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Plenarprotokoll 17/88

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

88. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 18: Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 9897 C


– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9902 D
Bundesregierung: Fortsetzung der Betei-
ligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an dem Einsatz der Internationa- Tagesordnungspunkt 19:
len Sicherheitsunterstützungstruppe in Wahl des Bundesbeauftragten für die Un-
Afghanistan (International Security As- terlagen des Staatssicherheitsdienstes der
sistance Force, ISAF) unter Führung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Re-
NATO auf Grundlage der Resolution publik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9897 D
1386 (2001) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 1943 (2010) des Si-
cherheitsrates der Vereinten Nationen Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9898 D
(Drucksachen 17/4402, 17/4561) . . . . . . . 9881 A
– Bericht des Haushaltsauschusses gemäß Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9905 A
§ 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/4562) . . . . . . . . . . . . . . . . 9881 B
Tagesordnungspunkt 20:
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9881 D a) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger-
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9883 A Schäfer, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 9887 A DIE LINKE: Kopfpauschale in der Pflege
verhindern – Humane und solidarische
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9888 D Pflegeabsicherung gewährleisten
(Drucksache 17/4425) . . . . . . . . . . . . . . . 9898 D
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9890 C b) Große Anfrage der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Inge
Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9892 A Höger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Umsetzung des
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ neuen Pflegebegriffs (gemäß dem Be-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9893 B richt des Beirats zur Überprüfung des
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 9893 D Pflegebedürftigkeitsbegriffs)
(Drucksachen 17/2219, 17/3012) . . . . . . . 9899 A
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 9894 C Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . 9899 B
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9895 D Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 9900 C
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9896 D Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9901 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9905 B Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9927 A


Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9906 B Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9928 B
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 9929 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9908 D
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 9930 C
Annette Widmann-Mauz, Parl.
Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . 9910 C Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9931 B
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9911 B
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9932 B
Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9912 C
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9932 C
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 9913 C
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9915 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9933 B
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9916 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9934 B
Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . 9917 B Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . 9935 A

Tagesordnungspunkt 21:
Tagesordnungspunkt 23:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ingrid
Auswärtigen Ausschusses zu der Unter-
Hönlinger, Monika Lazar, weiterer Abgeord-
richtung durch die Bundesregierung: Drit-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
ter Bericht der Bundesregierung über
GRÜNEN: Gemeinsames elterliches Sorge-
die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile
recht für nicht miteinander verheiratete
Krisenprävention, Konfliktlösung und
Eltern
Friedenskonsolidierung“
(Drucksache 17/3219) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9935 C
(Drucksachen 17/2300, 17/2971 Nr. 1.2,
17/4272) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9918 B Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
b) Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9935 D
Lothar Binding (Heidelberg), Klaus Brandner, Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9936 C
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD: Deutschland braucht dringend Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
eine kohärente Strategie für die zivile DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9938 D
Krisenprävention Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 0000 D
9939 A
(Drucksache 17/4532) . . . . . . . . . . . . . . . . 9918 B
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9941 A
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9918 C
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9942 B
Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9919 D
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 9921 B
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9943 C
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9921 D
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 9923 B
Anlage 1
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9945 A
9924 A
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9924 B
Anlage 2
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9925 C
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9925 D Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung
zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortset-
zung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Tagesordnungspunkt 22:
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- tan (International Security Assistance Force,
trag der Abgeordneten Anette Kramme, Katja ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
Mast, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter der Resolutionen 1386 (2001) und folgender
und der Fraktion der SPD: Mindestlohn für Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010)
die Weiterbildungsbranche des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
(Drucksachen 17/3173, 17/3733) . . . . . . . . . . 9926 D (Tagesordnungspunkt 18)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 III

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Anlage 5


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9945 D
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . 9946 B Omid Nouripour, Cornelia Behm, Hans-Josef
Fell, Priska Hinz (Herborn), Tom Koenigs,
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9946 D Manuel Sarrazin und Daniela Wagner (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentli-
Katja Keul (BÜNDNIS 90/ chen Abstimmung über die Beschlussempfeh-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9947 A lung zu dem Antrag der Bundesregierung: Fort-
setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9947 C Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9948 A Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
tan (International Security Assistance Force,
Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9949 A ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolutionen 1386 (2001) und folgender
Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 9949 C Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . 9954 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9950 B
Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 A
Anlage 6
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Agnes Malczak, Dr. Anton Hofreiter, Sven-
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 D
Christian Kindler, Maria Anna Klein-Schmeink,
Sylvia Kotting-Uhl, Agnes Krumwiede, Stephan
Kühn, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang
Anlage 3 Strengmann-Kuhn und Dorothea Steiner (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentli-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
chen Abstimmung über die Beschlussempfeh-
Ute Koczy, Ingrid Nestle und Katja Dörner lung zu dem Antrag der Bundesregierung: Fort-
(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
mentlichen Abstimmung über die Beschluss- Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
empfehlung zu dem Antrag der Bundesregie- Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
rung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter tan (International Security Assistance Force,
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In- ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe der Resolutionen 1386 (2001) und folgender
in Afghanistan (International Security Assis- Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010)
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . 9955 B
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-
tion 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen (Tagesordnungspunkt 18) . . . 9952 B Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Christoph Strässer, Dirk Becker, Uwe Beckmeyer,
Anlage 4 Lothar Binding (Heidelberg), Gerd Bollmann,
Martin Burkert, Elvira Drobinski-Weiß, Sebastian
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Edathy, Siegmund Ehrmann, Dagmar Freitag,
Hans-Christian Ströbele, Winfried Hermann,
Peter Friedrich, Michael Gerdes, Günter Gloser,
Uwe Kekeritz, Memet Kilic, Monika Lazar,
Ulrike Gottschalck, Angelika Graf (Rosen-
Dr. Hermann Ott und Lisa Paus (alle BÜND- heim), Klaus Hagemann, Dr. Barbara Hendricks,
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- Dr. Eva Högl, Christel Humme, Josip Juratovic,
stimmung über die Beschlussempfehlung zu Oliver Kaczmarek, Ulrich Kelber, Dr. Bärbel
dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Kofler, Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf,
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- Steffen-Claudio Lemme, Caren Marks, Katja
kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si- Mast, Petra Merkel (Berlin), Ullrich Meßmer,
cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan Dr. Matthias Miersch, Heinz Paula, Florian
(International Security Assistance Force, ISAF) Pronold, Dr. Sascha Raabe, Dr. Carola Reimann,
unter Führung der NATO auf Grundlage der Karin Roth (Esslingen), Bernd Scheelen,
Resolutionen 1386 (2001) und folgender Re- Marianne Schieder (Schwandorf), Silvia Schmidt
solutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) des (Eisleben), Stefan Schwartze, Rita Schwarzelühr-
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Ta- Sutter, Ute Vogt und Dagmar Ziegler (alle SPD)
gesordnungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9953 A zur namentlichen Abstimmung über die Be-
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes- in Afghanistan (International Security Assis-


regierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff- tance Force, ISAF) unter Führung der NATO
neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-
in Afghanistan (International Security Assis- tion 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Ver-
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO einten Nationen (Tagesordnungspunkt 18) . . 9958 C
auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)
und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-
tion 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Ver- Anlage 9
einten Nationen (Tagesordnungspunkt 18) . . . 9957 B
Verzeichnis der Mitglieder des Deutschen
Bundestages, die an der Wahl des Bundesbe-
Anlage 8 auftragten für die Unterlagen des Staatssicher-
heitsdienstes der ehemaligen Deutschen De-
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten mokratischen Republik teilgenommen haben
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) zur (Tagesordnungspunkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . 9959 A
namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung zu dem Antrag der Bundesregie-
rung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter Anlage 10
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In-
ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe Amtliche Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9961 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9881

(A) (C)

Redetext

88. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich weise schon jetzt darauf hin, dass unmittelbar
Die Sitzung ist eröffnet. nach dieser namentlichen Abstimmung die Wahl des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolle- heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
ginnen und Kollegen! Republik mit Stimmkarte und Wahlausweis stattfinden
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 18 auf: wird.

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Für die Aussprache zum gerade aufgerufenen Tages-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- ordnungspunkt sind nach einer interfraktionellen Verein-
schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung barung eineinviertel Stunden vorgesehen. – Dazu sehe
ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Inter- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in nächst der Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Frak-
(B) (D)
Afghanistan (International Security Assis- tion.
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Birgit Homburger (FDP):
Nationen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Lage in Afghanistan von außen betrachtet
– Drucksachen 17/4402, 17/4561 – – oft genug wird sie gerade auch hier nur oberflächlich
Berichterstattung: betrachtet –, dann sieht man häufig nur die Probleme
Abgeordnete Philipp Mißfelder und den Anstieg von Sicherheitsvorfällen in den letzten
Dr. Rolf Mützenich Jahren. Man sieht eben nur wenig die Fortschritte und
Dr. Rainer Stinner auch nicht, dass das damit zu tun hat, dass wir in Afgha-
Wolfgang Gehrcke nistan zwischenzeitlich eben nicht nur punktuell arbei-
Dr. Frithjof Schmidt ten, sondern in der Fläche vertreten sind.

– Bericht des Haushaltsauschusses (8. Ausschuss) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gemäß § 96 der Geschäftsordnung der CDU/CSU)

– Drucksache 17/4562 – Wer sich allerdings genauer damit beschäftigt, der kann
erkennen, dass der Strategiewechsel erfolgt ist. Das ist
Berichterstattung: das Zentrale.
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner Ich war im letzten Oktober zum wiederholten Mal in
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Afghanistan und habe vor Ort die Erfahrung gemacht,
Michael Leutert dass es in der Tat deutlich erkennbare Fortschritte gibt,
Sven-Christian Kindler unter anderem bei der Verantwortungsübernahme durch
die afghanische Polizei und die afghanische Armee, die
Zu dieser Beschlussempfehlung liegt je eine Ent- sehr viele Fortschritte gemacht haben. Daneben gab es
schließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion aber eben auch Fortschritte beim Wiederaufbau, die hier
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. nur wenig zur Kenntnis genommen, vor Ort aber bestä-
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun- tigt werden, und zwar nicht nur im Verantwortungs-
desregierung werden wir später namentlich abstimmen. bereich der Bundeswehr im Norden, sondern in ganz
9882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Birgit Homburger
(A) Afghanistan. Das hat auch General Petraeus kürzlich den hat. Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird mit (C)
noch einmal bestätigt, als er hier in Deutschland war. Leben erfüllt. Wir haben die Hilfe beim zivilen Wieder-
aufbau verdoppelt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Wir haben erhebliche Fortschritte erreicht. Mit unse-
rer Unterstützung werden beispielsweise Haushalte mit
Wir haben im letzten Dezember erstmals einen Fort- besserem Trinkwasser versorgt. Wir haben 12 000 Af-
schrittsbericht von der Bundesregierung bekommen. Ich ghanen in unserem Verantwortungsbereich weitergebil-
glaube, das ist ein wichtiges Dokument, weil darin eine det. 42 000 Personen konnten von Mikrokrediten der
ungeschminkte Bestandsaufnahme erfolgt und der Stand deutsch-afghanischen Entwicklungszusammenarbeit
des Engagements realistisch beurteilt wird. Es werden profitieren. All diese Maßnahmen versetzen Menschen
Fortschritte aufgezeigt, aber es wird auch aufgezeigt, wo in die Lage, für sich und ihre Familie Verantwortung zu
es noch Defizite gibt und wo Aufgaben noch erkennbar übernehmen. Wir geben ihnen eine großartige Unterstüt-
sind. zung, und wir dürfen sie auch in Zukunft nicht alleine
lassen.
Diese Fortschritte sind auch im Mandat erkennbar.
Der Schwerpunkt dieses Mandats ist die Unterstützung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
bei der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die der CDU/CSU)
Afghanen. Hier ist im Jahre 2010 Erhebliches erreicht
worden. Auf den Konferenzen in London, in Kabul und Dass das erreicht werden konnte, ist vor allen Dingen
in Lissabon hat die internationale Gemeinschaft einen für diejenigen ein Erfolg, die bereit sind, an dieser Stelle
Fahrplan für die Übergabe der Verantwortung erarbeitet. Verantwortung zu übernehmen und vor Ort ihr Leben
Wir werden dieses Jahr in Provinzen und Distrikten, also aufs Spiel zu setzen, um Erfolge zu erzielen. Deshalb
zunächst in kleinen Bereichen, mit der Übergabe der möchte ich an dieser Stelle allen Soldatinnen und Solda-
ten im Einsatz, aber auch allen Polizisten, die vor Ort in
Verantwortung beginnen.
der Ausbildung tätig sind, und allen zivilen Helferinnen
Ziel ist es, dass die nationalen Sicherheitskräfte in und Helfern, die vor Ort Großartiges leisten, ein herzli-
Afghanistan bis Ende 2014 die Verantwortung für alle ches Dankeschön sagen.
Provinzen übernehmen und die Sicherheitsoperationen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
dort durchführen. Dieser Fahrplan ist international abge-
der CDU/CSU und der SPD)
stimmt. Er entspricht dem Fahrplan der afghanischen
Regierung und den Vorstellungen von Präsident Karzai. 2011 wird ein entscheidendes Jahr für dieses Engage-
Dass es gelungen ist, diesen Fahrplan festzulegen, ist ein ment. Wer Afghanistan stabilisieren will, der schafft das
(B) großer Erfolg. nicht allein mit militärischen Mitteln. Deshalb ist es so (D)
wichtig, dass wir den Ansatz der vernetzten Sicherheit,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den zivilen Wiederaufbau und die Übergabe der Verant-
der CDU/CSU) wortung an die Afghanen in den Mittelpunkt gestellt ha-
Voraussetzung für die Übergabe der Sicherheitsver- ben.
antwortung ist vor allem, dass wir die afghanischen Si- Vor allen Dingen ist es auch wichtig, dass wir an einer
cherheitskräfte selbst in die Lage versetzen, für Sicher- politischen Lösung weiterarbeiten. Deshalb ist es wich-
heit und Ordnung zu sorgen. Deshalb ist es wichtig, dass tig, dass die politischen Initiativen, die die Bundesregie-
wir einen Strategiewechsel geschafft haben. rung ergriffen hat, weiter vorangetrieben werden. Sie
Wir haben Anfang 2010 klare Ziele definiert. Das ist müssen im Jahr 2011 im Mittelpunkt der Bemühungen
die Grundvoraussetzung, um kontrollieren zu können, ob stehen, um eine Stabilisierung der Region zu erreichen.
sie tatsächlich erreicht werden. Wir haben das Mandat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
klar auf die Erreichung dieser Ziele ausgerichtet. der CDU/CSU)
Die deutsche Anstrengung ist deutlich erkennbar. Wir In der heutigen Abstimmung werden sich die Grünen
haben zwischenzeitlich bei der afghanischen Armee und erneut der Verantwortung entziehen. Was die Linken ma-
Polizei erreicht, dass der Aufwuchs der Sicherheitskräfte chen, indem sie auch in der Kommunikation nach außen
weiter vorangeschritten ist, als es für das Jahr 2010 fest- den Einsatz mit Terrorismus gleichstellen, wie insbeson-
gelegt war. Das heißt, die Ziele sind übererfüllt worden. dere Frau Lötzsch, ist unverantwortlich.
Dass das erreichbar ist, hätte Anfang des Jahres 2010
niemand gedacht. Das ist ein zentraler Fortschritt. Denn Deshalb sind wir froh, dass wir in intensiven Diskus-
diese Schwerpunktsetzung schafft erst die Vorausset- sionen hier in den Fraktionen des Deutschen Bundesta-
zung für eine Abzugsperspektive. ges eine verantwortliche Entscheidung treffen. Ich danke
vor allen Dingen der SPD, dass sie sich mehrheitlich da-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für entschieden hat, diesem Mandat zuzustimmen. Es ist
der CDU/CSU) wichtig, dass die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
wissen, dass sie die breite Rückendeckung des Deut-
Wenn wir heute über dieses Mandat entscheiden, schen Bundestages haben. Deshalb ist es gut, dass es
dann steht wieder der Beitrag der Bundeswehr im Mittel- eine breite Mehrheit auch am heutigen Tage für dieses
punkt. Deshalb ist es gut, dass in der letzten Woche in ei- Mandat geben wird.
ner Regierungserklärung von Bundesminister Niebel
erstmals der zivile Wiederaufbau im Mittelpunkt gestan- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9883
Birgit Homburger
(A) Wenn wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen, dann rismus werden können und auch nicht Ausgangspunkt (C)
– davon bin ich überzeugt – ist es ein weiter Weg, und es für eine zunehmende Unsicherheit und Instabilität der
wird noch ein schwieriger Weg sein. Aber es ist ein Weg gesamten Region bleiben.
für eine gute Zukunft für die Menschen in Afghanistan,
(Beifall bei der SPD)
und es ist ein Weg zur Stabilisierung dieses Landes, das
auch für die Sicherheit unseres Landes entscheidend ist. Wir würden durch einen Abbruch des Einsatzes nicht
Wir werden auch nach 2014 noch langfristig die Auf- nur die Chance auf eine friedliche Zukunft Afghanistans
gabe haben, dieses Land zu unterstützen. Aber ich gefährden, wir würden nicht nur Hunderttausende Fami-
glaube, es ist ein großer Erfolg, dass Fortschritte erzielt lien und Millionen Menschen ihrer Hoffnung auf eine
worden sind und dass es erstmals überhaupt eine Ab- bessere Zukunft und ein freieres und menschenwürdige-
zugsperspektive gibt. Das ist ein Erfolg auch für diese res Leben berauben, wir würden auch uns und die Men-
Koalition und für diese Bundesregierung. Ich denke, schen in Deutschland erneut den größeren Gefahren aus-
dass wir gemeinsam auf diesem Weg weitergehen soll- setzen, die von einem instabilen Afghanistan und einer
ten. destabilisierten Region in diesem Teil der Welt ausge-
hen. Ja, wir wollen Menschen in Afghanistan schützen,
Vielen Dank.
wir wollen auch Brunnen bohren, Schulen bauen und
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frauen- und Menschenrechten zum Durchbruch verhel-
fen. Aber wir wollen auch uns selbst und die Sicherheit
Präsident Dr. Norbert Lammert: der internationalen Staatengemeinschaft schützen. Das
Nächster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für ist nach wie vor der Kern der Begründung für diesen
die SPD-Fraktion. Einsatz. Diese Begründung müssen wir auch heute unse-
rer zweifelnden Bevölkerung gegenüber deutlich ma-
(Beifall bei der SPD) chen.
Es ist notwendig, viele Fehleinschätzungen der Ver-
Sigmar Gabriel (SPD):
gangenheit zu korrigieren, nicht zuletzt die Realitätsver-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe weigerung im Umgang mit den Bürgerkriegsparteien in
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag Afghanistan. Ich erinnere mich noch gut daran, was für
entscheidet heute erneut über die Entsendung unserer Kommentare laut wurden, als der damalige Vorsitzende
Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan. Im zehnten der SPD, Kurt Beck, nach einer Reise nach Afghanistan
Jahr des Einsatzes ist das wohl die schwierigste Auf- zurückkam und sagte: Wir müssen auch mit den Taliban-
gabe, die Abgeordnete hier wahrnehmen müssen. Viel zu führern reden, die zu einem Versöhnungsgespräch bereit
(B) viele haben inzwischen ihr Leben verloren oder kehren sind. – Wir sind verhöhnt und verlacht worden. Heute ist (D)
traumatisiert oder verletzt zurück. Die Tragödien in den klar: Ohne einen solchen Versöhnungsprozess wird Sta-
betroffenen Familien können wir wohl höchstens erah- bilität in Afghanistan nie zu erreichen sein.
nen. Es ist richtig, sich heute für den Mut und die Tapfer-
keit all derjenigen zu bedanken, die sich in Afghanistan (Beifall bei der SPD)
für ein Ende des Terrors, ein Ende der Gewalt und eine
Seit etwa einem Jahr sind aus den Fehlern des Afgha-
bessere Zukunft einsetzen. Wir Sozialdemokraten tun
nistan-Einsatzes in der Vergangenheit endlich Konsequen-
dies ausdrücklich.
zen gezogen worden, und es hat einen Strategiewechsel
(Beifall bei der SPD) der internationalen Staatengemeinschaft gegeben. Heute
können wir feststellen: Der Strategiewechsel war nicht
Aber wir, die den Einsatz in der Vergangenheit mit- nur dringend notwendig, sondern er hat sich auch durch-
verantwortet haben und auch heute mitverantworten gesetzt, weil die afghanische Regierung selbst und viele
wollen, empfinden auch eine Mitverantwortung für die andere Nationen zu den gleichen Schlussfolgerungen ge-
Tragödien in den vom Tod betroffenen Familien, egal ob kommen sind.
sie in Deutschland leben oder in Afghanistan. Ob uns die
betroffenen Familien immer vergeben können, weiß ich Am wichtigsten ist: Ein gutes Jahr danach können wir
nicht. Aber darum bitten und unsere Mitverantwortung erkennen, dass der Strategiewechsel beim internationa-
und Trauer eingestehen, das dürfen und das müssen wir, len Einsatz sowohl auf der militärischen als auch auf der
selbst dann, wenn wir von der Notwendigkeit des inter- zivilen Seite bei den Vereinten Nationen in Afghanistan
nationalen Einsatzes in Afghanistan überzeugt sind. offenbar erste Erfolge zeitigt. Erstmals in der nunmehr
zehnjährigen Geschichte des Einsatzes besteht eine rea-
Wir Sozialdemokraten und die übergroße Mehrheit listische Chance auf eine Trendwende in Afghanistan.
der SPD-Bundestagsfraktion werden nach reiflicher
Überlegung und Debatte auch in diesem Jahr dem Ein- Wir Sozialdemokraten haben seit längerer Zeit für
satz der Bundeswehr im Rahmen des Einsatzes der Ver- diesen Strategiewechsel gekämpft. Es war der damalige
einten Nationen zustimmen. Für uns ist klar: Die Be- Außenminister der Großen Koalition, Frank-Walter
gründung der Vereinten Nationen für den internationalen Steinmeier, der in seinem Zehnpunkteplan diesen Strate-
Einsatz in Afghanistan gilt auch heute noch. Der Einsatz giewechsel gefordert hat, lange bevor er Realität wurde.
in Afghanistan hat aus Sicht der Vereinten Nationen Als die SPD diese neue Strategie in Deutschland und in
nach wie vor das Ziel, eine von dort ausgehende Gefahr der internationalen Staatengemeinschaft im Afghanis-
für den Weltfrieden dauerhaft zu beseitigen. Das Land tan-Konflikt forderte, hat es wieder öffentliche Kritik
soll nie wieder zur Basis für den internationalen Terro- gehagelt. Wie schon bei der Forderung von Kurt Beck
9884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Sigmar Gabriel
(A) nach einer Einbeziehung der verhandlungsbereiten Tali- Staatengemeinschaft „völlig wurscht“ ist, dann ist er (C)
ban in eine politische Lösung wurde auch unsere Forde- schlicht und ergreifend fehl auf seinem Platz, nichts an-
rung nach einer Beendigung der internationalen Kampf- deres.
handlungen und damit auch der Beteiligung der
Bundeswehr an Kampfhandlungen im Jahr 2014 insbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sondere von CDU und CSU in Bausch und Bogen ver-
LINKEN)
worfen.
(Beifall bei der SPD) Wir jedenfalls stimmen heute der Mandatsverlänge-
rung mit großer Mehrheit zu, weil wir den Strategiewech-
Es war Ihr Verteidigungsminister, der damals erklärt sel in Afghanistan für richtig und erfolgversprechend hal-
hat – ich zitiere –: ten und nicht weil wir etwa die regierungsinternen
Kompromissformulierungen im Mandatstext richtig fin-
Wir brauchen … kein Enddatum.
den. Uns ist es egal, welche kabinettsinternen Verren-
Die Bundeskanzlerin meinte seinerzeit: kungen Sie da machen mussten, um Ihren Minister auf
Linie zu bekommen. Wir stimmen zu, weil wir sicher
Ich fände es falsch, wenn wir jetzt ein konkretes sind, dass die Truppenreduzierung im Rahmen dieses
Abzugsdatum nennen. Strategiewechsels im Jahr 2011 beginnen kann und wird
Das ist das Zitat desjenigen, der heute öffentlich er- und weil wir 2014 mit unserer Bundeswehr nicht mehr
klärt, dass er dieses Enddatum richtig finde, sonst würde an Kampfhandlungen in Afghanistan beteiligt sein wol-
er dem Mandat wohl kaum zustimmen. len.
Sie werden verstehen, dass wir Sozialdemokraten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
froh darüber sind, dass unsere Beurteilung der Situation
in Afghanistan und des damit verbundenen Strategie- Um eines müssen wir die Bundeskanzlerin auch in ih-
rer Abwesenheit schon bitten: Bitte, bringen Sie Ihrem
wechsels offenbar deutlich realistischer und klarer war
Verteidigungsminister bei, dass es nur eine Institution
als manches, was aus der Regierung damals zu hören
gibt, die über den Einsatz, den Verbleib und den Rück-
war.
zug der Bundeswehr entscheidet, und das ist nicht der
(Beifall bei der SPD) Verteidigungsminister. In seinen Kreisen müsste sich
nach 90 Jahren herumgesprochen haben, dass in
Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin bei dieser De- Deutschland nur ein demokratisch legitimiertes Parla-
batte und Entscheidung nicht dabei sein kann. ment über die Bundeswehr entscheidet und nicht ein
(Zuruf des Bundesministers Dr. Guido Minister einer Regierung.
(B) Westerwelle) (D)
(Beifall bei der SPD)
– Ich höre, sie kommt gleich. – Teile Ihrer Regierung ha-
ben aus der Entwicklung des letzten Jahres noch immer Mit seinen Bemerkungen zum Rückzugstermin offen-
bart der Minister eine seltsame Distanz und auch einen
nichts gelernt. Alle Vertreter der internationalen Staaten-
mangelnden Respekt gegenüber zwei Verfassungsinsti-
gemeinschaft sind sich einig, dass es für die Realisierung
tutionen: gegenüber der eigenen Bundesregierung und
dieser neuen Strategie absolut unerlässlich ist, schritt-
gegenüber diesem Parlament. Die Bundeskanzlerin kann
weise mit der Übergabe von Sicherheitsverantwortung das gerne weiter schleifen lassen – das ist uns notfalls
an die afghanische Armee und Polizei in einzelnen Dis- egal –; aber als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
trikten, Provinzen und Städten im Jahr 2011 zu beginnen werden wir uns das nicht gefallen lassen. Das ist jeden-
und damit auch die Reduzierung von internationalen falls ganz sicher.
Streitkräften zu verbinden. Der amerikanische Präsident
Obama hat das in dieser Woche in seiner Rede an die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Nation noch einmal bekräftigt und gesagt: Ab Juli dieses des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jahres beginnt der Rückzug amerikanischer Truppen aus
Afghanistan. – Der Druck dieses Zeitplans, beginnend Es ist gut, dass wir es uns mit den Einsätzen der Bun-
2011, soll dazu beitragen, dass auch die unterschiedli- deswehr in diesem Haus immer schwer machen.
Deutschland braucht keine schneidigen Entscheidungen
chen Gruppen und Ethnien außerhalb der Aufständi-
über die Einsätze der Bundeswehr, und wir brauchen üb-
schen in Afghanistan besser zusammenarbeiten.
rigens auch keine Bundeswehr, in der nur der ein richti-
Es darf kein Verlassen auf eine dauerhafte militäri- ger Soldat oder ein Held ist, der sozusagen unter Feuer
sche Präsenz der internationalen Streitkräfte in Afgha- gestanden hat. Ich will jedenfalls nicht, dass am Ende
nistan geben. Wer 2011 nicht anfängt, der wird 2014 nur noch die Unterscheidung zwischen traumatisierten
nicht draußen sein. Alle haben das verstanden, auch der und glorifizierten Soldatinnen und Soldaten existiert.
Außenminister der Bundesregierung, nur einer offenbar
nicht, nämlich der Verteidigungsminister. Wie anders ist (Beifall bei der SPD)
sein Satz sonst zu verstehen, es sei ihm „völlig wurscht, Der Friede bleibt der Ernstfall, und die Bundeswehr
ob man das Jahr 2004 oder 2013, 2010 oder 2011 oder bleibt eine demokratische und in ihrer Inneren Führung
2012 nennt“. Völlig wurscht sei ihm das. Von mir aus zivile Parlamentsarmee und keine auf Abruf bereitste-
kann Ihr Verteidigungsminister Ihren Außenminister und hende Interventionstruppe.
auch Ihre Bundeskanzlerin ignorieren; aber wenn Ihrem
Verteidigungsminister die Strategie der internationalen (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9885
Sigmar Gabriel
(A) Darauf haben wir gerade jetzt zu achten, wenn es an die wortung. Die Bundesregierung hat das umzusetzen, was (C)
größte Reform der Bundeswehr in ihrer eigenen Ge- der Deutsche Bundestag für seine Parlamentsarmee ent-
schichte geht. schieden hat.
Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte der Bun- (Beifall bei der SPD)
desrepublik Deutschland, eine deutsche, weil die Solda-
tinnen und Soldaten der Bundesrepublik erstmals in der Sie können hier nicht die Verlängerung der Einsätze
Geschichte unseres Landes nie in Gefahr waren, einen beantragen, aber bei der Einsatzversorgung auf der
Staat im Staate zu bilden, sondern weil sie Staatsbürger Bremse stehen.
in Uniform sind. Sie ist eine europäische Erfolgsge- Es wäre auch verantwortungslos, wenn wir im Zu-
schichte, weil niemand, kein Nachbar in Europa oder sammenhang mit der Mandatsverlängerung heute nicht
sonst irgendwer auf der Welt – von England bis Skandi- auch auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate
navien, von Griechenland bis Frankreich, von Polen bis zu sprechen kämen. Unsere Debatte steht aufgrund der
nach Russland –, vor dieser Bundeswehr Angst haben Feldpostaffäre, aber noch viel mehr durch die beiden ge-
muss. Im Gegenteil: Unsere europäischen Nachbarn und töteten jungen Soldaten in Kunduz und auf der „Gorch
unsere internationalen Verbündeten können sich auf die Fock“ in einem besonderen Licht.
Bundeswehr als verlässlichen Partner bei der Friedens-
und Freiheitssicherung verlassen. Das ist eine riesige Er- Jeder Verteidigungsminister hat wohl das Risiko, dass
folgsgeschichte unseres Landes. es 365 Tage im Jahr gibt, an denen er in Bedrängnis
kommen kann und öffentliche Erklärungen abgeben
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
muss. Es ist gewiss nicht sinnvoll, aus jedem der denk-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
baren Vorfälle gleich einen Skandal zu machen oder eine
Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Es geht
Rücktrittsforderung anzuschließen. Gewiss ist es ebenso
um Vertrauen!)
richtig, wenn zuerst die Sachverhalte aufgeklärt und Ver-
Der Grund für diese Erfolgsgeschichte sind gerade antwortlichkeiten geklärt werden, bevor über denkbare
die innere Zivilität, die Innere Führung und das Bild des Konsequenzen öffentlich verhandelt wird. Ich habe des-
Staatsbürgers in Uniform. Umso sorgfältiger müssen wir wegen die Einlassungen des Verteidigungsministers hier
heute mit dieser Erfolgsgeschichte umgehen. Wir wer- im Deutschen Bundestag in der letzten Woche ganz gut
den die Bundeswehr mit dem Abschied von der Wehr- nachvollziehen können; das kann ich hier offen zugeben.
pflicht völlig verändern. Wir dürfen nicht schon gleich
am Anfang die falschen Signale setzen. So war es eben Bis heute versteht aber niemand, warum eigentlich
von Anfang an falsch, die Bundeswehrreform als Spar- zwischen dem Tod einer Seekadettin auf der „Gorch
Fock“ und der Entsendung eines Ermittlungsteams auf (D)
(B) operation anzulegen. Vieles wird mehr kosten und nicht
weniger. dieses Schiff mehr als zwei Monate vergehen müssen.

(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wir reden von Und warum wird eigentlich weder die Öffentlichkeit
Afghanistan!) noch das Parlament über Wochen über den zweiten To-
desfall, den Tod des Soldaten in Kunduz, korrekt unter-
Deshalb zerplatzen jetzt die vollmundigen Sparankündi- richtet? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder der
gungen des Verteidigungsministers wie Seifenblasen. Minister hat es gewusst und selbst die Öffentlichkeit und
Die Bundeswehr muss eben nicht nur effizient, sondern das Parlament nicht angemessen informiert, oder er
vor allen Dingen effektiv sein. Sie ist etwas anderes als wurde durch sein Ministerium nicht vernünftig infor-
ein zu verschlankendes Unternehmen. miert. Nur diese beiden Möglichkeiten gibt es.
Die Fehlsteuerung der Bundeswehrreform bekommen Beide Alternativen müssten Gründe für die Kanzlerin
gerade auch die im Einsatz in Afghanistan befindlichen sein, dort einzugreifen. Sie kann weder dulden, dass ei-
Soldatinnen und Soldaten zu spüren. So müssen viele ner ihrer Minister das Parlament und die Öffentlichkeit
von ihnen ausreichende Schutzkleidung und Ausstattung bewusst hinters Licht führt, noch dass sie einen Minister
mit über 1 000 Euro privat selbst bezahlen. Als wäre das beruft, der sein Ministerium offensichtlich nicht im Griff
nicht schon schlimm genug, legt der Verteidigungs- hat und schwerwiegenden Vorfällen nicht von selbst
minister auch hier im Bundestag partei- und fraktions- nachgeht.
übergreifend geforderte Verbesserungen bei den Leistun-
gen an die Hinterbliebenen von getöteten Soldaten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ebenso auf Eis wie die geforderten Verbesserungen für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die berufliche Weiterverwendung der Soldaten nach dem
Bei der Aufklärung des Bombardements in Kunduz
Einsatz. Das haben wir hier gemeinsam gefordert. Die
konnte der Verteidigungsminister noch sagen, ihm seien
Bundesregierung und der Verteidigungsminister setzen
die Unterlagen und vor allem die Feldjägerberichte nicht
es nicht um.
vollständig vorgelegt worden. Wenn schon im Verteidi-
Der Bundeskanzlerin und ihrem Finanzminister müs- gungsministerium bei ungeklärten Todesfällen von Solda-
sen wir doch einmal klar sagen, dass es dann, wenn ihr ten nicht generell eine Information des Ministers angeord-
Verteidigungsminister offensichtlich mit anderen Aufga- net ist – spätestens nach diesen damaligen Vorwürfen
ben zu tun hat, ihre Aufgabe und ihre Pflicht ist, diese und der schwierigen Aufklärung muss doch ein wacher
Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Schließlich ist Minister bei ungeklärten Todesfällen die entsprechende
es die Armee des Parlaments, und wir tragen die Verant- umfassende Berichterstattung, zum Beispiel einschließ-
9886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Sigmar Gabriel
(A) lich der Feldjägerberichte, selbst anfordern. Das ist seine Natürlich muss das immer markig klingen. Jetzt wird (C)
originäre Aufgabe. gleich eine Generalinspektion der Bundeswehr angekün-
digt. Das liegt ziemlich nahe am Generalverdacht. Für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine solche Unterstellung gegenüber der Bundeswehr
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gibt es keine Grundlage. Trotzdem ist das die Botschaft,
Dort genau hinschauen zu wollen und genau wissen die in die Bundeswehr hineingesandt wird.
zu wollen, was eigentlich passiert ist, ist nicht nur die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Pflicht eines Ministers, sondern auch eine Frage des In- DIE GRÜNEN)
teresses am Schicksal der eigenen Soldaten sowie eine
Frage der Mitmenschlichkeit. Moderne Führung sieht jedenfalls anders aus. Eine
moderne Führung aber braucht die Bundeswehr heute
(Beifall bei der SPD) mehr denn je. Der Erfolg der Bundeswehr in der Vergan-
genheit und noch mehr in der Zukunft basiert auf ihrer
Stattdessen erleben wir zum wiederholten Mal, wie
inneren Zivilität. Darauf wollen sich Menschen verlas-
schon beim Bombardement in Kunduz, dass der Vertei-
sen, die zur Bundeswehr gehen. Dazu gehören nicht zu-
digungsminister seine Aktivitäten nach den Regeln des
letzt das Recht auf Anhörung und auf rechtliches Gehör
deutschen Medienbetriebes ausrichtet. Erst wird abge-
sowie der Schutz vor Willkür. Das gilt für Mannschaf-
wiegelt und erklärt, alles sei in Ordnung.
ten, Unteroffiziere, Seekadetten ebenso wie für Offiziere
(Zuruf von der FDP: Da ist er aber nicht der und Kommandeure. Wer dieses Recht verletzt, verstößt
Einzige!) eklatant gegen die Prinzipien der Inneren Führung der
Bundeswehr und des Staatsbürgers in Uniform, wie sie
– Nein. Sie werden aber zugeben, dass er darin beson- die Sozialdemokraten Georg Leber und Helmut Schmidt
ders gut ist. tief in der Bundeswehr verankert haben. Wir werden
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist ja genau nicht zulassen, dass diese Erfolgsgeschichte durch Ihre
Ihr Problem!) Regierung kaputt gemacht wird.
(Beifall bei der SPD)
Das kritisieren Sie ja selber gelegentlich. Ich verstehe
schon, dass Sie das so lange gut finden, wie er nicht in
Probleme kommt. Wenn der Medienwind sich dann Präsident Dr. Norbert Lammert:
dreht, wird aber das genaue Gegenteil gesagt und schein- Herr Kollege Gabriel, Sie berücksichtigen bitte die
bar hart durchgegriffen. Zeit.
(B) Nicht alleine wir kritisieren das. Ich zitiere einmal aus (D)
Sigmar Gabriel (SPD):
einem der vielen Berichte in der Zeit. Dort heißt es: „Ein
Muster wird sichtbar.“ Das Muster ist die rasche Schuld- Das geschieht alles nur, weil sich der Minister inzwi-
zuweisung. Ob Kunduz, geöffnete Briefe, ungeklärte schen fernsteuern lässt. Wie die Frankfurter Allgemeine
Todesfälle oder jetzt bei der Finanzierung der Bundes- Zeitung treffend schreibt, gibt es eine strategische Ver-
wehr, die Muster ähneln sich tatsächlich frappierend. bindung, eine strategische Partnerschaft zwischen der
Immer heißt es am Anfang: Erstens. Natürlich werden Bild-Zeitung und dem Minister. Der Bild-Zeitung ist
bei uns Fehler gemacht. Zweitens. Aber nicht ich, son- nichts vorzuwerfen. Sie will eine gute Auflage.
dern andere sind schuld. – Danach werden die Betroffe- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh! – Volker
nen kurzerhand entlassen. Eine Zeitung hat dies „das Kauder [CDU/CSU]: Man sieht die Schleim-
Prinzip Guttenberg“ genannt. Ich sage Ihnen: Mit Prinzi- spur!)
pien hat dies nichts zu tun, aber mit der „Methode
Guttenberg“ hat das eine ganze Menge zu tun. Der Minister aber verkauft dafür seine Mitarbeiter und
Soldaten. Das ist der Kern des Vorwurfs, den wir Ihnen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten machen müssen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Florian Hahn [CDU/CSU]: Ihnen kann es doch (Beifall bei der SPD)
nicht schnell genug gehen!) Damit wir uns richtig verstehen: In Afghanistan und
Wie sagt der Herr Verteidigungsminister treffend? auch sonst wo braucht die Bundeswehr einen ruhigen
Wir brauchen „eine Bundeswehr, die das Verantwor- Regisseur, aber nicht einen schillernden Darsteller. Das
tungsprinzip auch bei jedem einzelnen Beteiligten lebt ist das Letzte, was wir brauchen. Von einem ruhigen Re-
und trägt“. Nur für sich selbst möchte er dieses Verant- gisseur aber ist Ihr Verteidigungsminister derzeit weit
wortungsprinzip möglichst nicht gelten lassen. Es sind entfernt. Sorgen Sie dafür, dass sich das ändert! Sonst
immer andere, die ihren Kopf hinhalten müssen: Oberst gefährden Sie nicht nur die Einsätze der Bundeswehr,
Klein, General Schneiderhan, Staatssekretär Wichert und sondern auch die Zukunft dieser Armee; denn sie
jetzt Kapitän Schatz. Nach etwas mehr als einem Jahr braucht eine ruhige Hand und nicht jemanden, der sich
Amtszeit gibt es schon verdammt viele politische Opfer von öffentlicher Berichterstattung fernsteuern lässt.
dieses Ministers in seinem Betrieb. (Widerspruch bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist das Ergebnis von etwas mehr als einem Jahr. Das
DIE GRÜNEN) werden wir nicht hinnehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9887
Sigmar Gabriel
(A) (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall gress der CDU/CSU-Fraktion zur zivil-militärischen Zu- (C)
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian sammenarbeit im Dezember bestätigt. Es ist deshalb gut,
Hahn [CDU/CSU]: Thema verfehlt!) dass die von den Vereinten Nationen mandatierten ISAF-
Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte gegen-
Präsident Dr. Norbert Lammert: über den regierungsfeindlichen Kräften in Afghanistan
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas die Initiative zurückgewonnen haben. Die Aufständi-
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion. schen sind – ich sage das aufgrund der wechselnden Er-
fahrungen mit aller Vorsicht – spürbar in der Defensive,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) militärisch und politisch. Die Bevölkerung kehrt wieder
in Gebiete zurück, die von den Aufständischen kontrol-
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): liert waren, und arbeitet immer enger mit den ISAF-
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Truppen zusammen. Gleichzeitig setzen die internatio-
gen! Sie haben wohl heute Morgen die Presseberichte nale Gemeinschaft und die Bundesregierung ihre vor ei-
über die Aktuelle Stunde vorgestern gelesen, Herr nem Jahr in London gemachten Zusagen für den zivilen
Gabriel. Darin ist nachzulesen, dass Ihre Fraktion bei der Aufbau zügig um und verzeichnen erste Erfolge.
Debatte über die Vorfälle in der Bundeswehr wirklich Die Kolleginnen und Kollegen, die Afghanistan in
ein sehr schwaches Bild abgegeben hat. jüngster Zeit besucht haben, konnten sich selbst davon
(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ überzeugen, dass der Aufbau der afghanischen Sicher-
CSU]: So ist es! – Thomas Oppermann [SPD]: heitskräfte, Armee und Polizei, jetzt zügig vorankommt,
Das stand im Bayernkurier!) auch aufgrund der Ausweitung der deutschen Trainings-
kapazitäten. Die gesetzten quantitativen Ziele wurden
Ich kann deshalb nachvollziehen, dass Sie mit Ihrem vorzeitig erreicht. Deutschland arbeitet mit seinen Aus-
ganzen Gewicht heute, bildungsprogrammen mit Nachdruck daran, dass afgha-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) nische Kräfte so schnell wie möglich selbst für Sicher-
heit sorgen können. Dies soll vollständig 2014 in ganz
wo es um einen ganz anderen Tagesordnungspunkt geht, Afghanistan möglich sein, ist momentan aber noch nicht
diesen Eindruck korrigieren wollen. Ich kann Ihnen sa- der Fall. Deshalb müssen die internationalen Kräfte, also
gen: Zu diesem Thema, Herr Gabriel, ist zwar nicht in auch die Bundeswehr, derzeit noch diese Aufgabe wahr-
der Person, wohl aber nach dem Inhalt Ihrer Rede der nehmen. Nur auf dieser Grundlage kann Entwicklungs-
Eindruck noch dünner geworden. hilfe nachhaltige Erfolge erzielen und die lokale Regie-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und rungsführung verbessert werden.
(B) der FDP) (D)
Die Strategie der Übergabe in Verantwortung ist der
Dr. Sima Samar, die Vorsitzende der unabhängigen richtige Weg. Meines Erachtens ist heute die Zuversicht
Menschenrechtskommission in Afghanistan, ist insbe- berechtigt, dass wir 2011 den Prozess der Übergabe in
sondere für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte afghanische Verantwortung beginnen können. Im Zuge
der Frauen in ihrem Land bekannt. Ich traf sie vor zwei dieses Prozesses wollen wir auch die Präsenz der Bun-
Wochen in Kabul und war beeindruckt von ihrem Mut, deswehr ab Ende 2011 reduzieren. Niemand möchte län-
sich bei ihrer Arbeit auch von Morddrohungen nicht ein- ger als unbedingt notwendig Kampftruppen in Afghanis-
schüchtern zu lassen. Frau Samar äußerte sich äußerst tan belassen. Deshalb tun unsere Soldatinnen und
kritisch gegenüber der Regierung Karzai. Auf meine Soldaten und unsere zivilen Mitarbeiter alles für eine
Frage, wie sie die Zukunft unseres zivil-militärischen Lageentwicklung, die eine Reduzierung unserer militäri-
Engagements in Afghanistan bewertet, machte sie mir schen Präsenz so schnell wie möglich Realität werden
unmissverständlich klar, dass wir Afghanistan nicht ver- lässt.
lassen dürften, bevor es nachhaltig stabilisiert sei; sonst Herr Gabriel, ich möchte Ihnen gern unsere Verfas-
drohe die Rückkehr der menschenverachtenden Herr- sung und das Parlamentsbeteiligungsgesetz erläutern.
schaft der Taliban. Das wirft die Fragen auf: Wo stehen Sie haben hier gesagt: Nicht der Verteidigungsminister
wir in Afghanistan, und wie lange bleiben wir noch in zieht Soldaten zurück, sondern wir im Parlament ziehen
Afghanistan? Soldaten zurück. – Herr Gabriel, wir stimmen heute über
Man spürt, dass der Strategiewechsel, den wir vergan- eine Obergrenze ab. Wenn Sie den Verteidigungsminis-
genes Jahr vollzogen haben, sowohl militärisch als auch ter darauf festlegen wollen, dass er bis zum letzten Tag
beim zivilen Aufbau greift. Deshalb muss der zivil-mili- dieses Mandates diese Obergrenze zu 100 Prozent aus-
tärische vernetzte Ansatz unbedingt weiterverfolgt wer- schöpft, dann ist dies Ihre Position. Die Position der
den. Es ist richtig: Rein militärisch können wir die Lage Koalition ist, dass die Bundesregierung innerhalb der ge-
in Afghanistan nicht erfolgreich verändern. Unsere öf- setzten Obergrenze jede Möglichkeit nutzt, sobald es die
fentliche Expertenanhörung im Auswärtigen Ausschuss Sicherheit und die Nachhaltigkeit zulassen, auch vor
Ende November hat aber auch ergeben, dass es ohne mi- Ende des Ablaufs dieses Mandats mit der Reduzierung
litärische Absicherung keine nachhaltige Entwicklungs- der Truppenstärke zu beginnen.
hilfe in Afghanistan geben und dass für die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eine Verbesserung ihrer Lage nicht dauerhaft erfahrbar
werden kann. Dies haben Vertreter von in Afghanistan Unser Dank gilt den Männern und Frauen, die vor Ort
tätigen Nichtregierungsorganisationen auch beim Kon- unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen hart
9888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) für die Stabilität und Entwicklung Afghanistans arbei- Bereich der Sicherheit fortsetzen. Dabei wird sich unser (C)
ten. Verantwortbare Übergabe hat – auch das gehört Engagement in Afghanistan qualitativ verändern. Es ist
dazu – Vorrang vor angestrebten Zeitplänen. Die Ab- und bleibt aber langfristig. Die für Ende des Jahres ge-
zugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten plante Afghanistan-Konferenz in Bonn ist für die Struk-
muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort bemessen. turierung des weiteren Vorgehens eine wichtige Weg-
Es darf auf keinen Fall ein Sicherheitsvakuum entstehen, marke.
das das Erreichte oder die noch in Afghanistan tätigen
Herr Gabriel, Sie haben eine breite Zustimmung der
Soldaten und zivilen Kräfte gefährdet. In dem Maße, in
SPD angekündigt. Sie waren gerade in Afghanistan und
dem Afghanen die Lage sicher und nachhaltig kontrol-
konnten sich vor Ort davon überzeugen, dass die jetzt
lieren, können und wollen wir Kampftruppen zurückzie-
eingeschlagene Strategie richtig ist. Herr Gabriel, Sie ha-
hen.
ben in einem FAZ-Interview gesagt, dass Sie das Stimm-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verhalten der meisten Grünen nicht nachvollziehen kön-
nen. Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Im Gegensatz zu
Um unser Ziel einer völligen Übergabe der Verant-
den meisten Grünen vergisst die Mehrheit der Sozialde-
wortung bis 2014 zu erreichen, sind meines Erachtens
mokraten nicht, dass es die rot-grüne Regierung mit Au-
insbesondere fünf Dinge notwendig.
ßenminister Fischer war, die den Einsatz mit dieser In-
Erstens müssen die Fähigkeiten der afghanischen Si- tensität begonnen hat.
cherheitskräfte weiter verbessert werden. Daran wird mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe
Nachdruck gearbeitet.
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens muss die afghanische Seite mit uns an ei-
Frau Künast und Frau Roth, wie der SPD-Vorsitzende
nem Strang ziehen und ihren bei der Kabuler Konferenz
und die übergroße Mehrheit der SPD-Fraktion sollten
eingegangenen Verpflichtungen – gute Regierungsfüh-
auch die Grünen anerkennen: Wir sind jetzt auf einem
rung, Korruptionsbekämpfung, Aufbau einer unabhängi-
guten Weg, diesen Einsatz zu einem guten Ende zu füh-
gen Justiz – konsequent und ambitioniert nachkommen.
ren.
Drittens muss der Versöhnungsprozess funktionieren
Herzlichen Dank.
und zu Ergebnissen führen. Eine politische Lösung, also
ein Prozess der Verständigung und des politischen Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gleichs mit verschiedenen Gruppen der Aufständischen,
ist zwingend notwendig, wenn wir ein hinreichend stabi- Präsident Dr. Norbert Lammert:
les Afghanistan schaffen wollen, von dessen Boden
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
(B) keine Gefahr für die Region und die Staatengemein- (D)
Fraktion Die Linke.
schaft mehr ausgeht. Herr Gabriel, auch in diesem Zu-
sammenhang muss ich Ihnen sagen: Wir haben nie etwas (Beifall bei der LINKEN)
anderes behauptet.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
GRÜNEN]: Was?) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Bombardierung Belgrads, einem völkerrechtswidrigen
Tatsache ist, dass die Taliban zu einer solchen Versöh- Krieg, bildete sich in Deutschland eine Kriegskoalition
nung bisher nicht bereit waren. Im Jahr 2010 sind aber aus Union, SPD, FDP und Grünen.
erste Schritte in Richtung einer politischen Konfliktbe-
wältigung eingeleitet worden. Herr Gabriel, das hat auch (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/
etwas damit zu tun, dass die ISAF die Initiative zurück- CSU]: Ungeheuerlich so etwas! – Zuruf von
gewonnen und die Taliban deutlich in die Defensive ge- der FDP: Das kann doch wohl nicht wahr
drängt hat, und zwar sowohl militärisch als auch poli- sein!)
tisch. Auch das hat dazu geführt, dass jetzt dieser Sie stand auch beim Krieg in Afghanistan, der inzwi-
Prozess der Versöhnung und des Ausgleichs möglich ge- schen über neun Jahre dauert. Die Linksfraktion beginnt
worden ist. Dafür müssen die Spielräume natürlich ge- heute mit einer Afghanistan-Konferenz unter dem Titel
nutzt werden. „Das andere Afghanistan“. Ich begrüße ausdrücklich
Viertens müssen wir einen regionalen Lösungsansatz neun Afghaninnen und Afghanen, die aus dem Land des
weiter mit Nachdruck verfolgen. Die Kabuler Konferenz Krieges kommen und auf der Tribüne Platz genommen
vom letzten Jahr hat hier wegweisende Fortschritte ge- haben. Auch um ihr Schicksal geht es.
bracht. Die Beziehungen zwischen Islamabad und Kabul (Beifall bei der LINKEN)
haben sich in letzter Zeit erfreulicherweise kontinuier-
lich verbessert. Pakistan fühlt sich jedoch – aus seiner Ihre Gegner sind die Taliban, die Warlords, aber auch die
Sicht – von einem wachsenden indischen Einfluss in NATO.
Afghanistan bedroht. Deshalb brauchen wir auch einen
Es gibt eine repräsentative Emnid-Umfrage von Be-
pakistanisch-indischen Dialog über Afghanistan.
ginn 2010 und von Beginn 2011 zur Ablehnung bzw. Zu-
Fünftens müssen wir den Afghanen die Gewissheit stimmung der Bevölkerung betreffend den Afghanistan-
geben, dass wir sie 2014 nicht im Stich lassen. Wir müs- Krieg. Dabei wurden die Vokabeln der Regierung und
sen unsere Unterstützung beim Wiederaufbau und im nicht etwa unsere verwendet. Es gab drei Antwortmög-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9889
Dr. Gregor Gysi
(A) lichkeiten. Die erste mögliche Antwort war: Ich bin für deswehr plant für das nächste Jahr eine weitere Verle- (C)
die militärische Unterstützung der Aufbauhilfe. – Das, gung von schwerem Kriegsgerät, von Panzern, Artillerie
was wir Krieg nennen, ist – ganz im Sinne der Regierung – und Tigerkampfhubschraubern.
so umschrieben worden. Die zweite mögliche Antwort Das Ganze läuft auf eine Eskalation des Krieges hi-
war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr und für die naus. Eine Eskalation des Krieges bedeutet immer auch
Leistung von Aufbauhilfe. Die dritte mögliche Antwort eine Eskalation der Opfer des Krieges. Im ersten Halb-
war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr, aber ohne jahr 2010 stieg laut UN-Report die Zahl der toten und
künftige Aufbauhilfe. – 28 Prozent unterstützten zu Be- verletzten Zivilisten in Afghanistan um ein Drittel auf
ginn des Jahres 2010 die Regierungspolitik. Heute sind 3 268.
es nur noch 15 Prozent. Ich bitte Sie, darüber nachzu-
denken, wen Sie hier repräsentieren. (Zuruf der Abg. Kerstin Müller [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der LINKEN)
Durch die Eskalation des Krieges gibt es auch eine hö-
2010 waren 50 Prozent für den Abzug der Bundeswehr here Zahl von Todesopfern unter den Soldatinnen und
und für Aufbauhilfe; heute sind es 53 Prozent. Aber es Soldaten. Seit Beginn des Krieges sind über 2 300 Sol-
gibt eine erschreckende Zahl: Vor einem Jahr wollten datinnen und Soldaten umgekommen, darunter 46 Sol-
18 Prozent keine Bundeswehr, aber auch keine Aufbau- datinnen und Soldaten der Bundeswehr. Auffallend ist,
hilfe mehr; heute wollen dies 26 Prozent. Denken Sie dass die Zahl der getöteten Soldatinnen und Soldaten
einmal darüber nach, weshalb immer mehr Menschen jährlich steigt; im letzten Jahr waren es schon 711. Die
keine Aufbauhilfe wollen! Das liegt an Ihrer Art der Zahl von Bundeswehrsoldaten mit seelischen Verletzun-
Politik. Die Leute glauben nicht mehr daran; sie sehen gen hat sich gegenüber 2006 verzwölffacht. Waren es
darin keinen Sinn. damals 55, sind es heute 655. Hinzu kommen noch
333 Soldaten mit anderen psychischen Erkrankungen.
(Beifall bei der LINKEN) 2010 wurden also über 1 000 Soldaten stille Opfer des
Bei der Umfrage kommt heraus, dass 79 Prozent für den Krieges, und das sind nur die Soldatinnen und Soldaten,
Abzug der Bundeswehr sind. Nur im Bundestag sind die die sich gemeldet haben. Die Dunkelziffer ist viel höher.
Verhältnisse exakt umgekehrt. Man braucht keinen Tatort, um zu begreifen, dass wir
nicht nur Afghanistan schaden, sondern auch unser Land
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
negativ verändern.
Meine Partei war von Anfang an gegen den Krieg. (Beifall bei der LINKEN)
Terrorismus kann man nicht mit der höchsten Form des
(B) Terrorismus, mit Krieg, bekämpfen. Wenn man aus einer Landesverteidigungsarmee eine In- (D)
terventionsarmee macht und Kriege führt, verändert man
(Birgit Homburger [FDP]: Das ist ungeheuer- zuerst die Armee und dann die Gesellschaft.
lich!)
Es gibt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirt-
Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Struck sagte: schaftsforschung, die besagt: Bis Ende 2010 haben wir
Am Hindukusch wird unsere Freiheit verteidigt. – Wenn insgesamt 25 Milliarden Euro für diesen Krieg ausgege-
ich die schwerbewaffneten Polizisten rund um den Bun- ben. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie viel besser Af-
destag sehe, habe ich den Eindruck, dass am Hindukusch ghanistan dastünde, wenn wir nur die Hälfte dieses Gel-
unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wir des in den zivilen Aufbau des Landes gesteckt hätten!
sind eine potenzielle Adresse für Terrorakte geworden.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt werde ich Ihnen etwas zu den Folgen des Krie-
Lassen Sie mich noch etwas zu Krieg und Terror sa- ges sagen, und daran kommen Sie nicht vorbei. Die erste
gen. Die Terrororganisation al-Qaida sitzt nicht mehr in Folge des Krieges: Das Ansehen der Taliban ist nicht ge-
Afghanistan, sondern in Pakistan. Sie wird ausschließ- sunken, sondern hat wieder zugenommen.
lich aus Saudi-Arabien bezahlt. Die USA haben beste (Zuruf von der CDU/CSU: In Ihrer Fraktion,
Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das nenne ich verlogen. oder wo?)
(Beifall bei der LINKEN) Das ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen woll-
Sie kommen nicht darum herum. Sie wollten von An- ten.
fang an den Krieg gewinnen, wir den Frieden. Zweitens. Die Warlords sind mächtiger als zu Beginn
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – La- des Krieges.
chen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Drittens. In Armut leben nicht mehr 33 Prozent, son-
FDP – Zuruf von der FDP: Kölle Alaaf!) dern 42 Prozent der Bevölkerung.
Inzwischen sagt auch der Fortschrittsbericht der Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)
regierung von Dezember 2010, dass der Konflikt militä-
– Ich bitte Sie! Das sind UNO-Zahlen. Die können Sie
risch nicht zu lösen sei. Die Schlussfolgerung der NATO
nicht als Quatsch abtun. Nehmen Sie sie einfach mal zur
ist aber: mehr Soldaten, mehr Kriegsgerät. Außerdem
Kenntnis.
heißt es, dass man den Krieg afghanisieren will, so wie
die USA den Krieg im Irak irakisieren. Auch die Bun- (Beifall bei der LINKEN)
9890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) Viertens. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, Drittens schlagen wir Maßnahmen und eine neue und (C)
sondern 39 Prozent der Bevölkerung. andere Petersberger Konferenz zum Wiederaufbau Af-
ghanistans nach dem Krieg vor.
Fünftens. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen,
sondern 4,5 Millionen Menschen. (Beifall bei der LINKEN)
Sechstens. Den Zugang zu sanitären Einrichtungen Meine Forderung lautet ganz einfach – und ich will
haben nicht mehr 12 Prozent, sondern nur noch mich nur an SPD und Grüne wenden –: Liebe Mitglieder
5,2 Prozent der Bevölkerung. der Fraktionen von SPD und Grünen, treten Sie endlich
und für immer aus der Kriegskoalition aus!
Siebentens. Die Mohnfelder für den Rauschgiftanbau
der Warlords umfassen nicht mehr 131 000, sondern (Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Zuruf
193 000 Hektar. von der CDU/CSU: Ich verwahre mich gegen
den Ausdruck „Kriegskoalition“!)
Wofür führen Sie eigentlich diesen Krieg? Was soll in
den nächsten Jahren anderes passieren, außer dass sich
dies verschlimmert? Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
(Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen.
Ihr Ansatz ist völlig falsch, verfangen in der Logik des
Krieges und im Denken des Primats des Krieges. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
Die Bundesregierung täuscht jetzt aber auch die Öf- ich habe auch vor der Position, die Sie hier formuliert
fentlichkeit. Ich muss sagen, dass der Streit zwischen haben, Respekt. Aber eines kann ich Ihnen nicht durch-
Bundesminister Westerwelle und Bundesminister zu gehen lassen: Sie können sich nicht im Deutschen Bun-
Guttenberg um die Frage, ob man einen Termin für den destag hinstellen und sagen, die Menschen in Afghanis-
beginnenden Abzug der Soldaten nennt, peinlich ist. tan seien von den Taliban genauso bedroht wie von der
(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ NATO. Wer einen Einsatz der NATO und einer Reihe
CSU]: Welcher Streit denn? Es gibt keinen weiterer Staaten – darunter viele muslimische Staaten –
Streit!) auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen in
eins setzt mit Terroristen und Verbrechern, der hat den
Herausgekommen ist Folgendes: Man sagt, dass der Ab- Schuss nun wirklich nicht gehört.
zug Ende 2011 beginnt, wenn es die Lage erlaubt. – Für
(B) die Bevölkerung übersetzt, heißt dies: Es beginnt kein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D)
Abzug. Aber ich sage Ihnen eines: Jetzt hat Präsident bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Obama Sie blamiert. Er hat gestern erklärt: Ab Juli wer- Wir entscheiden heute über ein Mandat in einer geän-
den amerikanische Soldaten abgezogen. – Sie denken derten strategischen Lage. Es geht schon lange nicht
noch nicht einmal daran, dies zu realisieren. mehr um die Frage: War es richtig oder falsch? Es geht
(Beifall bei der LINKEN) heute in Afghanistan um die Frage der Übergabe in Ver-
antwortung an die Afghaninnen und Afghanen selber. Es
Nur die Linke war und ist konsequent für die sofor- geht nicht mehr um die Frage eines militärischen Sieges
tige Beendigung des Krieges und den schnellstmögli- über die Taliban; es geht um die Bedingungen, unter de-
chen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wir wol- nen man in diesem Land einen Kompromiss findet. Ihre
len keine Verlängerung des Kriegsmandats, sondern Aufregung ist gar nicht mehr zeitgemäß; denn es geht
endlich die Erteilung eines Abzugsmandats. nicht mehr um das Ob eines Abzuges von Kampftrup-
pen;
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der LINKEN: Doch, offensichtlich
Wir wollen statt der Fortsetzung des Krieges eine zivile schon!)
Konfliktlösung stärken. Wir schlagen eine Beendigung
des Krieges durch Deutschland und eine Aufbauhilfe für es geht darum, dass wir dort noch lange, auch über 2014
Afghanistan in drei Schritten vor. hinaus, im zivilen Einsatz sein werden. Es geht um die
Frage, wie – nicht ob – wir einen Abzug der Truppen ge-
Erstens wollen wir die Bundeswehr abziehen. Die stalten,
Kampfverbände könnten bis spätestens Ende Mai 2011
abgezogen sein, und den letzten Bundeswehrsoldaten (Zuruf von der LINKEN: Ja, schnell!)
könnten wir bis spätestens Ende September 2011 abge-
zogen haben. ohne einen neuen Bürgerkrieg heraufzubeschwören und
eine ganze Region erneut zu destabilisieren. Das ist die
(Beifall bei der LINKEN) Frage, der sich der Deutsche Bundestag hier zu stellen
hat.
Zweitens fordern wir eine massive Unterstützung der
zivilen Strukturen. Es geht um die Bekämpfung von Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mut, die Förderung von Bildung, die Gleichstellung von sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Frauen und andere wichtige Menschenrechte. der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9891
Jürgen Trittin
(A) Deswegen müssen heute auch diejenigen für eine befris- promiss rote Linien geben, was Rechtsstaatlichkeit, (C)
tete internationale Präsenz sein, die die Entsendung nicht Menschen- und Frauenrechte angeht.
befürwortet haben. Diejenigen, die die Entsendung be-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
fürwortet haben, müssen sich heute mit der Frage befas-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
sen, wie man einen Abzug verantwortlich organisiert;
genau darum geht es. Es kann nicht sein, dass man einen Friedensprozess um
jeden Preis durchführt, und am Ende zahlen den Preis
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
die afghanischen Frauen. Das kann nicht sein.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zum Mandat der Bundesregierung kann ich nur sa-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
gen: Sie haben sich erfolgreich um den Titel „König des
Konjunktivs“ beworben. Auch dazu findet sich in diesem Mandat nur Allgemei-
nes.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wenn „König“ mal reicht!) Ich sage Ihnen: Wir streiten nicht darüber, dass ein
Sofortabzug nicht geht. Wir streiten nicht darüber, dass
Sie konnten bis heute keinen im Hinblick auf Aufbau,
es richtig ist, dass Soldatinnen und Soldaten unter gro-
Zeit und materielle Ziele konkretisierten Plan vorlegen.
ßen Gefahren weiterhin im Auftrag der Vereinten Natio-
Ihre Formulierung besagt, dass es vielleicht zum Abzug
nen dort präsent sind; das ist nicht der Streit, den wir ha-
kommt, vielleicht auch nicht. Damit ermöglichen Sie
ben. Wir streiten darüber, dass Sie in Ihrem Mandat nicht
Spekulationen und Wetten – übrigens auch bei den Kon-
definieren, was Sie in welchem Zeitraum in Afghanistan
fliktparteien in Afghanistan –, dass man vielleicht doch
erreichen wollen und wie lange diejenigen, die dort in
ein bisschen länger bleibe und man sich deswegen im
äußerster Gefahr ihren Kopf hinhalten müssen, dieses
Friedensprozess nicht so sehr anstrengen müsse, schnell
noch tun müssen.
zu einer politischen Lösung zu kommen.
Herr Bundesverteidigungsminister, das kann Ihnen als
Ich verstehe es nicht, Herr Westerwelle, Herr zu
oberstem Dienstherrn doch nicht wirklich, wie Sie ge-
Guttenberg – Sie legen sonst Wert auf Schneidigkeit und
sagt haben, wurst sein.
Eindeutigkeit –: Wieso sind Sie nicht zu einer so klaren
Sprache in der Lage wie der amerikanische Präsident? Er (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
hat in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt: Wurscht!)
And this July, we will begin to bring our troops Es ist nicht wurscht, wenn man dort täglich seinen
home. Dienst verrichten muss. Es ist nicht wurscht, wenn man
(B) (D)
unter diesen Gefahren dort tätig sein muss. Aber wenn
Punkt! Kein Konjunktiv, kein „if”, gar nichts! Ich er-
man das tut, weil man das für einen ernsten Auftrag hält
warte von der Bundesregierung, dass sie hier ein Mandat
und seinen Job ernst nimmt, dann hat die politische Füh-
mit dieser Klarheit und Eindeutigkeit vorlegt, nicht ein
rung in diesem Land die verdammte Pflicht und Schul-
Mandat mit Tausend Hintertüren, wie Sie es heute vorge-
digkeit, denjenigen, die dort im Dienst sind, eine klare
legt haben.
zeitliche Perspektive zu geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie wissen sehr wohl, dass es NATO-Partner gibt, die
Das ist verantwortliche Führung und nicht Wurschtigkeit
sehr konkrete Abzugsdaten vorgelegt haben; das gilt für
im adeligen Sinne.
verschiedene unserer Nachbarn. Ich frage Sie: Was kön-
nen die, was Sie nicht können? Meine Damen und Herren, Sie haben hier keinen Auf-
bau- und keinen Abzugsplan vorgelegt. Sie haben im
Es gibt einen zweiten Punkt. Die Bemühungen um
Kern keinen Plan. Sie laufen der Entwicklung einfach ir-
eine Stabilisierung und das Finden einer politischen Lö-
gendwie hinterher. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie
sung, eines Kompromisses dürfen sich nicht gegenseitig
denjenigen, die dort als zivile Aufbauhelfer, als Polizei-
konterkarieren. Aber die Strategie, auf der einen Seite
ausbilder, als Soldatinnen und Soldaten tätig sind, Klar-
darauf zu setzen, mit den Taliban und anderen Aufstän-
heit über die Perspektive geben. Wir erwarten auch, dass
dischen einen Kompromiss zu finden, und auf der ande-
Sie den Menschen klar sagen, dass dies keine Perspek-
ren Seite ein „Capture or Kill“ zu praktizieren, ist in sich
tive ist, die mit dem Abzug und der Beendigung der mi-
widersprüchlich. Sie konterkariert sich und muss been-
litärischen Kampfhandlungen 2014 endet, sondern dass
det werden.
es eine internationale zivile Präsenz in Afghanistan auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) über 2014 hinaus geben wird und wir nicht den Fehler
wiederholen werden, an dieser Stelle zu sagen: Dieses
Auch dazu finde ich in dem Mandat nichts.
Land ist uns jetzt egal geworden.
Ja, wir müssen den zivilen Aufbau voranbringen. Wir
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
müssen einen politischen Kompromiss finden. Aber,
NEN]: Wurscht!)
meine Damen und Herren, eine Verhandlungslösung
kann nicht losgelöst von Kriterien gefunden werden. Es Das erwarten wir von Ihnen. Aber diese Klarheit finden
muss auch bei einem so schwierigen politischen Kom- wir in Ihrem Mandat nicht
9892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Jürgen Trittin
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/ (C)
sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul CSU])
[SPD])
weiterhin engagiert und weiterhin mit einem klaren Kon-
Deswegen sagt die Mehrheit meiner Fraktion zwar zept. Die christlich-liberale Bundesregierung hat dieses
nicht Nein zur Präsenz der Soldatinnen und Soldaten klare Konzept, und sie hat bei der Londoner Konferenz
dort. Aber wir können Ihrem schwammigen Mandat der Einfluss gewonnen. Der Schutz der afghanischen Bevöl-
Konjunktive nicht zustimmen. kerung steht ebenso im Vordergrund wie die Ausbildung
der afghanischen Sicherheitskräfte unter dem Leitmotiv
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Übergabe in Verantwortung“. Diese Übergabe in Ver-
antwortung muss von der afghanischen Regierung aber
Präsident Dr. Norbert Lammert: meines Erachtens noch viel stärker als Übernahme der
Das Wort erhält der Kollege Henning Otte für die Eigenverantwortung verinnerlicht werden. Dazu ist es
CDU/CSU-Fraktion. notwendig, den Druck auf die Karzai-Regierung zu er-
höhen, Korruptionsbekämpfung oder den Aufbau einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unabhängigen Justiz voranzubringen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Henning Otte (CDU/CSU): neten der FDP)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich bin unserer Bundesregierung sehr dankbar dafür,
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der dass sie im vorliegenden Antrag deutlich den Willen
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des ISAF- zum Ausdruck bringt, jeden sicherheitspolitisch verant-
Mandats in Afghanistan ist ein richtiger, ein notwendiger wortbaren Spielraum nutzen zu wollen, um möglichst ab
und für unsere Soldaten ein gefährlicher Einsatz. Die 2011 mit dem Abzug zu beginnen. Aber, Herr Trittin, es
heutige Entscheidung zur Verlängerung des Mandates ist genauso richtig, dass deutlich wird, dass eine solche
macht sich niemand von uns leicht. Es ist notwendig, Reduzierung nicht zu einer Gefährdung der bisherigen
den von Rot-Grün im Jahre 2001 begonnenen Weg, das Erfolge, nicht zu einer Gefährdung der hilfsbedürftigen
Land Afghanistan vom Terrorismus zu befreien und zi- Menschen vor Ort und nicht zu einer Gefährdung der Si-
vile friedliche Strukturen zu etablieren, fortzusetzen, um cherheit unserer Soldaten führen darf.
ihn zu einem Erfolg zu führen. Das Ziel dieses Einsatzes
ist, das Land Afghanistan zu stabilisieren und damit Hier gibt es einen offenen Dissens in diesem Haus.
auch die Sicherheit Deutschlands zu stärken. CDU/CSU, FDP und SPD stehen zu dieser Verantwor-
tung. Die Grünen, Herr Trittin, wollen mit ihrem Ent-
(B) Die afghanische Regierung hat sich verpflichtet, ab schließungsantrag einen für die Taliban nachvollziehba- (D)
2014 eine selbsttragende Sicherheit zu erreichen. Dazu ren Plan des Abzugs haben. Wer – wie die Grünen – ein
wollen wir mit der Verlängerung dieses Mandates einen bisschen zustimmt, sich ein bisschen enthält, aber meis-
Beitrag leisten. Es ist ehrlich, zu sagen, dass sich der tens dagegen stimmt, der erweckt den Eindruck, er laufe
Einsatz weitaus schwieriger gestaltet, als dies zu Beginn Umfragewerten nach, schadet dem Ansehen Deutsch-
im Jahr 2001 von Rot-Grün vermutet wurde. Die Intensi- lands in der Welt und gefährdet die Sicherheit unserer
tät der Einsätze ist vielleicht sogar unterschätzt worden, Soldatinnen und Soldaten.
die politischen Ziele sind bestimmt überschätzt worden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Jetzt, über neun Jahre später, sind ein klarer Blick, Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
eine ehrliche Beurteilung der Lage vor Ort und eine re- GRÜNEN]: Jetzt kommt es aber echt dicke!)
alistische Betrachtung der Perspektiven gefragt. Die
Lage in Afghanistan ist nicht zufriedenstellend. Aber Präsident Dr. Norbert Lammert:
vieles hat sich in Afghanistan bisher verbessert: Infra-
Herr Kollege Otte, einen Augenblick. – Gestatten Sie
struktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, das zivile Le-
eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
ben, insbesondere für Frauen und für Kinder. Wer das
verneint, war noch nicht in diesem Land oder ignoriert (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP:
diesen Fortschritt. Herr Gysi, wenn Sie von Herrn Trittin Nein!)
zurechtgewiesen werden, dann müssen Sie sich schon
einmal selbst fragen, wie verwirrt Sie in Ihrer Vorstel- Henning Otte (CDU/CSU):
lung sind. Nein. Herr Ströbele sollte erst einmal versuchen, in
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der eigenen Fraktion zu Wort zu kommen.
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNEN – Lachen bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, es sind unsere Soldatinnen
Wer jetzt einen sofortigen oder voreiligen Abzug for- und Soldaten, die einen gefährlichen Auftrag für unser
dert, der gefährdet die erreichten, ja erkämpften Erfolge Land erfüllen müssen. Sie verdienen für ihren tapferen
und gefährdet Menschenleben und eine friedliche Per- Einsatz im Kampf in diesem Krieg in Afghanistan un-
spektive. Daher muss dieser Einsatz fortgesetzt werden, sere volle Rückendeckung. Sie brauchen das notwendige
nicht auf Dauer, sondern mit einer realistischen Abzugs- Gerät, die richtige Ausbildung sowie eine angemessene
perspektive, und richtige Versorgung im Einsatz und nach dem Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9893
Henning Otte
(A) satz. Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe hat hierzu einen An- Teilen des Landes, in denen das heute schon möglich ist, (C)
trag zur Verbesserung der Einsatzversorgung auf den ein Waffenstillstand verkündet und eingehalten wird,
Weg gebracht.
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Warum ist das
Auch Soldatinnen und Soldaten aus meinem Bundes- möglich?)
land, nämlich Angehörige der 1. Panzerdivision, sind in die Soldaten der Bundeswehr mehr in Gefahr bringt als
Afghanistan. Ich bin unserem Verteidigungsminister, die Fortführung des Krieges?
Herrn zu Guttenberg, auch dafür sehr dankbar, dass er
auf Einladung unseres Ministerpräsidenten David Ich habe vorgestern im Auswärtigen Ausschuss den
McAllister diese Kameradinnen und Kameraden in einer Außenminister gefragt, wie er zu der Zuversicht kommt,
Feierstunde in den Einsatz entsandt hat und damit wieder dass die Sicherheitssituation in Afghanistan in einem
einmal ein deutliches Zeichen der Verbundenheit zum Jahr besser sein wird und dass in vier Jahren die Situa-
Ausdruck gebracht hat. tion in Afghanistan gut sein wird. Er hat mir darauf
keine Antwort gegeben.
Lieber Herr Gabriel, wer meint, in einer solchen De-
batte um eine Mandatsverlängerung hier im Plenum ak- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)
tuelle Vorwürfe in die Diskussion einbringen zu sollen, Die Erfahrungen der letzten Jahre, in denen die Sicher-
sollte bedenken, dass man solche Äußerungen nicht mit heitssituation in Afghanistan Jahr für Jahr schlechter ge-
Kalkül, sondern mit Bedacht tätigen sollte. Ich hielt es worden ist, zeigen doch, dass diese Zuversicht überhaupt
nicht für angemessen, dass Sie uns heute diese Diskus- nicht gerechtfertigt ist und es dafür keine entsprechen-
sion um aktuelle Vorwürfe aufzwingen wollten. Es ist, den Fakten gibt. Deshalb konnte der Außenminister auch
wie ich finde, vielmehr wichtiger, dass wir unseren Sol- keine nennen.
daten mit dem zur Entscheidung stehenden Parlaments-
auftrag eine klare Rückendeckung geben und ihnen das Ich appelliere heute an Sie, den Krieg nicht fortzuset-
volle Vertrauen für ihren schweren Auftrag aussprechen. zen. Deutschland ist zu einer kriegführenden Nation ge-
Sie stehen ein für unser Land. Sie verdienen unsere Un- worden,
terstützung. Deswegen stimmt die CDU/CSU-Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
tagsfraktion dieser Mandatsverlängerung zu. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) glaublich!)
und diese Bundesregierung führt Krieg in Afghanistan.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Das heißt, wir haben eine kriegführende Kanzlerin und
(B) Nächster Redner ist der Kollege Djir-Sarai für die einen kriegführenden Verteidigungsminister, also einen (D)
FDP-Fraktion. Bevor ich Ihnen, Herr Djir-Sarai, aller- Kriegsminister.
dings das Wort gebe, darf ich Sie einen Augenblick um (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
Geduld bitten. Der Kollege Ströbele hatte unmittelbar im [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie kriegen von Ih-
Anschluss an die Rede des Kollegen Otte um die Mög- rer eigenen Fraktion keine Redezeit mehr!)
lichkeit einer Kurzintervention gebeten. Das sollten wir
dann auch sofort abwickeln.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön. Das Wort hat nun der Kollege Djir-Sarai für die FDP-
Fraktion.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
GRÜNEN):
Herr Kollege, Sie haben leider meine Zwischenfrage Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
nicht zugelassen, nachdem Sie davon gesprochen haben, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
dass das, was wir wollen, die Soldaten in Afghanistan in ren! Seitdem dieses Haus vor fast zehn Jahren das erste
Gefahr bringt. Mal das ISAF-Mandat beschlossen hat, hat sich vieles in
Afghanistan verändert: Mehr als 13 000 Kilometer Stra-
Ich stelle fest, dass Sie hier und heute einem Mandat
ßen wurden gebaut, es wurde in die Infrastruktur inves-
zustimmen wollen, was für Afghanistan bedeutet, dass
tiert, es wurden Schulen gebaut, die medizinische Ver-
der Krieg ein Jahr fortgesetzt wird – mit einer sicheren
sorgung und die Energieversorgung wurden verbessert.
Option für weitere drei Jahre. Im letzten Jahr, im Jahr
Dies alles sind Erfolge für die Menschen in Afghanistan.
2010, hat dieser Krieg weit über 10 000 Opfer in Afgha-
Durch den tagtäglichen Einsatz der Bundeswehr und der
nistan gekostet; weit über 10 000 Menschen wurden in
Entwicklungsexperten am Hindukusch ist vieles besser
diesem Krieg getötet. Wenn Sie diesen Krieg jetzt zu-
geworden.
nächst um ein Jahr und danach noch einmal um drei
Jahre verlängern, nehmen Sie billigend in Kauf, dass Ein wesentlicher Pfeiler unserer Strategie ist und
weitere Zehntausende von Menschen in Afghanistan im bleibt daher der zivile Aufbau. Minister Niebel hat in
Krieg umkommen. Da frage ich Sie und auch alle ande- seiner Regierungserklärung die Erfolge speziell auf die-
ren, die jetzt zustimmen wollen: Wollen Sie das wirklich sem Gebiet deutlich herausgestellt. Es ist ein großer Er-
in Kauf nehmen, und wollen Sie weiter behaupten, dass folg, dass sich die Situation für die Bevölkerung in Af-
eine Beendigung des Krieges in der Form, dass in allen ghanistan, speziell für Frauen und Kinder, deutlich
9894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Dr. Bijan Djir-Sarai


(A) verbessert hat. Das alles ist erst durch den internationa- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
len Einsatz möglich geworden. Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Während dieses Einsatzes waren und sind wir uns zu
jeder Zeit unserer Verantwortung bewusst: der Verant-
wortung gegenüber unseren fleißigen und tapferen Sol- Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
daten, der Verantwortung gegenüber den Menschen in Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Afghanistan und gegenüber der deutschen Bevölkerung. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die
Linke: Es ist schon erstaunlich, dass hier nicht der kom-
Wir als Parlamentarier haben mehrheitlich immer ver- munistische Wolf gesprochen hat, sondern der Schafs-
antwortungsvoll auf die Entwicklungen in Afghanistan pelz.
reagiert. Wir haben uns ausführlich mit unseren interna-
tionalen Verbündeten und mit den Afghanen beraten, sei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
es in London, in Kabul oder in Lissabon. Dabei haben der FDP – Lachen bei Abgeordneten der LIN-
wir wichtige Strategien zur Stabilisierung Afghanistans KEN)
und zur globalen Sicherheit entwickelt.
Ich möchte einige außenpolitische Aspekte beleuch-
Uns ist eines besonders wichtig: In Afghanistan wer- ten und klarstellen, warum wir von der Union das Man-
den wir keinen Erfolg haben, wenn wir nur einen militä- dat auch aus außenpolitischer Sicht in vollem Umfang
rischen Ansatz verfolgen. Neben dem zivilen Aufbau ist unterstützen.
es deshalb ganz besonders wichtig, den Einsatz politisch
zu begleiten, also politische Lösungen zu entwickeln. Die Kollegen Schockenhoff und Ruck und ich waren
Politische Lösungen bedeuten vor allem Gespräche und vor zwei Wochen in Afghanistan und Pakistan. Wir ha-
Verhandlungen, und zwar auch unter der konsequenten ben in beiden Ländern mit Parlamentariern und Parla-
Einbindung der Nachbarländer Afghanistans. Eine Stabi- mentspräsidenten gesprochen. Sie haben uns gegenüber
lisierung Afghanistans ist ohne den Dialog mit der ge- große Erwartungen, aber auch Befürchtungen geäußert.
samten Region nicht möglich. Je besser die politische, In beiden Ländern wurde die Sorge zum Ausdruck ge-
wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive der Re- bracht, dass wir bis 2014 komplett abziehen könnten.
gion ist, desto besser sind die Aussichten auf nachhaltige Wir haben deutlich gemacht: Wir werden vielleicht
Stabilität in Afghanistan. – hoffentlich! – mit den Kampftruppen bis 2014 aus
Afghanistan abgezogen sein; aber keiner weiß, wie sich
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das entwickelt. Vor einem Jahr wussten wir auch noch (D)
der CDU/CSU) nicht, wie gut unsere neue Strategie innerhalb eines Jah-
Weil wir das wollen, arbeiten wir daran, die notwendi- res greifen würde. Deshalb gilt es, nicht einen Abzugs-
gen politischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. plan zu erarbeiten, sondern, auch nach Afghanistan und
Pakistan, verbindliche Zeichen zu geben: Wir arbeiten
Bei der heutigen Entscheidung geht es nicht um eine daran; wir lassen euch und die Region nicht im Stich.
Einsatzverlängerung, wie wir sie in den letzten Jahren
beschlossen haben. Das muss ganz deutlich herausge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
stellt werden. Dieses Mal entscheidet dieses Haus über der FDP)
ein Mandat mit einer klaren Abzugsperspektive und vor Ein wichtiger Aspekt ist, dass – auch das ist ein hoff-
allem mit einer klaren Perspektive für die Zeit nach nungsfrohes Zeichen – die zivil-militärische Zusammen-
2014. Ich begrüße die Einschätzung der Bundesregie- arbeit im Norden, in Masar-i-Scharif und in Kunduz, in
rung, dass schon Ende 2011 mit der Reduzierung der
beeindruckender Weise funktioniert. Das wurde uns von
Kampftruppen begonnen werden kann, wenn die Sicher-
den Beteiligten, auch von den Nichtregierungsorganisa-
heitslage dies zulässt. Diese Perspektive hat die Bundes-
regierung entwickelt. tionen, in umfassender Weise bestätigt. Das ist gut, und
es zeigt, wie konstruktiv sich die Zusammenarbeit ent-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der wickelt hat und wie eng wir mit der afghanischen Seite
CDU/CSU) zusammenarbeiten.
Klar ist aber auch, dass zunächst weiteres militärisches Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht mir um zwei
Engagement benötigt wird, um den zivilen Aufbau wei- wichtige Punkte: zum einen um die innerafghanische
ter abzusichern und um in Afghanistan kein Vakuum zu Perspektive, zum anderen um einen regionalen Aspekt.
hinterlassen. Das ist wichtig für die afghanische Bevöl- Zur innerafghanischen Perspektive. Die Übergabe in
kerung und für unsere Soldaten im Einsatz. Verantwortung ist ein von Afghanistan selbstbestimmter
Prozess. Wir können Afghanistan nur ermutigen und die
Wir haben ein klares Ziel, wir haben die Sicherheits-
Rahmenbedingungen schaffen. Es ist ein hoffnungsfro-
lage fest im Blick, und wir haben eine gute Perspektive.
Für mich ist daher klar: Die Voraussetzungen für eine hes Zeichen, dass die Afghanen die Agenda für die Bon-
breite Zustimmung zu diesem Mandat sind gegeben. ner Konferenz selbst erarbeiten.

Herzlichen Dank. Wie die Afghanen den innerafghanischen Dialog ge-


stalten, ist ihre Sache. Sicherlich gelten dabei aus unse-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rer Sicht rote Linien, zum Beispiel Anerkennung der af-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9895
Roderich Kiesewetter
(A) ghanischen Verfassung, Gewaltverzicht, Abschwören Drittens. Wir wollen uns nicht an Zeitplänen orientie- (C)
der al-Qaida, aber auch Schutz der Frauen und Minder- ren, sondern an den verantwortbaren Schritten der Über-
heiten. Den Verlauf des innerafghanischen Prozesses gabe. Hier müssen wir die Afghanen ermutigen und be-
aber müssen die Afghanen selbst gestalten; wir können stärken, aber auch darauf achten, dass Punkte wie
sie nur unterstützen. Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung noch
mehr im Fokus der afghanischen Politik stehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Wir müssen auch darauf achten, dass sich die Taliban
nicht weiter radikalisieren. Dass wir an dieser Stelle mit- Viertens. Das zivil-militärische Engagement muss ge-
helfen, ist ganz entscheidend. Wichtig ist, dass unser stärkt werden. Die Bundeswehr sichert das ab.
Mandat das Zeichen gibt: Die Übergabe in Verantwor- Die afghanische Regierung muss ihre Verpflichtun-
tung muss unumkehrbar und durchhaltefähig sein. gen erfüllen. Darauf müssen wir auch immer wieder
drängen. Wir sind nicht zum Selbstzweck da, sondern
Der zweite wichtige Punkt, den ich hier ansprechen wir sind da, weil die afghanische Regierung das
möchte, ist die regionale Perspektive. Die Abgeordneten wünscht, und wir sind so lange da, bis die afghanische
in Pakistan haben parteiübergreifend berichtet, dass sie Regierung es alleine kann. Deshalb müssen wir auch die
bilaterale Gespräche mit den indischen und den afghani- innerstaatliche Aussöhnung beflügeln und den trilatera-
schen Parlamentariern führen. Wir, insbesondere len Dialog mit Pakistan und Indien fördern. Ich appel-
Dr. Schockenhoff, hat sie ermutigt, einen trilateralen liere an dieser Stelle auch an Indien, dass es gegenüber
Dialog zu beginnen. Die Pakistanis wollen das aufgrei- Pakistan seine Beziehungen zu Afghanistan wesentlich
fen. Was könnte ein schöneres Zeichen sein, als dass aus transparenter darstellt, um auch dort mehr Vertrauen zu
der Region heraus ein trilateraler Dialog entsteht und schaffen.
vielleicht so etwas wie eine regionale Kooperation über
die Parlamente geschaffen wird? Jedenfalls sollten wir Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Ziel
hier die deutsch-pakistanische Freundschaftsgruppe des ist die selbstverantwortete Sicherheit möglichst ab 2014.
pakistanischen Parlaments, die das will, intensiv unter- Wenn uns das gelingt, ist das ein Riesenerfolg. Wir kön-
stützen. nen heute aber noch nicht absehen, wie sich die Lage bis
2014 entwickeln wird. Was wir im letzten Jahr erlebt ha-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben, ist ermutigend. Wir müssen so weitermachen und
neten der FDP) unserer Bevölkerung das Zeichen geben, dass wir ge-
(B) meinsam daran arbeiten. Das wissen dann auch unsere (D)
Allein schon deshalb, weil wir diesen regionalen Dia-
Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfer im Einsatz
log fördern wollen, dürfen wir nicht abziehen. Wir müs-
zu schätzen.
sen vielleicht unseren Ansatz ändern und den zivilen
Aufbau stärken. Wir müssen auch Bedingungen dafür Ganz herzlichen Dank.
schaffen, dass mehr zivile Aufbauhelfer tätig werden
können; dazu werden wir heute in der Debatte über zi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vile Krisenprävention noch etwas hören. Aber an all die
Skeptiker in Bezug auf den Einsatz und die Verlänge- Präsident Dr. Norbert Lammert:
rung appelliere ich: Denken Sie darüber nach, dass wir Letzter Redner ist der Kollege Florian Hahn für die
mit unserem Einsatz die Voraussetzungen dafür schaf- CDU/CSU-Fraktion.
fen, dass der innerstaatliche Dialog in Afghanistan und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der regionale Dialog gestärkt werden!
neten der FDP)
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für die Kon-
taktgruppe brechen. Dank unserem Botschafter Steiner Florian Hahn (CDU/CSU):
ist jetzt auch Iran Mitglied der Kontaktgruppe. Damit Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
sind es nun insgesamt bereits 14 islamische Staaten. Das nen und Kollegen! Es ist mir absolut unverständlich,
nächste Treffen wird in der islamischen Welt, nämlich in dass in Talkshows, in Diskussionsrunden und auch von
Dschidda, stattfinden. Das ist ermutigend, weil es ein einem kleinen Teil hier in diesem Hohen Hause immer
Zeichen dafür ist, dass sich die islamische Welt an dem wieder behauptet wird, dass die afghanische Bevölke-
Dialog beteiligt. rung den sofortigen Abzug der internationalen Truppen
möchte. Diese Behauptung ist entweder naiv oder vor-
Lassen Sie mich abschließend noch einmal die Kern- sätzlich falsch.
botschaften unserer Fraktion darstellen:
(Zuruf von der LINKEN): Oder richtig!)
Erstens. Wir wollen kein Machtvakuum und kein Si-
cherheitsvakuum, das bei einem vorschnellen Ende des Ich weiß nicht, mit wem diese Leute gesprochen ha-
Engagements entstehen würde. ben, aber ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich geführt
habe und führe, beispielsweise mit einem jungen Afgha-
Zweitens. Wir wollen die Übergabe in Verantwor- nen, der in Kunduz bei den Parlamentswahlen kandidiert
tung, wie sie international abgestimmt ist, zu einem er- hat und mit dem ich in einem regen Austausch stehe,
folgreichen Ende führen. dass die Afghanen vor allem Angst vor einem haben,
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Florian Hahn
(A) nämlich davor, dass sie den Schutz der internationalen Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig. (C)
Gemeinschaft von heute auf morgen verlieren und am Wir können nicht hundertprozentig voraussagen, ob wir
Ende wieder völligem Chaos, Terror und Unterdrückung das Ziel erreichen werden. Aber eines ist für mich völlig
ausgesetzt sind. klar: Der jetzige Weg des vernetzten Ansatzes ist der
einzig gangbare. Ein zu schneller und unüberlegter Ab-
Ich glaube nicht, dass jemand ernsthaft der Meinung zug würde das bisher Erreichte wieder zunichtemachen.
sein kann, dass sich die Frauen, die unter den Taliban Das ist weder im Interesse der afghanischen Bürger noch
komplett entrechtet waren, diese wieder zurückwün- in unserem Interesse. Denn von Afghanistan darf keine
schen. Ich glaube auch nicht, dass die Afghanen wollen, Gefahr mehr für uns und die internationale Gemein-
dass ihre Schulen wieder geschlossen werden. Sie wol- schaft ausgehen. Das wollen wir mit dem Einsatz am
len Bildung, sie wollen natürlich eine Gesundheitsver- Hindukusch für uns erreichen.
sorgung, Wasser- und Stromversorgung, und sie wollen
am Ende des Tages Frieden und Freiheit und in ihrer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Kultur dieses leben. der FDP)

Es gibt viele Beispiele dafür, wie sich die Situation Das Engagement, das alle militärischen und zivilen
der Bevölkerung in Afghanistan durch diesen Einsatz in Kräfte tagtäglich zeigen, hat unsere vollste Wertschät-
den letzten Jahren verbessert hat. Wir haben hier aus- zung und breite Unterstützung verdient. Mir ist dabei im
führlich darüber gesprochen. Diese Erfolge wollen wir Zweifel die entrüstete Zustimmung der SPD, wie es der
in keinem Fall preisgeben, sondern stabilisieren und aus- Kollege Stinner letzte Woche trefflich formuliert hat, lie-
bauen. Gelingen kann uns dies derzeit aber nur durch un- ber als die zustimmende Ablehnung oder Enthaltung der
sere militärische Absicherung. Ohne diese würde das Er- meisten Grünen.
reichte schnell wieder in sich zusammenfallen, und die Sie haben vorhin mehr Klarheit gefordert, Herr
Aufständischen würden wieder die Oberhand gewinnen. Trittin. Ihre Haltung bzw. die Haltung Ihrer Partei zur
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Mandatsverlängerung ist nicht klar. Viele enthalten sich,
der FDP) die einen sagen Nein, die anderen Ja. Was ist denn mit
der klaren Haltung der Grünen? Nicht zuletzt die Solda-
Dennoch muss unser Ziel die schrittweise Übergabe ten wollen auch wissen, wie Ihre klare Haltung aussieht.
in Verantwortung sein. Dies machen wir im Mandat
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
deutlich.
der FDP)
Für den zivilen Aufbau verwenden wir viel Geld – bis Sie fordern einen genauen Plan für die zukünftige
(B) zu 430 Millionen Euro jedes Jahr. Diese Mittel müssen Entwicklung in Afghanistan. Wo war denn der genaue, (D)
zielgerichtet und nachhaltig eingesetzt werden. Nachhal- klare Plan für den Abzug, als Sie in den Einsatz gegan-
tigkeit bedeutet hier für mich Hilfe zur Selbsthilfe in gen sind? Sie sind doch in diesen Einsatz gegangen.
Afghanistan. Bei den geförderten Projekten muss es pri-
mär darum gehen, die afghanische Bevölkerung in die Wir haben jetzt einen klaren Plan, zum Beispiel für
Lage zu versetzen, ihr Land selbst aufzubauen und das den Aufbau der Sicherheitskräfte in Afghanistan. Wenn
jeweilige Projekt mittelfristig selbstständig zu führen. wir diese Meilensteine erreichen, dann können wir auch
Die Menschen müssen ein Interesse daran haben, das, Schritt für Schritt die Verantwortung übergeben und
was sie selbst aufgebaut haben, auch dauerhaft zu erhal- ebenfalls Schritt für Schritt aus Afghanistan abziehen.
ten. Hier müssen wir noch mehr Anreize schaffen.
Für unsere Soldaten im Einsatz ist es wichtig, dass
Nehmen wir hier einmal das Beispiel Sicherheits- wir ihnen die notwendige und verdiente Rückendeckung
kräfte und stellen wir uns die Frage: Wie können wir geben. Stimmen Sie für diese Mandatsverlängerung! Un-
personelle Fluktuation und Korruption in diesem Be- seren Soldatinnen und Soldaten und allen Einsatzkräften
reich eindämmen? Meines Erachtens sollten wir weg wünsche ich bei ihrem Tun Gottes Segen.
von der rein monetären Entlohnung der Sicherheitskräfte Herzlichen Dank.
und mehr hin zu einem nachhaltigen Leistungspaket
kommen. Damit meine ich, dass neben pünktlicher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lohnzahlung weitere Anreize geschaffen werden, bei-
spielsweise durch die Bereitstellung von Wohnraum mit Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wasser- und Stromversorgung und durch den Zugang zu Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Heike
Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen für die ganze Hänsel das Wort.
Familie in einem sicheren Umfeld.
Ist ein Polizist in einem solchen System korrupt, dann Heike Hänsel (DIE LINKE):
verliert er diesen Status und diese Privilegien. Dies ist Danke schön, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr
wesentlich schmerzhafter als nur der Verlust eines Mo- Kollege Hahn, Sie haben wie sämtliche Vorredner ein-
natsgehalts, das er sich im Zweifel dann woanders be- schließlich Herrn Trittins gesagt, die NATO würde die
sorgt. Dieser Ansatz ist in zweierlei Hinsicht nachhaltig Lebenssituation der Menschen in Afghanistan verbes-
und sinnvoll. Auf der einen Seite entstehen Loyalitäten sern. Deshalb frage ich Sie: Würden Sie erstens zur
zum Staat. Auf der anderen Seite wird wichtige Infra- Kenntnis nehmen, dass der Einsatz von Streubomben,
struktur aufgebaut. von weißem Phosphor, dass gezielte Tötungen, Entfüh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9897
Heike Hänsel
(A) rungen und die Vorfälle in Abu Ghureib keine Verbesse- wenn die Urnen besetzt sind? – Das ist offensichtlich der (C)
rung der Lebenssituation der Menschen darstellen, son- Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
dern dass sie das als Terror wahrnehmen? Würden Sie
Gibt es noch eine Kollegin oder einen Kollegen, die
zweitens zur Kenntnis nehmen, dass Sie in Afghanistan
bzw. der ihre bzw. seine Stimmkarte nicht abgegeben
ein Warlord-System mit Kriegsverbrechern in wichtigen
hat? – Das ist nicht erkennbar. Dann schließe ich die Ab-
Funktionen aufbauen, die jahrzehntelang das Land terro-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
risiert haben
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt.2)
Wer hat denn Milosevic getroffen?) Ich darf Sie nun bitten, wieder Platz zu nehmen, weil
und die Menschen genauso bedrohen wie zuvor die Tali- wir eine Reihe weiterer Abstimmungen und anschlie-
ban, ßend, wie Sie wissen, einen Wahlgang durchzuführen
haben. – Könnten Sie, Herr Kollege Solms, mir viel-
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: leicht behilflich sein, den Fanclub, der sich um Sie he-
Unglaublich!) rum versammelt hat, und Sie, Frau Kollegin Ernstberger,
auch Ihren Freundeskreis auf die noch hinreichend vor-
und dass sie sich deswegen gegen dieses System wehren,
handenen Sitzplätze zu verteilen? – Herr Kollege
das Sie dort installieren? Mohammed Atta, der Gouver-
Kauder, können wir jetzt mit den Abstimmungen fort-
neur von Masar-i-Scharif und der Gouverneur von Kun-
fahren?
duz: All das sind Kriegsverbrecher. Die Menschen in
Afghanistan wissen, wie sie mit ihnen umgegangen sind (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bitte!)
und was sie zu verantworten haben. Dass Sie zu denen
– Ich bedanke mich.
beste Beziehungen pflegen, können sie doch nicht gut-
heißen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich rufe zunächst den Entschließungsantrag der SPD-
Wir haben eine afghanische Delegation von zehn Per- Fraktion auf der Drucksache 17/4563 auf. Wer stimmt
sonen eingeladen. Sie sollten einmal hören, was diese für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-
Menschen zu berichten haben. – Ich komme zum gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Entschlie-
Schluss. – Ich habe gestern den Auswärtigen Ausschuss, ßungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
den Entwicklungsausschuss und den Menschenrechts-
ausschuss eingeladen, sich anzuhören, was die Afgha- Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
(B) ninnen und Afghanen zu sagen haben. Es ist bis auf den Linke auf der Drucksache 17/4564 auf. Wer stimmt für (D)
Kollegen Leibrecht niemand gekommen. Das empfinde diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
ich wirklich als beschämend. Sie haben kein Interesse an Enthaltungen? – Damit ist dieser Entschließungsantrag
der Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung. ebenfalls mit Mehrheit abgelehnt.
(Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/4585.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
Präsident Dr. Norbert Lammert: stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme enthal-
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich ten? – Auch dieser Entschließungsantrag hat keine
schließe damit die Aussprache. Mehrheit gefunden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der
Drucksache 17/4561 zum Antrag der Bundesregierung Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterla-
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali-
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- gen Deutschen Demokratischen Republik
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung Bevor ich den Wahlgang aufrufe, bitte ich einen Au-
der NATO. Zur Beschlussempfehlung des Ausschusses genblick um Aufmerksamkeit für einige Bemerkungen
liegen mir zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung nach zu diesem Anlass und insbesondere zur amtierenden Be-
§ 31 der Geschäftsordnung vor, die wir dem Protokoll auftragten.
dieser Debatte beifügen.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- genau vor 24 Jahren, am 28. Januar 1987, forderte
lung, den Antrag auf Drucksache 17/4402 anzunehmen. Michail Gorbatschow in seiner Rede „Über die Umge-
Über diese Beschlussempfehlung stimmen wir jetzt staltung und die Kaderpolitik der Partei“ auf dem Ple-
namentlich ab. Ich darf darum bitten, dass Sie darauf num des Zentralkomitees der KPdSU tiefgreifende poli-
achten, ob die Stimmkarten, die Sie verwenden, auch tat- tische Reformen. Perestroika und Glasnost begannen die
sächlich Ihren Namen tragen. Darf ich die Schriftführe- Welt zu verändern. In der DDR ließ das SED-Politbüro-
rinnen und Schriftführer bitten, mir ein Signal zu geben, mitglied und damalige Chefideologe Kurt Hager darauf-

1) Anlagen 2 bis 8 2) Ergebnis Seite 9902 D


9898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) hin verlautbaren – Zitat –: „Würden Sie, … wenn Ihr GRÜNEN – Die Abgeordneten der CDU/ (C)
Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet CSU, der SPD, der FDP und des BÜND-
fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Je- NISSES 90/Die Grünen erheben sich)
des Land wähle seine Lösung. – Er hat recht behalten,
wenn auch anders als erwartet. Ich rufe nun den Wahlgang auf.

Auf den Tage genau drei Jahre nach Gorbatschows Die Bundesregierung hat zum Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema-
Rede, am 28. Januar 1990, tagte in Ostberlin der Zen-
ligen Deutschen Demokratischen Republik Herrn
trale Runde Tisch und beschloss die Vorverlegung der
Roland Jahn vorgeschlagen.
Wahl zur ersten freien Volkskammer auf den 18. März
1990, deren Ergebnis uns schließlich als demokratisch Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren.
gewähltes gesamtdeutsches Parlament zusammengeführt
hat. Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird
der Bundesbeauftragte auf Vorschlag der Bundesregie-
Sehr geehrte Frau Birthler, nach der Wahl des neuen rung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte
Beauftragten endet im März nach über zehn Jahren Ihre der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. Zu sei-
Amtszeit als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des ner Wahl sind also mindestens 312 Stimmen erforder-
Ministeriums der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. lich.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde trägt heute ebenso selbst-
verständlich Ihren Namen wie dies vor einem Jahrzehnt Die blauen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt.
der Name Ihres Vorgängers war. Die verdienstvolle Ar- Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt
beit der Behörde verdankt sich vielen engagierten Mitar- noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten
zu erhalten.
beitern, deren Einsatz ich aus Anlass des Wechsels an
der Spitze ausdrücklich würdigen möchte. Außerdem benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis
aus Ihrem Stimmkartenfach. Bitte achten Sie unbedingt
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Na-
SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE men trägt.
GRÜNEN)
Die Wahl findet offen statt. Sie können die Stimmkar-
Die Behörde braucht wie jede andere – manche mei- ten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, die
nen vielleicht auch, wie keine andere sonst – einen Kopf, mehr als ein Kreuz oder kein Kreuz, andere Namen oder
der dem Thema in der Öffentlichkeit zu der Aufmerk- Zusätze enthalten, sind ungültig.
(B) samkeit verhilft, die es verdient. Ihnen, Frau Birthler, ist (D)
das im vergangenen Jahrzehnt vorbildlich gelungen, mit Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer-
großer Empathie für die Opfer der SED-Diktatur, die ihr fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der
eigenes Schicksal rekonstruieren wollen, und mit der ge- Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an den
botenen Konsequenz in der Sache, wenn es darum ging, Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
Geschichts- und Lebenslügen zu widerlegen. kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.
„Es geht nicht nur um das Schicksal von 17 Millionen
DDR-Bürgern“, haben Sie immer wieder gesagt, „son- Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, da-
dern es geht mit diesem gesamteuropäischen Thema rauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe tatsächlich der
auch um den prinzipiellen Unterschied zwischen Dikta- Wahlausweis übergeben wird.
tur und Demokratie“. Der prinzipielle Unterschied zwi- Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
schen Diktatur und Demokratie, das ist immer Ihr bitten, die vorgegebenen Plätze einzunehmen und mir zu
Thema gewesen. Als ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin signalisieren, wenn alle Wahlurnen besetzt sind. – Das
haben Sie großen Wert darauf gelegt, dass in den Stasi- ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich den Wahl-
akten nicht nur die Rede davon ist, was Menschen einan- gang.
der antun, sondern auch davon, wie großartig sich Men-
schen selbst unter den Bedingungen einer Diktatur Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-
verhalten können, dass man es eben nicht nur mit Quel- glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht
len der Kontrolle und der Repression zu tun hat, sondern abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe
auch mit Zeugnissen der Nichtanpassung, des Mutes und ich den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und
der Zivilcourage. Dies ist ein Aspekt, der als Zukunfts- Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
ressource unserer Zivilgesellschaft noch weit mehr Be- gebnis der Wahl geben wir Ihnen später bekannt.1)
achtung verdient als bisher. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
Sie, liebe Frau Birthler, haben sich um dieses Anlie- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
gen große Verdienste erworben. Wir sind Ihnen dazu zu Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
großem Dank verpflichtet. Für Ihren weiteren Lebens- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
weg wünsche ich Ihnen alles Gute. LINKE
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE 1) Ergebnis Seite 9905 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9899
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Kopfpauschale in der Pflege verhindern – Hu- Sie braucht Pflege und Betreuung. Die Angehörigen sind (C)
mane und solidarische Pflegeabsicherung ge- fast immer überfordert; denn die Mutter läuft nachts ver-
währleisten wirrt allein über die befahrene Straße, um zum Beispiel
einkaufen zu gehen. Wer, werte Kolleginnen und Kolle-
– Drucksache 17/4425 – gen, traut sich denn zu, seine Angehörigen in einer sol-
Überweisungsvorschlag: chen Situation rund um die Uhr zu versorgen? Genau da-
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
rum geht es.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend In solchen Fällen zahlt die Pflegeversicherung fast
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung nichts. Grund ist der enge Pflegebegriff, der allein auf
körperliche Verrichtung abstellt. Ob Pflegebedürftigkeit
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten gegeben ist, richtet sich allein nach der Minutenzahl, die
Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Inge nötig ist für die alltäglichen Verrichtungen wie zum Bei-
Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion spiel Nahrungsaufnahme, das An- und Auskleiden und
DIE LINKE das Waschen.
Umsetzung des neuen Pflegebegriffs (gemäß Es geht hierbei nicht um den speziellen Betreuungs-
dem Bericht des Beirats zur Überprüfung des bedarf eines Menschen, der nachts in seiner Verwirrtheit
Pflegebedürftigkeitsbegriffs) sogar zu seiner eigenen Bedrohung wird. Spätestens an
– Drucksachen 17/2219, 17/3012 – diesem Punkt müsste die Bundesregierung doch einse-
hen, dass die bestehenden Regelungen völlig unzurei-
Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungsan- chend sind.
trag der Fraktion Die Linke vor.
(Beifall bei der LINKEN)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Die Linke wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah- das Prinzip „Still, satt und sauber“.
ren. (Beifall bei der LINKEN)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Die jetzige Pflegeversicherung grenzt Menschen von
nächst der Kollegin Frau Senger-Schäfer für die Fraktion Leistungen aus. Damit muss jetzt endlich Schluss sein.
Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Aber Sie schauen weg und suchen auch aus wahltakti- (D)
schen Gründen nach immer neuen Ausreden. Die Linke
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): will, dass dieses Thema endlich auf die Tagesordnung
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich kommt. Ihre ausweichenden Antworten auf unsere Frage
sage Ihnen: So geht das nicht! Wer gute Pflege benötigt, lassen nun verschiedene Schlussfolgerungen zu.
muss in jedem Fall, egal ob arm oder reich, sehr gute
Qualität erhalten. Erstens. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat gar
keine Ahnung, wie sie den neuen Pflegebegriff umsetzen
(Beifall bei der LINKEN) will.
Das sieht die Mehrheit der Menschen in diesem Land Zweitens. Vielleicht haben Sie gar kein Interesse da-
übrigens genauso. Aber der Bundesregierung ist das an- ran, diesen neuen Pflegebegriff umzusetzen.
scheinend egal; denn sie schweigt und ergeht sich grund-
sätzlich in Floskeln. Daher möchte ich Sie auffordern: Drittens. Sie wollen möglichst eine kostenneutrale
Erklären Sie das mal den Pflegebedürftigen und ihren Schmalspurversion des Pflegebegriffs.
Angehörigen! Die Bundesregierung agiert damit nach dem Prinzip:
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungs- von der linken Tasche in die rechte Tasche. Es gibt fak-
koalition, ich sage es noch einmal: So geht das nicht! tisch nicht mehr Geld. Dann muss, wenn zum Beispiel
Die Menschen haben ein Recht darauf, von der Regie- für Menschen mit Demenz zu Recht mehr ausgegeben
rung zu erfahren, wohin ihre Reise geht. wird, bei anderen Pflegebedürftigen zu Unrecht gekürzt
werden.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui!)
Dies gilt besonders für einen so sensiblen Bereich wie
die Pflege. Das nehmen wir so nicht hin.
Stellen Sie sich einmal vor: Die eigene Mutter, (Beifall bei der LINKEN)
87 Jahre alt, muss ins Krankenhaus, weil sie auf dem Wenn Abgeordnete der Union meinen, den Himmel
Glatteis ausgerutscht ist. Nach erfolgreicher Operation auf Erden könne es in der Pflege nicht geben, dann darf
steht jetzt die Entlassung an. Was vorher schon vermutet das nicht bedeuten, dass wir Missstände nicht sofort be-
wurde, ist nun bittere Realität – jetzt besteht Gewissheit –: enden, wenn wir sie erkennen. Das kann doch nicht sein.
Entlassungsdiagnose Demenz. Schnell wird klar: Die
Mutter kann ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen. (Beifall bei der LINKEN)
9900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Kathrin Senger-Schäfer
(A) Was heißt das in der Praxis? Sie wollen die Kopfpau- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
schale in der Pflegeversicherung. Bislang heißt das Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege
Monster in Ihren Worten verpflichtende, individuali- Johannes Singhammer das Wort.
sierte und generationsgerechte Pflegezusatzversiche-
rung. Heute lesen wir in den Zeitungen, dass Sie sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
auch darüber schon nicht mehr einig sind und dabei auch neten der FDP)
nicht wissen, welchen Weg Sie gemeinsam als Regie-
rungskoalition gehen wollen. Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir sind immer ei- ren! Weil wir hier über einen Antrag der Linken debat-
nig!) tieren, sage ich: Die Pflegeversicherung ist nicht auf der
Suche nach dem Weg zum Kommunismus gefunden
Klären Sie uns doch einmal auf – dazu haben Sie dann
worden,
Zeit –, und schenken Sie uns bitte reinen Wein ein.
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: So ein Bart,
(Beifall bei der LINKEN) Herr Singhammer! So ein Bart!)
Wenn sich aber diese Wahnsinnspläne von den Kolle- sondern die Pflegeversicherung ist die Frucht der sozia-
ginnen und Kollegen der Union und der FDP durchset- len Marktwirtschaft.
zen, dann gibt es kein Zurück mehr; denn dann entstehen
Ansprüche und Anwartschaften aufgrund privater Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
träge, die nicht so einfach rückgängig zu machen sind. der FDP)
Wie immer belasten Sie damit allein die Arbeitnehme- Die Fundamente der Pflegeversicherung sind von CDU/
rinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner so- CSU und FDP gelegt worden.
wie die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Beziehenden. Die
Arbeitgeber bleiben wieder einmal außen vor. Die Pflegeversicherung hat folgende Grundlagen:
praktizierte Nächstenliebe für Menschen, denen es
(Zuruf von der LINKEN: Pfui!) schwerfällt, sich selbst zu helfen, Wertschätzung und
Respekt für die Älteren, Einstehen der Gesunden und
Die Linke ist in diesem Fall völlig anderer Meinung. Leistungsfähigeren für Kranke und Schwächere. Dieses
Wir brauchen einen umfassenden neuen Pflegebegriff. Fundament trägt nach wie vor.
Der Vorschlag liegt seit 2009 auf dem Tisch. Jetzt
kommt es auf den politischen Willen an. Statt „Still, satt Weil die Nachfrage groß ist, müssen wir das Gebäude
Pflegeversicherung erweitern. Die drei zusätzlichen
(B) und sauber“ heißt es für uns: Teilhabe und Selbstbestim- Stockwerke sind: (D)
mung.
(Beifall bei der LINKEN) Erstens: Leistungsanpassung. Wer fachkundige Men-
schen mit Herzensbildung für die Pflege gewinnen will,
Die Begutachtung muss sich am individuellen Bedarf muss sie ordentlich, gut und entsprechend ihrer Leistung
ausrichten. Pflegeleistungen müssen finanziell angemes- bezahlen.
sen ausgestattet sein. Deshalb tritt die Linke für die soli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
darische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung auch in
der Pflege ein. Zweitens. Wir brauchen eine Neuinterpretation des
Begriffs „Pflegebedürftigkeit“, um vor allem mehr De-
(Beifall bei der LINKEN) menzkranke gut und besser versorgen zu können.
Nur so können wir die vielen Probleme, die sich im Drittens. Wir brauchen den Aufbau eines Kapital-
Pflegebereich und in anderen Bereichen stellen, mit den stocks, um vor allem den Jüngeren Leistungen garantie-
pflegebedürftigen Menschen, den Angehörigen und den ren zu können, wenn sie im Alter selbst auf Unterstüt-
Beschäftigten lösen. Menschen, die im Alter Pflege zung hoffen.
brauchen, gehören selbstverständlich zu unserer Gesell-
schaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gleichzeitig stehen wir vor großen demografischen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herausforderungen. Während in Deutschland heute rund
2 Millionen Pflegebedürftige umsorgt werden, werden
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
es nach aller Voraussicht im Jahr 2020 schon fast
3 Millionen Menschen sein, und in den folgenden Jahren
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): werden es auch nicht weniger werden. Diese Entwick-
Das sind meine letzten beiden Sätze. – Wie human lung vollzieht sich bei einer gleichzeitig schrumpfenden
eine Gesellschaft ist, sieht man daran, wie man mit den Bevölkerungszahl, die uns ohnehin zunehmend vor
Schwächsten umgeht. Darüber, liebe Kolleginnen und große Herausforderungen stellt.
Kollegen der Regierung, sollten Sie nachdenken. Union und FDP haben im Koalitionsvertrag eine klare
Danke. Perspektive für den Ausbau der Pflegeversicherung ent-
wickelt, die wir in diesem Jahr in Gesetzesform gießen
(Beifall bei der LINKEN) wollen. Dabei gelten folgende Leitlinien: Im Mittelpunkt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9901
Johannes Singhammer
(A) steht derjenige, der Pflege braucht. Das kann – das vor allem für die Jüngeren ganz entscheidend – vor allen (C)
macht die Bedeutung dieser Debatte aus – im Laufe ei- Zugriffen des Staates geschützt sein, sie muss sozusagen
nes Menschenlebens fast jeder sein. Um den Stürmen in einem Tresor eingeschlossen sein.
der Demografie trotzen zu können, brauchen wir eine
Erweiterung – das Haus „Pflegeversicherung“ braucht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dieses zusätzliche Geschoss –: Erstmals müssen auch in Es steht allerdings nirgendwo, dass eine solche Rück-
der gesetzlichen Pflegeversicherung Reserven gebildet, lage vererbt werden kann oder dass sie bei Nichtnotwen-
muss Geld auf die hohe Kante gelegt werden. Wir brau- digkeit eines Pflegebedarfs zurückgezahlt wird. Das ist
chen einen Kapitalstock. Im Koalitionsvertrag heißt es: im Übrigen auch das Prinzip der privaten Vorsorge, der
generationengerecht, obligatorisch und individuell. Das privaten Krankenversicherung. Auch da gibt es kein
gilt genau so, wie wir es im Koalitionsvertrag festgelegt Recht auf Vererbung. Wichtig ist, dass dieser Kapital-
haben. stock sicher bleibt, und zwar genau für den Zweck, für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – den er angelegt worden ist. – So, Frau Ferner.
Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Aber
was heißt das wirklich? – Elke Ferner [SPD]: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Also Beitragserhöhungen!) Frau Kollegin, bitte schön.
– Passen Sie auf! Ganz ruhig!
Elke Ferner (SPD):
Damit ziehen wir die Konsequenzen daraus, dass eine Sie haben, wie den Tickermeldungen heute zu entneh-
rein umlagefinanzierte, lohnabhängige Pflegeversiche- men ist, gestern gesagt, dass Sie quasi eine kollektive
rung an ihre Grenzen stoßen wird. In diesem und in den Reserve aufbauen wollen. Das beißt sich ein bisschen
nächsten Jahren ist die Pflegeversicherung solide finan- damit, Herr Singhammer, dass Sie zunächst gesagt ha-
ziert. Aber wir müssen – das zeichnet kluge Politik aus – ben, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag wei-
auch für den Zeitraum vorsorgen, in dem sehr viele terhin Bestand haben. Vielleicht kann Herr Lanfermann,
Menschen pflegebedürftig werden können. Deswegen der ja schon dagegen geschossen hat, das gleich in seiner
werden wir einen Kapitalstock aufbauen. Wir werden Rede aufklären. Würden Sie, Herr Singhammer, der
ihn so ausgestalten, dass vier Ziele erreicht werden: Öffentlichkeit sagen, dass der Aufbau einer Kapitalre-
Erstens müssen die Mittel sozial gerecht aufgebracht serve, in welcher Form auch immer, bedeutet, dass es
werden. Niemand darf dabei überfordert werden. Des- jetzt eine Beitragsanhebung gibt, um in Zukunft eine
halb müssen wir insbesondere darauf achten, dass ein Beitragsanhebung zu vermeiden?
solcher Kapitalstock auch für sozial Schwächere finan- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das liegt in der Na-
(B) zierbar ist. (D)
tur der Sache!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Können Sie der staunenden Öffentlichkeit auch erzählen,
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der wie stark die Beiträge erhöht werden und ob die Beiträge
Kollegin Ferner? abhängig vom Einkommen erhoben werden oder ob Sie
auch da eine Kopfpauschale einführen wollen?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Ich gestatte die Zwischenfrage gern, schlage aber vor: Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Hören Sie sich erst einmal meine vier Punkte an Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe Ihnen gerade die
Grundsätze unseres Kapitalstocks beschrieben. Dieser
(Elke Ferner [SPD]: Gut!) Kapitalstock wird – auch das kann ich Ihnen ankündigen –
und fragen Sie dann nach. gemeinsam von der Koalition beschlossen werden; wir
werden gemeinsam zu Lösungen kommen. Wir werden
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dann die Lösungen so gestalten, dass sie sozial gerecht sind,
bleiben keine Fragen offen!)
(Elke Ferner [SPD]: Das wäre etwas Neues!)
Zweitens wollen wir eine unbürokratische Lösung.
Wir wollen nicht allzu viel bürokratischen Aufwand bei dass sie finanzierbar sind und vor allem dass sie genau
der Erhebung und Verwaltung der Mittel. das erreichen, was die Jüngeren erwarten, nämlich dass
für sie im Alter vorgesorgt wird. Ich sage noch etwas
(Elke Ferner [SPD]: Das ist etwas Neues!) dazu: Wir werden das in diesem Jahr regeln. Wir werden
Der bürokratische Aufwand muss in einem angemesse- nicht warten wie Sie in den vergangenen Jahren, als Sie
nen Verhältnis zum Ertrag stehen. Es würde wenig Sinn an der Regierung waren. Wir werden das jetzt machen,
machen, wenn wir einen erheblichen Anteil der Mittel weil wir wissen: Je länger wir warten, desto schwieriger
für die Bürokratie aufwenden müssten. wird es, eine Lösung zu finden.
Drittens ist es, denke ich, angesichts der Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lage realistisch, mit nicht allzu großen Zuschüssen aus
Unabhängig vom Kapitalstock müssen die Pflegeleis-
dem Bundeshaushalt zu kalkulieren.
tungen regelmäßig an die Kostenentwicklung angepasst
Viertens – das ist ganz wichtig – muss die Kapitalre- werden; ansonsten verlieren die Leistungen der Pflege-
serve zukunftsfest gestaltet werden. Sie muss – das ist versicherung immer wieder an Wert. Das werden wir
9902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Johannes Singhammer
(A) tun. Es ist in der bisherigen Gesetzeslage so angelegt. nach dem Motto „Nächste Ausfahrt Griechenland“. Das (C)
Den Grundsatz „Stationär bzw. Reha vor Pflege“ – die- wollen wir nicht, meine sehr geehrten Damen und Her-
ser ist uns wichtig – wollen wir konsequent durchsetzen. ren.
Für ältere Menschen sind gerade diese Leistungen be-
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)
sonders wichtig.
Wir wollen auch nicht, dass irgendwelche Pläne disku-
Der heute geltende Begriff der Pflegebedürftigkeit
tiert werden, die auf Rücklagen zurückgreifen, die in der
trägt der Situation von Menschen mit eingeschränkter
privaten Pflegeversicherung in der Tat und auch zu
Bewegungs- und Selbstversorgungsmöglichkeit nur un-
Recht vorbildlich angehäuft worden sind. Denn dort
zureichend Rechnung und belastet immer mehr die An-
funktioniert das Prinzip der Rücklagenbildung.
gehörigen. Deshalb müssen wir insbesondere die Zeit-
kontingente so regeln, dass eine menschliche Pflege, (Elke Ferner [SPD]: Weil sie die besseren Risi-
dass auch Zuwendung bei der Pflege möglich ist. Wir ken haben!)
wollen zu einer Kultur des Vertrauens kommen, gerade
Sie jedoch haben vor, dort in die Kasse zu greifen. Das
auch was das Verhältnis zwischen Pflegekräften und den
geht allerdings nicht. Denn durch Art. 14 Grundgesetz
zu Pflegenden betrifft, und wir müssen von dem immer
sind die Rücklagen geschützt.
wieder aufkommenden Misstrauen, das diese Beziehung
und die Pflege belastet, Abschied nehmen. Alles in allem sind die Rechnungen, die Sie vorschla-
gen, Rechnungen, die Sie gar nicht bezahlen können.
Ich sage hier aber auch: Dies alles gibt es nicht zum Wir hingegen wecken keine Erwartungen, die wir nicht
Nulltarif. Es muss bezahlt werden, aber auch bezahlbar auch erfüllen können.
sein. Wenn man die Vorschläge, die Sie von den Linken
hier machen, betrachtet, kann man nur sagen: Sie ver- (Zuruf von der LINKEN: Das stimmt, dass Sie
sprechen das Blaue vom Himmel. keine Erwartungen wecken!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir machen mit einer durchgerechneten Finanzierung,
neten der FDP) einem klaren Plan und vor allem einem entschlossenen
Anpacken seriöse Politik.
Was wollen Sie alles? Den Pflegebedürftigen, den Ange-
hörigen und dem Pflegepersonal wird alles Mögliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
versprochen, insbesondere eine 25-prozentige Anhebung
der Sachleistungsbeträge und eine individuelle Pflegeas- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sistenz. Zu der Frage, wer das bezahlen soll, schweigen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf die Debatte
Sie sich aus. für einen Moment unterbrechen und Ihnen die Ergeb- (D)
(B)
(Zuruf von der CDU/CSU: Freibier für alle!) nisse der namentlichen Abstimmung und der Wahl mit-
teilen.
Allein diese Forderung – von den anderen habe ich noch
gar nicht gesprochen – bedeutet, dass die Beitragssätze Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerin-
um mindestens 0,3 Prozentpunkte angehoben werden nen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der nament-
müssten. lichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesre-
(Heinz Lanfermann [FDP]: 0,5 Prozent!) gierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Si-
– Wahrscheinlich, Herr Kollege Lanfermann, wesentlich
cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan“ bekannt:
mehr.
abgegebene Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 420,
Wenn wir auch die anderen Vorschläge, die Sie ma- mit Nein 116, Enthaltungen gab es 43. Die Beschluss-
chen, umsetzen würden, dann betrieben wir eine Politik empfehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Dorothee Bär Klaus Brähmig Hartwig Fischer (Göttingen)


Abgegebene Stimmen: 579; Thomas Bareiß Michael Brand Dirk Fischer (Hamburg)
davon Norbert Barthle Dr. Reinhard Brandl Dr. Maria Flachsbarth
Günter Baumann Helmut Brandt Klaus-Peter Flosbach
ja: 420
Ernst-Reinhard Beck Dr. Ralf Brauksiepe Herbert Frankenhauser
nein: 116 (Reutlingen) Dr. Helge Braun Dr. Hans-Peter Friedrich
enthalten: 43 Manfred Behrens (Börde) Heike Brehmer (Hof)
Veronika Bellmann Ralph Brinkhaus Michael Frieser
Dr. Christoph Bergner Leo Dautzenberg Dr. Michael Fuchs
Ja
Peter Beyer Alexander Dobrindt Hans-Joachim Fuchtel
CDU/CSU Steffen Bilger Thomas Dörflinger Alexander Funk
Clemens Binninger Marie-Luise Dött Ingo Gädechens
Ilse Aigner Peter Bleser Dr. Thomas Feist Dr. Thomas Gebhart
Peter Altmaier Dr. Maria Böhmer Enak Ferlemann Norbert Geis
Peter Aumer Norbert Brackmann Ingrid Fischbach Alois Gerig
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9903
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Michael Glos Dr. Max Lehmer Detlef Seif Gabriele Fograscher (C)
Josef Göppel Paul Lehrieder Johannes Selle Dr. Edgar Franke
Peter Götz Dr. Ursula von der Leyen Reinhold Sendker Dagmar Freitag
Dr. Wolfgang Götzer Ingbert Liebing Dr. Patrick Sensburg Peter Friedrich
Ute Granold Matthias Lietz Bernd Siebert Sigmar Gabriel
Reinhard Grindel Patricia Lips Thomas Silberhorn Michael Gerdes
Hermann Gröhe Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Singhammer Martin Gerster
Michael Grosse-Brömer Dr. Michael Luther Jens Spahn Günter Gloser
Markus Grübel Karin Maag Carola Stauche Ulrike Gottschalck
Manfred Grund Dr. Thomas de Maizière Dr. Frank Steffel Angelika Graf (Rosenheim)
Monika Grütters Andreas Mattfeldt Erika Steinbach Kerstin Griese
Dr. Karl-Theodor Freiherr Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Michael Groschek
zu Guttenberg Dr. Michael Meister Dieter Stier Hans-Joachim Hacker
Olav Gutting Dr. Angela Merkel Stephan Stracke Bettina Hagedorn
Florian Hahn Maria Michalk Max Straubinger Klaus Hagemann
Dr. Stephan Harbarth Dr. h. c. Hans Michelbach Karin Strenz Hubertus Heil (Peine)
Jürgen Hardt Dr. Mathias Middelberg Thomas Strobl (Heilbronn) Rolf Hempelmann
Gerda Hasselfeldt Philipp Mißfelder Lena Strothmann Dr. Barbara Hendricks
Dr. Matthias Heider Dietrich Monstadt Michael Stübgen Gustav Herzog
Mechthild Heil Marlene Mortler Dr. Peter Tauber Frank Hofmann (Volkach)
Ursula Heinen-Esser Dr. Gerd Müller Antje Tillmann Dr. Eva Högl
Frank Heinrich Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hans-Peter Uhl Christel Humme
Rudolf Henke Nadine Schön (St. Wendel) Arnold Vaatz Josip Juratovic
Michael Hennrich Dr. Philipp Murmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Oliver Kaczmarek
Jürgen Herrmann Michaela Noll Stefanie Vogelsang Johannes Kahrs
Ansgar Heveling Dr. Georg Nüßlein Andrea Astrid Voßhoff Dr. h. c. Susanne Kastner
Ernst Hinsken Franz Obermeier Dr. Johann Wadephul Ulrich Kelber
Christian Hirte Eduard Oswald Marco Wanderwitz Lars Klingbeil
Robert Hochbaum Henning Otte Kai Wegner Hans-Ulrich Klose
Karl Holmeier Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Bärbel Kofler
Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen) Fritz Rudolf Körper
Thomas Jarzombek Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I) Anette Kramme
Dieter Jasper Dr. Joachim Pfeiffer Ingo Wellenreuther Nicolette Kressl
Dr. Franz Josef Jung Sibylle Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Angelika Krüger-Leißner
Andreas Jung (Konstanz) Beatrix Philipp Peter Wichtel Ute Kumpf
(B) Annette Widmann-Mauz
(D)
Dr. Egon Jüttner Ronald Pofalla Christine Lambrecht
Bartholomäus Kalb Christoph Poland Klaus-Peter Willsch Christian Lange (Backnang)
Hans-Werner Kammer Ruprecht Polenz Elisabeth Winkelmeier- Dr. Karl Lauterbach
Steffen Kampeter Eckhard Pols Becker Steffen-Claudio Lemme
Alois Karl Daniela Ludwig Dagmar Wöhrl Kirsten Lühmann
Bernhard Kaster Thomas Rachel Dr. Matthias Zimmer Caren Marks
Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Peter Ramsauer Wolfgang Zöller Katja Mast
Schwenningen) Eckhardt Rehberg Willi Zylajew Petra Merkel (Berlin)
Volker Kauder Katherina Reiche (Potsdam) Ullrich Meßmer
Dr. Stefan Kaufmann Lothar Riebsamen SPD Dr. Matthias Miersch
Roderich Kiesewetter Josef Rief Rainer Arnold Franz Müntefering
Eckart von Klaeden Klaus Riegert Heinz-Joachim Barchmann Dr. Rolf Mützenich
Ewa Klamt Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Hans-Peter Bartels Dietmar Nietan
Volkmar Klein Johannes Röring Dirk Becker Thomas Oppermann
Axel Knoerig Dr. Norbert Röttgen Uwe Beckmeyer Holger Ortel
Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Lothar Binding (Heidelberg) Aydan Özoğuz
Dr. Kristina Schröder Erwin Rüddel Gerd Bollmann Heinz Paula
Dr. Rolf Koschorrek Albert Rupprecht (Weiden) Klaus Brandner Johannes Pflug
Hartmut Koschyk Anita Schäfer (Saalstadt) Willi Brase Joachim Poß
Thomas Kossendey Dr. Wolfgang Schäuble Bernhard Brinkmann Florian Pronold
Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan (Hildesheim) Dr. Sascha Raabe
Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer Edelgard Bulmahn Dr. Carola Reimann
Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Martin Burkert René Röspel
Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Petra Crone Karin Roth (Esslingen)
Bettina Kudla Georg Schirmbeck Martin Dörmann Michael Roth (Heringen)
Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Elvira Drobinski-Weiß Marlene Rupprecht
Günter Lach Patrick Schnieder Garrelt Duin (Tuchenbach)
Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas Schockenhoff Sebastian Edathy Bernd Scheelen
(Heidelberg) Dr. Ole Schröder Siegmund Ehrmann Marianne Schieder
Andreas G. Lämmel Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. h. c. Gernot Erler (Schwandorf)
Dr. Norbert Lammert Uwe Schummer Petra Ernstberger Ulla Schmidt (Aachen)
Katharina Landgraf Armin Schuster (Weil am Karin Evers-Meyer Silvia Schmidt (Eisleben)
Ulrich Lange Rhein) Elke Ferner Carsten Schneider (Erfurt)
9904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Ottmar Schreiner Dr. Martin Lindner (Berlin) Klaus Barthel Wolfgang Nešković (C)
Dr. Martin Schwanholz Dr. Erwin Lotter Bärbel Bas Petra Pau
Stefan Schwartze Oliver Luksic Dr. Peter Danckert Jens Petermann
Rita Schwarzelühr-Sutter Horst Meierhofer Michael Groß Richard Pitterle
Peer Steinbrück Patrick Meinhardt Wolfgang Gunkel Yvonne Ploetz
Dr. Frank-Walter Steinmeier Gabriele Molitor Gabriele Hiller-Ohm Paul Schäfer (Köln)
Christoph Strässer Jan Mücke Petra Hinz (Essen) Michael Schlecht
Franz Thönnes Petra Müller (Aachen) Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Ilja Seifert
Wolfgang Tiefensee Burkhardt Müller-Sönksen Hilde Mattheis Kathrin Senger-Schäfer
Ute Vogt Dr. Martin Neumann Dr. Wilhelm Priesmeier Raju Sharma
Andrea Wicklein (Lausitz) Gerold Reichenbach Dr. Petra Sitte
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dirk Niebel Sönke Rix Kersten Steinke
Dr. Dieter Wiefelspütz Hans-Joachim Otto Werner Schieder (Weiden) Sabine Stüber
Uta Zapf (Frankfurt) Dr. Carsten Sieling Alexander Süßmair
Dagmar Ziegler Cornelia Pieper Sonja Steffen Dr. Kirsten Tackmann
Manfred Zöllmer Dr. Christiane Ratjen- Kerstin Tack Frank Tempel
Brigitte Zypries Damerau Rüdiger Veit
Dr. Birgit Reinemund Dr. Axel Troost
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Peter Röhlinger Alexander Ulrich
FDP Waltraud Wolff
Dr. Stefan Ruppert Kathrin Vogler
(Wolmirstedt)
Jens Ackermann Björn Sänger Johanna Voß
Christian Ahrendt Frank Schäffler Sahra Wagenknecht
DIE LINKE
Christine Aschenberg- Christoph Schnurr Halina Wawzyniak
Dugnus Jimmy Schulz Jan van Aken Harald Weinberg
Daniel Bahr (Münster) Marina Schuster Agnes Alpers Jörn Wunderlich
Florian Bernschneider Dr. Erik Schweickert Dr. Dietmar Bartsch
Sebastian Blumenthal Werner Simmling Herbert Behrens BÜNDNIS 90/
Claudia Bögel Judith Skudelny Karin Binder DIE GRÜNEN
Nicole Bracht-Bendt Dr. Hermann Otto Solms Matthias W. Birkwald
Klaus Breil Heidrun Bluhm Katja Dörner
Joachim Spatz Bettina Herlitzius
Angelika Brunkhorst Dr. Max Stadler Steffen Bockhahn
Ernst Burgbacher Christine Buchholz Winfried Hermann
Torsten Staffeldt
Marco Buschmann Eva Bulling-Schröter Dr. Anton Hofreiter
Dr. Rainer Stinner
Sylvia Canel Dr. Martina Bunge Uwe Kekeritz
Stephan Thomae
Helga Daub Roland Claus Memet Kilic
Florian Toncar
(B) Reiner Deutschmann Serkan Tören Sevim Dağdelen Sven-Christian Kindler (D)
Dr. Bijan Djir-Sarai Johannes Vogel Dr. Diether Dehm Maria Klein-Schmeink
Patrick Döring (Lüdenscheid) Heidrun Dittrich Ute Koczy
Mechthild Dyckmans Dr. Daniel Volk Werner Dreibus Sylvia Kotting-Uhl
Rainer Erdel Dr. Guido Westerwelle Dr. Dagmar Enkelmann Agnes Krumwiede
Jörg van Essen Dr. Claudia Winterstein Klaus Ernst Stephan Kühn
Ulrike Flach Dr. Volker Wissing Wolfgang Gehrcke Monika Lazar
Otto Fricke Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Nicole Gohlke Agnes Malczak
Dr. Edmund Peter Geisen Diana Golze Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang Gerhardt BÜNDNIS 90/ Annette Groth Ingrid Nestle
Hans-Michael Goldmann DIE GRÜNEN Dr. Gregor Gysi Dr. Hermann Ott
Heinz Golombeck Heike Hänsel Lisa Paus
Miriam Gruß Marieluise Beck (Bremen) Dr. Rosemarie Hein Dorothea Steiner
Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Dr. Barbara Höll Dr. Wolfgang Strengmann-
Heinz-Peter Haustein Hans-Josef Fell Andrej Hunko Kuhn
Manuel Höferlin Priska Hinz (Herborn) Ulla Jelpke
Tom Koenigs Hans-Christian Ströbele
Elke Hoff Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Harald Terpe
Birgit Homburger Omid Nouripour Katja Kipping
Dr. Werner Hoyer Krista Sager Harald Koch
Heiner Kamp Manuel Sarrazin Jan Korte Enthalten
Michael Kauch Daniela Wagner Jutta Krellmann
Dr. Lutz Knopek Katrin Kunert SPD
Pascal Kober Nein Caren Lay Burkhard Lischka
Dr. Heinrich L. Kolb Sabine Leidig Gabriele Lösekrug-Möller
Gudrun Kopp CDU/CSU Ralph Lenkert Mechthild Rawert
Sebastian Körber Michael Leutert Dr. Ernst Dieter Rossmann
Wolfgang Börnsen
Holger Krestel Stefan Liebich Swen Schulz (Spandau)
(Bönstrup)
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Ulla Lötzer Ewald Schurer
Dr. Peter Gauweiler
Heinz Lanfermann Dr. Gesine Lötzsch Frank Schwabe
Manfred Kolbe
Sibylle Laurischk Thomas Lutze
Norbert Schindler Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Harald Leibrecht Ulrich Maurer
Sabine Leutheusser- Dorothee Menzner
SPD FDP
Schnarrenberger Kornelia Möller
Christian Lindner Ingrid Arndt-Brauer Niema Movassat Joachim Günther (Plauen)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9905
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) BÜNDNIS 90/ Kai Gehring Renate Künast Claudia Roth (Augsburg) (C)
DIE GRÜNEN Britta Haßelmann Markus Kurth Elisabeth Scharfenberg
Kerstin Andreae Ulrike Höfken Undine Kurth (Quedlinburg) Christine Scheel
Volker Beck (Köln) Bärbel Höhn Jerzy Montag Dr. Gerhard Schick
Birgitt Bender Ingrid Hönlinger Kerstin Müller (Köln) Dr. Frithjof Schmidt
Alexander Bonde Thilo Hoppe Dr. Konstantin von Notz Jürgen Trittin
Viola von Cramon-Taubadel Katja Keul Friedrich Ostendorff Wolfgang Wieland
Ekin Deligöz Oliver Krischer Brigitte Pothmer Dr. Valerie Wilms
Dr. Thomas Gambke Fritz Kuhn Tabea Rößner Josef Philip Winkler

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]:
Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen Machen Sie sich keine Sorgen!)
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich in
heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen meinen Ausführungen vor allen Dingen auf den Pflege-
Republik bekannt: Mitgliederzahl 622, abgegebene bedürftigkeitsbegriff konzentrieren. Das ist ein Punkt,
Stimmen 579, gültige Stimmen 577. Mit Ja haben ge- der uns von der SPD immer am Herzen lag, und wir mei-
stimmt 535 Abgeordnete,1) nen, dass dieser nach der Reform des Pflege-Weiterent-
wicklungsgesetzes als Nächstes einer Reform bedarf.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Denn dieser Begriff wird seit Einführung der Pflegever-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie sicherung im Jahr 1995 diskutiert, und zwar zu Recht: Er
bei Abgeordneten der LINKEN) gilt als viel zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu ein-
mit Nein haben gestimmt 21 Abgeordnete, Enthal- seitig somatisch ausgerichtet. Hauptkritikpunkt ist dabei,
tungen 21. dass wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe unberück-
sichtigt bleiben.
Herr Roland Jahn hat damit die erforderliche absolute
Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla
Mehrheit der Stimmen erreicht. Er ist damit zum Bun-
Schmidt hat schon 2006 gesagt, dass wir daran arbeiten
desbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-
wollen, und hat einen Beirat einberufen, der schon 2009
dienstes der ehemaligen DDR gewählt.
(B) die ersten sehr konkreten Ergebnisse vorgelegt hat, (D)
Lieber Roland Jahn, ich gratuliere Ihnen dazu außer- orientiert am Teilhabeanspruch pflegebedürftiger Men-
ordentlich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute, Ver- schen. Wir alle hier im Hohen Hause waren uns einig,
nunft und Augenmaß für dieses so wichtige, notwendige dass das ein richtiger, wichtiger Schritt ist, der unsere
und sensibel zu führende Amt. Alles Gute! Unterstützung verdient. In der Vergangenheit hat sich
die gesamte Fachwelt wie wir im Ausschuss – ich sage
(Beifall im ganzen Hause) es noch einmal – für diese Verbesserung der Definition
Wir setzen damit die Debatte zu unserem jetzigen Ta- des Pflegebedürftigkeitsbegriffes eingesetzt und sie als
gesordnungspunkt fort, und ich erteile Kollegin Hilde nächsten wichtigen Reformschritt benannt. Schwarz-
Mattheis für die SPD-Fraktion das Wort. Gelb hat im Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009
formuliert, dass es zu den Reformschritten gehört, „eine
(Beifall bei der SPD) neue, differenziertere Definition der Pflegebedürftig-
keit“ zu finden, will aber die Auswirkungen neuer An-
Hilde Mattheis (SPD):
sätze nur „überprüfen“. Da sage ich Ihnen: Das ist uns
viel zu wenig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte gerne damit begonnen, Herr Singhammer, Sie zu (Beifall bei der SPD)
loben.
Der Minister lädt zu Gesprächsrunden zum Bürokra-
(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Dann tun Sie das tieabbau und zu anderen wichtigen Themen ein. Herr
doch!) Minister, ich glaube aber, dass Gesprächsrunden alleine
nicht reichen. Die Menschen wollen, dass Taten folgen.
Aber nach Ihren Ausführungen bleibt mir nur, Sie zu fra- Es geht nicht darum, nur zu diskutieren, sondern auch
gen: Haben Sie den Mut, das, was Sie richtigerweise darum, zu entscheiden.
denken, in Ihrer Fraktion und Ihrer Koalition auch
durchzusetzen? Eine Individualisierung des Risikos ist (Beifall bei der SPD)
nämlich nicht mit dem zu vereinbaren, was Sie vorgetra- Wir wollen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbe-
gen haben. Es geht darum, Menschen zu unterstützen, griffs, weg von der Minutenpflege, hin zu einem neuen
die unserer Hilfe bedürfen. Also, haben Sie den Mut, das Begutachtungssystem, das bei der Teilhabe ansetzt und
durchzusetzen? vor allen Dingen – das ist der nächste wichtige Schritt –
die speziellen Bedürfnisse von Kindern, insbesondere
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 9 geistig behinderter Kinder, und von Menschen mit psy-
9906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Hilde Mattheis
(A) chischen und kognitiven Beeinträchtigungen berücksich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
tigt. Das ist für uns wichtig. Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Wie
bitte? Was soll das denn heißen? – Dr. Dagmar
Wir wollen deshalb von Ihnen wissen, wie weit die im Enkelmann [DIE LINKE]: Es geht um etwas
Koalitionsvertrag angekündigte Überprüfung durch das ganz anderes, Herr Lanfermann! Aber das ha-
Ministerium vorangeschritten ist und welche weiteren ben Sie wahrscheinlich noch nicht mitbekom-
Bausteine die Regierung bei der Unterstützung von Pfle- men!)
gebedürftigen und Pflegenden auf der Grundlage des
wichtigen Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vorsieht. zeigen Sie mit diesen Vorlagen, dass Sie auch nicht zur
Bewältigung der Probleme der Gesellschaft in der Zu-
An dieser Stelle sage ich: Herzlichen Dank an den kunft in der Lage sind.
Beirat für seine Arbeit. Wir brauchen diese Unterstüt-
zung. Es ist gut, dass sich die Fachwelt einig ist und wir (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ach! Sie
im politischen Prozess, auch hier im Parlament, das um- kämpfen doch mit der 5-Prozent-Hürde!)
setzen können, worüber die Fachwelt unstreitig disku- Sie verlangen in Ihrem Antrag zunächst einmal eine
tiert. 25-prozentige Steigerung aller Leistungen. Wenn alles
(Beifall bei der SPD) um 25 Prozent teurer wird, heißt das, dass der Beitrags-
satz nicht mehr 2 Prozent, sondern 2,5 Prozent beträgt;
Wir brauchen ein ganzheitliches Konzept zur Pflege. so weit werden Sie mir sicherlich noch folgen können.
Deshalb frage ich Sie, Herr Rösler: Was macht die Bun- Dass Sie darüber hinaus noch sechs Wochen bezahlte
desregierung, um die Situation der häuslichen Pflege zu Pflegezeit und einen erheblichen Ausbau der Infrastruk-
verbessern? Was macht die Bundesregierung, um die Si- tur fordern, macht die Sache noch teurer.
tuation bei den Arbeitsplätzen und der Ausbildung in der
Pflege zu verbessern? Was macht die Bundesregierung, (Elke Ferner [SPD]: Was sagt denn Ihre Kanz-
um die Prävention, die Reha und das Versorgungs- lerin dazu?)
management zu verbessern? Was macht die Bundesre- Ganz am Ende Ihres Antrages betrügen Sie auch noch
gierung, damit die Kommunen die nötige Infrastruktur die Rentner;
aufbauen können?
(Elke Ferner [SPD]: Das haben Sie doch vor-
(Beifall bei der SPD) gemacht!)
Zuletzt: Was will die Bundesregierung tun, damit Pflege man kann sich nur noch aussuchen, ob die heutigen oder
finanzierbar ist? die zukünftigen. Sie wollen, dass Rentner in der Pflege-
(B) versicherung nur noch den halben Beitragssatz zahlen (D)
Herr Singhammer, es muss unser gemeinsames Inte-
und der Rest von der Rentenversicherung getragen wird.
resse sein, dass Starke für die Schwachen da sind. Das ist Was glauben Sie eigentlich, wer die Rentenversicherung
ein sehr christlicher Ansatz. Ich habe die CSU öfter ein- ist, die das bezahlen soll?
mal so verstanden, dass das ihr Grundsatz ist. Ich hoffe
doch sehr, dass Sie bei diesem Anliegen den Worten Ta- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
ten folgen lassen.
Wer so vorgeht, muss entweder die Renten kürzen oder
Herr Rösler, es ist Zeit, dass etwas passiert. Die Pfle- die Beitragssätze erhöhen; so viel zur freien Auswahl.
gepolitik ist kein Bereich, in dem es um Eitelkeiten geht.
Es geht vielmehr darum: Wie kann man den Menschen Minister Rösler hat das Jahr 2011 aus guten Gründen
helfen? Ich fordere Sie auf: Greifen Sie die Empfehlun- zum Jahr der Pflege ausgerufen. Wir in der Koalition
gen des Beirates auf. Wehren Sie sich gegen die Versu- wollen gemeinsam in der Tat viele Dinge angehen. Es
che der Einführung eines Pflegebegriffs light. Seien Sie gibt eine Reihe von Themen oder, wie man so sagt, Bau-
so souverän, zu sagen: Meine Vorgängerin Ulla Schmidt stellen. Alles ist dem Ziel untergeordnet, auch in Zu-
hat bei der Pflege Gutes getan; wir knüpfen daran an. kunft – „Zukunft“ ist das entscheidende Wort –, und
zwar auch in ferner Zukunft, zu gewährleisten, dass alle
(Beifall bei der SPD) Menschen, die Hilfe und Pflege brauchen, in den Genuss
einer guten Pflege kommen und eine gute Versorgung er-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: halten.
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP- Sie werden ja wohl nicht kritisieren, dass der Minister
Fraktion. jetzt viele Gespräche führt; das tun natürlich auch die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Fraktionen. Aber es geht immer der Reihe nach: erst re-
den, dann denken und prüfen, dann entscheiden und
dann handeln.
Heinz Lanfermann (FDP):
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben (Mechthild Rawert [SPD]: Daran, die Patien-
Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier über ins- ten ernst zu nehmen, sollte der Beirat aber
gesamt zwei Vorlagen der Linksfraktion. Ich muss Ihnen schon vorher denken!)
ganz ehrlich sagen: Nachdem Sie vorhin in diesem So viel Geduld, zu warten, bis wir in dieser natürlichen
Hause so eindrucksvoll bewiesen haben, dass Sie mit der Reihenfolge vorgegangen sind, müssen Sie schon haben.
Bewältigung der eigenen Vergangenheit nicht zurecht-
kommen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9907
Heinz Lanfermann
(A) Natürlich gehört dazu auch die Neudefinition des Be- eine Substanz hatten. Der Minister hat zwar dauernd ge- (C)
griffes „Pflegebedürftigkeit“; das ist richtig. Ihre länge- sagt: „Es stimmt nicht; es ist wesentlich geringer und
ren Ausführungen dazu, Frau Kollegin Mattheis, waren auch im Konzept ganz anders vorgesehen“, aber Sie
eigentlich gar nicht nötig. Wir alle waren uns in diesem wollten es nicht glauben. Ähnlich wird es bei der Pflege-
Hause einig, dass das in die richtige Richtung geht und versicherung sein.
ein guter Ansatz ist. Wir alle haben dem Beirat schon
Da will ich doch noch einmal auf eines hinweisen:
mehrfach gedankt. Nur, eine Expertise, auch eine gute,
Wenn Sie wirklich den Anspruch erheben wollen, dieses
ist noch kein Gesetzentwurf. Dazwischen muss noch ein
Zukunftsproblem bewältigen zu können, dann bitte ich
bisschen Arbeit geleistet werden. Auch hier muss man
Sie, eines zu bedenken: Es gibt – Kollege Singhammer
prüfen: Was kann man umsetzen? Wie viel kostet es?
hat schon einige Zahlen genannt – ungefähr 2,3 Millio-
Was die Kosten betrifft, will ich Ihnen sagen, Frau nen Pflegebedürftige. In 20 Jahren wird die Zahl um die
Kollegin: Sie haben ausgeführt, man brauche ein ganz- Hälfte höher sein; in 40 Jahren werden es doppelt so
heitliches Konzept. Ich sage Ihnen: Das braucht nicht viele sein, nämlich ungefähr 4,6 Millionen.
nur ein Minister und nicht nur eine Koalition, sondern
Da der durchschnittliche Pflegefall dann nicht weni-
auch eine Opposition, die ernst genommen werden will.
ger Geld kosten wird, müssen Sie zumindest in einem
Auch Sie müssen ganzheitlich denken und vortragen.
ersten Ansatz davon ausgehen, dass die Kosten in
Dazu gehört auch der Aspekt der Finanzierbarkeit.
40 Jahren doppelt so hoch sein werden. Wenn der durch-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schnittliche Beitragssatz heute bei ungefähr 2 Prozent
liegt, dann wird er allein aus diesem Grund schon 4 Pro-
Denn die Pflege ist der gesellschaftliche Bereich, in dem zent betragen.
sich der demografische Wandel am deutlichsten bemerk-
bar macht. Wir wollen ja den Pflegebedürftigkeitsbegriff ernst
nehmen. In diesem Zusammenhang hat der Beirat ge-
(Mechthild Rawert [SPD]: Was wollen Sie sagt: Es gibt vier verschiedene Szenarien, und das teu-
denn jetzt, Herr Lanfermann?) erste davon kostet 3,6 Milliarden Euro. – Ich sage Ihnen
Der demografische Wandel führt dazu, dass wir im- aufgrund meiner Lebenserfahrung, dass es da auch unge-
mer weniger Jüngere – damit auch immer weniger Bei- fähr landen wird. Nimmt man also 3 Milliarden Euro
tragszahler –, aber immer mehr Ältere in unserem Sys- hinzu, bedeutet das 0,3 Beitragspunkte mehr. Das heißt,
tem haben. Je älter ein Mensch wird, desto größer ist das der Beitragssatz läge, wenn wir jetzt nur die Demenz
Risiko, pflegebedürftig zu werden. Dieses Risiko steigt und sonst nichts berücksichtigen, bei 2,3 Prozent. In
nicht etwa linear, sondern exponentiell. Deswegen muss 40 Jahren läge er, wenn wir bei dem jetzigen Umlage-
(B) man sich mit den zukünftigen Herausforderungen befas- system blieben, bei 4,6 Prozent. (D)
sen, und deswegen machen wir uns so viele Gedanken Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, der leider auch
über die Frage: Wie soll es weitergehen, auch im Hin- ins Geld geht. Wir wissen aufgrund der Schätzung unge-
blick auf die Finanzierung? fähr, wie viele Menschen Leistungsempfänger sein wer-
In den Jahren, in denen ich mich mit der Pflegepolitik den und wie viel das kosten wird. Wir wissen leider
und der Pflegeversicherung beschäftigt habe, habe ich auch, dass es nicht bei der gleichen Zahl von Beitrags-
gelernt, dass jedes Wort, das ein bisschen anders klingt, zahlern bleiben wird, sondern dass diese Zahl aufgrund
und jede Überlegung, wie man mit den Problemen fertig der demografischen Entwicklung zurückgehen wird.
werden kann, sehr schnell zu Missverständnissen führen. (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
Das liegt insbesondere daran, dass Sie von der Opposi-
tion Ihre politische Arbeit leider zu wenig darauf kon- – Passen Sie auf; das ist wichtig. – Wenn eine kleinere
zentrieren, uns fertige Konzepte vorzulegen; das haben Zahl von Menschen eine gleich hohe Summe aufbringen
Sie schon im letzten Jahr beim GKV-Finanzierungsge- muss, die einen bestimmten Prozentsatz vom Lohn be-
setz eindrucksvoll bewiesen. Sie legen uns immer nur trägt, dann steigt der Prozentsatz. Das heißt, der Bei-
Fragmente und Bruchstücke vor. Dies gilt auch mit Blick tragssatz liegt dann nicht nur bei 4,6 Prozent, sondern ist
auf das beliebte Stichwort „Bürgerversicherung“. Zu noch höher. Dem Problem müssen Sie sich stellen.
diesem Thema haben Sie uns bisher nur Häppchen vor-
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist gut gerechnet!)
gelegt, immer verbunden mit dem Versprechen, irgend-
wann komme ein ganzheitliches Konzept. Die Menschen, die heute 20 bis 50 Jahre alt sind, sind
im Jahre 2051 60 bis 90 Jahre alt. So weit können Sie si-
Nein, Sie verbringen einen Großteil Ihrer Zeit und Ih-
cherlich alle folgen. Das heißt, wenn Sie für die Alters-
rer Medienarbeit damit, immer wieder Spekulationen in
gruppe der heute 20- bis 50-Jährigen – ich greife jetzt
die Welt zu setzen. Sie haben zum Beispiel bei der Ge-
nur einmal diese heraus; Sie können auch noch ein paar
sundheitsfinanzierung als Beitrag, den die Bürger dem-
hinzunehmen; das spielt nicht die entscheidende Rolle –
nächst zahlen müssten, jeden Betrag zwischen 18 und
etwas machen wollen, dann müssen Sie berücksichtigen,
30 oder 50 und 180 Euro in die Diskussion geworfen.
dass es dann, wenn sie 60 bis 90 sind, noch weniger
Nichts davon stimmte. Gestern wurde uns sogar vorge-
junge Beitragszahler gibt, die das in einem Umlagesys-
halten, das hätte die Koalition gemacht und damit alle
tem bewältigen könnten.
verwirrt. So weit ist es mit der Verwirrung in Ihren Köp-
fen schon gekommen. Nein, nein, es war die Opposition, Dies ist übrigens auch bei einer Bürgerversicherung
die dauernd irgendwelche Zahlen erfunden hat, die nie so; denn bei einer Bürgerversicherung geht es ja darum,
9908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Heinz Lanfermann
(A) einen Teil der Einnahmen nicht aus dem Lohneinkom- (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) (C)
men, sondern auch aus dem sonstigen Einkommen zu er-
halten. Man behält aber das Umlageprinzip bei, dessen Und wir müssen es verhindern, weil es Politiker gibt, die
Problem ja ist, dass weniger Menschen einzahlen und auf fremdes Geld zugreifen wollen. Das erleben wir bei
viele Menschen etwas herausbekommen wollen. Das Ihren Versuchen – Stichwort: Bürgerversicherung –, an
muss ja finanziert werden. Das Umlagesystem ist auf die Rücklagen derjenigen zu kommen, die in der priva-
Dauer nicht geeignet, diese Lasten zu schultern, jeden- ten Kranken- und Pflegeversicherung Geld angespart ha-
falls nicht alleine. Deswegen brauchen wir das Kapital- ben.
deckungsprinzip, das besagt, dass etwas angespart wird. (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Das war ja bei Ihrer Zwischenfrage interessant. Natür-
lich kostet Sparen, damit man später mehr hat, erst ein- Sie schielen ja immer darauf und überlegen sich, wie Sie
mal Geld. Ich dachte eigentlich, das wäre selbstverständ- es vereinnahmen können.
lich. Das kann man doch nicht kritisieren.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wir müssen heute den jüngeren und mittleren Jahr-
gängen sagen: Wir brauchen diese zusätzliche Säule der Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Pflegeversicherung mit Kapitaldeckungsprinzip, mit
Geld, das man anlegt. – Dass das angelegte Geld sicher Heinz Lanfermann (FDP):
ist, dafür sorgen bei uns Gesetze und die Aufsicht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Hilde Mattheis [SPD]: Ja, ja! Lanfermanns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Märchenstunde!) Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es war
– Die Anlagen sind doch in der Wirtschaftskrise nicht einmal! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Punktlan-
verloren gegangen. Sie müssen doch einmal den Wirt- dung!)
schaftsteil der Zeitung lesen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es! Nicht nur das
Feuilleton!) Es war leider keine Punktlandung. Der Kollege hatte
schon deutlich überzogen.
Ich kann Ihnen nur versprechen: Diese Jahrgänge
werden dann auch für sich selber sorgen können. Das ist (Jens Spahn [CDU/CSU]: Gefühlte Punktlan-
auch nötig, weil es dann nämlich jüngere Jahrgänge in dung! – Gegenruf des Abg. Christian Lange
ausreichender Zahl, die für sie sorgen können, nicht [Backnang] [SPD]: In jeder Hinsicht!)
(B) mehr gibt. Das ist Vorsorge. Es ist vorausschauende Nunmehr hat Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die (D)
Politik, auch einmal auf vierzig Jahre zu achten und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
nicht nur bis zum nächsten Wahltag zu schauen, wie wir
es von Ihnen hier vorgeführt bekommen.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – NEN):
Mechthild Rawert [SPD]: Das ist doch Ihre Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Prämisse!) gen! Herr Minister, was ist denn da los? Ich dachte
Selbstverständlich hat der Kollege Singhammer recht, schon, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Da
dass man eine solche Lösung so unbürokratisch wie wurde ich heute Morgen mit der Meldung geweckt, dass
möglich ausgestaltet – das ist auch gar kein Problem; das die Koalition endlich auf den Pfad der Vernunft zurück-
werden wir Ihnen anbieten – und dass man sie zukunfts- kehre
fest macht. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Den haben wir nie
(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) verlassen!)

Übrigens ist das nicht mit der Riester-Rente vergleich- und sich von der privaten Zusatzversicherung in der
bar. Bei Riester sparen Sie nämlich Geld an, damit Sie Pflege verabschiede.
im Alter für eine bestimmte Zeit etwas ausgezahlt be- (Ulrike Flach [FDP]: Darauf haben Sie gerade
kommen, das Sie verbrauchen können. Das geht bei der schon eine Antwort bekommen!)
Pflegeversicherung prinzipiell nicht, weil Sie gar nicht
wissen, ob Sie irgendwann im Alter pflegebedürftig wer- Vor ein paar Minuten aber flattert eine Erklärung aus
den. Deshalb müssen Sie also sozusagen auf einen Ver- Ihrem Haus, Herr Minister, auf unseren Schreibtisch mit
sicherungsfall hinarbeiten. dem Inhalt, das sei noch gar nicht geklärt. Dafür waren
die Meldungen in den Zeitungen aber sehr eindeutig.
(Hilde Mattheis [SPD]: Individualisieren!)
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Warum es sinnvoll ist, dass man die individuelle Vor- NEN]: Oh! Streit in der Koalition!)
sorge an die Person bindet, ist bereits erklärt worden:
Das hat mit Art. 14 des Grundgesetzes zu tun und damit, Weiter heißt es: Es hätten noch keine politischen Bera-
dass man misstrauisch sein muss, ob Politiker nicht Er- tungen dazu stattgefunden. Noch nicht einmal Beratun-
spartes auch einmal für etwas anderes verwenden. Das gen! Das müssen wir uns wirklich auf der Zunge zerge-
wollen wir verhindern. hen lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9909
Elisabeth Scharfenberg
(A) (Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn die (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer macht denn hier die (C)
letzte halbe Stunde?) Verunsicherung, Tag und Nacht?)
Herr Singhammer, ich frage Sie: In welchem Paralleluni- Meine Verblüffung geht noch weiter. Dass jetzt sogar
versum waren Sie da unterwegs? Herr Singhammer das Konzept von uns Grünen überneh-
men will, finde ich gut.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zustimmung der Abg. Mechthild Rawert (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was?)
[SPD])
Angeblich – man weiß ja nicht, was man glauben soll –
Die Meldungen heute waren sehr deutlich und sehr klar, will die Koalition eine kollektive Kapitalreserve auf-
und sie gab es nicht nur in einem Medium, sondern in et- bauen. Es ist bekannt, dass wir Grüne bereits seit vielen
lichen. Jahren für dieses Modell eintreten. Wir nennen sie soli-
Meine Damen und Herren, was wird das hier? Wissen darische Demografiereserve. Wenn Sie das anders nen-
Sie von der Koalition nun, was Sie wollen, nen möchten, soll uns das recht sein; Hauptsache ist, Sie
verstehen das Prinzip und setzen es dann auch um.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Immer! – Gegenruf
der Abg. Kathrin Senger-Schäfer [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
LINKE]: Nein!) Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hauptsache, sie lernen was dazu!)
oder wissen Sie es nicht? Ich bin wirklich fassungslos
angesichts dieses unwürdigen Theaters, das Sie der Be- Die Idee ist, im bestehenden System einer solidari-
völkerung und auch diesem Hause hier vorspielen. So schen Pflegeversicherung einen Teil der Beitragsmittel,
einfach geht es nicht! die die Versicherten je nach Leistungskraft einzahlen,
beiseitezulegen.
Als Sie im Jahr 2009 Ihren Koalitionsvertrag verhan-
delten, da konnten Sie vor lauter Kraft kaum laufen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Immerhin stellen
Ganz besoffen waren Sie von Ihren Fantasien von Ka- Sie die Kapitalrücklage nicht infrage! Das ist
pitaldeckung und Individualisierung. Und jetzt, mit ei- schon mal was!)
nem nüchternen Blick und einem ordentlichen schwarz- Aus dieser Rücklage, die von der Versichertengemein-
gelben Kater, haben Sie endlich verstanden, was Sie sich schaft gemeinsam und solidarisch aufgebaut wird, kön-
da eingebrockt haben. nen die steigenden Pflegekosten in einer alternden Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sellschaft abgefedert werden. All das geschieht dann
eben nicht nach dem Motto „Jeder für sich“, sondern so-
(B) Sie haben endlich verstanden, dass eine private Zusatz- lidarisch. Das ist sozial gerecht. Das ist gerechter gegen- (D)
versicherung – anders gesagt: eine Kopfpauschale – so- über den Beitragszahlern der Zukunft, die wir mit den
zial ungerecht ist. Sie haben endlich verstanden, dass das Kosten der Zukunft, die auch wir verursachen werden,
Ganze mehr Bürokratie verursacht als alles andere. nicht alleinlassen wollen.
(Ulrike Flach [FDP]: Falsch gelesen! – Jens Sie sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und den
Spahn [CDU/CSU]: Das steht auch nicht im letzten Schritt machen! Sie wissen so gut wie wir, dass
Koalitionsvertrag!) die Trennung von sozialer und privater Pflegeversiche-
Und Sie haben endlich verstanden, dass der Sozialaus- rung ungerecht und darüber hinaus nicht begründbar ist.
gleich mit Steuern, von dem Sie immer so gerne erzählt Es kann nicht sein, dass sich weiterhin 10 Prozent der
haben, nicht finanzierbar ist und auch nicht funktionie- Bevölkerung in diesem Land aus der Solidarität in die
ren würde. private Pflegeversicherung verabschieden können. Die
10 Prozent haben nicht nur im Durchschnitt mehr Ein-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommen und mehr Wohlstand, sondern sie tragen auch
Oder – das frage ich mich jetzt – haben Sie es doch ein geringeres Risiko, im Alter pflegebedürftig zu wer-
nicht verstanden? Wenn Sie nämlich bei dem bleiben, den.
worauf Sie sich im Koalitionsvertrag geeinigt haben, Die beiden Systeme müssen zusammengeführt wer-
dann profitiert davon ausschließlich die private Versi- den. Solidarität bedeutet, dass sich alle Bürgerinnen und
cherungsindustrie, die sich ja schon seit Unterzeichnung Bürger daran beteiligen müssen.
des Koalitionsvertrages angesichts der satten Gewinne,
die schon für sie bereitstehen, feixend die Hände reibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich richte daher den dringenden Appell an Sie: Verkau- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
fen Sie sich und die Pflegebedürftigen in unserem Land KEN)
nicht so billig! Bekennen Sie sich hier und jetzt eindeu- Deswegen brauchen wir eine Pflegebürgerversicherung.
tig dazu, dass Sie sich von diesem Unsinn im Koalitions- In dieser Bürgerversicherung brauchen wir eine solidari-
vertrag ein für allemal verabschieden! Ich hätte auch sche Demografiereserve, wie ich sie gerade beschrieben
gern die Bestätigung des Herrn Ministers. Die Aussage habe.
von Herrn Singhammer ist ja schön und gut, aber eine
offizielle Bestätigung des Ministers gegenüber der Be- Zumindest einige von Ihnen haben den Mut gezeigt,
völkerung und diesem Hause fände ich mehr als ange- sich von den unsinnigen Einigungen im Koalitionsver-
messen, um keine weitere Verunsicherung zu schaffen. trag zu verabschieden. Bringen Sie nun auch den Mut
9910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Elisabeth Scharfenberg
(A) auf, diesen Weg konsequent weiter und auch bis zum Klar ist: Einen falschen Plan in den Papierkorb zu wer- (C)
Ende zu gehen! Ich hoffe – und warne Sie eindringlich fen, heißt noch lange nicht, dass der Schreibtisch aufge-
davor –, dass dieser gute und richtige Kurswechsel nicht räumt ist.
nur ein Täuschungsmanöver ist. Sie werden doch wohl
Vielen Dank.
nicht vorhaben, den Wählerinnen und Wählern vor den
diversen Landtagswahlen, die in den nächsten Wochen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
auf uns zukommen, ein bisschen Wohlfühlpolitik anzu-
kündigen und dann am Ende alles wieder ganz anders zu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
machen. Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rin Annette Widmann-Mauz.
NEN]: Denen ist alles zuzutrauen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ankündigungen haben wir von Ihnen für den Bereich
der Pflegepolitik wahrlich genug gehört in den letzten Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Wochen. Diese Schlafwagenpolitik muss endlich aufhö- Bundesminister für Gesundheit:
ren. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit der Finanzierungsreform
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken haben mit der gesetzlichen Krankenversicherung hat diese Koali-
einigen Punkten in ihrem Entschließungsantrag, bei dem tion bereits bewiesen, dass sie Probleme anpacken und
wir uns übrigens enthalten werden, völlig recht. Wir vernünftige Lösungen finden kann. Wenn Sie unseren
warten dringend auf die Einlösung Ihres Versprechens, Koalitionsvertrag in der Öffentlichkeit ständig missinter-
die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes umzuset- pretieren – ich könnte auch sagen: manipulieren –, dann
zen. Die wissenschaftlichen Empfehlungen für diese ele- ist das Ihr Problem.
mentar wichtige Reform liegen seit nunmehr zwei Jah-
ren auf dem Schreibtisch. Dort verstauben sie jetzt. Auch (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Christian
diese elementare Reform muss jetzt endlich angepackt Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie schon so
werden. schwach?)
Da können wir Ihnen nicht helfen. Ich weiß auch nicht,
Wir warten weiterhin auf die Familienpflegezeit, mit
auf welchem Boot und mit welchem Kurs Sie heute fah-
der die Ministerin Schröder seit gut einem Jahr hausieren
ren. Unser Kurs ist klar: Wir werden auch in diesem Jahr
geht. Bis heute liegt uns kein Gesetzentwurf vor.
vernünftige Lösungen in Bezug auf die Finanzierung
(B) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Es passiert bzw. die Reform der Pflegeversicherung und vor allen (D)
nichts! Eine völlige Fehlbesetzung im Ministe- Dingen für die Sicherstellung einer qualitativ hochwerti-
rium!) gen und menschenwürdigen Pflege vorlegen.

Dass wir von diesem Konzept nicht viel halten, damit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben wir nicht hinter dem Berg gehalten. Trotzdem All das, was Sie beschreiben, sind Ihre Interpretationen
wäre es schön, wenn Sie uns endlich etwas Handfestes und hat nichts mit dem zu tun, was wir wollen. Wir ha-
auf den Tisch legen würden, damit die Politik der An- ben nie Kopfpauschalen für die Pflege gefordert. Eine
kündigung zu einer Reform führt. Kollegin hat hier angesprochen, wir hätten eine Indivi-
dualisierung des Pflegerisikos geplant. Ich weiß nicht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
was Sie lesen; in unserem Koalitionsvertrag finden Sie
Wir warten ferner auf die Reform der Pflegeausbil- das jedenfalls nicht.
dung, die Sie, Herr Rösler, uns seit Monaten ankündi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen. Wir warten auch weiterhin auf die Maßnahmen ge-
gen den Fachkräftemangel in der Pflege; auch das Sollten die Prognosen recht behalten, dann wird die
kündigen Sie uns seit Monaten an, Herr Minister. Zahl der Menschen, die – aus unterschiedlichen Gründen –
pflegebedürftig sind, bis zum Jahr 2050 auf rund 4 Mil-
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Warten auf lionen gestiegen sein. Ein großer Teil dieser Menschen
Godot!) wird an Demenzerkrankungen leiden. Fachleute rechnen
damit, dass jede zweite Frau und jeder dritte Mann ir-
Kurzum: Sagen Sie jetzt klar, verbindlich und un-
gendwann im Laufe seines Lebens von einer Demenz be-
missverständlich, was Sache ist, und eiern Sie nicht he-
troffen sein wird.
rum! So sehr uns Ihr Kurswechsel bestätigt und auch
freut, Gerade deshalb ist es für uns sehr wichtig, zu prüfen,
ob unser heutiges Pflegewesen in den zentralen Punkten
(Ulrike Flach [FDP]: Den es nicht gibt!) zukunftsfest ist. Zentrale Punkte sind die Ausbildung
so sehr beharren wir darauf, dass Ihre Ankündigungs- und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in unserem
und Verunsicherungspolitik in der Pflege endlich been- Land, die Betreuungssituation pflegebedürftiger Men-
det wird. schen sowohl in den Heimen als auch im familiären, im
häuslichen Umfeld und die Sicherstellung der Finanzie-
(Ulrike Flach [FDP]: Entweder-oder! Sie müs- rung. Wir wollen und müssen dieses System zukunftsfest
sen sich entscheiden!) gestalten und werden die dazu notwendigen Änderungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9911
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
(A) im System vornehmen. Wir haben heute die Chance, das ein vernünftiger Pflegebegriff ist? Wenn das der Fall (C)
im Sinne eines soliden und zukunftsorientierten Pflege- sein sollte, dann haben Sie die Menschen, die das wirk-
wesens zu tun; denn wer heute handelt, wird die sich ab- lich brauchen, bitter enttäuscht.
zeichnenden Entwicklungen positiv beeinflussen kön-
nen. Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Wir haben uns in den vergangenen Wochen intensiv Bundesminister für Gesundheit:
mit der Lebenssituation pflegebedürftiger Menschen be- Herr Seifert, ich weiß nicht, ob Sie mir in den letzten
schäftigt und werden das in diesem Jahr auch weiterhin Minuten richtig zugehört haben.
tun. Wir hinterfragen die Ausbildungs- und Arbeitssitua- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja, habe ich!)
tion unserer Pflegekräfte, wir werden die häusliche
Pflege stärker unter die Lupe nehmen, und wir werden Ich habe zum Begriff der Pflegebedürftigkeit gesagt,
uns der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs dass wir das angehen und daran arbeiten, dies umzuset-
widmen. zen.
(Hilde Mattheis [SPD]: Werden, werden, wer- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie erfinden ihn
den!) also neu!)

Last, but not least geht es auch um eine solide Finan- – Entschuldigung, jetzt bin ich dran.
zierung. Diese könnte mit dem, was die Linksfraktion Ich will und kann Sie hier ganz beruhigen. Der Minis-
uns heute vorgelegt hat, überhaupt nicht gewährleistet ter hat den ehemaligen Vorsitzenden des Beirats und die
werden. Herr Lanfermann, in dem Paket ist noch mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Mitglieder
enthalten, als Sie erwähnt haben; die Linke will nämlich des Beirats bereits wieder eingeladen, um genau die
die Teilabsicherung zu einer Vollabsicherung machen. In Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu besprechen und
dem Fall könnte man die Kosten und Ausgaben multipli- nach Lösungen zu suchen; denn es reicht nicht, auf ein
zieren. Das zeigt, wie unrealistisch Teile dieses Parla- Papier zu verweisen, aber den Übergang in die Realität
ments an dieses Thema herangehen. zu vernachlässigen. Wir arbeiten intensiv daran, und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Ilja zwar gemeinsam mit den Expertinnen und Experten, die
Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!) diese gute Grundlage geschaffen haben.

Wir wollen eine Reform mit Langzeitwirkung. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gelingt uns nur gemeinsam mit den Menschen, für die Wir wollen dafür sorgen, dass die Pflegeberufe end-
dieses System bestimmt ist. Deshalb werden wir auch lich die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.
(B) nicht mit der Finanzierungsdebatte beginnen, sondern (D)
zunächst mit den Menschen reden, die Pflege betrifft. (Hilde Mattheis [SPD]: Werden! Werden!)
Das sind alle pflegebedürftigen Menschen, ihre Angehö- Dazu gehört vor allen Dingen auch, dass die Berufsaus-
rigen und die Pflegekräfte. Ihnen hören wir zu, und dann bildung in der Pflege moderner und attraktiver gestaltet
handeln wir. Das ist eine sinnvolle Vorgehensweise. wird. Wir wollen die Qualifikation in den Pflegeberufen
Deshalb hat Minister Dr. Rösler auch im Dezember letz- breiter anlegen. Das ist gerade für die Motivation in der
ten Jahres damit begonnen, den Pflegedialog mit den Be- Pflege und für eine Lebensperspektive in diesem Beruf
teiligten zu führen. wichtig. Daran wollen wir arbeiten.
Mit den Expertinnen und Experten und mit den Be- (Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Nur
troffenen haben wir zunächst über den Fachkräftemangel Absichtserklärungen!)
gesprochen. Denn wir alle wissen doch, was eine gute
Pflege ausmacht und dass sie mit gut ausgebildeten Wir haben dies im Koalitionsvertrag beschlossen und
Fachkräften und entsprechend verfügbaren Betreuungs- wollen das im Rahmen eines neuen Pflegeberufsgesetzes
kräften steht und fällt. angehen, in dem die Ausbildungsinhalte für die Pflege-
berufe neu definiert werden. Geplant ist, die Ausbildung
in der Altenpflege, in der Gesundheits- und Kranken-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: pflege und in der Kinderkrankenpflege zusammenzufüh-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ren. Damit geben wir gerade den Absolventinnen und
Kollegen Seifert? Absolventen dieses Ausbildungsfeldes mehr berufliche
Entwicklungsmöglichkeiten an die Hand.
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Nichts
Bundesminister für Gesundheit:
Konkretes!)
Ja.
Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einge-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
richtet. Diese wird bis März dieses Jahres Eckpunkte
und damit eine Grundlage für das Gesetz erarbeiten.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie jetzt richtig ver-
standen, dass Sie die Ergebnisse der Gohde-Kommis- Wir halten die Zusammenführung der Ausbildung in
sion, die ja jahrelang getagt hat und von Ihrer Regierung den Pflegeberufen zu einem gemeinsamen Ausbildungs-
eingesetzt wurde, im Grunde genommen wegschmeißen strang deshalb für erforderlich, weil wir heute die Kern-
und jetzt von vorne anfangen, um herauszukriegen, was kompetenzen für die Pflege älterer Menschen ja nicht
9912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz


(A) nur in Pflegeheimen oder bei der häuslichen Pflege, son- Engagement unterstützen und gemeinsam mit ihnen (C)
dern genauso in Krankenhäusern und anderen, neuen überlegen, wie passende Hilfsangebote für sie aussehen
Wohnformen benötigen. können, damit sie nicht nur auf dem Papier bestehen,
sondern auch von ihnen angenommen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die umfas-
sende und zeitgemäße Ausbildung unserer Nachwuchs- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wollen, wol-
kräfte ist ein wichtiger Bereich, aber hier dürfen wir mit len, wollen!)
unseren Anstrengungen nicht aufhören. Genauso wichtig
ist es, dass wir eine gute Bezahlung für die Pflegekräfte Auch andere Initiativen sind unterstützenswert. Sie
erreichen. Wir haben mit dem Mindestlohn für die Pfle- haben das Thema Familienzeit angesprochen. Ich ver-
gehilfskräfte begonnen. Das ist eine Absicherung nach weise zum Beispiel auf das hervorragende Modell der
unten. Zeitspende. Damit können sozial verantwortliche Unter-
nehmen ihren Beschäftigten anbieten, sich zeitweise um
(Hilde Mattheis [SPD]: Aber auf massiven die Betreuung und Unterstützung von pflegebedürftigen
Druck von uns!) Menschen zu kümmern.
Es kann und muss aber auch einen angemessenen An-
stieg nach oben geben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kollegin Rawert?
neten der FDP)
Gerade die Einrichtungen wissen nur zu gut, wie wichtig Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
genau diese Arbeitsbedingungen sind, um qualifizierte Bundesminister für Gesundheit:
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an sich zu binden; denn
Ja, bitte.
sie suchen händeringend nach entsprechenden Fachkräf-
ten.
Mechthild Rawert (SPD):
Der Bedarf wird weiter zunehmen. Die Gründe dafür Frau Staatssekretärin, Sie haben davon gesprochen,
liegen auf der Hand. Die meisten Menschen wollen so dass ausländische Haushaltshilfen nun auch pflegerische
lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung, in ih- Grundtätigkeiten ausüben dürfen. Sind Sie der Meinung,
rem gewohnten Umfeld, versorgt werden. Deshalb ist dass die gesetzlichen Grundlagen im Hinblick auf die
gerade die häusliche Betreuung auch ein zentraler Punkt Arbeitnehmerfreizügigkeit, die für die neuen EU-Bei-
für eine zukunftsgerichtete Pflege. Wir wissen aber, dass trittsländer am 1. Mai in Kraft tritt, ausreichen?
das traditionelle Familienbild, in dem der Spruch gilt:
(B) (D)
„Gepflegt wird zu Hause“, aufgrund der unterschied- Ich habe eine zweite Frage. Die Bundesregierung hat
lichsten Entwicklungen in der Gesellschaft und hinsicht- den Ersten Gleichstellungsbericht überreicht bekommen,
lich der familiären Strukturen von vielen Menschen der eine Frauenquote, die Einführung des Mindestlohns
heute nicht mehr so gelebt werden kann, wie sie das viel- und die Aufhebung des Ehegattensplittings empfiehlt.
leicht gerne tun würden. So werden wir zwar immer äl- Welche Bedeutung hat der Gleichstellungsbericht für
ter, gleichzeitig ist die Zahl der Kinder rückläufig, und den Bereich Pflege, insbesondere für die Situation pfle-
es gibt mehr Singlehaushalte als früher. gender Angehöriger?
Deshalb hat die Bundesregierung gehandelt, und wir
handeln weiter. Wir haben die Beschäftigungsordnung Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
geändert. Damit haben wir dafür gesorgt, dass auch aus- Bundesminister für Gesundheit:
ländische Haushaltshilfen pflegerische Alltagsverrich- Zunächst zur Freizügigkeit, Frau Kollegin Rawert.
tungen und die Betreuung bei uns legal durchführen kön- Die Freizügigkeit ab dem Frühjahr wird noch mehr
nen. Das ist ein klares Beispiel dafür, dass wir uns mit Möglichkeiten bieten, dass auch ausländische Pflege-
unseren Vorstellungen hinsichtlich einer guten Pflege an kräfte, Hilfskräfte und Betreuungskräfte in Deutschland
den Wünschen der Betroffenen ausrichten. tätig sein können. Die rechtlichen Bedingungen für eine
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind gege-
Diese Wünsche erfährt man, indem man vor Ort und ben.
mit den Betroffenen im Gespräch ist. Deshalb werden
wir diesen Pflegedialog auch fortsetzen. Minister Rösler Wir wissen, dass viele Menschen, die derzeit teil-
hat für Februar zum zweiten Pflegedialog eingeladen. weise auch illegal Menschen aus dem europäischen Aus-
land beschäftigen, ein großes Bedürfnis nach Hilfestel-
Ich finde es ausgesprochen wichtig und richtig, dass
lung haben. Deshalb sind diese Themen Bestandteil der
auch die pflegenden Angehörigen als diejenigen, die die
Pflegedialoge.
Hauptlast physisch und psychisch aushalten müssen, in
den Pflegedialog mit einbezogen werden. Wir wollen mit den im Inland Beschäftigten, den Or-
ganisationen, den Pflegeverbänden, aber auch mit den
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Angehörigen nach Problemlösungen suchen, damit wir
der FDP)
dem Bedarf an Unterstützung im Haushalt – oft ist Ver-
Diese Menschen pflegen, trösten und schenken Zeit und fügbarkeit rund um die Uhr notwendig – stärker Rech-
Liebe, oft bis zur eigenen Erschöpfung. Genau diesen nung tragen können. Diese Fragen beraten wir zurzeit.
Menschen wollen wir helfen. Wir wollen sie in ihrem Wenn wir gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9913
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
(A) dann werden wir sicherlich dem Parlament in diesem Um all dies gewährleisten zu können, brauchen wir (C)
Jahr entsprechende Lösungen unterbreiten. eine solide Finanzierung. Kollege Lanfermann hat das
Prinzip der Kapitaldeckung erläutert. Es ist ein Sparen in
Zu Ihrer zweiten Frage, welche Bedeutung die Gleich- guten Zeiten für die Zeiten, in denen ein größerer Bedarf
stellung in der Pflege hat. Pflege ist weiblich. Nicht nur vorhanden ist. Das ist etwas, was Sinn macht, was nottut
die Beschäftigten, sondern auch die Betroffenen sind und was unserer Gesellschaft guttut. Wir werden auch in
aufgrund der höheren Lebenserwartung in der Regel diesem Punkt den Koalitionsvertrag erfüllen und Ihnen
Frauen. Ich habe das vorhin insbesondere für den Be- die Vorschläge unterbreiten. Aber auch hier gilt: Sorgfalt
reich der Demenz ausgeführt. vor Schnelligkeit. Die Pflegeversicherung ist in ihrem
Bestand bis zum Jahr 2014 finanziert. Deshalb werden
Wir wissen, dass auch die pflegenden Angehörigen wir uns dieses Jahr nehmen, um gute Ergebnisse für die
häufig Frauen sind. Es geht uns darum, die Strukturen Menschen in unserem Land zu erreichen. Wir nehmen
und Bedingungen insgesamt zu verbessern, damit die die Herausforderungen im Dialog mit den Menschen an.
Hauptlast nicht bei den Frauen liegt. Aber wir müssen Dazu wünsche ich uns konstruktive Beratungen.
die Ursachen angehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deshalb müssen wir entsprechende Einstufungen vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nehmen und den allgemeinen Betreuungsbedarf stärker
berücksichtigen. Es geht um die Vernetzung der Ange-
bote gerade auch in den verschiedenen Wohnformen, da- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mit den Anliegen der Betroffenen stärker Rechnung ge- Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-
tragen werden kann. tion.

Was die pflegenden Frauen zu Hause angeht, ist es (Beifall bei der SPD)
sehr wichtig, dass sie auch ihre Erfahrungen im Alltag
verarbeiten können und Hilfe und Unterstützung erhal- Dr. Karl Lauterbach (SPD):
ten, um mit dieser verantwortungsvollen, befriedigen- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
den, aber auch sehr schwierigen Aufgabe fertigzuwer- Herren! Zunächst einmal muss auch ich einräumen, dass
den. In diesem Sinne verlaufen die Gespräche. Wir ich Herrn Singhammer heute gerne gratuliert hätte. Aber
werden Ihnen im Parlament von den Ergebnissen berich- es gibt offenbar keinen Anlass. Ich bin mir nicht im Kla-
ten und entsprechende Maßnahmen einleiten. ren darüber, was gilt. Ich will aber klar sagen: Wenn Ihr
Ansatz der war, dass eine individualisierte Kapitalde-
Dass uns die Qualität sehr wichtig ist, damit die gute ckung unsinnig ist, dann hätten Sie damit recht, ohne
(B) Pflege auch weiterhin gesichert wird, sehen Sie daran, Wenn und Aber. Diese Übung haben wir schon einmal (D)
dass wir uns nicht mit der Situation im Zusammenhang gehabt. Das ist eine kleine Zusatzversicherung, die einen
mit der Pflege-Transparenzvereinbarung abfinden. Wir hohen bürokratischen Aufwand bringt und bei der die
werden dem Parlament gemeinsam mit den Koalitions- Abschlusskosten so hoch sind, dass man die ersten
fraktionen einen Vorschlag unterbreiten, damit das gel- 20 Jahre einzahlt, um die Abschlusskosten zu decken,
tende Recht, das noch von der Vorgängerregierung unter sodass selbst die private Assekuranz, die privaten Kran-
der Großen Koalition verabschiedet wurde, möglichst kenversicherungen, an dieser Versicherung kein Inte-
schnell geändert wird, damit wir zu Entscheidungen resse haben. Die ist normalerweise ein sehr maßgebli-
kommen, die für mehr Transparenz und letzten Endes cher Ratgeber zumindest für die FDP und für Herrn
mehr Qualität in der Pflege sorgen können. Rösler. Wenn somit selbst die private Assekuranz das
nicht verfolgt, dann müssten Sie doch sagen: Das räu-
Ich habe zu dem Themenkomplex der Demenz und men wir ab. – Heute wäre eine gute Gelegenheit dazu
der Herausforderungen für die entsprechenden betreueri- gewesen. Jetzt wissen wir wieder nichts. Aber die Argu-
schen Fähigkeiten, aber auch für die Einbeziehung von mente sind stabil. Das kann zu nichts führen; das ist Bü-
Unterstützung gerade dann, wenn es sich nicht um Ver- rokratie pur.
richtungen dreht, sondern wenn es um die Betreuung Es ist im Übrigen auch auf der folgenden Grundlage
und Begleitung geht, gesprochen, und deshalb wird sich Unsinn: Wenn der eine eine solche Kapitaldeckung hat,
die Diskussion der kommenden Wochen und Monate der andere aber nicht und beide Menschen im selben
sehr stark auf die Entwicklung sachgerechter Strukturen Zimmer liegen, dann kann es den Pflegekräften doch
und Angebote richten; denn wir wollen dem Anspruch, nicht ernsthaft zugemutet werden, dass der eine Patient
den Menschen in dieser besonderen Lebenssituation zu anders gepflegt wird als der andere. Eine Zweiklassen-
helfen, gerecht werden. pflege, wie sie vielleicht dem einen oder anderen FDP-
Ideologen noch recht wäre, ist doch dem Personal und
Versorgungsforschung, also die Frage, wie Versor- den Menschen nicht zuzumuten. Daher sage ich: Räu-
gung für Menschen mit Demenz aussehen muss, ist uns men Sie das Ding ab, machen Sie sich sauber, verab-
ganz wichtig; denn hier sind große Defizite vorhanden. schieden Sie sich davon!
Der Leuchtturm, den die Bundesregierung mit einem
großen Forschungsprojekt unterstützt hat, bietet auch (Beifall bei der SPD)
hier gute Grundlagen für die Entwicklung neuer Ange-
Der Koalitionsvertrag – das hat selbst Frau Merkel
botsformen. Wir werden diese Auswertung zur Grund-
gesagt – war kein großer Wurf. Sie war damals müde.
lage nehmen, um unsere Entscheidungen sachgerecht
voranzubringen. (Heiterkeit bei der SPD)
9914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Dr. Karl Lauterbach


(A) Das stand in einem Bericht im Spiegel. Das war nach einen Sozialausgleich. Das ist dann ein weiterer Mini- (C)
den langen Wahlkämpfen, und sie war in einer Phase der sozialausgleich. In diesem Zusammenhang stellt sich die
Müdigkeit. Das war nicht das Beste. Somit gibt es im Frage: Berücksichtigt man auch andere Einkommen wie
Koalitionsvertrag, der nicht komplett gelungen ist, Miet-, Zins- und Kapitalerträge? Wie messe ich das Ein-
Dinge, die besser sind, und Dinge, die schlechter sind. kommen? Das ist eine Riesenbürokratie.
Das ist eben ein Murks. Da muss man die Größe haben,
Somit sind Sie mit dem Murks im Prinzip wie folgt
zu sagen: Das ist ein Murks. Das ist uns nicht gelungen.
gefangen: Entweder die Kapitaldeckung ist zu klein, als
Das räumen wir jetzt ab. – Dann hätte ich Respekt vor
dass es sich lohnt, oder man braucht erneut einen Sozial-
Ihnen. Herr Singhammer, bleiben Sie am Ball. Ich gehe
ausgleich. Dann hat man aber eine gigantische Bürokra-
davon aus, dass Sie wissen, wovon Sie sprechen. Setzen
tie. Insofern sind im Prinzip alle Vorschläge, wenn ich
Sie sich gegen die Ideologie und die private Assekuranz
ganz offen sprechen darf, Murks. Sie haben zum jetzigen
durch, Herr Singhammer. Unsere Unterstützung haben
Zeitpunkt nicht die Größe, zu sagen, dass sich das nicht
Sie. Das teile ich Ihnen im Namen meiner Fraktion mit.
lohnt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Schauen Sie doch in andere Bereiche. Es gibt Bedarf.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir könnten Ihre Arbeit benötigen. Die Staatssekretärin
Gehen wir jetzt auf die belehrenden Äußerungen des hat gerade davon gesprochen, was alles gut sei. Tatsache
jungen Wissenschaftlers Lanfermann ein. ist: Zum Thema Bürokratieabbau in den Pflegeeinrich-
tungen haben wir von Ihnen bisher noch nichts gehört.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Hochmut kommt
Es gibt keinen einzigen Ansatz, die Bürokratie in den
vor dem Fall, Herr Professor!)
Pflegeeinrichtungen zu beseitigen.
Er hat uns gerade erläutert, die Menschen würden immer (Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie eine
älter, künftig werde es weniger Beitragszahler geben Idee?)
usw. Das war sehr tiefgreifend. Herr Lanfermann, wir
alle haben zugehört. Aber zwei wichtige Sachen haben – Wir haben Ideen. Wenn wir regieren würden, wäre es
Sie schlicht vergessen. Sie haben gesagt, es wären im- schon erledigt.
mer mehr Menschen zu pflegen. Aber das hängt doch
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
davon ab, wie viele Menschen im Jahr 2050 depressiv
SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Dann lassen
oder demenzerkrankt sind. Das wissen Sie doch heute
Sie sie doch mal rüberkommen!)
noch nicht.
Wir werden von Ihnen ständig kritisiert, als wenn wir
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aber Sie, oder
keine Vorstellungen hätten. Bringen Sie in Erinnerung:
(B) was?) (D)
Im Moment regieren noch Sie. Sie können uns nicht
– Nein, aber ich sage auch nichts dazu. Herr Lanfermann ständig vorwerfen, wir wären untätig. Wir haben Vorstel-
hingegen macht hier Angaben und rechnet uns vor, wie lungen.
es sein wird. – Die Wahrheit ist: Wenn es uns gelingt,
(Heinz Lanfermann [FDP]: Was sind denn Ihre
Depressionen und Demenz besser zu behandeln, dann
Vorschläge?)
wird es viel weniger Pflegebedarf geben. Von daher bitte
ich Sie: Langweilen Sie uns nicht mit diesen Ausführun- Von Ihnen kommt nichts.
gen, sondern sagen Sie, was Wahrheit ist!
(Beifall bei der SPD)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Arrogant bis zum
Zum Pflege-TÜV: Sie waren noch nicht einmal in der
Himmel! Das können Sie mit Ihren Studenten
Lage, den bereits bestehenden Pflege-TÜV in die Fläche
machen!)
zu bringen. Da sind Sie jetzt auf ein Schiedsverfahren
Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie groß der mit völlig offenem Ausgang angewiesen. Nichts ist ge-
Bedarf sein wird. lungen.
Jetzt zu den Alternativen, die Sie genannt haben. Es Zum Abschluss: Auch zur Vorsorge von Pflegebe-
gibt zwei Möglichkeiten, die Kapitaldeckung einzufüh- dürftigkeit ist bisher nichts gekommen.
ren.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Da reparieren wir
Die erste Möglichkeit ist eine kleine Zusatzkopfpau- doch Ihr Gesetz!)
schale, damit man keinen Sozialausgleich braucht. Dann
Verlassen Sie sich darauf: Wir werden in der Tat die
baut sich das Geld allmählich auf, sodass man, nachdem
ersten Gesetze in diesem Bereich machen; denn bis Sie
die Babyboomer alle tot sind, eine gute Rendite erwirt-
in die Schuhe kommen, sind Sie abgewählt. Ich verspre-
schaftet. Grob gesprochen: Die Kapitaldeckung muss
che Ihnen: Im ersten Jahr unserer Arbeit legen wir zu-
dann so klein sein, damit sich das nie lohnt. Es kommt
sammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Grünen
dann zu spät. Der Ertrag ist so gering, dass es sich
brauchbare Gesetze vor.
schlicht nicht lohnt. Das ist Bürokratie. Man hat keinen
Sozialausgleich; aber man bekommt auch nichts zusam- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wissen die Grünen
men. Man läuft sozusagen unter der Messlatte durch. schon davon?)
Die zweite Möglichkeit ist: Man nimmt mehr, eine Ich glaube, dass die Regierungsbank hier in der Mitte
größere Kopfpauschale. Dann braucht man aber erneut des Hauses ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9915
Dr. Karl Lauterbach
(A) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Senger-Schäfer, so geht es nun wirklich nicht. Sie kön- (C)
nen nicht einfach sagen: So geht es nicht!
(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann
[FDP]: Jetzt haben Sie schon Orientierungs- (Lachen bei der LINKEN)
probleme!)
Das ist schon stark. Sie fordern die Erweiterung von
Leistungen; aber dann kommt nichts mehr. Sie sagen gar
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nichts dazu, wer das bezahlen soll.
Das Wort hat nun Willi Zylajew für die CDU/CSU-
Fraktion. (Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]:
Doch!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Frau Ferner – sie ist leider nicht mehr da – hat durch
ihre Zwischenfrage erfahren wollen, wie der Kapital-
Willi Zylajew (CDU/CSU): stock ausgestaltet sein soll. Darf ich die Kolleginnen und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kollegen der SPD, die ich, zumindest die fachkompeten-
Interessante beim Kollegen Lauterbach ist, dass er ten, weit überwiegend schätze, einmal dezent darauf hin-
– wohl vom Dozieren her darauf trainiert – immer wie- weisen, dass in unserem Koalitionsvertrag aus dem Jahre
der zu Dingen spricht, die nicht auf der Tagesordnung 2005 eine Demografiereserve vereinbart war? Dort
stehen. Von den Linken liegen ein Antrag und eine stand: Wir bauen eine Demografiereserve auf. Jetzt soll
Große Anfrage zur Beratung vor. Herr Lauterbach, wenn das plötzlich etwas Schlimmes, Negatives, Gefährliches,
Sie das im Protokoll nachlesen, werden Sie feststellen, nicht Zukunftsweisendes sein. Die Halbwertszeit Ihres
dass Sie keinen einzigen Satz dazu gesagt haben. Gedächtnisses ist da minimal.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das stimmt!) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Spätrömi-
Da frage ich mich: Was macht es für einen Sinn, wenn sche Demenz!)
wir hier eine Debatte führen und uns mit Vorlagen aus- Frau Mattheis, wir werden die Erweiterung des Pfle-
einandersetzen und dann jemand Redezeit verschleißt, gebedürftigkeitsbegriffs umsetzen. Das war doch das
ohne etwas zur Sache zu sagen? Ziel. Frau Schmidt hat das als Ministerin geschickt ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – macht: zunächst die Reform, erst dann Veränderung des
Ulrike Flach [FDP]: Das macht er immer so! – Begriffs. Sie ist sehr clever vorgegangen. Sie hat nicht
Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Zur Sache wohl!) erst den Begriff verändert und dann die Reform durchge-
führt. Wir werden das anders machen. Die Menschen
Nach meiner Auffassung sind die Vorlagen für eine können sich darauf verlassen, dass wir das umsetzen,
(B) sachliche Debatte nicht geeignet; sie sind vielmehr rein (D)
was notwendig ist, und das tun, was Sie nicht geschafft
populistisch. haben.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!) Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass hier breit
– Kollege Ilja Seifert, auf Sie komme ich noch zu spre- diskutiert wird. Frau Scharfenberg sucht eine Mehrstim-
chen. – Diese Debatte sollte aber schon dazu genutzt migkeit. Wir, CDU/CSU und FDP, haben eine kreative
werden, dass wir uns mit dem Anliegen auseinanderset- Mehrstimmigkeit, um zu den besten Ergebnissen zu
zen. kommen.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Kreative
Wir sind für jeden dankbar, der dazu einen konstruktiven Mehrstimmigkeit! Das ist ja mal was Neues!)
Beitrag leistet.
Sie können sicher sein – die Kollegen Singhammer und
Wir als Union und unser Koalitionspartner können sa- Lanfermann haben das hier in bestem Einvernehmen er-
gen: Die Pflegeversicherung ist ordentlich finanziert. klärt –: Wir arbeiten an der besten Lösung, und die wird
Wir müssen sie für künftige Herausforderungen ertüchti- auch kommen.
gen. Das werden wir auch tun. Darauf können sich die
Menschen im Land verlassen; das war immer so. 1995 Wir haben noch ein paar andere Dinge zu berücksich-
haben wir die Pflegeversicherung eingeführt. Zwischen tigen – ich will sie schnell ansprechen –: neuer Pflegebe-
1998 und 2005, also größtenteils unter Ministerin griff, Dynamisierung, Demenzversorgung, neue Wohn-
Schmidt, ist nichts passiert. In der letzten Wahlperiode formen, Ausbildung. Wenn all das erledigt ist, reden wir
haben wir den Anstoß gegeben, zu dynamisieren, die über die Finanzierung. Die Einhaltung dieser Reihen-
Dementen zu berücksichtigen, folge ist wichtig. Sie würden wahrscheinlich zunächst
die Finanzierung sicherstellen und dann fragen: Was ma-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: So sieht’s aus!) chen wir mit dem Geld bzw. dem Defizit? So vorzuge-
hen, ist nicht unsere Art.
die ambulante Pflege zu stärken. All das ging auf unsere
Initiative zurück. Von Ihnen ist da gar nichts gekommen. Zurück zum Antrag, Drucksache 17/4425. Auf Seite 2,
letzter Absatz – Herr Singhammer hat das angesprochen –,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
steht: Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung ist
Wir laden dieses Jahr die Pflegeaffinen aller Parteien deutlich anzuheben usw. Wenn man sämtliche zusätzli-
ein, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Aber, Frau chen Kosten zusammenrechnet – ich habe mir die Mühe
9916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Willi Zylajew
(A) einmal gemacht –, dann brauchen wir etwa 10 bis Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (C)
20 Milliarden Euro mehr, und das bis zum Jahre 2027,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nicht erst 2040. Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie die
neten der FDP)
Umsetzung Ihrer Forderungen finanziert werden soll.
Das ist unredlich. Das wird auch jeder merken.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Wir Das Wort hat nun Ilja Seifert für die Fraktion Die
hatten vorhin das Thema Afghanistan-Einsatz! Linke.
Ein Drittel der Kosten!)
(Beifall bei der LINKEN)
Die Linken erwecken bei mir manchmal den Ein-
druck: Nachdem sie es nicht geschafft haben, die gute
soziale Marktwirtschaft von außen zu zerstören, Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Von gen! Herr Zylajew, ich weiß nicht, was ich von diesem
außen? Sie haben die gute soziale Marktwirt- Lob halten soll. Sie schaffen es jedenfalls nicht, mich ge-
schaft von innen zerstört! So sieht es nämlich gen meine Kollegin auszuspielen.
aus!)
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/
versuchen sie es jetzt durch überzogene Anträge von in- CSU]: Das ist schade!)
nen;
Wir haben in der Pflege – das weiß jeder, der sich mit
(Lachen bei der LINKEN) diesem Thema befasst – kein Erkenntnisproblem, son-
dern ein Umsetzungsproblem. Wir wissen doch, was wir
aber auch das wird nicht funktionieren.
brauchen. Jeder, der sich ein bisschen damit beschäftigt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – weiß, dass es bald darum gehen wird, Pflege und assis-
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Halten tierende Begleitung, die mindestens genauso wichtig ist,
Sie eine Büttenrede?) aus den Heimen in die Wohnungen zu verlagern.
Ich fasse die Notwendigkeiten noch einmal zusam- (Beifall bei der LINKEN)
men.
Darüber redet aber fast niemand. Das muss man doch
(Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: Wir zumindest einmal erwähnen.
haben bald Karneval! Aber bitte ein bisschen Herr Kollege Zylajew, wir haben auch keinen Bedarf
mehr Ernsthaftigkeit!) an einer Demografiereserve. Vielmehr brauchen wir ei- (D)
(B)
Wir brauchen eine ordentlich finanzierte Pflegeversiche- nen Bonus, der sich aus der Produktivitätsentwicklung
rung. Wir brauchen eine Vorsorge für die geburtenstar- ableitet. In die Berechnung muss die Steigerung der Pro-
ken Jahrgänge. Wenn uns die Jahrgänge 1949 bis 1969 duktivität einbezogen werden und nicht, wie viele Leute
auf der Lastenseite erreichen, muss eine Beitragsreserve arbeiten.
vorhanden sein. Diese Reserve müssen wir heute anspa- (Beifall bei der LINKEN)
ren. Wir wollen, dass jetzt mehr Menschen wenig mehr
bezahlen, um einen Kapitalstock aufzubauen, damit Das ist, woraus wir Einnahmen generieren können. Es
nicht später weniger Menschen sehr viel mehr zahlen geht nicht um die Anzahl der Beschäftigten, die nach der
müssen, um die Leistungen halbwegs zu erhalten; denn Demografieprognose immer weniger werden. Es geht
Letzteres kann nicht der richtige Weg sein. Wir müssen um einen Produktivitätsfaktor.
fair sein gegenüber denen, die als Angehörige auf eine
Lassen Sie uns darüber reden – das ist der zentrale
ordentliche Leistung warten, und denen, die als poten-
Punkt –, was wir eigentlich brauchen. Ich freue mich ja,
zielle Pflegefälle – das sind auch wir – auf eine Leistung
dass es mit Ihnen, Herr Zöller und Herr Singhammer,
warten. Wir müssen auch den Mitarbeiterinnen und Mit-
und Ihnen aus Nordrhein-Westfalen, Herr Zylajew, eine
arbeitern, die wir anwerben wollen, deutlich machen,
Koalition aus CDU und CSU gegen die FDP gibt; das
dass die Pflegeversicherung auf Dauer ordentlich finan-
finde ich prima.
ziert ist. Wer begibt sich denn in ein so schwieriges Ar-
beitsfeld, wenn ein paar Linke oder andere immer wie- (Beifall bei der LINKEN – Ulrike Flach
der sagen: „Das ist alles nicht solide finanziert; das ist [FDP]: Das ist aber nicht Teil der Debatte ge-
nicht in Ordnung; da kann man sich auf nichts verlas- wesen!)
sen“? Das ist nicht der richtige Weg.
Wir machen mit, wenn wir dazu kommen, die Bedürf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nisse derer, die jetzt auf Hilfe angewiesen sind, zu de-
cken und nicht immer weiter in die Zukunft zu schauen.
Frau Senger-Schäfer, ich kann nur feststellen: Ihr An-
Was im Jahr 2050 sein wird, interessiert heute keinen
trag war rein populistisch. Trotzdem haben wir ihn für
Menschen. Wir müssen jetzt den Leuten helfen, die Hilfe
eine halbwegs vernünftige Diskussion genutzt. Ich hoffe
brauchen.
sehr, dass Ihr kompetenter Sachverstand für Pflege, Herr
Dr. Seifert, uns deutlich macht, dass es auch bei den Lin- Sie haben die Regierung beauftragt, einen neuen Pfle-
ken noch einige gibt, die das Thema Pflege ordentlich, gebegriff zu erarbeiten. Der Beirat zur Überprüfung des
sachlich und konstruktiv bearbeiten. Pflegebedürftigkeitsbegriffs unter Vorsitz von Jürgen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9917
Dr. Ilja Seifert
(A) Gohde hat einen sehr guten Vorschlag vorgelegt. Ich Kriterien zu unterwerfen. Laute Proteste von Bürgerin- (C)
hatte diesen Beirat im Vorhinein kritisiert. Als das Er- nen und Bürgern, von Gewerkschaften und Sozialver-
gebnis auf dem Tisch lag, habe ich mich für meine Kritik bänden werden schlichtweg ignoriert oder gar belächelt.
entschuldigt. Ursprünglich dachte ich, dass seine Mit- Wes Geistes Kind diese Bundesregierung ist, haben die
glieder nur ein Gefälligkeitsgutachten erstellen. Sie ha- Menschen in Deutschland aber mittlerweile erkannt. Sie
ben aber richtig ordentliche Arbeit geleistet. haben bei dieser Regierung die berechtigte Furcht vor
dem Damoklesschwert einer weiteren Entsolidarisierung
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- unserer Sozialsysteme; denn die nächste Angriffswelle
neten der SPD) des Rösler’schen Kreuzzuges gegen die Prinzipien des
Sie sagen, dass es nicht um „satt, sauber, trocken“ geht, Miteinanders in unserer Gesellschaft ist in Stellung ge-
sondern um die Ermöglichung von Teilhabe, auch wenn bracht – ihr Ziel: die gesetzliche Pflegeversicherung.
jemand auf fremde Hilfe angewiesen ist – ob das in jun- Wurde die Opposition im vergangenen Jahr mancher-
gen Jahren ist, wie bei Menschen mit Behinderung, oder orts noch für ihre Warnungen zu den Konsequenzen der
im Alter. Gesundheitsreform gescholten, ist die Lage heute doch
In jedem Falle wollen die Menschen teilhaben. Je- eindeutig.
mand, der im Sterben liegt, hat natürlich ein anderes Teil- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Fi-
habebedürfnis als jemand, der noch sein ganzes Leben nanzen sind super!)
vor sich hat, arbeiten geht und seine Freizeit genießen
will. Es ist völlig klar, dass wir das auseinanderhalten Die Versicherten tragen die finanzielle Hauptlast. Die
müssen. Es geht, wie gesagt, darum, Teilhabe zu ermög- Arbeitgeber werden aus der Parität für immer entlassen,
lichen, und nicht darum, die Heime vollzubekommen. und die private Krankenversicherung wird kräftig aufge-
Vor diesem Problem stehen wir zurzeit. päppelt. Jetzt betreibt diese Bundesregierung aus CDU/
CSU und FDP die Privatisierung des Pflegerisikos.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Da müssen Sie sel-
ber schmunzeln!)
Es gibt ein Umsetzungsproblem. Frau Staatssekretä-
rin, wir brauchen daher keine Kommission, die sich ei- Was Sie jetzt vorhaben, ist Folgendes: erstens die Ein-
führung einer zusätzlichen Kopfpauschale für die Pflege
nen neuen Begriff ausdenkt. Wir müssen vielmehr den
und damit einer faktischen Mehrbelastung der Versicher-
Begriff, der ausgearbeitet worden ist, mit Leben erfüllen.
ten, zweitens die damit verbundene Entsolidarisierung
Dazu hat unser heutiger Antrag, wie ich finde, eine sehr
der Pflegeversicherten durch die Aufgabe des Prinzips
gute Diskussionsgrundlage geliefert. Lassen Sie uns auf wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Einzelnen bei der
(B) dem Wege weitermachen. Dann kommen wir auch zu ei- Beitragserhebung, drittens die Schaffung eines Zusatzge- (D)
nem Ergebnis, welches den Menschen, die heute Pro- schäftes für private Versicherungsunternehmen. Hinzu
bleme haben, helfen wird. kommt die perspektivische Verlagerung auf ein reines
Danke schön. Kopfpauschalensystem mit individuellen Kapitalstöcken.
(Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
tionen, die Versicherten, Pflegebedürftigen und deren
Angehörigen erwarten mehr. Eines muss Ihnen klar sein:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie setzen mit Ihren Plänen die hohe Akzeptanz der noch
Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesord- jungen Pflegeversicherung leichtfertig aufs Spiel.
nungspunkt hat Kollege Steffen-Claudio Lemme für die
SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Die Menschen wollen keinen radikalen Umbau der Fi-
nanzierung. Sie wollen eine passgenaue und an den Be-
Steffen-Claudio Lemme (SPD): dürfnissen des Einzelnen orientierte Pflege. Die Versi-
cherten erwarten zu Recht ausreichend und gut geschultes
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Personal, ein Ende der Pflege im Minutentakt und bessere
Herr Dr. Rösler und Frau Staatssekretärin Widmann-
Voraussetzungen für die Pflege daheim durch ihre Ange-
Mauz! Der Grundsatz meiner Fraktion ist: Das Lebensri-
hörigen. Kurz: Sie wollen Verbesserungen bei der Quali-
siko, pflegebedürftig zu werden, darf nicht privatisiert tät der Pflege, insbesondere bei der Pflegeinfrastruktur.
werden.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Ich will an dieser Stelle aber auch noch einige Worte
GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das hat zum Antrag der Fraktion Die Linke verlieren, der Anlass
auch keiner vor!) dieser Debatte ist. Zu meinem Bedauern muss ich fest-
stellen, dass Sie mit Ihrem Antrag wieder einmal nicht
Aber die jüngste Gesundheitsreform ist gerade erst in die Debatte in der Sache suchen. Die von Rot-Grün ein-
Kraft getreten, da machen sich Bundesgesundheitsminis- geführte freiwillige Riester-Rente wird mit Herrn Rös-
ter Philipp Rösler und seine Gefolgschaft erneut ans lers Plänen in einen Topf geworfen.
Werk. Rastlos sind sie – das muss man schon sagen –,
haben sie sich doch nicht weniger vorgenommen, als die (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Denken Sie
gesamte Gesundheitsversorgung radikal wirtschaftlichen mal darüber nach!)
9918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Steffen-Claudio Lemme
(A) Da werden die Neuerungen des Pflege-Weiterentwick- Verteidigungsausschuss (C)
lungsgesetzes von 2008 geschmäht. Weiterhin wird der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
demografische Wandel, der auch ein maßgeblicher Fak- Entwicklung
tor ist, schlicht ausgeblendet. Ich sage Ihnen: Mit den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Forderungen in Ihrem Antrag nach einer deutlichen An-
hebung des Leistungsniveaus wecken Sie bei den Men- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
schen nur falsche Erwartungen. Sie dienen der eigentli- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
chen politischen Auseinandersetzung nicht. dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich fasse noch einmal zusammen. Wir als SPD sagen Ich eröffne die Aussprache und erteile Joachim Spatz
Nein zur Privatisierung der Pflege und auch Nein zu ei- für die FDP-Fraktion das Wort.
ner Politik der überzogenen Erwartungen. Jetzt muss es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
notwendigerweise darauf ankommen, die Pflege im Hin- der CDU/CSU)
blick auf Qualität und Infrastruktur im Sinne der Betrof-
fenen zu stärken.
Joachim Spatz (FDP):
Vielen Dank. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
(Beifall bei der SPD) gen! Ich fühle mich leider Gottes ein bisschen an meine
Zeit im Bayerischen Landtag erinnert, in dem, als es um
Bildungspolitik ging, viele Kollegen den Saal verlassen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
haben, sodass die Kolleginnen und Kollegen des ent-
Ich schließe die Aussprache.
sprechenden Ausschusses wieder unter sich waren. Das
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ist schade,
Drucksache 17/4425 an die in der Tagesordnung aufge-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ihr habt
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
es doch in der Hand!)
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen. weil es sich bei ziviler Krisenprävention und vernetzter
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Sicherheit um eines der Zukunftsthemen deutscher Au-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache ßenpolitik handelt.
17/4557. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
ßungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
(B) fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung GRÜNEN]) (D)
von SPD und Grünen abgelehnt.
Nach der Neubestimmung der NATO-Strategie, die
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: maßgeblich unter deutscher Mitwirkung erfolgte, gibt es
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zwei weitere große Herausforderungen der strategischen
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspoli-
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung tik in den nächsten Jahren. Zum einen geht es um eine
verstärkte europäische Integration dieser Themen aus
Dritter Bericht der Bundesregierung über die vielen verschiedenen Gründen. Zum anderen geht es um
Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisen- die Schwerpunktverlagerung weg von militärischen In-
prävention, Konfliktlösung und Friedenskon- strumenten hin zu ziviler Krisenprävention und, falls
solidierung“ eine Krise schon eingetreten ist, natürlich um vernetzte
– Drucksachen 17/2300, 17/2971 Nr. 1.2, Sicherheit, also – wenn Sie so wollen – einen Compre-
17/4272 – hensive Approach, sprich: die Berücksichtigung anderer
Determinanten der Sicherheitsbildung.
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter Dazu haben wir in den letzten Jahren sowohl in Af-
Edelgard Bulmahn ghanistan als auch anderswo die Erfahrung machen müs-
Joachim Spatz sen, dass militärische Mittel an der einen oder anderen
Stefan Liebich Stelle notwendig sein mögen, aber in den seltensten Fäl-
Kerstin Müller (Köln) len ausreichen, um eine stabile Situation in den betroffe-
nen Ländern herzustellen. Good Governance, Aufbau
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard von Polizei und von Rechtsstaatlichkeit sowie die Schaf-
Bulmahn, Lothar Binding (Heidelberg), Klaus fung wirtschaftlicher Betätigungsmöglichkeiten für ein
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak- menschenwürdiges Auskommen in den Ländern sind ge-
tion der SPD nauso wichtige Themen, wie der Aufbau von Bildungs-
Deutschland braucht dringend eine kohärente einrichtungen und der gleichberechtigte Zugang zu Bil-
Strategie für die zivile Krisenprävention dung.
– Drucksache 17/4532 – Der Bericht, den die Bundesregierung Ihnen vorge-
Überweisungsvorschlag: legt hat, gibt einen guten Überblick über den Sachstand
Auswärtiger Ausschuss (f) der Weiterentwicklung der deutschen Außenpolitik auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9919
Joachim Spatz
(A) diesen Gebieten. Außerdem weist er auf Entwicklungs- Das positive Beispiel – lassen Sie mich das zum (C)
perspektiven hin. Der Unterausschuss schlägt Ihnen vor, Schluss noch sagen – ist der Sudan. Heute Vormittag ist
diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen, und fordert Sie viel über Afghanistan gesprochen worden. Im Sudan ist
auf, die Form der Berichterstattung durch die Bundes- es gelungen, jedenfalls bis jetzt, einen schwierigen Pro-
regierung dahin gehend zu ändern, dass nur alle vier zess mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention zu
Jahre ein umfassender Bericht vorgelegt wird. In den meistern. Experten behaupten, dass dieser Konflikt,
drei dazwischen liegenden Jahren sollen Zwischenbe- wenn er militärisch ausgetragen würde, in den nächsten
richte zu Schwerpunktthemen erstellt werden. Die feh- zehn Jahren Schäden in Höhe von Hunderten von Mil-
lende Schwerpunktsetzung im Bericht war Teil der Kri- liarden Euro verursachen würde, von den menschlichen
tik. Verlusten und den tragischen Schicksalen gar nicht zu
reden.
In dem Politikansatz manifestiert sich sowohl die
Kontinuität als auch die Weiterentwicklung der deut- (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Sehr rich-
schen Außenpolitik. Die Kontinuität besteht darin, dass tig!)
wir, vor allem was die Instrumente anbetrifft, einen An-
Ich wünsche mir, dass wir diesem Konflikt auch in Zu-
satz der rot-grünen Regierung aufgreifen. Ein Instrument
kunft mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention er-
ist der Ressortkreis, der die Aufgabe hat, die betroffenen
folgreich begegnen.
Politikbereiche – Auswärtiges, Verteidigung, Inneres
und wirtschaftliche Zusammenarbeit – zusammenzufüh- Ich wünsche mir ferner, dass das konstruktive Mitei-
ren. Wir nehmen den Beirat „Zivile Krisenprävention“ nander, das in unserem Unterausschuss vorherrscht – das
als Mitgestalter dieser Politik wieder verstärkt in den Fo- sei hier auch einmal erwähnt –, bestehen bleibt; denn das
kus, und wir unterstützen das ZIF, das im Rahmen der zi- ist im Sinne der Sache.
vilen Friedensmission eine wichtige Rolle spielt.
Danke schön.
Neu ist, dass sich der Unterausschuss „Zivile Krisen-
prävention und vernetzte Sicherheit“ der Themen, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
hier diskutiert werden, annimmt. Wir kümmern uns so- der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜND-
wohl um die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses NIS 90/DIE GRÜNEN])
Feldes als auch um einzelne Länder. Es ist wichtig, zu
wissen, dass es positive Beispiele für die zivile Krisen- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
prävention gibt; am Schluss meiner Ausführungen Das Wort hat nun Edelgard Bulmahn für die SPD-
komme ich auf ein Beispiel zu sprechen. Fraktion.
(B) Wichtig ist auch, dass wir die Kapazität trotz schwie- (Beifall bei der SPD) (D)
riger Zeiten weiter ausbauen. Ich weiß, dass uns nachher
wieder vorgeworfen wird, dass wir an der einen oder an- Edelgard Bulmahn (SPD):
deren Stelle gekürzt haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
(Burkhard Lischka [SPD]: Das ist so! Das lässt Herren und Damen! Willy Brandt prägte vor vielen Jah-
sich nicht infrage stellen! – Edelgard Bulmahn ren den Satz:
[SPD]: Nicht nur Sonntagsreden, sondern auch Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller
Taten!) Dinge.
Man muss aber berücksichtigen, dass dem militärischen In den letzten drei Wochen konnte die ganze Welt er-
Bereich in dieser Zeit ein Abschmelzen der Kapazitäten leben, dass erfolgreiche zivile Krisenprävention möglich
in einem nicht unerheblichen Maße zugemutet wird. In ist. Im Sudan konnte eine drohende Welle der Gewalt,
diesem Konzert ist schon das Sichern von Finanzmitteln womöglich sogar ein Bürgerkrieg, durch ein konsequen-
ein Erfolg; dessen können wir uns sicher sein. tes ziviles Konfliktmanagement der internationalen Staa-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tengemeinschaft und vor allen Dingen der Afrikanischen
Union verhindert werden. Noch kurz vor Beginn des Re-
Aufgrund unserer Rolle innerhalb der EU, der Vereinten ferendums über die Unabhängigkeit des Südsudans war
Nationen, der NATO und im Rahmen unserer Zusam- bei vielen die Befürchtung sehr groß, dass es zu einem
menarbeit mit unserem Partner in Afrika, der Afrikani- Bürgerkrieg kommen könnte. Heute können wir feststel-
schen Union, haben wir noch erhebliche Überzeugungs- len, dass das Referendum gerade aufgrund des großen
arbeit zu leisten, was die Umsteuerung hin zu den neuen internationalen Engagements friedlich verlaufen ist.
Instrumenten anbetrifft. Ich verhehle nicht, dass ich Dies ist ein Modell für eine erfolgreiche Politik, die der
gerade in den Beziehungen zur Afrikanischen Union ein zivilen Krisenprävention und dem zivilen Konflikt-
Window of Opportunity, wie das so schön heißt, sehe. management strategischen Vorrang zumisst. Das sollte
Das heißt, ich glaube, dass wir in der Afrikanischen für uns Anlass sein, die erfolgreichen präventiven An-
Union einen Partner haben, der uns hilft, aufkeimenden sätze von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im
Konflikten in diesen Ländern mit niedrigschwelligen Sudan fortzusetzen und zu intensivieren.
zivilen Mitteln zu begegnen. Dieses Window of Oppor-
tunity sollten wir nutzen. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die damalige rot-grüne
Bundesregierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Kri-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) senprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidie-
9920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Edelgard Bulmahn
(A) rung“ der zivilen Krisenprävention in der deutschen dem Prozess auf europäischer Ebene gilt es, die politi- (C)
Außenpolitik eine herausragende Rolle, eine Vorrang- schen Ziele aus deutscher Sicht zu formulieren und dabei
stellung zugewiesen hat. Mit dem Aktionsplan aus dem die zivilen und krisenpräventiven Zielsetzungen kurz
Jahre 2004 haben wir die strategische Bedeutung der zi- und prägnant zu beschreiben.
vilen Krisenprävention und des zivilen Konfliktmanage-
ments noch einmal unterstrichen. Er war und ist ein Zusätzlich brauchen wir – darüber haben wir uns im
Meilenstein auf dem Weg, die Prävention von Gewalt- Unterausschuss immer wieder ausgetauscht – eine in-
konflikten und die zivile Konfliktbearbeitung zu einer terne und eine externe Evaluierung der Fortschritte und
wichtigen politischen Querschnittsaufgabe in Deutsch- Erfolge, um Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der
land zu machen. zivilen Krisenprävention zu gewinnen und ihre gesell-
schaftliche und politische Akzeptanz zu erhöhen. Das ist
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dringend notwendig. Die Bundesregierung muss der zi-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vilen Krisenprävention ohne Wenn und Aber Vorrang
gegenüber militärischen Aktionen geben.
Dies hat – ich sage das noch einmal ausdrücklich –
eindeutig Vorrang gegenüber militärischen Interventio- (Joachim Spatz [FDP]: Das macht sie!)
nen. Dieser Aktionsplan hat Strukturen und Institutionen
geschaffen, die erfolgreich arbeiten und im Übrigen in- Die zivile Krisenprävention muss mehr politisches Ge-
ternational hoch angesehen sind. Für viele Nichtregie- wicht erhalten.
rungsorganisationen hat er den Rahmen geschaffen, in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dem sie ihre wichtige Arbeit durchführen und ausbauen
DIE GRÜNEN)
können.
Der Dritte Bericht der Bundesregierung über die Um- Deshalb sollte die Ressortkoordinierung künftig nicht
setzung des Aktionsplans, über den wir hier heute debat- nur in einem Ressortkreis, sondern auch über einen
tieren, macht jedoch deutlich, dass die jetzige Bundesre- Staatssekretärsausschuss, der echte Entscheidungskom-
gierung diese erfolgreiche Arbeit nur halbherzig petenzen – im Übrigen auch finanzielle Entscheidungs-
fortsetzt. kompetenzen – besitzt, erfolgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärti-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gen Amt, eine wichtige Schnittstelle zwischen staatli-
Joachim Spatz [FDP]: Stimmt ja nicht! – chen und nichtstaatlichen Akteuren, muss aus seinem
Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das kann man so Schattendasein herausgeführt werden. Dass die Bundes-
nicht sagen!) regierung in diesem wichtigen Gremium Informationen
(B) nur weitergibt, aber die vielfältigen Kompetenzen, die in (D)
Der Umsetzungsbericht, der ja eher ein Kompendium als diesem Gremium versammelt sind, nicht umfassender
ein Bericht ist, zeigt vor allem eines: die Perspektiv- nutzt, ist schlicht und einfach falsch. Die Warnsignale
losigkeit und das mangelnde Interesse dieser Bundes- für drohende Gewalteskalationen – ein weiterer Punkt –
regierung an präventiven Konfliktlösungen und auch am sollten frühzeitiger und systematischer zusammenge-
zivilen Konfliktmanagement. führt und umgehend in konkrete Maßnahmen umgesetzt
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das stimmt nicht!) werden. Early Warning und Early Action gehören zu-
sammen, und nur wenn diese beiden Aspekte zusammen
Es ist deshalb erfreulich, dass das Parlament – ich betrachtet werden, können wir erfolgreich sein.
sage ausdrücklich: das gesamte Parlament – dieses wich-
tige Thema aufgegriffen hat. Der Unterausschuss hat Krisenprävention ist nicht alleine eine nationale Auf-
sich auf eine veränderte Form des Berichtes verständigt. gabe. Der nichtständige Sitz im VN-Sicherheitsrat und
Statt einer summarischen und kleinteiligen Aufzählung der neugeschaffene Europäische Auswärtige Dienst bie-
aller Aktivitäten, wie sie jetzt vorliegt, müssen in Zu- ten große Chancen, internationale Krisenprävention
kunft die Ziele und Perspektiven deutlicher herausge- auch aus deutscher Sicht entscheidend mitzugestalten.
stellt und die Schwerpunkte und Maßnahmen klar be- Meine sehr geehrten Damen und Herren aus den Koali-
schrieben und gewichtet werden. Es ist gut und richtig, tionsfraktionen, nutzen Sie diese Chancen.
dass in Zukunft nicht nur die Bundesregierung, sondern Zivile Krisenprävention hat heute eine immer größer
auch das Parlament Schwerpunktthemen benennen kann. werdende Bedeutung bei der Lösung der weltweiten
Allein das Berichtswesen zu ändern, reicht nicht aus. Konflikte. Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn es
Deutsche Außenpolitik muss Friedenspolitik sein. schon zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekom-
men ist. Auch dann ist ziviles Konfliktmanagement ge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fragt und notwendig.
DIE GRÜNEN)
Wenn man diese Auffassung hat, Herr Spatz, und
Deshalb brauchen wir in Deutschland eine kohärente wenn man das teilt – davon gehe ich aus –, dann heißt
Strategie für zivile Krisenprävention. Die Zielsetzung das aber auch, dass dafür die notwendigen finanziellen
deutscher Außenpolitik, die strategische Umsetzung und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen.
die Priorität der zivilen Krisenprävention müssen darge-
legt werden, um davon ausgehend konkrete Handlungs- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
felder, Maßnahmen und Projekte abzuleiten. Analog BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9921
Edelgard Bulmahn
(A) Insofern – das muss ich ganz klar sagen – kann ich leider Art Alleinstellungsmerkmal war; inzwischen ist es aber (C)
nicht oft genug betonen, wie fatal die Kürzungen im auch in anderen Ländern in der Europäischen Union re-
Haushalt 2011 waren und sind. lativ weit gediehen. Wir beziehen uns auf die Sicher-
heitsstrategie der Europäischen Union von 2003.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ich möchte jetzt nicht weiter auf den Aktionsplan und
Wir laufen Gefahr, als verlässlicher Partner überhaupt
den Bericht dazu eingehen, sondern einige Punkte, die
nicht mehr ernst genommen zu werden. Deshalb müssen
Sie, Frau Bulmahn, angesprochen haben, aufgreifen. Ihr
wir im Haushaltsjahr 2012 dringend wieder mehr finan-
Antrag enthält viele wichtige Punkte, und insbesondere
zielle Mittel für die zivile Krisenprävention bereitstellen.
Ihre Empfehlungen können wir weitestgehend mittra-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gen. Folgendes kann ich jedoch nicht teilen: Ihre Kritik
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) am Haushaltsansatz, an den angeblich mangelnden
Strukturen und auch an der Gewichtung der zivilen Kri-
Gerade die deutschen Nichtregierungsorganisationen,
senprävention in der Arbeit der Bundesregierung.
die seit Jahren eine ganz wichtige und wertvolle Arbeit
leisten, müssen in die Lage versetzt werden, ihre erfolg- Mit der Konstituierung des Unterausschusses vollzie-
reiche Arbeit fortzuführen. Genau das ist im Augenblick hen wir geradezu die parlamentarische Vernetzung mit
gefährdet. der politischen Leitungsebene in den Ressorts. Ferner
In unserem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat der Ressortkreis im letzten Jahr mit den konzeptio-
haben wir konkrete Vorschläge gemacht, wie wir zu ei- nellen Arbeiten zu der Frage begonnen, was vernetzte
ner kohärenten Strategie für die zivile Krisenprävention Sicherheit ist; sicherlich ist da noch viel zu leisten. Diese
kommen können. Es ist jetzt an uns allen, aber vor allen Aufgabe wird aber gemeinsam mit dem Zentrum für In-
Dingen an der Bundesregierung und den Koalitionsfrak- ternationale Friedenseinsätze und der SWP durchge-
tionen, die Weichenstellungen vorzunehmen. Sie müssen führt. Ich glaube, hier ist keinerlei Kritik angebracht.
unter Beweis stellen, dass Sie es wirklich ernst meinen Selbst in unserem Koalitionsvertrag stellen wir politi-
und dass Sie wirklich davon überzeugt sind, dass zivile sche und diplomatische Mittel an die erste Stelle; sie ha-
Krisenprävention Vorrang haben muss. Denn nur so ben bei der Krisenprävention und -bewältigung Vorrang.
kann deutsche Außenpolitik im Sinne Willy Brandts
auch weiterhin Friedenspolitik sein. Die SPD-Fraktion Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wird daran mitarbeiten. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Vielen Dank.
(B) (Beifall bei der SPD) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): (D)
Gerne.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/ Dr. Sascha Raabe (SPD):
CSU-Fraktion. Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sagten, dass Sie un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sere Kritik am Haushaltsansatz – an der finanziellen
Ausstattung der kommenden Haushalte – nicht teilen.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Hier geht es um die Frage, wie man die zivile Krisenprä-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und vention umsetzen kann. Ist Ihnen bekannt, dass sich die
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein- Organisationen, die die zivile Krisenprävention, die Frau
mal haben wir allen Grund, froh zu sein, dass wir seit ei- Heidemarie Wieczorek-Zeul sehr erfolgreich eingeführt
nem Dreivierteljahr den Unterausschuss „Zivile Krisen- und beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
prävention und vernetzte Sicherheit“ haben. menarbeit und Entwicklung angesiedelt hat, durchführen
und in allen Ländern hervorragende Arbeit leisten, zu
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: So ist es! Das ist Recht auf das Wort der Vorgängerin von Herrn Niebel
neu und besser!) verlassen haben, dass die entsprechenden Mittel konti-
Ich möchte an dieser Stelle dem Vorsitzenden, Herrn nuierlich gesteigert werden? Es gibt nämlich auf der
Spatz, und auch der stellvertretenden Vorsitzenden, Frau ganzen Welt viele Gebiete, in denen die zivile Krisenprä-
Kerstin Müller, Dank und Anerkennung dafür ausspre- vention sinnvoll eingesetzt wird. Ist Ihnen auch bekannt,
chen, dass es ihnen gelungen ist, ein übergreifendes dass die Mittel dafür gemäß der finanziellen Voraus-
Klima des Austausches und der Verständigung, aber schau, der Finanzplanung, eher zurückgefahren als ge-
nicht der Reibereien zu schaffen. Mit diesem Unteraus- steigert werden? Wie verträgt sich das mit Ihrer Aus-
schuss leisten wir – das gilt für alle, die in diesem Unter- sage, dass finanziell alles zum Besten gestellt sei?
ausschuss mitwirken – spürbar etwas für die Bundesre-
publik Deutschland. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Danke, Herr Kollege. – Das habe ich nicht gesagt. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
wollte in meiner Rede genau darauf eingehen. Damit wir
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
etwas Zeit sparen, möchte ich diesen Teil vorziehen, um
Mit dem Aktionsplan ist seit dem Jahr 2004 etwas ge- damit auch Ihre Fragen zu beantworten. Ich nenne ein
lungen, was für Deutschland in den letzten Jahren eine paar entscheidende Punkte.
9922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Roderich Kiesewetter
(A) Sicherlich ist die zivile Krisenprävention integraler Nach OECD-Kriterien gibt allein das BMZ 500 Mil- (C)
Bestandteil unseres Politikansatzes. Aber im Hinblick lionen Euro für den Bereich „Frieden und Sicherheit“
auf den finanziellen Anteil vergleichen wir hier Äpfel aus; das Auswärtige Amt gibt für Krisenprävention in
mit Birnen. Sie selbst haben der Einführung der Schul- Afghanistan 180 Millionen Euro aus. Das heißt, wir lie-
denbremse zugestimmt. Wir alle leisten ressortübergrei- gen insgesamt – wir wollen das doch ressortübergreifend
fend unsere Beiträge zur Einhaltung der Schulden- betrachten – bei über 750 Millionen Euro. Also ist es
bremse. eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie von einer Kür-
zung um 30 Prozent ausgehen. Die Mittel wurden nur
(Burkhard Lischka [SPD]: Nein, das ist eine um etwa 5 Prozent gekürzt.
Frage der Prioritätensetzung!)
(Edelgard Bulmahn [SPD]: Man sollte schön
Allerdings – das ist der entscheidende Unterschied – ha-
bei der Haushaltswahrheit bleiben!)
ben wir im Bereich der vernetzten Sicherheit allein für
Afghanistan im letzten Jahr 400 Millionen Euro ausge- Hinzu kommt – auch das sollten wir uns vor Augen füh-
geben. Wir planen, in diesem Jahr 180 Millionen Euro ren –, dass bei akuten Krisen immer zusätzliche Mittel
allein für den Bereich der vernetzten Sicherheit in bereitgestellt werden.
Afghanistan auszugeben.
Dass unser Haushaltsansatz gut ist, zeigt der Mittelab-
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Rechnen Sie fluss: Im Jahr 2009 sind 90 Prozent der Mittel abgeflos-
die mal raus!) sen, im letzten Jahr 95 Prozent. Das heißt, die Mittel für
Wir unterstützen das BICC, das Bonner Zentrum für die zivile Krisenprävention werden bei uns wirksam ein-
Konversion, das im Südsudan aktiv ist. Hartwig Fischer gesetzt.
und mir ist es gelungen, viele Hundertausend Euro für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und für
den Verein für Mediation im Kosovo freizumachen. Das Viel wichtiger ist aber, dass wir auch einige Ihrer An-
heißt, Hartwig Fischer und ich haben uns intensiv dafür sätze aufgreifen, die Strukturen straffen und wirksamer
eingesetzt, dass Mittel freigegeben werden. machen, dass wir uns auf inhaltliche Arbeit konzentrie-
ren. Dazu enthält Ihr Antrag sehr gute Vorschläge.
(Burkhard Lischka [SPD]: Das hat aber die
Millionen-Einsparungen nicht verhindern kön- Ich möchte zwei Punkte nennen: die Definition von
nen! – Edelgard Bulmahn [SPD]: Sie haben vernetzter Sicherheit – ein Punkt für unseren Unteraus-
Kürzungen von 30 Prozent vorgenommen! schuss, Herr Spatz – und ein Frühwarnsystem für
Das ist drastisch! Das ist gravierend!) Deutschland. Das sind Fragen, die mich ganz intensiv
(B) beschäftigen: Wo siedeln wir ein Frühwarnsystem für (D)
Folgendes ist mir aber wichtiger – das ist ein ent-
Deutschland an? Im Kanzleramt oder in einem Ministe-
scheidender Punkt, auf den wir eingehen müssen –: Die
rium? Wer ist dafür verantwortlich?
heutigen finanziellen Ansätze liegen etwa auf der Höhe
des Jahres 2008. Es war ein Verdienst des früheren Au- Außerdem – es klang vorhin auch in Ihrer Rede an,
ßenministers, dass es ihm im Jahr 2007 gelungen ist, die Frau Bulmahn –: Wir müssen viel mehr Werbung ma-
Mittel für zivile Krisenprävention von 12 Millionen auf chen: für das, was Deutschland im Bereich ziviler Kri-
65 Millionen Euro zu erhöhen; heute liegen wir bei senprävention und vernetzter Sicherheit macht, aber
68 Millionen Euro. auch für das, was die Regierung leistet.
(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist die richtige (Burkhard Lischka [SPD]: Das macht man
politische Priorität!) aber nicht mit Kürzungen!)
Wir haben die Mittel dafür gekürzt – das ist richtig –; Wir halten uns hier etwas zu weit im Hintergrund. Ich
aber das war im Rahmen des Gesamtansatzes bei der glaube, es ist wichtig, dass wir das darstellen.
Haushaltskonsolidierung notwendig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Burkhard Lischka [SPD]: Ihr habt die Mittel
um 30 Prozent gekürzt!) Ein anderer Punkt, der ganz entscheidend ist: Wir
sollten unsere Mittel auch international sinnvoll einset-
– Es sind nicht 30 Prozent, sondern 3 bis 5 Prozent.
zen. Sie dürfen nicht verpuffen. Der Sudan ist ein gutes
Ich möchte Ihnen vortragen, wie sich die Höhe der Beispiel, wie es funktionieren kann. Wir brauchen mehr
Mittel für zivile Krisenprävention und vernetzte Sicher- Kohärenz zwischen der Europäischen Union, der NATO
heit entwickelt hat – ich wusste, dass Sie darauf einge- und vor allen Dingen der OSZE, weil diese Organisation
hen –: 12 Millionen Euro im Jahr 2007, 65 Millionen gerade im Rahmen des Korfu-Prozesses in diesem Be-
Euro im Jahr 2008, 110 Millionen Euro im Jahr 2009, reich sehr viel leisten kann.
90 Millionen Euro im letzten Jahr. Jetzt liegen wir wie-
der auf der Höhe von 2008. Das sind immer noch Ein weiterer Punkt, den ich heute früh in der Afgha-
50 Prozent mehr, als Rot-Grün zur Verfügung gestellt nistan-Debatte angesprochen habe: Was nützt uns das
hat. viele Geld, das wir für zivile Krisenprävention ausgeben,
wenn wir nicht das Personal, die Fachkräfte in Deutsch-
(Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt geht es land gewinnen, die bereit sind, für lange Zeit dorthin zu
bergab!) gehen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9923
Roderich Kiesewetter
(A) (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das geht aber auch jekte wie der Zivile Friedensdienst haben daher eine (C)
nicht ohne Geld, Herr Kiesewetter!) ganz besondere, auch eine politische Dimension. Sie zei-
gen nämlich reale Alternativen auf, wo andere Krieg für
Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir dieses Pro-
alternativlos halten.
blem gemeinsam lösen können. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, dass wir zivile Fachkräfte ins Ausland schicken, Ich will aus dem Sudan berichten. Ich war im Novem-
die dort ihre Erfahrungen einbringen, nach Deutschland ber letzten Jahres mit einigen Kolleginnen und Kollegen
zurückkehren und hier Klarheit schaffen. aus meiner Fraktion dort. Alle haben erwartet, dass es
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte nach den Jahrzehnten blutigen Bürgerkriegs und nach
abschließend sagen: Es nützt nichts, wenn wir Gutes tun; dem schwierigen Prozess im Hinblick auf das Unabhän-
wir müssen auch darüber reden. Ich möchte das mit dem gigkeitsreferendum jetzt zu neuen Gewalttaten kommen
Frühwarnsystem verknüpfen: Wir brauchen eine Ein- würde. Dass das nicht geschah, dafür haben auch die
richtung, die Krisen erkennt, die langfristige Trends be- Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes im Sudan mit
obachtet, die eine enge Verbindung zu Thinktanks, der ihren Partnern gesorgt. Wir konnten die Ergebnisse im
SWP, anderen Einrichtungen und der Wissenschaft hat, November beobachten. Sie haben es tatsächlich ge-
die in der Lage ist, unsere Einsätze in der Friedensarbeit schafft, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Grup-
weltweit zu begleiten, die im Ausland eine Kommunika- pen und sogar die verfeindeten Parteien zusammenzu-
tionsstrategie verfolgt, die klarmacht, was Deutschland bringen und mit allen gemeinsam ein Aktionsprogramm
mit seiner zivilen Krisenprävention im Ausland errei- für ein gewaltfreies Referendum zu erarbeiten – einen
chen will, die aber auch die deutsche Bevölkerung davon Friedensvertrag von unten, der von allen Beteiligten
überzeugt. Wir tun viel Gutes. Wir müssen es aber besser dann auch tatsächlich umgesetzt wurde.
in die Öffentlichkeit bringen. Das sollten wir gemeinsam (Beifall bei der LINKEN)
anpacken.
Herzlichen Dank. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nur zivile
Konfliktbearbeitung: Die Menschen unterstützen, eigene
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) friedliche Lösungen zu finden.
Aber die Vermittler können ihren Erfolg nicht mehr
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
feiern. Ende 2010 wurde der zivile Friedensdienst im
Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die
Sudan eingestellt. Die Fachkräfte sind ausgereist, und
Linke.
die so wichtige Unterstützung, die der DED dort bisher
(Beifall bei der LINKEN) geleistet hat, unterbleibt. Warum? Das kann uns das zu-
(B) ständige Ministerium, das BMZ, immer noch nicht er- (D)
Kathrin Vogler (DIE LINKE): klären. Ich frage Sie jetzt: Wie ernst nehmen Sie die zi-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als vile Krisenprävention, wenn Sie in so einer kritischen
die Bundesregierung 2004 den Aktionsplan „Zivile Kri- Situation ein solches Projekt beenden?
senprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
rung“ vorlegte, war ich beim Bund für Soziale Verteidi- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
gung beschäftigt; das ist ein Fachverband für gewaltfreie GRÜNEN)
Politik und konstruktive Konfliktaustragung. Wir sahen
diesen Aktionsplan damals mit gemischten Gefühlen: ei- Eine Antwort auf diese Frage liefert der dritte Um-
nerseits mit Erwartungen, weil wir immer gefordert hat- setzungsbericht. Über viele Seiten hinweg beschäftigen
ten, dass die Politik die zivile Konfliktbearbeitung end- Sie sich da nämlich mit Ausstattungshilfe für auslän-
lich ernst nimmt, andererseits mit großer Skepsis, weil dische Streitkräfte, militärischer Ausbildungshilfe, mili-
auch dieser Aktionsplan nicht frei von militärischer Lo- tärischer Terrorismusbekämpfung, UNO-Militärmissio-
gik war. Das war auch nicht anders zu erwarten. Wenn nen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU und
wir uns erinnern: Damals befand sich die Bundeswehr sogar mit der NATO-Operation in Afghanistan. Ihnen
schon drei Jahre im Krieg in Afghanistan. ist, mit Verlaub, das Zivile tatsächlich völlig abhanden
Auch unsere Projektpartner im Ausland haben uns gekommen. Positive Beispiele wie der zivile Friedens-
immer wieder völlig zu Recht gefragt: Wie wollt ihr uns dienst im Sudan kommen dabei unter die Räder. Deswe-
eigentlich im Friedensprozess unterstützen, während gen ist dieser Bericht eine erschütternde friedenspoliti-
euer Land selbst Krieg führt? Für mich gehört deshalb sche Bankrotterklärung.
beides zusammen: den Krieg zu bekämpfen, auch wenn (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rainer Stinner
er als humanitärer Einsatz oder Krieg gegen den Terror [FDP]: Das stimmt doch nicht!)
daherkommt, und gleichzeitig eine Kultur des Friedens,
eine Kultur der Gewaltfreiheit zu entwickeln und umzu- Meine Fraktion, Die Linke, will einen konsequenten
setzen. Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung, aber bitte nicht
als Feigenblatt, sondern als ernsthafte Alternative zum
(Beifall bei der LINKEN)
Militär. Dafür braucht es mehr Ideen, mehr Mittel. Da
Denn Gewalt – das sehen wir heute in Afghanistan – zer- unterstütze ich die Forderung von Frau Bulmahn. Wir
stört nicht nur auf der Gegenseite, sondern sie verändert brauchen mehr Personal, mehr ausgebildete Fachkräfte.
auch unsere Gesellschaft, und das zum Negativen. Pro- Vor allem jedoch brauchen wir ein Ende der fatalen
9924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Kathrin Vogler
(A) zivil-militärischen Zusammenarbeit, nicht nur in Afgha- ich glaube, vor allen Dingen bei der CDU abladen, die es (C)
nistan. im Grundsatz der Linken verweigert, gemeinsam über
solche Anträge zu diskutieren. Das finde ich bedauer-
(Beifall bei der LINKEN)
lich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf des Abg. Stefan Müller [Erlangen]
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion [CDU/CSU])
Bündnis 90/Die Grünen. – Richtig. – Aber man lässt sie ja aus der Verantwortung.
Wenn wir mit ihnen diskutiert hätten, wäre ja klar ge-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- worden, dass sie bestimmte Teile des Antrages nicht tei-
NEN): len. Ich glaube, da müssen Sie noch einmal in sich ge-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hen. Wenn man nämlich möchte, dass Sudan ein gutes
Wohin wir in diesen Tagen auch schauen, ob nach Tune- Beispiel ziviler Krisenprävention bleibt, dann darf man
sien oder Ägypten, auf das Referendum im Sudan – das eines nicht tun: sogar Beobachtermissionen, die im Kern
wurde erwähnt –, auf die Elfenbeinküste oder auch auf nach Kapitel 6 eingerichtet sind – das ist nämlich die
die Krise in Afghanistan, über die wir heute Morgen UNMIS-Mission im Südsudan –, als Kriegseinsatz diffa-
sprachen –, alle diese Krisen zeigen: Wirksame Präventi- mieren und ablehnen. Das ist nun wirklich keine gelun-
onspolitik ist bitter nötig. Wir suchen in all diesen Kri- gene Präventionspolitik.
sen, zum Teil auch Kriegen, nach Konzepten für einen
dauerhaften Frieden, für einen Friedensaufbau. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Ich gebe Ihnen recht: Das Referendum im Sudan ist,
obwohl wir alle das Schlimmste befürchtet haben, näm- Ich möchte die Antwort noch ergänzen: Ihr Kollege
lich dass es im Grunde schon während des Referendums van Aken – ich habe sehr gut hingehört – hat in der letz-
zu einer Eskalation kommt, erst einmal ein gelungenes ten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses ergänzt, dass
Beispiel ziviler Krisenprävention. Ich will das auch klar die Linke erwartet, dass man das UNMIS-Mandat fort-
anerkennen. Ich glaube, dass wir alle daran mitgearbeitet führt. Wir sind gespannt, ob Sie zustimmen.
haben. Wir haben das ja über den interfraktionellen An- Ich komme zurück zum Thema: Der Aktionsplan „Zi-
trag gemeinsam, Frau Schuster – jetzt ist sie weg –, auf vile Krisenprävention“ steht für eine Grundausrichtung
den Weg gebracht. Die Bundesregierung hat verschie- deutscher Außenpolitik, die zwar unter der rot-grünen
dene Dinge umgesetzt. Jetzt muss es natürlich auch so Regierung auf den Weg gebracht wurde, aber auch sei-
weitergehen. Es bleibt nämlich nur dann bei der Abwe- nerzeit schon gemeinsam mit fast allen Fraktionen des
(B) senheit von Gewalt, wenn die internationale Gemein- Deutschen Bundestages im Bundestag beschlossen (D)
schaft jetzt entschlossen weiter zivile Krisenprävention wurde. Das bedeutet: Deutschland will und muss vor al-
betreibt. lem zivile Friedensmacht in der Welt sein. Das ist der
Anspruch des Aktionsplans.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Ich glaube auch, dass es ein wichtiger weiterer Schritt
Kollegin Vogler? war, den neuen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention
und vernetzte Sicherheit“ einzurichten. Das hat wieder
Bewegung in die Sache gebracht. Das war auch notwen-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dig. Obwohl es seit Jahren einen zusätzlichen Bedarf an
NEN): zivilen Präventionsmaßnahmen gerade bei der UNO gibt
Gerne. und eigentlich jeder weiß, dass Vorbeugen nicht nur bes-
ser als Heilen, sondern auch billiger ist, müssen wir
Kathrin Vogler (DIE LINKE): heute leider feststellen, dass die Regierungen seit 2005
Frau Kollegin Müller, darf ich Sie, wenn Sie jetzt die die Umsetzung und die Weiterentwicklung des Aktions-
große Gemeinsamkeit beschwören, daran erinnern, dass plans sträflich vernachlässigt haben. Es hat zwar eine
die Fraktion Die Linke bei diesem interfraktionellen An- Aufstockung der Finanzmittel gegeben, Frau Buhlmann,
trag zum Sudan wie auch bei allen anderen interfraktio- aber politisch – das haben wir auch so bilanziert – hat
nellen Anträgen, die Sie im Bereich der auswärtigen der Aktionsplan keine wirkliche Rolle mehr gespielt und
Politik angestoßen haben, ausgegrenzt worden ist? Neh- der Beirat vor sich hergedümpelt. Auch die Diskussio-
men Sie bitte zur Kenntnis, dass wir uns nicht für alles, nen im Ressortkreis finden nicht mehr auf Staatssekre-
was Sie in diesem Antrag als Konzept vorgelegt haben, tärsebene, sondern auf einer ganz anderen Ebene statt.
so unwidersprochen vereinnahmen lassen wollen; denn Das bedeutet eine Abwertung der zivilen Krisenpräven-
auch in dem Sudan-Konzept spielt die militärische Karte tion. Wir als Parlament müssen gemeinsam versuchen,
wieder eine gewisse Rolle. mit diesem neuen Unterausschuss die zivile Krisenprä-
vention zu stärken. Das ist unser Anliegen.
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NEN): sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ja, ich nehme das zur Kenntnis. Ich will sehr deutlich
sagen: Ich habe ja zu der ersten Runde auch die Linke Meiner Meinung nach sieht man das auch im dritten
eingeladen. Das muss man leider bei der Koalition und, Umsetzungsbericht – auch das haben wir ja gemeinsam
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9925
Kerstin Müller (Köln)
(A) so bilanziert –, in dem erkennbar eher Defizite den roten Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): (C)
Faden bilden: Viel zu viele Einzelmaßnahmen werden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
kommentarlos, kritiklos und eher konzeptlos aneinan- Kollegin Kerstin Müller hat es gesagt: Vorbeugen ist
dergereiht. Es fehlen klare Zielvorgaben; es fehlt eine besser als heilen. Überheben wir uns nicht manchmal or-
Wirksamkeitsanalyse der Politik anhand transparenter dentlich? Sind wir nicht manchmal eine ganze Portion
Kriterien. Deshalb ist es richtig, dass wir heute hier ge- anmaßend? Wenn es so einfach wäre, wie Sie behaupten,
meinsam dieses Berichtswesen ändern. Wir hoffen, dass wenn es einfach darum ginge, viel Geld zur Verfügung
es jetzt zu einem Aktionsplan kommt, der klare Zielvor- zu stellen, warum haben wir dann zum Beispiel – ich
gaben gibt. Nur dann kommen wir in der Krisenpräven- nenne Zahlen vom letzten Jahr – mindestens 300 Krisen-
tion weiter. herde, über 126 bewaffnete Auseinandersetzungen und
Ich möchte noch eine Anregung bezüglich eines mindestens 28 harte, militärische Auseinandersetzungen
Punktes geben, auf den wir uns bisher nicht einigen gehabt? Machen wir uns nichts vor: Viel Geld hilft nicht
konnten. Man sucht immer noch nach einem politischen unbedingt viel.
Kopf, nach so etwas wie einem „Mr Zivile Krisenprä- Wir müssen uns überlegen, wo und warum Krisen-
vention“ bzw. einer „Mrs Zivile Krisenprävention“. Wir herde entstehen. Meistens entstehen sie dadurch, dass es
alle, die wir hier sitzen, sind schon länger in der Politik in Entwicklungsländern ethnische Probleme gibt. Hier
und wissen, dass ein Thema, solange es einen solchen bewegen wir uns im Bereich der Kultur und der Traditio-
politischen Kopf nicht hat, auch nicht wirklich wichtig nen. Ich frage mich: Wie wollen wir kurzfristig Kultur
ist. Die Folge ist, der Ressortkreis steuert die Politik und Traditionen aufbrechen? Gehen Sie in die Länder
nicht, sondern begutachtet sie nur, und der Beirat soll be- und sagen Sie den Menschen, sie sollten mit ihrer Kultur
raten, wird aber nicht gehört. Deshalb haben wir eben
und ihrer Tradition brechen, um Frieden zu schaffen.
keine systematische Frühwarnung. Wir handeln nicht
Das ist ein Bohren dicker Bretter, dass mir angst und
frühzeitig. Das muss sich ändern.
bange wird. Das ist das eine.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Zweite ist: Wo entstehen Krisen? Krisen entste-
Unsere Vorstellung ist, dass der Aktionsplan zu einer hen vor allen Dingen dort, wo die Menschen keine wirt-
Art Roadmap wird, dass deutsche Friedenspolitik end- schaftliche Basis haben, wo sie nicht wissen, wie sie die
lich als Querschnittsaufgabe umgesetzt wird. Ich finde Arbeitslosigkeit überwinden können, wo sie trotz guter
es zum Beispiel sehr gut, dass Minister Niebel hier an- Ausbildung bis hin zum Hochschulstudium keine Ar-
wesend ist. Damit zeigt er, dass zivile Krisenprävention beitsplätze haben, wo sie mit einer Arbeitslosigkeit unter
auch für die Entwicklungspolitik ein wichtiger Punkt ist. 16- bis 30-Jährigen von bis zu 50 Prozent zu kämpfen
Es muss uns allen darum gehen, die zivile Krisenpräven- haben, wo ihre wirtschaftliche Basis nicht funktioniert
(B) tion aus der Nische ins Zentrum der Politik zu rücken. bzw. gar nicht vorhanden ist. Dort entstehen Krisen. Als (D)
aktuelles Beispiel nenne ich Tunesien.
Ein weiterer wichtiger Vorschlag ist dabei – die Euro-
päische Union hat das schon –, dass wir uns endlich ein
ziviles Headline Goal, ein nationales ziviles Planziel set- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zen, anhand dessen man zeigen kann, wohin die Reise Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
gehen soll. Man muss dann auch ganz klar beschließen, Kollegin Vogler von den Linken?
dass mehr zivile Fähigkeiten bei der EU und bei der
UNO aufgebaut werden müssen. Dafür muss auch Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Deutschland Personalpools zur Verfügung stellen. Das Schade, ich war gerade so mittendrin. Aber wahr-
ist nötig, damit die UNO und die Europäische Union scheinlich finde ich meinen Faden wieder, Frau Kolle-
auch wirklich als zivile Friedensmacht in der Welt auf- gin.
treten können.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ich kann auch
Ich komme zum Schluss. Wenn wir die zivile Krisen- eine Kurzintervention machen!)
prävention jetzt nicht stärken, dann werden wir – ich be-
zeichne das jetzt einfach einmal so – das Afghanistan-
Trauma nicht überwinden können. Man wird uns viel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
leicht irgendwann einmal vorhalten: Wer die Zeichen der Aber ich weiß nicht, ob ich eine Kurzintervention ge-
Zeit nicht erkennt, den bestraft das Leben. Ich hoffe, nehmige.
dass das nicht passiert. (Heiterkeit)
Vielen Dank. Bleiben Sie lieber bei der Zwischenfrage, das geht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schneller.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herzlichen Dank, Kollegin Pfeiffer. – Sie haben aus-
geführt, dass Sie es als Anmaßung empfinden, wenn be-
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hauptet wird, dass einfach nur ausreichend Mittel zur
hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort. Verfügung gestellt werden müssen. Sicherlich können
wir damit nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Da ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben Sie völlig recht. Geld alleine ist nicht alles. Das se-
9926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Kathrin Vogler
(A) hen wir daran, dass zum Beispiel die am höchsten gerüs- Wille zum Frieden notwendig. Es gibt viele Ursachen, (C)
tete Militärmacht, nämlich die USA, die eine Menge für warum der Wille zum Frieden nicht vorhanden ist, unter
ihre angebliche Sicherheit ausgibt, trotzdem nicht unan- anderem aus den von Ihnen genannten Gründen, Frau
greifbar ist. Vogler; da kann ich Ihnen durchaus zustimmen.
Ich möchte auf Ihre Ausführungen eingehen. Sie ha- Ganz kurz noch zu dem Bericht der Bundesregierung
ben gesagt, zugrunde liegen meist ethnische Konflikte, und dem Antrag der SPD; das ist mir noch wichtig. Auch
und dabei geht es um Kultur und Tradition. Diesem viele Berichte helfen nicht viel. Wenn wir das Berichts-
Punkt möchte ich gerne widersprechen, gerade auch wesen jetzt verschärfen, ändert das nichts an den Proble-
durch meine Erfahrung im Sudan. Natürlich entbrennen men vor Ort. Auch durch eine zusätzliche Staatssekre-
die Konflikte häufig an ethnischen Grenzen, aber die un- tärsrunde erzielen wir weder einen politischen Mehrwert
terschiedlichen Ethnien werden auch gezielt gegeneinan- noch mehr Informationen, die wir uns unter Umständen
der gehetzt und gezielt instrumentalisiert, weil es um wünschen. Deshalb kommen wir an diesem Punkt nicht
Macht und Ressourcen geht, weil es um Land oder Was- zusammen. Aber ein Großteil des Antrages ist sehr wohl
serreserven oder andere natürliche Reserven geht, die unterstützenswert, und aus diesem Grunde werden wir
von Interesse sind. Wir könnten durchaus mehr tun, in- konstruktiv weiter miteinander arbeiten.
dem wir dafür sorgen, dass die Menschen in anderen
Vielen Dank.
Ländern die Möglichkeit bekommen, ihre Wirtschaft so-
lide aufzubauen, dass sie nicht von Ausbeutung ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bodenschätze oder von Landraub betroffen sind, und in-
dem wir eine Klimapolitik machen, die der Versteppung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und Verwüstung großer Teile Afrikas entgegenwirkt.
Ich schließe die Aussprache.
Stimmen Sie mir zu, dass wir diesen Bereich stärker ge-
wichten sollten und dort viel mehr Mittel zur Verfügung Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
stellen sollten? gen Ausschusses zu dem Dritten Bericht der Bundesre-
gierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsoli-
Das habe ich in meiner Rede nicht ausgeschlossen, dierung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
oder? Ich habe gesagt: zum Beispiel. Natürlich ist auch empfehlung auf Drucksache 17/4272 in Kenntnis der
das ein Teil der Friedens- und Konfliktpolitik, die vor Unterrichtung auf Drucksache 17/2300 eine Entschlie-
Ort gemacht wird. Insofern sind wir nicht weit voneinan- ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
der entfernt. Wir würden wahrscheinlich andere Ansätze fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
(B) wählen, und die Ideologie wäre sicherlich eine andere, schlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die (D)
aber im Prinzip bin ich bei Ihnen. Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen ange-
nommen.
Ich sprach gerade davon, dass es wichtig ist, den
Menschen eine wirtschaftliche Basis zu ermöglichen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Wir machen in der Entwicklungszusammenarbeit viel in Drucksache 17/4532 an die in der Tagesordnung aufge-
Sachen Bildung und Ausbildung. Ich glaube, dass wir in führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
der Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl erfolgreich verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
waren, was die Zahl der jungen Menschen angeht, die so beschlossen.
wir ausgebildet und denen wir Weiterbildungsmöglich- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
keiten eröffnet haben, denen wir berufliche Bildung er-
möglicht haben. Das ist ein Teil der Prävention, die wir Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
anbieten können. Der andere Teil der Prävention ist, Un- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
terstützung zu leisten, wenn es darum geht, kleine und (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
mittlere Betriebe aufzubauen und ihre Existenz zu si- ten Anette Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt,
chern. Dabei spielt das Handwerk eine wichtige Rolle. In weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschland stellt das Handwerk die gesellschaftliche
Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
Basis dar, aber in den Entwicklungsländern finden wir
kaum Handwerksbetriebe, die Jugendliche ausbilden – Drucksachen 17/3173, 17/3733 –
und Dienstleistungen anbieten. Insofern haben wir dort
ein breites Betätigungsfeld, auf dem wir unterstützend Berichterstattung:
tätig sein können. Abgeordnete Gitta Connemann

Ich glaube nicht, dass wir dafür sehr viele Mittel brau- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
chen. Notwendig ist einerseits der politische Wille. An- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
dererseits aber – damit komme ich wieder zum Thema derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
„anmaßend und überheblich“ – reicht der politische schlossen.
Wille alleine nicht aus. Entscheidend ist, dass auch un- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
sere Partner vor Ort wollen und mitziehen. Wir können ner dem Kollegen Dr. Matthias Zimmer von der CDU/
ihnen nicht etwas aufzwingen, indem wir sagen: Wenn CSU-Fraktion das Wort.
ihr macht, was wir euch vorschlagen, dann ist alles wun-
derbar. – Stattdessen sind Überzeugungsarbeit und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9927

(A) Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): vorkommt. Niemand hindert uns ja beispielsweise daran, (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- das Erfordernis der Repräsentativität im Entsendegesetz
tieren über ein Thema, das in den Verhandlungen des im Wege der Gesetzgebung für den Fall einzuschränken,
Vermittlungsausschusses eine wichtige Rolle spielt. In- dass ein öffentliches Interesse vorliegt. Wir sprechen
sofern kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nämlich über einen Bereich, der durch ein staatli-
es heute weniger um Lösungsansätze für dieses Thema ches Nachfragemonopol gekennzeichnet ist. Die Bun-
als vielmehr um eine öffentlich inszenierte Empörung im desagentur für Arbeit und die Optionskommunen fragen
Stil der Anklage durch die Opposition geht. diese Leistungen exklusiv für die Bereiche des SGB II
und des SGB III nach. Die Aus- und Weiterbildung dient
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einem öffentlichen Interesse, nämlich der Reduzierung
neten der FDP – Swen Schulz [Spandau]
der Arbeitslosigkeit. Das öffentliche Interesse ist also
[SPD]: Das ist Ihr Verständnis von Parlamen-
durch die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen um-
tarismus, ja? – Weiterer Zuruf der Abg. Katja
schrieben.
Mast [SPD])
Wir wollen, dass das zur Aus- und Weiterbildung ein-
– Das kann ich verstehen, Frau Mast.
gesetzte Geld effektiv und nachhaltig eingesetzt wird.
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Alberner Ob dies dort der Fall ist, wo Dumpinglöhne gezahlt wer-
Quatsch!) den, bezweifle ich.
Ich denke, die Zwischenrufe, die von der linken Seite (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
des Hauses kommen, bestätigen den Verdacht, den ich neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
hatte, sehr deutlich. SES 90/DIE GRÜNEN)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sagen Sie Die Aus- und Weiterbildung einem ruinösen Lohn-
doch etwas zum Thema!) dumping zu unterwerfen, dient also nicht dem öffentli-
Ich darf um Verständnis dafür bitten, dass ich am Be- chen Interesse, eher im Gegenteil: Von Lehrkräften, die
ginn der Debatte zunächst einige sehr sachliche Anmer- deutlich unter einem angemessenen Einkommen bezahlt
kungen mache. werden, kann ich vermutlich eher keine effektive und
nachhaltige Aus- und Weiterbildungsleistung erwarten,
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, das ist
ein guter Vorsatz!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben
Sie recht! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]:
Zunächst einmal scheint es einen sehr breiten Kon- Wieso dauert es immer so lange, bis Sie es ver-
sens darüber zu geben, dass im Bereich der Weiterbil- stehen?)
(B) (D)
dung Handlungsbedarf besteht.
durch die arbeitslose Menschen befähigt werden, wieder
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem in Arbeit zu kommen. Insofern liegt die Unterbindung
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einer solchen Abwärtsspirale durchaus im öffentlichen
So hat auch der Staatssekretär Brauksiepe in der Debatte Interesse.
am 7. Oktober 2010 ausgeführt, dass er die Forderungen (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja! –
nach einem Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
im Grundsatz für richtig hält. Das Ministerium hat den NEN]: Genau!)
Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines ent-
sprechenden Tarifvertrages dennoch abschlägig beschie- Das Geld, das hier nur scheinbar eingespart wird, müs-
den, weil eine zentrale Voraussetzung nicht vorlag, näm- sen wir an anderer Stelle vielleicht doppelt und dreifach
lich die Repräsentativität des Tarifvertrages. ausgeben.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Genau! –
GRÜNEN]: Das bestreite ich!) Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sehr gut!)
Die Tarifbindung belief sich allenfalls auf 25 Prozent.
Nun ist gesagt worden: Selbst wenn wir eine Erstre-
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Keiner darf
ckung des Tarifvertrages erreichen, gilt das nicht für alle
gegen das Gesetz verstoßen!)
potenziellen Anbieter. – Das ist richtig. Ich denke aber,
Insofern verstehe ich den Wunsch des Staatssekretärs dass man diesem Problem durch eine Änderung in der
Brauksiepe, der in der letzten Debatte gesagt hat: Vergabeordnung beikommen kann.
Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt ge- Bildungsträger, die sich um Aufträge der Bundes-
fordert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mit- agentur für Arbeit bemühen, müssen gemäß der Aner-
glieder zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarif- kennungs- und Zulassungsverordnung Weiterbildung
bindung in der gesamten Branche zu kommen. zertifiziert sein. Die darin formulierten Anforderungen
an die Träger sind vielfältig. Es geht dort um didaktische
Dabei sind wir, so höre ich, auf einem guten Weg.
und fachliche Eignungen, um Qualitätssicherung, um
Ich möchte aber noch eine etwas grundsätzlichere Kenntnisse des Arbeitsmarktes und vieles mehr. Die Er-
Überlegung nachschieben. Es geht um den Begriff des füllung der Anforderungen ist durch den Träger umfas-
öffentlichen Interesses, wie er im Tarifvertragsgesetz send nachzuweisen. Warum nimmt man in den Zertifi-
9928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Dr. Matthias Zimmer


(A) zierungsprozess nicht auch die Anforderung auf, dass Ich will aber auch die Unterschiede betonen. Wir, die (C)
eine anständige Bezahlung geleistet wird, was in der Re- SPD, haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir vor-
gel durch die Mitgliedschaft in einem Tarifverbund schlagen, den Mindestlohntarifvertrag der Branche über
nachgewiesen wird? das Entsendegesetz für allgemeinverbindlich zu erklä-
ren. Das ist unser Weg, um die Würde der Arbeit in der
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Warum Weiterbildung zu schützen.
nicht?)
Sie sagen, dass das nicht möglich ist; der Tarifvertrag
Was spricht dagegen, den Fachkundenachweis durch ei-
sei nicht repräsentativ. Das sei Vorschrift. Im Gesetz gibt
nen Nachweis solider Betriebsführung zu ergänzen, der
es aber keine solche Vorschrift.
durch tarifliche Bezahlung erbracht wird?
Eines ist doch auch wahr: Solide und nachhaltige Be- Insofern besteht ein Unterschied im Handeln: Wir
triebsführung hat auch etwas damit zu tun, Mitarbeiter müssen uns nicht hinter juristischen Argumenten verste-
zu binden. Dort, wo Dumpinglöhne gezahlt werden, ist cken, wie Sie das in den Debatten tun, sondern wir for-
die Fluktuation der Mitarbeiter hoch und die Nachhaltig- dern die schwarz-gelbe Regierung auf, zugunsten der
keit der Arbeit niedrig. Also könnte es auch hier im öf- Beschäftigten politisch zu handeln und dadurch etwas zu
fentlichen Interesse liegen, die Nachhaltigkeit der Arbeit erreichen.
und die Solidität der Betriebsführung zu fördern. (Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [CDU/CSU]: Heißt das, dass wir uns über die
neten der FDP) Gesetze hinwegsetzen?)

Eine letzte Frage: Warum ist der damalige Verord- Es geht darum, das, was in Ihrem Koalitionsvertrag
nungsgeber im Jahr 2004 nicht auf den Gedanken ge- steht, in die Tat umzusetzen. Ich will kurz darauf einge-
kommen, diesen wichtigen Aspekt zum Bestandteil der hen. Ihr Koalitionsvertrag trägt die Überschrift „Wachs-
Zertifizierung zu machen? tum. Bildung. Zusammenhalt“. Auf Seite 1, noch in der
Gliederung, findet sich der wichtige zweite Punkt „Bil-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja! Wer war dungsrepublik Deutschland“. Auf Seite 52 findet sich
denn damals der Verordnungsgeber?) der folgenschwere Satz:
Die Debatte über einen Mindestlohn in der Weiterbil- Qualität in Bildung und Erziehung erfordert beson-
dung ist mit vielen juristischen Fallstricken behaftet. ders gut ausgebildete Fachkräfte.
Über das Ziel sind wir uns weitgehend einig, anders als
bei der Frage des gesetzlichen Mindestlohns. Ich hoffe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) sehr, dass bei den Verhandlungen im Vermittlungsaus- (D)
Auf Seite 54 findet sich der wichtige Satz:
schuss genügend juristische und politische Kreativität
zusammenfließt, um dieses Problem einer sauberen, Lebensbegleitendes Lernen zu stärken ist eine ge-
nachhaltigen und für die Betroffenen vorteilhaften Lö- samtgesellschaftliche Aufgabe.
sung zuzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
Danke schön. wenn Sie diese Sätze ernst nehmen, dann hätten Sie
schon im Oktober unserem Antrag zustimmen können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dann hätten Sie mit uns gemeinsam den Weg gehen kön-
neten der FDP – Jutta Krellmann [DIE nen, für die 23 000 Beschäftigten in der Weiterbildungs-
LINKE]: Gesunder Menschenverstand! Viel- branche einen Mindestlohn zu vereinbaren. Wohlge-
leicht können wir das mal versuchen!) merkt, es geht um einen Stundenlohn von 10,93 Euro für
pädagogische Kräfte in den neuen Bundesländern und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von 12,28 Euro in den alten westdeutschen Bundeslän-
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast von der SPD- dern. Für pädagogische Arbeit, lebensbegleitendes Ler-
Fraktion. nen und die Bildungsrepublik Deutschland ist das nicht
zu viel.
Katja Mast (SPD): (Beifall bei der SPD)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Kollege Zimmer, Ihre Rede bietet im Vergleich In Ihrem Koalitionsvertrag finden sich viele warme
zu der Debatte, die wir am 7. Oktober geführt haben, im- Worte. Wir wollen keine kalten Taten, sondern warme
merhin schon eine Perspektive. Taten von Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Paul (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Und heiße
Lehrieder [CDU/CSU]: Eine gute Rede!) Nadeln!)
Sie haben akzeptiert, dass es in der Weiterbildungsbran- – Wir wollen keine heißen Nadeln. Damit haben Sie
che ein Problem gibt. Wohlgemerkt, es geht um die vielleicht den Koalitionsvertrag gestrickt. Ich hatte ges-
23 000 Beschäftigten dieser Branche, die nur Aufträge tern Abend das Vergnügen, in Ihrem Koalitionsvertrag
der Bundesagentur für Arbeit ausführen. Sie ringen um nachzulesen, was Sie darin über die Würde der Arbeit
eine Lösung des Problems. Auch das ist ein Mehrwert schreiben. Kein Treffer. Was steht über gute Arbeit im
der heutigen Debatte. Koalitionsvertrag? Kein Treffer.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9929
Katja Mast
(A) In Ihrem gesamten Koalitionsvertrag setzen Sie sich Er hat aber auch klar gesagt: Die Bundesregierung kann (C)
nicht mit der Kernfrage auseinander, dass Menschen, die nicht einfach nach Gutdünken entscheiden, sondern sie
arbeiten gehen und mit ihren Steuermitteln zum Wohl- muss klare Voraussetzungen zugrunde legen. – Diese
stand dieser Republik beitragen und Bildung und Stra- sind eben nicht gegeben. Ich weiß, Frau Kollegin
ßen finanzieren, von ihrer Hände Arbeit leben und in Müller-Gemmeke wird wahrscheinlich gleich ausführen,
Würde arbeiten gehen sollten. Das ist der Kernkonflikt
zwischen Ihnen und uns. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Genau!)
(Beifall bei der SPD)
dass das öffentliche Interesse und die Kriterien, die wir
Deshalb bringen wir diesen Antrag ein. Ich freue anführen, natürlich dem Tarifvertragsgesetz entnommen
mich darauf, bei diesem Thema weiterhin den Finger in sind. Aber die Bundesregierung muss klare Kriterien su-
die Wunde zu legen. Wenn wir bei den Regelsätzen nicht chen. Dazu kann ich nur sagen: Da liegt es doch sehr
gemeinsam weiterkommen – das ist unsere Kernforde- nahe – es ist vernünftig, und es ist unsere politische Auf-
rung –, dann werden wir wieder einen entsprechenden fassung, dass es gut ist –, das Votum des Tarifausschus-
Antrag hier im Deutschen Bundestag stellen; denn heute ses heranzuziehen. Da ist mit drei zu drei geurteilt wor-
werden Sie wahrscheinlich nicht den Mut finden, unse- den.
rem Antrag zuzustimmen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der SPD) NEN]: Da ist immer mit drei zu drei geurteilt
worden!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es hat es noch nie in der Bundesrepublik gegeben, dass
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der ein Tarifvertrag nach Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
FDP-Fraktion. allgemeinverbindlich erklärt wurde, der keine Mehrheit
im Tarifausschuss hatte. Das ist auch gut so. Das wird es
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch hier nicht geben, weil der Tarifausschuss dafür da
der CDU/CSU) ist, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht zu berücksich-
tigen und die Entscheidung dem politischen Gutdünken
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): zu entziehen. Deshalb – das ist einer der beiden Grün-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! de – werden wir Ihren Antrag ablehnen, liebe Frau Kol-
Liebe Frau Mast, ich freue mich immer, wenn Sie den legin.
Finger in die Wunde legen wollen. Das ist auch die Auf- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) gabe der Opposition. Sie haben einen ganz konkreten der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: (D)
Weg vorgeschlagen, was Sie machen wollen. Sie müssen Das ist unglaublich!)
sich schon noch etwas Besseres überlegen, damit der
Finger auch richtig wehtut; Der zweite Grund betrifft die Repräsentativität. Wenn
Sie beide Augen zudrücken, kommen Sie auf einen Re-
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht der präsentativitätsgrad von maximal 25 Prozent. Das heißt,
Finger soll wehtun, sondern die Wunde! – 25 Prozent der Beschäftigten der Branche sind von dem
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ihre Wunde Tarifvertrag überhaupt erfasst. Ich sage: Das öffentliche
soll wehtun!) Interesse hat auch etwas damit zu tun, einen fairen Aus-
denn mit dem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, ge- gleich zwischen der Mehrheit und der Minderheit herzu-
lingt das, ehrlich gesagt, nicht. stellen. Das heißt aber nicht, dass die Minderheit die
Mehrheit binden kann. Wenn weniger als 25 Prozent der
Noch einmal: Die Bundesregierung entscheidet über Beschäftigten allen anderen Arbeitnehmern und Arbeit-
die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, nicht gebern etwas diktieren können sollen, dann ist das nicht
das Parlament. Ich sage das aus einem bestimmten fair, liebe Kollegin Mast, und ist ein falscher Weg. Das
Grund. ist der zweite Grund, warum wir Ihren Vorschlag ableh-
nen.
(Katja Mast [SPD]: Das sind politische Ent-
scheidungen!) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie sind der
Mindestlohnbremsklotz der Nation! – Beifall
– Das sind politische Entscheidungen. Ich komme gleich bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LIN-
darauf zurück. Sie werden schon noch merken, warum KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
ich das sage. NEN)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Man darf die – Oh, das wirft mich ja jetzt geradezu aus dem Konzept. –
Bundesregierung aber auch auffordern!) Ich will eine Frage herausarbeiten. Die ist nämlich ganz
Es wurde eben schon gesagt: Sogar der Herr Parlamenta- spannend, Frau Kollegin Mast. Sie haben eben vom poli-
rische Staatssekretär Brauksiepe hat für das inhaltliche tischen Willen gesprochen. Ich habe schon gesagt, dass
Anliegen Sympathie erkennen lassen. es noch nie geschehen ist, dass ein Tarifvertrag mit einer
so geringen Repräsentativität ohne Mehrheit im Tarif-
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Haben Sie ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.
die auch, diese Sympathie?) Wie verhielt es sich denn mit dem Tarifvertrag? Er war
9930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) am 31. August 2009 im Tarifausschuss. Ganz interessant Vielen Dank. (C)
ist, dass zu diesem Zeitpunkt auch noch ein anderer Ta-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rifvertrag im Tarifausschuss behandelt wurde. Dabei
ging es um das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Zwi-
schen den beiden Fällen gibt es erstaunliche Gemein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
samkeiten bzw. Parallelen. Auch die Branche des Wach- Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann von
und Sicherheitsgewerbes steht im Arbeitnehmer-Entsen- der Fraktion Die Linke.
degesetz. Es hat einen Antrag gegeben, und es hat einen
Mindestlohntarifvertrag gegeben. Der Tarifausschuss (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
LINKE])
wurde befasst, und die Repräsentativität war sogar hö-
her. Das Votum war drei zu drei. Seltsamerweise bean-
tragen Sie nicht, dass dieser Tarifvertrag für allgemein- Jutta Krellmann (DIE LINKE):
verbindlich erklärt wird. Warum? Vielleicht weil das ein Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Tarifvertrag war, bei dem im Tarifausschuss die Arbeit- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde nicht, dass
geberseite für die Allgemeinverbindlichkeit votiert hat, das eine Showveranstaltung ist. Ich durfte im Vermitt-
aber die Arbeitnehmerseite, zumindest die DGB-Vertre- lungsausschuss bislang noch gar nicht mitreden. Von da-
ter, dagegen war, weil er mit einer christlichen Gewerk- her fühle ich mich völlig ausgeschlossen. Selbst wenn
schaft ausgehandelt wurde. Es ist legitim, dass die Ar- Sie alle hier nur meinetwegen säßen, damit ich einmal
beitnehmerseite das so vertritt, aber das zeigt doch, wie mitdiskutieren kann, dann wäre das doch ein Grund.
wichtig es ist, dass wir objektive Kriterien haben und
Herr Zimmer, ich bin nicht dafür da, Herrn
nicht politisches Gutdünken zugrunde legen. Das ist
Brauksiepe zu rehabilitieren. Er hat schon vor zwei Jah-
nämlich das, was Sie wollen. An dieser Stelle passt es
ren in seinem Wahlkreis einen Mindestlohn in der Wei-
Ihnen nicht, obwohl dieselben Voraussetzungen vorlie-
terbildung versprochen. Aber zwei Jahre lang ist nichts
gen wie bei der Weiterbildungsbranche. In beiden Fällen
passiert. Auch das Ministerium, in dem er jetzt arbeitet,
war das Votum drei zu drei im Tarifausschuss. Der An-
hat einen Mindestlohn in der Weiterbildung abgelehnt.
trag auf Allgemeinverbindlichkeit passt Ihnen aber poli-
Da er gesagt hat: „Im Grunde bin auch ich für einen
tisch nicht, und deshalb sind Sie dagegen.
Mindestlohn“, müssen doch die Menschen in seinem
Das zeigt, dass es sehr richtig ist, dass wir die Allge- Wahlkreis fragen: Was ist denn aus dem geworden, was
meinverbindlichkeit aufgrund klarer und objektiver Kri- Sie uns vor zwei Jahren versprochen haben? Dass erst
terien erklären. Wichtig ist das Kriterium der Repräsen- jetzt etwas passiert und dass es so lange dauert, bis Men-
tativität. Arbeitgeber und Arbeitnehmer – das deutsche schen zu ihrem Recht kommen, empfinde ich vom
(B) Erfolgsmodell der Tarifautonomie – sollen sich gemein- Grundsatz her als eine absolute Katastrophe. (D)
sam dafür entscheiden, dass der Tarifvertrag für allge- (Beifall bei der LINKEN)
meinverbindlich erklärt wird. Wir liefern diese Entschei-
dung nicht dem politischen Gutdünken aus. Sie, liebe Zwei geschlagene Jahre wird daran gearbeitet, und erst
Frau Kollegin Mast, haben mit der Ungleichbehandlung jetzt passiert etwas. Aber nun wird alles hin und her dis-
des Wach- und Sicherheitsgewerbes und der Weiterbil- kutiert. So habe ich mir Politik nicht vorgestellt.
dungsbranche wieder einmal bewiesen, warum das so Sie haben ein Plädoyer zugunsten der Tarifpolitik ge-
richtig ist; denn sonst herrscht politische Willkür. Das ist halten. Toll! Jeder Tarifpolitiker weiß: Tarifpolitik ist
übrigens auch der Grund, warum wir gegen den gesetzli- schneller als der Bundestag. Die Tarifpolitiker kommen
chen Mindestlohn sind. Dann wäre die Lohnfindung wenigstens zu Ergebnissen.
nämlich nicht mehr in der Hand der Tarifvertragspar-
teien, sondern sie wäre der politischen Willkür ausgelie- (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Dann
fert. Wir würden dann einen Überbietungswettbewerb soll man sie doch machen lassen, Frau Kolle-
erleben. Das wäre das Ergebnis Ihrer Ungleichbehand- gin!)
lung. Das haben Sie nicht erwähnt und nicht erklärt.
Sie reden miteinander, diskutieren und tauschen Argu-
Bei uns ist die Tarifautonomie in guten Händen; denn mente aus. Dann gibt es am Ende Tarifverträge. Wenn
wir akzeptieren politisch, dass es die Aufgabe von Ar- das nicht klappt, dann gibt es beispielsweise einen
beitgebern und Arbeitnehmern ist, darüber zu entschei- Streik. Aber man hat ein Ergebnis und schiebt solche
den, und dass Allgemeinverbindlichkeiten an klare Kri- Probleme nicht über Jahre vor sich her.
terien geknüpft sein müssen, damit sie im Interesse des Ich persönlich empfinde es als eine absolute Katastro-
Ganzen und aller Menschen liegen. Deshalb lehnen wir phe, dass man ausgerechnet im Bereich der Weiterbil-
Ihren Antrag ab. dung über dieses Thema reden muss. In der Weiterbil-
dung arbeiten hochqualifizierte Leute. Das sind Leute,
Neue Argumente – ich habe mich so darauf gefreut –
die ein Pädagogikstudium abgeschlossen haben bzw.
habe ich seit der ersten Lesung im Ausschuss von Ihnen
Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft studiert haben. –
leider nicht gehört. Ich muss Sie enttäuschen: Bei uns hat
Herr Lange, Sie dürfen sich gerne umdrehen und mir zu-
es deshalb auch keinen Meinungsumschwung gegeben. hören; das fände ich fair.
Ihr Antrag ist nichts anderes als eine reine Showveran-
staltung. Er ist nicht vernünftig und ist der falsche Weg, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was Sie
die Qualität in der Weiterbildung zu sichern. alles fair finden! Das finde ich auch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9931
Jutta Krellmann
(A) – Es ist nett, dass Sie sich umgedreht haben. Vielen immer wieder gerne Ihre Reden und Ihre wohlüberlegten (C)
Dank. Worte, und ich bin oft Ihrer Meinung. Die Frage ist aber
immer: Welche Unterstützung haben Sie eigentlich in Ih-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gern! rer eigenen Fraktion, wenn Sie so reden und solche Vor-
Haben Sie auch etwas zu sagen? Das ist doch schläge machen? Vor allem frage ich mich: Welche Un-
hier die Frage!) terstützung haben Sie bei der FDP? Ich gehe davon aus,
Sich um den Bereich der Weiterbildung nicht zu küm- dass sie minimal ist. Das ist die eine Sache.
mern und gleichzeitig über Facharbeiterqualifikation zu
Das Zweite ist: Ich habe zu meinem Bedauern nicht
reden, das empfinde ich als ein absolutes Vorführen von
gehört, dass Sie handeln werden, wann Sie handeln wer-
Menschen. Es kann nicht sein, dass alle sagen: „Wir
den, wie Sie handeln werden, dass es in der Weiterbil-
brauchen qualifizierte Fachkräfte“, und dass man denje-
dungsbranche wirklich vorangeht. Außerdem muss ich
nigen, die qualifiziert sind und in der Weiterbildung ar-
sagen – wir bleiben dabei –: Mindestlöhne sind notwen-
beiten, ein vernünftiges Entgelt vorenthält.
dig; sie müssen bei uns in Deutschland endlich Realität
Nun zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage, ob die werden.
Tariffähigkeit nachgewiesen ist. Nach Ihren Informatio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nen liegt der Anteil bei nur 25 Prozent.
bei der SPD und der LINKEN)
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Maxi-
Auch heute muss öffentlich gesagt werden, mit welch
mal!)
schräger Begründung die Bundesregierung – Herr Vogel,
Die zuständigen Gewerkschaften haben mir gesagt, es ich halte daran fest – den Mindestlohn in der Weiterbil-
gebe nicht nur die direkte Tarifbindung. Vielmehr gibt es dungsbranche abgelehnt hat. Sie sagen, es sei kein öf-
noch Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge, fentliches Interesse vorhanden, weil die Tarifbindung
die genau das anerkennen, was die Tarifvertragsparteien höchstens 25 Prozent betrage,
vereinbaren. Addiert man alles, dann kommt man in der
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Und
Summe auf weit über 50 Prozent. Das heißt in der Kon-
keine Mehrheit im Tarifausschuss!)
sequenz: Die Grundlage, von der Sie ausgegangen sind,
nämlich dass es nur 25 Prozent sind, ist nicht richtig. Die während laut Ihrer merkwürdigen Interpretation 50 Pro-
Gewerkschaften selbst vertreten etwas völlig anderes. zent notwendig seien. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
kennt aber keine 50-Prozent-Schwelle; die kennt nur das
Ich kenne auch die Praxis, dass Arbeitgeber manch-
Tarifvertragsgesetz. Wegen dieses Sachverhalts habe ich
mal Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge
über eine Kleine Anfrage genauer nachgefragt. In der
(B) abschließen, weil sie sich nicht an einen Arbeitgeberver- Antwort der Bundesregierung konnte man sehen, dass (D)
band binden wollen. Das ist die Realität, auch in dieser
sie kleinlauter geworden ist. Plötzlich wurde nur noch
Branche. Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann haben
Sie haarscharf am Ziel vorbeigeschossen. von einer „gewissen Tarifbindung“ gesprochen, und
zwar mit einem Verweis auf einen Kommentar von Pro-
Ich hoffe, dass im Vermittlungsausschuss – obwohl fessor Thüsing und Professor Bayreuther.
ich nicht dabei bin – etwas Positives für die Menschen
herauskommt. Es geht nicht darum, ob und wie wir hier Natürlich ist eine „gewisse Tarifbindung“ notwendig;
über solche Dinge diskutieren und ob es einen Schlagab- schließlich wollen wir alle nicht, dass irgendein Hunger-
tausch gibt, sondern darum, dass die Menschen endlich lohntarifvertrag der vermeintlich christlichen Gewerk-
das bekommen, was sie brauchen; deswegen sind wir schaften für allgemeinverbindlich erklärt wird.
hier. Ich appelliere daher an diejenigen, die am Gesche- (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ach
hen viel direkter als ich beteiligt sind: Sorgen Sie für ei- so!)
nen Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche! Wenn
Ihnen daran wirklich gelegen ist, dann stimmen Sie dem Dennoch: Was heißt denn nun eine „gewisse Tarifbin-
Antrag der SPD genauso wie wir zu. dung“, bezogen auf die Weiterbildungsbranche? Diese
Antwort ist uns die Bundesregierung schuldig geblieben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Es reicht auch nicht, einen passenden Kommentar zur
Das ist doch mal eine tolle Antwort!) Tarifbindung zu suchen und sich dann bei der Frage nach
den Kriterien, wann ein öffentliches Interesse gegeben
ist, in Schweigen zu hüllen. Die Bundesregierung hätte
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einfach einmal den Kommentar von Professor Thüsing
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke weiterlesen müssen. Zwei Seiten weiter kommentiert er
von Bündnis 90/Die Grünen. nämlich das „öffentliche Interesse“. Dort steht, dass
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gute Frau! – auch im Tarifvertragsgesetz allgemeine sozialpolitische
Heiterkeit) Zielsetzungen berücksichtigt werden dürfen. Dann heißt
es – jetzt wird es richtig interessant; hören Sie gut zu; ich
zitiere –:
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Erst recht wird das im Geltungsbereich des neuen
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- AEntG gelten müssen, nachdem der Gesetzgeber
nen und Kollegen! Lieber Kollege Dr. Zimmer, ich höre … ausdrücklich festgelegt hat, dass das Gesetz faire
9932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Beate Müller-Gemmeke
(A) und funktionierende Wettbewerbsbedingungen ge- (Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer (C)
währleisten, sozialversicherungspflichtige Beschäf- Zwischenfrage)
tigung erhalten und die Ordnungs- und Befrie-
dungsfunktion der Tarifautonomie sichern soll. – Ich würde sie zulassen, wenn der Präsident es erlaubt.

Es müssen also nicht eine Tarifbindung von 50 Prozent,


sondern nur eine gewisse Tarifbindung und vor allem so- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zialpolitische Zielsetzungen laut Arbeitnehmer-Entsen- Dann können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen,
degesetz berücksichtigt werden, und deswegen – ich Frau Mast. Er hat schon erklärt, dass er sie zulassen will. –
bleibe dabei – ist die Begründung für die Ablehnung des Frau Mast, bitte.
Mindestlohns in der Weiterbildungsbranche schlichtweg
nicht akzeptabel. Katja Mast (SPD):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Herr Präsident und Herr Kollege
und bei der SPD) Lehrieder. – Ich habe folgende Frage: Sie rekurrieren bei
den Verhandlungen über die Regelsätze für Arbeitslo-
Mein Fazit: Die Bundesregierung interpretiert die Ge- sengeld-II-Empfänger die ganze Zeit auf den Vermitt-
setzeslage falsch, und zwar zulasten der Beschäftigten. lungsausschuss. Dort spielt das Thema Mindestlohn
Vor allem sind die Bundesregierung und auch Sie, die auch eine Rolle. Welche – vor allen Dingen mit den
Regierungsfraktionen, nicht in der Lage, eine sozialpoli- Bundesländern – abgestimmte Position hat Schwarz-
tische Vision dafür, was öffentliches Interesse in der Zu- Gelb denn zum Mindestlohn in der Weiterbildungsbran-
kunft ist, zu entwickeln. Besonders skandalös und unver- che?
ständlich finde ich das bei der Weiterbildungsbranche im
Bereich SGB II und III.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Ge-
hen Sie in sich! Lesen Sie nochmals ganz genau die Wir haben insbesondere im Hinblick auf den 1. Mai
Kommentare zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz, und 2011 eine Diskussion über einen Mindestlohn in der
unterstützen Sie den Mindestlohn in der Weiterbildungs- Leiharbeitsbranche geführt. Im Übrigen haben wir, so-
branche! Denn die Beschäftigten haben faire Arbeitsbe- wohl die Kollegen von der FDP als auch wir von der
dingungen und gerechte Löhne verdient. CDU/CSU, unsere Verhandlungsführer in den Verhand-
lungen sitzen. Sie werden Verständnis dafür haben,
Am Schluss muss ich Ihnen auch noch sagen: Seien
Sie doch nicht immer dagegen – insbesondere nicht ge- (Lachen bei der SPD)
(B) gen Mindestlöhne! dass man Verhandlungen nicht quasi auf dem Marktplatz (D)
Vielen Dank. des Plenums des Bundestags führen kann. Das würde Ih-
nen so passen. Nein, liebe Kollegen, dazu werden Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von mir keine Antwort erwarten können.
und bei der SPD)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ha-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben wir befürchtet!)
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
Sie haben auch keine Antwort erwartet, wenn Sie ehrlich
CDU/CSU-Fraktion.
sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ha-
ben keine Antwort! Das ist die Wahrheit!)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Ich habe bereits die Flexibilisierung der arbeitsmarkt-
Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der SPD, ja, Sie ha- politischen Instrumente erwähnt. Die Vorredner haben
ben erkannt, dass Weiterbildung ein zentraler Aspekt bei bereits auf das staatliche Nachfragemonopol hingewie-
der Erhaltung des Arbeitskräftepotenzials in unserem sen, das gerade in der Weiterbildung natürlich bei der öf-
Land ist. Ja, wir wollen das dritte arbeitsmarktpolitische fentlichen Hand liegt. Meine Damen und Herren von der
Instrument fortführen. Im Frühjahr letzten Jahres haben SPD, auch die christlich-liberale Koalition erkennt die
wir uns mit der SPD auf eine Jobcenterreform einigen zentrale Bedeutung von Weiterbildungsmaßnahmen an.
können. Im Herbst haben wir versucht, eine Änderung Allerdings sehen wir einen Mindestlohn in der Weiter-
der Regelsätze auf den Weg zu bringen. Da sind Sie bildungsbranche als nicht zielführend an. In den Tarif-
schon von Bord gegangen, liebe Freunde von der SPD. verhandlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfa-
che Arbeiten oft so weit angehoben worden, dass sie für
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wo sind
viele Unternehmen schlicht zu teuer wurden. In der Wei-
wir von Bord gegangen?)
terbildung wird hochqualifizierte Arbeit geleistet; das
Derzeit laufen – Kollege Zimmer hat soeben darauf hin- will ich nicht verhehlen. Oft blieben die niedrigsten Ta-
gewiesen – zähe Verhandlungen im Vermittlungsaus- rifgruppen unbesetzt. In den vergangenen Jahren wurden
schuss. Als Nächstes wollen wir uns im Frühjahr der in manchen Branchen Arbeitsplätze gestrichen oder ins
Flexibilisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Ausland verlagert. Von der Schaffung neuer Stellen
zuwenden. konnte keine Rede sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9933
Paul Lehrieder
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
SPD, Sie bewegen sich auf dem falschen arbeitsmarkt- NEN):
politischen Weg. Das Aushandeln der Löhne muss grund- Im Tarifvertragsgesetz hat man eine Schwelle von
sätzlich die Aufgabe der Sozialpartner sein und auch blei- 50 Prozent festgelegt. Ausschlaggebend dafür ist die An-
ben; denn eine funktionsfähige Tarifautonomie braucht zahl der Arbeitnehmer, die in Unternehmen, welche in
starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften. Arbeitgeberverbänden organisiert sind, beschäftigt sind.
Ich hätte nie gedacht, dass ich hier im Plenum des Bun- Jetzt gibt es das Problem der Tarifflucht. Das heißt, im-
destags einmal für starke Gewerkschaften und starke Ar- mer mehr Arbeitgeber entziehen sich ihrer Verantwor-
beitgeberverbände plädieren darf. In Art. 9 Abs. 3 des tung und machen sich sozusagen vom Acker. Das führt
Grundgesetzes wird die Tarifautonomie den Arbeitgeber- dazu, dass diese Regelung wie ein Zirkelschluss wirkt:
und Arbeitnehmervertretern zugewiesen. Je mehr Arbeitgeber sich davonmachen, desto geringer
sind die Chancen der Gewerkschaften, die geforderte
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Quote zu erreichen. Wenn dieses Problem von der Bun-
GRÜNEN]: Wir haben aber auch ein Arbeit-
desregierung erkannt wird, dann muss sie doch zu der
nehmer-Entsendegesetz!)
Auffassung gelangen, dass man staatlicherseits eingrei-
Im vorliegenden Fall gab es im Tarifausschuss ein Vo- fen und die Allgemeinverbindlichkeit erklären muss, da-
tum von 3 : 3. Das heißt, dass keine Mehrheit erreicht mit die Arbeitgeber endlich aufhören, Spielchen mit den
worden ist, weder für das eine noch für das andere. Gewerkschaften zu treiben.

Herr Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen,


Paul Lehrieder (CDU/CSU):
dass Sie – unter anderen Vorzeichen – keine Mindest-
löhne im Bereich des Sicherheitsgewerbes fordern, weil Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie wissen
es dort natürlich nicht ins System passt. genauso gut wie ich – darüber haben wir bereits in der
letzten Legislaturperiode diskutiert –: Bei einer unzurei-
Nur mit einer starken Position können die Gewerk- chenden Tarifbindung kann man im Falle von Verwer-
schaften und die Arbeitgeberverbände für ihre Mitglie- fungen über das MiArbG, das Mindestarbeitsbedingun-
der verbindliche und wirkungsvolle Abmachungen tref- gengesetz, versuchen, entsprechende Änderungen zu
fen. Es wurde bereits von den Vorrednern, auch von der erreichen. Aber dazu bedarf es, wie gesagt, der Feststel-
Kollegin Müller-Gemmeke, die Frage aufgeworfen: Be- lung von gesellschaftspolitischen Verwerfungen. Nur
steht ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinver- wenn diese vorliegen, weil beispielsweise eine Tarif-
bindlichkeit, wenn die Tarifbindung schwach ist und bei- flucht zu beklagen ist und das Ergebnis dementspre-
spielsweise bei nur 25 Prozent liegt? Das muss man sehr chend nicht hinnehmbar ist, kann man auf diese Weise
(B) kritisch sehen. Es kann nicht sein, dass die Minderheit eingreifen. Eine solche Tarifflucht ist aber in der Weiter- (D)
die Mehrheit zum Teil dominiert und dass die Minder- bildungsbranche nicht festzustellen. Kollege Zimmer hat
heit für die Mehrheit Tarifverträge abschließt. schon an die Arbeitgeber in der Weiterbildungsbranche
appelliert, sich stärker tariflich zu binden. Ansonsten
Es ist sicher notwendig, Ausnahmen zu machen und muss man überprüfen, ob ein anderer Weg möglich ist.
in einzelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als all-
gemeinverbindlich zu erklären, wie in der Pflegebran- Sie können versichert sein – da bin ich mit dem Kol-
che; das haben wir im Sommer gemacht. Da betrug das legen Brauksiepe völlig einer Meinung, der vor einem
Stimmenverhältnis aber 6 : 0. halben Jahr Ausführungen dazu gemacht hat –: Wir stre-
ben eine Absicherung in der Weiterbildungsbranche an,
um eine qualitativ hochwertige und eine vom Erfolg ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
krönte Weiterbildung gerade der Langzeitarbeitslosen
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie noch eine Zwi- auch in Zukunft gewährleisten zu können. Das heißt, wir
schenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke? werden die Entwicklung sorgfältig beobachten. Dazu be-
darf es, mit Verlaub, keines Antrags der SPD.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Zum Schluss meiner Antwort kurz zusammengefasst:
Ja, selbstverständlich. Bei Verwerfungen ist ein Eingreifen möglich; dies geht
über das MiArbG, aber nicht über das Arbeitnehmer-Ent-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sendegesetz.
Bitte schön. Im Vermittlungsausschuss wird diskutiert, ob die Vo-
raussetzungen auch für die Zeitarbeit gegeben sind. Das
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ergebnis bleibt noch abzuwarten; ich hatte bereits darauf
NEN): hingewiesen. Für die Weiterbildungsbranche kann aber
Lieber Herr Kollege Lehrieder, jetzt muss ich doch bereits jetzt gesagt werden, dass, wie bereits ausgeführt,
nachfragen. Sie haben gerade gesagt, es gehe nicht, dass die Voraussetzungen derzeit nicht erfüllt werden. Der
die Minderheit über die Mehrheit bestimmt. von den Sozialpartnern vorgelegte Mindestlohntarifver-
trag ist nicht repräsentativ, da nur eine Bindung von
höchstens 25 Prozent an den Tarifvertrag besteht. Die für
Paul Lehrieder (CDU/CSU): das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erforderliche Tarif-
Ja, das sollte nicht sein. bindung beträgt – auch hierauf wurde bereits hingewie-
9934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Paul Lehrieder
(A) sen – mindestens 50 Prozent. Ansonsten würde die Min- len, wo die härteste Arbeit geleistet wird – das ist nicht (C)
derheit die Mehrheit dominieren; auch das hatte ich diskriminierend gemeint –, ist die Bezahlung am
bereits gesagt. schlechtesten. Ähnlich ist es vielfach in der beruflichen
Weiterbildung. Dort, wo Berufsorientierung zu leisten
Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarif- ist, wo Langzeitarbeitslose, die es schon mehrere Male
vertrages setzt voraus, dass sie im öffentlichen Interesse versucht haben, gebildet werden sollen, haben die Do-
geboten erscheint. Ob nun tatsächlich ein öffentliches zenten und die Lehrer oft das Gefühl: Wir gehören zu
Interesse in dieser Angelegenheit besteht, muss vom denjenigen, um die sich niemand kümmert und für die es
Ministerium noch überprüft werden. Das öffentliche In- keinen Schutz gibt.
teresse muss in jedem Fall höher gewichtet werden als
das der Tarifvertragsparteien und deren Mitglieder. Dem Herr Vogel,
Ministerium ist in dieser Fragestellung ein Beurteilungs-
spielraum einzuräumen; auch das wurde bereits ausge- (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Herr
führt. Der derzeitige Sachstand belegt aber keinen Rossmann!)
Rechtsanspruch auf eine Allgemeinverbindlichkeits- Sie hätten einige Sätze im Sinne der Menschen, die in
erklärung. der Weiterbildungsbranche arbeiten, sagen sollen, anstatt
Meine Damen und Herren, ich könnte noch ein paar ein Doktorandenseminar über die eine oder andere recht-
Sätze dazu sagen. Aber da meine Vorredner bereits kom- liche Frage abzuhalten.
petent und umfassend dazu ausgeführt haben, möchte (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Herr
ich an dieser Stelle schließen. Rossmann, wir sind auch ein Rechtsstaat!)
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün- Als Mitglied dieses Parlaments muss man auch die Er-
sche ein schönes Wochenende. lebnisse und die Erwartungen der Betroffenen an die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Politik aufgreifen.
der Abg. Anette Kramme [SPD]) (Beifall bei der SPD)
Dies würde die Debatte nach vorn bringen und vielleicht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
auch ermöglichen, gemeinsam einen neuen Anlauf zu
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt unternehmen. Aus Sicht von Sozialdemokraten, Grünen
erteile ich dem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann von und Linken und aufgrund rechtlicher Erwägungen ist ein
der SPD-Fraktion das Wort. Mindestlohntarifvertrag natürlich der Königsweg. Wir
(Beifall bei der SPD) akzeptieren aber auch Umwege, sofern diese zielführend (D)
(B)
sind. Ich habe Sie so verstanden, dass wir nicht gleich
den direkten Weg gehen, aber vielleicht über das Verfah-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
rensrecht ein bis zwei Schritte vorankommen können.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An- Aber auch das Vergaberecht stellt einen Ordnungsrah-
gesichts unserer Auffassung von Bildung ist es uns ein men dar. Es ist nichts anderes als ein Ordnungsrahmen
Bedürfnis, die Unterschiede in der Debatte klarzuma- gegen pure Liberalität und die Auffassung: Egal ob Waf-
chen. Herr Vogel, ich hatte bei Ihnen das Gefühl, Sie hät- fengleichheit herrscht und egal wie sich die Gewichte
ten über alles reden können. Aber bei Ihnen schien nie verschoben haben, das sollen die Tarifparteien allein
durch, was das eigentlich für ein Skandal in der Weiter- ausmachen. Was ist denn Vergaberecht anderes als Aus-
bildung ist, was das für betroffene Menschen bedeutet, druck einer besonderen Verantwortung, die man wahr-
welche Auswirkungen das auf die Qualität der Weiterbil- nimmt, indem man öffentliche Aufträge und öffentliche
dung hat, was das perspektivisch bedeutet, wenn Weiter- Leistungen mit einem öffentlichen Bildungsauftrag ver-
bildung immer wichtiger wird. bindet?
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wo ist
bestreitet doch niemand!) denn Ihr konkreter Vorschlag?)
Wir Sozialdemokraten haben im Vermittlungsausschuss Zumindest diese beiden Punkte wollte ich Ihnen noch sa-
manchmal das Gefühl, zusammen mit Ihnen, Kollegin- gen.
nen und Kollegen von der CDU/CSU, gegen die FDP
das durchsetzen zu müssen, was bei Ihnen wenigstens
beim ersten und zweiten Redner durchschimmerte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Rossmann, darf ich Sie unterbrechen? –
(Beifall bei der SPD – Widerspruch des Abg. Der Kollege Schiewerling möchte Ihnen gern eine Zwi-
Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]) schenfrage stellen.
Nehmen Sie es uns bitte nicht übel, dass wir dies mit ei-
ner gewissen Verve betonen; denn wir haben erkannt, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
dass es so nicht gehen kann. Das darf er; das kann er gern tun.
Sie haben den Begriff der Negativspirale angespro-
chen. Natürlich ist das so, ähnlich dem, was wir schon Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
aus der schulischen Bildung kennen. An den Hauptschu- Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9935

(A) Karl Schiewerling (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Herr Kollege Rossmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis Ich schließe die Aussprache.
zu nehmen, dass wir diese Debatte im Deutschen Bun-
destag nur führen, weil es einen Antrag der SPD aus Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
grauer Vorzeit gibt, über den irgendwann einmal disku- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
tiert werden muss, dass aber längst fraktionsübergreifend dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Min-
Übereinstimmung besteht, dass wir eine Regelung für destlohn für die Weiterbildungsbranche“. Der Ausschuss
die Weiterbildungsbranche brauchen? Es gibt überhaupt empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
keinen Dissens zwischen FDP und CDU/CSU in dieser sache 17/3733, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Frage, sondern lediglich über den Weg. Drucksache 17/3173 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
wir Schwierigkeiten haben, dies zu regeln, nicht weil wir gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
nicht regeln wollen, sondern weil das europäische Recht der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
uns durch die Ausschreibungsverordnungen dazu tionsfraktionen angenommen.
zwingt, Wege zu finden, die den europäischen Vorgaben
gerecht werden, und dass es ein Problem ist, eine sach- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
gerechte Lösung zu finden? Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu neh- Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer
men, dass kein einziger Redner grundsätzlich eine Rege- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
lung ablehnt? DIE GRÜNEN
Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
miteinander verheiratete Eltern
Das Letztere wollen wir anhand der Ergebnisse be-
werten. Wir werben bzw. kämpfen dafür, dass es zu Er- – Drucksache 17/3219 –
gebnissen kommt.
Überweisungsvorschlag:
Mit Blick auf das Rüffert-Urteil stelle ich fest, dass Rechtsausschuss (f)
nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
wahrgenommen wird, dass dieses Urteil des Europäi-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
schen Gerichtshofs nicht zu allgemeinem Stillstand in
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
Bezug auf das öffentliche Vergaberecht führen darf, son-
dern dass es aufgrund von Tariftreue und Qualifizierung derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
(B) schlossen. (D)
der Vergaben auch Chancen eröffnet. Das registrieren
wir sehr wohl. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Die von Ihnen angesprochene Übereinstimmung nerin das Wort der Kollegin Katja Dörner von
muss sich in Verbesserungen niederschlagen. Man sollte Bündnis 90/Die Grünen.
auch denen danken, die für Verbesserungen streiten und
werben. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Herr Vogel war Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
das nicht!) Liebe Kollegen! Die Justizministerin hat einen Kompro-
Ich finde, dass wir Parlamentarier die Pflicht haben, an- missvorschlag zur Neugestaltung des Sorgerechts bei
zuerkennen und zu betonen, dass es Verdi und der GEW nicht miteinander verheirateten Eltern vorgelegt. Dieser
geschuldet ist, dass dieses Thema immer wieder auf die Kompromissvorschlag kommt ein halbes Jahr nach dem
Tagesordnung kommt. Bei einer Tagung war auch der Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es den
Kollege Schummer anwesend. diskriminierenden Zustand, dass unverheiratete Väter
für das gemeinsame Sorgerecht für ihr Kind zwingend
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Zum auf die Zustimmung der Mutter angewiesen sind, end-
Vergaberecht, ja!) lich beendet hat. Dieser Kompromissvorschlag kommt
Er war ganz erstaunt, dass das noch nicht geregelt ist, mehr als ein Jahr nach dem entsprechenden Urteil des
und hat gesagt, dass eine entsprechende Regelung kom- Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ich
men müsse. Dass dieses Thema immer wieder auf die muss sagen: Er kommt für viele betroffene Väter und
Tagesordnung kommt, ist den engagierten Mitarbeitern Kinder leider viele Jahre zu spät.
und auch manchen Arbeitgebern wie dem Bundesver-
band der Träger beruflicher Bildung zu verdanken. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wollte ich in meinen Schlussworten zum Ausdruck brin-
gen. Das ist ein erster Kompromissvorschlag. Dabei hat die
Ministerin schon im Sommer angekündigt, zeitnah, di-
In diesem Geist kommt man weiter, im liberalen Un- rekt nach der Sommerpause, einen entsprechenden Ge-
geist bleibt man stehen. setzentwurf vorzulegen. Wir haben ihn immer noch nicht
gesehen. Leider zeigt sich wieder einmal, dass sich die
Danke.
Koalition auch bei so einem Thema auf nichts Vernünfti-
(Beifall bei der SPD) ges einigen kann.
9936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Katja Dörner
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nicht anwesend – im August letzten Jahres anlässlich des (C)
Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Falsch! Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts darauf ver-
Das stimmt doch gar nicht!) wiesen hat, das alles sei ein bisschen bedenklich,
schließlich werde die Institution Ehe dadurch ge-
Ich sage hier ganz klar: Wir Grünen finden diesen
schwächt, sie habe ja dann keine anderen Vorteile mehr
Kompromissvorschlag der Ministerin vernünftig und
als das Ehegattensplitting und das könne doch nicht sein.
gut. – An dieser Stelle könnte die FDP ruhig einmal ap-
plaudieren, aber vielleicht können Sie den Vorschlag Ih- Ich finde, das darf in dieser Diskussion nicht im Fo-
rer Ministerin ja noch nicht richtig einschätzen. kus stehen. Ich wünsche mir für die Debatten zum Sor-
gerecht, die wir in den nächsten Monaten sicherlich noch
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
häufiger führen werden, dass wir davon wegkommen,
und bei der SPD – Stephan Thomae [FDP]: Ich
uns an der Art des Zusammenlebens oder Nichtzusam-
wollte Sie nicht unterbrechen!)
menlebens von Eltern zu orientieren, und uns tatsächlich
Unsere Einschätzung wird Sie nicht verwundern. darauf konzentrieren, die beste Lösung für die betroffe-
Schließlich haben wir den Antrag, über den wir heute nen Kinder zu finden.
hier beraten, schon im Herbst vorgelegt, der in den Eck-
Vielen Dank.
punkten dem Vorschlag der Ministerin weitgehend ent-
spricht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
In unserem Modell steht das Kindeswohl ganz klar im
LINKE])
Mittelpunkt. Aus der Perspektive des Kindes gibt es kei-
nen Grund, verheiratete und unverheiratete Eltern beim
Sorgerecht grundsätzlich unterschiedlich zu behandeln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Den Kindern ist der Trauschein ihrer Eltern im Allge- Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/
meinen herzlich egal. Wir gehen davon aus, dass das ge- CSU-Fraktion.
meinsame Sorgerecht dem Kindeswohl in der Regel am
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
meisten entspricht. Deshalb wollen wir einen einfachen
und niedrigschwelligen Weg zum gemeinsamen Sorge-
recht auch für unverheiratete Eltern. Ich möchte diesen Ute Granold (CDU/CSU):
Weg ganz kurz skizzieren. Die Väter sollen nach unse- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
rem Modell ab der Vaterschaftsanerkennung einen An- gibt weder eine Blockadehaltung der CDU/CSU noch
trag auf gemeinsames Sorgerecht stellen können. Wenn haben wir Probleme mit der FDP. Es geht uns darum, in
die Mutter diesem Antrag innerhalb einer Frist von acht einer so wichtigen Frage eine Lösung zu finden, die den
(B)
Wochen – diese Frist zieht auch die Ministerin in Erwä- Interessen der Kinder gerecht wird, und zwar nur der (D)
gung – nicht widerspricht, wird dem Antrag des Vaters Kinder, nicht der Mütter, nicht der Väter.
stattgegeben. Wenn die Mutter dem Antrag widerspricht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
kann der Vater das gemeinsame Sorgerecht beim Fami- neten der FDP)
liengericht beantragen. Diesem Antrag soll stattgegeben
werden, wenn das gemeinsame Sorgerecht dem Kindes- Wir sind auf einem guten Weg. Ich gehe davon aus, dass
wohl nicht widerspricht. Die Formulierung „nicht wider- wir in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen können.
spricht“ ist aus unserer Sicht besonders wichtig, weil
Da meine Redezeit heute ausreichend bemessen ist,
dieser Prüfauftrag signalisiert, dass es das gemeinsame
möchte ich kurz ausführen. Es geht um die gemeinsame
Sorgerecht in der Regel auch bei diesen Elternkonstella-
elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern.
tionen geben soll.
Es geht nicht um die Alleinsorge – sie ist im Gesetz ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) regelt –, es geht auch nicht um eine partielle Sorge
– etwa Aufenthaltsbestimmungsrecht, Vermögens- und
Dieses Modell wird aus unserer Sicht den Kindern ge-
Gesundheitssorge –, sondern es geht um das Thema, das
recht; denn die Kinder haben ein Recht auf beide Eltern.
ich eingangs genannt habe. Das ist ein sehr sensibler Be-
Das sollte auch im Sorgerecht seinen Ausdruck finden.
reich. Ich wäre sehr dankbar und froh, wenn wir alle
Das Modell wird den Vätern gerecht, die dann auf einem
sachlich und am Interesse des Kindes orientiert darüber
einfachen Weg das Sorgerecht bekommen können. Es
diskutieren könnten.
wird auch den Müttern gerecht, die Bedenkzeit haben
und deren Vorbehalte im Zweifelsfall geprüft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und
das Bundesverfassungsgericht haben – das wurde bereits
Jetzt ist es an der Union: Beenden Sie endlich Ihre
erörtert – im Dezember 2009 bzw. im Sommer 2010 ent-
Blockadehaltung. Wir brauchen eine Lösung, von der
schieden, dass die derzeitige Regelung in Deutschland,
vor allem die Kinder profitieren. Dass es der Union und
wonach die Väter keine Möglichkeit haben, gegen den
vor allem der CSU tatsächlich immer um die beste Lö-
Willen der Mutter eine Mitsorge zu erhalten, verfas-
sung für die Kinder geht,
sungswidrig ist und eine neue Regelung vom Gesetzge-
(Caren Marks [SPD]: Das wäre ganz was ber geschaffen werden muss. Genau daran arbeiten wir
Neues!) gerade.
müssen wir leider bezweifeln. Ich erinnere mich daran, Das Bundesjustizministerium hat ein Gutachten über
dass unsere Kollegin Dorothee Bär – sie ist leider heute die Situation und die Lebenslage der sogenannten nicht-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9937
Ute Granold
(A) ehelichen Eltern und deren Kinder in Deutschland einge- ich habe es gelesen – und Eckpunkte vorgelegt. Aller- (C)
holt. Viele Zahlen sind schon bekannt. Wir haben uns dings wäre bei den Eckpunkten das eine oder andere
auf diese Situation einzustellen – hier haben wir alle ei- nachzufragen, beispielsweise zu den Fristen. Was die
nen Lernprozess vor uns – und entsprechend darauf zu Verfahrenshemmung angeht – sechs Wochen vor der Ge-
reagieren. burt und acht Wochen nach der Geburt –, so wissen wir
nicht, wie das zu werten ist; darüber müssten wir noch
Wir haben 1998 durch die Kindschaftsrechtsreform einmal nachdenken.
die Möglichkeit geschaffen, dass eine gemeinsame elter-
liche Sorge nach einer Scheidung bestehen bleibt; dies Eine weitere Voraussetzung ist – das ist der Punkt, der
ist der Regelfall. Wir haben auch die gemeinsame elterli- für uns nicht akzeptabel ist –, dass zusätzlich zu den
che Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern für den Fristen, die eingehalten werden müssen, auch noch – ku-
Fall geregelt, dass die Mutter dem zustimmt. Nun wird mulativ! – obligatorisch eine Überprüfung des Kindes-
reklamiert, dass die Mitsorge nur mit Zustimmung der wohls durch das Jugendamt durchgeführt werden soll,
Mutter erfolgen kann. wenn die gemeinsame Sorge durch Schweigen zustande
kommt. Das ist für uns nicht hinnehmbar.
Laut Gutachten ist die Situation mittlerweile so, dass
bei jedem zweiten nichtehelich geborenen Kind eine ge- (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
meinsame elterliche Sorge besteht. Bei 50 Prozent dieser Das steht gar nicht in unserem Antrag!)
Kinder besteht also keine gemeinsame elterliche Sorge. Die Stellung des Jugendamtes in diesem Verfahren ist
Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen. Wir müs- uns zu stark. Wir möchten in der Tat eine niedrigschwel-
sen zur Kenntnis nehmen, dass immer mehr Kinder lige Regelung zugunsten der Väter. Darüber hinaus wi-
nichtehelich geboren werden. Im Durchschnitt sind dies derspricht diese Überprüfung des Kindeswohls durch
in Deutschland ein Drittel der Kinder; in den neuen Bun- das Jugendamt dem, was uns der Gesetzgeber mit auf
desländern sind es sogar mehr als 50 Prozent. Wir müs- den Weg gegeben hat.
sen beachten, dass die Väter, Gott sei Dank, inzwischen
sehr engagiert sind bezüglich ihrer Kinder und der Sorge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
um die Familie; dies umfasst auch die emotionale Sorge,
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
die Zeit für die Familie und vieles andere mehr.
richts – insofern muss ich dem Einwand, Frau Kollegin,
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es dass wir so lange brauchen, widersprechen – besteht
kann aber noch besser werden!) schon heute die Möglichkeit, sofort eine gerichtliche
Entscheidung herbeizuführen. Das sollte man der Voll-
Darauf reagieren wir. Dabei wollen wir die Vorgaben des ständigkeit halber auch sagen. Ich selbst führe derzeit ei-
(B) Bundesverfassungsgerichts, aber auch des Europäischen nige Verfahren für Väter vor Gericht. Diese wollen eine (D)
Gerichtshofs für Menschenrechte beachten. Entscheidung. Das ist möglich. Die Gerichte nehmen
Maßstab ist danach das Kindeswohl. Die gemeinsame ihre Anträge an, und sie werden auch bearbeitet. Inso-
elterliche Sorge – da sind wir einer Meinung – entspricht fern gibt es keinerlei Rechtsnachteile für die Väter, die
in der Regel dem Kindeswohl. Ein Kind braucht Mutter schon heute eine gerichtliche Entscheidung wollen.
und Vater zu einer gedeihlichen Entwicklung. Ich denke, Sie haben in Ihrem Antrag weitere Punkte genannt,
da besteht Konsens in diesem Haus. Die Gerichte haben die teilweise nicht nachvollziehbar sind. So fordern Sie
ausdrücklich auch gesagt, dass für die Möglichkeit des die Möglichkeit der alleinigen elterlichen Sorge im Kon-
Vaters, zu einer gemeinsamen Sorge zu kommen, nicht fliktfall. Bereits heute ist in § 1671 BGB geregelt, dass
zu hohe Hürden bestehen dürfen; das muss niedrig- jeder Elternteil bei gemeinsamer elterliche Sorge im
schwellig sein. Die Grünen haben übrigens bereits in der Falle des Getrenntlebens beantragen kann, dass ihm das
letzten Wahlperiode einen Antrag zu diesem Thema ge- Familiengericht die elterliche Sorge allein überträgt.
stellt.
Darüber hinaus fordern Sie, dass bei getrennt leben-
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Eltern und der alleinigen elterlichen Sorge der Mut-
NEN]: Als einzige Fraktion!) ter auch dem Vater die Möglichkeit gegeben sein muss,
Den haben wir auch debattiert, im Juli 2009. Damals hat- die Alleinsorge zu erhalten. Das ist natürlich zwangsläu-
ten wir noch keine neuen Erhebungen. fig der Fall, wenn wir das Gesetz so, wie es von uns an-
gedacht ist, auch ändern. Insofern sind diese Forderun-
Sie präferierten damals im Gegensatz zu heute ein gen selbstverständlich.
Antragsmodell – heute ist es ein Widerspruchsmodell –,
und Sie haben den Antrag an materielle Voraussetzungen Eine kostenlose Kinderbetreuung von Geburt an wäre
geknüpft, beispielsweise Erfüllung der Unterhaltspflicht, in Deutschhand wünschenswert, wenn sie finanzierbar
Umgang usw. Das ist weit mehr als das, was das Bundes- wäre. Wir müssten noch einmal darüber reden, inwie-
verfassungsgericht gefordert hat. Insofern würde es dem weit die Länder diesbezüglich belastet werden. Diese
Urteil nicht genügen und wäre heute nicht umsetzbar. Forderung ist schwierig, und wir können sie an anderer
Stelle diskutieren. Sie haben sie in Ihrem Antrag aufge-
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führt, und das hört sich alles gut an, aber es ist einfach
NEN]: Wir haben es weiterentwickelt!) nicht realisierbar.
Sie haben Ihren Antrag nun weiterentwickelt – wenn (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie mir zuhören, werden Sie feststellen, dass ich es weiß; NEN]: Steht auch nicht im Antrag drin! –
9938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Ute Granold
(A) Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- niedrigschwelliges Verfahren bei Gericht geben. Damit (C)
NEN]: Sie können sich zumindest Anregungen soll dem Vater die Möglichkeit gegeben werden, recht
holen!) schnell eine inhaltliche Prüfung vornehmen zu lassen.
Sie müssten auch darstellen, wie es bezahlt werden Ich möchte Ihnen das Modell der Union, unser soge-
könnte. nanntes Optionsmodell, vorstellen. Wir wollen dem Va-
ter, wie es schon heute aufgrund der Entscheidung des
Da wir uns bei unserem Gesetzesvorhaben ausdrück- Bundesverfassungsgerichts möglich ist, das Recht ein-
lich am Kindeswohl orientieren, möchte ich an dieser räumen, sofort nach Geburt des Kindes bei Gericht einen
Stelle sagen, dass uns die Gleichstellung von ehelichen Antrag auf gemeinsame elterliche Sorge zu stellen, wenn
und nichtehelichen Kindern sehr wichtig ist. Die Kinder er von vornherein weiß, dass die Mutter einer Mitsorge
werden in eine Situation hineingeboren, für die sie nichts nicht zustimmen wird. Der Vater soll dieses Recht
können. Es ist, wie es ist. Wir haben dokumentiert, dass schnell erhalten, weil gerade in der frühen Phase nach
es uns damit sehr ernst ist. der Geburt wesentliche Entscheidungen für das Kind ge-
Als wir damals die Unterhaltsrechtsreform nach lan- troffen werden. Der Vater soll hier die Möglichkeit er-
gen Beratungen auf den Weg gebracht haben, war uns halten können, mitzureden. Begleitend soll die Möglich-
das Kindeswohl ganz wichtig. Deshalb sind alle Kinder keit eines Eilverfahrens eingeräumt werden, damit der
bei den Rangverhältnissen, also bei der Realisierung der Vater sehr schnell eine Entscheidung des Gerichts erhält,
Unterhaltsansprüche in Mangelfällen, im ersten Rang sofern dies bei Fragen des Namensrechts, der Taufe oder
gleichgestellt. Auch hinsichtlich der Betreuung werden gar einer Operation des Kindes notwendig erscheint.
die nichtehelichen und ehelichen Mütter gleichgestellt. In anderen Fällen soll der Vater zunächst einmal einen
Denn wir haben das Kind im Fokus. Wir haben also do- Antrag beim Jugendamt stellen. Das Jugendamt wird
kumentiert, dass das ein sehr wichtiges Argument für den Antrag der Mutter zustellen. Es wird eine Karenzzeit
uns ist. eingeräumt, bevor die Mutter über den Wunsch des Va-
Wir sagen auch: Der Vater hat ebenso wie die Mutter ters nach Mitsorge entscheiden soll. Wir prüfen noch,
ein natürliches Elternrecht, und dem Vater muss niedrig- wie lang diese Karenzzeit sein soll. Danach soll die
schwellig die Möglichkeit eingeräumt werden, die Mit- Möglichkeit gegeben werden, dass man miteinander
sorge zu erhalten, sofern dem nicht gravierende, schwer- spricht, um eine gerichtliche Auseinandersetzung mög-
wiegende Gründe entgegenstehen. Deshalb sollte die lichst zu vermeiden. Die Alternative könnte ein Media-
gemeinsame elterliche Sorge auch der Regelfall sein. tionsverfahren sein, wohl wissend, dass diese Verfahren
eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Es geht hier aber
Da wir uns mit unserem Koalitionspartner zurzeit um den familiären Bereich; deswegen ist es uns wichtig, (D)
(B) noch in der Abstimmung darüber befinden, mit welchem
dass man das Gericht nur dann einschaltet, wenn kein
Verfahren dem Vater die Möglichkeit der Mitsorge ein- anderer Weg bleibt.
zuräumen ist, möchte ich zum materiellen Recht, das
meines Erachtens viel wichtiger ist, doch noch einige
kurze Ausführungen machen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Granold, Frau Kollegin Dörner würde
Die gemeinsame elterliche Sorge ist der Regelfall. Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Das ist die Prämisse. Der Vater erhält mit der Mutter das
gemeinsame Sorgerecht, wenn dieses nicht ausnahms-
Ute Granold (CDU/CSU):
weise dem Kindeswohl widerspricht. Insofern ist das
Verfahren, wie der Vater an das Sorgerecht kommt, Ja.
nachrangig. Es ist festzulegen, aber es ist nachrangig.
Denn wir sagen, dass die gemeinsame elterliche Sorge Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
der Regelfall ist. Bitte schön.
Wenn die Mutter weiß, dass die gemeinsame elterli-
che Sorge der Regelfall ist, wird sie sich sehr wohl über- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
legen, ob sie den Gang zum Gericht erzwingt oder ob sie Sehr geehrte Frau Kollegin, vielen Dank für die Mög-
sich bei Anerkennung bzw. Feststellung der Vaterschaft lichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Sie haben, wie
und entsprechender Erklärung des Vaters von vornherein Sie gesagt haben, unseren Antrag sehr genau gelesen. Ist
mit der gemeinsamen elterlichen Sorge einverstanden er- Ihnen dabei aufgefallen, dass wir mitnichten die Vorstel-
klärt. Davon sollte man ausgehen. Wenn das nicht der lung haben, dass in jedem Einzelfall eine Prüfung durch
Fall ist, müssen die Gerichte die erforderlichen Entschei- das Jugendamt erfolgen soll, inwiefern das Kindeswohl
dungen treffen. beeinträchtigt sein könnte? Uns geht es darum, dass das
Jugendamt im Verfahren Kenntnis davon gibt, wenn es
In den Fällen, in denen die Mutter widerspricht, also Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlge-
nicht mit der gemeinsamen Sorge einverstanden ist, lie- fährdung durch den Vater hat.
gen Spannungen vor. Das eine oder andere Modell von
Ihnen sieht Folgendes vor: Wenn die Mutter nicht rea- Ist Ihnen aufgefallen, dass wir zwar einen Rechtsan-
giert, kommt es automatisch zur gemeinsamen Sorge. – spruch auf ganztägige Kindertagesbetreuung einfordern,
Das wäre nicht der richtige Weg. Wenn die Mutter nicht wir aber in unserem Antrag mitnichten fordern, dass
reagiert bzw. wenn sie widerspricht, dann soll es ein diese kostenlos erfolgen soll?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9939
Katja Dörner
(A) Sie haben gerade gesagt, dass der Vater im Prinzip bei Gericht sehr viel vortragen muss, um zu dokumentie- (C)
doch in jedem Einzelfall zum Familiengericht gehen ren, dass es richtig ist, ihm die Möglichkeit zu geben, die
muss. Inwiefern steht das im Einklang mit Ihrer vorheri- Sorge zu begleiten. Wir gehen davon aus: Der Regelfall
gen Aussage, dass Sie ein niedrigschwelliges Verfahren ist, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindes-
entwickeln wollen? wohl entspricht. Alles andere müsste dezidiert vorgetra-
gen werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das eine schließt
das andere nicht aus!) Ich möchte nicht – das ganz zum Schluss –, dass den
Jugendämtern die Möglichkeit eingeräumt wird, bei Ge-
Ute Granold (CDU/CSU): richt eine Gefährdung des Kindeswohls vorzutragen,
Zu Ihrer Frage zum Verfahren. Das Optionsmodell weil eine negative Stellungnahme eines Jugendamtes –
sieht zwei Möglichkeiten vor: da spreche ich aus 30 Jahren Erfahrung als Scheidungs-
anwältin – bei Gericht nur sehr schwer auszuräumen ist.
Erstens. Der Vater kann nach der Geburt des Kindes Ich meine, eine so wichtige Entscheidung sollte, wenn
direkt zum Gericht gehen und eine gerichtliche Entschei- die Eltern kein Einvernehmen erzielen, das Gericht vor-
dung herbeiführen, wenn er davon ausgeht, dass er eine urteilsfrei treffen können. Eine starke Stellung der Ju-
Zustimmung der Mutter nie erhalten wird. So kommt es gendämter sehen wir nicht als den richtigen Weg an.
schnell zu einer gerichtlichen Entscheidung. Dabei sollte
man jedoch auf Fristen achten: Wir sehen eine Karenz- Ich bedanke mich bereits jetzt dafür, dass wir in der
zeit vor, während sich die Mutter im Mutterschutz befin- Lage sind, über dieses Thema sehr sachlich zu sprechen
det. Auch Ihr Antrag sieht Fristen vor. Die FDP will das und einen Weg zu finden. Wir gehen davon aus, dass wir
ebenfalls. Die Frage ist nur, wie lang diese Fristen sein auch die gesetzliche Regelung in Kürze auf den Weg
sollen. bringen können. Nochmals: Rechtsnachteile gibt es für
keinen Vater, weil seit der Entscheidung des Bundesver-
Zweitens. Der Vater kann einen Antrag beim Jugend- fassungsgerichts im letzten Jahr jeder Vater die Möglich-
amt stellen. Der Antrag des Vaters wird der Mutter zuge- keit hat – davon wird auch Gebrauch gemacht –, eine ge-
stellt. Die Frage ist, in welcher Zeit die Mutter auf den richtliche Entscheidung herbeizuführen, um zu seinem
Antrag reagieren muss. Die Frage ist auch, was passiert, Recht zu kommen.
wenn die Mutter schweigt. Schweigen bedeutet nach
dem Modell der Union, dass der Vater eine gerichtliche Herzlichen Dank.
Entscheidung herbeiführen soll. Es wäre uns natürlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sehr recht, wenn in diesem Fall die Möglichkeit be-
stünde, mit der Mutter zu sprechen, um eine Lösung für
(B) eine gemeinsame Sorge zu finden – unter Mitteilung der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
Voraussetzungen dafür. Dann wäre eine gerichtliche Ent- Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
scheidung nicht erforderlich. von der SPD-Fraktion.
Beide Wege sollen offenstehen. Damit wird dem Va- (Beifall bei der SPD)
ter der Weg zur Mitsorge geebnet, entsprechend den Vor-
gaben der von mir genannten Gerichte, die beide einen Christine Lambrecht (SPD):
niedrigschwelligen Zugang zur Mitsorge vorsehen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
Was die Kinderbetreuung angeht, so möchten wir na- ist eine sehr schwierige Materie, die wir da neu zu regeln
türlich gerne sicherstellen, dass die Kinder eine Betreu- haben; das ist mir heute bei diesen ersten Debattenbeiträ-
ung haben – von der Krippe bis zum Hort –, die finan- gen wieder aufgefallen. An die oberste Stelle müssen wir
zierbar bzw. beitragsfrei gestellt ist. Aber das belastet die setzen, dass die Neuregelung, die wir treffen, für die Be-
Kommunen und die Länder. Einen Rechtsanspruch ab troffenen – nicht für uns Fachleute, sondern für die Be-
der Geburt zu gewährleisten – wenn Sie das meinen –, troffenen – verständlich und transparent ist, sodass sie
ist derzeit nicht darstellbar; das wäre sehr schwierig. wissen, was auf sie zukommt, und dann auch zügig um-
Aber darüber möchte ich nicht weiter philosophieren, gesetzt werden kann. Ich glaube, wir alle sollten uns für
weil es heute in Ihrem Antrag nicht darum, sondern um die anstehenden Beratungen vornehmen, eine Regelung
die gemeinsame Sorge geht, die, wie auch Sie sagen, zu treffen, die gewährleistet, dass sich diejenigen, die in
zügig, aber ordentlich auf den Weg gebracht werden dieser Situation sind, nicht erst kundig machen müssen
sollte. – Ich hoffe, ich habe Ihre Fragen damit beantwor- – beim Jugendamt, beim Amtsgericht hier, beim Fami-
tet. liengericht da –, sondern das Prozedere auch von einem
Laien, der betroffen ist – von einem Vater, von einer
Zusammenfassend kann ich sagen – ich war ja schon Mutter –, nachvollzogen werden kann.
nahezu am Ende meiner Rede –: Unser Anliegen ist, eine
niedrigschwellige Möglichkeit zu schaffen und in das Es ist ausgeführt worden: Sowohl vom Europäischen
Gesetz aufzunehmen, sodass die Väter, die sich um die Gerichtshof als auch vom Bundesverfassungsgericht
Sorge für ihre Kinder bemühen, und zwar um die volle sind wir aufgefordert worden, hier eine Neuregelung zu
Verantwortung im Rahmen der elterlichen Mitsorge, sehr treffen. Hintergrund ist natürlich, dass es gesellschaftli-
schnell und niedrigschwellig die Mitsorge bekommen che Veränderungen gegeben hat, dass die Zeit nicht mehr
können, entweder außergerichtlich, was uns das Liebste so ist, wie sie vor 1998 oder bei der Kindschaftsrechts-
wäre, oder gerichtlich. Es kann nicht sein, dass ein Vater reform 1998 war. Die Welt hat sich verändert, und damit
9940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Christine Lambrecht
(A) sind auch gesellschaftliche Veränderungen einhergegan- Wie diese aussieht, ist ihre Sache. Aber sie sollten we- (C)
gen. nigstens sagen, ob sie sich einig sind oder nicht. Zuvor
müssen sie sich wenigstens einmal Gedanken darüber
Beziehungen sind heute ganz anders aufgestellt als machen.
vor 20, 30 Jahren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit
von Veränderungen. Wir haben uns an dieser Stelle mit Ich erhalte sehr viele Schreiben zu dieser Fragestel-
der Neuregelung der elterlichen Sorge zu beschäftigen. lung. Die einen wollen es so geregelt haben, die anderen
Vom Bundesverfassungsgericht ist für die Zeit, bis eine so. Wenn ich mich mit manchen unterhalte und sie frage,
Neuregelung in Kraft getreten ist, die Möglichkeit der warum sie das eigentlich nicht geregelt haben, als sie
sogenannten Antragslösung eröffnet worden. Das heißt, sich noch verstanden haben, dann sagen sie mir: Darüber
Väter, denen bisher das gemeinsame Sorgerecht verwei- haben wir uns gar keine Gedanken gemacht. – Ich sage:
gert wurde, haben jetzt die Möglichkeit, entgegen der Das darf nicht weiter so sein. Paare sollen sich, wenn sie
früheren Rechtslage wenigstens dafür zu kämpfen, dass ein Kind bekommen, wenn sie Eltern werden, mit dieser
auch ihnen die elterliche Sorge übertragen wird. Wir ha- Fragestellung auseinandersetzen und entscheiden. Wenn
ben uns jetzt zu fragen: Wie können wir diese Aufgabe sie sich dann nicht einigen können, dann muss ein Ver-
lösen? fahren zur Verfügung stehen, in dem das Ganze dann ge-
regelt wird. Aber Paare sollten sich bitte schön häufiger
Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten die selbst einigen und Eigenverantwortung übernehmen und
Regelung treffen, dass für alle Paare, die nicht miteinan- nicht darauf warten, dass jemand vom Jugendamt oder
der verheiratet sind und ein gemeinsames Kind haben, vom Familiengericht diese Frage regelt.
egal in welcher Konstellation sie sich befinden, generell
die gemeinsame elterliche Sorge gilt. Das könnte man (Beifall bei der SPD sowie der Abg.
machen. Ich persönlich muss aber sagen: Ich glaube, das Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])
würde einige Probleme aufwerfen, weil dann nicht im-
mer gewährleistet wäre, dass das tatsächlich zum Wohle Zwischen diesen beiden Polen, der Antragslösung auf
des Kindes ist. Das Wohl des Kindes muss aber die der einen und der elterlichen Sorge als Regel auf der an-
Voraussetzung sein. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, deren Seite, wird es sicherlich in irgendeiner Weise eine
dass Eltern quasi zwangsweise ein gemeinsames Sorge- Ausgestaltung geben. Ich möchte nicht verhehlen, dass
recht ausüben, wenn sie keinen Kontakt mehr miteinan- es bei uns in der SPD-Fraktion unterschiedliche Positio-
der haben, vielleicht auch nicht mehr miteinander haben nen dazu gibt. Da gibt es die Rechtspolitiker, die sagen,
wollen. sie könnten mit einer Antragslösung sehr gut leben. Das
heißt, der Vater hat die Möglichkeit, einen Antrag auf
(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE gemeinsame Sorge zu stellen, wenn die Mutter dem zu-
(B) LINKE]) vor nicht zugestimmt hat. Dann hat auf der ersten Stufe (D)
das Jugendamt zu entscheiden, und dann kann es weiter
Ich finde, „gemeinsam“ bedeutet auch, dass man sich zum Amtsgericht gehen.
verständigen kann. Wie gesagt, das sind alles so Facet-
ten, die wir zu beleuchten haben. Es gibt bei uns aber auch andere Vorstellungen, nach
denen ein gemeinsames Sorgerecht beispielsweise an die
Was die Antragslösung angeht, so muss man, glaube Voraussetzung des Zusammenlebens geknüpft werden
ich, noch einmal differenzieren. All die Paare, die ein soll. Das ist eine Position, die man sicher einmal zu prü-
gemeinsames Kind haben und sich verstehen, haben un- fen hat. Sie bringt meiner Einschätzung nach auch recht-
abhängig davon, ob sie zusammenleben oder nicht, liche Probleme mit sich; denn wann ein Zusammenleben
schon jetzt die Möglichkeit, ohne Jugendamt, ohne Fa- vorliegt, ist sicherlich nicht so einfach zu definieren. Fal-
miliengericht, ohne die Zustimmung von irgendwem zu len auch Wochenendbeziehungen darunter? Ist das tat-
entscheiden, wie sie das ausgestalten möchten. Sie haben sächlich ein rechtlich bestimmter Begriff?
nach der Vaterschaftsanerkennung die Möglichkeit, zu
sagen: „Jawohl, wir wollen ein gemeinsames Sorge- Sie sehen, es gibt eine Bandbreite. Deswegen sollten
recht“, und erklären dieses nur. Da muss niemand mehr wir uns jetzt endlich dringend und schnell auf den Weg
entscheiden. Es liegt in ihren Händen. machen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hier
quasi eine Notlösung vorgegeben. Ich glaube, es kann
Wir sollten in diesem Gesetzgebungsverfahren auf je- nicht sein, dass wir in dieser Situation einfach so weiter-
den Fall dafür sorgen, dass dieser Weg viel häufiger be- machen, weil wir es als Gesetzgeber nicht hinbekom-
schritten wird, dass die Menschen diese Verantwortung men, eigenständig eine Lösung zu schaffen. Ich bin auch
auch annehmen. Wenn ein Kind geboren wird, dann sol- sehr optimistisch, dass wir eine Lösung finden werden;
len sie sich bitte schön auch Gedanken darüber machen, denn wir haben im Familienrecht bisher sehr konstruktiv
wie dieses Sorgerecht ausgestaltet werden soll, wer das und ohne parteipolitische Scheuklappen zusammengear-
wirklich übernehmen soll. Da müssen ja zahlreiche Fra- beitet. Das wird sicherlich auch in diesem Fall wieder
gen beantwortet werden, teilweise auch ganz schnell, gelingen.
etwa wenn Operationen anstehen. Es gibt aber auch an-
dere Fragen, die sehr schwierig sind, etwa Religions- Ich darf jedoch insbesondere Sie von der Regierungs-
zugehörigkeit, medikamentöse Behandlung usw. Eltern koalition und auch Sie aus dem BMJ, Herr Stadler, auf-
sollen sich durchaus bewusst sein, was das Sorgerecht fordern, da bitte nicht länger zu zögern. Ich habe das in
bedeutet. Deswegen wäre ich auf jeden Fall dafür, dass Haushaltsreden schon mehrfach angesprochen. Immer
Eltern verpflichtet werden, eine Erklärung abzugeben. wieder kam: Wir sind dran. Wir machen etwas in Kürze,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9941
Christine Lambrecht
(A) in Bälde, demnächst. – Jetzt wäre es, glaube ich, so lang- dann ableiten kann, dass es besser wäre, der Mutter das (C)
sam mal an der Zeit, dieses Problem tatsächlich kon- Sorgerecht allein zu belassen.
struktiv anzugehen.
(Christine Lambrecht [SPD]: Es geht doch um
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Kinder!)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Das heißt, es gibt keine Schonfrist für die Mutter. Das ist
Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) das Problem bei der momentanen Situation.
Dieses Problem greifen die Grünen in ihrem Antrag
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auf. Deshalb bringe ich diesem Vorschlag auch durchaus
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der Sympathie entgegen. Hier wird nämlich gesagt, dass
FDP-Fraktion. man der Mutter eine Bedenkzeit einräumen müsse.
Wenn der Vater eine Sorgeerklärung abgibt, erhält die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Mutter zunächst einmal eine Bedenkzeit; sie muss in
der CDU/CSU)
sich gehen und überlegen können, ob sie das Sorgerecht
teilen will. Bei diesem Vorschlag gibt es aber auch ei-
Stephan Thomae (FDP): nige Probleme, die ich hier nennen möchte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jedes
Kind hat Anspruch auf beide Elternteile. Beide sind ver- Ein Problem ist, wie der Vorschlag zu verstehen ist,
antwortlich für das Kind, sind dem Kind und seinem dass während des gesetzlichen Mutterschutzes der Lauf
Wohl verpflichtet. Umgekehrt ist die Sorge für das Kind der Achtwochenfrist gehemmt ist. Diese Frist ist dann
ein originäres Elternrecht. Eltern haben das Recht, für gehemmt, wenn die Mutter – so heißt es in Ihrem Antrag –
ihre Kinder zu sorgen, die Sorge innezuhaben, ohne sich „eine entsprechende Mitteilung macht“. Mir ist nicht
bewähren zu müssen, ohne darum kämpfen zu müssen – ganz klar, wie das zu verstehen ist. Könnte das nicht
mit einer gravierenden Einschränkung im Bürgerlichen dazu führen, dass diese Schutzregelung gerade dann ver-
Gesetzbuch: Dann, wenn der Vater mit der Mutter nicht sagt, wenn der Schutz am notwendigsten wäre? Eine Ge-
verheiratet ist, kann der Vater die gemeinschaftliche burt, bei der es zu Komplikationen kommt, oder auch
Sorge nur dann erhalten, wenn er entweder die Mutter eine Mehrlingsgeburt sind ja zum Beispiel Fälle, bei de-
heiratet oder aber die Mutter der gemeinschaftlichen nen die Mutter besonders viele Sorgen hat, sodass sie es
Sorge zustimmt. vielleicht vergisst oder unterlässt, die entsprechende
Mitteilung zu machen. In diesem Fall wäre der Lauf der
Der Vater braucht also mindestens einmal ein Jawort Frist aber nicht gehemmt. Es wäre also zu überlegen, ob
(B) der Mutter: entweder vor dem Traualtar oder beim Ju- der besondere Schutz, der durch die Möglichkeit ge- (D)
gendamt. Das ist ein nicht einklagbarer Anspruch. Die- währleistet werden soll, den Lauf der Frist zu hemmen,
ses Jawort kann man nach dem BGB nicht vor Gericht nicht gerade dann zu versagen droht, wenn er besonders
einklagen. Hier hat das Verfassungsgericht mit seiner notwendig wäre. Über diesen Vorschlag im Antrag der
Entscheidung vom 21. Juli nun eine kleine Änderung Grünen müsste man also noch einmal nachdenken.
vorgenommen, zwar nicht mit Blick auf den Traualtar,
Der zweite Punkt, der mir auffällt, wurde schon ange-
(Christine Lambrecht [SPD]: Das wäre ja eine sprochen: Es geht um die Rolle, die Sie in Ihrem Antrag
Zwangsheirat!) dem Jugendamt zuweisen. In Ihrem Antrag heißt es, dass
das Jugendamt dem Antrag des Vaters dann stattgibt,
aber es muss die Möglichkeit bestehen, einen Antrag auf wenn die Mutter innerhalb der Achtwochenfrist keinen
Einräumen der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge zu Widerspruch einlegt und – jetzt kommt es – „dem Ju-
stellen. Damit gibt es angesichts der momentanen Lage gendamt keine Erkenntnisse über eine offensichtliche
zwei Probleme. Kindeswohlgefährdung durch den Vater vorliegen“. In
Das erste Problem ist: Wenn die Mutter nicht zu- meinen Augen ist es ein Problem, dem Jugendamt eine
stimmt, herrscht immer gleich Eskalationsstufe rot. Man solche Entscheidungsmacht zu geben. Denn wann ist das
muss immer zum Gericht gehen, wenn die Mutter ihr Ja- Kindeswohl gefährdet? Wann ist es offensichtlich ge-
wort zur gemeinsamen Sorge nicht gibt. Das Gericht fährdet? Wie soll das Jugendamt diese Erkenntnisse er-
muss nun ermitteln, was dem Kindeswohl dient. Das ist halten? Es ist eigentlich nicht die Aufgabe einer Be-
oft eine schwierige Frage. In vielen Fällen wird es not- hörde, sich solche Erkenntnisse zu verschaffen. Sie hat
wendig sein, ein Gutachten eines Kinder- oder Jugend- auch kaum die Möglichkeiten, darüber zu verhandeln
psychologen einzuholen. Häufig wird es auch zu eigent- bzw. Parteien oder Sachverständige anzuhören. Das ist
lich unnötigen Prozessen kommen. Denn was soll ein eine originäre Aufgabe der Gerichte. Diesen müsste
Richter sagen, wenn kurz nach der Geburt noch gar diese Aufgabe eigentlich zugewiesen werden.
nichts passiert bzw. eingetreten ist, woran er ermessen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kann, ob das Kindeswohl gefährdet ist? Es wird also
ganz oft zu unnötigen Verfahren kommen. Es ist nämlich Aufgabe der Gerichte und nicht der Be-
hörden, zum Beispiel der Jugendämter, Tatsachen zu er-
Das zweite Problem ist, dass der Vater taktisch eigent- mitteln und Rechtsfragen zu beantworten.
lich gut beraten ist, möglichst schnell den Antrag bei Ge-
richt zu stellen; denn je früher er den Antrag stellt, desto (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
weniger wird sich zugetragen haben, woraus der Richter Darüber reden wir auch noch einmal!)
9942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

Stephan Thomae
(A) Der dritte Punkt ist eine mir völlig unverständliche zeit, die Weimarer Republik, Nazideutschland bis in die (C)
Regelung; auch über diesen Punkt in Ihrem Antrag müs- Bonner Republik gehalten.
sen wir noch einmal reden. Wenn die Mutter die gemein-
Erst 1953 setzte ein Wandel ein. Die Mutter bekam
schaftliche Sorge beantragt, dann – so besagt es Ihr An-
ein Miterziehungsrecht, aber der Vater war nach wie vor
trag – kann das Jugendamt dem nur entsprechen, wenn
gesetzlicher Vertreter und hatte das Letztentscheidungs-
der Vater innerhalb von acht Wochen zustimmt. Das ver-
recht. Erst 1979, mit Einführung des Gesetzes zur Neu-
stehe ich überhaupt nicht. Was ist, wenn der Vater nun
regelung des Rechts der elterlichen Sorge, wurde die
länger braucht, um seine Zustimmung zu erklären, zum
Mutter bei der Erziehung gleichberechtigt.
Beispiel neun oder zwölf Wochen? Wenn er die Zustim-
mung erst nach Ablauf der Achtwochenfrist erteilt, liegt Betrachten wir parallel dazu das Scheidungsrecht. Bis
ja eine gemeinschaftliche Sorgerechtserklärung vor: Die 1977 galt das Schuldprinzip. Das heißt, wenn Eltern sich
Mutter will, der Vater will. Braucht der Vater also länger scheiden ließen und Kinder vorhanden waren, bekam der
als acht Wochen, um Ja zu sagen, dann hat er ja trotz- nichtschuldige Teil das Sorgerecht für die Kinder. Das
dem, auch wenn er länger, als von Ihnen vorgesehen, ge- wurde dann geändert. Es galt nicht mehr das Schuldprin-
zögert hat, Ja gesagt, und es liegt eine gemeinschaftliche zip, sondern das Zerrüttungsprinzip, aber im Falle einer
Sorgerechtserklärung vor. Warum dann das Jugendamt Scheidung wurde im Regelfall nach wie vor nur einem
dazu noch etwas zu sagen hat und gar das gemeinsame Elternteil das Sorgerecht zugesprochen. 1982 hat das
Sorgerecht versagen kann, verstehe ich nicht. Bundesverfassungsgericht erklärt, dass dies gegen das
Das sind die Punkte, die ich an Ihrem Antrag bemän- Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG verstößt. Beiden El-
gele. Deswegen kann ich ihm nicht zustimmen, auch tern steht nach wie vor die elterliche Sorge zu. Das
wenn ich ihm sonst vieles abgewinnen kann und er mir wurde letztlich erst 1998, 16 Jahre später, mit dem Kind-
in vielen Punkten sehr sympathisch ist. Wir werden schaftsrechtsreformgesetz umgesetzt. In den Köpfen der
trotzdem den Antrag aufmerksam studieren, weil er viele Menschen hat sich seither festgesetzt: Wenn Eltern sich
wertvolle Ansätze enthält. Ich denke, dass wir deutlich scheiden lassen, tragen beide weiterhin die gemeinsame
gemacht haben, weshalb wir diesem Antrag in der jetzi- Sorge für die Kinder. Das hat sich inzwischen manifes-
gen Form nicht zustimmen können. tiert.

Vielen Dank. Bei ledigen Müttern und ledigen Vätern war es ganz
anders. Ich gehe noch einmal zurück. 1. Januar 1900:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Vater war noch nicht einmal mit dem Kind ver-
wandt. Hintergrund des Ganzen war das gesellschaftli-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: che Bild. Der Sohn aus gutem Hause hatte etwas mit
(B) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat dem Kindermädchen oder dem Hausmädchen. Das un- (D)
das Wort der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion eheliche Kind, wie es damals hieß – der Makel der Un-
Die Linke. ehelichkeit –, sollte nicht in die Familie des gutbetuchten
Vaters eindringen. Deswegen waren diese Personen per
(Beifall bei der LINKEN) Gesetz noch nicht einmal verwandt. Auch diese Sicht-
weise hat sich über die verschiedenen Staatsformen bis
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): in die Bonner Republik gehalten. Erst 1970 ist das geän-
Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen dert worden. Hinsichtlich der Verwandtschaft sind wir
und Kollegen! Sorgerecht und Sorgepflicht – das ist ein gerade dabei, die letzten Hemmnisse zu beseitigen.
hochemotionales Thema, wenn sich die Eltern getrennt
Aber inzwischen hat sich die Gesellschaft gewandelt;
haben. Ich denke, alle, die mit der Thematik befasst wa-
es ist schon angesprochen worden. Jedes vierte Kind im
ren, haben Schreiben von Vätern, Müttern, Verbänden,
Westen und zwei von drei Kindern in den neuen Bundes-
Interessengemeinschaften, AGs und sonstigen Betroffe-
ländern werden nichtehelich geboren. Nichtehelich ist
nen in Deutschland bekommen. Die einen wollen es so,
heute völlig normal in unserer Gesellschaft. Aber die
die anderen wollen es so. In der heutigen Debatte wurde
rechtlichen Bestimmungen zum Umgangs- und Sorge-
dazu schon viel gesagt.
recht wurden dieser Entwicklung nicht angepasst. Da
Denjenigen, die sich mit dem Sorgerecht nicht so gut wird unterschieden: Trennen sich Eheleute, behalten
auskennen, möchte ich einen kleinen Einblick geben, beide das Sorgerecht. Trennen sich Nichteheleute, tau-
wie es sich überhaupt entwickelt hat, um ein Verständnis chen die hier beschriebenen Probleme auf. Wenn es
dafür zu bekommen, wieso in Bezug auf das Sorgerecht keine Sorgerechtserklärung gibt, hängt es gegenwärtig
für gemeinsame Kinder ein Unterschied zwischen Ehe- vom Goodwill der Mutter ab, ob auch der Vater das Sor-
leuten und Nichteheleuten besteht. gerecht bekommt. Wenn die Mutter nicht zustimmt,
kann der Vater nichts machen.
Ich gehe weit in die Geschichte zurück. Ich muss alles
in vier Minuten pressen, aber ich versuche es. Nehmen Das hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert und
Sie das BGB vom 1. Januar 1900; ich spreche von Ehe- eine Übergangsregelung geschaffen. Wir müssen nun se-
leuten. Der Vater war der Patriarch der Familie, er allein hen, wie wir die Rechtslage ändern. Erstens gibt es den
hatte Erziehungsrecht, und er war der gesetzliche Vertre- Weg der Antragslösung; das würde bedeuten, die Rege-
ter. Die Mutter hatte nichts zu melden. Sie war für per- lung ist wie bisher, nur mit einer gerichtlichen Überprü-
sönliche Zuwendung und Versorgung zuständig. Das hat fung, wie es auch das Bundesverfassungsgericht in sei-
sich – das muss man sich vorstellen – durch die Kaiser- ner Übergangslösung vorschreibt. Zweitens gibt es die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9943
Jörn Wunderlich
(A) Möglichkeit der Widerspruchslösung; das heißt, die Danke schön und schönes Wochenende. (C)
Mutter widerspricht der Erklärung des Vaters, das Sorge-
(Beifall bei der LINKEN – Stephan Thomae
recht gemeinsam mit der Mutter ausüben zu wollen, und
[FDP]: Gleichfalls!)
dagegen kann dieser ein gerichtliches Verfahren anstren-
gen. Drittens gibt es die Möglichkeit der – ich nenne sie
einmal so – großen Lösung; danach hätte der Vater von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Geburt an durch eine Vaterschaftserklärung gemeinsam Ich schließe die Aussprache.
mit der Mutter das Sorgerecht; in den anderen Fällen
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
verbliebe das Sorgerecht bei der Mutter, mit der Mög-
Drucksache 17/3219 an die in der Tagesordnung aufge-
lichkeit der Überprüfung in Zweifelsfällen, ob das für
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
das Kindeswohl tatsächlich gut ist, analog § 1671 BGB.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Die Positionierung meiner Fraktion in dieser Frage ist so beschlossen.
ähnlich wie die der SPD noch nicht abgeschlossen. Im Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
Februar werden wir einen Antrag dazu vorlegen. Ich ordnung.
gehe davon aus, dass neben diesem Antrag und dem
dann hoffentlich ebenfalls vorliegenden Gesetzentwurf Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
der Bundesregierung noch weitere Anträge eingehen und destages auf Mittwoch, den 9. Februar 2011, 13 Uhr, ein.
wir dann im Ausschuss und in den Berichterstatter-
Die Sitzung ist geschlossen.
gesprächen die beste, schönste und praktikabelste Lö-
sung im Sinne unserer Kinder finden werden. (Schluss: 14.36 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9945

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 28.01.2011 Schaaf, Anton SPD 28.01.2011


Sabine
Schäfer (Bochum), Axel SPD 28.01.2011
Bartol, Sören SPD 28.01.2011
Scholz, Olaf SPD 28.01.2011
Brüderle, Rainer FDP 28.01.2011
Schwanitz, Rolf SPD 28.01.2011
Bülow, Marco SPD 28.01.2011
Storjohann, Gero CDU/CSU 28.01.2011
Burchardt, Ulla SPD 28.01.2011
Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 28.01.2011
Connemann, Gitta CDU/CSU 28.01.2011 DIE GRÜNEN

Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 28.01.2011* Werner, Katrin DIE LINKE 28.01.2011*


Land), Axel E.
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 28.01.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 28.01.2011

Fritz, Erich G. CDU/CSU 28.01.2011* * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Gleicke, Iris SPD 28.01.2011
(B) (D)
Göring-Eckardt, BÜNDNIS 90/ 28.01.2011 Anlage 2
Katrin DIE GRÜNEN
Erklärungen nach § 31 GO
Hintze, Peter CDU/CSU 28.01.2011 zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag der Bundes-
Höger, Inge DIE LINKE 28.01.2011 regierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaff-
neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der
Klöckner, Julia CDU/CSU 28.01.2011
Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security
Dr. h.c. Koppelin, FDP 28.01.2011
Assistance Force, ISAF) unter Führung der
Jürgen
NATO auf Grundlage der Resolution 1386
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 28.01.2011 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
solution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der
Lindemann, Lars FDP 28.01.2011 Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 18)

Link (Heilbronn), FDP 28.01.2011 Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE


Michael GRÜNEN): Ich stimme der Verlängerung des ISAF-Ein-
satzes zu, weil die völkerrechtliche Grundlage dieses
Dr. Linnemann, CDU/CSU 28.01.2011 Einsatzes durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates
Carsten eindeutig ist, ich fest an die Verpflichtung der Staatenge-
meinschaft glaube, auch jenseits von allzu eng gefassten
Möhring, Cornelia DIE LINKE 28.01.2011 nationalen Interessen Verantwortung übernehmen zu
müssen, ich spätestens seit dem Völkermord in Bosnien
Nink, Manfred SPD 28.01.2011 und Herzegowina verstanden habe, dass wir den Men-
schen, die um Schutz nachsuchen, diesen nicht verwei-
Nord, Thomas DIE LINKE 28.01.2011
gern dürfen.
Piltz, Gisela FDP 28.01.2011 Ich stimme zu, weil wir nicht nur die zivilen Opfer
des militärischen Einsatzes in Afghanistan vor Augen
Remmers, Ingrid DIE LINKE 28.01.2011 haben müssen, sondern auch die vielen zivilen Opfer, die
9946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) es unter der Herrschaft der Taliban gegeben hat: Ich ersten Entsendebeschluss für deutsche Truppen nach (C)
denke an all die Frauen, die ohne jeglichen ärztlichen Afghanistan durch die rot-grüne Bundesregierung am
Beistand Kinder gebären mussten, weil die Taliban das 16. November 2001 kam es zu einem Auffassungs- wie
Gesundheitswesen durch das Arbeitsverbot für Frauen Kurswechsel. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages
zerschlagen hatten, an die hohe Kindersterblichkeit und hat für den Auslandseinsatz gestimmt. Ich habe gegen
an die drakonischen Strafen, denen ungezählte Männer den Antrag gestimmt, genau wie meine Fraktion. Seit
und Frauen zum Opfer fielen. dem bin ich bei meinem Nein zu dem Auslandseinsatz
geblieben; das gilt unverändert bis heute.
Ich stimme zu, weil mich Menschenrechtsaktivistin-
nen und -aktivisten und Frauen aus der afghanischen Ge- Es gibt keinen gerechten Krieg! Für falsch und frag-
sellschaft eindringlich gebeten haben, mich für den Ver- würdig halte ich den Einsatz auch aus historischen Er-
bleib der internationalen Truppen einzusetzen, weil fahrungen. Ein Krieg ist in Afghanistan nicht zu gewin-
zahlreiche Fachleute aus der Region, wie der pakistani- nen. Diese Erfahrungen haben die Briten ebenso machen
sche Journalist und Taliban-Experte Ahmed Rashid oder müssen wie Russland. Fast zehn Jahre haben die Russen
der afghanische Journalist Sanjar Sohail, eindringlich den Krieg geführt; 15 000 russische Soldaten starben,
vor einem Abzug der internationalen Truppen warnen, über 1 Million Afghanen wurde getötet.
weil ein sofortiger militärischer Abzug die erreichten Er-
folge zunichtemachen, die Rückkehr der Taliban und ih- Nach Angaben der UN-Agentur für Drogen und Kri-
rer Schreckensherrschaft ermöglichen, die Menschen in minalität, UNODOC, sind durch Drogen aus Afghanis-
Afghanistan in einem neu eskalierenden Bürgerkrieg al- tan mit 30 000 Menschen doppelt so viele Russen ums
leine zurücklassen und die gesamte Region destabilisie- Leben gekommen wie durch den Krieg. Fast 90 Prozent
ren würde. des weltweit gehandelten Opiums stammen aus Afgha-
nistan, es ist das größte Anbaugebiet auf der Erde. Die
Insofern stimme ich meinem Kollegen Frithjof Anbaufläche ist in den vergangenen Jahren größer und
Schmidt zu, der in der Plenardebatte am 21. Januar 2011 nicht kleiner geworden, allein in Westeuropa sterben
sagte: „Nun zur politischen Frage, ob die Bundeswehr jährlich 10 000 Menschen an einer Überdosis Drogen,
ein weiteres Jahr in Afghanistan bleiben soll. Unsere deren Quelle Afghanistan ist.
Antwort ist klar: Ja, das soll sie. Ein Sofortabzug der in-
ternationalen Truppen ist und bleibt unverantwortlich. Schließlich gerät immer mehr der Anlass für den Aus-
Das wäre ein Treibsatz für einen offenen Bürgerkrieg in landseinsatz in Zweifel, weil Experten davon ausgehen,
Afghanistan.“ Daraus ziehe ich die Konsequenz, dem dass al-Qaida seit 2002 nicht mehr aus diesem Land ope-
ISAF-Einsatz für ein weiteres Jahr zuzustimmen. riert, sondern sich in anderen Ländern eingenistet hat.
(B) Diese Ausgangslage führt auch mit dazu, dass die Solda- (D)
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Den ten aus der NATO und aus anderen Staaten eher als Be-
Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan lehne ich ab. satzer denn als Befreier empfunden werden, so das Re-
Ich stimme gegen eine Verlängerung des Mandats der sultat aus Umfragen in diesem geschundenen Land.
Bundeswehr am Hindukusch.
Die Beschlussfassung über den Auslandseinsatz von Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Am 26. Februar
Soldaten ist für mich eine Gewissensentscheidung, weil 2010 habe ich der weiteren Beteiligung der Bundeswehr
über Tod und Leben von Menschen entschieden wird. an der International Security Assistance Force, ISAF, in
Mit meinem christlichen Glauben und Menschenbild Afghanistan zugestimmt, weil ein schneller Rückzug ein
kann ich diesen kriegerischen Einsatz nicht vereinbaren. Vakuum hinterlassen hätte, das nicht zu verantworten
Die Zehn Gebote und damit auch das fünfte gehören für gewesen wäre. Das trifft leider auch heute noch zu.
mich zu den verbindlichen Kernaussagen des Christen- Ich habe großen Respekt vor der Leistung unserer
tums. Soldaten, Polizisten und Aufbauhelfer. Trotzdem stehe
Doch nicht allein christlich-moralische Beweggründe ich dem Einsatz in Afghanistan weiterhin kritisch gegen-
bestimmen mein Handeln, sondern auch politische, his- über. Seit gut einem Jahr wird nun eine neue Strategie
torische wie verfassungsrechtliche. Unser Grundgesetz verfolgt. Es ist letztlich zu früh, die Auswirkungen die-
definiert die Bundeswehr als Verteidigungsarmee. Der ser Strategie zu bewerten. Neben einigen Rückschritten
Auslandseinsatz in Afghanistan deckt diese Auffassung ist aber nicht zu übersehen, dass es erste Ansätze einer
nicht ab. positiven Entwicklung gibt:

Mein Abstimmungsverhalten begründet sich beson- Die zivile Komponente wurde erheblich gestärkt und
ders auch aus der tragischen jüngsten Geschichte unseres die Ausbildung afghanischer Soldaten und Polizisten vo-
Landes. Deutschland war durch das NS-Regime Auslö- rangetrieben. Die Sicherheitslage beginnt, sich in eini-
ser für den Zweiten Weltkrieg und gleichfalls mitverant- gen Bereichen leicht zu stabilisieren. Die Zahl der im
wortlich am Ersten Weltkrieg. Ein Land mit solcher mo- Rahmen von Operationen der Alliierten getöteten Zivi-
ralischer Last hat auf politische Lösungen bei Konflikten listen ist immer noch viel zu hoch – aber gegenüber dem
zu setzen. Von Bundeskanzler Konrad Adenauer über Vorjahr signifikant zurückgegangen. Insgesamt gibt es
Willy Brandt bis zu Helmut Kohl galt diese Leitlinie für zwar mehr Zwischenfälle als in den Vorjahren, was aber
die deutsche Politik. Deutschland fand damit als Frie- auch angekündigt war und auf die gestiegene Truppen-
densstaat weltweit Achtung und Anerkennung. Mit dem stärke und Operationsdichte zurückzuführen ist. Im Hin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9947

(A) blick auf die politische Entwicklung sind erste, leider der Unterstützung auch für deren Engagement miss- (C)
nur kleine Fortschritte erkennbar. verstanden werden;
Auch wenn die Lage weit davon entfernt ist, gut zu – weil ich glaube, dass ein sofortiger Abzug aller Trup-
sein, geben diese Entwicklungen Anlass zu der Aussicht, pen zum jetzigen Zeitpunkt das Land mit einem Bür-
dass mit der Reduzierung unserer Präsenz in Afghanis- gerkrieg zurücklassen würde, der die Menschen mehr
tan in absehbarer Zeit begonnen werden kann. gefährden würde als ein schrittweiser Abzug. Dabei
scheint mir eine Perspektive von drei Jahren durchaus
Daher stimme ich heute für eine Verlängerung des realistisch, wenn sie denn ernsthaft umgesetzt würde;
Mandats – allerdings in der Erwartung und mit dem An-
spruch, dass im nächsten Jahr die Erfolge der neuen – weil ich es nach wie vor nicht für unmöglich halte,
Strategie deutlicher sichtbar werden. den deutschen Soldatinnen und Soldaten einen sinn-
vollen und realistischen Auftrag zum Schutze der Zi-
vilbevölkerung zu erteilen. Dies setzt allerdings den
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich kann politischen Willen voraus, sich von einigen Vorge-
dem von der Bundesregierung vorgelegten Mandat nicht hensweisen des Bündnispartners deutlich zu distan-
zustimmen, zieren, die offensive Aufstandsbekämpfung, das heißt
– weil die Bundeswehr seit einem Jahr nicht mehr nur das Partnering, zu beenden und sich wieder auf die Si-
zur Sicherung des Aufbaus, Stabilisierungseinsatz, cherung des Aufbaus und die Vorbereitung des
sondern zur offensiven Aufstandsbekämpfung, Coun- schrittweisen Abzugs zu konzentrieren.
ter Insurgency, im Rahmen des Partnerings eingesetzt Aus all diesen Gründen werde ich mich zum ISAF-
wird. Sie kämpft damit seit 2010 aktiv aufseiten einer Mandat noch einmal enthalten.
Bürgerkriegspartei;
– weil ich überzeugt bin, dass die Fortführung der Auf- Manfred Kolbe (CDU/CSU): Erstens. Der Afghanis-
standsbekämpfung durch Partnering die Sicherheits- tan-Krieg ist nicht zu gewinnen. Alle bisherigen auslän-
lage nicht verbessern, sondern weiter verschlechtern dischen Militärinterventionen sind am Hindukusch ge-
wird; scheitert, angefangen bei Alexander dem Großen über
das Britische Empire bis zur Sowjetunion. Auch für den
– weil es sich bei diesem Mandat nur um den militäri- Westen verschlechtert sich die Lage von Jahr zu Jahr,
schen Teil des Einsatzes handelt und ich ein umfas- und ein angekündigter Rückzugsbeginn ab 2011 erhöht
sendes Mandat einschließlich der zivilen Aufbaustra- kaum die eigene Durchsetzungsfähigkeit.
tegie für erforderlich halte;
(B) Zweitens. Der Afghanistan-Krieg hat seine Legitima- (D)
– weil die Bundesregierung bis heute keine unabhän- tion verloren. Die war nach den Terroranschlägen vom
gige Evaluierung und Wirksamkeitsanalyse des Ein- 11. September 2001 auf New York sicherlich gegeben;
satzes seit 2001 vorgenommen hat; aber seit 2002 operiert al-Qaida kaum noch von Afgha-
nistan aus. Um zu verhindern, dass Afghanistan wieder
– weil das Mandat immer noch keinen klaren Abzugs-
Ausgangsbasis von Terroristen wird, ist ein Krieg dieses
plan für die nächsten drei Jahre enthält. Die Formulie-
Umfangs nicht erforderlich, abgesehen davon, dass der
rung ist so schwammig, dass sie eine Fortsetzung so
Westen konsequenterweise dann auch gegen andere
lange zulässt, wie es die Bundesregierung für erfor-
Ausgangsbasen vorgehen müsste. Das weitere Ziel, in
derlich hält. Wer nicht einmal in der Lage ist, einen
Afghanistan einen demokratischen Rechtsstaat aufzu-
Plan aufzustellen, wird das anvisierte Ziel ohnehin
bauen, wurde mittlerweile aufgegeben und war ohnehin
nicht erreichen;
bereits durch die Zustände in Afghanistan – Wahlfäl-
– weil aus unerfindlichen Gründen immer noch die Tor- schungen usw. – ad absurdum geführt. So bedauerlich es
nados im Mandat enthalten sind; sein mag, aber wir werden uns als rückschrittlich er-
scheinende, jahrhundertealte Traditionen eines völlig an-
– weil ich die parlamentarische Kontrolle der zahlrei- deren Kulturkreises nicht durch Bomben verändern.
chen eingesetzten Spezialkräfte für unzureichend halte
und aufgrund schlechter Erfahrungen kein Vertrauen Drittens. Der Afghanistan-Krieg zerstört die Glaub-
mehr in die Informationspolitik des Verteidigungsmi- würdigkeit der Werte des Westens. Seit 2001 wurde in
nisteriums habe. Afghanistan die vielfache Anzahl unschuldiger Zivilis-
ten getötet wie bei den New Yorker Terroranschlägen.
Ich stimme dennoch nicht mit Nein, Die Verhältnismäßigkeit ist völlig verloren gegangen. Ir-
gendwelche Angaben zur Anzahl der getöteten Zivilisten
– weil ich den Menschen, die sich in Afghanistan in den werden von der Bundesregierung nicht gegeben. Wer
letzten Jahren für Demokratie und Menschenrechte Woche für Woche vor den Augen der gesamten Weltöf-
eingesetzt haben signalisieren will, dass wir uns der fentlichkeit die Tötung von Zivilisten als Kollateralscha-
Verantwortung bewusst sind, die wir nun nach neun den billigend in Kauf nimmt, züchtet als Reaktion stän-
Jahren Einsatz mag er noch so fehlerhaft gewesen dig neue Terroristen.
sein für sie zu tragen haben. Viele von ihnen, beson-
ders die Frauen, sind Risiken eingegangen, weil wir Betonen möchte ich, dass trotz meiner Bedenken der
ihnen Hoffnungen gemacht haben. Ein Nein zum Einsatz der in Afghanistan dienenden Soldaten Respekt
Mandat könnte im internationalen Kontext als Entzug und Anerkennung verdient. 45 Soldaten haben diesen
9948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) Einsatz bisher mit ihrem Leben bezahlt. Der Deutsche Kaum Fortschritte sind allerdings im Bereich guter (C)
Bundestag als verantwortlicher Entsender ist daher im- Regierungsführung festzustellen. So sind weder nen-
mer wieder gefordert, eine verantwortungsbewusste Ent- nenswerte Fortschritte im Einsatz gegen Korruption und
scheidung zu treffen. den Drogenanbau, noch beim Aufbau der Rechtsstaat-
lichkeit und flächendeckend tragfähiger Verwaltungs-
strukturen zu verzeichnen. Auch ist die Einbeziehung
Ute Kumpf (SPD): Nach einem gründlichen und sehr
der afghanischen Nachbarländer in einen notwendigen
verantwortungsbewussten Diskussionsprozess hat die
Friedensprozess nicht gelungen, bzw. sind bislang keine
SPD im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz einen
nachhaltigen Initiativen der Bundesregierung feststell-
Strategiewechsel gefordert, dessen wesentliche Ele-
bar, diesen Prozess zu befördern. Wir erwarten hier ein
mente Teil des Mandatsbeschlusses des Deutschen Bun-
stärkeres Engagement der Bundesregierung.
destages vom 26. Februar 2010 wurden.
Kernforderungen der SPD waren; Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass nur eine un-
abhängige wissenschaftliche Evaluation des Afghanistan-
– die Mittel für den zivilen Aufbau zu verdoppeln und einsatzes die erforderliche Wirkungsanalyse des Anfang
die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans voran- 2010 eingeleiteten Strategiewechsels vornehmen kann und
zutreiben, bedauern, dass die Koalitionsfraktionen im vergangenen
Jahr einen gemeinsamen Antrag von SPD und Bünd-
– mehr Nachdruck auf eine gute Regierungsführung nis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 17/1964)
und den weiteren Aufbau staatlicher Strukturen zu le- dazu abgelehnt haben.
gen,
Der von der Bundesregierung im Dezember 2010 vor-
– die Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei gelegte Fortschrittsbericht Afghanistan beleuchtet neben
deutlich zu verstärken, einigen Erfolgen zwar auch Fehlentwicklungen in Afgha-
nistan, leistet aber keine qualitative Analyse der vor ei-
– eine unabhängige Evaluierung des Afghanistan-Ein- nem Jahr eingeleiteten Maßnahmen.
satzes anhand von messbaren und qualitativen Fort-
schrittskriterien einzufordern, Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten
haben bei ihrem Gipfeltreffen in Lissabon am 19. und
– den Prozess der innerafghanischen Versöhnung zu un-
20. November eine schrittweise Übergabe der Sicher-
terstützen und voranzutreiben,
heitsverantwortung an die afghanischen Behörden bis
– die afghanischen Anrainerstaaten wie Pakistan, Iran, zum Jahr 2014 beschlossen. Mit diesem Prozess soll be-
(B) die zentralasiatischen Nachbarn, aber auch China und reits in den kommenden Wochen und Monaten begonnen (D)
die Türkei stärker in eine politische Lösung der werden.
afghanischen Konflikte einzubinden,
Vor diesem Hintergrund ist es aus unserer Sicht gera-
– der schrittweise Abzug des deutschen ISAF-Kontin- dezu folgerichtig, auch im Laufe dieses Jahres bereits
gents, beginnend 2011 und eine Beendigung des mi- mit dem Rückzug der Bundeswehr zu beginnen. Eine
litärischen Engagements zwischen 2013 und 2015. Übergabe der Sicherheitsverantwortung ohne einen Teil-
Parallel dazu eine schrittweise Übergabe der Sicher- rückzug der internationalen Kräfte wäre ein Etiketten-
heitsverantwortung an die afghanischen Streitkräfte. schwindel. Ein Verschieben des Abzugsbeginns würde
auch den notwendigen Druck auf die afghanische Regie-
Vor dem Hintergrund der vorgenannten Forderungen rung lockern, schrittweise die Sicherheitsverantwortung
ist festzustellen, dass im Jahr 2010 nahezu eine Verdopp- in Afghanistan zu übernehmen und damit einen verant-
lung der deutschen Mittel für den zivilen Aufbau Afgha- wortungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen.
nistans auf 430 Millionen Euro stattgefunden hat. Es
sind auch erhebliche quantitative Fortschritte bei der Die USA werden nach allen vorliegenden Informa-
Ausbildung von afghanischen Soldaten und Polizisten tionen bereits im Juli mit dem Rückzug ihres im vergan-
erfolgt. Allerdings entspricht die Qualität der Ausbil- genen Jahr vorgenommen Aufwuchses in Höhe von
dung durch kurze, nur wenige Wochen dauernde Ausbil- 30 000 Soldaten beginnen. Dieser Prozess wird sich über
dungskurse mit einem hohen Anteil von Analphabeten mehrere Monate hinziehen.
nicht immer den Erfordernissen.
Insofern ist die von der SPD erhobene Forderung, den
Durch die Berufung des 70-köpfigen „Hohen Frie- Beginn des Rückzugs der Bundeswehr im Jahr 2011 im
densrates“ unter Vorsitz des früheren Staatspräsidenten vorliegenden Mandat schriftlich zu fixieren, nur folge-
Burhanuddin Rabbani durch Präsident Hamid Karzai richtig gewesen. Die Bundesregierung ist dieser Forde-
und die Bildung eines Reintegrationsfonds in den bisher rung nachgekommen, wenn auch nur konditioniert.
etwa 160 Millionen US-Dollar eingezahlt wurden (da- Noch weniger Verständnis als für die vorgenommene
runter ein deutscher Anteil von 50 Millionen Euro über Konditionierung haben wir für Aussagen einzelner Mit-
fünf Jahre) sind erste Schritte im Hinblick auf einen glieder der Bundesregierung, namentlich des Bundesver-
innerafghanischen Versöhnungsprozess unternommen teidigungsministers, der öffentlich den Eindruck erweckt
worden. Ob dieser Prozess zu den gewünschten Erfolgen hat, ihm sei die Festlegung auf eine Jahreszahl in Bezug
führt, ist gegenwärtig noch nicht abschließend zu beur- auf einen Rückzugsbeginn gleichgültig. Daraus spricht
teilen. unseres Erachtens eine Missachtung des Parlaments, und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9949

(A) wir hätten an dieser Stelle eine angemessene Klarstel- … die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren (C)
lung durch die Bundeskanzlerin erwartet. zu können und wird dabei jeden sicherheitspolitisch ver-
tretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzie-
Trotz dieser Begleitumstände stimmen wir dem vor- rung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt“ – Seite 6 in
liegenden Mandat zu, um den auch von uns initiierten Bundestagsdrucksache 17/4402.
Strategiewechsel eine Chance zu geben. Wir erklären
aber schon jetzt, dass wir eine erneute Zustimmung zu Es ist vollkommen klar, dass bei einer erneuten Zu-
einer weiteren Mandatsverlängerung, die voraussichtlich stimmung zu einer weiteren Mandatsverlängerung, die
im kommenden Jahr dem Bundestag zur Abstimmung voraussichtlich im kommenden Jahr 2012 dem Bundes-
vorgelegt wird, an die Einhaltung der Zusage der Bun- tag zur Abstimmung vorgelegt wird, genau zu prüfen ist,
desregierung knüpfen „im Zuge der Übergabe der Si- ob die Bundesregierung ihrer Zusage, im Rahmen des si-
cherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab cherheitspolitisch Vertretbaren den Abzug der Bundes-
Ende 2011 (zu) reduzieren … und dabei jeden sicher- wehr noch in diesem Jahr einzuleiten, nachgekommen
heitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühest- ist und sich auch weiterhin die zögerlichen Erfolge beim
mögliche Reduzierung (zu) nutzen …“ (Antrag der Bun- zivilen Aufbau dokumentieren lassen.
desregierung, Bundestagsdrucksache 17/4402.
Bei aller Kritik am Afghanistan-Einsatz ist mir be-
wusst, dass wir Bundestagsabgeordnete das deutsche
Aydan Özoğuz (SPD): Ich möchte eingangs beto- Engagement nicht Hals über Kopf beenden können – das
nen, dass ich große Zweifel am nachhaltigen Erfolg des wäre unverantwortlich: gegenüber der afghanischen Be-
gesamten ISAF-Einsatzes in Afghanistan habe. Auch im völkerung und gegenüber den deutschen Soldatinnen
zehnten Jahr der ISAF-Mission leidet das Land unter und Soldaten vor Ort. Weil das neue Mandat keine neuen
bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Nicht erst im Jahr 2011 Kampftruppen vorsieht und weil der Schwerpunkt der
ist klar, dass die Befriedung Afghanistans nicht mit Bundeswehr auf der Ausbildung afghanischer Sicher-
militärischen Mitteln zu erreichen ist. Dementgegen un- heitskräfte liegt, werde ich ein zweites Mal der Mandats-
terstütze ich ausdrücklich die Bemühungen der interna- verlängerung zustimmen. Ich erwarte vom Verteidi-
tionalen Gemeinschaft zum zivilen Wiederaufbau des gungsminister, hier offen und klar die Abzugsperspektive
Landes. vor einem weiteren Mandat sehr deutlich zu terminieren.
Ich war 2001 noch keine Bundestagsabgeordnete und
hätte dem Einsatz nicht zugestimmt. Nun gilt es, mit der Mechthild Rawert (SPD): Ich habe dem seit mittler-
Situation, wie sie sich heute darstellt, besonnen umzuge- weile neun Jahren andauernden Einsatz der Bundeswehr
hen. Es ist für mich ein schwerer Schritt, zu entscheiden, in Afghanistan auf der Grundlage von Beschlüssen des
(B) ob ich mit meiner Stimme bis zu 5 350 Soldatinnen und VN-Sicherheitsrates im Rahmen internationaler Missio- (D)
Soldaten der Bundeswehr für weitere 12 Monate in die nen in Afghanistan bislang jedes Mal zugestimmt, am
für Körper und Psyche höchst belastende und gefähr- 26. Februar 2010 ausdrücklich auch in Anerkennung des
liche Situation in Afghanistan entsende. Es wird auch durch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten initi-
weiterhin nicht auszuschließen sein, dass neben Soldaten ierten und auf der Londoner Afghanistan-Konferenz
– der ISAF, wie auch der afghanischen Armee – weiter- Ende Januar 2010 durch die internationale Staatenge-
hin viele unschuldige Zivilisten bei den Einsätzen ster- meinschaft beschlossenen Neuansatzes „Übergabe in
ben werden. Verantwortung“.
Wir in der SPD-Bundestagsfraktion haben kritisch Auf der Basis dieses nunmehr international anerkann-
das Für und Wider der Mandatsverlängerung diskutiert. ten Strategiewechsels werden die Hilfen zum Wiederauf-
Aus dieser Diskussion haben wir der Bundesregierung bau und zum zivilen Engagement verdoppelt, Maßnah-
unsere Vorschläge unterbreitet: Beibehaltung des 2010 men zur Bekämpfung der Ausbildung von Polizei und
verdoppelten Betrages für den zivilen Wiederaufbau von Militär ebenso wie Maßnahmen zur Bekämpfung der
jährlich 430 Millionen Euro, Schwerpunktsetzung auf Korruption, des Ausbaus des Gesundheitswesens sowie
die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften, der Rechtsstaatlichkeit gestärkt. Damit werden die Vo-
mehr Nachdruck auf eine bessere Regierungsführung in raussetzungen für einen Abzug der Bundeswehr in 2011
Afghanistan und gegen die Korruption sowie die schritt- und eine Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die
weise Übergabe der Verantwortung an die afghanischen afghanische Regierung 2014 geschaffen.
Institutionen – Provinz für Provinz. Gerade der letztge-
nannte Punkt begründet für uns die Forderung, den Ab- Die vielfältigen Konflikte in Afghanistan und in den
zug des deutschen ISAF-Kontingents, beginnend 2011, Anrainerstaaten können nur politisch und nicht militä-
einzuleiten und die Beendigung des militärischen Enga- risch gelöst werden. Militärische Interventionen und da-
gements im Zeitkorridor zwischen 2013 und 2015 zu mit auch die Anwesenheit der Bundeswehr müssen dem
vollziehen. Die Verbündeten Kanada und die Nieder- Primat der Politik unterstehen und keinesfalls umgekehrt.
lande haben ihren Abzug jeweils terminiert. Darauf verweist der von der Bundesregierung vorgelegte
„Fortschrittsbericht Afghanistan“, darauf verweisen aber
Diesen Forderungen ist die Bundesregierung in ihrem insbesondere auch die von der SPD-Bundestagsfraktion
Antrag weitgehend nachgekommen. Allerdings bin ich In Ihrem Entschließungsantrag erhobenen Forderungen
sehr unzufrieden darüber, dass die Bundesregierung bei an die CDU/CSU/FDP-geführte Bundesregierung zum
der Abzugsperspektive 2011 eine Konditionierung vor- beschlossenen Strategiewechsel und dem damit verbun-
genommen hat: „Die Bundesregierung ist zuversichtlich, denen Zeitplan. Diesem Antrag stimme ich zu.
9950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) Am 28. Januar 2011 entscheide ich mich bei meiner sem Grund lehne ich eine Fortsetzung der Beteiligung (C)
Stimmabgabe für „Enthaltung“. Ich will mich nicht gegen der Bundeswehr an ISAF nicht ab.
die Mehrheit meiner Fraktion stellen, die dem Antrag der
Ich werden dem Antrag auf Fortsetzung der Beteili-
Bundesregierung zustimmen wird. Zugleich kann ich
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Einsatz der
aber auch dem Antrag der Bundesregierung so nicht zu-
ISAF in der von der Bundesregierung vorgelegten Form
stimmen.
dennoch nicht zustimmen, sondern mich enthalten.
Der den Abgeordneten des Deutschen Bundestages Der Strategiewechsel, den die neue amerikanische
vorgelegte Mandatstext lässt daran zweifeln, dass die Regierung 2010 vorgenommen hat, hat mehr Menschen
Bundesregierung es mit der Durchsetzung des beschlos- das Leben gekostet als in allen Einsatzjahren zuvor. Zu-
senen Strategiewechsels wirklich ernst meint. Es gibt dem hat diese Strategie nicht zur Verbesserung der Si-
keine eindeutige Festlegung darauf, mit dem Abzug in cherheitslage geführt. Weiterhin ist auch der politische
2011 zu beginnen. Vielmehr ist sie „zuversichtlich, im Staatsaufbau des Landes besorgniserregend und von
Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Korruption, eingeschränkter Meinungsfreiheit und man-
Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu gelnder Einhaltung der Menschenrechte gekennzeichnet.
können“ und wird dabei jeden sicherheitspolitisch ver- Auch die Erfolge beim zivilen Wiederaufbau können
tretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzie- nicht als gesichert angesehen werden. Nicht militärisch,
rung nutzen, soweit dies die Lage erlaubt und ohne da- sondern nur über politische Verhandlungen mit allen ent-
durch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit der scheidenden Akteuren kann der Konflikt in Afghanistan
Übergabeprozesse zu gefährden. gelöst werden.
Die Bundesregierung verfolgt hinsichtlich des Aus- Im Zentrum der Entscheidung über die Fortsetzung
landseinsatzes in Afghanistan keine konsistente Strate- der deutschen Beteiligung am ISAF-Einsatz im Norden
gie und keine einheitliche Zielstellung, wie die Aus- Afghanistans steht die Frage nach Art und Zeitpunkt des
einandersetzung um die Interpretation des Mandatstextes Abzugs der internationalen Truppen. Gemeinsam mit der
durch Außenminister Westerwelle und Verteidigungsmi- afghanischen Regierung und der NATO wurde beschlos-
nister zu Guttenberg verdeutlicht. Gilt das Primat der sen, zwischen 2011 und 2014 die Übergabe der Sicher-
Politik über das Militärische oder das Primat des Militä- heitsverantwortung an die afghanischen Streitkräfte zu
rischen zulasten politischer und ziviler Konfliktlösungs- vollziehen. Nicht betroffen von dieser Übergabe sind
strategien? Das Primat der Politik sehe ich auch gefähr- Ausbildungstruppen, die weiterhin im Land verbleiben
det durch die von Entwicklungsminister Niebel initiierte sollen. Dies bedeutet, dass damit auch offensive Kampf-
Verzahnung von Militär und Entwicklungshilfe. Damit einsätze einher gehen können, wie das Konzept des Part-
(B) wird der neutrale Status der Entwicklungshelfer und nerings verdeutlicht. (D)
-helferinnen gefährdet und das Vertrauen der afghani-
schen Bevölkerung in einen zivilen (Wieder-)Aufbau un- Die Bundesregierung versäumt in ihrem Antrag einen
tergraben. konkreten Abzugsplan mit Zwischenzielen von 2011 bis
2014 vorzulegen. Die Veränderung des Bundeswehrein-
Die deutsche Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. satzes von einem Stabilisierungseinsatz zu einer kontra-
Jede Soldatin, jeder Soldat braucht insbesondere bei Aus- produktiven offensiven Aufstandsbekämpfung korrigiert
landseinsätzen politische, moralische und auch finanziell sie nicht. Zudem legt sie keine Agenda für den zivilen
ausreichende Unterstützung zur Gewährung bestmögli- Aufbau bis 2014 und darüber hinaus vor.
cher Sicherheit. Ich bin nach wie vor bereit, diese zu ge- Ich halte es für dringend erforderlich, sofort einen
ben. Frieden ist aber mehr als die Abwesenheit von Krieg. konkreten, verantwortbaren Abzugsplan der Bundes-
Ich schließe mich der Aussage des Vorsitzenden der wehr ab 2011 bis 2014, mit klaren Zwischenschritten für
SPD-Fraktion Frank-Walter Steinmeier an, dass die von die Übergabe in Verantwortung an die afghanische Re-
CDU/CSU und FDP geführte Regierung nicht mehr mit gierung in den Provinzen und Distrikten im Norden von
der Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion für eine Afghanistan, zu erarbeiten. Zudem halte ich die Einsatz-
deutsche Beteiligung an der Internationalen Schutztruppe strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung für falsch
(ISAF) 2012 rechnen kann, wenn sie den Prozess des in- und korrekturbedürftig. Der deutsche Einsatz im Rah-
ternational vereinbarten Strategiewechsels verlässt. men der ISAF ist ein Stabilisierungseinsatz. Ein Einsatz
als offensive Aufstandsbekämpfung gefährdet das Leben
vieler Menschen auch in der Zivilbevölkerung und
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schwächt zudem die Chancen auf Frieden durch politi-
NEN): Mit der Beteiligung am ISAF-Einsatz unter dem sche Verhandlungen. Entscheidend ist zudem die Vorbe-
Mandat der Vereinten Nationen und auf Wunsch der af- reitung eines zivilen Peacebuilding-Prozesses über das
ghanischen Regierung hat Deutschland Verantwortung Datum des militärischen Abzugs im Jahr 2014 hinaus,
gegenüber den Menschen in Afghanistan, den zivilen um die Erfolge des zivilen Wiederaufbaus zu sichern.
Helferinnen und Helfern, den Soldatinnen und Soldaten Außerdem sollten die Mittel für den zivilen Aufbau über
sowie den Vereinten Nationen übernommen. Dieser Ver- 2014 hinaus auf dem erreichten hohen Niveau fortge-
antwortung und dem Ziel, Afghanistan beim Aufbau ei- schrieben werden. Dabei sollte insbesondere das Enga-
nes stabilen Staates mit rechtsstaatlichen Normen und gement in den Bereichen Bildung, ländliche Entwick-
Menschenrechten für alle Bürgerinnen und Bürger zu lung und für die Stärkung der Position der Frau verstärkt
unterstützen, sehe ich uns weiter verpflichtet. Aus die- werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9951

(A) Ich werde daher dem Entschließungsantrag der Frak- Frank Schwabe (SPD): Ich habe den Einsatz der (C)
tion Bündnis 90/Die Grünen zustimmen. Bundeswehr in Afghanistan – immer wieder mit mir und
anderen ringend – letztlich für richtig gehalten und auch
gegen große Widerstände in der Bevölkerung und mei-
Ewald Schurer (SPD): Ich werde mich bei der am
ner eigenen Partei vertreten. Dazu stehe ich und halte
morgigen Freitag, den 28. Januar 2011, stattfindenden
den – begrenzten – Einsatz weiterhin in letzter Konse-
namentlichen Abstimmung zum oben genannten Antrag
quenz grundsätzlich für richtig. Aber der Idealzustand
im Deutschen Bundestag enthalten.
einer Demokratie, wie wir sie uns in Deutschland vor-
Die auf den beiden Afghanistan-Konferenzen im Ber- stellen, wird mit militärischen Mitteln in Afghanistan
liner Willy-Brandt-Haus im Januar und November 2010 nicht erreichbar sein. Wenn das so ist, dann muss eine
erarbeiteten Positionen der SPD, in 2011 mit einem ge- klare Abzugsperspektive aufgezeigt werden.
ordneten Rückzug der Bundeswehr zu beginnen, wird
Es war das Verdienst der SPD – parallel zur internatio-
von der derzeitigen Bundesregierung nicht eingehalten.
nalen Debatte –, diese Abzugsperspektive in Deutschland
Ihre Unverbindlichkeit sieht keinerlei Festlegungen, führend erarbeitet zu haben. Natürlich haben Abzugs-
nur vage Absichtserklärungen vor. Ich bin überzeugt da- pläne mit klaren Zeitperspektiven mindestens zwei Risi-
von, dass es gegenüber den Soldatinnen und Soldaten ken: dass sie von akuten Ereignissen infrage gestellt wer-
der Bundeswehr, der Armee selbst und in der Verantwor- den können und dass sie dem Gegner Orientierung für
tung für unser Land keine größere Fürsorge geben kann, seine Strategie geben. Das ist wahr, und dennoch sind
als jetzt in 2011 mit diesem Abzug zu beginnen und den konkrete Abzugsdaten unabdingbar. Erstens, weil das
Rückzug mittelfristig und bis spätestens 2015 zu been- Land, die afghanische Regierung, diese Klarheit für ihr
den. Die mit dem Mandat verbundenen Fortschritte bei weiteres Wirken braucht. Und vor allem, weil wir in
der innerafghanischen Versöhnung, bei der Bekämpfung Deutschland keine Geheimarmee, sondern eine Parla-
von Korruption und Drogenhandel sowie bei guter Re- mentsarmee haben. Wie soll das Parlament als Vertretung
gierungsführung sind bis heute mangelhaft. des Volkes zur Steuerung der Bundeswehr in der Lage
sein, wenn Planungsdaten nicht klar benannt werden? Für
Mir ist klar, dass dieser Abzug geordnet ablaufen die notwendige Meinungsfindung und die öffentliche De-
muss. Das heißt, dass in Koordination der NATO-Staa- batte ist das unabdingbar.
ten gehandelt werden muss, um den dann kleiner wer-
denden Kontingenten den maximalen Schutz zu ermögli- Ich bin optimistisch, dass die von der SPD beschrie-
chen. bene Abzugsperspektive sich im Rahmen eines beginnen-
den Abzugs 2011 mit einem Ende in 2014 im internatio-
(B) Meine Enthaltung ist nur deshalb kein klares Nein ge- (D)
nalen Zusammenhang realisieren lässt. Zu entscheiden
worden, weil ich mich ausdrücklich zur Bundeswehr be- habe ich heute aber über eine konkrete Mandatierung für
kenne und weiß, dass alle radikalpazifistischen Forde- die Bundeswehr. Das von der Bundesregierung einge-
rungen, die ich respektiere, real das Gegenteil bewirken. brachte Mandat entspricht jedoch nicht den Anforderun-
Ich habe Besuche von Delegationen in Bosnien oder im gen, die ich im Einklang mit meiner Partei und meiner
afrikanischen Ruanda organisiert, um zu lernen, dass Fraktion an dieses Mandat stelle.
UN-mandatierte militärische Einsätze gerade in Bürger-
kriegen oftmals die einzig verbleibende Möglichkeit Die klare Abzugsperspektive fehlt. Der Mandatstext
sind, die Menschen vor organisierten Verbrechen zu macht dazu keine Aussage. Die Formulierungen, die sich
schützen. Allzu selten gelingt dies in unserer leider zu- in der Begründung zum Abzugsbeginn 2011 finden, sind
nehmend radikalisierten Welt. so stark eingeschränkt, dass sie jede Glaubwürdigkeit
vermissen lassen. Die zuständigen Minister der Bundes-
Militärische Einsätze sollen in ihrem eigentlichen regierung sind sich uneins und interpretieren die schwa-
Kern die dringend notwendigen zivilen Aufbaupro- chen Formulierungen auch noch unterschiedlich. Zu ent-
gramme im Idealfall schützen und ermöglichen. In scheiden habe ich aber über genau dieses Mandat, nicht
Afghanistan ist kein Krieg zu gewinnen. Die absolute über Hoffnungen und Erwartungen an das Handeln der
Mehrheit der Menschen in Deutschland wollte auch nie internationalen Staatengemeinschaft. Deshalb werde ich
einen führen. dem Mandat in dieser Form nicht zustimmen.
Natürlich gibt es eine Verantwortung gegenüber den Da ich jedoch den – begrenzten – Einsatz grundsätz-
Menschen in Afghanistan, mit zivilen Programmen für lich befürwortet habe, gegen den sofortigen Abzug der
Bildung, Gesundheit, Mädchen- und Frauenförderung Bundeswehr bin und unter den Bedingungen einer klaren
und dem Aufbau ziviler Strukturen die Gesellschaft zu Abzugsperspektive bis 2014 zustimmen würde – und es
fördern. Das geht aber nach fast einem Jahrzehnt militä- auch zukünftig tun werde –, werde ich mich heute ent-
rischer Intervention künftig nur noch dann, wenn Afgha- halten.
nistan künftig selbst in der Lage ist, Sicherheit für die
Menschen zu gewährleisten.
Sonja Steffen (SPD): Bereits bei der letzten Man-
Meine Enthaltung ist auch das Ergebnis eines Gewis- datsverlängerung am 26. Februar 2010 habe ich meine
senkonfliktes, der mich im zehnten Jahr meiner parla- Zweifel zum Ausdruck gebracht und mich bei der Ab-
mentarischen Arbeit zu diesem Ergebnis gebracht hat. stimmung enthalten.
9952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) Grundsätzlich unterstütze ich ein internationales En- den Familienangehörigen gebühren Dank, Anerkennung (C)
gagement für die Stabilisierung und den Wiederaufbau und Respekt.
Afghanistans. Allerdings ist festzustellen, dass sich un-
Meine inhaltliche Position findet sich nicht in einer
sere Soldaten unter schwierigsten Bedingungen inzwi-
Enthaltung wieder, selbst wenn ich eine solche mit Blick
schen mitten in kriegerischen Auseinandersetzungen be-
auf die Verantwortung und die Versprechen, die wir ge-
finden, die nicht nur militärische, sondern auch zivile
genüber dem afghanischen Volk gegeben haben, für sehr
Opfer fordern. Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten
akzeptabel halte. Das liegt an den Mängeln dieses Man-
kehren mit schweren posttraumatischen Belastungsstö-
dates, dem ich meine Unterstützung nicht geben kann.
rungen zurück.
Das Mandat 2011 folgt nicht dem Primat „Zivil vor
Bei der letzten Abstimmung hatte ich die Hoffnung,
Militär“. Schon das letzte Mandat 2010 war darauf ange-
dass der Deutsche Bundestag eine konkrete Abzugs-
legt, dass eine Veränderung von „defensiv“ zu „offensiv“
perspektive entwickelt und beschließt. Nun muss ich
kommen wird, ohne dass dies transparent gemacht
feststellen, dass diese der Beschlussvorlage nicht zu ent-
wurde. So mussten wir erleben, dass das Jahr 2010 das
nehmen ist. Die schwammige Formulierung „die Bun-
blutigste Jahr des Einsatzes war und viele Menschenle-
desregierung ist zuversichtlich, … die Präsenz der Bun-
ben gekostet hat. Diese militärische Linie wird mit dem
deswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können“, und der
nun vorliegenden Mandat fortgesetzt, ohne dass die
Zusatz „soweit die Lage dies erlaubt“ legen den Beginn
Grundlagen dafür geschaffen werden, eine Bewertung
des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan nicht kon-
der Wirksamkeit der entwicklungspolitischen, zivilen
kret fest. Hinzu kommen die Äußerungen des Bundes-
und militärischen Maßnahmen zu ermöglichen. Parla-
verteidigungsministers, die öffentlich den Eindruck er-
ment und Öffentlichkeit werden über die tatsächlichen
wecken, der Bundesregierung sei die Festlegung auf eine
Ereignisse und Vorkommnisse der Tötungen und die
Jahreszahl in Bezug auf den Beginn des Rückzuges
massiven Militäreinsätze nicht entsprechend aufgeklärt,
gleichgültig.
eine dringend notwendige öffentliche Debatte findet
Der Einsatz der Bundeswehr hat bisher nicht mehr nicht statt.
Sicherheit für die Bevölkerung gebracht, sondern die Der Fortschrittsbericht hat dieses Defizit trotz der
Sicherheitslage hat sich seitdem zunehmend verschlech- nüchternen und bislang umfassendsten Lagebeschrei-
tert – und damit auch die Sicherheit für unsere Soldatin- bung nicht überwunden. Auch diese Bundesregierung
nen und Soldaten. Eine Fortsetzung des Mandats ohne verweigert sich bei ihrer zweiten Mandatseinbringung,
konkrete Abzugsperspektive kann ich mit meinem Ge- eine externe, unabhängige Evaluation auf den Weg zu
wissen nicht verantworten. Deshalb werde ich dem An- bringen. Dies wäre aber dringend nötig, um die Weichen
(B) trag zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- richtig zu stellen. Vier Jahre lang wird Deutschland (D)
scher Streitkräfte an dem Einsatz der ISAF heute nicht 430 Millionen Euro für den zivilen Aufbau ausgeben
zustimmen. und es ist nicht präzisiert, wie wirksam und effizient die
Mittel ausgegeben werden. Öffentliche Diskussionen da-
rüber finden ebenfalls nicht statt. Die Regierungserklä-
Anlage 3 rung des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Erklärung nach § 31 GO und Entwicklung hat keine Erkenntnisse darüber ge-
bracht, mit welchen entwicklungspolitischen Instrumen-
der Abgeordneten Ute Koczy, Ingrid Nestle und ten eine Strategie für den Erfolg durchdacht vorgegeben
Katja Dörner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und durchgeführt werden kann. Dabei liegt doch auf der
NEN) zur namentlichen Abstimmung über die Hand, dass für die kommenden Jahre bis zu einem Ab-
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bun- zug, aber auch darüber hinaus, jetzt Maßstäbe gesetzt
desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be- werden müssen. Was fehlt und was ich einfordere, ist
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz eine Agenda für den Aufbau bis 2014 und danach.
der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security Die Beschränkung des Mandats auf militärische Auf-
Assistance Force, ISAF) unter Führung der gaben, Fähigkeiten und Kapazitäten halte ich für ver-
NATO auf Grundlage der Resolution 1386 kehrt. Damit wird der Militärfixiertheit im Blick auf
(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re- Afghanistan Vorschub geleistet und wird die strukturelle
solution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vernachlässigung der zivilen Anstrengungen unter die-
Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 18) ser Bundesregierung fortgesetzt. Es ist ein Paradox, dass
immer wieder zu hören ist: „Militärisch kann man in
Mein Nein zum Mandat 2011 bedeutet, dass ich das Afghanistan nicht gewinnen“, aber ein Mandat nach dem
vorliegende Mandat ablehne. Es ist auf keinen Fall eine anderen unter militärischen Gesichtspunkten aufgestellt
Aufforderung, mit dem Abzug der Truppen sofort zu be- wird. Dies zu verändern, würde allerdings bedeuten,
ginnen. Dies möchte ich in dieser persönlichen Erklä- dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Partner-
rung ausdrücklich hervorheben und klarstellen. ländern einen Willen dazu haben muss, dies auch tat-
sächlich zu verändern.
Meine Unterstützung gilt weiterhin den zivilen Helfe-
rinnen und Helfern sowie den Soldatinnen und Soldaten, Der Mandatsauftrag ist auch in diesem Fall sehr allge-
die in schwieriger Lage versuchen, Fortschritte für den mein und losgelöst von der konkreten Lageentwicklung.
Aufbau von Afghanistan zu ermöglichen. Ihnen sowie Weil Teilziele nicht formuliert werden, die Verschärfung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9953

(A) der Sicherheitslage nicht aufgegriffen und der Übergang auf 5 350 aufgestockt. Die neue Strategie heißt „Partne- (C)
von einem Stabilisierungseinsatz zu einem Kampfein- ring“: Unter dieser Tarnbezeichnung zieht die NATO
satz nicht dokumentiert wird, fehlt die Auftragsklarheit. Seit an Seit mit Afghanen in Kampfeinsätze, zuweilen
Es ist daher kein Wunder, dass die öffentliche Kritik an auch ohne diese. Großoffensiven in Helmand sowie im
der Unterstützung des Einsatzes und die Ablehnung in Norden, wo die Bundeswehr die Verantwortung trägt,
der Bevölkerung zunehmen. Während auf der einen dauern an und sind für Kandahar weiter geplant. Die US-
Seite das Misstrauen gegenüber dem Mandat wächst, Streitkräfte verstärken den Offensivkrieg im Rahmen der
verbreitet sich aber auch in Afghanistan der Eindruck, „Counter-Insurgency“ durch extralegale Hinrichtungen
dass nicht mit geeigneten und vor allem nachhaltigen in nie gekanntem Ausmaß. Hunderte von Zielpersonen
Mitteln auf die verschlimmerte Situation reagiert wird. werden Opfer von Kommandooperationen. Immer mehr
unbemannte Drohnen werden in Afghanistan und im an-
Verschärfend kommt hinzu, dass das Mandat keine grenzenden Pakistan eingesetzt. Die USA verweigern
Klarheit über den geplanten Abzug schafft. Sämtliche jede nähere Auskunft zu diesen Operationen. Aber nach
Fragen zu den Begleitumständen und zur Zeitschiene Medienberichten soll nur etwa ein Drittel der Getöteten
sind offen. Über die Hintergründe und Umstände des zu den Aufständischen gehört haben. Laut der New York
Abzugs wird nicht nur geschwiegen, sie werden außer- Times gab es 2010 sechsmal mehr solcher Kommando-
dem noch verschleiert. Wichtige Fragen, welche Konse- operationen. Auch die Bundeswehr unterstützt dies, in-
quenzen der Abzug für die zivile Aufbauarbeit hätte, dem sie Zielpersonen für die Targeting-Listen von ISAF
was bis zu einem Abzug ohne Chaos erreicht werden bzw. NATO benennt und nimmt so billigend in Kauf,
müsste und wie die Auswirkungen für die angrenzenden dass die Gelisteten Opfer von extralegalen Tötungen
Länder in der Region sein werden, finden weder Ein- werden.
gang in dieses Mandat noch werden sie in ausreichender
Weise offengelegt und diskutiert. Diese Geheimoperationen schüren zusätzlich Hass
und Rachegefühle unter der afghanischen Bevölkerung.
Sie treiben den Aufständischen immer mehr Kämpfer
Anlage 4 zu. Sie verhindern Verhandlungslösungen; denn wie soll
mit denen verhandelt werden, die von Drohnen gejagt
Erklärung nach § 31 GO und getötet werden?
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Die Bundesregierung stellt zwar eine Verbesserung
Winfried Hermann, Uwe Kekeritz, Memet der Sicherheitslage fest und gibt sich zuversichtlich, je-
Kilic, Monika Lazar, Dr. Hermann Ott und Lisa doch wird die militärische Lage jedes Jahr dramatisch
Paus (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- schlechter. So werden trotz Großoffensiven aus der Pro-
(B) mentlichen Abstimmung über die Beschluss- (D)
vinz Helmand ein Jahr später schwerste Verluste der
empfehlung zu dem Antrag der Bundesregie- NATO gemeldet. Im letzten Monat starben 25 alliierte
rung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
Soldaten, meist aus den USA. Der UN-Sonderbeauf-
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In- tragte für Afghanistan von 2008 bis 2010, Kai Eide,
ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe stellte fest, dass aus der „Clear – Hold – Build“-Strategie
in Afghanistan (International Security Assis-
eine „Clear-and-again-clear“-Übung geworden ist. Das
tance Force, ISAF) unter Führung der NATO heißt: Die Regionen werden nicht gehalten oder gar auf-
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und baut, sondern immer wieder gesäubert. In Marja wurde
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943
im Februar 2010 eine NATO-Offensive gestartet, die in
(2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- drei Monaten erfolgreich beendet werden sollte. Heute
nen (Tagesordnungspunkt 18) steht fest: Sie ist gescheitert.
Wir lehnen eine erneute Verlängerung des ISAF-Man-
Die deutschen Soldaten können die befestigten Mili-
dats der Bundeswehr ab. Vor einem Jahr weigerte sich
tärlager nur in gepanzerten Wagen und in Konvois für
die Bundesregierung, in Afghanistan von Kriegseinsät-
Kampfeinsätze oder Patrouillenfahrten verlassen. Das
zen der Bundeswehr zu sprechen. Inzwischen reden alle
Ansehen der Deutschen in Afghanistan sinkt rapide, und
von Krieg, sogar die Kanzlerin. Das ehemals defensive
auch die Bundeswehr wird immer mehr als Besatzer
ISAF-Mandat für den Schutz der Regierung und Verwal-
wahrgenommen. Deutsche Hilfsorganisationen meiden
tung in Kabul und mit dem Auftrag, Waffen nur zum
deshalb die Nähe zum Militär. Deren Mitarbeiterinnen
Schutz der Bevölkerung oder zum Eigenschutz in der
und Mitarbeiter verlassen die sicheren Orte möglichst
konkreten Situation einzusetzen, ist von NATO und
nur noch in besonders gesicherten Fahrzeugen.
Bundesregierung pervertiert worden in ein Mandat zum
Krieg; ein Krieg mit immer mehr Soldaten und mit im- Weiter werden 90 Prozent des Opiums in Afghanistan
mer mehr Opfern. Unter diesem Mandat wurden im letz- angebaut, ein immer größerer Teil davon schon im Land
ten Jahr mehr Menschen getötet und verletzt als jemals zu Heroin „veredelt“ und exportiert. Afghanistan ist
zuvor unter der Operation Enduring Freedom. Über auch zum größten Exporteur von Cannabis geworden.
10 000 Zivilisten, Polizisten, Staatsangestellte, Soldaten So sichern sich Warlords und ehemalige Kriegsfürsten
und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen haben ihr Le- ihre Macht und tragen zur weiteren Destabilisierung des
ben verloren. Landes bei.
Die Zahl der NATO-Soldaten wurde um mehr als Die Fortsetzung des Krieges ein, vier oder mehr Jahre
30 Prozent auf circa 140 000 erhöht, die der deutschen ist unverantwortlich. Es spricht nichts für die Zuversicht
9954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) der Bundesregierung, dass die Sicherheitslage nächstes Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur (C)
Jahr besser und in vier Jahren gut ist. Es spricht vieles namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
dagegen, vor allem die Erfahrung der Verschlechterung empfehlung zu dem Antrag der Bundesregie-
der letzten Jahre. Jedes weitere Jahr Krieg kann weitere rung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
zehntausend Menschen das Leben kosten. Und was ist, deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In-
wenn auch in vier Jahren die Sicherheitslage den Abzug ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe
nicht zulässt? Dann sind aber Zehntausende zusätzlich in Afghanistan (International Security Assis-
getötet und verletzt worden. tance Force, ISAF) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und
Wir fordern von der Bundesregierung einen wirkli- folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943
chen Strategiewechsel. Dazu muss die Bundeswehr un- (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio-
verzüglich alle militärischen Offensivoperationen und nen (Tagesordnungspunkt 18)
die Beteiligung an Kommandounternehmen stoppen. Sie
muss sich auf Notwehr und Nothilfe beschränken. Die Die Bundesregierung bleibt dem Parlament zum Ein-
Bundesregierung muss zunächst die afghanische Regie- satz der Bundeswehr im Rahmen von ISAF eine unab-
rung zu Waffenstillstandsvereinbarungen mit allen Auf- hängige Evaluation schuldig. Der im Dezember 2010
ständischen bewegen, die dazu bereit sind. Solche gab es vorgelegte Fortschrittsbericht kann eine solche Wirk-
immer wieder örtlich und regional. Auch die nationale samkeitsanalyse nicht ersetzen.
Friedens-Jirga hatte sich bereits im Jahr 2009 bereit
erklärt, die Gespräche mit Kommandeuren der Aufstän- Auch einen konkreten Aufbau- und Abzugsplan hat
dischen in der Provinz Kunduz jederzeit wieder aufzu- die Bundesregierung dem Parlament bis heute nicht vor-
nehmen. Die Verhandlungen zwischen der Regionalver- gelegt. Welche Aufbau- und Stabilisierungsziele will die
waltung und den Aufständischen muss unter Beteiligung Bundesregierung in Abstimmung mit den afghanischen
von Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft und internationalen Partnern verwirklichen? Welche
über die Zukunft dieser Region und des gesamten Lan- überprüfbaren Zwischenziele und Meilensteine müssen
des geführt werden. Ziel sind Vereinbarungen zur Ein- hierfür erreicht werden? In welchen konkreten Schritten
haltung der Menschenrechte und der afghanischen Ver- wird die Bundesregierung ihren Beitrag zur Übergabe
fassung, zur verstärkten Aufbauhilfen sowie zum der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Si-
raschen Abzug der Bundeswehr. Alle Finanzmittel, die cherheitskräfte leisten? Auf diese Fragen muss die Bun-
durch die Einstellung der militärischen Operationen und desregierung dem Parlament und der Öffentlichkeit end-
Reduzierung des Militärs frei werden, werden der Be- lich Antworten geben.
völkerung bzw. dort aktiven Nichtregierungsorganisatio-
(B) nen unter internationaler Aufsicht für den Aufbau zur Jetzt gilt es, die noch bestehenden Chancen für die (D)
Verfügung gestellt. Entwicklung in Afghanistan aktiv zu ergreifen und wei-
terzuentwickeln. Dies gelingt nur, wenn der zivile Auf-
Gleichzeitig muss sich die Bundesregierung bei den bau weiter forciert und künftig in den Mittelpunkt
NATO-Partnern und in der UNO dafür einsetzen, dass gestellt wird. Die finanziellen Mittel für den entwick-
alle militärischen Offensivoperationen, insbesondere die lungspolitischen Wiederaufbau gilt es auf hohem Niveau
Drohnenangriffe, in Afghanistan sofort eingestellt und über das Jahr 2014 hinaus zuzusagen. Insbesondere in
Waffenstillstandsvereinbarungen überall regional, in den Bereichen Bildung, ländliche Entwicklung und
Provinzen und möglichst landesweit mit den Aufständi- Frauen muss das deutsche Engagement ausgebaut wer-
schen und unter Beteiligung der Bevölkerung sowie der den.
Nachbarstaaten für einen raschen Abzug des Militärs ge-
troffen werden. Der von uns geforderte wirkliche Strate- Wir sind uns der momentanen Rückschläge und der
giewechsel sowie Bemühungen um ein Ende der Gewalt- Risiken der weiteren Entwicklung in Afghanistan be-
eskalation sind nicht erkennbar. Immer weiter Krieg zu wusst. Dazu haben auch zahlreiche Versäumnisse und
führen macht keinen Sinn. Deutschland und die NATO Fehlentwicklungen des deutschen Engagements beige-
müssen wenigstens versuchen, neue Wege zu gehen, da tragen. Hierzu gehören kontraproduktive militärische
die bisherigen in die Irre geführt haben. Operationen, die umgehend beendet werden müssen.
Außerdem muss die Praxis des Bundesministeriums für
Die Bundeswehr darf keine Unterstützung für gezielte wirtschaftliche Zusammenarbeit, dass deutsche Nichtre-
Tötungen und offensive Aufstandsbekämpfung leisten. gierungsorganisationen Mittel für Projekte nur im Ein-
Das gilt für Afghanistan genauso wie für Pakistan. Die satzgebiet der Bundeswehr beantragen dürfen und sich
Bundesregierung muss sich für Deeskalation und Waf- dem Konzept der Vernetzten Sicherheit unterordnen
fenstillstände einsetzen, um den Krieg unverzüglich zu müssen, sofort ein Ende finden.
beenden.
Die Sicherheitslage in vielen Teilen Afghanistans ist
noch nicht ausreichend stabil. Ohne ein Mindestmaß an
Anlage 5 Sicherheit kann der zivile Aufbau jedoch nicht gelingen.
Ohne substanziellen Schutz können die zivilen Aufbau-
Erklärung nach § 31 GO
helferinnen und -helfer ihre wichtige Arbeit nicht leis-
der Abgeordneten Omid Nouripour, Cornelia ten. Daher ist es derzeit notwendig, dass die ISAF-Trup-
Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn), pen und damit die Bundeswehr in Afghanistan bleiben,
Tom Koenigs, Manuel Sarrazin und Daniela um einen Beitrag zur Stabilisierung zu leisten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9955

(A) Gleichwohl sind wir überzeugt, dass mit einem Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- (C)
schrittweisen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan rung der NATO auf Grundlage der Resolu-
2011 begonnen werden kann. Wir fordern die Bundes- tion 1386 (2001) und folgender Resolutionen,
regierung außerdem auf, einen verantwortbaren Abzug zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheits-
der Bundeswehr in Abstimmung mit der afghanischen rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
Regierung bis 2014 anzustreben. punkt 18)
Trotz unserer Kritik an der unzureichenden und teil- Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
weise fehlgeleiteten Afghanistan-Strategie der Bundesre- wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
gierung stimmen wir dem Mandat zur Verlängerung des Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-
Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum 31. Ja- ben, und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und
nuar 2012 zu. Dies ist eine Gewissensentscheidung. Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem
Mit dem Engagement der internationalen Gemein- Engagement der in Afghanistan eingesetzten zivilen
schaft in Afghanistan haben wir eine Schutzverantwor- Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie
tung für die Menschen dort übernommen. Wir sind ver- ihren Familienangehörigen gilt unsere große Wertschät-
pflichtet, sie nicht alleine zu lassen. zung und unser zutiefst empfundener Dank.

Zustimmung bedeutet für uns auch, weiter Mitverant- Das vorliegende Mandat setzt die im vergangenen
wortung zu übernehmen für den schwierigen, teilweise Jahr begonnene Einsatzstrategie der militärisch offensi-
lebensgefährlichen Einsatz der Soldatinnen und Soldaten ven Aufstandsbekämpfung fort. Unsere Nein-Stimme
sowie der zivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer. richtet sich gegen eine Strategie, die zur Eskalation bei-
Ihnen gilt unsere Unterstützung. trägt und damit den Anspruch der Stabilisierung Afgha-
nistans nicht erfüllt. Unsere Ablehnung des Mandates ist
Ein sofortiger militärischer Abzug würde die erreich- nicht gleichzusetzen mit der Forderung nach einem So-
ten Erfolge zum Großteil zunichtemachen, die Men- fortabzug, den wir ausdrücklich zurückweisen, würde er
schen in Afghanistan in einem neu eskalierenden Bür- doch die Situation in Afghanistan noch weiter destabili-
gerkrieg alleine zurücklassen und die gesamte Region sieren.
destabilisieren. Dies bestätigen beispielsweise der paki-
stanische Journalist Ahmed Rashid, der einen sofortigen Neun Jahre nach Beginn der Operation Enduring
Abzug als „Katastrophe“ bezeichnete, sowie der afgha- Freedom, OEF, und des ISAF-Einsatzes ist die Sicher-
nische Journalist Sonjar Sohail, der in einem Beitrag für heitslage in Afghanistan geprägt von gewaltsamen Aus-
die Heinrich-Böll-Stiftung Kabul vom 23. Januar 2011 einandersetzungen, bei denen ISAF-Truppen und afgha-
eindringlich im Namen der afghanischen Bevölkerung nische Sicherheitskräfte gegen Taliban und andere
(B)
für ein Bleiben der westlichen Truppen plädierte. Eine Aufständische kämpfen. Der Krieg in Afghanistan kostet (D)
Destabilisierung der Region kann bis hin zur Macht- insgesamt immer mehr Menschenleben, sowohl unter
ergreifung islamistischer Regime in Afghanistan und so- der afghanischen Zivilbevölkerung als auch unter den
gar Pakistan führen, was unter dem Aspekt des Atom- Soldatinnen und Soldaten. 2010 war das blutigste Jahr
bombenbesitzes Pakistans eine besondere Gefährdung seit Beginn des Einsatzes.
nicht nur dieser Region bedeuten würde.
Dass die Gewalt in Afghanistan so stark zunimmt,
Ein einseitiger Abzug der Bundeswehr wäre gleich- steht auch in Zusammenhang mit der offensiven Aus-
zeitig der Ausstieg aus einer verantwortlichen multilate- richtung der militärischen Strategie der internationalen
ralen Politik. Das weitere Vorgehen in Afghanistan muss Truppensteller. Mit der von den USA im vergangenen
innerhalb der internationalen Gemeinschaft abgestimmt Jahr initiierten und von der Bundesregierung mitgetrage-
werden. Es gab keinen deutschen Sonderweg beim Be- nen Truppenaufstockung und dem militärischen Strate-
ginn des militärischen Engagements, es darf auch keinen giewechsel zur verstärkten Aufstandsbekämpfung und
deutschen Sonderweg bei dessen Abschluss geben. Ausweitung der gezielten Tötung von Talibankämpfern
nahm die Gewalteskalation dramatisch zu. Nicht nur im
Süden, wo massive Militäroperationen durchgeführt
Anlage 6 werden und die Bedrohungslage am höchsten ist, son-
dern auch im deutschen Einsatzgebiet im Norden wur-
Erklärung nach § 31 GO
den die Bekämpfung von Aufständischen und gezielte
der Abgeordneten Agnes Malczak, Dr. Anton Tötungen vorangetrieben. Die Bundeswehr beteiligt sich
Hofreiter, Sven-Christian Kindler, Maria Anna vor allem im Rahmen von Ausbildungsoperationen an
Klein-Schmeink, Sylvia Kotting-Uhl, Agnes offensiven Kampfeinsätzen. Das Ausbildungskonzept
Krumwiede, Stephan Kühn, Beate Müller- des sogenannten Partnering sieht den gemeinsamen Ein-
Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn satz von deutschen Ausbildern und afghanischen Sicher-
und Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE heitskräften in der Fläche vor, um die Kontrolle in von
GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über Taliban beherrschten Gebieten zu gewinnen. Die ver-
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der stärkte Gewichtung der Ausbildung innerhalb des Man-
Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung dates ist somit nichts anderes als eine verharmlosende
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Umschreibung für die Verfolgung einer Offensivstrate-
Einsatz der Internationalen Sicherheitsunter- gie. Die zunehmenden Kampfeinsätzen zur Rückerobe-
stützungstruppe in Afghanistan (International rung der von Taliban beherrschten Gebiete und steigende
9956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) Anzahl von Anschlägen durch Aufständische trifft ins- die Durchführung des Taliban-Aussteigerprogramms (C)
besondere die Zivilistinnen und Zivilisten. Unsere Ab- ohne jede Kontrolle Karzai überlassen wird, ist höchst
lehnung des Mandates richtet sich vor allem gegen diese fraglich, ob die zur Verfügung gestellten Mittel zweck-
Schwerpunktlegung auf den Einsatz militärischer Ge- mäßig eingesetzt und nicht für machtpolitische Partiku-
walt und die daraus resultierende Eskalation. Durch die larinteressen missbraucht werden. Die Belohnung von
Gesamtausrichtung des Mandates ist das Primat des Talibanführern, die für Menschenrechtsverletzungen und
Schutzes der Zivilbevölkerung nicht mehr gewährleistet. die Tötung zahlreicher unbeteiligter Zivilisten verant-
Die derzeitige militärische Strategie kostet zahlreiche wortlich sind, erzeugt ein gravierendes Gerechtigkeits-
Menschenleben, verursacht furchtbares menschliches problem, das sich negativ auf die Unterstützung derer,
Leid und verspielt damit auch die notwendige Unterstüt- die bisher mit den internationalen Kräften kooperiert ha-
zung der afghanischen Bevölkerung. Eine Umfrage von ben, auswirken kann und somit eine nachhaltige Versöh-
ARD, ABC, BBC und Washington Post vom Dezember nung gefährdet. Da Frieden ganz ohne Gerechtigkeit
2010 ergab, dass sich die Einstellung der afghanischen nicht möglich ist, müssen Menschenrechtsverletzungen
Bevölkerung gegenüber den ISAF-Truppen deutlich ver- mit geeigneten Instrumenten aufgedeckt und aufgearbei-
schlechtert hat und eine breite Mehrheit der Afghanin- tet werden. Das Mandat und die Afghanistanpolitik der
nen und Afghanen inzwischen erstmals eine negative Bundesregierung insgesamt lässt diese mit dem Versöh-
Einstellung gegenüber Deutschland hat. nungsprozess verbundenen zentralen Herausforderungen
völlig außer Acht.
Ziel der Aufstandsbekämpfung und gezielten Tötung
ist es, die Taliban zu schwächen und an den Verhand- Aufgrund koalitionsinterner Rivalitäten zwischen
lungstisch zu bringen. Der vermehrte Einsatz militäri- dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidi-
scher Gewalt hat jedoch nicht zur Schwächung der Tali- gungsminister enthält das Mandat nur vage Aussagen
ban und anderer Aufständischer geführt. Im Gegenteil, zum militärischen Abzug. Das Parlament wird im Un-
er hat die Chancen auf Frieden durch eine politische klaren darüber gelassen, wann und wo mit einem Abzug
Lösung verringert. Für eine solche ist ein regionaler der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen werden soll,
Ansatz, der alle relevanten Akteure in der Region einbe- an welchen Zwischenzielen man sich orientieren will
zieht, zentral. Dabei muss insbesondere die Zusammen- und wie lange deutsche Truppen noch in Afghanistan
arbeit mit dem benachbarten Pakistan im Vordergrund verbleiben werden. Völlig unbeantwortet bleibt die
stehen, denn dort gewinnen die Taliban vermehrt neue Frage, wie gewährleistet werden kann, dass auch für die
Kämpfer und bereiten zahlreiche Angriffe vor. Eine Zeit nach der Übergabe der Verantwortung für die Si-
nachhaltige politische Lösung, die von der Gesamtge- cherheit an die afghanischen Sicherheitskräfte und dem
sellschaft Afghanistans getragen wird, ist jedoch mit der Abzug der Bundeswehr die zivile Hilfe fortgesetzt wird.
(B) aktuellen afghanischen Regierung äußerst schwierig. (D)
Karzais Regierung und das politische System insgesamt Aufgrund der Aufstockung der finanziellen Mittel
stecken in einer tiefen Legitimitätskrise. Aufgrund des sind beim zivilen Aufbau zunehmend Erfolge zu ver-
fehlenden Gewaltmonopols beherrschen Warlords und zeichnen. Doch auch wenn im Vergleich zu den vergan-
Drogenkartelle Teile des Landes und nehmen großen genen Jahren deutlich mehr Geld in den zivilen Aufbau
Einfluss auf die Politik. Bei den Präsidentschafts- und gesteckt wird, führt er im Vergleich zur militärischen
Parlamentswahlen kam es zu zahlreichen Fällen von Komponente ein Schattendasein. Die Konzentration auf
Wahlbetrug. Schließlich verliert die politische Führung militärische Kapazitäten zeigt sich auch an der chroni-
aufgrund ihres Versagens bei der Korruptions- und Dro- schen Vernachlässigung der im politischen Auftrag ste-
genbekämpfung sowie beim Staatsaufbau zunehmend henden UN-Mission UNAMA in Afghanistan, die im
die Unterstützung der Bevölkerung. Doch wir dürfen uns Vergleich zur NATO-Mission völlig unterfinanziert ist.
nichts vormachen: Um die Gewalt in Afghanistan einzu- Bei der Unterstützung des Aufbaus eines funktionieren-
dämmen, ist eine politische Verhandlungslösung mit al- den afghanischen Sicherheitsapparates kommt der Poli-
len relevanten Akteurinnen und Akteuren notwendig. zeiaufbau viel zu kurz. Die Polizeiausbildung müsste
Dabei stehen wir vor dem Dilemma, dass Frieden und viel deutlicher verstärkt werden. Im Bereich der Ent-
Gerechtigkeit in Afghanistan nur schwer miteinander wicklungszusammenarbeit machen der zunehmende
verwirklicht werden können. Dies wird zu Kompromis- Rückzug von Hilfsorganisationen aus Afghanistan auf-
sen zwingen, die in demokratischer und menschenrecht- grund der sich verschlechternden Sicherheitslage sowie
licher Hinsicht kritisch sind. die Schwierigkeiten beim Mittelabfluss außerdem deut-
lich, dass eine Fokussierung auf die Erhöhung der Mittel
Dennoch darf die Unterstützung der afghanischen Re- zu kurz gedacht ist. Es muss vor allem die Wirksamkeit
gierung dabei, eine Verhandlungslösung mit Aufständi- der Mittel sichergestellt werden. Hierzu bedarf es einer
schen zu erzielen, nicht bedingungslos erfolgen. Bisher verstärkten Einbeziehung der afghanischen Bevölke-
wurden Frauen und andere wichtige Bevölkerungsgrup- rung, einer verbesserten Koordination des zivilen Auf-
pen unzureichend oder gar nicht am Versöhnungsprozess baus, der Bekämpfung der massiven Korruption als ei-
beteiligt. Ohne eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung nem der Haupthindernisse für den wirksamen Einsatz
ist jedoch eine Versöhnung nicht möglich. Auch der von der Mittel sowie einer sinnvollen Schwerpunktsetzung.
der internationalen Gemeinschaft bereitgestellte Reinte- Es bedarf auch eines Gesamtkonzepts für die Wirtschaft-
grationsfonds für ehemalige Talibankämpfer, der von der sentwicklung Afghanistans, das an die Bedürfnissen der
Bundesregierung mit insgesamt 50 Millionen Euro mit- afghanischen Bevölkerung und die Gegebenheiten vor
finanziert wird, bedarf einer kritischen Betrachtung. Da Ort angepasst ist. Hierbei müsste der für die afghanische
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9957

(A) Wirtschaft zentrale landwirtschaftliche Sektor besonders zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheits- (C)
berücksichtigt werden. Auch die Modernisierung des rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
afghanischen Bildungssystems und der Ausbau von punkt 18)
Hoch- und Berufsschulen sollten bei den Unterstüt-
zungsleistungen im Vordergrund stehen. Nach einem gründlichen und sehr verantwortungsbe-
wussten Diskussionsprozess hat die SPD im Hinblick
Der Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit in Afgha- auf den Afghanistan-Einsatz einen Strategiewechsel ge-
nistan setzt ebenso wie der Aufbau des Sicherheits- fordert, dessen wesentliche Elemente Teil des Mandats-
sektors funktionierende Regierungs- und Verwaltungs- beschlusses des Deutschen Bundestages vom 26. Fe-
strukturen voraus. Es gibt jedoch im Rahmen des bruar 2010 wurden.
vorliegenden Mandats keine Auskunft über den zur Ver-
besserung bzw. Schaffung solcher Strukturen benötigten Kernforderungen der SPD waren:
deutschen Beitrag. Statt diese Mängel zu beheben, wird – die Mittel für den zivilen Aufbau zu verdoppeln und die
sogar völlig auf eine nähere Beschreibung des zivilen wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans voranzutrei-
Engagements Deutschlands in Afghanistan verzichtet – ben,
die grüne Forderung zur Vorlage eines Gesamtmandates,
das die zivile und militärische Komponente umfasst, – mehr Nachdruck auf eine gute Regierungsführung
wird nicht umgesetzt. und den weiteren Aufbau staatlicher Strukturen zu le-
gen,
Unser Votum richtet sich nicht gegen die in Afghanis-
tan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten, sondern ge- – die Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei
gen die falsche Afghanistan-Politik der Bundesregie- deutlich zu verstärken, eine unabhängige Evaluierung
rung. des Afghanistan-Einsatzes anhand von messbaren
und qualitativen Fortschrittskriterien einzufordern,
Als Mitglieder des Bundestages fühlen wir uns unse-
ren Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien gegen- – den Prozess der innerafghanischen Versöhnung zu un-
über dazu verpflichtet, einen Einsatz, der die Eskalation terstützen und voranzutreiben, die afghanischen An-
fördert und somit die afghanische Zivilbevölkerung rainerstaaten wie Pakistan, Iran, die zentralasiatischen
ebenso wie die deutschen Einsatzkräfte auf unverant- Nachbarn, aber auch China und die Türkei stärker in
wortliche Weise einer größeren Gefahr aussetzt, abzu- eine politische Lösung der afghanischen Konflikte ein-
lehnen. zubinden,
– der schrittweise Abzug des deutschen ISAF-Kontin-
gents, beginnend 2011, und eine Beendigung des mi-
(B) Anlage 7 litärischen Engagements zwischen 2013 und 2015, (D)
Erklärung nach § 31 GO parallel dazu eine schrittweise Übergabe der Sicher-
heitsverantwortung an die afghanischen Streitkräfte.
der Abgeordneten Christoph Strässer, Dirk
Becker, Uwe Beckmeyer, Lothar Binding (Hei- Vor dem Hintergrund der vorgenannten Forderungen
delberg), Gerd Bollmann, Martin Burkert, ist festzustellen, dass im Jahr 2010 nahezu eine Verdopp-
Elvira Drobinski-Weiß, Sebastian Edathy, lung der deutschen Mittel für den zivilen Aufbau Afgha-
Siegmund Ehrmann, Dagmar Freitag, Peter nistans auf 430 Millionen Euro stattgefunden hat. Es
Friedrich, Michael Gerdes, Günter Gloser, sind auch erhebliche quantitative Fortschritte bei der
Ulrike Gottschalck, Angelika Graf (Rosenheim), Ausbildung von afghanischen Soldaten und Polizisten
Klaus Hagemann, Dr. Barbara Hendricks, erfolgt. Allerdings entspricht die Qualität der Ausbil-
Dr. Eva Högl, Christel Humme, Josip Juratovic, dung durch kurze, nur wenige Wochen dauernde Ausbil-
Oliver Kaczmarek, Ulrich Kelber, Dr. Bärbel dungskurse mit einem hohen Anteil von Analphabeten
Kofler, Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, nicht immer den Erfordernissen.
Steffen-Claudio Lemme, Caren Marks, Katja Durch die Berufung des 70-köpfigen „Hohen Frie-
Mast, Petra Merkel (Berlin), Ullrich Meßmer, densrates“ unter Vorsitz des früheren Staatspräsidenten
Dr. Matthias Miersch, Heinz Paula, Florian Burhanuddin Rabbani durch Präsident Hamid Karzai und
Pronold, Dr. Sascha Raabe, Dr. Carola Reimann, die Bildung eines Reintegrationsfonds, in den bisher etwa
Karin Roth (Esslingen), Bernd Scheelen, 160 Millionen US-Dollar eingezahlt wurden – darunter
Marianne Schieder (Schwandorf), Silvia ein deutscher Anteil von 50 Millionen Euro über fünf
Schmidt (Eisleben), Stefan Schwartze, Rita Jahre –, sind erste Schritte im Hinblick auf einen inner-
Schwarzelühr-Sutter, Ute Vogt und Dagmar afghanischen Versöhnungsprozess unternommen worden.
Ziegler (alle SPD) zur namentlichen Abstim- Ob dieser Prozess zu den gewünschten Erfolgen führt, ist
mung über die Beschlussempfehlung zu dem An- gegenwärtig noch nicht abschließend zu beurteilen.
trag der Bundesregierung: Fortsetzung der Be-
teiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an Kaum Fortschritte sind allerdings im Bereich guter
dem Einsatz der Internationalen Sicherheits- Regierungsführung festzustellen. So sind weder nen-
unterstützungstruppe in Afghanistan (Interna- nenswerte Fortschritte im Einsatz gegen Korruption und
tional Security Assistance Force, ISAF) unter den Drogenanbau, noch beim Aufbau der Rechtsstaat-
Führung der NATO auf Grundlage der Resolu- lichkeit und flächendeckend tragfähiger Verwaltungs-
tion 1386 (2001) und folgender Resolutionen, strukturen zu verzeichnen. Auch ist die Einbeziehung
9958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) der afghanischen Nachbarländer in einen notwendigen richtig gewesen. Die Bundesregierung ist dieser Forde- (C)
Friedensprozess nicht gelungen, bzw. sind bislang keine rung nachgekommen, wenn auch nur konditioniert. Noch
nachhaltigen Initiativen der Bundesregierung feststell- weniger Verständnis als für die vorgenommene Kondi-
bar, diesen Prozess zu befördern. Wir erwarten hier ein tionierung haben wir für Aussagen einzelner Mitglieder
stärkeres Engagement der Bundesregierung. der Bundesregierung, namentlich des Bundesverteidi-
gungsministers, der öffentlich den Eindruck erweckt hat,
Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass nur eine ihm sei die Festlegung auf eine Jahreszahl in Bezug auf
unabhängige wissenschaftliche Evaluation des Afghanis- einen Rückzugsbeginn gleichgültig. Daraus spricht unse-
tan-Einsatzes die erforderliche Wirkungsanalyse des An- res Erachtens eine Missachtung des Parlaments, und wir
fang 2010 eingeleiteten Strategiewechsels vornehmen hätten an dieser Stelle eine angemessene Klarstellung
kann, und bedauern, dass die Koalitionsfraktionen im durch die Bundeskanzlerin erwartet.
vergangenen Jahr einen gemeinsamen Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache 17/1964) dazu Trotz dieser Begleitumstände stimmen wir dem vor-
abgelehnt haben. liegenden Mandat zu, um dem auch von uns initiierten
Der von der Bundesregierung im Dezember 2010 vor- Strategiewechsel eine Chance zu geben. Wir erklären
gelegte Fortschrittsbericht Afghanistan beleuchtet neben aber schon jetzt, dass wir eine erneute Zustimmung zu
einigen Erfolgen zwar auch Fehlentwicklungen in einer weiteren Mandatsverlängerung, die voraussichtlich
Afghanistan, leistet aber keine qualitative Analyse der im kommenden Jahr dem Bundestag zur Abstimmung
vor einem Jahr eingeleiteten Maßnahmen. vorgelegt wird, an die Einhaltung der Zusage der Bun-
desregierung knüpfen, „im Zuge der Übergabe der Si-
Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten cherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab
haben bei ihrem Gipfeltreffen in Lissabon am 19. und Ende 2011 (zu) reduzieren … und dabei jeden sicher-
20. November eine schrittweise Übergabe der Sicher- heitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühest-
heitsverantwortung an die afghanischen Behörden bis mögliche Reduzierung (zu) nutzen …“, Antrag der Bun-
zum Jahr 2014 beschlossen. Mit diesem Prozess soll be- desregierung (Drucksache 17/4402).
reits in den kommenden Wochen und Monaten begonnen
werden.
Vor diesem Hintergrund ist es aus unserer Sicht gera- Anlage 8
dezu folgerichtig, auch im Laufe dieses Jahres bereits
mit dem Rückzug der Bundeswehr zu beginnen. Eine Erklärung nach § 31 GO
Übergabe der Sicherheitsverantwortung ohne einen Teil- des Abgeordneten Michael Hartmann (Wa-
(B) rückzug der internationalen Kräfte wäre ein Etiketten- ckernheim) (SPD) zur namentlichen Abstim- (D)
schwindel. Ein Verschieben des Abzugsbeginns würde mung über die Beschlussempfehlung zu dem
auch den notwendigen Druck auf die afghanische Regie- Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der
rung lockern, schrittweise die Sicherheitsverantwortung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
in Afghanistan zu übernehmen, und damit einen verant- an dem Einsatz der Internationalen Sicherheits-
wortungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen. unterstützungstruppe in Afghanistan (Interna-
Die USA werden nach allen vorliegenden Informatio- tional Security Assistance Force, ISAF) unter
nen bereits im Juli mit dem Rückzug ihres im vergan- Führung der NATO auf Grundlage der Resolu-
genen Jahr vorgenommen Aufwuchses in Höhe von tion 1386 (2001) und folgender Resolution,
30 000 Soldaten beginnen. Dieser Prozess wird sich über zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheits-
mehrere Monate hinziehen. rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-
punkt 18)
Insofern ist die von der SPD erhobene Forderung, den
Beginn des Rückzugs der Bundeswehr im Jahr 2011 im Mein Name ist in der Abstimmungsliste nicht aufge-
vorliegenden Mandat schriftlich zu fixieren, nur folge- führt. Mein Votum lautet Ja.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9959

(A) Anlage 9 (C)


Verzeichnis
der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik teilgenommen haben
(Tagesordnungspunkt 19)

CDU/CSU Ute Granold Dr. Karl A. Lamers Anita Schäfer (Saalstadt)


Reinhard Grindel (Heidelberg) Dr. Wolfgang Schäuble
Ilse Aigner
Hermann Gröhe Andreas G. Lämmel Dr. Annette Schavan
Peter Altmaier
Michael Grosse-Brömer Dr. Norbert Lammert Dr. Andreas Scheuer
Peter Aumer
Markus Grübel Katharina Landgraf Karl Schiewerling
Dorothee Bär Norbert Schindler
Manfred Grund Ulrich Lange
Thomas Bareiß Tankred Schipanski
Monika Grütters Dr. Max Lehmer
Norbert Barthle Paul Lehrieder Georg Schirmbeck
Dr. Karl-Theodor Freiherr
Günter Baumann zu Guttenberg Dr. Ursula von der Leyen Christian Schmidt (Fürth)
Ernst-Reinhard Beck Olav Gutting Ingbert Liebing Patrick Schnieder
(Reutlingen) Florian Hahn Matthias Lietz Dr. Andreas Schockenhoff
Manfred Behrens (Börde) Dr. Stephan Harbarth Patricia Lips Nadine Schön (St. Wendel)
Veronika Bellmann Jürgen Hardt Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Ole Schröder
Dr. Christoph Bergner Gerda Hasselfeldt Daniela Ludwig Dr. Kristina Schröder
Peter Beyer Dr. Matthias Heider Dr. Michael Luther (Wiesbaden)
Steffen Bilger Mechthild Heil Karin Maag Bernhard Schulte-Drüggelte
Clemens Binninger Ursula Heinen-Esser Dr. Thomas de Maizière Uwe Schummer
Peter Bleser Frank Heinrich Andreas Mattfeldt Armin Schuster (Weil am
Dr. Maria Böhmer Rudolf Henke Stephan Mayer (Altötting) Rhein)
Wolfgang Börnsen Michael Hennrich Dr. Michael Meister Detlef Seif
(Bönstrup) Jürgen Herrmann Dr. Angela Merkel Johannes Selle
Norbert Brackmann Ansgar Heveling Maria Michalk Reinhold Sendker
Klaus Brähmig Ernst Hinsken Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Patrick Sensburg
Michael Brand Christian Hirte Philipp Mißfelder Bernd Siebert
(B) Dr. Reinhard Brandl Robert Hochbaum Dietrich Monstadt Thomas Silberhorn (D)
Helmut Brandt Karl Holmeier Marlene Mortler Johannes Singhammer
Dr. Ralf Brauksiepe Franz-Josef Holzenkamp Dr. Gerd Müller Jens Spahn
Dr. Helge Braun Thomas Jarzombek Stefan Müller (Erlangen) Carola Stauche
Heike Brehmer Dr. Dieter Jasper Dr. Philipp Murmann Dr. Frank Steffel
Ralph Brinkhaus Dr. Franz Josef Jung Bernd Neumann (Bremen) Erika Steinbach
Leo Dautzenberg Andreas Jung (Konstanz) Michaela Noll Christian Freiherr von Stetten
Alexander Dobrindt Dr. Egon Jüttner Dr. Georg Nüßlein Dieter Stier
Thomas Dörflinger Bartholomäus Kalb Franz Obermeier Stephan Stracke
Marie-Luise Dött Hans-Werner Kammer Eduard Oswald Max Straubinger
Dr. Thomas Feist Steffen Kampeter Henning Otte Karin Strenz
Enak Ferlemann Alois Karl Dr. Michael Paul Thomas Strobl (Heilbronn)
Ingrid Fischbach Bernhard Kaster Rita Pawelski Lena Strothmann
Hartwig Fischer (Göttingen) Volker Kauder Ulrich Petzold Michael Stübgen
Dirk Fischer (Hamburg) Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Peter Tauber
Dr. Maria Flachsbarth Schwenningen) Sibylle Pfeiffer Antje Tillmann
Klaus-Peter Flosbach Dr. Stefan Kaufmann Beatrix Philipp Dr. Hans-Peter Uhl
Herbert Frankenhauser Roderich Kiesewetter Ronald Pofalla Arnold Vaatz
Dr. Hans-Peter Friedrich Ewa Klamt Christoph Poland Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(Hof) Eckart von Klaeden Ruprecht Polenz Stefanie Vogelsang
Michael Frieser Volkmar Klein Eckhard Pols Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Michael Fuchs Axel Knoerig Thomas Rachel Dr. Johann Wadephul
Hans-Joachim Fuchtel Jens Koeppen Dr. Peter Ramsauer Marco Wanderwitz
Alexander Funk Manfred Kolbe Eckhardt Rehberg Kai Wegner
Ingo Gädechens Dr. Rolf Koschorrek Katherina Reiche (Potsdam) Marcus Weinberg (Hamburg)
Dr. Peter Gauweiler Hartmut Koschyk Lothar Riebsamen Peter Weiß (Emmendingen)
Dr. Thomas Gebhart Thomas Kossendey Josef Rief Sabine Weiss (Wesel I)
Norbert Geis Michael Kretschmer Klaus Riegert Ingo Wellenreuther
Alois Gerig Gunther Krichbaum Dr. Heinz Riesenhuber Karl-Georg Wellmann
Eberhard Gienger Dr. Günter Krings Johannes Röring Peter Wichtel
Michael Glos Rüdiger Kruse Dr. Norbert Röttgen Annette Widmann-Mauz
Josef Göppel Bettina Kudla Dr. Christian Ruck Klaus-Peter Willsch
Peter Götz Dr. Hermann Kues Erwin Rüddel Elisabeth Winkelmeier-
Dr. Wolfgang Götzer Günter Lach Albert Rupprecht (Weiden) Becker
9960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011

(A) Dagmar Wöhrl Dr. Bärbel Kofler Andrea Wicklein Burkhardt Müller-Sönksen (C)
Dr. Matthias Zimmer Daniela Kolbe (Leipzig) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Martin Neumann
Wolfgang Zöller Fritz Rudolf Körper Dr. Dieter Wiefelspütz (Lausitz)
Willi Zylajew Anette Kramme Waltraud Wolff Dirk Niebel
Nicolette Kressl (Wolmirstedt) Hans-Joachim Otto
SPD Angelika Krüger-Leißner Uta Zapf (Frankfurt)
Ute Kumpf Dagmar Ziegler Cornelia Pieper
Ingrid Arndt-Brauer
Christine Lambrecht Manfred Zöllmer Dr. Christiane Ratjen-
Rainer Arnold
Christian Lange (Backnang) Brigitte Zypries Damerau
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Karl Lauterbach Dr. Birgit Reinemund
Dr. Hans-Peter Bartels
Steffen-Claudio Lemme FDP Dr. Peter Röhlinger
Klaus Barthel
Burkhard Lischka Dr. Stefan Ruppert
Bärbel Bas Jens Ackermann
Gabriele Lösekrug-Möller Björn Sänger
Dirk Becker Christian Ahrendt
Kirsten Lühmann Frank Schäffler
Uwe Beckmeyer Christine Aschenberg-
Caren Marks Christoph Schnurr
Lothar Binding (Heidelberg) Dugnus
Katja Mast Jimmy Schulz
Gerd Bollmann Daniel Bahr (Münster)
Hilde Mattheis Marina Schuster
Klaus Brandner Florian Bernschneider
Petra Merkel (Berlin) Dr. Erik Schweickert
Willi Brase Sebastian Blumenthal
Ullrich Meßmer Werner Simmling
Bernhard Brinkmann Claudia Bögel
Dr. Matthias Miersch Judith Skudelny
(Hildesheim) Nicole Bracht-Bendt
Franz Müntefering Dr. Hermann Otto Solms
Edelgard Bulmahn Klaus Breil
Dr. Rolf Mützenich Joachim Spatz
Martin Burkert Angelika Brunkhorst
Dietmar Nietan Dr. Max Stadler
Petra Crone Ernst Burgbacher
Thomas Oppermann Torsten Heiko Staffeldt
Dr. Peter Danckert Marco Buschmann
Holger Ortel Dr. Rainer Stinner
Martin Dörmann Sylvia Canel
Aydan Özoğuz Stephan Thomae
Elvira Drobinski-Weiß Helga Daub
Heinz Paula Florian Toncar
Garrelt Duin Reiner Deutschmann
Johannes Pflug Serkan Tören
Sebastian Edathy Dr. Bijan Djir-Sarai
Joachim Poß Johannes Vogel
Siegmund Ehrmann Patrick Döring
Dr. Wilhelm Priesmeier (Lüdenscheid)
Dr. h. c. Gernot Erler Mechthild Dyckmans
Florian Pronold Dr. Daniel Volk
Petra Ernstberger Rainer Erdel
Dr. Sascha Raabe Dr. Guido Westerwelle
Karin Evers-Meyer Jörg van Essen
Mechthild Rawert Dr. Claudia Winterstein
Elke Ferner Ulrike Flach
Gerold Reichenbach Dr. Volker Wissing
Gabriele Fograscher Otto Fricke
Dr. Carola Reimann Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(B) Dr. Edgar Franke Dr. Edmund Peter Geisen (D)
Dagmar Freitag Sönke Rix Dr. Wolfgang Gerhardt
René Röspel DIE LINKE
Peter Friedrich Hans-Michael Goldmann
Sigmar Gabriel Dr. Ernst Dieter Rossmann Heinz Golombeck Jan van Aken
Michael Gerdes Karin Roth (Esslingen) Miriam Gruß Agnes Alpers
Martin Gerster Michael Roth (Heringen) Joachim Günther (Plauen) Dr. Dietmar Bartsch
Günter Gloser Marlene Rupprecht Dr. Christel Happach-Kasan Herbert Behrens
Ulrike Gottschalck (Tuchenbach) Heinz-Peter Haustein Karin Binder
Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen Manuel Höferlin Matthias W. Birkwald
Kerstin Griese Marianne Schieder Elke Hoff Heidrun Bluhm
Michael Groschek (Schwandorf) Birgit Homburger Steffen Bockhahn
Michael Groß Werner Schieder (Weiden) Dr. Werner Hoyer Christine Buchholz
Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen) Heiner Kamp Eva Bulling-Schröter
Hans-Joachim Hacker Silvia Schmidt (Eisleben) Michael Kauch Dr. Martina Bunge
Bettina Hagedorn Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Lutz Knopek Roland Claus
Klaus Hagemann Ottmar Schreiner Pascal Kober Sevim Dağdelen
Michael Hartmann Swen Schulz (Spandau) Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Diether Dehm
(Wackernheim) Ewald Schurer Gudrun Kopp Heidrun Dittrich
Hubertus Heil (Peine) Frank Schwabe Sebastian Körber Werner Dreibus
Rolf Hempelmann Dr. Martin Schwanholz Holger Krestel Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Barbara Hendricks Stefan Schwartze Patrick Kurth (Kyffhäuser) Klaus Ernst
Gustav Herzog Rita Schwarzelühr-Sutter Heinz Lanfermann Wolfgang Gehrcke
Gabriele Hiller-Ohm Dr. Carsten Sieling Sibylle Laurischk Nicole Gohlke
Petra Hinz (Essen) Sonja Steffen Harald Leibrecht Diana Golze
Frank Hofmann (Volkach) Peer Steinbrück Sabine Leutheusser- Annette Groth
Dr. Eva Högl Dr. Frank-Walter Steinmeier Schnarrenberger Dr. Gregor Gysi
Christel Humme Christoph Strässer Christian Lindner Heike Hänsel
Josip Juratovic Kerstin Tack Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Rosemarie Hein
Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Erwin Lotter Dr. Barbara Höll
Johannes Kahrs Franz Thönnes Horst Meierhofer Andrej Hunko
Dr. h. c. Susanne Kastner Wolfgang Tiefensee Patrick Meinhardt Ulla Jelpke
Ulrich Kelber Rüdiger Veit Gabriele Molitor Dr. Lukrezia Jochimsen
Lars Klingbeil Ute Vogt Jan Mücke Katja Kipping
Hans-Ulrich Klose Dr. Marlies Volkmer Petra Müller (Aachen) Harald Koch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2011 9961

(A) Jan Korte Sabine Stüber Kai Gehring Jerzy Montag (C)
Jutta Krellmann Alexander Süßmair Britta Haßelmann Kerstin Müller (Köln)
Katrin Kunert Dr. Kirsten Tackmann Bettina Herlitzius Beate Müller-Gemmeke
Caren Lay Frank Tempel Winfried Hermann Ingrid Nestle
Sabine Leidig Dr. Axel Troost Priska Hinz (Herborn) Dr. Konstantin von Notz
Ralph Lenkert Alexander Ulrich Ulrike Höfken Omid Nouripour
Michael Leutert Kathrin Vogler Dr. Anton Hofreiter Friedrich Ostendorff
Stefan Liebich Johanna Voß Bärbel Höhn Lisa Paus
Ulla Lötzer Sahra Wagenknecht Ingrid Hönlinger Brigitte Pothmer
Dr. Gesine Lötzsch Halina Wawzyniak Thilo Hoppe Tabea Rößner
Thomas Lutze Harald Weinberg Uwe Kekeritz Claudia Roth (Augsburg)
Ulrich Maurer Jörn Wunderlich Katja Keul Krista Sager
Dorothee Menzner Memet Kilic Manuel Sarrazin
Kornelia Möller BÜNDNIS 90/ Sven-Christian Kindler Elisabeth Scharfenberg
Niema Movassat DIE GRÜNEN Maria Anna Klein-Schmeink Christine Scheel
Wolfgang Nešković Ute Koczy Dr. Gerhard Schick
Petra Pau Kerstin Andreae Tom Koenigs Dr. Frithjof Schmidt
Jens Petermann Marieluise Beck (Bremen) Sylvia Kotting-Uhl Dorothea Steiner
Richard Pitterle Volker Beck (Köln) Oliver Krischer Dr. Wolfgang Strengmann-
Yvonne Ploetz Cornelia Behm Agnes Krumwiede Kuhn
Paul Schäfer (Köln) Birgitt Bender Fritz Kuhn Hans-Christian Ströbele
Michael Schlecht Alexander Bonde Stephan Kühn Dr. Harald Terpe
Dr. Ilja Seifert Viola von Cramon-Taubadel Renate Künast Jürgen Trittin
Kathrin Senger-Schäfer Ekin Deligöz Markus Kurth Daniela Wagner
Raju Sharma Katja Dörner Undine Kurth (Quedlinburg) Wolfgang Wieland
Dr. Petra Sitte Hans-Josef Fell Monika Lazar Dr. Valerie Wilms
Kersten Steinke Dr. Thomas Gambke Agnes Malczak Josef Philip Winkler

(B) (D)
Anlage 10
Amtliche Mitteilung
Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mitge-
teilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions-
dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera-
tung abgesehen hat.

Auswärtiger Ausschuss
Drucksache 17/3608 Nr. A.1
Ratsdokument 13615/10
Drucksache 17/3608 Nr. A.2
Ratsdokument 14193/10
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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