den Antrag ab.
beitragen, dass Bevölkerung und Parlamente wieder auf- Vielen Dank.
einander zugehen. Direkte Demokratie zeigt aber auch,
dass unterschiedliche Positionen nicht Parlamente und (Beifall bei der SPD – Michael Frieser [CDU/
Bevölkerung trennen, sondern dass die Trennlinien quer CSU]: Der Schluss war ganz schön!)
durch die Parlamente und quer durch die Bevölkerung
verlaufen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die SPD will direkte Demokratie, aber sie will sie gut Jetzt hat das Wort Stephan Thomae für die FDP-Frak-
abgestimmt. Sie soll den Parlamentarismus ergänzen, tion.
nicht ersetzen. Deshalb herzlichen Dank an die Linke für (Beifall bei der FDP)
das Einbringen des Antrags. Wir empfinden aber die
vorgeschlagenen Quoren für Volksinitiativen als eindeu- Stephan Thomae (FDP):
tig zu niedrig. Ich möchte Ihnen einmal ein Gefühl dafür
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die
vermitteln, was ein Quorum von 100 000 Stimmen be- FDP ist direkte Demokratie kein Teufelszeug. Zunächst
deutet. Die Linke hat in Hamburg bei der letzten Bun- will ich deshalb ein paar Worte über das verlieren, was
destagswahl knapp 100 000 Stimmen bekommen. Über ich an diesem Antrag gut finde.
die Landesliste ist deshalb ein Abgeordneter in den Bun-
destag eingezogen. Es gibt ziemlich viele gute Gründe Ich bin der Meinung, dass diese repräsentative parla-
dafür, warum wir es in diesem Haus so handhaben, dass mentarische Demokratie in der Tat das beste politische
nicht ein einzelner Abgeordneter eine Gesetzesinitiative System ist, das wir in diesem Lande jemals hatten. Man
einbringen kann. könnte sich deswegen fragen: Wozu brauchen wir ei-
gentlich direktdemokratische Elemente? Es ist doch eine
(Beifall bei der SPD) unbequeme Sache, wenn das Volk dauernd mitmischt.
Aber auch Gutes kann man verbessern, auch Gutes kann
Ein solch niedriges Quorum wäre eine zu starke Entwer- und muss man gelegentlich weiterentwickeln. Deswegen
tung der Parlamente. Gleichzeitig sollten die Quoren begrüße ich es, dass wir nicht beim Guten stehen blei-
auch nicht zu hoch sein. Es bleibt deshalb dabei: Die ben, sondern uns auch Gedanken über Verbesserungen
SPD schlägt ein Quorum von 400 000 Stimmen für eine machen wollen.
Volksinitiative und von 5 Prozent der Wahlbevölkerung
für Volksentscheide vor. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
7900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Stephan Thomae
(A) Allerdings bin ich etwas irritiert über den Absender vielleicht haben Sie mit Diktaten nicht das Problem, das (C)
dieses Antrags; denn ich bringe die Linken sonst nicht wir als Liberale mit ihnen haben.
mit einem politischen System in Verbindung, in dem die
Meinungsfreiheit Andersdenkender der höchste Wert ist. Wir Liberale – das will ich ganz deutlich sagen – wol-
len mehr Demokratie, und das heißt auch, mehr direkte
(Beifall bei der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann Demokratie. Aber wir verstehen darunter mehr als nur
[DIE LINKE]: Das ist aber Ihr Problem!) Volksabstimmungen.
Deswegen sollte man einmal genauer hinschauen und ei- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, wir
nen zweiten Blick wagen. auch! Das habe ich ja gesagt!)

Mir fallen zwei Dinge an Ihrem Antrag auf, weshalb Wir wollen nicht nur die parlamentarische Demokratie
wir Liberale ihn ablehnen werden. weiterentwickeln, sondern auch die direkte Demokratie.
Wir wollen nicht einfach nur entweder parlamentarische
Erstens. Wir klagen häufig über eine abnehmende oder direkte Demokratie, sondern eine Verknüpfung der
Wahlbeteiligung. Nun kann es bei allgemeinen Wahlen beiden, wir wollen ein Ineinandergreifen, eine Verzah-
aus systematischen Gründen keine legitimatorische Un- nung.
tergrenze geben. Auch wenn sich nur wenige Menschen
an einer Wahl beteiligen, bleibt deswegen kein Sitz in ei- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nem Gemeinderat, Stadtrat, Landtag oder im Bundestag NEN]: Dann macht mal! Das klingt alles so
unbesetzt. Bei Abstimmungen stellt sich hingegen sehr schön!)
wohl die Frage nach einer legitimatorischen Unter- – Herr Kollege Wieland, deswegen enthält unser Koali-
grenze. tionsvertrag in diesem Punkt Ansätze dazu, wie wir im
Bereich des Petitionswesens eine Form der Volksinitia-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Warum?)
tive entwickeln, bei der aber die verantwortliche Ent-
Deswegen gibt es bei Volks- und Bürgerentscheiden mit scheidung beim Parlament verbleibt. Frau Kollegin
guten Gründen Quoren. Dabei sollen Eingangsquoren Mast, derzeit führen wir Gespräche mit unserem Koali-
nicht zu hoch sein, wodurch der Volksentscheid zur un- tionspartner hierüber, die wir auch zügig voranbringen
erreichbaren Verheißung würde. Sie sollen aber auch werden.
nicht zu niedrig sein, wodurch kampagnenfähige Min- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Bravo!
derheiten ihre Spezialinteressen sozusagen bei Nacht Bravo!)
und Nebel unbemerkt vorbeischmuggeln könnten.
Übrigens gibt es auch Vorstufen direkter Demokra-
(B) Zweitens. Es soll aber auch nicht das genaue Gegen- tie, die nicht unbeachtet bleiben sollten. Ich denke zum (D)
teil dessen geschehen: Abstimmungen sind naturgemäß Beispiel an das Modell der Bürgergutachten, wie sie die
reine Mehrheitsentscheidungen. Die Mehrheit majori- beiden Münchener Wissenschaftler Hilmar Sturm und
siert die Minderheit, auch wenn das Ergebnis noch so Christian Weilmeier entwickelt haben. Dabei geht es da-
knapp ausfallen sollte. 49 Prozent sind eigentlich keine rum, dass Bürger nach einem Zufallsprinzip ausgewählt
vernachlässigbare Größe; aber sie fallen bei Abstimmun- werden, dann in professionell moderierten Sitzungen auf
gen naturgemäß unter den Tisch. Eine Volksabstimmung Entscheidungen vorbereitet werden – dabei gibt es Ex-
kennt nur Ja oder Nein, sie kennt nur Sieger oder Verlie- pertenanhörungen, wie wir sie auch im Parlament ken-
rer. nen –, und dann wird ein Gutachten erstellt, in dem eine
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist wie Empfehlung für die Volksvertreter abgegeben wird, die
im Parlament!) dann eine verantwortliche Entscheidung zu treffen ha-
ben. Das ist, wie ich finde, ein sehr interessantes Modell.
Minderheitenaspekte, Randaspekte bleiben unberück-
Entscheidend ist für uns Liberale, dass direkte Demo-
sichtigt. Nun sagen Sie zu Recht, das sei hier doch auch
kratie weder ein Instrument für eine Minderheit sein
der Fall.
kann, um Mehrheitsverhältnisse auszuhebeln, noch ein
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!) Instrument für ein Parlament sein kann, sich einer Ent-
scheidung zu begeben. Deswegen befürworten wir grund-
Aber bei unseren Abstimmungen – das ist der Unter- sätzlich direktdemokratische Elemente. Den Gesetzent-
schied zur direkten Demokratie – geht die Kunst der wurf der Linken in der heute vorliegenden Form lehnen
Kompromissfindung voraus. Das ist, meine ich, der wir aber ab.
Vorzug, den wir hier im Parlament haben.
Ich danke Ihnen.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das sehe
ich seit einem Jahr!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wenn man nun diese beiden Schwächen – Minderhei-
tenthemen und Minderheitendiktat – kombiniert, dann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ergibt sich gerade wegen niedriger Quoren das Problem Für die SPD-Fraktion hat Klaus Hagemann jetzt das
des Diktats einer Mehrheit, die in Wirklichkeit eine Min- Wort.
derheit ist. Vor diesem Hintergrund hat das niedrige Ein-
gangsquorum im Antrag der Linken vielleicht Kalkül; (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7901

(A) Klaus Hagemann (SPD): Ich bin froh darüber, dass uns die Union gefolgt ist. (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wir mussten euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, erst
Herren! Wir führen eine schon fast anderthalbstündige zum Jagen tragen.
Debatte über den Gesetzentwurf der Linken. Sie haben
dargelegt, dass man von der Politikverdrossenheit der (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Menschen ausgehen muss, dass es zu wenig Möglichkei- Ihr hattet so viele Bedenken. Heute wird das auch von
ten der politischen Einflussnahme gibt, dass Petitionen der Union begrüßt und als positiv dargestellt. Damit sind
nicht ausreichen. „Zuschauerdemokratie“ ist ein Wort wir auf dem richtigen Weg. Ihr werdet auch noch dahin
von Ihnen. kommen, zu erkennen, dass eine stärkere Bürgerbeteili-
Wir sollten unsere repräsentative Demokratie, wie sie gung im Grundgesetz zu verankern ist.
in über 60 Jahren gewachsen ist und die sich bewährt Meine Damen und Herren, wir müssen auch die Ver-
hat, nicht schlechtreden; das möchte ich unterstreichen. fahrensgrundsätze im Petitionsverfahren weiterentwi-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ckeln. Was wir vorgesehen haben, hat sich zum Teil als
FDP) zu eng erwiesen. In drei Wochen müssen 50 000 Unter-
schriften eingehen. Die Zeit ist zu knapp bemessen; sie
Aber – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, muss ausgeweitet werden, damit sich mehr Bürger betei-
vielleicht haben Sie zu früh geklatscht – ligen können; die Begeisterung ist da. „Hebammen“,
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Der Satz allein „Internetsperren“, „GEMA“ und viele andere Themen
war schon sehr gut!) sind zu nennen, bei denen wir etwas umgesetzt haben.

wir müssen auch die gesellschaftliche Entwicklung se- Wenn es um eine Ausweitung des Petitionsrechts
hen, so wie meine beiden Kolleginnen Fograscher und geht, Kollege Thomae, reicht es nicht aus, dass wir hier
Kolbe das dargelegt haben. Das müssen wir in die Über- im Plenum des Bundestages über Petitionen diskutieren;
legungen einbeziehen und deswegen auch mehr Bürger- denn da kann der Petent gar nicht mitwirken. Wichtig ist,
beteiligung in unser Grundgesetz hineinschreiben. mehr öffentliche Petitionen zu behandeln, an denen der
Petent und die Petentin selbst mitwirken und mit disku-
Dazu fällt mir ein Vorschlag des Landes Rheinland- tieren können. Deshalb ist das nur ein Schritt, und es
Pfalz ein. Dort will man in den nächsten Wochen und Ta- muss ein größerer gemacht werden.
gen intensiv über eine mehrstufige Bürgerbeteiligung bei
großen Baumaßnahmen diskutieren. Dort will man die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bürger von Anfang an in die Meinungsbildung und in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) die Entscheidung einbeziehen. Ich glaube, damit sind (D)
Meine Damen und Herren, wir von der SPD – der An-
wir auf dem richtigen Weg.
trag von 2002 hat es bewiesen – wollen mehr plebeszi-
(Beifall bei der SPD) täre Elemente als Ergänzung der repräsentativen Demo-
kratie auf Bundesebene haben. Warum wir dem Antrag
Auf der Unionsseite war eben von der Dagegen-De- der Linken nicht zustimmen können, haben meine bei-
mokratie die Rede. Ich frage mich: Wie ist das denn in den Vorrednerinnen schon wunderbar begründet.
anderen europäischen Ländern, in denen es Volksabstim-
mungen, Referenden, gibt? Ist das in Frankreich, in Ir- Vielen Dank.
land, in Dänemark usw. auch eine Dagegen-Demokratie?
Nein! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn wir schon auf die europäische Ebene schauen,
meine Damen und Herren, dann sollten wir auch daran
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
denken, dass es das europäische Volksbegehren gibt.
Das Europäische Parlament hat sich mit den Stimmen Ich schließe die Aussprache.
der Europäischen Volkspartei, also Ihrer Parteifamilie,
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
Kolleginnen und Kollegen von der Union, für eine stär-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundge-
kere Bürgerbeteiligung eingesetzt. Folgen Sie doch dem
setzes, Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung
Beispiel Ihrer Kollegen in Brüssel!
in das Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3609,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Wir stimmen über den Gesetzentwurf namentlich ab. Ich
Ich möchte in meiner Argumentation auch das Peti- bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgese-
tionsrecht nicht zu kurz kommen lassen, Kollege henen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? –
Thomae; denn das ist sehr wichtig. Wir haben es ge- Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
meinsam weiterentwickelt in Richtung einer stärkeren
Bürgerbeteiligung. Wir haben am Montag dieser Woche Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
wieder erlebt, wie die Menschen vom Petitionsrecht Ge- Stimmkarte nicht abgeben konnte? – Ist jetzt noch ein
brauch machen; ich nenne nur die elektronische Petition Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte
und die öffentliche Petitionsberatung. Hier sind wir auf nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann
einem guten Weg. schließe ich die Abstimmung.
7902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit sondern oftmals das Provisionsinteresse der Institute im (C)
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- Vordergrund stand. Die Bundesanstalt für Finanzdienst-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) leistungsaufsicht, BaFin, verfügt bislang leider noch
nicht über ausreichende Mittel, um diesen Missständen
Wir setzen die Beratungen fort.
wirkungsvoll begegnen zu können. Deshalb zielt unser
(Unruhe – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Gesetzentwurf darauf ab, die Berater und, was noch
GRÜNEN]: Frau Präsidentin, sorgen Sie für wichtiger ist, die Vertriebsverantwortlichen in den Fokus
Ordnung!) der Finanzaufsicht zu nehmen.
– Jetzt würde ich gerne erst einmal die Debatte fortset- Hierzu wird bei der Bundesanstalt für Finanzdienst-
zen und bitte die Kolleginnen und Kollegen, die hier im- leistungsaufsicht eine Datenbank eingerichtet werden, an
mer noch in der Mitte stehen, sich zu setzen. die die Institute angestellte Anlageberater, Verantwortli-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: che für den Vertrieb und die sogenannten Compliance-
Beauftragten melden müssen. Ganz entscheidend ist:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dabei muss die Qualifikation dieser Personen bestätigt
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- und im Einzelfall nachgewiesen werden.
kung des Anlegerschutzes und Verbesserung
der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts Schließlich sollen die Institute verpflichtet werden,
(Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungs- die BaFin über Beschwerden von Kunden zu informie-
gesetz) ren, die sich auf die Anlageberatung beziehen. Stellt die
BaFin schwerwiegende Verstöße gegen das Gebot einer
– Drucksache 17/3628 – anlegergerechten Beratung fest, soll sie in Zukunft ver-
Überweisungsvorschlag: langen können, dass die betroffenen Mitarbeiter bis zu
Finanzausschuss (f)‘
Rechtsausschuss
zwei Jahre nicht mehr in der Anlageberatung eingesetzt
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und werden.
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss Die Finanzmarktaufsicht wird damit zukünftig ein
deutlicheres Bild der Situation in der Anlageberatung er-
Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie- halten und in die Lage versetzt werden, Fehlentwicklun-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann gen stärker entgegenzuwirken – ein ganz großer Schritt
ist das so beschlossen. im Hinblick auf einen besseren Anlegerschutz!
Ich gebe als Erstem das Wort dem Kollegen Parla-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) mentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk. (D)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Gewährleis-
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- tung einer fachlich qualifizierten und anlageorientierten
desminister der Finanzen: Beratung ist nur eine wichtige Voraussetzung. Richtiger
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Anlegerschutz muss darüber hinaus dafür Sorge tragen,
Die Bundesregierung ist entschlossen, sich international, dass die Anleger über ein möglichst fundiertes Wissen
auf europäischer Ebene, aber auch national dafür einzu- über die ihnen empfohlenen Finanzprodukte verfügen.
setzen, dass alle Finanzmärkte, alle Finanzmarktakteure Deshalb sehen wir die Einführung von Produktinforma-
und alle Finanzinstrumente einer angemessenen Auf- tionsblättern vor, die häufig auch als Beipackzettel be-
sicht und Regulierung unterworfen werden. Das hat die zeichnet werden. Auf zwei, höchstens drei Seiten sollen
Bundeskanzlerin vor und im Rahmen des G-20-Gipfels in Zukunft wesentliche Eigenschaften des Finanzinstru-
noch einmal deutlich gemacht; denn die Finanzmarkt- ments in einer für den Kunden verständlichen Form dar-
krise hat aufgezeigt, dass die Stabilität und Funktionsfä- gestellt werden.
higkeit der Kapitalmärkte dann gefährdet sind, wenn das
Vertrauen der Marktteilnehmer und der Bevölkerung in Angesichts der dramatischen Lage bei offenen Immo-
funktionierende Märkte und ein faires, kundenorientier- bilienfonds haben wir auch dieses Thema in dem Gesetz-
tes Finanzdienstleistungsangebot ausgehöhlt wird. Dem entwurf angepackt. Durch geeignete regulatorische
tragen wir mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes Maßnahmen soll der Immobilienfondsmarkt in Zukunft
zur Stärkung des Anlegerschutzes und der Verbesserung krisenfester gestaltet werden, um damit das Vertrauen
der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts Rechnung. der Anleger in dieses Finanzinstrument wiederzugewin-
nen. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht daher vor,
Ein zentrales Anliegen dieses Gesetzesvorhabens ist dass Anleger ihre Anteile an offenen Immobilienfonds in
es, einen verbesserten Schutz der Anleger vor Falschbe- den ersten zwei Jahren nach dem Erwerb nicht zurückge-
ratung zu gewährleisten. ben können. In den anschließenden zwei Jahren können
(Beifall bei der CDU/CSU) die Anteile nur gegen einen Rücknahmeabschlag zu-
rückgegeben werden. Hiervon ausgenommen sind Be-
In der Vergangenheit ist der Eindruck entstanden – da- träge bis zu 5 000 Euro pro Monat und Anleger. Damit
raus müssen wir die Konsequenzen ziehen –, dass bei wollen wir gewährleisten, dass Kleinanleger von diesen
Anlageberatungen nicht immer das Kundeninteresse, Einschränkungen faktisch nicht betroffen werden. Au-
ßerdem müssen die Immobilien in den Fonds zukünftig
1) Ergebnis Seite 7905 C zu jedem Ausgabe- und Rücknahmetermin bewertet
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7903
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(A) werden. Damit sollen sachgerechte Anteilspreise ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
währleistet werden. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mangelhafte Trans-
parenz kann an den Finanzmärkten zu schwerwiegenden Das Bestreben, den gesamten grauen Kapitalmarkt bes-
Marktverwerfungen und zu unternehmensgefährdenden ser zu regulieren, ist dem Lobbyismus schon in den Vor-
Fehlentwicklungen führen. Die Übernahmefälle VW/ beratungen zum Opfer gefallen.
Porsche und Continental/Schaeffler haben deutlich ge-
macht, dass die bisherigen Meldepflichten im Hinblick (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warten Sie
auf Beteiligungen an Unternehmen nicht ausreichen, um mal ab, Herr Kollege!)
die erforderliche Transparenz zu schaffen. Die Nutzung – Das muss man so deutlich sagen: Es ist dem Lobbyis-
von Finanzinstrumenten, die keine Meldepflicht auslö- mus zum Opfer gefallen. Sie sind mit diesem Gesetzent-
sen, ermöglichte in der Vergangenheit ein unbemerktes wurf als Tiger gestartet, und Sie landen als Bettvorleger.
Anschleichen an die Unternehmen. Um derartige Fälle
des Anschleichens in Zukunft zu verhindern, sieht unser (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Nicht einmal als
Gesetzentwurf die Einführung neuer Meldepflichten für Bettvorleger!)
Finanzinstrumente mit Barausgleich und für Geschäfte
mit ähnlicher Wirkung, zum Beispiel Wertpapierdarle- Nichts anderes ist das, was Sie hier vorführen.
hen, vor. Im ursprünglichen Gesetzentwurf, im Referentenent-
Sie sehen: Wichtige Elemente des Anlegerschutzes wurf des Bundesfinanzministers, war natürlich auch vor-
werden in diesem Gesetzentwurf aufgegriffen. Ein wich- gesehen, den grauen Kapitalmarkt, vor allem die freien
tiges Vorhaben haben wir vorab umgesetzt: Wir haben Vermittler und nicht nur die Banken diesem Gesetz zu
einen Beitrag zur Bekämpfung missbräuchlicher Wert- unterwerfen und damit eine einheitliche und ganzheitli-
papiergeschäfte geleistet, indem wir das mit diesem Ge- che Regelung zu treffen. Damit ist Herr Schäuble bei
setzentwurf ursprünglich geplante Verbot ungedeckter Herrn Brüderle gescheitert.
Leerverkäufe vorgezogen haben. Hier ist Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vorausgegangen. Inzwischen folgt uns die Europäische der LINKEN)
Kommission mit einem eigenen Vorhaben.
An dieser Stelle ist aus politischer Opportunität ein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schwerer konzeptioneller Fehler gemacht worden. Die
neten der FDP) Fairness im Verbraucherschutz geht baden, der Lobbyis-
(B) Ich kündige an, dass wir auch das Thema grauer Ka- mus blüht. Das ist die Wahrheit, die wir hier sehen. (D)
pitalmarkt anpacken werden. Hierzu befinden wir uns in (Beifall bei der SPD)
der Ressortabstimmung. Wir wollen noch in diesem Jahr
auch zu diesem wichtigen Sachverhalt einen in der Bun- Ich will Ihnen gerne anhand eines Beispiels verdeutli-
desregierung abgestimmten Referentenentwurf vorle- chen, dass es andere Möglichkeiten gegeben hätte. Un-
gen. Ich bitte um zügige Beratung und Zustimmung zu sere Grundüberzeugung ist – diese Überzeugung wurde
diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung. auch von der Kanzlerin vor der G 20 betont –, dass wir
einheitliche Regelungen für alle brauchen. Sie wollen
Herzlichen Dank. aber nur die Beratungen, die den Bankensektor betref-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen, regeln, und alles, was den Markt der freien Vermitt-
ler betrifft, zur Ausnahme erklären. Sie nehmen diesen
Bereich aus dem Kreditwesengesetz heraus und packen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ihn in die Gewerbeordnung. Damit wird dieses Gesetz
Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun Carsten ein zahnloser Tiger. Das haben die FDP, Brüderle und
Sieling. die entsprechende Lobby zu verantworten.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ich hoffe, dass es an dieser Stelle Änderungen gibt. Ich
Dr. Carsten Sieling (SPD):
bin sehr auf die Debatte und vor allen Dingen auf die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weiteren Beratungen gespannt.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben erst am
Schluss Ihrer Rede auf den politisch wirklich brisanten Natürlich wollen wir nicht überbürokratisieren. Aber
Punkt hingewiesen. Zuvor haben Sie drei Elemente die- es gab den Vorschlag, das Kreditwesengesetz in der Weise
ses Gesetzentwurfs ausführlich benannt: die umgehende behutsam auszugestalten – sozusagen ein KWG light zu
und umfassende Registrierungspflicht, der die Banken schaffen –, dass kleine Unternehmen, die im Vermitt-
unterworfen sind; das Anschleichen; Produktinforma- lungsgeschäft tätig sind, anders behandelt werden als
tionsblätter. Aber Sie haben uns hier nicht deutlich ge- zum Beispiel die Deutsche Bank und andere Großban-
macht – das will ich gerne herausarbeiten –, dass von ken. Da gibt es Möglichkeiten. Am Ende des Tages müs-
dem Referentenentwurf, der ursprünglich mehrere Zenti- sen vor allem der Anleger und der Verbraucher geschützt
meter dick war und der vor allem wichtige Themen be- werden. Das ist die politische Herausforderung, vor der
handelte, nichts übrig geblieben ist. wir stehen. Sie bieten uns aber nur eine Mogelpackung.
7904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dr. Carsten Sieling


(A) Ich möchte dieses Thema vertiefen; wir haben im (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist meine (C)
Finanzausschuss schon angefangen, darüber zu diskutie- Art, Herr Kollege!)
ren. Herr Kollege Flosbach hat sehr ausführlich darge-
stellt, – Ja, das ist Ihre charmante Art. Das freut mich. – Sie ha-
ben gesagt:
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das ist ein
guter Mann! Da haben Sie recht!) Mit einer deutlich erleichterten Aufsicht nach dem
Kreditwesengesetz hätte der Verbraucherschutz im
es werde ein einheitliches Recht für Vermittler geschaf- Finanzdienstleistungsbereich deutlich verbessert
fen, in das Vermittler von Versicherungen einbezogen werden können.
seien. Wunderbar, kann ich nur sagen. Aber wenn man
sich das Ganze etwas genauer anschaut, dann wird man (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich bleibe
feststellen, dass schon jetzt 70 bis 80 Prozent der Ver- dabei!)
mittler aus der Aufsicht herausfallen. Vor allem aber Das ist richtig. Nun geben Sie sich auch einmal Mühe.
wollen Sie die Aufsichtsregelungen in die Gewerbeord- Setzen Sie die bessere Regelung durch! Der graue Kapi-
nung packen. talmarkt muss staatlich beaufsichtigt werden. Damit fällt
In diesem Zusammenhang muss man sich fragen: Wer er unter das KWG und unter die Aufsicht der BaFin und
ist dann die Aufsicht? Es ist dann nicht mehr die BaFin, nicht der Gewerbeämter.
sondern es sind die Gewerbeämter. Schauen Sie sich ein- (Beifall bei der SPD)
mal die Aufgaben der Gewerbeämter an. Sie kümmern
sich um die Gaststättenhygiene und viele andere Dinge. Das müssen wir im Laufe der Beratungen erreichen.
Sie sind außerdem personell unterbesetzt und unterlie-
gen in jedem Bundesland anderen Regelungen. Wir be- Zum vorliegenden Gesetzentwurf will ich sagen: Er
kommen, was die Aufsicht angeht, einen Flickenteppich geht in die richtige Richtung; denn die Befugnisse der
und keinen allgemein geltenden Schutz der Anlegerin- BaFin sollen ausgeweitet werden. Die BaFin soll in Zu-
nen und Anleger. Das ist das Manko dieses Gesetzent- kunft – zumindest für den Bereich der Banken – ein Ver-
wurfs. mittlerregister mit der Möglichkeit zur Aufnahme von
Beschwerdemeldungen führen. Das führt zu verbesser-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) ten Informationen. Es gibt aber noch gewaltige Mängel
Dies ist nicht nur die Meinung der Sozialdemokraten im Bereich der Qualifikation des Personals.
und der Opposition insgesamt. Ich bin sehr froh darüber, Solche Mängel sehe ich auch beim Produktinforma-
dass es auch unterstützende Stimmen bis in die Regie- tionsblatt. Die SPD hat Vorschläge gemacht, wie das
rungsfraktionen hinein gibt. Ich möchte zunächst auf den Produktinformationsblatt viel konkreter gefasst werden (D)
(B)
entsprechenden Bundesratsbeschluss hinweisen. Der kann. Das brauchen wir; das muss umgesetzt werden.
Bundesrat hat mit Stimmen der CDU-Länder beschlos-
sen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Demgegenüber spricht sich der Bundesrat dafür Lassen Sie mich die offenen Immobilienfonds anspre-
aus, den Grauen Kapitalmarkt angesichts der inhalt- chen. Das ist ein weiterer Regelungsbereich, in dem ge-
lichen Sachnähe in den Anwendungsbereich des rade angesichts der Verwerfungen der letzten Wochen
Wertpapierhandlungsgesetzes einzubeziehen. Schritte vorgenommen werden sollten. Ich verweise
auch hier auf ein Votum des Bundesrates: Es ist zu über-
(Beifall bei der SPD) legen, wie auf der einen Seite die privaten Anleger und
Recht hat er. Meine Damen und Herren, hören Sie also auf der anderen die institutionellen Anleger zu behan-
auf den Bundesrat! deln sind. Schafe und Wölfe müssen voneinander ge-
trennt werden; nur dann bringen wir einen ordentlichen
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Gilt das Anlegerschutz zustande.
immer, Herr Kollege?)
(Beifall bei der SPD)
– Immer dann, wenn der Bundesrat recht hat. Wir sind
mit Blick auf die Landtagswahlen in Baden-Württem- Wir stehen vor einem Beratungsverfahren, in dem
berg auf einem sehr guten Wege, Herr Dautzenberg, dass verschiedene Änderungen in Angriff genommen werden
sich die Mehrheit im Bundesrat weiter zu unseren Guns- müssen. Ich fordere Sie vor allem auf, dass Sie die Ge-
ten verändert. setzgebungsvorhaben, die Sie aus politisch-lobbyisti-
schen Gründen künstlich voneinander getrennt haben,
Frau Merk, die Verbraucherschutzministerin in Bay- wieder zusammenführen, damit Deutschland einen ein-
ern, sagte ganz ausdrücklich:
heitlichen Anlegerschutz erhält. Wir brauchen dafür eine
Daher bin ich überrascht, dass nun offenbar doch deutliche Revision des vorliegenden Gesetzentwurfs.
die Gewerbeaufsicht weiterhin für die freien Anla- Herr Brüderle muss zurücktreten. Herr Schäuble hat an
geberater und -vermittler zuständig sein soll. der Stelle den richtigen Weg gewählt.
Sie lehnt diese Regelung ebenfalls ab. Ich kann sie dabei (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nur unterstützen. Frau Merk, setzen Sie sich durch!
An dieser Stelle möchte ich ihn unterstützen und bestär-
Herr Kollege Dautzenberg, Sie haben sich in vorneh- ken. Ich bin jetzt sehr gespannt, wie Kollege Schäffler
mer und zurückhaltender Weise geäußert. von der FDP dieses Thema lobbyistisch darstellen wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7905
Dr. Carsten Sieling
(A) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Abstimmung zu dem von der Fraktion Die Linke einge- (C)
brachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
(Beifall bei der SPD)
Grundgesetzes – Einführung der dreistufigen Volksge-
setzgebung in das Grundgesetz – mit: abgegebene Stim-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: men 521. Mit Ja haben gestimmt 61, mit Nein haben ge-
Ich unterbreche die Diskussion zu diesem Tagesord- stimmt 400, Enthaltungen 60. Der Gesetzentwurf ist
nungspunkt und teile das von den Schriftführerinnen und damit abgelehnt.
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen

Endgültiges Ergebnis Richard Pitterle Ingrid Fischbach Dr. Stefan Kaufmann


Abgegebene Stimmen: 524; Yvonne Ploetz Hartwig Fischer (Göttingen) Roderich Kiesewetter
davon Ingrid Remmers Dirk Fischer (Hamburg) Eckart von Klaeden
Paul Schäfer (Köln) Dr. Maria Flachsbarth Ewa Klamt
ja: 61
Kathrin Senger-Schäfer Klaus-Peter Flosbach Volkmar Klein
nein: 400 Raju Sharma Dr. Hans-Peter Friedrich Jürgen Klimke
enthalten: 63 Dr. Petra Sitte (Hof) Axel Knoerig
Kersten Steinke Michael Frieser Jens Koeppen
Ja Sabine Stüber Erich G. Fritz Dr. Kristina Schröder
Alexander Süßmair Hans-Joachim Fuchtel Manfred Kolbe
DIE LINKE Dr. Kirsten Tackmann Alexander Funk Dr. Rolf Koschorrek
Dr. Axel Troost Ingo Gädechens Hartmut Koschyk
Agnes Alpers Alexander Ulrich Dr. Thomas Gebhart Michael Kretschmer
Dr. Dietmar Bartsch Kathrin Vogler Norbert Geis Gunther Krichbaum
Herbert Behrens Halina Wawzyniak Alois Gerig Dr. Günter Krings
Karin Binder Harald Weinberg Eberhard Gienger Rüdiger Kruse
Matthias W. Birkwald Jörn Wunderlich Michael Glos Bettina Kudla
Heidrun Bluhm Josef Göppel Dr. Hermann Kues
Steffen Bockhahn Peter Götz Günter Lach
Eva Bulling-Schröter Nein
Dr. Wolfgang Götzer Andreas G. Lämmel
Dr. Martina Bunge Hermann Gröhe Dr. Norbert Lammert
Roland Claus CDU/CSU
Michael Grosse-Brömer Katharina Landgraf
(B) Sevim Dağdelen Ilse Aigner Markus Grübel Ulrich Lange (D)
Dr. Diether Dehm Peter Altmaier Manfred Grund Dr. Max Lehmer
Heidrun Dittrich Peter Aumer Monika Grütters Paul Lehrieder
Werner Dreibus Dorothee Bär Olav Gutting Dr. Ursula von der Leyen
Dr. Dagmar Enkelmann Thomas Bareiß Florian Hahn Ingbert Liebing
Wolfgang Gehrcke Norbert Barthle Holger Haibach Matthias Lietz
Nicole Gohlke Günter Baumann Dr. Stephan Harbarth Dr. Carsten Linnemann
Diana Golze Ernst-Reinhard Beck Gerda Hasselfeldt Patricia Lips
Annette Groth (Reutlingen) Dr. Matthias Heider Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Gregor Gysi Manfred Behrens (Börde) Mechthild Heil Dr. Michael Luther
Heike Hänsel Veronika Bellmann Ursula Heinen-Esser Karin Maag
Inge Höger Dr. Christoph Bergner Frank Heinrich Dr. Thomas de Maizière
Dr. Barbara Höll Peter Beyer Rudolf Henke Hans-Georg von der Marwitz
Andrej Hunko Steffen Bilger Michael Hennrich Andreas Mattfeldt
Ulla Jelpke Clemens Binninger Jürgen Herrmann Stephan Mayer (Altötting)
Katja Kipping Peter Bleser Ansgar Heveling Dr. Michael Meister
Harald Koch Dr. Maria Böhmer Ernst Hinsken Maria Michalk
Jan Korte Wolfgang Börnsen Peter Hintze Dr. h. c. Hans Michelbach
Jutta Krellmann (Bönstrup) Christian Hirte Dr. Mathias Middelberg
Katrin Kunert Wolfgang Bosbach Franz-Josef Holzenkamp Philipp Mißfelder
Caren Lay Norbert Brackmann Joachim Hörster Dietrich Monstadt
Sabine Leidig Klaus Brähmig Anette Hübinger Marlene Mortler
Ralph Lenkert Michael Brand Thomas Jarzombek Stefan Müller (Erlangen)
Michael Leutert Helmut Brandt Dieter Jasper Nadine Schön (St. Wendel)
Ulla Lötzer Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Franz Josef Jung Dr. Philipp Murmann
Dr. Gesine Lötzsch Dr. Helge Braun Andreas Jung (Konstanz) Bernd Neumann (Bremen)
Thomas Lutze Heike Brehmer Dr. Egon Jüttner Michaela Noll
Dorothee Menzner Ralph Brinkhaus Hans-Werner Kammer Dr. Georg Nüßlein
Cornelia Möhring Leo Dautzenberg Steffen Kampeter Franz Obermeier
Kornelia Möller Alexander Dobrindt Alois Karl Henning Otte
Wolfgang Nešković Thomas Dörflinger Bernhard Kaster Dr. Michael Paul
Thomas Nord Marie-Luise Dött Siegfried Kauder (Villingen- Rita Pawelski
Petra Pau Dr. Thomas Feist Schwenningen) Ulrich Petzold
Jens Petermann Enak Ferlemann Volker Kauder Dr. Joachim Pfeiffer
7906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Sibylle Pfeiffer Elisabeth Winkelmeier- Hilde Mattheis Rainer Erdel (C)
Beatrix Philipp Becker Petra Merkel (Berlin) Jörg van Essen
Ronald Pofalla Dr. Matthias Zimmer Dr. Matthias Miersch Ulrike Flach
Christoph Poland Wolfgang Zöller Franz Müntefering Otto Fricke
Ruprecht Polenz Willi Zylajew Dr. Rolf Mützenich Dr. Edmund Peter Geisen
Eckhard Pols Andrea Nahles Hans-Michael Goldmann
Dr. Peter Ramsauer SPD Manfred Nink Heinz Golombeck
Eckhardt Rehberg Thomas Oppermann Miriam Gruß
Ingrid Arndt-Brauer
Katherina Reiche (Potsdam) Holger Ortel Dr. Christel Happach-Kasan
Rainer Arnold
Lothar Riebsamen Aydan Özoğuz Heinz-Peter Haustein
Heinz-Joachim Barchmann
Josef Rief Heinz Paula Manuel Höferlin
Doris Barnett
Klaus Riegert Johannes Pflug Elke Hoff
Dr. Hans-Peter Bartels Birgit Homburger
Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Wilhelm Priesmeier
Klaus Barthel Dr. Werner Hoyer
Johannes Röring Mechthild Rawert
Sören Bartol Heiner Kamp
Dr. Christian Ruck Gerold Reichenbach
Bärbel Bas Michael Kauch
Erwin Rüddel Dr. Carola Reimann
Dirk Becker Dr. Lutz Knopek
Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Ernst Dieter Rossmann
Lothar Binding (Heidelberg) Pascal Kober
Dr. Annette Schavan Karin Roth (Esslingen)
Klaus Brandner Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. Andreas Scheuer Michael Roth (Heringen)
Edelgard Bulmahn Gudrun Kopp
Karl Schiewerling Anton Schaaf
Petra Crone Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Axel Schäfer (Bochum)
Tankred Schipanski Dr. Peter Danckert Sebastian Körber
Marianne Schieder
Georg Schirmbeck Martin Dörmann Holger Krestel
(Schwandorf)
Christian Schmidt (Fürth) Elvira Drobinski-Weiß Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Werner Schieder (Weiden)
Patrick Schnieder Garrelt Duin Heinz Lanfermann
Silvia Schmidt (Eisleben)
Dr. Andreas Schockenhoff Sebastian Edathy Sibylle Laurischk
Carsten Schneider (Erfurt)
Dr. Ole Schröder Siegmund Ehrmann Harald Leibrecht
Olaf Scholz
Bernhard Schulte-Drüggelte Petra Ernstberger Sabine Leutheusser-
Swen Schulz (Spandau)
Uwe Schummer Elke Ferner Schnarrenberger
Ewald Schurer
Armin Schuster (Weil am Gabriele Fograscher Lars Lindemann
Rolf Schwanitz
Rhein) Dr. Edgar Franke Christian Lindner
Stefan Schwartze
Detlef Seif Dagmar Freitag Dr. Martin Lindner (Berlin)
Rita Schwarzelühr-Sutter
Johannes Selle Martin Gerster Michael Link (Heilbronn)
Dr. Carsten Sieling
Reinhold Sendker Iris Gleicke Dr. Erwin Lotter
Sonja Steffen
Dr. Patrick Sensburg Günter Gloser Horst Meierhofer
Peer Steinbrück
(B) Bernd Siebert Angelika Graf (Rosenheim)
Dr. Frank-Walter Steinmeier Gabriele Molitor (D)
Thomas Silberhorn Michael Groschek Petra Müller (Aachen)
Christoph Strässer
Johannes Singhammer Michael Groß Dr. Martin Neumann
Kerstin Tack
Jens Spahn Wolfgang Gunkel (Lausitz)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Carola Stauche Hans-Joachim Hacker Dirk Niebel
Franz Thönnes
Dr. Frank Steffel Bettina Hagedorn Hans-Joachim Otto
Wolfgang Tiefensee
Christian Freiherr von Stetten Klaus Hagemann (Frankfurt)
Rüdiger Veit
Dieter Stier Michael Hartmann Gisela Piltz
Dr. Marlies Volkmer
(Wackernheim) Dr. Christiane Ratjen-
Gero Storjohann Dr. Dieter Wiefelspütz
Hubertus Heil (Peine) Damerau
Stephan Stracke Waltraud Wolff
Rolf Hempelmann Dr. Birgit Reinemund
Max Straubinger (Wolmirstedt)
Dr. Barbara Hendricks Dr. Peter Röhlinger
Karin Strenz Manfred Zöllmer
Gabriele Hiller-Ohm Björn Sänger
Thomas Strobl (Heilbronn) Brigitte Zypries
Petra Hinz (Essen) Frank Schäffler
Lena Strothmann Frank Hofmann (Volkach)
FDP Christoph Schnurr
Michael Stübgen Dr. Eva Högl Jimmy Schulz
Dr. Peter Tauber Christel Humme Christian Ahrendt Marina Schuster
Antje Tillmann Josip Juratovic Christine Aschenberg- Dr. Erik Schweickert
Dr. Hans-Peter Uhl Oliver Kaczmarek Dugnus Werner Simmling
Arnold Vaatz Johannes Kahrs Daniel Bahr (Münster) Judith Skudelny
Volkmar Vogel (Kleinsaara) Ulrich Kelber Florian Bernschneider Dr. Hermann Otto Solms
Stefanie Vogelsang Lars Klingbeil Sebastian Blumenthal Joachim Spatz
Andrea Astrid Voßhoff Daniela Kolbe (Leipzig) Claudia Bögel Dr. Max Stadler
Dr. Johann Wadephul Nicolette Kressl Nicole Bracht-Bendt Torsten Staffeldt
Marco Wanderwitz Angelika Krüger-Leißner Klaus Breil Stephan Thomae
Kai Wegner Ute Kumpf Angelika Brunkhorst Florian Toncar
Marcus Weinberg (Hamburg) Christine Lambrecht Ernst Burgbacher Serkan Tören
Peter Weiß (Emmendingen) Christian Lange (Backnang) Marco Buschmann Johannes Vogel
Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Canel (Lüdenscheid)
Ingo Wellenreuther Steffen-Claudio Lemme Helga Daub Dr. Daniel Volk
Karl-Georg Wellmann Burkhard Lischka Reiner Deutschmann Dr. Guido Westerwelle
Peter Wichtel Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Claudia Winterstein
Annette Widmann-Mauz Caren Marks Patrick Döring Dr. Volker Wissing
Klaus-Peter Willsch Katja Mast Mechthild Dyckmans Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7907
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) BÜNDNIS 90/ Viola von Cramon-Taubadel Sylvia Kotting-Uhl Lisa Paus (C)
DIE GRÜNEN Katja Dörner Oliver Krischer Brigitte Pothmer
Hans-Josef Fell Agnes Krumwiede Claudia Roth (Augsburg)
Ulrike Höfken
Dr. Thomas Gambke Fritz Kuhn Krista Sager
Kai Gehring Stephan Kühn Manuel Sarrazin
Enthalten Katrin Göring-Eckardt Renate Künast Elisabeth Scharfenberg
Britta Haßelmann Markus Kurth Christine Scheel
DIE LINKE Bettina Herlitzius Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Gerhard Schick
Dr. Ilja Seifert Winfried Hermann Monika Lazar Dr. Frithjof Schmidt
Priska Hinz (Herborn) Nicole Maisch Dorothea Steiner
BÜNDNIS 90/ Dr. Anton Hofreiter Agnes Malczak Dr. Wolfgang Strengmann-
DIE GRÜNEN Ingrid Hönlinger Jerzy Montag Kuhn
Thilo Hoppe Kerstin Müller (Köln) Hans-Christian Ströbele
Kerstin Andreae Uwe Kekeritz Beate Müller-Gemmeke Markus Tressel
Marieluise Beck (Bremen) Katja Keul Ingrid Nestle Jürgen Trittin
Volker Beck (Köln) Sven-Christian Kindler Dr. Konstantin von Notz Daniela Wagner
Cornelia Behm Maria Klein-Schmeink Omid Nouripour Wolfgang Wieland
Birgitt Bender Ute Koczy Friedrich Ostendorff Dr. Valerie Wilms
Alexander Bonde Tom Koenigs Dr. Hermann Ott Josef Philip Winkler

Wir kommen zurück zur Tagesordnung. Ich erteile den, also um Mehrheiten zu beschaffen, ohne das dem
Kollegen Frank Schäffler für die FDP-Fraktion das Kapitalanleger mitzuteilen. Unsere Regelungen haben
Wort. sehr viel mit Anlegerschutz zu tun; denn dieses Vorge-
hen hat im Wesentlichen denjenigen Kleinanlegern in
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deutschland massiv geschadet, die in Finanzinstrumente
der CDU/CSU) investiert hatten, die zum Beispiel an die Entwicklung
des Deutschen Aktienindex angelehnt sind. Insofern ist
Frank Schäffler (FDP): der Gesetzentwurf ein großer Beitrag zum Anleger-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor- schutz. Wir setzen das jetzt in der Koalition um. Das ha-
liegende Gesetzentwurf behandelt drei Aspekte. ben Sie von der SPD im Jahr 2008, als diese Fälle auftra-
ten, nicht getan.
(B) Erstens geht es um die offenen Immobilienfonds, also (D)
um die Frage: Wie können wir die offenen Immobilien- Drittens führen wir Sanktionsmöglichkeiten der
fonds für die Zukunft fitmachen, sodass sie für die BaFin im Bereich des Bankenmarktes im Falle von
Kleinanleger in Deutschland tatsächlich eine attraktive Falschberatungen ein. Auch das ist ein wichtiger Beitrag
Anlage darstellen? Die Notwendigkeit, hier Änderungen zu mehr Verbraucherschutz in Deutschland.
vorzunehmen, ist sicherlich der Geschichte dieser Pro-
Herr Sieling, darüber will ich mit Ihnen durchaus eine
dukte geschuldet. Inzwischen wurden 25 Prozent der
Diskussion führen. Es ist wichtig, dass wir die Frage des
Fonds, gemessen am Anlagevolumen, geschlossenen
freien Vertriebes hier nicht geregelt haben; denn das,
oder befinden sich in der Abwicklung. Insofern gibt es in
was Sie wollen, hätte zu einer massiven Marktbereini-
diesem Bereich Handlungsbedarf.
gung in Deutschland geführt. Hunderttausende von Ar-
Der Handlungsbedarf besteht auch deshalb, weil der beitsplätzen in dieser Branche wären verloren gegangen,
Handel mit diesen Produkten etwas schwierig ist; denn wenn wir das gemacht hätten, was Sie gewollt haben.
Immobilien sind schon dem Namen nach immobil und
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber auch ein paar
damit nicht für eine tägliche Veräußerung geeignet. Bis-
schwarze Vögel wären vom Markt gegangen!)
her waren die Anteile der offenen Immobilienfonds aber
täglich veräußerbar. Die damit verbundene sogenannte Es hätte nämlich dazu geführt, dass freie Vermittler
Fristeninkongruenz wurde in der Finanzkrise leider zum plötzlich Beratungskosten und BaFin-Gebühren in fünf-
Problem – das stellen wir auch in der aktuellen Situation und sechsstelliger Höhe hätten bezahlen müssen. Das
fest –: Es kommt zu zusätzlichen Schließungen. Da müs- hätte zwangsläufig zur Folge gehabt, dass die kleinen
sen wir uns als Gesetzgeber Gedanken machen: Wie Vermittler in Deutschland vom Markt verschwunden wä-
können wir dieses Produkt fitmachen? Wir tun das, in- ren. Es ist nicht so, dass die Banken grundsätzlich gut
dem wir Haltedauern einführen und Freibeträge für beraten und die freien Finanzvermittler schlecht beraten.
Kleinanleger schaffen, sodass sie monatlich Geld aus Da gibt es ebenfalls sehr viele, die völlig richtig vorge-
dem Fonds herausnehmen können, unabhängig von der hen.
Haltedauer. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um
dieses Produkt für die Zukunft fitzumachen. Unser Ansatz ist ein völlig anderer. Unser Ansatz ist,
dafür zu sorgen, dass der freie Vertrieb einheitlich gere-
Zweitens geht es um die Frage, wie mit Finanzinstru- gelt wird. Sie haben es in Ihrer Zeit nicht geschafft, den
menten umzugehen ist, die im Falle der Übernahme von freien Vertrieb einheitlich zu regeln. Wer in Deutschland
Unternehmen – etwa bei VW und Porsche oder bei Versicherungen vermittelt, unterliegt einem anderen
Schaeffler und Conti – zum Anschleichen genutzt wur- Standard als derjenige, der geschlossene Fonds vermit-
7908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Frank Schäffler
(A) telt. All das ist unterschiedlich geregelt. Wir werden da- haben auch die Kleinen eine Chance, auf diesem Markt (C)
für sorgen, dass das Ganze künftig einheitlich geregelt zu existieren.
ist, dass es einheitliche Mindeststandards, einheitliche
Vielen Dank.
Qualifikationsstandards und einheitliche Haftungsvo-
raussetzungen in diesem Markt gibt, damit sich die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schwarzen Schafe nicht in den rechtlich weniger regu-
lierten Bereich begeben können. Das ist ein ganz wichti- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ger Beitrag zum Verbraucherschutz in Deutschland. Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Letztendlich sollen die schwarzen Schafe vom Markt Linke.
verschwinden. Das ist das Ziel dieser Koalition.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Caren Lay (DIE LINKE):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herren! Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten ist
Kollegen Sieling? dringend notwendig. Viele Kleinanleger haben in der
Finanzkrise ihr mühsam erspartes Geld verloren. Sie
Frank Schäffler (FDP): verlieren bis jetzt durch Falschberatung jährlich 20 bis
30 Milliarden Euro. Es sind noch immer zweifelhafte Fi-
Bitte. nanzprodukte auf dem Markt. Noch immer werden Kre-
ditnehmer mit undurchsichtigen Verträgen oder auch
Dr. Carsten Sieling (SPD): durch überhöhte Dispozinsen abgezockt. Das alles gibt
Vielen Dank, Herr Präsident! – Herr Kollege, Sie ha- es noch, und das zwei Jahre nach der Pleite der Bank
ben wahrscheinlich zur Kenntnis genommen, dass die Lehman Brothers. Hier hat die Bundesregierung tatsäch-
Umsetzung des Vorschlags, ein „KWG light“, was die lich viel zu lange gewartet, um einen Gesetzentwurf vor-
Gebühren angeht, zu schaffen, nicht dazu geführt hätte, zulegen. Welche Vorschläge macht uns die Regierung
dass die Kleinen vom Markt verschwunden wären. Ich jetzt? Ein großer Wurf ist das nicht, vielmehr ein Kata-
bitte Sie, das der Ehrlichkeit halber an dieser Stelle zu log mit Minimaländerungen.
sagen. Beginnen wir mit dem Infoblatt. Nachdem die Ver-
Genauso müssen Sie feststellen, dass die Einheitlich- braucherministerin Aigner mit dem freiwilligen Bei-
keit nicht geboten ist. Wird Ihr Vorschlag umgesetzt, gilt packzettel offenbar gescheitert ist, wird uns jetzt ein ge-
(B) Folgendes: Wenn ich, um eine Anlage zu tätigen, zur setzlich festgeschriebenes Infoblatt vorgeschlagen. Das (D)
Bank gehe, muss ich nach Recht und Gesetz behandelt ist gut so. Das hat die Opposition, insbesondere die
werden. Gehe ich danach zum Vermittler, dann weiß ich Linke, immer gefordert. Aber wenn Sie dem nachkom-
nicht, inwieweit ich noch rechtlichem Schutz unterliege men: Bitte schön nicht so! Für die konkrete Ausgestal-
oder ob ich nur in Gottes Hand bin. Das ist das Problem: tung des Infoblatts sollen die Finanzinstitute selbst zu-
Sie organisieren Uneinheitlichkeit. ständig sein. Insofern ist das zentrale Kriterium für ein
solches Informationsinstrument, die Vergleichbarkeit
zwischen den verschiedenen Instituten, nicht erfüllt. Ich
Frank Schäffler (FDP): habe, ehrlich gesagt, kein Verständnis dafür, dass man
Nein, das tun wir nicht. „KWG light“ ist wie „Coca- schon bei diesem kleinen Punkt vor den Finanzinstituten
Cola light“: Das Produkt verspricht nicht, was es hält. kapituliert hat.
„KWG light“ ist der falsche Ansatz gewesen.
„KWG light“ hätte ebenfalls dazu geführt, dass bei den Es soll ein Beraterregister eingeführt werden; Sie ha-
Beratern ganz erhebliche Gebühren entstanden wären. ben es erwähnt. Dabei kann es sicherlich nicht nur da-
Außerdem wäre ein Problem aufgetaucht, das Sie in Ih- rum gehen, das Fehlverhalten von Beratern zu dokumen-
rer Regierungszeit nicht gelöst haben: Die freien Ver- tieren. Das Kernproblem bei der Beratung ist für uns die
mittler in Deutschland wären der Entschädigungsein- provisionsgetriebene Beratung. Es kann doch nicht sein,
richtung der Wertpapierhandelsunternehmen unterstellt dass Berater gerade dann gut verdienen, wenn sie ihren
worden. In der Folge hätten die freien Vermittler ein De- Kunden hochriskante Produkte anbieten.
fizit von 180 Millionen Euro, das die EdW derzeit vor (Beifall bei der LINKEN)
sich her schiebt, weil sie den Entschädigungsfall Phoe-
nix Kapitaldienst in Deutschland nicht bewältigen kann, In einigen Fällen ist Rentnern eine Lebensversicherung
decken müssen. Sie haben dieses Problem in Ihrer Re- mit jahrzehntelanger Laufzeit angedreht worden, weil
gierungszeit nicht gelöst. Das ist die Wahrheit. die Banken daran prima verdient haben. Wir sagen: Fi-
nanzberatung muss unabhängig sein. Das leistet Ihr Ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) setzentwurf nicht.
Wir haben viel dazu beigetragen, dass der Mittelstand (Beifall bei der LINKEN)
in Deutschland noch seine Existenzberechtigung hat.
Wir Linke bleiben dabei: Finanzschrott gehört unserer
Gleichzeitig haben wir dazu beigetragen, einen konsis-
Auffassung nach überhaupt nicht auf den Markt.
tenten Vermittlermarkt in Deutschland zu schaffen. Da-
durch können nicht nur die Großen überleben; vielmehr (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7909
Caren Lay
(A) Deswegen wollen wir einen Finanz-TÜV einrichten, der Ein angemessener Anlegerschutz gegen unseriöse (C)
die Finanzprodukte vor ihrer Zulassung prüft. Produktanbieter … wird prinzipiell unabhängig da-
von gewährleistet, welches Produkt und welcher
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vertriebsweg vorliegt.
Ein zentrales Problem ist – Kollege Sieling von der (Frank Schäffler [FDP]: In Anlehnung an das
SPD hat schon darauf hingewiesen –, dass Ihr Gesetzent- Versicherungsvermittlerrecht!)
wurf eine völlig unzureichende Regulierung des soge-
nannten grauen Kapitalmarkts vorsieht. An dieser Stelle Dieses Versprechen lösen Sie nicht ein. Sie lassen den
ist die Bundesregierung vor der Finanzlobby komplett grauen Kapitalmarkt in weiten Teilen unreguliert.
eingeknickt. Der völlig unregulierte graue Kapitalmarkt (Frank Schäffler [FDP]: Das ist totaler
muss unserer Auffassung nach einer einheitlichen Fi- Quatsch!)
nanzaufsicht unterstellt werden. Stattdessen schlagen Sie
vor, dass die Kontrolle des Vertriebs von Produkten des Tausende Produkte und viele Vermittler, die sogenannten
grauen Kapitalmarkts der Gewerbeaufsicht unterstellt freien Vermittler, sind von der Regulierung nicht betrof-
wird. Die Gewerbeaufsicht überprüft normalerweise die fen. Ich finde, das ist kein fairer Wettbewerb.
Einhaltung von Hygienevorschriften in Betrieben und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Einhaltung des Nichtraucherschutzes. Jetzt soll sie
auch für Finanzprodukte zuständig sein. Es sieht doch Das kritisiert übrigens auch Frau Aigner in der Aus-
jeder, dass die Gewerbeaufsicht die falsche Institution gabe des manager magazins von dieser Woche. Sie
ist. sagte, sie möchte, dass die BaFin auch für diese Vermitt-
ler und für diese Produkte zuständig ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Dr. Carsten Sieling [SPD]) Dieser Gesetzentwurf ist eine Niederlage für den Ver-
braucherschutz, aber auch für Ihre Verbraucherschutz-
Der Bundesrat hat das verstanden und die Bundesregie- ministerin. Das merkt man am Produktinformationsblatt.
rung aufgefordert, endlich einen Vorschlag zu einer ein- 2009 hat Frau Aigner einen eigenen Entwurf vorgestellt
heitlichen Finanzaufsicht vorzulegen. und folgendermaßen gerühmt:
Einer weiteren zentralen Anforderung im Zusammen- Unser heute vorgestelltes standardisiertes Produkt-
hang mit der Regulierung der Finanzmärkte kommt Ihr informationsblatt ist ein ganz großer Fortschritt für
Gesetzentwurf nicht nach. Wir müssen den Verbraucher- den Verbraucherschutz.
schutz endlich als wichtige Aufgabe der Finanzaufsicht
festschreiben. Deswegen sagen wir: Wir wollen eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) Verbraucherschutzbehörde. Wir wollen, dass die Finanz- (D)
Das wird leider in diesem Gesetzentwurf nicht einge-
märkte von starken Verbraucherverbänden, die als löst. Ihr Produktinformationsblatt ist bezüglich Form,
Marktwächter fungieren, kontrolliert werden. Struktur und Inhalt weder standardisiert noch transpa-
(Beifall bei der LINKEN) rent. Denn dieses Produktinformationsblatt – das ist der
entscheidende Nachteil – wird nur in der Beratungssitua-
Auch hinter diesem Anspruch bleibt Ihr Gesetzentwurf tion beim Finanzvermittler in der Bank vorgelegt. Jetzt
meilenweit zurück. frage ich Sie: Wenn ich zehn verschiedene Produkte ver-
Mit verstreuten Minimaländerungen ist es nicht getan. gleichen möchte, muss ich im Zweifelsfall, da nicht jede
Sie müssen endlich den Mut aufbringen, die Finanz- Bank jedes Produkt anbietet, zehn Gespräche führen?
märkte verbrauchergerecht zu regulieren. Diesem An- (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie können
spruch werden Sie mit diesem Gesetzentwurf mit Sicher- nicht alles vergleichen! Das geht nicht!)
heit nicht gerecht.
Nach diesen zehn Gesprächen habe ich nicht nur un-
(Beifall bei der LINKEN) glaublich viel Zeit vertan, sondern im Zweifelsfall auch
noch andere Produkte aufgeschwatzt bekommen, die ich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gar nicht möchte. Ich finde, wenn man Transparenz und
Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion Wettbewerb will, muss man Informationen einfach zu-
Bündnis 90/Die Grünen. gänglich machen und darf sie nicht verstecken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der KEN)
Staatssekretär hat es am Anfang gesagt: Das Anleger-
Sie haben es in der Diskussion bisher nicht geschafft,
schutzgesetz sollte die Verbraucherinnen und Verbrau-
klarzumachen, inwieweit dieses Produktinformations-
cher umfassend schützen und verlorenes Anlegerver-
blatt mit den Regelungen auf europäischer Ebene abge-
trauen zurückbringen. Ich denke, gemessen an diesem
stimmt ist. Ich bin sehr gespannt, ob sich die Verbrau-
Vorhaben sind Sie mit diesem Gesetzentwurf gescheitert.
cherinnen und Verbraucher nicht in kurzer Zeit wieder
Sie scheitern nicht nur an den Anforderungen eines mo-
an neue Vorgaben gewöhnen müssen.
dernen Anlegerschutzes, sondern auch an Ihren eigenen
Vorgaben aus dem Koalitionsvertag von Schwarz-Gelb. Wir sagen: Ein Produktinformationsblatt muss bezüg-
Darin steht: lich der Form und Reihenfolge der Informationen klar
7910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Nicole Maisch
(A) standardisiert sein, damit man auf einen Blick erkennen Einen der wesentlichen Punkte in diesem Gesetzent- (C)
kann, wie die unterschiedlichen Produkte aufgebaut wurf, den auch Sie angesprochen haben, möchte ich ein-
sind. Natürlich müssen die Kosten in Euro und Cent an- mal erläutern: die offenen Immobilienfonds.
gegeben sein. Wir wünschen uns, dass auch ökologische
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
und soziale Aspekte – diese interessieren mittlerweile
immer mehr Anleger – in diesem Informationsblatt auf- Es gibt in der Baubranche einen alten Spruch: Wer ruhig
gezeigt werden. schlafen will, der setzt auf Beton. Das ist eine Werbung
der Baubranche. Viele haben das ewig berücksichtigt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei einem großen Teil ihrer Altersvorsorge auf Im-
mobilien gesetzt. 3 Millionen Deutsche sind an einem
Mich erinnert Ihr Produktinformationsblatt ein biss-
offenen Immobilienfonds beteiligt.
chen an das Beratungsprotokoll. Auch das war ein halb-
gares Konzept, das im Praxistest bei BaFin und Verbrau- Was ist das? Ein offener Immobilienfonds ist ein
cherverbänden durchgefallen ist. Ich wünsche mir sehr, Topf, in dem Kaufhäuser, Bürohäuser und andere ver-
dass Sie den Gesetzentwurf in den Beratungen nachbes- schiedene Immobilien sind. Der durchschnittliche Ertrag
sern. aus diesen Fonds betrug über die letzten 45 Jahre im
Durchschnitt 5 oder 6 Prozent; die Spannbreite lag bei
Ich finde es interessant, wo die Lücken im Gesetzent- 3 bis 9 Prozent. Das hat also immer funktioniert. Viele
wurf sind. Wir haben schon über den grauen Kapital- Selbstständige, die keine Rente, keine Pension haben
markt gesprochen. Sie haben zugegeben, dass noch und Geld anlegen müssen, haben ihre Altersvorsorge da-
nachzuarbeiten ist. Der Bundesrat und verschiedene rauf aufgebaut. Wer 50 000 Euro angelegt hatte, konnte
Fraktionen dieses Hauses haben Ihnen hierzu Vorschläge nach 30 Jahren jeden Monat 250 Euro entnehmen.
gemacht. Wir denken, dass man in den Anhörungen und Plötzlich funktioniert dieses System nicht mehr. Wa-
parlamentarischen Beratungen auch über die Ausgestal- rum funktioniert es nicht mehr?
tung der Finanzaufsicht mit Blick auf Verbraucher-
schutzaufgaben diskutieren muss. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wegen der
institutionellen Anleger!)
Unsere Vorschläge zu diesen Themen liegen Ihnen
vor. Wir wünschen uns, dass Sie diese unvoreingenom- Das Gesetz hatte eine Lücke. Großanleger konnten, ohne
men prüfen. Der Gesetzentwurf hat in einigen Teilen dass ihnen Kosten entstanden, in den Fonds einsteigen
und aussteigen und ihm so die gesamte Liquidität entzie-
richtige Ansätze, aber die Lücken sind so groß, dass man
hen. Das ist ein Problem, das früher nicht erkannt wor-
unbedingt nacharbeiten muss. den ist, weil die Großanleger erst eingestiegen sind, als
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Festzinssätze so niedrig waren, dass es für sie inte- (D)
ressanter war, in einen solchen Fonds zu investieren.
Aus diesem Grund sind wir gezwungen, dieses Thema
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: heute aufzugreifen. Wir müssen dort ansetzen, wo es
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach für die CDU/ Mängel im System gibt. Dabei müssen wir nicht die
CSU-Fraktion. Großanleger, sondern die Kleinanleger schützen. Das ist
die Aufgabe des Parlaments.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Dies ist meines Erachtens eine sehr wichtige Diskussion. Kollegen Schick?
Herr Sieling, ich kann nicht verstehen, dass Sie über-
haupt nicht zum Inhalt des Gesetzentwurfes gesprochen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Typisch!
haben. Wenn er keine Redezeit bekommen hat, stellt
er immer Fragen!)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie haben nicht
zugehört!) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Es ist nicht zu begreifen. Wir haben einen solch wichti- Ja, klar.
gen Gesetzentwurf vorliegen und müssen uns über die
Inhalte austauschen, und Sie haben ausschließlich über Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
das Verfahren gesprochen. NEN):
Dieses Thema betrifft sowohl den Verbraucherschutz
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nein! Über den als auch die Finanzpolitik. Wir beide sind übrigens einer
falschen Inhalt!) Meinung, während das Verbraucherschutzministerium
heute durch Abwesenheit glänzt.
In wenigen Wochen werden wir uns über die Themen,
die Sie angesprochen haben, ausführlich unterhalten. Zu meiner Frage. Sie haben gerade gesagt, plötzlich
Deswegen verstehe ich Ihr Verhalten überhaupt nicht. sei bekannt geworden, dass es eine Lücke im Gesetz
gibt. Können Sie mir erklären, warum die CDU/CSU-
(Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion diese Gesetzeslücke zum Jahreswechsel 2005/
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7911
Dr. Gerhard Schick
(A) 2006, als in einer ersten Welle eine Reihe von offenen kaufen, einen Abschlag in Höhe von 3 000 Euro hinneh- (C)
Immobilienfonds geschlossen wurde – diese Gesetzeslü- men muss, frage ich mich: Worin besteht das systemi-
cke war schon damals sichtbar; sie wurde republikweit sche Risiko für den Fonds, das es rechtfertigt, einen Ab-
thematisiert –, schlag in Höhe von 10 Prozent zu verlangen?
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja! Die woll- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)
ten das aber selbst regeln!)
Ich halte dies nicht für richtig.
nicht erkannt hat,
Meines Erachtens ist es ein Fehler des Gesetzentwur-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Doch!) fes, dass nach vier Jahren Haltedauer in unbeschränkter
sondern dem Petitum des Branchenverbandes BVI ge- Höhe Geld entnommen werden kann. Ein Großanleger,
folgt ist und eine konsequente Regulierung unterlassen der 50 Millionen Euro in einen solchen Fonds investiert
hat, was uns heute noch Probleme bereitet? hat, könnte nach vier Jahren den gesamten Betrag ent-
nehmen. Das würde auch die Liquidität des Fonds be-
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): rühren. Ich halte es für richtig, in Abhängigkeit von der
Summe, die investiert wurde, gewisse Staffelungen vor-
Herr Kollege, wir haben uns schon damals mit diesem
zunehmen und entsprechende Kündigungsfristen festzu-
Thema befasst, aber auch darauf gesetzt, dass die Fehler,
setzen. Das wäre meiner Meinung nach eher im Interesse
die damals erkannt worden sind, vom Markt behoben
der Verbraucher.
werden.
(Zuruf von der SPD: Ja, ja! Darauf setzen Sie Damit bin ich beim Thema Anlegerschutz. Herr
immer!) Sieling, wenn ein Produkt 45 Jahre lang funktioniert hat,
wer ist schuld, wenn es dann nicht mehr funktioniert?
Wir haben erkannt, dass dies nicht der richtige Weg war. Was werden die Anleger sagen?
Übrigens haben auch die Grünen einen falschen Weg
eingeschlagen, als Sie damals einen Antrag, der 30 For- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Den müssen wir
derungen enthielt, eingebracht und vorgeschlagen haben, uns schnappen! – Frank Schäffler [FDP]: Der
einen Sicherungsfonds einzurichten. Immobilienfonds Sieling ist schuld!)
sind Marktprodukte, deren Wert sich steigern, sich aber Die Rahmengesetzgebung war in diesem Zeitraum nicht
auch verringern kann. Da dieses Marktprodukt Risiken richtig. Schuld ist nicht der Vermittler – ob eine Bank
und Chancen birgt, macht es keinen Sinn, über die Ein- oder ein freier Vermittler –, der dieses Produkt vielleicht
richtung eines Sicherungsfonds zu sprechen. Wir haben gutgläubig vermittelt hat.
(B) eingesehen, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht (D)
worden sind. Jetzt gehen wir daran, diese Fehler zu be- Der Anlegerschutz ist ein wichtiger Bestandteil dieses
seitigen. Gesetzentwurfs. In den nächsten Monaten werden wir
noch sehr intensiv über dieses Thema diskutieren; denn
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Anlegerschutz hat für uns sehr große Bedeutung.
neten der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das macht dieses Beispiel sehr deutlich. Für offene Im-
Und was sagen Sie zu der Kritik des Bundes- mobilienfonds gibt es übrigens kein Risiko-Chancen-
rates?) Raster, was bei geschlossenen Fonds sonst immer der
– Auf dieses Thema komme ich noch zu sprechen, falls Fall ist. Im Prospekt sind also noch Fehler enthalten.
der Präsident mir zehn Minuten mehr Redezeit gibt.
Die Anleger müssen wissen: Mit offenen Immobilien-
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dann müssen Sie fonds können sie einen Verlust erleiden. Auch mit einer
Ihre Rede anders strukturieren!) Lebensversicherung können sie einen Verlust erleiden.
Wenn ein Lebensversicherungsvertrag frühzeitig gekün-
Wichtig ist: Ein offener Immobilienfonds ist eine digt wird, wird möglicherweise überhaupt keine Rendite
langfristige Anlage; das wissen wir. Das war immer so erzielt, sondern man hat einen hohen Verlust gemacht.
geplant und soll auch in Zukunft so bleiben. Deshalb Das kann selbstverständlich auch bei einem geschlosse-
wollen wir mehrere Maßnahmen ergreifen. nen Fonds geschehen. Meine Empfehlung ist deswegen,
Als erste Maßnahme treffen wir die Regelung, dass dass die Produkte im Markt grundsätzlich geprüft sein
monatlich bis zu 5 000 Euro aus einem solchen Fonds müssen; denn beim offenen Immobilienfonds liegt der
entnommen werden können. Als zweite Maßnahme set- Fehler beim Produkt und nicht beim Vermittler. Das
zen wir eine Mindesthaltedauer von zwei Jahren fest. heißt, alle Produkte, die im Markt sind, müssen geprüft
Wir wollen, dass das „rein in den Fonds“ und „raus aus sein.
dem Fonds“ aufhört. Ich glaube, dadurch werden die
Wir brauchen eine Prospektprüfung, und bei ge-
meisten Anleger, gerade Großanleger, abgeschreckt.
schlossenen Fonds brauchen wir meines Erachtens zu-
Auch aus Gründen des Verbraucherschutzes ist aller- sätzlich beispielsweise noch eine Überprüfung durch
dings fraglich, ob es richtig ist, von jemandem, der im Wirtschaftsprüfer. Folgendes halte ich bei noch stärkerer
dritten Jahr seiner Beteiligung Geld entnehmen will, ei- Einbeziehung der BaFin für richtig: Eine Fachgruppe
nen zehnprozentigen Abschlag zu verlangen. Wenn die sollte eine kohärente, systematische Überprüfung dieser
Regelung getroffen wird, dass beispielsweise jemand, Produkte vornehmen, damit keine falschen und „faulen“
der 30 000 Euro entnehmen will, um sich ein Auto zu Produkte in die Märkte kommen. Ich denke, hier ist ein
7912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Klaus-Peter Flosbach
(A) wichtiger Ansatzpunkt, und hier können wir auch etwas dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich (C)
leisten. nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf:
neten der FDP)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Für die Kunden ist es natürlich auch wichtig, dass sie richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
ein Produktinformationsblatt bekommen, das heißt, ver- Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
ständlich über das Produkt informiert werden. Wichtig
– zu dem Antrag der Abgeordneten Christel
ist natürlich auch, dass hierin die Kosten aufgeführt sind.
Humme, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Ab-
Die Kosten, die Chancen und vor allen Dingen auch die
geordneter und der Fraktion der SPD
Risiken müssen parallel zu jedem Produkt ausgewiesen
werden. Mit gesetzlichen Regelungen die Gleichstel-
lung von Frauen im Erwerbsleben umge-
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir wollen
in Kürze das Vermittlerrecht vereinfachen; der Kollege hend durchsetzen
Schäffler hat darauf hingewiesen. Ich glaube, es ist – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
wichtig, dass für Versicherungsprodukte, Investmentpro- Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst, weite-
dukte und geschlossene Fonds ein einheitliches Recht rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
besteht.
Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech-
Frau Kollegin von den Grünen, Sie haben nicht auf all tern wirksam durchsetzen
das hingewiesen, was wir vorhaben.
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung
NEN]: Das sollten Sie ja machen!)
Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen
Wir wollen ein öffentliches Register. In diesem öffentli- der Bundesregierung und den Spitzenver-
chen Register muss stehen, welche Qualifikation der bänden der deutschen Wirtschaft zur Förde-
Einzelne hat. Es müssen Qualifikationsüberprüfungen rung der Chancengleichheit von Frauen und
vorgenommen werden. Männern in der Privatwirtschaft
– Drucksachen 17/821, 17/891, 16/10500, 17/1486 –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Berichterstattung:
(B) Abgeordnete Nadine Müller (St. Wendel) (D)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Christel Humme
Miriam Gruß
Ich bin jetzt fertig, Herr Präsident. – Sie müssen eine
Cornelia Möhring
Berufshaftpflichtversicherung haben. Viele werden gar
Monika Lazar
keine Berufshaftpflichtversicherung bekommen. Des-
halb ist es wichtig, dass wir den Markt einheitlich gestal- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
ten. Vor allen Dingen müssen wir dafür sorgen, dass Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Auch
viele Nebenberufler – – dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Herr Kollege, Sie müssen vor allem zum Ende kom- Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
men.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Das ist der vorletzte Satz. – Wir müssen dafür sorgen, ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Jahr
dass viele Nebenberufler vom Markt verschwinden. Ich 2010 stehen wir bei vielen uns wichtigen Punkten leider
möchte zum Thema Finanzen nicht von Nebenberuflern noch nicht ganz da, wo wir eigentlich stehen sollten.
beraten werden, genauso wenig, wie ich mich von einem
Nebenberufler operieren lassen möchte. Der erste Punkt ist die Entgeltungleichheit. Es ist
auch für uns nicht hinzunehmen, dass der Equal Pay Day
Vielen Dank. auch in diesem Jahr erst am 26. März stattgefunden hat:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frauen verdienen in Deutschland immer noch durch-
schnittlich 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kol-
legen. Das ist ein Zustand, den wir als christlich-liberale
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Koalition nicht hinnehmen wollen.
Ich schließe die Aussprache.
(Caren Marks [SPD]: Oh!)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3628 an die in der Tagesord- Besonders befremdlich ist, dass sogar Berufsanfängerin-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es nen bei einer vergleichbaren Tätigkeit durchschnittlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7913
Dorothee Bär
(A) 18,7 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen stimmungspflichtigen Unternehmen im Rahmen einer (C)
Kollegen. Selbstverpflichtung bis zum Jahr 2014 den Frauenanteil
auf mindestens 30 Prozent steigern sollen. Wenn das bis
Deswegen hat die Bundesregierung mit dem Instru- dahin nicht geschehen sein sollte, werden diese Unter-
ment Logib-D ein Instrument für Unternehmen zur Be- nehmen gesetzlich verpflichtet, den Anteil von Frauen in
seitigung des Verdienstunterschiedes von Frauen und Führungspositionen und Aufsichtsräten bis spätestens
Männern entwickelt. Mit diesem Instrument können wir 2018 auf mindestens 30 Prozent zu steigern.
die Ursachen dafür erkennen und betriebliche Lösungen
für eine faire Bezahlung entwickeln. Das unterstütze ich. Aber ich muss auch sagen: Wer
sich über Quoten und einen entsprechenden Zwang auf-
Ich denke, wir alle hier sind einer Meinung, dass eine regt, muss ehrlicherweise auch feststellen, dass es bereits
derartige Lohnlücke einem modernen Land wie heute überall Quoten gibt, gerade in der Politik; da nen-
Deutschland nicht gut zu Gesicht steht. nen wir es nur anders.
Der zweite wichtige Punkt für unsere Koalition und (Mechthild Rawert [SPD]: Für die Männer?)
besonders auch für meine Fraktion ist natürlich, dass es
– Hören Sie einfach einmal zu, anstatt so hereinzuga-
einen viel zu geringen Anteil von Frauen in Führungspo-
ckern. – Wir nennen es zum Beispiel in der Politik nicht
sitionen gibt. Quote, sondern Proporz. Keiner regt sich auf, wenn ein
Zwischen der Bundesregierung und den Spitzenver- Bundesland sagt, es müsse unbedingt vertreten sein.
bänden der Wirtschaft gab es bereits 2001 eine Vereinba- (Caren Marks [SPD]: Uns müssen Sie nicht
rung zur Erhöhung des Frauenanteils auf Chefpositio- überzeugen! Auf der anderen Seite und bei der
nen. Das war 2001; jetzt sind wir im Jahre 2010. Wenn Regierung sitzen die!)
man sich einmal anschaut, was von 2001 bis 2010 pas-
siert ist, dann kann man höflich sagen: wenig. Selbst wenn irgendein unabhängiges Institut feststellen
würde, dass die zehn Besten, die man in einem bestimm-
(Christel Humme [SPD]: Gar nichts!) ten Bereich haben könnte, alle aus einem Bundesland
kommen – ich sage jetzt einmal: alle zehn aus Hessen
Andere würden vielleicht sagen: gar nichts. Deswegen
oder aus Nordrhein-Westfalen; ich habe jetzt extra nicht
liegt Deutschland hinsichtlich des Anteils der Frauen an
Bayern gesagt, weil logisch ist, dass da die zehn Besten
Führungskräften in der Privatwirtschaft unter dem EU-
herkämen –, würden sicherlich auch alle anderen
Durchschnitt an elfter Stelle. Im Jahr 2009 betrug der schreien: Wir müssen vertreten sein! – Die Keule des
Anteil im Topmanagement der DAX-Unternehmen nur Qualitätsverlusts wird immer nur herausgeholt, wenn es
0,6 Prozent. Das entspricht bei derzeit knapp 200 Vor- um Frauen geht.
(B) ständen von DAX-Unternehmen vier Frauen; ab März (D)
werden es wunderbarerweise fünf sein. Bei den Auf- Ich schließe mich an dieser Stelle Herrn Sattelberger
sichtsräten liegt der Anteil bei 12,8 Prozent; davon sind von der Deutschen Telekom, dem ersten DAX-Unter-
fast drei Viertel Vertreterinnen der Arbeitnehmerseite. nehmen, das eine verbindliche Frauenquote eingeführt
Das ist in meinen Augen sehr beschämend. hat, an. Denn auch er – und das freut mich natürlich be-
sonders –, ein Mann mit langjähriger Berufserfahrung,
Beschämend ist das vor allem, wenn man sich andere antwortet auf die Frage, woran es liegt, dass Frauen we-
Zahlen zu Gemüte führt: 51 Prozent der Hochschulab- nig Chancen haben, dass die Bestenauswahl häufig ein
solventen und 41 Prozent der Promoventen in diesem Mythos ist: Faktoren wie Hausmacht, Treuebonus,
Lande sind weiblich. Daran sieht man, dass es eine ekla- Vitamin B und Seilschaften sind oft ebenso starke Steig-
tante Lücke gibt, die schleunigst geschlossen werden bügel auf dem Weg nach oben. Das wissen alle, und das
muss. wird von Männern problemlos akzeptiert. Wenn aber
Frauen an die Macht wollen, wird die Keule der Besten-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auswahl hervorgeholt.
neten der FDP)
Deswegen sage ich auch: Wenn der Anteil von Frauen
Für uns ist es nicht nachvollziehbar, dass gut ausge- in Führungspositionen weiterhin in dem Tempo erhöht
bildete, motivierte Frauen nicht im gleichen Stil Verant- wird wie bisher, werden wir auf eine gesetzliche Initia-
wortung übertragen bekommen wie Männer. Zudem ist tive nicht verzichten können. Im Übrigen werden wir die
Fakt: Frauen nicht zu fördern, ist volkswirtschaftlicher Effektivität des Bundesgleichstellungsgesetzes dahin ge-
Unsinn. Auf diesen Talentpool zu verzichten, ist insbe- hend bewerten, ob und wie Teilzeitkräfte unterstützt
sondere für die Unternehmen selbst irrational. Deshalb werden. Auch in Teilzeit muss es Frauen – und natürlich
sieht unser Koalitionsvertrag auch einen Stufenplan zur auch Männern – möglich sein, Führungspositionen zu
Erhöhung des Frauenanteils in Vorständen und Füh- übernehmen. Gerne wird dagegen ins Feld geführt, dass
rungspositionen vor. Präsenz in Leitungspositionen sehr wichtig ist. Ich
denke, wir sind uns einig – zumindest diejenigen, die
Ich möchte nicht verhehlen, dass auch in unserer sich intensiv damit beschäftigen –, dass wir in diesem
Fraktion über eine Frauenquote beispielsweise in Auf- Lande einer sehr übertriebenen Anwesenheitskultur an-
sichtsräten diskutiert wird. Die Gruppe der Frauen der hängen, von der wir uns verabschieden müssen; das
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat hierzu einen Be- würde meines Erachtens nicht nur den Müttern, sondern
schluss gefasst. – Herr Präsident, wenn Sie vielleicht auch den Vätern sehr stark entgegenkommen.
nicht die ganze Zeit reden würden, wäre das ganz lieb.
Danke schön. – Dieser Beschluss lautet, dass alle mitbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
7914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Dorothee Bär
(A) Durch unsere modernen Kommunikationsmittel ist es Das passt auch gut zu Ihrer Rede, Frau Bär. In diesem (C)
nicht mehr in der Weise wie früher notwendig, ständig Sinne sind wir alle – nicht nur die Frauen in der SPD –
vor Ort präsent zu sein. Feministen und Feministinnen.
Auch das Besetzen einer Stelle mit zwei Führungs- (Beifall bei der SPD)
kräften ist eine Option und wird meiner Meinung nach
Wir sind stolz auf eine Frauenbewegung, die viel ver-
viel zu selten genutzt. Deswegen brauchen wir flexiblere
bessert hat, und zwar sowohl für Frauen als auch für
Arbeitszeitmodelle. Sie sind ein Schlüssel, um die bes-
Männer. Die klassische Rollenverteilung gibt es leider
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch von
noch, aber wir stellen fest, dass sie bröckelt. Immer mehr
Familie und Karriere zu gewährleisten.
Männer wollen Familienarbeit übernehmen. Auch das ist
Einige Ansätze in den Anträgen gehen in die richtige Ergebnis des von der Ministerin so gescholtenen Femi-
Richtung. Wir wollen aber mehr. Deswegen lehnen wir nismus.
sie ab.
Frauen streben nach ökonomischer Unabhängigkeit
Vielen Dank. und möchten die gleichen Berufschancen wie die Män-
ner. Diese gewünschte Partnerschaftlichkeit und die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gleichstellung in Familie und Beruf zu unterstützen
Lachen bei der SPD) wäre die Aufgabe der Familien- und Frauenministerin.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Frak-
GRÜNEN)
tion.
Was aber tut sie? Mit ihrer Parole „Jetzt sind Männer
(Beifall bei der SPD)
dran“ schüttet sie Öl ins Feuer. Sie verstärkt alte Ressen-
timents und Vorurteile und spielt Männer gegen Frauen
Christel Humme (SPD): aus. Das haben wir mit Gender Mainstreaming nicht ge-
Frau Bär, schön analysiert. Wir fragen uns aber als meint.
Opposition, was die Regierung tatsächlich macht.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
(Caren Marks [SPD]: Nichts! – Weiterer Zuruf bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
von der SPD: Peinliche Spiegel-Interviews ge- GRÜNEN)
ben!)
In der Vergangenheit gab es in der Tat Fortschritte,
(B) In einem Interview ist diese Woche von der Frauen- unter Rot-Grün zum Beispiel mit dem Bundesgleichstel- (D)
ministerin etwas Erstaunliches zu lesen. Sie sagt darin, lungsgesetz und dem Recht auf Teilzeit für Mütter und
sie halte von Feminismus nichts, gibt aber gleichzeitig Väter, damit sie in der Elternzeit beide ihr Kind erziehen
zu, dass es ohne den Feminismus keine Frauenministerin können. Es gab sogar trotz starker Kritik aus der CSU
Schröder gäbe. Fortschritte in der Großen Koalition – auch das ist nicht
zu verhehlen –, und zwar mit dem Allgemeinen Gleich-
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
behandlungsgesetz, dem Ausbau der Betreuung für unter
Herzlichen Glückwunsch, Frau Ministerin. Sie ist Dreijährige und dem unter Rot-Grün entwickelten El-
heute Nachmittag nicht anwesend; ich weiß nicht, wo sie terngeld.
ist. Errungenschaften in Anspruch zu nehmen, aber kein
Aber wo stehen wir heute nach einem Jahr Schwarz-
Wort der Würdigung der Erfolge einer breiten Frauenbe-
Gelb? Die Ministerin bezeichnet sich selbst als konser-
wegung: Ich denke, das ist ein Armutszeugnis für eine
vativ und sagt – ich zitiere –:
Frauenministerin.
Für mich bedeutet Konservatismus, die Realität zu
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
akzeptieren … Wir erkennen an, dass es Unter-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schiede gibt, auch zwischen Mann und Frau.
Die Ministerin hat Politik- und Sozialwissenschaften
(Caren Marks [SPD]: Abtreten!)
studiert, wie man nachlesen kann,
Welche politischen Konsequenzen sollen wir daraus
(Elke Ferner [SPD]: Das hat aber nicht gehol-
ziehen? Ist alles gut so, wie es ist? Will die Ministerin
fen!)
die Hände in den Schoß legen?
aber das Kapitel politische Frauenbewegung offensicht-
Ihr Stillstand ist ein Rückschritt für die Gleichstel-
lich überschlagen oder den Begriff des Feminismus
lung, und zwar für Frauen und Männer. Das ist nicht un-
falsch verstanden. Darum gestatten Sie mir, eine kleine
ser Ansatz.
Nachhilfe zu geben und etwas zu zitieren, das man in je-
dem Lexikon nachlesen kann: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Feminismus bezeichnet den Einsatz und das Enga-
gement für die soziale, politische und ökonomische Wir wollen, dass es mit der Gleichstellung schneller
Gleichstellung der Frauen und das mit dem Ziel der geht, Frau Bär. Sie wollen das offensichtlich auch, aber
Befreiung aus Rollenzwängen und Stereotypen. Sie tun nichts.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7915
Christel Humme
(A) (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Warten Sie ab, sagen, die ich teile. Es ist vollkommen richtig, dass hin- (C)
Frau Humme! Wir tun schon etwas! – Nicole sichtlich der ungleichen Entlohnung und bei der Erhö-
Bracht-Bendt [FDP]: Sie werden ganz erstaunt hung des Frauenanteils in Aufsichtsräten, Vorständen
sein, was wir tun!) und Leitungspositionen in Wirtschaft, Forschung und
Lehre Handlungsbedarf besteht.
Wir haben heute ein umfassendes Konzept für den Ar-
beitsmarkt vorgelegt. Wir wollen nicht länger hinneh- Sie fordern eine gute Vereinbarkeit von Familie und
men, dass Frauen kaum in Führungspositionen zu finden Beruf für Frauen und Männer. Das alles unterstütze ich
sind und dass ihre Karrierechancen eingeschränkt sind, voll und ganz.
und zwar nicht nur, weil sie Kinder haben, sondern auch (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die FDP
deshalb, weil sie potenziell Mütter werden können. stimmt zu!)
Wir wollen aber auch nicht hinnehmen – das haben Aber, liebe Kollegin Humme, warum hat die SPD-Frak-
Sie Gott sei Dank auch gesagt, Frau Bär –, dass die tion die Entgeltgleichheit nicht während ihrer Regie-
Lohnlücke immer größer wird. Der eigentliche Skandal rungszeit durchgesetzt?
dabei ist, dass 13 Prozent dieser Lohnlücke allein auf die
Diskriminierung wegen des Geschlechts zurückzuführen (Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]:
sind. Ich glaube, das können wir nicht länger hinneh- Weil die CDU dagegen war in der Großen Ko-
men. alition!)

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Bereits damals lag der durchschnittliche Verdienst von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frauen 23 Prozent unter dem Gehalt der Männer – genau
wie heute.
Deshalb fragen wir uns, was die Frauenministerin
Auch bei den Ursachen hat sich nichts Wesentliches
– und das betrifft leider genauso die Kanzlerin – eigent-
geändert. Viele junge Frauen entschieden sich schon wäh-
lich macht.
rend Ihrer Regierungszeit für schlecht bezahlte Berufe
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ohne große Chancen auf berufliches Weiterkommen. Es
NEN]: Schlechte Interviews geben!) ist keineswegs neu, dass Auszeiten vom Beruf die
Karriere abbremsen und sich dies natürlich auch auf die
Sie rät den Frauen, sie sollten ihr Gehalt besser einfor- Rente auswirkt. Daran hat sich seitdem nichts geändert.
dern und weniger bescheiden sein. Sie sagt, die Frauen
sollen selbstbewusster und tougher werden. Aber was tut (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann macht
sie damit? Sie gibt den Frauen die Schuld an der unge- doch etwas!)
rechten Bezahlung. In der Opposition wollen Sie nun mit der Brechstange (D)
(B)
(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Eigenverantwor- per Gesetz die Gleichstellung von Frauen im Erwerbsle-
tung!) ben durchsetzen, und zwar mit einem riesigen Paket an
Forderungen, vom enormen bürokratischen Aufwand
– Ja, Eigenverantwortung. – „Helft euch selbst, ich tue ganz zu schweigen.
es nicht“, ist ihre Botschaft. Das ist nicht unser Ansatz.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir stehen an der Seite der benachteiligten Frauen NEN]: Weil sich freiwillig nichts tut!)
und fordern unter anderem – da sind wir weiter als Sie,
Frau Bär – eine gesetzlich festgelegte Quote für Vor- Die Fraktion Die Linke tut so, als habe die christlich-
liberale Bundesregierung bisher nichts getan, außer an
stände und Aufsichtsräte, ein Entgeltgleichheitsgesetz,
die Selbstverpflichtung der Unternehmen zu appellieren.
das Lohndiskriminierung wirksam verhindert. Es stünde
Die Linken verweisen auf den Fall Schlecker, weil in
der Ministerin gut an, sich mit uns zusammen dafür stark diesem Unternehmen viele Frauen beschäftigt sind, und
zu machen. Aber dafür müsste sie selbst erst einmal behaupten, dass Dumpinglöhne durch radikale Lohn-
selbstbewusster und tougher werden. senkungen sogar noch weiter abgesenkt werden sollen.
Danke schön. Das ist unverschämt.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks Sie wissen genau, dass die Bundesregierung diesbezüg-
[SPD]: Ahnung müsste sie auch haben!) lich längst tätig geworden ist. Der Referentenentwurf
vom 2. September 2010 sieht klare Regelungen vor, dass
solche Praktiken verboten werden. Die christlich-libe-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rale Koalition hat schon im ersten Jahr ihrer Regierungs-
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Bracht-Bendt für zeit einen Antrag zu wichtigen Schritten in der Gleich-
die FDP-Fraktion. stellungspolitik vorgelegt.
(Beifall bei der FDP) Wir sind davon überzeugt, dass wir die Männer mit
ins Boot nehmen müssen. Dazu gehört, dass wir Stereo-
Nicole Bracht-Bendt (FDP): typen aufbrechen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Beifall bei der FDP)
Damen und Herren! In der Beschreibung der Situation
von Frauen im Beruf enthält sowohl der Antrag der Niemand schaut eine Frau schief an, wenn sie Ingenieu-
SPD-Fraktion als auch der Antrag der Linken viele Aus- rin oder Erzieherin wird. Ein Mann als Erzieher in der
7916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Nicole Bracht-Bendt
(A) Kita muss hingegen nach wie vor um Anerkennung Fortbildungsmaßnahmen während der Elternzeit ange- (C)
kämpfen. Deshalb hat die Bundesregierung zum Beispiel boten. Davon profitieren Mütter und Väter wie auch das
ein Programm zur Förderung von Männern in Kitas auf- Unternehmen selbst. Das zeigt, was ein Arbeitgeber für
gelegt. Eltern, also auch für Väter, tun kann. Ich wünsche mir,
dass andere Unternehmen sich ein Beispiel daran neh-
(Christel Humme [SPD]: Dann bezahlen Sie men und sich Gedanken über eigene Maßnahmen ma-
den Mann doch besser! Dann kommt er auch! chen, um ihr Unternehmen familienfreundlicher zu ge-
Die Frauen natürlich auch!) stalten.
– Frau Humme, Sie müssten einmal den Bericht genau (Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]:
lesen, der zusammen mit diesem Programm vorgelegt Wünschen Sie nur weiter!)
wurde. Dann sehen Sie, dass der Gehaltsunterschied
zwischen einem Kfz-Mechaniker und einem Erzieher Auch flexible Arbeitszeitmodelle gehören dazu. Kin-
nur gering ist. Daran liegt es also nicht. dererziehung und die Pflege von alten Menschen ist auch
Sache von Männern. Wir brauchen eine gezielte Frauen-
(Beifall bei der FDP) förderung, und die darf nicht erst im Erwachsenenleben
Die von Ihnen geforderte gesetzliche Frauenquote beginnen. Schon in der Schule müssen Mädchen lernen,
von mindestens 40 Prozent in Vorständen und Aufsichts- selbstbewusst für ihre Rechte einzutreten. Mädchen wie
räten ist mit uns Liberalen nicht zu machen. Wir lehnen Jungen müssen wissen, dass Hausarbeit nicht allein Sa-
es ab, die Unternehmen zu bevormunden und ihnen per che der Frauen ist. Eine Studie des DIW Berlin zeigt ein-
Gesetz vorzuschreiben, wie sie ihre Posten zu besetzen drucksvoll, dass die Lohnkluft nicht nur in unterschiedli-
haben. cher Qualifikation, Berufswahl und Berufserfahrung
begründet ist; ein weiterer Faktor bei den Einkommens-
Wenn Sie immer wieder auf Norwegen als Vorzeige- unterschieden ist nämlich das Ausmaß der Hausarbeit.
land verweisen, Vollzeitbeschäftigte Männer mähen am Wochenende
schon einmal den Rasen, vollzeitbeschäftigte Frauen
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
übernehmen, ohne zu murren, täglich Wischmopp und
NEN]: Ja, das ist es auch! Wir waren doch zu-
Kochlöffel.
sammen da!)
Einkommen und Karriere müssen zurückstehen, wenn
verschweigen Sie, dass dort viele kleine Unternehmen
die Flexibilität für berufliche Termine oder Überstunden
ihre Statuten geändert haben, um den strengen Regelun-
aufgrund der häuslichen Tätigkeit fehlt. Für die FDP-
gen zu entgehen.
Fraktion steht außer Frage, dass die Gleichbehandlung
Sie ignorieren auch, dass die Mehrheit der Bevölke- von Frauen im Berufsleben überfällig ist. Das möchte
(B) rung gesetzliche Quoten ablehnt; ich ausdrücklich betonen. Die christlich-liberale Koali- (D)
tion hat mit ihrem Antrag bereits viele Schritte hierzu
(Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!) unternommen. Ich verweise auf den Ressortbericht der
Befragungen zeigen das immer wieder. In der Debatte Bundesregierung mit dem Titel „Verringerung des Ver-
zur Einführung einer Frauenquote während des jüngsten dienstabstandes zwischen Männern und Frauen“ vom
CSU-Parteitages waren es vor allem die jungen Frauen Juni 2010. Er enthält wichtige Erkenntnisse über die
– also diejenigen, die es am meisten betrifft –, die sich in Gründe für die ungerechten Lohn- und Gehaltsunter-
feurigen Reden vehement gegen die Quote aussprachen. schiede. Da heißt es zum Beispiel, dass die Dauer der
Unterbrechung des Erwerbslebens eine besondere Rolle
Die FDP-Fraktion verschließt nicht die Augen davor, spielt. Laut Studien senke eine sechsmonatige Erwerbs-
dass der Anteil von Frauen in leitenden Positionen der unterbrechung den Lohn um 9 Prozent. Bleibe eine Frau
Wirtschaft immer noch verschwindend gering ist. nach Ablauf der Elternzeit ein weiteres halbes Jahr zu
Je größer das Unternehmen, desto weniger Frauen in Hause bei ihrem Kind, erhöhe dies die Lohneinbuße um
der Chefetage. Dass die Gehaltsunterschiede zwischen nochmals 15 Prozent. – Das müssen wir den Frauen sa-
Männern und Frauen in der obersten Ebene am größten gen.
sind, ist ein Skandal. Wir brauchen unbedingt Transpa- Die Wirtschaft braucht mehr Frauen. Es liegt in ihrem
renz bei den Gehältern. Die FDP-Bundestagsfraktion eigenen Interesse, moderne Arbeitsmöglichkeiten wie
setzt auf Logib-D-Verfahren. Das schafft Transparenz das Homeoffice anzubieten.
und macht sensibel für ungleiche Behandlung. Aus Ima-
gegründen werden sich Unternehmen überlegen müssen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ob sie es sich leisten können, öffentlich als frauenfeind- Sie brauchen auch die Kitaplätze!)
lich zu gelten. Leistung muss sich lohnen, für Frauen ge- Kindertagesstätten und flexible Arbeitsbedingungen für
nauso wie für Männer. Mütter und Väter sind Bausteine auf dem Weg zu einem
Unternehmen sollten darüber hinaus mehr tun. Die ausgewogenen Verhältnis der Geschlechter im Beruf.
Telekom hat es uns vorgemacht. Es ist nicht nur die Dazu ist ein neues Rollenverständnis nötig, nicht nur der
selbstverordnete Quote, die mich freut; die Telekom hat Männer, sondern auch der Frauen selbst.
vielmehr ein ganzes Paket an karrierefördernden Maß- Ganz herzlichen Dank.
nahmen für Frauen ergriffen. So hat das Unternehmen
ein Konzept erarbeitet, wie es als Arbeitgeber mit Mitar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
beiterinnen und Mitarbeitern in Kontakt bleibt, wenn sie der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]:
zur Kinderbetreuung aussetzen. Gleichzeitig werden Was ändern Sie denn jetzt wirklich?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7917

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN und der SPD – Jörn (C)
Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion Wunderlich [DIE LINKE]: Das können die
Die Linke. nicht!)
(Beifall bei der LINKEN) – Nein, das können sie nicht. Aber mangelndes Vorstel-
lungsvermögen ist keine Entschuldigung für schlechte
Cornelia Möhring (DIE LINKE): Politik.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das meinen
Gleichstellung ist ein sehr großes Thema. Das haben wir die aber!)
in den vorherigen Reden gehört. Dazu gehört vieles. Ich
werde mich aus diesem Grund auf das Thema Entgelt- Wie könnten wir auf einfachem Wege die Situation
gleichheit beschränken. Eines möchte ich vorwegschi- dieser Frauen und zigtausend anderer Arbeitnehmer ver-
cken: Frau Schröder ist heute nicht da. Ich denke, die bessern? Wir könnten es zum Beispiel tun, indem wir
Union hat ein ernsthaftes Personalproblem. einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein-
führten. Lohndumping und Armut trotz Arbeit gehören
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem endlich abgeschafft.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Es kann nicht angehen, dass sich jemand Frauenministe- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rin nennen darf, obwohl sie solch einen Blödsinn erzählt.
Genauso ungeheuerlich ist es, dass in unserem Land,
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das betrifft wie schon erwähnt, die meisten Frauen immer noch
nicht Herrn Kues!) durchschnittlich ein Viertel weniger Lohn erhalten als
ihre Kollegen, und das sogar, wenn sie exakt das Gleiche
– Nein, das betrifft nicht Dr. Kues. Er ist da. Sie können
tun, mit der gleichen Ausbildung, mit den gleichen Ver-
Frau Schröder gern berichten, Herr Dr. Kues, welche
antwortungsbereichen. Auch die ungleiche Bezahlung
Ratschläge wir ihr geben. Vielleicht wäre es hilfreich,
für gleichwertige Arbeiten gehört auf den Müllhaufen
wenn sie sie befolgt. – Frau Schröder hat letzte Woche
der Politik.
zum Beispiel behauptet, dass die Lohnungerechtigkeit
unter anderem darin begründet sei, dass sich Frauen nun Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen; denn wenn
einmal die schlechter bezahlten Berufe aussuchen. Ich man nur Zahlenspiele macht, ist das vielleicht weniger
finde, das ist ein Schlag ins Gesicht der Frauen, die sich nachvollziehbar.
Tag für Tag abrackern und Kinder erziehen, die aber
trotzdem nicht genug zum Leben verdienen und keine Eine Frau, die in öffentlichen Verwaltungen Räume
(B) auskömmliche Rente erwirtschaften. Es ist eine Unge- und Toiletten saubermacht, bekommt mehrere Euro we- (D)
heuerlichkeit, so etwas als Familienministerin zu be- niger die Stunde als ein Mann, der für die Pflege der Au-
haupten. ßenanlagen zuständig ist. Ich frage Sie: Warum ist das
Putzen öffentlicher Klos eigentlich geringer zu bewerten
Liebe Frau Kollegin Bracht-Bendt, dem Ruf nach Ei- als das Abkratzen von Kaugummis von Parkbänken?
genverantwortung kann man dann am besten nachkom-
men, wenn man mit einem Geldschein im Mund geboren (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das werden wir
ist. im Bundestag nicht feststellen können!)
Das ist völlig unsinnig.
(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Neiddebatte!)
Eine Frau, die mit Hochschulabschluss in einer Ver-
Denn jene, die wirklich nicht die Voraussetzungen haben
waltung zum Beispiel als Gleichstellungsbeauftragte ar-
und denen dieses Land diese Voraussetzungen nicht bie-
beitet, wird um zwei Tarifgruppen schlechter bezahlt als
tet, haben es tatsächlich schwer, eigenverantwortlich zu
die Bereichsleiter, die mit der gleichen Qualifikation
mehr Lohn zu gelangen. Ich vermute, dass Frau Schröder,
teilweise sogar weniger Verantwortung übernehmen.
wie auch andere in diesem Hohen Hause, tatsächlich
keine Vorstellung davon hat, wie sich Frauen fühlen und Der Leiter einer Kfz-Werkstatt mit fünf Facharbeitern
wie das reale Leben aussieht. Aber vielleicht versuchen und Facharbeiterinnen erhält deutlich mehr Lohn als die
wir einmal gemeinsam einen Perspektivwechsel. Leiterin einer Küche mit ebenso vielen Facharbeiterin-
nen und Facharbeitern.
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind bekommen
– die Entscheidung war sicherlich nicht einfach –, und Eine Erzieherin bekommt nach vier bis fünf Jahren
dann haben Sie keinen Kitaplatz bekommen – das ist Ausbildung – das hängt davon ab, ob sie Abi oder Mitt-
durchaus im Rahmen des Üblichen –; aber nun wollen lere Reife hat – ein paar Hundert Euro weniger als der
Sie zurück an einen Arbeitsplatz. Aber Sie bekommen Facharbeiter nach drei Jahren Ausbildung. – Ich könnte
keinen vernünftig bezahlten neuen Arbeitsplatz. jetzt noch ganz viel Beispiele aufführen.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Anfang 40, gehen Das ist doch nicht nachvollziehbar. Der Grund besteht
zur Arge und Ihnen wird mitgeteilt, dass Sie schon zu alt darin, dass Arbeit in diesem Land dann gering geschätzt
seien. Stellen Sie sich vor, Sie sind alleinerziehend und und schlecht oder gar nicht bezahlt wird, wenn es sich
müssen Ihre Familie und sich selber mit Minijobs und um das Wohl der Menschen und nicht um die Extrapro-
Teilzeit über Wasser halten. – Ich habe den Eindruck, fite dreht, die Sie für Ihre Lobby realisieren wollen. Das
dass Sie sich das nicht vorstellen können. muss sich ändern. Pflegerische und sorgende Arbeit darf
7918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Cornelia Möhring
(A) nicht länger weniger wert sein und muss dringend aufge- können es uns nicht länger leisten, Bildungsinvestitionen (C)
wertet werden. zu vergeuden und auf kreative Potenziale von Frauen zu
verzichten.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abg. Caren Marks [SPD])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Sicht der Links-
fraktion müssen auch deutlich bessere rechtliche Voraus- Wir fordern ein Gleichstellungsgesetz für die Privat-
setzungen geschaffen werden, damit die Entgeltgleich- wirtschaft; denn im Durchschnitt erhalten Frauen in
heit durchgesetzt werden kann. Dazu liegt Ihnen unser Deutschland 23 Prozent weniger Lohn – und das nicht
Antrag vor. Bisher müssen Betroffene in Einzelklagen nur deshalb, weil Frauen lieber brotlose Germanistik und
sehr mühselig gegen Ungerechtigkeiten dieser Art vor- Männer Elektrotechnik studieren, wie die Ministerin
gehen. Das dauert viele Jahre und verschlingt viel Geld. gerne argumentiert; auch bei vergleichbarer Tätigkeit
bekommen Frauen rund ein Viertel weniger als Männer.
Aus diesem Grunde fordern wir eine Erweiterung der
betrieblichen Mitbestimmung sowie die Änderung des Wir wollen daher ein echtes Verbandsklagerecht im
Betriebsverfassungsgesetzes und des Personalvertre- Antidiskriminierungsgesetz, die geschlechtergerechte Über-
tungsrechts. Zudem muss es durch einen Ausbau des so- arbeitung der Eingruppierungskritierien der Tarifverträge
genannten Verbandsklagerechts ermöglicht werden, dass und die Einführung von Mindestlöhnen. Gerade die
auch Vereine, Verbände und Gewerkschaften kollektiv Mindestlöhne würden Frauen sehr stark zugutekommen;
klagen können. denn nur 43 Prozent der erwerbstätigen Frauen arbeiten
in Vollzeit; der Rest ist im Teilzeit- und Niedriglohn-
Doch das allein reicht immer noch nicht aus. Die zu- sektor beschäftigt.
nehmenden Lohnunterschiede zwischen den Geschlech-
tern zeigen deutlich: Die Arbeitswelt muss sich grundle- Hinzu kommt, dass viele Frauen aufgrund von Kin-
gend ändern – nicht nur für Frauen, sondern auch für derbetreuung oder Pflege von Angehörigen unterbro-
Männer. chene Erwerbsbiografien aufweisen. Dies wirkt sich ne-
gativ auf die Einkommenshöhe aus. Wir brauchen daher
(Beifall bei der LINKEN und der SPD) einen Ausbau der Zahl der Kinderbetreuungsplätze, ins-
besondere für die unter Dreijährigen; denn daran man-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gelt es in unserem Land noch gravierend. Auch die
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Pflege muss einen größeren Stellenwert erhalten.
Monika Lazar das Wort. Ich verstehe die Gleichstellung von Frauen und Män-
(B) nern als eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. Wir wollen, (D)
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass Frauen und Männer auf Augenhöhe miteinander
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! umgehen. Gleiche Chancen und gleiche Rechte gehören
Noch nie war eine Frauengeneration in Deutschland so dazu. Der Weg hin zu einer geschlechtergerechten Ge-
gut ausgebildet wie heute. Meine Vorrednerinnen sind sellschaft ist noch lang und fordert uns allen etwas ab.
schon mehrfach darauf eingegangen. Dennoch sind sie Die Abkehr von der traditionellen Geschlechterordnung
– nicht unsere Kolleginnen, sondern die Frauen, die au- bringt aber auch neue Chancen und Perspektiven; sie er-
ßerhalb des Bundestages arbeiten – im Arbeitsleben wei- öffnet Freiräume, Wahlmöglichkeiten und die Chance
ter benachteiligt. Die dritte Bilanz der Vereinbarung zwi- auf mehr Selbstbestimmung für Frauen und für Männer.
schen der Bundesregierung und der Wirtschaft zur
Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Män- Ministerin Schröder hinkt der Zeit weiterhin hinter-
nern macht deutlich, dass es in den vergangenen Jahren her. Erst musste sie sich von der Telekom vorführen las-
keinen nennenswerten gesellschaftspolitischen und sen, die als erstes – und bisher leider einziges – deut-
gleichstellungspolitischen Fortschritt gegeben hat. Der sches DAX-Unternehmen eine Frauenquote eingeführt
Untätigkeit der schwarz-gelben Bundesregierung kön- hat, und dann hat sich selbst die CSU nach langen Dis-
nen wir nicht weiter zusehen. Es sind zwar, insbesondere kussionen für eine parteiinterne Frauenquote entschie-
von Frau Bär, schon Ankündigungen gemacht worden, den; zwar nicht auf allen Ebenen, aber ein Fortschritt ist
aber wir warten immer noch auf die konkreten Maßnah- es immerhin.
men. Selbst Maria Böhmer, Vorsitzende der Frauen Union,
sagte in der gestrigen Ausgabe der Welt zum Thema
Wir fordern eine Vielzahl konkreter Maßnahmen zur
„Frauenquote in der Wirtschaft“ – ich zitiere –:
Schaffung von echter Chancengerechtigkeit im Arbeits-
leben. So sollen – um nur einige Punkte zu nennen – Wir brauchen solche Instrumente. Die Wirtschaft
Unternehmen regelmäßig geschlechterspezifische Perso- muss wissen, dass die Quote kommt, wenn der An-
nalstatistiken erstellen, die Gehaltsstrukturen und Posi- teil der Frauen in Führungspositionen nicht rasch
tionen transparent machen sowie einen Gleichstellungs- steigt. Wir wollen erreichen, dass zeitnah mindes-
beauftragen beschäftigen. tens ein Drittel der Aufsichtsratsposten an Frauen
geht. Längerfristig streben wir einen Anteil von
Natürlich halten wir an der Forderung nach einer
40 Prozent an.
Frauenquote in der Wirtschaft fest. Wir fordern einen
Frauenanteil von mindestens 40 Prozent in Aufsichtsrä- Das alles ist sehr schön. Aber wo bleiben bitte die
ten börsennotierter Unternehmen bis 2017; denn wir konkreten Vorschläge?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7919
Monika Lazar
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): (C)
bei der SPD und der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der SPD fängt mit einer richtigen Feststellung an.
Diese Aussage müsste der Ministerin wirklich zu den- Alles Wesentliche ist gesagt. Auch hier und heute ist
ken geben, aber nein: Ihr Patentrezept besteht weiterhin vielfach wieder dargestellt worden, wie die Mechanis-
aus Unverbindlichkeit und warmen Worten. Frau men zusammengreifen.
Schröder sagte in ihrem unsäglichen Spiegel-Interview
in dieser Woche: Wenn die Quote eingeführt wird, hat (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Politik versagt. – Ja, die Politik hat versagt; denn jah- Jetzt müssen Sie nur noch handeln!)
relang hat es außer freiwilligen Selbstverpflichtungen – Genau. In etlichen Forderungen stimmen wir überein,
nichts gegeben. Das müssen auch die Koalitionsfraktio- aber nicht in allen. Vor allem gehen Sie, denke ich, in
nen endlich zur Kenntnis nehmen; sie dürfen die Augen den bürokratischen Anforderungen doch weit über das
nicht vor der Realität verschließen. Ziel hinaus.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Was hat denn (Christel Humme [SPD]: Dann wird die Büro-
Rot-Grün während der Regierungszeit ge- kratie bemüht, wenn man keine Argumente
macht?) hat!)
– Ich habe mich in meinen vorherigen Reden immer Die Änderungen beim AGG, Verlängerungen der Ein-
selbstkritisch geäußert. Lesen Sie das bitte nach! Wir spruchsfrist, die Verbandsklage, längere Aufbewah-
müssen gemeinsam handeln. Wenn sich die Frauen in al- rungsfristen und dergleichen werden, so glaube ich,
len Fraktionen einig sind, dann müssen wir, was zumin- nicht den Durchbruch für die Frauen bringen. Das bringt
dest Ihre Koalition angeht, nur noch die Männer über- vor allem Mehraufwand und Rechtsunsicherheit.
zeugen. Aber, wie gesagt: Passiert ist nichts. Vielleicht
schaffen wir es gemeinsam in dieser Wahlperiode. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der
SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn Sie öffentliche Aufträge vor allem an Firmen
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr vergeben wollen, die Gleichstellungspläne haben, dann
Antrag ist gut. Viele Forderungen decken sich mit unse- müssen dafür Kriterien entwickelt werden. Wer soll das
ren Forderungen. Ich würde mich freuen, wenn wir bei entscheiden? – Das muss dann wieder zertifiziert und ge-
der Frage der Quote für die Aufsichtsräte in zwei Wo- prüft werden. Ich glaube, auch das läuft sich ziemlich
chen, wenn unser Gesetzentwurf ins Plenum eingebracht tot.
(B) wird, gemeinsam streiten. Sie schlagen vor, dass Betreuungsplätze – ihre Zahl (D)
(Caren Marks [SPD]: Das werden wir auch!) ist knapp – vor allem für Kinder von Berufstätigen zur
Verfügung gestellt werden sollen. Dazu sage ich, dass
Die Ministerin hat wieder eine Studie angekündigt, wir beim SGB VIII und den dortigen Regelungen blei-
um herauszufinden, warum Frauen nicht in Führungspo- ben.
sitionen gelangen. Für mich ist das Verschwendung von
Steuergeldern. (Caren Marks [SPD]: Der Rechtsanspruch gilt
für alle!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Danach soll vorrangig bedacht werden, wer einen Platz
wegen der Berufstätigkeit der Eltern oder zur Persön-
Wir wissen, woran es liegt. Nicht zuletzt das Haus von lichkeitsentwicklung braucht. Wenn ein Kind einen Be-
Ministerin Schröder hat für Unsummen bereits zahlrei- treuungsplatz vor allem für die eigene Persönlichkeits-
che Studien anfertigen lassen. Gerade im Frühjahr dieses entwicklung braucht, dann soll es auch Vorrang haben.
Jahres wurde die von ihrem Haus finanzierte Studie zur Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Kriterium, das
gläsernen Decke vorgestellt. nicht hinter den anderen zurückstehen sollte.
Wir wissen: Es greifen verschiedene Hemmnisse in- Was die Linken den Tarifparteien alles vorschreiben
einander. Aber klar ist: Ohne gesetzliche Maßnahmen wollen, zeugt von einem ziemlich tiefen Misstrauen. Ich
wird es nicht gehen. Frau Ministerin, liebe Koalition, glaube, hier können wir den Tarifvertragsparteien durch-
werden Sie endlich aktiv. Deutschland ist reif für eine aus mehr zutrauen.
moderne Frauenpolitik. (Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Wohlwol-
Vielen Dank. lende Unterstützung ist das!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese haben den Weckruf gehört und werden hier sicher-
und bei der SPD) lich etliches verbessern. Das sind Gründe, weswegen wir
unter anderem Ihre Anträge nicht mittragen können,
auch wenn sie viele Dinge enthalten, über die Konsens
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: besteht.
Das Wort hat nun Elisabeth Winkelmeier-Becker für
die CDU/CSU-Fraktion. Weil dies sicherlich der aktuell wichtigste politische
Punkt ist, möchte ich noch einmal auf den Vorschlag ein-
(Beifall bei der CDU/CSU) gehen, eine 40-prozentige Quote einzuführen. Dies ha-
7920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) ben auch die Grünen in einem Antrag verlangt, der heute zum einen die Männer, die dann vielleicht etwas Platz (C)
nicht zur Debatte steht, der aber auch im parlamentari- machen müssen und deshalb am liebsten gar nichts än-
schen Verfahren ist. In der Tat, die privatwirtschaftliche dern wollen,
Vereinbarung aus dem Jahr 2001 ist ohne Wirkung. Da-
ran hat sich, seit wir im März zuletzt darüber gesprochen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
haben, nichts geändert. Deshalb ist meine Überzeugung NEN]: Und die FDP!)
durchaus, dass wir eine Quote brauchen und dass wir zum anderen Frauen, häufig junge Frauen, die meinen,
eine Quote bekommen. dass die nötigen Veränderungen auch ohne Quote zu er-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- reichen wären. Beide kommen uns mit dem Argument:
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Qualität und Kompetenz setzen sich auch so durch.

Es war schon die Rede davon: Als Gruppe der Frauen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
in der Union haben wir uns für einen Stufenplan mit zu- Aber die Frauen sind qualifiziert!)
nächst Berichtspflichten ausgesprochen, durch die eine Das würde stimmen, wenn Qualität und Kompetenz als
Vergleichbarkeit hergestellt werden soll. Ich glaube, wir alleinige Kriterien gelten würden. Wir wissen aber, dass
erwischen die Unternehmen wirklich am Nerv, wenn auch andere Kriterien gelten: Seilschaften, Loyalitätsbe-
zum Beispiel im Handelsblatt oder im manager magazin weise, Tauschgeschäfte und dergleichen.
eine übersichtliche Tabelle steht, aus der sich ganz klar
ergibt, wer hier vorn liegt und wer nicht. (Caren Marks [SPD]: Wenn sich Qualität
durchgesetzt hätte, wäre Frau Schröder nicht
Wir wollen aber auch, dass das in eine verbindliche Ministerin!)
Quote mündet. Auch Staatsministerin Böhmer hatte das
vorgeschlagen. Davon war schon die Rede. Unser Kon- Nun sagen junge Frauen auch: Wir brauchen vor al-
zept sieht vor, dass wir im nächsten Wahlturnus auf eine lem Kinderbetreuungsmöglichkeiten und eine andere
Zielmarke von 30 Prozent kommen wollen. Wenn das Präsenzkultur. Das stimmt, das stimmt aber auch unab-
nicht freiwillig gelingt, hängig von der Quote, neben der Quote und auch ohne
die Quote. Aber das reicht nicht. Es geht doch nicht da-
(Caren Marks [SPD]: Das ist doch vergeudete rum, die heute 30-Jährigen neben die 50-jährigen Män-
Zeit! – Christel Humme [SPD]: Schreiben Sie ner in den Aufsichtsräten zu setzen. Es geht um die
das in das Gesetz? Machen Sie das wie die Frauen, die heute in der Lage wären, die Aufgaben zu
Norweger?) übernehmen. Für diese ist Kinderbetreuung in der Regel
dann erfolgt die verbindliche Vorgabe für den über- überhaupt kein Thema mehr.
(B) nächsten Wahlturnus. Wir müssen die Wahlturnuszeiten (D)
mit in Rechnung stellen und deshalb bald beginnen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Auch das ist kein Geheimnis: Wir haben in der Tat
das Problem und die Aufgabe, dafür in der eigenen Par-
tei Mehrheiten zu finden. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Deshalb brauchen wir die Quote. Wir wollen, dass das
(Christel Humme [SPD]: Da wünsche ich zeitnah geht. Deshalb bleiben wir am Thema Quote dran.
Ihnen viel Glück!) Das ist versprochen.
Ich glaube, diese Situation kennen Sie sehr gut. Denken Danke schön.
Sie an das Jahr 2001 zurück. Da waren die Frauen in der
rot-grünen Koalition auch auf einem anderen Weg. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schon Legende, dass damals bei Zigaretten und Wein die neten der FDP)
freiwillige Vereinbarung mit der Privatwirtschaft gekippt
und abgemildert wurde. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.

Von daher wissen wir alle, wovon wir sprechen. (Beifall bei der SPD)

Wir machen uns in unserer Fraktion aber optimistisch


Caren Marks (SPD):
auf den Weg. Daraus erklärt sich auch die Zahl. Wenn
man mit einer moderaten Zahl letztendlich erreicht, dass Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
etwas Wirklichkeit wird, dann sind mir 30 Prozent real ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
lieber als 40 oder 50 Prozent auf dem Papier. Die Quote Winkelmeier-Becker, ja, es war ein großer Fehler von
wäre eine einfache und unbürokratische Regelung. Sie Rot-Grün, die freiwillige Vereinbarung einzugehen.
nützt den Unternehmen; denn den Unternehmen nützt al- Aber die SPD und auch die Grünen sind mittlerweile
les, was den Horizont und die Perspektive der homoge- weiter. Wir haben die Konsequenzen aus diesem Fehler
nen Gruppen, die jetzt in den Vorständen und Aufsichts- gezogen und sagen ganz klar: Ohne gesetzliche Rege-
räten sitzen, erweitert. lung geht es bei der Quote und der Entgeltgleichheit
nicht. Wir wünschen Ihnen alles Gute auf dem Weg zu
Jetzt gibt es zwei Gruppen, die sich offenbar nicht so dieser Erkenntnis und bei Ihrem Bemühen, zu entspre-
gut mit dem Gedanken an die Quote anfreunden können: chenden Mehrheiten zu kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7921
Caren Marks
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE zahlen veröffentlicht. Die Zahl der betreuten Kinder un- (C)
GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) ter drei Jahren nimmt zwar weiter zu, doch nach wie vor
ist die Betreuungsquote in den meisten westdeutschen
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch ich
Bundesländern wirklich alles andere als zufriedenstel-
komme nicht umhin, mich auf das bereits erwähnte Spie-
lend. Es bedarf endlich konkreter Verabredungen mit
gel-Interview der Ministerin zu beziehen. Vielleicht ist
Ländern und Kommunen, wie das Angebot schneller be-
es auch kein Zufall, dass sie es vorzieht, heute nicht da-
darfsgerecht ausgebaut und der Rechtsanspruch 2013
bei zu sein. In diesem Interview konnten wir erfahren,
verlässlich umgesetzt werden kann.
warum es eine Lohnungleichheit zwischen Männern und
Frauen gibt; denn: Auf das Engagement der Bundesfamilienministerin
warten Eltern und ihre Kinder bislang vergeblich. Dabei
Frauen studieren gern Germanistik …, Männer da-
müsste sie schleunigst einen Krippengipfel einberufen
gegen Elektrotechnik – und das hat eben auch Kon-
und eine aktuelle und ehrliche Bedarfsanalyse vorlegen,
sequenzen beim Gehalt.
statt sich permanent hinter veralteten Zahlen zu verste-
Selbst schuld, liebe Frau! So einfach, so schlicht ist die cken.
Welt der Frauenministerin in unserem Land.
(Christel Humme [SPD]: Das wird höchste
Nach einer aktuellen Studie beträgt die Lohnlücke Zeit!)
zwischen Männern und Frauen bei wirklich vergleichba-
Die SPD fordert: Die Ganztagsbetreuungsangebote in
ren Voraussetzungen immerhin noch knapp 13 Prozent.
Kitas und Schulen müssen ausgebaut werden. Nur so
Das ist die tatsächliche Lohndiskriminierung von Frauen
lässt sich Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Män-
in unserem Land. Daran wird ganz deutlich, dass wir
ner und Frauen leben; nur so ist Gleichstellung zu ver-
endlich rechtliche Regelungen brauchen, um dieser
wirklichen.
Lohndiskriminierung effektiv entgegenzuwirken. Wir
bräuchten auch eine tatkräftige Ministerin, die sich nicht Wenig konkret hingegen ist die Initiative „Familien-
länger vor ihren Aufgaben drückt. bewusste Arbeitszeiten“, die die Ministerin zusammen
mit der DIHK gestartet hat. Ziel ist es, Betrieben Anre-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
gungen für flexiblere und damit familienfreundlichere
In der Studie wird außerdem dargelegt: Je länger die Arbeitszeitmodelle zu geben. Meine lieben Kolleginnen
Unterbrechungen des Erwerbslebens sind, desto größer und Kollegen, es fehlt nicht an Anregungen, es fehlt an
wird der Lohnabstand. Es sind nach wie vor überwie- konkreten Angeboten für die Beschäftigten. Das ist das
gend die Frauen, die längere Erwerbspausen haben, al- Problem.
lerdings immer seltener wirklich gewollt. Auch deswe-
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
gen war die Einführung des Elterngeldes ein sinnvolles
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Instrument, um zu erreichen, dass Frauen nach der Ge-
GRÜNEN)
burt ihres Kindes nicht zu lange aus dem Erwerbsleben
ausgeschlossen werden und gleichzeitig auch die Väter Über die Quote haben wir schon einiges gehört. Ich
im ersten Jahr nach der Geburt an der Betreuung betei- merke dazu an: Auch die Quote gehört nicht gerade zu
ligt werden. Die Beteiligung der Väter sollte allerdings den Lieblingsthemen der Ministerin, und man fragt sich,
noch deutlich besser werden. Deswegen setzen wir uns welche es eigentlich sind. Die Quote, so hört man von
in der SPD für mehr Partnerschaftlichkeit beim Eltern- ihr, sei nur Ultima Ratio. Jetzt folgte auch noch die Aus-
geld ein. Ziel ist eine gerechte Aufteilung der Elternzeit. sage, eine Quote sei auch immer eine Kapitulation der
Politik. Dann hat ja – schade, dass Frau Bär schon weg
(Beifall bei der SPD)
ist – die CSU mit ihrer Frauenquote schon einmal kapi-
Was aber will die Ministerin? Der Presse konnten wir tuliert.
aktuell entnehmen, dass sie bei einer Weiterentwicklung
Kapituliert hat wohl auch die Justizministerkonferenz
des Elterngeldes auf das Prinzip Hoffnung setzt. Sie
der Länder? Sie hat letzte Woche einen Quotenbeschluss
hoffe, dass eine Ausweitung der Partnermonate beim El-
für Aufsichtsräte gefasst. Die SPD begrüßt diesen Schritt
terngeld und die Einführung eines Teilelterngeldes noch
ausdrücklich. Ich kann nur sagen: Hier wurde nicht kapi-
vor den nächsten Bundestagswahlen – hört, hört, der
tuliert, sondern endlich verstanden, was guten Frauen
Zeitpunkt – verwirklicht werden. Indem man allein auf
wirklich hilft.
das Prinzip Hoffnung setzt, haben sich gesellschaftliche
Rahmenbedingungen – vielleicht richten Sie das Ihrer (Beifall bei der SPD)
Ministerin aus, Herr Staatssekretär – noch nie geändert.
Hier sind Taten von der Ministerin gefordert! Das Bedauern der Ministerin über die fehlenden
Frauen in Führungspositionen ist alles andere als über-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeugend, und ihre Aktivitäten erschöpfen sich auch hier,
der LINKEN) wie so oft, in einer Initiative mit der Wirtschaft, diesmal
für mehr Frauen in Führungspositionen. Wir brauchen
Denn die Frauen in Deutschland haben diesen Stillstand
aber keine folgenlosen Initiativen, wir und die Frauen in
nicht verdient, und sie haben ihn vor allem wirklich satt.
diesem Land brauchen gesetzliche Regelungen. Die SPD
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Taten sind auch will eine gesetzliche Frauenquote für Aufsichtsräte und
beim Ausbau der Kinderbetreuung gefordert. Hierzu hat Vorstände. Damit kommen Frauen in die entsprechenden
das Statistische Bundesamt ganz aktuelle Betreuungs- Positionen, nicht aber mit folgenlosen Initiativen. Es
7922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Caren Marks
(A) wundert nicht wirklich, dass wir mit einer solchen dass wir bei vielen Themen auf der Stelle treten. Dabei (C)
Ministerin bei einem Ranking des Weltwirtschaftsfo- waren sowohl die SPD als auch die Grünen, also all die-
rums zur Gleichstellung von Platz 5 auf Platz 13 zurück- jenigen, die in den letzten Jahren an der Regierung wa-
gefallen sind. ren, an dieser Entwicklung genauso beteiligt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht (Christel Humme [SPD]: Das ist eine falsche
nachvollziehbar, dass eine so junge Frauenministerin mit Behauptung! Sie haben bei meiner Rede nicht
Gleichstellungspolitik nichts am Hut hat, zugehört!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!) Deshalb halte ich das Geschrei der letzten Tage für ein
wirklich durchsichtiges Manöver, um von Ihrem eigenen
und das, obwohl sie ihre Karriere auch der Frauenbewe- Scheitern abzulenken.
gung der 70er-Jahre verdankt. Schlimmer noch: Frau
Schröder macht in der Gleichstellungspolitik eine Rolle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
rückwärts nach der anderen. Die Frauen in unserem ten der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)
Land wissen, dass die Ministerin nicht an ihrer Seite Zum Zweiten geht es um verschiedene inhaltliche
steht. Die Quittung – da bin ich mir sicher – wird folgen. Themen. Auch hier war ich etwas überrascht über die
Schwerpunktsetzung der letzten Tage. In meinen Augen
Herzlichen Dank.
gibt es Themen, bei denen wir wirklich weitergekom-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie men sind. Allerdings gibt es auch andere Themen, bei
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE denen noch viel zu tun ist. Aber diese Gewichtung hat
GRÜNEN) sich in der Diskussion der letzten Tage ganz und gar
nicht widergespiegelt. Ich frage mich: Ist es wirklich
notwendig, einen Namenswechsel so hoch zu hängen?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Vor 20 bis 30 Jahren war der Namenswechsel eine abso-
Als letzter Rednerin zu diesem Debattenpunkt erteile lut politische Aussage.
ich Kollegin Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort. (Caren Marks [SPD]: Dazu hat keiner von uns
was gesagt! – Christel Humme [SPD]: Wer hat
(Beifall bei der CDU/CSU) das denn gemacht?)
Das ist aber heute nicht mehr so. Man ist weder eine
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Emanze, wenn man als Frau einen Doppelnamen wählt
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und oder seinen Namen behält, noch ist man superkonserva-
Kollegen! Nach den aufgeheizten Diskussionen der letz- tiv, wenn man den Namen des Mannes annimmt.
(B) ten Tage dachte ich, dass wir wenigstens hier im Parla- (D)
ment etwas sachlicher diskutieren, ohne Verleumdungen (Christel Humme [SPD]: Da setzen Sie sich
und ohne Falschbehauptungen. am besten mit Alice Schwarzer auseinander!
Die ist aber nicht im Parlament oder in der Re-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gierung!)
Widerspruch bei der SPD)
Die Namenswahl geschieht heute in den meisten Fällen
Aber was machen Sie? Sie machen genau so weiter, in völlig undogmatisch. Sie wird beeinflusst vom persönli-
der Hoffnung, parteipolitischen Profit daraus zu schla- chen Geschmack und der individuellen Situation. Für
gen. Ich bin der Meinung, der Zirkus, den Sie hier vor al- viele ist es heute unvorstellbar, wie es früher einmal war.
lem in den letzten Tagen veranstaltet haben, lähmt die Aber es ist doch gerade der Erfolg der Frauenbewegung,
gleichstellungspolitische Debatte mehr, als dass er sie dass wir die Namenswahl heute so undogmatisch sehen
voranbringt. können. Lassen Sie uns das auch heute leben, und ver-
langen Sie nicht von uns, dass wir alles genauso machen,
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) wie Sie es damals vor 20, 30 Jahren aus berechtigten
Worum geht es eigentlich? Es geht zum einen um die Gründen gemacht haben.
Frage, wer was erreicht hat. Das Gleiche gilt für die Jungenpolitik. Ich sehe in der
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, der Feminismus Feststellung, dass die Jungen gegenüber den Mädchen in
hat vieles erreicht. Viele von uns würden heute hier nicht den letzten Jahren zu kurz gekommen sind,
stehen, hätte es den Feminismus nicht gegeben. (Zurufe von der LINKEN: Oh!)
(Christel Humme [SPD]: So ist es!) keinen Angriff gegen die Mädchen- und Frauenpolitik.
Das hat übrigens die Ministerin in ihrem Interview wort- (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt!)
wörtlich so gesagt. Niemand stellt die Erfolge des Femi-
nismus infrage. Trotzdem beobachtet man Reaktionen wie gerade von den
Linken oder hört Sätze wie: Jetzt müssen wir uns auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch um die armen Jungen kümmern. – Ich sage: Ja, das
neten der FDP) müssen wir; denn Gleichstellungspolitik bedeutet, dass
wir jedes Geschlecht bestmöglich fördern müssen.
Was ich allerdings infrage stelle, sind die Erfolge der
Gleichstellungspolitik der letzten Jahre. Da ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wahnsinnig viel passiert. Trotzdem werfen Sie uns vor, neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7923
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) Man kann durchaus für eine Quote sein und gleichzeitig Auf der ersten Stufe stehen Selbstverpflichtung und Be- (C)
die Jungen fördern. Pragmatismus statt Ideologie: Mit richtspflichten.
diesem Grundsatz kommen wir in diesen Tagen weiter
als mit dem Kampf der Geschlechter. (Christel Humme [SPD]: Das haben wir doch
schon seit neun Jahren!)
Aber das darf nicht mit Laisser-faire verwechselt wer-
den. Es gibt noch viel zu tun. In vielen Punkten sind wir Wir sagen aber eben auch deutlich: Wir warten nicht
absolut nicht zufrieden mit dem, was erreicht worden ist. ewig. Ein Stufenplan ist ein Stufenplan.
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zurückfallen. (Caren Marks [SPD]: Aber nichts Verbind-
Auch das sage ich ganz deutlich. Einen Rückfall können liches!)
wir nur verhindern, indem wir uns gemeinsam auf die
wichtigen Themen konzentrieren und nicht aufeinander Das heißt, wenn nicht ganz schnell Dynamik in die Sa-
losgehen. che hineinkommt, dann muss die zweite Stufe wesent-
lich mehr Vorgaben und Druck beinhalten. Da kann Nor-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wegen für uns durchaus ein gutes Vorbild sein.
neten der FDP)
Die CDU/CSU-Fraktion steht für entschiedenes und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
pragmatisches Handeln sowie für einen breiten, ursa- Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
chenorientierten Ansatz. Die Kolleginnen haben es be-
reits im Zusammenhang mit dem Thema Entgeltun- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
gleichheit dargestellt. Dafür gibt es eine Reihe von Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Es gibt noch
Gründen. Dazu gehört das Berufswahlverfahren; das viel zu tun. Mit Diffamierungen kommen wir nicht wei-
wurde schon gesagt. Ich nenne ferner die vielen Er- ter. Wir müssen das gemeinsam angehen.
werbsunterbrechungen und die schlechtere Bezahlung in
typischen Frauenberufen. Da müssen sich auch die Tarif- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
partner fragen lassen, ob ihnen an dieser Stelle nicht eine
Verantwortung zukommt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es gibt in der Tat auch Diskriminierungen, was die Kar- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
rierechancen und das Gehalt angeht. Es gibt also ein Ich schließe die Aussprache.
(B) Bündel von Ursachen. Dieses Problem müssen wir ge- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (D)
meinsam angehen: Frauen und Männer, Unternehmen, schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Tarifparteien, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. So Drucksache 17/1486 zu dem Antrag der Fraktion der
kommen wir wirklich weiter. SPD mit dem Titel „Mit gesetzlichen Regelungen die
Das Gleiche gilt für das Thema Frauen in Führungs- Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben umgehend
positionen. Hier müssen wir feststellen: Wir sind unter durchsetzen“, zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
Rot-Grün nicht weitergekommen; wir sind in der Großen dem Titel „Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech-
Koalition nicht weitergekommen. Nur gerade einmal tern wirksam durchsetzen“ sowie zu der Unterrichtung
2,5 Prozent der Vorstandsposten der 200 größten deut- durch die Bundesregierung mit dem Titel „Dritte Bilanz
schen Unternehmen sind mit Frauen besetzt. Das haben der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und
Sie genauso wie wir zu verantworten. Hier treten wir auf den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur För-
der Stelle. derung der Chancengleichheit von Frauen und Männern
in der Privatwirtschaft“.
Dafür gibt es eine breite Palette von Gründen: In gut
bezahlten technischen Berufen arbeiten weniger Frauen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Es liegt zum Teil auch daran, dass Frauen manchmal Beschlussempfehlung, in Kenntnis der genannten Unter-
vorsichtiger sind. Aber die Hauptursache sind meiner richtung auf Drucksache 16/10500 den Antrag der Frak-
Meinung nach die Kultur und der Status quo in den Füh- tion der SPD auf Drucksache 17/821 abzulehnen. Wer
rungsetagen der Unternehmen. Die Old-Boys-Netz- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
werke funktionieren leider – vielleicht auch unbewusst. dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Es herrscht eine männliche Kultur vor. Frauen stoßen da ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
irgendwann an eine gläserne Decke. Hier bedarf es einer Stimmen der SPD bei Stimmenthaltung der Linken und
qualifizierten Anzahl von Frauen – man spricht von etwa der Grünen angenommen.
30 Prozent – in den entsprechenden Ebenen, um diese Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
Kultur strukturell zu ändern. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Wie kommen wir dahin? Die Kolleginnen haben es Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/891. Wer stimmt
bereits erwähnt: Wir legen einen Stufenplan vor. So kon- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
kret waren Sie noch nie. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
(Christel Humme [SPD]: Als Gesetz oder als Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD und
freiwillige Lösung?) Grünen angenommen.
7924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 36 auf: Ich sage Ihnen: Das ist unzumutbar. Hier muss gehandelt (C)
werden.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nologie (9. Ausschuss)
Das Beispiel zeigt, warum wir von der christlich-libe-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim ralen Koalition hier vorangehen. Wir bemühen uns nicht
Pfeiffer, Peter Bleser, Nadine Schön (St. Wen- erst, seit die Stiftung Warentest nachgewiesen hat, dass
del), weiterer Abgeordneter und der Fraktion bei 80 Prozent von 50 untersuchten Spielzeugen die ge-
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. setzlich vorgegebenen Grenzwerte nicht eingehalten
Friedhoff, Dr. Erik Schweickert, Claudia wurden, darum, in diesem Bereich nach vorne zu kom-
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion men. Aber wie kann man hier nach vorne kommen? Da
der FDP es sich um eine europäische Regelung handelt, müssen
wir auf der europäischen Ebene ansetzen. Das tun wir
Kinderfreundliche Nachbesserung der EU-
auf drei verschiedene Weisen:
Spielzeug-Richtlinie dringend erforderlich
Erstens. Wir möchten die Grenzwerte ändern; sie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Elvira
müssen gesenkt werden. Ich denke, das ist unter den
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra
Fraktionen dieses Hauses Konsens.
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD Zweitens. Es geht uns nicht so sehr darum, welche
Schadstoffe in einem Spielzeug enthalten sind, sondern
Offensive für einen wirksamen Schutz der darum, welche Schadstoffe freigesetzt werden: Was wird
Kinder vor Gift in Spielzeug
freigesetzt, wenn das Quietscheentchen in den Mund ge-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, nommen wird, wenn es zum Haut- oder Mundkontakt
Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Ab- kommt? Wir sind also der Meinung, dass hier die Syste-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE matik geändert werden muss: Es ist nicht ausschlagge-
bend, was drin ist, sondern was freigesetzt wird.
Krebserregende Stoffe in Kinderspielzeugen
durch Sofortmaßnahmen ausschließen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weite- Drittens. Wir, die christlich-liberale Koalition, wollen
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- eine verpflichtende Drittprüfung auf europäischer Ebene
NIS 90/DIE GRÜNEN durchsetzen; denn es hat sich gezeigt, dass das CE- (D)
(B)
Zeichen, das für „Conformité Européenne“ stehen soll
Kinderspielzeug – Risiko für kleine Ver- – eine Selbstverpflichtung der Hersteller –, so gut wie
braucher nichts bringt. Insider sprechen bei CE nicht von „Con-
– Drucksachen 17/3424, 17/2345, 17/1563, 17/656, formité Européenne“, sondern von „China Exports“;
17/3695 – denn das Zeichen wird einfach aufgedruckt, ohne dass
man sich um die Vorgaben kümmert. Wir sind deshalb
Berichterstattung: der Meinung: Das muss besser gemacht werden. Wir
Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel) kennen in Deutschland den TÜV; wir wissen, was es
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die heißt, Stichproben zu nehmen. Dann ist es richtig, zu sa-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre gen: Wir wollen verpflichtende Drittprüfungen auf euro-
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. päischer Ebene. Denn nur dann können wir den Schutz
unserer Kinder ordentlich gewährleisten.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Erik Schweickert für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP) Wir haben auch den Vorschlag unterbreitet – falls
man sich da mit Blick auf REACH schwertun sollte –
und sind bereit, Spielzeug – wie dieses Glas – als Le-
Dr. Erik Schweickert (FDP):
bensmittelbedarfsgegenstand zu klassifizieren. Wenn ich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
das in den Mund nehme, brauche ich keine Angst zu ha-
Meine Damen und Herren! Heute geht es im Prinzip um
ben, dass etwas migriert, weil für Lebensmittelbedarfs-
den Vergleich von zwei Produkten – ich habe sie mitge-
gegenstände sehr strenge Regelungen gelten. Wenn sich
bracht –: Es geht um den Vergleich zwischen einem
die EU schwertut, haben wir also alternativ vorgeschla-
Quietscheentchen, auf dem meine Tochter schon einmal
gen, Kleinkinderspielzeug als Lebensmittelbedarfsge-
herumkaut, wenn sie in der Wanne planscht, und einem
genstand zu klassifizieren. Auch dann sind wir auf dem
Autoreifen, auf dem sie noch nie herumgebissen hat. Sie
richtigen Weg.
werden denken: Das ist logisch! Auch ich sage: Das ist
logisch! Wenn Sie jetzt aber wissen, dass bei diesem Darüber hinaus sehen wir, dass wir im Bereich der al-
Quietscheentchen eine 1000-fach höhere Konzentration lergenen Stoffe etwas tun müssen. Bei Uhren haben die
einzelner krebserregender Weichmacher zugelassen ist Nickelwerte ein Limit, bei Kinderspielzeug ist das nicht
als bei diesem Autoreifen – deswegen zeige ich Ihnen der Fall. Auch das ist eine unlogische Gesetzgebung auf
das Ganze –, dann werden Sie sagen: Das ist unlogisch! europäischer Ebene. Hier werden wir zusammen mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7925
Dr. Erik Schweickert
(A) dem Wirtschaftsministerium und dem Verbraucherschutz- dukten waren über 80 Prozent betroffen. Ob Holzbau- (C)
ministerium aktiv werden, damit sich etwas tut und un- steine oder Holzpuzzles, Plüschtiere, Puppen und Plas-
sere Kinder nicht länger mit dem teilweise doch als tikspielzeug: Sie enthielten Formaldehyd, Phthalate,
Schrott zu klassifizierenden Produkten zugeschüttet wer- PAKs – das sind die sogenannten polyzyklischen aroma-
den. tischen Kohlenwasserstoffe –, kritische Farbstoffe und
Nonylphenol, Stoffe, die als krebserregend gelten und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Allergien auslösen können. Einige verändern das Erbgut
Jetzt kommt die Opposition und sagt: Was tun Sie oder sind fortpflanzungsschädigend.
denn national? Dazu muss ich sagen: Das Ganze einfach
nur national zu regeln, wäre zu einfach. Viele von uns Das ist, finde ich, erschreckend, aber leider nicht neu.
kommen ja aus Baden-Württemberg. Da ist der Weih- Regelmäßig warnen die Rapex-Meldungen der EU vor
nachtsmarkt in Frankreich relativ nahe. Ich will nicht, giftigem Spielzeug, und zwar mit steigender Tendenz.
dass Spielzeug, das in Deutschland nicht eingeführt wer- Wir haben bereits mehrfach über die Sicherheit von Kin-
den darf, aus Frankreich zu uns herüberkommt. Das ist derspielzeugen debattiert. Aber getan hat sich fast nichts.
kein effizienter Verbraucherschutz. Wir müssen hier auf Das ist es, was uns wirklich empören muss.
europäischer Ebene tätig werden. Trotzdem dürfen wir Bereits im Mai hatte ein Vertreter des Deutschen Ver-
national nicht untätig sein. Das sind wir, meine Damen bandes der Spielwaren Industrie auf einer Anhörung im
und Herren, liebe Elvira Drobinski-Weiß, auch nicht. Wirtschaftsausschuss berichtet, dass man schon seit
Wir haben in unserem Antrag ganz klar gesagt, dass Mitte Dezember 2009 – das ist nun bald ein Jahr her –
wir insbesondere mit China eine Arbeitsgruppe gründen mit Ministerin Aigner über eine Selbstverpflichtung zu
wollen, um dieses Thema in den Griff zu kriegen. Ich den PAKs im Gespräch sei. Seitens des Verbandes sei
möchte auch sagen, warum. Denn eine verpflichtende man bereit, die für die Vergabe des GS-Zeichens – das
Drittprüfung muss so organisiert sein, dass vor Ort eine steht für „Geprüfte Sicherheit“ – geltenden Grenzwerte
Probe genommen werden kann. Ich habe mich dazu für PAKs einzuhalten. Im aktuellen Warentest wurden
heute Morgen mit unserem Wirtschaftsminister Rainer aber jede Menge PAK-Stoffe gefunden, zum Beispiel im
Brüderle abgestimmt. Wir werden auch die großen Meerschweinchen von Althans, in der Sandmännchenfi-
Händler zu einem Gespräch einladen, damit nämlich ge- gur Pitti von heunec, im Teddybär Victor von Steiff, in
nau diese Regelungen, die wir jetzt auf den Weg bringen, der Puppe Cheeky von Simba.
beachtet werden – nicht erst dann, wenn Europa umsetzt. Ich habe es schon gesagt: PAKs gelten als krebserzeu-
Wir wollen schon vorher proaktiv tätig werden, damit gend, erbgutverändernd und fortpflanzungsschädigend.
sich das nicht wiederholt, was die Stiftung Warentest he- Wir nennen diese Stoffe abgekürzt auch k/e/f-Stoffe. Das
(B) rausgefunden hat. Bundesinstitut für Risikobewertung sieht hier einen drin- (D)
Sie sehen also, wenn Sie sich diesen Antrag ganz ge- genden Handlungsbedarf. Diese Stoffe haben im Spiel-
nau durchlesen: Wir sind nicht nur auf dem richtigen zeug tatsächlich nichts zu suchen. Sie gehören verboten.
Weg; wir sind im Zeitplan, und wir handeln jetzt nach Die SPD hat mit ihrer Offensive für einen wirksamen
zwölf Monaten so, wie es manche in zwölf Jahren Re- Schutz der Kinder vor Gift in Spielzeug bereits im Juni
gierungsverantwortung nicht geschafft haben. Deshalb einen umfassenden Maßnahmenkatalog zur Verbesse-
möchte ich insbesondere an Sie aus der Opposition ap- rung der Spielzeugsicherheit vorgelegt. Darin fordern
pellieren: Wir haben einen Antrag vorgelegt, der in vie- wir unter anderem die rechtliche Gleichstellung von
len Teilen Ihre Anregungen aufgreift, der umsetzbar ist Spielzeug mit sogenannten Lebensmittelkontaktmateria-
und der zwischen den Häusern abgestimmt ist. Deswe- lien; denn – das hat der Kollege Schweickert schon aus-
gen bitte ich Sie um Unterstützung, damit wir uns nicht geführt – Kinder nehmen diese Dinge in den Mund. Sie
irgendwann wieder darüber unterhalten müssen, ob das kauen an ihren Plüschtieren, und dabei werden Giftstoffe
Quietscheentchen oder der Autoreifen für meine Tochter freigesetzt. Wir fordern ein komplettes Verbot dieser k/e/f-
besser wäre. Ich möchte ihr weiterhin das Quietsche- Stoffe, ebenso für alle allergieauslösenden Stoffe.
entchen und nicht den Autoreifen zum Spielen geben.
(Beifall bei der SPD)
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch die Kombinationswirkungen der verschiedenen
Chemikalien sind bisher nicht berücksichtigt worden.
Wir fordern, dass die Untersuchung solcher Kombina-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tionswirkungen zu einem Forschungsschwerpunkt wird
Das Wort hat nun Elvira Drobinski-Weiß für die SPD- und die Ergebnisse schnellstmöglich in gesetzliche Vor-
Fraktion. gaben einfließen. Wir wollen die Hersteller verpflichten,
die Sicherheit von Spielzeug durch unabhängige Dritte
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): überprüfen zu lassen, bevor dieses in den Handel ge-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- langt. Schließlich kann man von Eltern und Großeltern
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schweickert nicht verlangen, dass sie Chemieexperten sind. Sie soll-
hat es ja auch angesprochen: Im Oktober hat die Stiftung ten sich darauf verlassen können, dass auf dem Markt er-
Warentest erneut festgestellt, dass Kinderspielzeug sehr hältliches Spielzeug keine Gefahr für die Gesundheit
hoch mit Gift belastet ist, und zwar in einem doch sehr ihrer Kinder ist. Wir fordern daher die Einrichtung einer
erschreckendem Ausmaß. Von den 50 untersuchten Pro- benutzerfreundlichen, öffentlich zugänglichen Daten-
7926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Elvira Drobinski-Weiß
(A) bank für Spielzeug. Darin sollen die Kontrollergebnisse (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Schauen Sie ein- (C)
der Marktüberwachung der Länder und des Zolls unter mal in die Länder! Da gab es Länderkoopera-
Nennung der Namen von Hersteller und Produkt zusam- tionen!)
mengeführt und die Inhaltsstoffe des Spielzeugs genannt
werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
gemeinsam waren wir schon viel weiter. 2008 haben wir
Als unser Antrag im Oktober endlich auf der Tages- als schwarz-rote Regierungskoalition ein komplettes
ordnung des Verbraucherausschusses stand, haben die Verbot aller allergenen Duftstoffe und aller k/e/f-Stoffe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition für gefordert. Jetzt streben Sie strengere Grenzwerte für
die Absetzung gesorgt. Eigene Vorschläge von CDU/ diese Stoffe an, und die allergenen Duftstoffe haben Sie
CSU und FDP lagen bis dahin nicht vor. im Forderungsteil Ihres Antrags offensichtlich verges-
sen.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das stimmt
nicht!) Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, ziehen Sie Ihren Antrag zurück!
Immer wieder haben wir unsere Gesprächsbereitschaft
signalisiert. Im Interesse der Kinder – es geht um ihren (Lachen des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
Schutz – sind wir für eine gemeinsame Initiative offen. Wichtige Forderungen fehlen. Das kann ja einmal pas-
Wir denken aber, dass Ihre Vorschläge dafür nicht aus- sieren, man muss aber nicht darauf beharren, und schon
reichen. gar nicht, wenn es um so etwas Wichtiges wie Kinderge-
sundheit geht. Unterstützen Sie hier und jetzt doch lieber
Der Koalitionsantrag, den Sie uns Ende Oktober vor-
unseren Antrag im Interesse und für den Schutz der Ge-
gelegt haben, bleibt weit hinter dem Machbaren zurück,
sundheit der Kinder! Alle Eltern wären Ihnen dafür
Herr Kollege Schweickert.
dankbar. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was habt ihr in wir nächstes Jahr nicht wieder kurz vor Weihnachten
den zwölf Jahren denn gemacht?) über Gift im Spielzeug debattieren müssen.
Warum haben Sie unsere Forderungen nicht komplett Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
übernommen? Ich denke, dass einiges aus unserem An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
trag abgeschrieben wurde; aber leider wurde es aufge- der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]:
weicht. Deswegen unserem Antrag zustimmen!)
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
Jetzt hat das Wort Kollegin Nadine Schön für die
– Lachen Sie nur. Lesen Sie beide Anträge und verglei- CDU/CSU-Fraktion.
chen Sie sie.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich habe alles neten der FDP)
gelesen!)
Wichtige Punkte wurden weggelassen. Beispielsweise Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
haben Sie die Option, notfalls auch auf nationaler Ebene Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Spielräume für Verbesserungen zu nutzen, ausgeklam- Kollegen! Weihnachten steht fast vor der Tür, Zeit der
mert. Geschenke, besonders für Kinder. Kinder finden unter
dem Weihnachtsbaum sicherlich am häufigsten Spiel-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das steht doch zeug. Das soll weiterhin so bleiben. Der Deutsche Ver-
schon im europäischen Gesetz!) band der Spielwaren Industrie spricht jetzt schon von
Wie ernst ist es Ihnen denn mit der Einführung einer einem Umsatzplus von 7 Prozent im Vergleich zum Vor-
verpflichtenden Überprüfung der Sicherheit von Kinder- jahr und hofft auf ein noch besseres Weihnachtsgeschäft.
spielzeug durch unabhängige Dritte? Allerdings muss man sich angesichts der kürzlich er-
schienenen Untersuchungsergebnisse der Stiftung Wa-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: TÜV!)
rentest fragen, ob für die Kleinsten wirklich nur das
Schließlich waren es CDU/CSU und FDP, die bei der Beste unterm Tannenbaum liegt. Immerhin waren
Überarbeitung der Spielzeug-Richtlinie die EU-weite 80 Prozent der getesteten Spielzeuge in irgendeiner
Einführung verhindert haben. Form mangelhaft und wiesen Gefahren für Kinder auf.
Das ist für Eltern, Großeltern, für uns alle sehr bedenk-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wie bitte? lich. Hier müssen wir etwas tun. Deshalb haben wir als
Was?) Koalition einen Antrag auf den Tisch gelegt, der mehrere
Forderungen für einen höheren Schutz vor mangelhaf-
– Bei der Überarbeitung der Spielzeug-Richtlinie haben tem Spielzeug enthält.
CDU/CSU und FDP die EU-weite Einführung der ver-
pflichtenden Drittprüfung im Europaparlament verhin- Zum einen fordern wir Nachbesserungen bei der EU-
dert. Schauen Sie doch einfach in den Protokollen nach, Spielzeug-Richtlinie. Diese Richtlinie – 2008 gegen die
oder machen Sie sich bei den Kollegen kundig. Stimme Deutschlands verabschiedet, liebe Kollegin – er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7927
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) höht zwar das Schutzniveau bei Spielzeug deutlich, ist Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sich bewährt (C)
aber unseres Erachtens nicht ausreichend. Deshalb – das hat, sollte ausgebaut werden. Ein solches Zeichen muss
wiederhole ich – hat Deutschland damals nicht zuge- es, zusammen mit einer verpflichtenden Drittprüfung,
stimmt. auch auf EU-Ebene geben. Das gibt Herstellern die
Möglichkeit, sich positiv von ihren Wettbewerbern abzu-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja! Zuhören!) grenzen, und schafft für die Käufer mehr Transparenz.
Es ist zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung in Die Welt besteht allerdings nicht nur aus der EU. Das
Brüssel für Nachbesserungen starkmacht. Bis zum In- meiste Spielzeug, das wir in deutschen Kaufhäusern fin-
krafttreten 2011 bzw. 2013 muss einiges geändert wer- den, kommt aus China. Deshalb ist es wichtig, dass das
den. Wir fordern im Einzelnen Folgendes: Wirtschaftsministerium im Bereich der Produktsicher-
heit bereits intensiv mit den Kollegen in China zusam-
Erstens müssen die festgelegten Grenzwerte für Che-
menarbeitet. So können Produktmängel bereits im Ur-
mikalien, insbesondere für Schwermetalle wie Blei und
sprungsland behoben werden. Werden parallel dazu die
Cadmium, und für allergene Stoffe wie Nickel und Duft-
Kontrollen an den EU-Außengrenzen und die Marktauf-
stoffe an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
sicht verstärkt, kann man verhindern, dass gefährliches
angepasst werden. Zum Glück führt die Forschung im-
Spielzeug überhaupt auf den europäischen Binnenmarkt
mer wieder zu neuen Erkenntnissen. Nach unserer Mei-
gelangt.
nung sind die Grenzwerte bisher zu hoch und sollten
deutlich abgesenkt werden. Schließlich – das ist der letzte, aber auch ein sehr ele-
mentarer Punkt – soll es unserer Auffassung nach eine
Zweitens sind wir der Auffassung, dass krebserre- breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagne
gende, erbgutverändernde oder fortpflanzungsgefähr- geben. Jeder von uns, der schon einmal ratlos vorm
dende Stoffe, sogenannte CMR, in Spielzeugen nichts zu Spielzeugregal gestanden hat, wird mir zustimmen: Hier
suchen haben und generell zu verbieten sind. braucht es mehr Information. Der Kunde muss wissen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- worauf er achten soll.
neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Viele polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Wenn es um die Sicherheit von Spielzeug geht, darf
PAK, die beispielsweise in Weichmachern zu finden es keine Kompromisse und Ausnahmen geben. Liebe
sind, besitzen krebserregende Eigenschaften und zählen Kollegen von der Opposition, Ihre Anträge haben zwar
somit zu den CMR-Stoffen. Man sieht dem Spielzeug die gleiche Intention, verfehlen aber das Ziel. Denn na-
(B) nicht an, ob es giftige Weichmacher enthält. Deshalb tionale Alleingänge, die Sie fordern, bringen uns im (D)
dürfen wir hier kein Risiko eingehen. Zeitalter des europäischen Binnenmarktes überhaupt
nicht weiter. Dadurch werden Sie die Sicherheit von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kinderspielzeug nicht erhöhen. Deshalb fordere ich Sie
neten der FDP) auf: Schließen Sie sich dem Antrag der Koalitionsfrak-
Drittens fordern wir ein umfassendes Migrationskon- tionen an! Dann können Sie wirklich etwas für die Si-
zept. Maßgeblich ist nämlich nicht nur, wie viel eines cherheit von Kinderspielzeug tun. Helfen Sie mit, zu-
Stoffes im Spielzeug ist, sondern auch, wie sich dieser sammen mit der Bundesregierung für einen besseren
Stoff verhält, wenn am Spielzeug gerieben, gelutscht Schutz bei Kinderspielzeug zu sorgen, damit wir alle un-
oder gekaut wird. Das lässt sich bei Kindern eben nicht sere Weihnachtseinkäufe in Zukunft unbesorgt erledigen
vermeiden. Das muss untersucht werden. Wir brauchen können.
verlässliche Angaben über die Gefährlichkeit eines (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Spielzeugs aufgrund der Migration seiner Inhaltsstoffe.
Schließlich muss geprüft werden, inwiefern es sinnvoll Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ist, Spielzeuge generell als Lebensmittelbedarfsgegen- Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die
stände zu klassifizieren. Mein Kollege Dr. Schweickert Linke.
hat dies anhand eines Trinkglases deutlich gemacht. (Beifall bei der LINKEN)
Mit diesen materiellen Änderungen allein ist es aller-
dings nicht getan. Das Ganze muss auch für den Kunden Karin Binder (DIE LINKE):
nachvollziehbar sein. In Deutschland haben wir mit dem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
freiwilligen Gütesiegel „GS“ sehr positive Erfahrungen Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder müssen
gemacht. Sie kennen das Logo bestimmt. Im Gegensatz vor Weihnachten Spielzeuge aus dem Verkehr gezogen
zum CE-Zeichen ist das für den Kunden ein aussagekräf- werden, weil sie lebensgefährlich, zumindest aber ge-
tiges Emblem. Ich bin sehr froh, dass sich unsere Bun- sundheitsschädigend sind. Nach wie vor finden Verbrau-
desregierung dafür starkgemacht hat, dass wir dieses cherschützer in Spielsachen Gift. Seit Jahren ist dieses
Zeichen behalten dürfen; das ist ein großer Vorteil für Problem bekannt, geschehen ist bisher wenig.
unsere deutschen Kunden. Unsere Bundesregierung hat
das in Brüssel durchgesetzt. Fest steht: Auch zum diesjährigen Weihnachtsfest
herrscht Unsicherheit. Eltern können nicht darauf ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) trauen, dass Spielzeuge sicher sind. Selbst der Kauf hei-
7928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Karin Binder
(A) mischer Markenware bietet keine Garantie. Dies zeigt (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wie es das BfR (C)
nachdrücklich die Untersuchung der Stiftung Warentest vorgibt!)
von Ende Oktober 2010.
und betont, man wolle nationale Alleingänge vermeiden.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung sattelt oben- Die Regierung bleibt also untätig und will nicht wirklich
drauf und hebt hervor: Auch die Regelungen der gerade Konsequenzen ziehen.
überarbeiteten EU-Spielzeug-Richtlinie sind nicht geeig- (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist nicht
net, Kinder vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. wahr!)
Die Grenzwerte, die die Brüsseler Vorschriften für unbe-
denklich halten, sind viel zu hoch. – Dies betonen die In der Antwort des Wirtschaftsministeriums auf
Experten vor dem Hintergrund der Zunahme der Fälle meine Anfrage zu diesem Thema von letzter Woche
von Kinderkrebs in Deutschland. heißt es, man habe bereits 2007 Eckpunkte zur Stärkung
der Marktüberwachung erarbeitet. Jetzt, also drei Jahre
Immerhin haben unsere Initiativen, hat der Druck der später, sollen sie endlich Gegenstand des Gesetzentwurfs
Opposition jetzt auch die Regierung zur Initiative be- werden.
wegt. Wir mussten dieses Thema aber erst mehrfach in
den Ausschüssen zur Sprache bringen und eine Anhö- (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wer war denn
rung erzwingen. 2007 an der Regierung?)

(Dr. Erik Schweickert [FDP]: „Erzwingen“?) – Wir nicht. – Meine Damen und Herren von der Regie-
rung, so riskieren und gefährden Sie die Gesundheit vie-
Wir begrüßen, dass man jetzt in Brüssel vorstellig ge- ler Kinder.
worden ist. Immerhin prüft die Europäische Kommis-
Wir, die Linke im Bundestag, fordern: Gesundheits-
sion die deutschen Vorschläge zur Minderung giftiger
schädliche und krebserregende Stoffe haben im Spiel-
Schadstoffe in Spielzeugen. Doch das kann dauern. Vor-
zeug nichts verloren,
aussichtlich wird auf diesem Weg erst in circa drei Jah-
ren eine Regelung erreicht, die unsere Kinder wirksam (Beifall bei der LINKEN)
vor den sogenannten PAK, den polyzyklischen aromati-
zumindest dürfen sie auch mithilfe der jeweils moderns-
schen Kohlenwasserstoffen, schützt. Das ist uns zu spät.
ten Technik nicht nachweisbar sein. Wir wollen, dass die
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert Regelungen, die für die Lebensmittelverpackungen gel-
[FDP]: Uns auch! Deswegen werden wir ja ten, auch für Spielzeug zugrunde gelegt werden.
aktiv!) (Beifall bei der LINKEN)
(B) Zum Teil handelt es sich dabei um krebserregende, (D)
Hersteller und Importeure sind zu verpflichten, Nach-
erbgut- und fortpflanzungsschädigende Substanzen, die, weise über die Einhaltung der Bestimmungen zu erbrin-
wenn sie in Spielzeugen sind, für die Kinder verhee- gen, bevor ein Spielzeug in Deutschland auf den Markt
rende Folgen haben können. Für die Linke ist deshalb gebracht werden darf.
klar: Wir dürfen nicht auf eine Entscheidung in Brüssel
warten, wenn die Gesundheit unserer Kinder auf dem (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja, das steht
Spiel steht. drin!)

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert Für die Überwachung durch die Behörden ist eine bun-
[FDP]: Deswegen treiben wir das ja voran!) deseinheitliche Vorgehensweise festzulegen, die auch
von der Öffentlichkeit nachvollzogen werden kann.
Belastetes Spielzeug muss sofort verboten werden, not- Wichtig ist: Im Falle eines Verstoßes sind die Namen der
falls auch in einem nationalen Alleingang von Deutsch- beteiligten Hersteller, Händler und Importeure sowie die
land. Verkaufsorte umgehend zu veröffentlichen.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert (Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik
[FDP]: Das geht jederzeit!) Schweickert [FDP]: Ja!)

Wo kommen wir denn hin, wenn wir uns an eine EU- Wir bitten Sie deshalb im Interesse der Kinder: Stim-
Richtlinie halten sollen, deren Einhaltung auch von men Sie unserem Antrag zu!
Experten als gesundheitsschädlich beurteilt wird? In Danke schön.
Deutschland gilt noch immer das Grundgesetz, das
Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das bedeutet: Vor- (Beifall bei der LINKEN)
sorge hat Vorrang.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion
[FDP]: Genau das tun wir!) Bündnis 90/Die Grünen.
Die Regierungskoalition hat nun in Reaktion auf die
Initiativen der Opposition eiligst noch einen eigenen An- Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
trag zur Nachbesserung der EU-Spielzeug-Richtlinie Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das
nachgeschoben. Darin bittet sie die EU-Kommission, Thema ist nicht neu, die FDP im Bundestag hat es nicht
strengere Grenzwerte anzustreben, erfunden; vielmehr haben wir schon vor zweieinhalb
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7929
Nicole Maisch
(A) Jahren hier im Parlament Anträge zu diesem Thema de- Das konnten wir vor zehn Minuten feststellen. Das zeigt, (C)
battiert. Wir waren uns damals einig, dass Schadstoffe dass wir beim Vollzug noch nachzuarbeiten haben, und
und Gifte nichts im Kinderspielzeug verloren haben. Wir der Vollzug, Frau Schön, ist eine nationale Aufgabe.
alle wollten eine unabhängige Drittprüfung, und wir alle
haben gesagt, dass allergene Duftstoffe verboten werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
müssen. Das waren damals nicht die Forderungen der Dr. Erik Schweickert [FDP]: Eine Aufgabe der
Grünen, sondern die Forderungen der Großen Koalition, Länder!)
denen alle Fraktionen dieses Hauses zugestimmt haben. Hier darf sich die EU nicht in unsere Politik einmischen.
2008 hatte man sich also gemeinsam auf diese Position
geeinigt. Damals hätte die Bundesregierung handeln Ich möchte noch kurz sagen, warum wir dem Antrag
müssen. der schwarz-gelben Koalition nicht zustimmen werden.
Wir haben 2008 einen sehr guten Antrag gemeinsam be-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlossen. Das war nicht unser Antrag, sondern ein An-
sowie bei Abgeordneten der SPD) trag der Großen Koalition. Der Antrag, den Sie heute
Leider hat Frau Aigner zwar die mediale Aufmerk- hier vorlegen, geht hinter das zurück, was Sie von der
samkeit gerne genossen, aber beim Vollzug hat sich we- CDU/CSU damals eingebracht haben. 2008 waren wir
nig getan. Als wir das Thema in diesem Jahr wieder auf uns einig, die krebserregenden, erbgutschädigenden
die Tagesordnung gesetzt haben, hat Schwarz-Gelb ver- Stoffe zu verbieten. Heute ist von einem Verbot keine
sucht, die Anhörung dazu zu verhindern. Dass Sie das Rede mehr, sondern nur noch von strengeren Grenzwer-
niedliche Quietscheentchen und den Autoreifen mitge- ten. 2008 waren wir uns beim Verbot allergener Duft-
bracht haben, war einer Erkenntnis aus dieser Anhörung stoffe einig. Auch von einem solchen Verbot ist heute
geschuldet. Da Sie jetzt damit argumentieren, war es nichts mehr zu hören. Ich frage mich: Sind allergene
vielleicht doch nicht so schlau, damals zu versuchen, die Duftstoffe in den letzten zwei Jahren notwendiger ge-
Anhörung zu verhindern. worden? Nein! Sie sind heute genauso überflüssig wie
damals.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war
Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wir wollten ein eine andere Regierung!)
anderes Datum! Wieso Verhinderung der An- 2008 wurde außerdem gefordert – alle waren sich ei-
hörung?) nig –, Spielzeug für Kleinkinder mit Lebensmittelbe-
Wir warten noch immer auf einen konkreten Maßnah- darfsgegenständen gleichzusetzen. In dem heute vorlie-
menplan zum Thema Spielzeugsicherheit. Dass das ein genden Antrag ist nur noch die Prüfung enthalten. Wir
(B)
europäisches Thema ist, heißt ja nicht, dass man national können diese Prüfung direkt durchführen: Hat irgendje- (D)
die Arbeit daran einstellen muss. mand Zweifel daran, dass Kleinkinder Spielzeug in den
Mund stecken? Nein. Also ist wohl geklärt und muss
(Karin Binder [DIE LINKE]: Genau!) nicht mehr geprüft werden, dass die Lebensmittelbe-
Ich möchte kurz aus einem Bericht zitieren, den wir in darfsgegenstände der richtige Bezugsrahmen für Kinder-
dieser Woche erhalten haben. Dort heißt es: spielzeug sind.

In Kürze soll eine gemeinsame Deutsch-Chinesi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sche Arbeitsgruppe Produktsicherheit eingerichtet Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wir sind da nicht
werden. Diese wird sich insbesondere mit Fragen der Gesetzgeber!)
der Spielzeugsicherheit befassen. Sie wollen explizit nationale Maßnahmen ausschlie-
Wir haben jetzt November 2010. Im Frühjahr 2008 ha- ßen. In einem gemeinsamen Binnenmarkt muss man ge-
ben wir darüber diskutiert. Damals war schon klar, dass meinsam vorangehen. Das heißt aber nicht, dass man auf
China beim Thema Spielzeugsicherheit eines der zentra- nationaler Ebene die Arbeit einstellen kann. Deshalb
len Probleme darstellt. Ich frage mich: Warum dauert es werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir hoffen,
so lange, bis diese Arbeitsgruppe eingerichtet wird? dass Sie jetzt endlich im Vollzug aktiv werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: 2008 LINKEN)
hätten wir loslegen können!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wenn es um die Exportförderung für Schweinefleisch
geht, ist der Staatssekretär kaum noch aus Fernost weg- Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
zukriegen. Da geht es schneller. Aber wenn es um Kin- Kollegen Peter Bleser für die CDU/CSU-Fraktion das
derspielzeug geht, müssen wir offensichtlich jahrelang Wort.
warten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich glaube, beim Vollzug gibt es eine ganze Menge
Probleme. Ich habe heute einmal bei Amazon geschaut. Peter Bleser (CDU/CSU):
Mehrere der bei Stiftung Warentest als besonders giftig Herr Präsident! Ich darf heute die Debatte mit mei-
getesteten Produkte kann man da immer noch bestellen. nem Beitrag schließen. Ich will aber zunächst einmal für
7930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

Peter Bleser
(A) uns alle gemeinsam feststellen, dass es bei der Sicherheit Deswegen sind wir dankbar, dass die Bundesregierung (C)
von Kinderspielzeug keine Kompromisse geben darf. der europäischen Spielzeug-Richtlinie nicht zugestimmt,
sondern sie abgelehnt hat. Aus diesem Grund läuft jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Prozess.
Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Dann stimmen
Sie unserem Antrag zu!) (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, schon seit
vielen Jahren!)
Deswegen senden wir an diesem Freitagnachmittag Si-
gnale nach Brüssel, die dortige Rechtsetzung in unserem Wir müssen die europäische Rechtsetzung in der Form
Sinne zu beeinflussen. beeinflussen, dass sie unsere Vorstellungen von Qualität
und Sicherheit erfüllt.
Frau Maisch, Sie haben gerade auf Ihren Antrag hin-
gewiesen. Ich könnte die Anträge unserer Koalition, aber Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich muss Ihnen schon
auch die der anderen Fraktionen hier vorlegen. Dünner vorwerfen
als Ihrer ist keiner; das kann ich Ihnen nur sagen.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ich höre, Herr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bleser!)
Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Es geht um
– aber bitte keine Zwischenfrage! –, dass Kommissar
Qualität, nicht um Quantität!)
Verheugen seinerzeit auf europäischer Ebene das GS-
Das sind noch nicht einmal zwei Seiten. Während sich Zeichen abschaffen wollte. Es ist durch unseren Druck
alle anderen mit den Themen fundiert und vertieft be- und mithilfe unserer europäischen Kollegen in der EVP-
fasst haben, haben Sie hier etwas hingehuddelt, was man Fraktion gelungen, es zumindest auf freiwilliger Basis
niemandem ernsthaft zumuten kann. zu halten. Ich denke, das war schon ein kleiner Erfolg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der FDP)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Maisch? Ich will jetzt nicht alle Wortbeiträge wiederholen und
kommentieren; denn wir sind uns in der Zielsetzung ei-
nig. Die Anträge unterscheiden sich nicht sehr stark von-
Peter Bleser (CDU/CSU): einander. Unser Antrag ist umfassend, und der Kollege
Ich habe es befürchtet. Schweickert hat Gummienten und Autoreifen mitge-
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Du hast es pro- bracht. Das war pädagogisch sehr anschaulich. Ich habe
voziert!) mir deshalb nicht selber die Mühe machen müssen.
(B) (D)
Sie können mit unserem Antrag zu einem wesentli-
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen Teil übereinstimmen. Deshalb bitte ich Sie, ihm zu-
Herr Bleser, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass wir zustimmen.
2008 in diesem Haus mehrere Anträge zu diesem Thema Was wollen wir? Wir wollen zunächst einmal, dass
vorliegen hatten und dass der Antrag der Grünen und der die Kontrollen an den Außengrenzen erhöht werden.
Antrag der Koalition zu ungefähr 90 Prozent deckungs- Wenn allein in Hamburg 8 Millionen Container im Jahr
gleich waren, dass also hier im Haus ein Konsens be- angelandet werden, dann ist mit einer stichprobenartigen
stand, und dass man Dinge, die gut und im Konsens be- Überwachung kein Blumentopf zu gewinnen. Deswegen
schlossen sind, nicht immer wiederholen muss? ist die verpflichtende Drittprüfung und das damit ver-
bundene GS-Zeichen eine Kontrolle der Kontrolle,
Peter Bleser (CDU/CSU): durch die die Sicherheit des Produkts am Produkt selber
Frau Maisch, das gestehe ich Ihnen gerne zu. Ein Hin- für den Käufer sichtbar in der Breite dargestellt werden
weis in Ihrem Antrag, dass Sie zu 90 Prozent mit unse- kann. Ich glaube, dieses Ziel müssen wir auf europäi-
rem Antrag übereinstimmen, hätte da Abhilfe geschaf- scher Ebene erreichen. Kollege Schweickert hat zu
fen. Recht darauf hingewiesen, dass nationale Maßnahmen
letztlich nicht helfen. Die Grenzen sind offen. An den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Westgrenzen machen wir fast täglich davon Gebrauch.
der FDP) Das ist sehr sinnvoll, und darüber freuen wir uns.
Meine Damen und Herren, hier ist ja alles schon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mehrfach gesagt worden. Dass wir bei beanstandetem
Spielzeug einen dramatischen Anstieg zu verzeichnen Die verpflichtende Drittprüfung ist entscheidend. Da-
haben – das europäische Schnellwarnsystem Rapex hat rüber hinaus müssen Spielzeuge, die in den Mund ge-
einen Anstieg um 40 Prozent zu Beginn des Jahres 2010 nommen werden können, als Lebensmittelbedarfsgegen-
gemeldet; es geht zum Beispiel um verschluckbare stände klassifiziert werden. Auch das ist entscheidend.
Kleinteile und chemische Stoffe, die sich lösen –, ist Damit bekommen wir nämlich das Problem des Austre-
nicht hinnehmbar. tens von Substanzen bei Gegenständen, die in den Mund
genommen werden können, in den Griff.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Also unterstüt- Ich glaube, dass wir mit diesen drei Zielen – Drittprü-
zen Sie unseren Antrag!) fung, GS-Zeichen und Klassifizierung als Lebensmittel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7931
Peter Bleser
(A) bedarfsgegenstände – durch Rechtsetzung auf europäi- gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange- (C)
scher Ebene dem Problem Herr werden können. Ich nommen.
hoffe, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit vor Weih-
nachten – das ist mein Wunsch, den Sie sicherlich alle Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
teilen – endlich eine europäische Richtlinie haben, die seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
unserem Anspruch an Spielzeugsicherheit entspricht. der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1563 mit dem
Titel „Krebserregende Stoffe in Kinderspielzeugen
Herzlichen Dank. durch Sofortmaßnahmen ausschließen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
Ich schließe die Aussprache. nen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
logie auf Drucksache 17/3695. Der Ausschuss empfiehlt des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An- Drucksache 17/656 mit dem Titel „Kinderspielzeug –
nahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Risiko für kleine Verbraucher“. Wer stimmt für diese Be-
der FDP auf Drucksache 17/3424 mit dem Titel „Kinder- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
freundliche Nachbesserung der EU-Spielzeug-Richtli- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
nie dringend erforderlich“. Wer stimmt für diese Be- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – der Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und Linken
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den angenommen.
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
SPD angenommen. Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf destages auf Dienstag, den 23. November 2010, 10 Uhr,
Drucksache 17/2345 mit dem Titel „Offensive für einen ein.
wirksamen Schutz der Kinder vor Gift in Spielzeug“. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer heiteres, freundliches Wochenende.
(B) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- (D)
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen (Schluss: 15.14 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7933

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Ackermann, Jens FDP 12.11.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 12.11.2010


van Aken, Jan DIE LINKE 12.11.2010 Pronold, Florian SPD 12.11.2010
Bätzing-Lichtenthäler, SPD 12.11.2010 Rachel, Thomas CDU/CSU 12.11.2010
Sabine
Röspel, René SPD 12.11.2010
Dr. Brandl, Reinhard CDU/CSU 12.11.2010
Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 12.11.2010
Buchholz, Christine DIE LINKE 12.11.2010
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 12.11.2010
Bülow, Marco SPD 12.11.2010
Schlecht, Michael DIE LINKE 12.11.2010
Burkert, Martin SPD 12.11.2010
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 12.11.2010*
Ernst, Klaus DIE LINKE 12.11.2010
Schreiner, Ottmar SPD 12.11.2010
Evers-Meyer, Karin SPD 12.11.2010
Dr. Schwanholz, Martin SPD 12.11.2010
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 12.11.2010
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 12.11.2010
Friedhoff, Paul K. FDP 12.11.2010
Werner, Katrin DIE LINKE 12.11.2010
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 12.11.2010
(B) Wicklein, Andrea SPD 12.11.2010 (D)
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 12.11.2010
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 12.11.2010
Gottschalck, Ulrike SPD 12.11.2010
Zapf, Uta SPD 12.11.2010
Granold, Ute CDU/CSU 12.11.2010
Ziegler, Dagmar SPD 12.11.2010
Griese, Kerstin SPD 12.11.2010
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 12.11.2010
Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 12.11.2010 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Hochbaum, Robert CDU/CSU 12.11.2010
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 12.11.2010
DIE GRÜNEN Anlage 2
Holmeier, Karl CDU/CSU 12.11.2010 Erklärungen nach § 31 GO
Klöckner, Julia CDU/CSU 12.11.2010 zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur nachhaltigen und sozial
Liebich, Stefan DIE LINKE 12.11.2010 ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen
Lühmann, Kirsten SPD 12.11.2010 Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsge-
setz – GKV-FinG) (Tagesordnungspunkt 32 a)
Luksic, Oliver FDP 12.11.2010
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 12.11.2010 Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ich un-
terstütze die Reform der Gesetzlichen Krankenkassen,
Movassat, Niema DIE LINKE 12.11.2010 GKV. Das drohende Milliardendefizit in der GKV und
die aus dem medizinisch-technischen Fortschritt resul-
Mücke, Jan FDP 12.11.2010 tierenden Kosten machen Reformmaßnahmen unum-
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 12.11.2010 gänglich. Mit dem zur zweiten und dritten Lesung anste-
henden GKV-Finanzierungsgesetz wird gewährleistet,
Nietan, Dietmar SPD 12.11.2010* dass auch in Zukunft jeder den direkten Zugang zu unse-
rer Gesundheitsversorgung in unserem Land erhält.
7934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Allerdings wird mit dem Gesetz auch die Anglei- meine heutige Entscheidung zur Abstimmung der vorlie- (C)
chung der Landesbasisfallwerte auf einen bundeseinheit- genden Gesetzentwürfe und Anträge messe?
lichen Basisfallwert nach 2014 gestoppt. Traditionell
Ich zitiere aus Art. 25 der seit März 2009 in Deutsch-
hatte Schleswig-Holstein schon immer ein vergleichs-
land geltenden Behindertenrechtskonvention:
weise niedriges Budget für die somatische stationäre
Versorgung und damit niedrige Fallkosten. Das heißt, für Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Men-
gleiche Tätigkeiten erhalten die Krankenhäuser in schen mit Behinderungen, das erreichbare Höchst-
Schleswig-Holstein weniger als Krankenhäuser in ande- maß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund
ren Bundesländern. von Behinderung zu genießen. … Insbesondere
Die vorgesehene Regelung zementiert dieses Un- a) stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behin-
gleichgewicht zwischen den einzelnen Bundesländern derungen eine unentgeltliche oder erschwingliche
und bedeutet eine dauerhafte Schlechterstellung der Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite,
Krankenhäuser in Schleswig-Holstein. Dies lehne ich ab. von derselben Qualität und auf demselben Standard
Ich erwarte baldmöglichst eine alternative Lösung, die zur Verfügung wie anderen Menschen …;
diesen Nachteil für die Krankenhäuser in Schleswig-Hol-
stein behebt. b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleis-
tungen an, die von Menschen mit Behinderungen
speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt wer-
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Ich unterstütze
den, soweit angebracht, einschließlich Früherken-
die Reform der Gesetzlichen Krankenkassen, GKV. Das
nung und Frühintervention, sowie Leistungen,
drohende Milliardendefizit in der GKV und die aus dem
durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen,
medizinisch-technischen Fortschritt resultierenden Kos-
ten machen Reformmaßnahmen unumgänglich. Mit dem weitere Behinderungen möglichst gering gehalten
zur zweiten und dritten Lesung anstehenden GKV-Fi- oder vermieden werden sollen;
nanzierungsgesetz wird gewährleistet, dass auch in Zu- c) bieten die Vertragsstaaten diese Gesundheitsleis-
kunft jeder den direkten Zugang zu unserer Gesundheits- tungen so gemeindenah wie möglich an, auch in
versorgung in unserem Land erhält. ländlichen Gebieten;
Allerdings wird mit dem Gesetz auch die Angleichung d) erlegen die Vertragsstaaten den Angehörigen der
der Landesbasisfallwerte auf einen bundeseinheitlichen Gesundheitsberufe die Verpflichtung auf, Men-
Basisfallwert nach 2014 gestoppt. Traditionell hatte schen mit Behinderungen eine Versorgung von glei-
Schleswig-Holstein schon immer ein vergleichsweise cher Qualität wie anderen Menschen angedeihen zu
(B) niedriges Budget für die somatische stationäre Versor- lassen, namentlich auf der Grundlage der freien (D)
gung und damit niedrige Fallkosten. Das heißt, für glei- Einwilligung nach vorheriger Aufklärung, indem
che Tätigkeiten erhalten die Krankenhäuser in Schles- sie unter anderem durch Schulungen und den Erlass
wig-Holstein weniger als Krankenhäuser in anderen ethischer Normen für die öffentliche und private
Bundesländern. Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die
Eine dauerhafte Schlechterstellung der Krankenhäu- Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und
ser in Schleswig-Holstein ist nicht akzeptabel. Der Pro- die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen
zess der Angleichung der Basisfallwerte muss weiterge- schärfen;
führt werden, um ein faires wettbewerbliches System im e) verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminie-
Krankenhausbereich zu erreichen. rung von Menschen mit Behinderungen in der
Krankenversicherung und in der Lebensversiche-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): In der Koalitionsver- rung … solche Versicherungen sind zu fairen und
einbarung heißt es unter dem Punkt 7.4 „Menschen mit angemessenen Bedingungen anzubieten;
Behinderungen“:
f) verhindern die Vertragsstaaten die diskriminie-
Politische Entscheidungen, die Menschen mit Be- rende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung
hinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen oder -leistungen oder von Nahrungsmitteln und
sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Flüssigkeiten aufgrund von Behinderung.
Rechte der Menschen mit Behinderungen messen
lassen. Spielten die Inhalte dieses Artikels der UN-Behinder-
tenrechtskonvention bei den politischen Entscheidungen
Auch der heute zur Abstimmung stehende Gesetzent- des Bundesgesundheitsministers und der Koalitionsfrak-
wurf der Koalition zur Finanzierung der Gesetzlichen tionen eine Rolle? Ich meine: Nein!
Krankenversicherung muss sich – hier stimme ich mit
der CDU/CSU und FDP hoffentlich überein – daran Wird mit dem zur Abstimmung stehenden Gesetz zur
messen lassen; denn der überwiegende Teil der Men- Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung die
schen mit Behinderungen sind Mitglieder in der Gesetz- gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinde-
lichen Krankenversicherung. rungen in irgendeiner Weise verbessert? Ich meine:
Nein!
Was also sind die Inhalte der UN-Behindertenrechts-
konvention, vor allem in den Art. 25 „Gesundheit“ und Im Gegenteil: Auch Menschen mit Behinderungen
Art. 26 „Habilitation und Rehabilitation“, an der ich werden infolge dieses Gesetzes mehr zahlen und schlech-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7935

(A) tere Leistungen erhalten. Damit macht die Bundesregie- neuerdings selbst von den eigenen Erfindern als unge- (C)
rung deutlich, wie ernst sie es mit der Umsetzung der recht und überarbeitungswürdig bezeichnet wird. Er
UN-Behindertenrechtskonvention und ihren in diesem gleicht auch bei kleinen Einkommen in keinster Weise
Zusammenhang gegebenen Versprechungen meint. die zusätzlichen Kosten für die Zusatzbeiträge aus.
Deshalb sage ich bei der Abstimmung: Nein! Der Gesetzentwurf sieht zwar zahlreiche zusätzliche
Belastungen, aber leider in keinem Punkt eine bessere
Versorgung der gesetzlich Versicherten vor. Im Gegen-
teil: Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderung
Anlage 3 des § 73 b SGB V werden die Hausarztverträge, die auf
Erklärung nach § 31 GO eine bessere Versorgung der gesetzlich Versicherten zie-
len, faktisch ausgehebelt. Dies ist ein weiterer Wortbruch
der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler und Angelika der CSU, die den Erhalt der Hausarztverträge verspro-
Graf (Rosenheim) (beide SPD) zur namentlichen chen hatte, und vergrößert insbesondere die Problematik
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum. Es ist
zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Fi- völlig absurd, dass die Bundesregierung eine Kommis-
nanzierung der Gesetzlichen Krankenversiche- sion eingesetzt hat und über die Stärkung der Hausärzte
rung (GKV-Finanzierungsgesetz – GKV-FinG) spricht, aber das Gegenteil macht, wenn es konkret wird.
(Tagesordnungspunkt 32 a)
Ich bin zutiefst entsetzt, wie hier mit den gesetzlich
„Eine Umstellung der bestehenden, am Lohn orientier- Versicherten umgegangen wird. Eine Bundesregierung,
ten und sozial gerechten Arbeitnehmerbeiträge auf eine die so agiert und den Privatversicherungen jeden Wunsch
Pauschale wird es mit mir nicht geben“, erklärte der CSU- von den Lippen abliest, ist nicht nur sehr weit weg von
Vorsitzende Horst Seehofer noch im Februar 2010. Leider den Menschen, sie untergräbt den Zusammenhalt der Ge-
waren sämtliche Äußerungen der Herren Seehofer, nerationen und die Solidarität von Starken und Schwa-
Dobrindt oder Söder nur ein erbärmliches Schmieren- chen, von Gesunden und Kranken. Sie wird die Politik-
theater auf Kosten der Älteren, der Mittelschicht, der ein- verdrossenheit in unserem Land steigern. Sie schadet
fachen sowie der einkommensschwachen gesetzlich Ver- damit der parlamentarischen Demokratie.
sicherten in unserer Gesellschaft. Mit dem Einstieg in ein
Kopfpauschalenmodell, das der Gesetzentwurf vorsieht, Es wird immer deutlicher, dass die Bürgerversicherung
droht diesen Bevölkerungsgruppen eine massive Belas- der SPD die einzig gerechte und nachhaltige Antwort auf
tung und deutlich weniger Netto vom Brutto. Der Wort- die demografische Entwicklung und die steigenden Kos-
ten des medizinischen Fortschritts ist. Wir brauchen mehr
(B) bruch der CSU führt künftig zu unbegrenzt wachsenden (D)
Kopfpauschalen. Die Christlich Soziale Union unter- Solidarität und nicht ein Aufbürden kommender Lasten
schreibt mit ihrer Zustimmung zum GKV-FinG ihre allein auf die gesetzlich Versicherten. Für eine solidari-
Bankrotterklärung und blendet die Realität ganzer Bevöl- sche Gesundheitsversorgung für alle – finanziert von al-
kerungsgruppen wie der Rentnerinnen und Rentner voll- len!
kommen aus. Wir lehnen den unsozialen Gesetzentwurf aus den ge-
nannten Gründen entschieden ab und bedauern, dass die
Der Arbeitgeberbeitrag wird nach der im Gesetzent-
70 Millionen gesetzlich Versicherten die einzige Gruppe
wurf geplanten Erhöhung eingefroren. Die solidarische
im Gesundheitswesen sind, die bei dieser Bundesregie-
Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung durch
rung keine Lobby hat.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Rentnerin-
nen und Rentner auf der einen Seite und Arbeitgeber auf
der anderen Seite will die Bundesregierung damit syste-
matisch beenden. Weil die Arbeitgeber von CDU, CSU Anlage 4
und FDP aus der Solidarität entlassen werden, müssen ge-
setzlich versicherte Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Erklärung nach § 31 GO
mer sowie Rentnerinnen und Rentner die zu erwartenden der Abgeordneten Peter Weiß (Emmendingen),
künftigen Kostensteigerungen alleine stemmen. Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Veronika
Für die Höhe der Kopfpauschale pro Kassenmitglied Bellmann, Heike Brehmer, Ingrid Fischbach,
spielt es keine Rolle, ob die Betroffenen nur über eine Ingo Gädechens, Frank Heinrich, Rudolf Henke,
kleine Rente verfügen oder zu den Gutverdienern gehö- Robert Hochbaum, Axel Knoerig, Dr. Hermann
ren. Kleine Einkommen werden also durch den Gesetz- Kues, Katharina Landgraf, Ingbert Liebing,
entwurf überproportional belastet. Das bedeutet eine Matthias Lietz, Rita Pawelski, Erwin Rüddel,
drastische und klare Umverteilung von unten nach oben, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl Schiewerling,
die ich als zutiefst unsozial ablehne. Uwe Schummer, Armin Schuster (Weil am
Rhein), Volkmar Vogel (Kleinsaara), Dr. Johann
Der sogenannte „Sozialausgleich“ ist ein Abbild für Wadephul, Marcus Weinberg (Hamburg), Peter
die Verschleierung der unsozialen Politik der schwarz- Wichtel, Dr. Matthias Zimmer und Willi Zylajew
gelben Bundesregierung und verdient den Namen nicht. (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
Der „Sozialausgleich“ ist ein schäbiges bürokratisches über den Entwurf eines Gesetzes zur nachhalti-
Monstrum, das an Zynismus kaum zu überbieten ist und gen und sozial ausgewogenen Finanzierung der
7936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010

(A) Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Fi- zu 7 Millionen Anträge auf Befreiung von der Zuzah- (C)
nanzierungsgesetz – GKV-FinG) (Tagesordnungs- lung, die von den Krankenkassen geprüft werden müs-
punkt 32 a) sen, ohne dass bis heute jemand diesen Aufwand als
übermäßig bezeichnet hätte. Denn natürlich bedeutet
„Gesundheit wird in einer älter werdenden Gesell- eine Berücksichtigung der tatsächlichen Einkommenssi-
schaft, die den Zugang zu medizinischem Fortschritt für tuation im ersten Schritt zusätzlichen Aufwand für die
alle, unabhängig von Alter, Einkommen oder sozialem Krankenkassen. Aber der enorme Gerechtigkeitsgewinn
Status, erhalten will, teurer werden.“ Diese Wahrheit ist – und auch die daraus resultierende Ersparnis beim So-
so simpel wie offensichtlich und wird doch allzu häufig zialausgleich – machte dies zumindest mittelfristig bei
negiert. Weitem wett.
Ziel muss es daher sein, steigende Gesundheitskosten Zudem wäre die Zahl der tatsächlichen zusätzlichen
in Zukunft nicht weiterhin automatisch zulasten der Ar- Einkommensprüfungen derzeit überschaubar, da nur bei
beitskosten in Deutschland zu finanzieren. Denn immer einem geringen Teil der Mitglieder notwendig. So
weiter steigende Sozialversicherungsbeiträge belasten müsste zum Beispiel eine tatsächliche Prüfung der Ein-
Investitionen und sozialversicherungspflichtige Arbeits- kommenssituation bei einem durchschnittlichen Zusatz-
plätze in Deutschland. Dies ist der entscheidende An- beitrag von 10 Euro wohl nur bei denjenigen erfolgen,
satzpunkt der aktuell diskutierten Finanzreform für die die weniger als 500 Euro Einkommen haben. Dies be-
gesetzliche Krankenversicherung: Sie entkoppelt die schränkt sich auf knapp 1 Million Menschen. Zudem
künftigen Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen darf man davon ausgehen, dass bereits ein großer Anteil
von den Lohnkosten. Denn sie werden über den lohnun- davon einen Antrag auf Befreiung von der Zuzahlung
abhängigen Zusatzbeitrag, den die Kassen kassenindivi- gestellt haben dürfte, sodass die jeweilige Einkommens-
duell von ihren Mitgliedern erheben können, finanziert. situation den Krankenkassen bekannt ist.
Damit niemand überfordert wird, erhalten diejenigen
Erst dieser Schritt macht den nun eingeschlagenen
Beitragszahler eine aus Steuermitteln finanzierte Entlas-
Weg einer gerechteren weil die tatsächliche Leistungsfä-
tung, bei denen der durchschnittliche Zusatzbeitrag
higkeit der Versicherten berücksichtigenden, Finanzie-
2 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens über-
rung der gesetzlichen Krankenversicherung komplett.
steigt. Damit wird erstmals der Sozialausgleich in der
Da sich im Gesetzgebungsverfahren zum GKV-Finan-
gesetzlichen Krankenversicherung auf wesentlich brei-
zierungsgesetz keine Mehrheiten dafür finden ließen,
tere Füße gestellt, da durch die Steuerfinanzierung alle
muss er spätestens bei der nächsten Finanzreform fol-
Steuerzahler – übrigens inklusive der Privatversicherten
gen.
(B) und der Arbeitgeber – nach ihrer tatsächlichen Leis- (D)
tungsfähigkeit zum Sozialausgleich beitragen. Dies ist
ein beachtlicher Schritt, denn bisher lastete seit
Bismarck die gesamte Beitragslast in der GKV nahezu Anlage 5
ausschließlich auf den Schultern der abhängig Beschäf-
tigten und Rentner in Deutschland. Amtliche Mitteilungen

Allerdings bleibt eine Ungerechtigkeit: Für die Frage, Der Bundesrat hat in seiner 876. Sitzung am 5. No-
wer überfordert ist und damit einen Sozialausgleich er- vember 2010 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
hält oder nicht, werden nur Lohn, Gehalt und Rente he- zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab-
satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen bzw. einen Ein-
rangezogen. Einkünfte zum Beispiel aus Vermietung und
spruch gemäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen:
Verpachtung, Zinsen oder Dividenden und andere Ein-
künfte spielen dabei nach dem vorliegenden Gesetzent- – Gesetz zur Umsetzung der geänderten Banken-
wurf weiterhin keine Rolle. So kann es passieren, dass richtlinie und der geänderten Kapitaladäquanz-
jemand mit einem kleinen Erwerbseinkommen oder ei- richtlinie
ner kleinen Rente einen Steuerzuschuss zum Zusatzbei-
trag erhält, obwohl der Versicherte etwa über erhebliche – Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des
Zins- oder Mieteinnahmen verfügt. Dies ist nicht ge- Europäischen Parlaments und des Rates über Fi-
recht. Zu Recht wird übrigens bei den freiwillig Versi- nanzbeiträge der Europäischen Union zum Inter-
nationalen Fonds für Irland (2007 – 2010)
cherten bereits von Anfang an das Gesamteinkommen
für den Sozialausgleich berücksichtigt. – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs-
gesetz 2010/2011 (BBVAnpG 2010/2011)
Daher wäre es richtig, generell beim Sozialausgleich
nicht allein auf das beitragspflichtige Einkommen aus – Viertes Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungs-
Lohn, Gehalt und Rente abzustellen, sondern die ge- rechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen
samte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des zahlenden Verfolgung in der ehemaligen DDR
Mitgliedes zu berücksichtigen. Ein solcher Ansatz wird
– Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundes-
bereits seit 2004 bei der Überforderungsklausel für Zu-
recht
zahlungen – unter anderem zu Medikamenten und Heil-
und Hilfsmitteln – von 2 Prozent – bzw. 1 Prozent für – Neuntes Gesetz zur Änderung des Bundes-Immis-
chronisch Kranke – zugrunde gelegt. Es gibt pro Jahr bis sionsschutzgesetzes
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 72. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. November 2010 7937

(A) – Gesetz zu dem Änderungsprotokoll vom 21. Ja- Auswärtiger Ausschuss (C)
nuar 2010 zum Abkommen vom 11. April 1967
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Zweiter Bericht der Bundesregierung über die Umset-
dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Dop- zung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Kon-
pelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener fliktlösung und Friedenskonsolidierung“ – Krisenprä-
anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom vention als gemeinsame Aufgabe
Einkommen und vom Vermögen einschließlich der – Drucksachen 16/10034, 17/790 Nr. 2 –
Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des
dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung
Finanzausschuss
des Zusatzabkommens vom 5. November 2002
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Gesetz zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 Bericht der Bundesregierung zur Steuerbegünstigung
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und für Biokraft- und Bioheizstoffe 2008
der Arabischen Republik Syrien zur Vermeidung – Drucksachen 16/13900, 17/3110 Nr. 1 –
der Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern – Unterrichtung durch die Bundesregierung
vom Einkommen Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraft- und Bio-
heizstoffe 2009
– Gesetz zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 – Drucksachen 17/2861, 17/3110 Nr. 3 –
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Malaysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung – Unterrichtung durch die Bundesregierung
und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf Bericht über die Auswirkungen des vorläufigen Verfah-
rens der Erhebung der Kirchensteuer auf die Kapital-
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen ertragsteuer sowie dessen Überprüfung mit dem Ziel
der Einführung eines umfassenden verpflichtenden
– Gesetz zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwi- Quellensteuerabzuges auf Grundlage eines elektroni-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der schen Informationssystems 2010
Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppel- – Drucksachen 17/2865, 17/3110 Nr. 4 –
besteuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
Vermögen
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
– Gesetz zu dem Abkommen vom 30. März 2010 Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
(B) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ner Beratung abgesehen hat. (D)
dem Vereinigten Königreich Großbritannien und
Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteue- Auswärtiger Ausschuss
rung und zur Verhinderung der Steuerverkür- Drucksache 17/2994 Nr. A.4
zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- EuB-BReg 104/2010
men und vom Vermögen
– Gesetz zu dem Abkommen vom 19. März 2010 zwi- Innenausschuss
schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Drucksache 17/3280 Nr. A.7
land und der Regierung von Anguilla über den Ratsdokument 14376/10
steuerlichen Informationsaustausch
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, Drucksache 17/3135 Nr. A.5
dass sie den Antrag Abschaffung der Visumspflicht für Ratsdokument 13146/10
Albanien und Bosnien und Herzegowina auf Drucksa-
che 17/3438 zurückzieht.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 Drucksache 17/2994 Nr. A.59
Ratsdokument 12664/10
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Drucksache 17/3135 Nr. A.7
nachstehenden Vorlagen absieht: Ratsdokument 13329/10
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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