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Plenarprotokoll 17/83

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

83. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/


neten Mechthild Dyckmans, Ulrike Flach DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9284 C
und Holger Ortel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9263 A
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 9285 D
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 9263 B
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9287 A
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9288 C
Zusatztagesordnungspunkt 1:
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . 9289 A
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz: Verbraucher Tagesordnungspunkt 1:
konsequent schützen – Höchstmaß an Si-
cherheit für Lebensmittel gewährleisten . . 9263 B Befragung der Bundesregierung: Migrations-
bericht 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9291 A
Ilse Aigner, Bundesministerin
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9263 D Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9291 B
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 9267 A
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 9268 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9292 B
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 9270 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9292 C
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9271 C
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 9292 D
Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 9273 B
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 9273 C
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9293 A
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9293 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9274 A
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 9275 C
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9293 D
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . 9276 C
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
Margit Conrad, Staatsministerin DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9294 C
(Rheinland-Pfalz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9278 A
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 9279 C BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9294 D
Margit Conrad, Staatsministerin Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9295 B
(Rheinland-Pfalz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9280 A
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 9280 C BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9295 C
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 9283 B Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9296 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister Zusatzfragen


BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9296 C Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9302 A
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9302 C
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9297A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9302 D
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9297 B Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9303 A

Tagesordnungspunkt 2:
Dringliche Frage 4
Fragestunde Kornelia Möller (DIE LINKE)
(Drucksachen 17/4406, 17/4421) . . . . . . . . . . 9298 A
Einstufung eines Vorfalls durch den Betrei-
ber als ungefährlich trotz Kategorisierung
Dringliche Frage 1 als möglicher Störfall der Stufe 3 durch
Dorothee Menzner (DIE LINKE) Experten in der Abteilung für Reaktor-
sicherheit des BMU
Sicherheitsrelevanz eines möglichen Risses
einer Hauptkühlleitung innerhalb des Re- Antwort
aktors im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9303 C
Antwort
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Zusatzfragen
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9298 A Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 9303 C
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Zusatzfragen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9304 A
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9298 B Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9304 C
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9299 A
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 1
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9299 C René Röspel (SPD)
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9299 D
Forschungsansätze betreffend Hilfsange-
bote für chronisch Kranke im Gesund-
Dringliche Frage 2 heitsforschungsprogramm
Dorothee Menzner (DIE LINKE) Antwort
Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zur Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Prüfung des neuesten Vorfalls im Atom- BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9305 A
kraftwerk Grafenrheinfeld Zusatzfragen
Antwort René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9305 B
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9300 A
Mündliche Frage 2
Zusatzfragen René Röspel (SPD)
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9300 B
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Defizite bei strukturellen Voraussetzungen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9300 D für die klinische Forschung
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Antwort
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9301 B Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9306 A
Dringliche Frage 3 Zusatzfragen
Kornelia Möller (DIE LINKE) René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9306 B
Beweggründe der Experten in der Abtei-
lung für Reaktorsicherheit des Bundes- Mündliche Frage 5
ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD)
Reaktorsicherheit für das Nichterheben
der Forderung nach einer sofortigen Ab- Auswirkungen der Haushaltskürzungen
schaltung des Reaktors Grafenrheinfeld auf die Begabtenförderwerke
Antwort Antwort
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9301 C BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9306 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 III

Mündliche Frage 6 Zusatzfragen


Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9309 C
Erhöhung der Zahl der durch das Bologna-
Mobilitätspaket geförderten Studenten Mündliche Frage 11
Antwort Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD)
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär Kürzungen der Semesterstipendien sowie
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9307 A
der Stipendien für Abschlussarbeiten,
Zusatzfragen Praktika, Fachkurse, Sprachkurse und
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9307 B Studienreisen des Deutschen Akademi-
schen Austauschdienstes (DAAD)
Mündliche Frage 7 Antwort
Swen Schulz (Spandau) (SPD) Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9309 D
Teilnahme möglichst vieler Hochschulen
am dialogorientierten Serviceverfahren bei Zusatzfragen
der Hochschulzulassung Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 9310 A
Antwort Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9310 C
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9307 C
Mündliche Frage 12
Zusatzfragen Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD)
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 9307 D
Kompensation des Rückgangs in der inter-
nationalen Mobilität der Studierenden auf-
Mündliche Frage 8 grund der verringerten Fördertätigkeit des
Swen Schulz (Spandau) (SPD) DAAD
Vorlage der Ergebnisse der Studienplatz- Antwort
börse für das Wintersemester 2010/11 Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9310 D
Antwort
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär Zusatzfragen
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9308 B Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 9310 D
Zusatzfrage Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9311 A
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 9308 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9311 B

Mündliche Frage 9 Mündliche Frage 13


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Willi Brase (SPD)
Forderung nach einem weiteren Ausbau Finanzierung der angekündigten Bürger-
des Angebots an Ganztagsschulen zur bes- dialoge des Bundesministeriums für Bil-
seren individuellen Förderung der Kinder dung und Forschung
und Jugendlichen sowie besseren Verein- Antwort
barkeit von Familie und Beruf Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Antwort BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9311 D
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzfragen
9308 C
Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9311 D
Zusatzfragen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9312 C
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 9308 D

Mündliche Frage 14
Mündliche Frage 10 Willi Brase (SPD)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD)
Auswirkungen der angekündigten Bürger-
Forderungen nach Ausbau der Jugend- dialoge auf Fördertätigkeit oder Prioritä-
und Schulsozialarbeit zur besseren Ver- tensetzung in der Arbeit des BMBF
wirklichung des Rechts auf Bildungsteil-
habe und soziokulturelle Teilhabe bedürfti- Antwort
ger Kinder Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9313 A
Antwort
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär Zusatzfragen
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9309 B Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9313 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Mündliche Frage 15 Mündliche Frage 22


Dr. Barbara Hendricks (SPD) Jan Korte (DIE LINKE)
Instrumente und Verfahren der Bundesre- Gründe für die Verhinderung der vollstän-
gierung zur Sicherstellung einer korrup- digen Veröffentlichung der BND-Akte über
tionsfreien Entwicklungszusammenarbeit Adolf Eichmann
in den Partnerländern Antwort
Antwort Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9318 C
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9313 C Zusatzfragen
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9319 A
Zusatzfragen
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . 9319 B
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9313 D
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9314 D
Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 9315 A
Zusatztagesordnungspunkt 3:
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9315 B
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE gemäß Anlage 5 Nummer 1
Mündliche Frage 18 Buchstabe b GO-BT: zu den Antworten der
Karin Roth (Esslingen) (SPD) Bundesregierung auf die Fragen 21 und 22
auf Drucksache 17/4406
Abfluss der Mittel für den zivilen Aufbau
im Norden Afghanistans Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9319 D
Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 9320 D
Antwort
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . 9321 C
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9315 C Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9322 C
Zusatzfragen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 9316 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9323 C
Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 9324 B
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 9325 C
Mündliche Fragen 19 und 20
Dr. Sascha Raabe (SPD) Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 9326 B

Unterstützung von verfolgten Christen im


Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9326 D
Wege der Entwicklungszusammenarbeit;
Auswirkungen einer etwaigen Einstellung
der Entwicklungszusammenheit in Län- Anlage 1
dern mit eingeschränkter Religionsfreiheit
für Christen Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9327 A

Antwort
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin Anlage 2
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9317 A Mündliche Frage 3
Michael Gerdes (SPD)
Zusatzfrage
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9317 B Zukünftige Vermeidung von Planungsfeh-
lern wie beim sogenannten Wissenschaftszug
Antwort
Mündliche Frage 21 Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Jan Korte (DIE LINKE) BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9327 C
Politische Verantwortung für die fehlende
oder verspätete Weitergabe von Informa- Anlage 3
tionen über den Aufenthaltsort des NS-
Verbrechers Adolf Eichmann in den Mündliche Frage 4
1950er-Jahren Michael Gerdes (SPD)
Steigerung des Anteils deutscher Auftrag-
Antwort nehmer beim Bau des Kernfusionsreak-
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin tors ITER
BK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9318 A
Antwort
Zusatzfragen Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9318 B BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9327 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 V

Anlage 4 Anlage 9
Mündliche Frage 16 Mündliche Fragen 26 und 27
Dr. Bärbel Kofler (SPD) Dr. Rolf Mützenich (SPD)
Überprüfung eines positiven Entwick- Frühestmögliche Reduzierung des deut-
lungseffektes von öffentlichen Krediten der schen ISAF-Kontingents in Afghanistan
Europäischen Investitionsbank auf die Pri-
vatwirtschaft der Entwicklungsländer Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
Antwort AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9329 D
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9328 B
Anlage 10
Mündliche Fragen 28 und 29
Anlage 5 Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 17 DIE GRÜNEN)
Dr. Bärbel Kofler (SPD) Strategie zum Friedensaufbau im Süd-
Strategie bei der Entwicklungskooperation sudan und weitere Zusammenarbeit mit
mit afrikanischen Ländern hinsichtlich des der sudanesischen Regierung in Khartum
Wirtschaftswachstums Antwort
Antwort Cornelia Pieper, Staatsministerin
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9330 A
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9328 C
Anlage 11
Anlage 6 Mündliche Frage 30
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 23 DIE GRÜNEN)
Niema Movassat (DIE LINKE)
Verwendung von Finanzmitteln des Kämp-
Überprüfung der Abkommen mit der tune-
ferdemobilisierungsprogramms im Süd-
sischen und algerischen Regierung über
sudan für Verwaltungs- und Personalkos-
europäische Finanzhilfen und Wirt-
ten der UN-Entwicklungsagentur UNDP
schaftskooperation aufgrund des Verstoßes
gegen Menschenrechte Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
Antwort
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9331 A
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9329 A
Anlage 12
Anlage 7 Mündliche Frage 31
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 24 DIE GRÜNEN)
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Zypern-Konflikt und Zypern-Reise der
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Aussetzen des Assoziationsabkommens der
EU mit Tunesien Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
Antwort AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9331 C
Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9329 B
Anlage 13
Mündliche Fragen 32 und 33
Anlage 8 Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 25 DIE GRÜNEN)
Inge Höger (DIE LINKE) Unterstützung der infolge der Demonstra-
Partnerschaft mit Tunesien bei der Terro- tionen gegen die Fälschung der Präsiden-
rismusbekämpfung vor dem Hintergrund tenwahl in Belarus inhaftierten politischen
der aktuellen Polizeigewalt Gefangenen
Antwort Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin Cornelia Pieper, Staatsministerin
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9329 C AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9331 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Anlage 14 Ägypten bedrohter Minderheiten in


Deutschland
Mündliche Frage 34
Dr. Barbara Hendricks (SPD) Antwort
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
Korruptionsbekämpfung auf der Ebene in- BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9334 B
ternationaler Organisationen
Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin Anlage 19
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9332 C Mündliche Frage 39
Andrej Hunko (DIE LINKE)
Anlage 15 Tod einer Roma nach Abschiebung in das
Kosovo
Mündliche Frage 35
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ Antwort
DIE GRÜNEN) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9334 C
Etwaiges Vertragsverletzungsverfahren ge-
gen Ungarn wegen des am 1. Januar 2011
in Kraft getretenen Mediengesetzes Anlage 20
Antwort Mündliche Frage 40
Cornelia Pieper, Staatsministerin Andrej Hunko (DIE LINKE)
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9333 B
Schutz politischer Aktivisten vor Strafver-
folgung aufgrund falscher Anschuldigun-
Anlage 16 gen oder durch illegale Handlungen von
M. K.
Mündliche Frage 36
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ Antwort
DIE GRÜNEN) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9334 D
Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen
China
Antwort Anlage 21
Cornelia Pieper, Staatsministerin Mündliche Frage 41
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9333 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Anlage 17 Rechtfertigung der Praxis deutscher Mili-


tär- oder Sicherheitsbehörden einer Benen-
Mündliche Frage 37 nung angeblich Aufständischer für
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Maßnahmenlisten der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
Haltung der Bundesregierung zum Vorge-
nistan
hen der US-Justizbehörden gegen die als
„Miami Five“ bekannt gewordenen kuba- Antwort
nischen Gefangenen in den USA vor dem Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär
Hintergrund einer neuerlichen Kritik von BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9335 A
Amnesty International hinsichtlich der Ge-
währleistung eines fairen Verfahrens
Antwort Anlage 22
Cornelia Pieper, Staatsministerin Mündliche Fragen 42 und 43
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9334 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)

Anlage 18 Unversteuerte Kapitalanlagen deutscher


Steuerpflichtiger in der Schweiz; anonymi-
Mündliche Frage 38 sierende Wirkung von Versicherungs-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ schutzmänteln
DIE GRÜNEN)
Antwort
Schutz koptischer Christen; Aufnahme von Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
Angehörigen christlicher und anderer in BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9335 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 VII

Anlage 23 cherung; Arbeitsmarktsituation für Men-


schen mit Behinderung
Mündliche Frage 44
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Antwort
DIE GRÜNEN) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9337 C
Ankauf von Staatsanleihen krisenanfälliger
Staaten nach Änderung der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität
Anlage 28
Antwort
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär Mündliche Frage 50
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9336 B Niema Movassat (DIE LINKE)
Nationale und internationale Maßnahmen
zur Verhinderung weiterer Erhöhungen
Anlage 24 bei Nahrungsmittelpreisen
Mündliche Frage 45
Antwort
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
DIE GRÜNEN)
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9338 A
Arbeitsplätze in nach der Wende nicht pri-
vatisierten Braunkohletagebauen und
Braunkohleveredelungsanlagen in den Anlage 29
neuen Bundesländern
Mündliche Frage 51
Antwort Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN)
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9336 D
In den Handel gelangte dioxinbelastete Le-
bensmittel
Anlage 25 Antwort
Mündliche Frage 46 Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9338 B
DIE GRÜNEN)
Rechtsgutachten der Europäischen Kom- Anlage 30
mission zu unkonventionellen Erdgasboh-
rungen Mündliche Fragen 52 und 53
Alexander Süßmair (DIE LINKE)
Antwort
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Probenstrategie in den Bundesländern bei
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9337 A den Betriebsuntersuchungen im Zusam-
menhang mit dem Dioxinskandal; Berück-
sichtigung von Risikogruppen bei der Ge-
Anlage 26 fährdungsbewertung
Mündliche Frage 47 Antwort
Inge Höger (DIE LINKE) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
Etwaige Überprüfung deutscher Ausstat- BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9338 C
tungshilfen für Polizei und Militär in Tune-
sien vor dem Hintergrund der aktuellen
Polizeigewalt Anlage 31
Antwort Mündliche Frage 54
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9337 B DIE GRÜNEN)
Aufgrund von Dioxinfunden in Futtermit-
teln gesperrte Landwirtschaftsbetriebe so-
Anlage 27
wie Anzahl der Proben mit Grenzwert-
Mündliche Fragen 48 und 49 überschreitungen
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
Antwort
Umstrukturierung der Integrationsfach- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
dienste für den Fachbereich Berufliche Si- BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9338 D
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Anlage 32 Anlage 37
Mündliche Frage 55 Mündliche Frage 62
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE)
Herkunft der bei der Operation Atalanta Konfliktlösungsverfahren zur Weiterent-
zur Bekämpfung der Piraterie sicherge- wicklung der Pflegetransparenzvereinba-
stellten Waffen rungen
Antwort Antwort
Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9339 B BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9341 C

Anlage 33 Anlage 38

Mündliche Frage 56 Mündliche Fragen 63 und 64


Heidrun Dittrich (DIE LINKE) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ergebnisse des runden Tisches Heimerzie-
Investitionsbedarf für Straßenbauprojekte
hung und Verfahren zur Erlangung einer
des Bundesverkehrswegeplans 2003 in
Entschädigung
Bayern
Antwort Antwort
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9339 C BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9341 D

Anlage 34 Anlage 39
Mündliche Fragen 57 und 58 Mündliche Frage 65
Caren Marks (SPD) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Einsatz und Qualifikation von Familien- DIE GRÜNEN)
hebammen Berücksichtigung des Vogelschutzes bei der
Antwort Festlegung der Flugrouten am zukünftigen
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Flughafen Berlin Brandenburg Internatio-
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9339 D nal
Antwort
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
Anlage 35 BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9342 A
Mündliche Frage 59
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Anlage 40
Auswirkungen der UN-Behindertenrechts- Mündliche Fragen 66 und 67
konvention auf § 35 a SGB VIII Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Antwort DIE GRÜNEN)
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Atomrechtliches Verfahren für die Probe-
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9340 C öffnung von Einlagerungskammern des
Atommülllagers Asse II sowie Umsetzung
des Notfallplans
Anlage 36
Antwort
Mündliche Fragen 60 und 61 Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
Dr. Marlies Volkmer (SPD) BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9342 B
Initiativen des Beauftragten der Bundesre-
gierung für die Belange der Patientinnen
Anlage 41
und Patienten für eine unabhängige Ver-
braucher- und Patientenberatung als Re- Mündliche Fragen 68 und 69
gelversorgung Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Antwort
Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär Priorität der Präventionsmaßnahmen zur
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9341 A Verhinderung des Laugeneintritts im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 IX

Atommülllager Asse II; Beschleunigung Antwort


des stockenden Genehmigungsverfahrens Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
zum Anbohren der ersten Kammer BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9343 C
Antwort
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
Anlage 43
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9343 A
Mündliche Frage 72
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Anlage 42 DIE GRÜNEN)
Mündliche Fragen 70 und 71 Sicherstellung der Nutzung von Teilflächen
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ für erneuerbare Energien bei der Übertra-
DIE GRÜNEN) gung des Geländes der ehemaligen Heeres-
versuchsstelle Kummersdorf in das Natio-
Erreichung der Erneuerbare-Energien- nale Naturerbe
Ziele auf Grundlage der EU-Richtlinie und
nationaler Aktionsprogramme sowie Antwort
Schaffung eines einheitlichen europäi- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
schen Fördersystems BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9344 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9263

(A) (C)

Redetext

83. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Beginn: 12.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Bevor Sie, Frau Ministerin, mit Ihrer Regierungs-
Die Sitzung ist eröffnet. erklärung anfangen, brauchen wir auch noch die übliche
Vereinbarung über die Gesamtdebattenzeit: Vorgeschla-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle gen wird, im Anschluss an die Regierungserklärung eine
herzlich zur ersten Plenarsitzung des Bundestages nach Debattenzeit von 90 Minuten vorzusehen. Gibt es dazu
der Weihnachtspause und dem Jahreswechsel. Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das
so vereinbart.
In den sitzungsfreien Wochen haben die Kolleginnen
Mechthild Dyckmans und Ulrike Flach sowie der Kol- Ich erteile nun der Bundesministerin das Wort zu ihrer
lege Holger Ortel ihre 60. Geburtstage gefeiert. Dazu Regierungserklärung.
möchte ich im Namen des gesamten Hauses auch auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diesem Wege noch einmal herzlich gratulieren.

(B) (Beifall) Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land- (D)


wirtschaft und Verbraucherschutz:
Die guten Wünsche für das begonnene neue Jahr ha-
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. Auch von
ben wir mehrfach in vielfältiger Weise, schriftlich und
meiner Seite natürlich ganz persönlich die besten Wün-
mündlich, wechselseitig ausgetauscht. Sie sollten aber
sche für ein gutes neues Jahr. Heute sind wir allerdings
der guten Ordnung halber für das Protokoll ausdrücklich
aus einem anderen Anlass hier zusammengetreten, der
noch einmal festgehalten werden.
leider nicht so erfreulich ist.
Interfraktionell gibt es eine Vereinbarung, die heutige Ich will einen Blick in die Vergangenheit werfen: Fast
Tagesordnung um eine Regierungserklärung der Bun- auf den Tag genau vor zehn Jahren, nämlich am
desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- 22. Januar 2001, haben wir in Deutschland ein Bundes-
braucherschutz zu erweitern, die jetzt gleich im An- ministerium für Verbraucherschutz eingerichtet. Damals
schluss als Erstes aufgerufen werden soll. Außerdem ist hatte die BSE-Krise unser Land, aber auch ganz Europa
vorgesehen, nach der Fragestunde eine von der SPD- erschüttert. Die Verbraucher waren in Sorge um ihre Ge-
Fraktion verlangte Aktuelle Stunde zum neuen ungari- sundheit, und die Landwirte fürchteten um ihre Existenz.
schen Mediengesetz durchzuführen. Sind Sie mit dieser Die Politik bekämpfte die Ursachen der Krise und än-
Ergänzung der Tagesordnung einverstanden? – Das ist derte Strukturen: Sie regelte die Bestimmungen für das
offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Tierfutter neu, auf das die Erkrankungen zurückgeführt
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: wurden, und sie verschärfte die Überwachung. Das war
die Geburtsstunde des Verbraucherschutzministeriums
Abgabe einer Regierungserklärung durch die auf Bundesebene.
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
Heute, zehn Jahre später und nach wechselnder politi-
und Verbraucherschutz
scher Verantwortlichkeit, sind wir mit einer ähnlichen
Verbraucher konsequent schützen – Höchst- Situation konfrontiert: Wieder sind die Verbraucher in
maß an Sicherheit für Lebensmittel gewähr- Sorge um ihre Gesundheit, und die Landwirte fürchten
leisten um ihre Existenz. Ursache sind Dioxinfunde in Futter-
mitteln und danach auch in Lebensmitteln. Ausgangs-
Ich mache darauf aufmerksam, dass zu diesem Tages- punkt war verunreinigtes Futterfett eines Unternehmers:
ordnungspunkt je ein Entschließungsantrag der SPD- Dort wurden – völlig unverantwortlich – technische
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor- Fette, die für die Industrie bestimmt waren, dem Tierfut-
liegt. ter beigemischt. Was nur zur Produktion von Schmier-
9264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesministerin Ilse Aigner


(A) mitteln taugt, ist in die Nahrungsmittelkette gelangt. Und Meine Damen und Herren, wir wissen, dass wir ein (C)
das ist ein echter Skandal! föderales System haben. Aber egal wer zuständig ist:
Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen Entschei-
Dioxin gehört nicht in Futtermittel, und Dioxin gehört
dungen für ein Höchstmaß an Sicherheit bei Lebensmit-
schon gar nicht in Lebensmittel.
teln. Ich sage ganz klar: Vorsorgender Verbraucherschutz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liegt im gemeinsamen Interesse aller, vor allem im Inte-
resse der 82 Millionen Verbraucherinnen und Verbrau-
Die Beimischung verstößt gegen geltende Gesetze. Ja,
cher in Deutschland. Vorsorgender Verbraucherschutz
mehr noch: Wir müssen zum gegenwärtigen Zeitpunkt
muss deshalb unser gemeinsames Interesse sein. Dieses
davon ausgehen, dass hier schlicht unverantwortlich und
gemeinsame Interesse muss über allen Einzelinteressen
mit Vorsatz gehandelt wurde.
stehen. Die Sicherheit unserer Lebensmittel geht uns alle
Zu den Meldungen in der heutigen Presse, nach denen an.
die kriminellen Machenschaften vermutlich schon vor
März 2010 längere Zeit praktiziert worden seien, sagte Nach der gestrigen Sitzung mit den Verbraucher- und
das federführende Ministerium in Kiel heute Vormittag, Agrarministern der Länder kann ich sagen: Wir ziehen
dass derzeit keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die eine an einem Strang und auch in dieselbe Richtung.
solche Annahme bestätigen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das hat Kraft gekostet – das ist wohl wahr –, aber wir
Komisch!) stehen zusammen. Von dem gestrigen Tag ist ein Signal
Ich will den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht der Geschlossenheit und der Entschlossenheit ausgegan-
vorgreifen. Aus meiner Sicht besteht aber Grund zur An- gen. Das ist eine gute Botschaft für die Verbraucherin-
nahme, dass wir es mit einem hohen Maß an krimineller nen und Verbraucher.
Energie zu tun haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Täter waren und sind skrupellos. Eines ist klar
und war auch damals jedem klar, nämlich, dass sich das Vorsorgender Verbraucherschutz muss vor allen wirt-
belastete Futtermittel mit einer extrem großen Streuwir- schaftlichen Interessen stehen. Der Schutz der Gesund-
kung über die Republik verteilen würde. Auf dem Höhe- heit hat die höchste Priorität. Das gilt und galt auch bei
punkt mussten deshalb in unserem Land 4 760 Höfe vor- der Aufarbeitung dieses Falls.
sorglich gesperrt werden, zugunsten des vorsorgenden (Zuruf von der SPD: Merkt man!)
Verbraucherschutzes. 931 Höfe sind noch immer ge-
(B) sperrt. Eier, Schweine und Legehennen durften und dür- Das galt und gilt auch weiter bei den Untersuchungen in (D)
fen während der Sperre nicht in die Lebensmittelkette den noch gesperrten Betrieben. Erst wenn alles unter-
gelangen. Die Sperre gilt, bis die Unbedenklichkeit fest- sucht und geklärt ist, dürfen gesperrte Betriebe und de-
gestellt ist. ren Produkte wieder freigegeben werden. Sicherheit geht
Zur nüchternen Bestandsaufnahme gehört aber auch, vor Schnelligkeit.
dass in einigen Fällen Lebensmittel, die vor der Sperre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
erzeugt wurden und vielleicht belastet sein könnten, in Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
die Ladenregale gelangt sind. So etwas darf nicht passie- Und vor Lautstärke, Frau Höhn!)
ren.
Und Gründlichkeit geht auch vor Schnelligkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die bisher ermittelten Dioxingehalte bei Eiern und Ich habe die Lage von Anfang an ernst genommen.
Fleisch liegen bei einigen wenigen Proben über dem Ich habe einen Krisenstab eingerichtet, ein Bürgertelefon
Grenzwert. Dies stellt nach Einschätzung unserer Exper- eingerichtet,
ten zwar keine unmittelbare gesundheitliche Gefährdung (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist vermutlich die
für Verbraucher dar, trotzdem gilt: Dioxin ist ein Um- Politik der ruhigen Hand!)
weltgift, dessen Eintrag in Lebensmittel, egal woher und
egal in welcher Konzentration, soweit wie möglich be- mich eng mit der EU abgestimmt, mich um die interna-
grenzt werden muss. tionalen Märkte gekümmert, und ich habe täglich mit
den Ländern die aktuelle Lage geklärt. Ich habe zudem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) parallel an den Konsequenzen gearbeitet, damit sich so
Gerade weil jede zusätzliche Belastung unterbunden ein Fall in Zukunft nicht wiederholt. Das ist ein solides
werden muss, sage ich den Verbraucherinnen und Ver- Vorgehen, und das ist das Gegenteil von blindem Aktio-
brauchern: Dieser Skandal wird Konsequenzen haben. nismus.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Da sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wir aber gespannt!) Ulrich Kelber [SPD]: Aber in Wirklichkeit ha-
ben Sie ein Chaos angerichtet! – Thomas
– Darauf können Sie sich verlassen. Oppermann [SPD]: Vorsicht! – Dr. Wilhelm
(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir Priesmeier [SPD]: Zögern, zaudern, ankündi-
schon öfter gehört!) gen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9265
Bundesministerin Ilse Aigner
(A) Ergebnis der soliden Arbeit in meinem Haus ist ein größte Stärke! Da macht Ihnen so schnell kei- (C)
Aktionsplan für Sicherheit und Transparenz, der die ner etwas vor! – Burkhard Lischka [SPD]: Das
wichtigsten Maßnahmen bündelt. Er ist umfassend, kon- können Sie besonders gut!)
kret und konsequent, und er stellt die gesamte Futtermit-
– Genau, ja. – Ein konkreter Zeitplan liegt vor. Mit Ihrer
telkette auf den Prüfstand: vom Stall bis auf den Teller.
Unterstützung, der des Parlaments und des Bundesrates,
Wir werden die Zulassungspflicht für Futtermittelbe- werden wir diesen Plan umsetzen.
triebe verschärfen. Strenge Auflagen müssen her, und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
die Länder müssen diese umfassend und regelmäßig
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kontrollieren.
NEN]: Das ist ja wie Advent – womit wir wie-
Wir werden die Produktionsströme trennen. Es darf der beim Thema wären! – Gegenruf des Abg.
künftig nicht mehr sein, dass Stoffe für Futter und Stoffe Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
für die industrielle Produktion in derselben Anlage ver- Ach, Frau Künast! Sie müssen gerade reden!)
arbeitet werden. – Ich weiß nicht, warum Sie sich immer so aufregen. Es
(Sonja Steffen [SPD]: Das ist ja alt!) ist in jeder politischen Debatte ein normaler Vorgang,
dass man sich ein Ziel setzt, es ankündigt und dann auch
Wir werden vorschreiben, dass die Futtermittelkom- umsetzt. Das machen wir jetzt auch; das ist ganz normal.
ponenten auf die Gesundheit gefährdende Stoffe unter-
sucht werden. (Burkhard Lischka [SPD]: Ja! Aber ihr kün-
digt schon seit Jahren an! – Ulrich Kelber
Und schließlich: Alle Prüfungsergebnisse müssen [SPD]: Und täglich grüßt das Aigner-Tier!)
nicht nur den Futtermittelherstellern mitgeliefert, son-
dern auch den Behörden zur Verfügung gestellt werden. Übrigens, meine Damen und Herren, setzen wir auf
Als weitere Sicherheitsmaßnahme müssen die Labore das, was Deutschland in Branchen wie dem Maschinen-
den Behörden Grenzwertüberschreitungen von sich aus bau und der Automobilindustrie stark gemacht hat: Wir
melden. wollen hohe Qualität gewährleisten.
Die Kontrollen vor Ort müssen funktionieren. Die (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr
Verbraucher müssen sich auch darauf verlassen können. gut! – Thomas Oppermann [SPD]: Ja! Aber
Deshalb sind Verbesserungen in der Kontrollpraxis für bitte nicht nur ankündigen!)
mich ein elementarer Punkt dieses Aktionsplans. Das Qualitätssiegel „Made in Germany“ muss auch hier
(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann gelten.
(B) [FDP]) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hundertprozentige Sicherheit kann es zwar nicht geben. Am morgigen Tag steht die Eröffnung der Internatio-
Aber das Sicherheitsnetz muss so eng geknüpft sein, nalen Grünen Woche auf der Tagesordnung. Die welt-
dass allein die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, größte Ernährungsmesse begrüßt hier in Berlin Hundert-
abschreckt. tausende Besucher. Ich werde bei der diesjährigen Messe
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Wert von Lebensmitteln in den Mittelpunkt stellen;
denn es geht um einen verantwortlichen Umgang mit un-
Nur so können wir für Sicherheit sorgen, Transparenz seren Lebensmitteln. Lebensmittel sind Mittel zum Le-
schaffen und das Vertrauen der Verbraucher wiederge- ben;
winnen.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bei allen Vorteilen des Föderalismus: Es kann doch Toll! Ganz prima! – Johannes Singhammer
nicht sein, dass heute zwar die EU die Befugnis hat, in [CDU/CSU]: Ja! So ist es!)
einzelnen Bundesländern zu prüfen, der Bund aber bis-
her außen vor bleibt. Wir haben gestern beschlossen, Lebensmittel sind keine Industriegüter. Deswegen müs-
dass wir eine gemeinsame Auditierung der Überwa- sen wir hier den Anfang machen. Deswegen müssen hier
chungsbehörden vornehmen und sich alle zusammen die die Anforderungen an die Sicherheit und Qualität ganz
Qualität der Kontrollen anschauen. Ich freue mich, dass besonders hoch sein.
wir damit einen Paradigmenwechsel eingeleitet haben. Wir sind zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, und wir
Das ist ein großer Schritt für die Verbrauchersicherheit. sind zu Transparenz verpflichtet. Der Verbraucher muss
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wissen und verstehen können, was er isst. Vor diesem
Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Dann ändern Hintergrund habe ich die Initiative „Klarheit und Wahr-
Sie das in konkrete Vorschläge!) heit“ gestartet,
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, ja!)
– Ja, in der Tat: Es ist wichtig, dass wir diesen Plan
schnell in die Tat umsetzen. Vieles wird noch in diesem und gestern ist eine überarbeitete Fassung des Verbrau-
Jahr geschehen; das kündige ich an. cherinformationsgesetzes in die Ressortabstimmung ge-
gangen,
(Lachen bei der SPD – Dr. Wilhelm Priesmeier
[SPD]: Richtig, Sie kündigen an! Wie immer! – (Sonja Steffen [SPD]: Aha! Und wo ist dafür
Thomas Oppermann [SPD]: Das ist ja Ihre die Unterstützung in Ihren eigenen Reihen? –
9266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesministerin Ilse Aigner


(A) Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- braucher in Deutschland haben davon profitiert. Hier hat (C)
NEN]: Oh! Ganz toll!) sich also viel getan.
ein Verbraucherinformationsgesetz, das Sie, Frau Übrigens würde heute niemand mehr im Haushalt so
Künast, nicht zustande gebracht haben, arbeiten wie vor 50 Jahren. Niemand nimmt heute noch
den Teppichklopfer, wenn der Staubsauger zur Verfü-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- gung steht, und die wenigsten brauchen im Garten noch
derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den eigenen Obstbaum, um Marmelade einzumachen.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das war doch wegen der CDU und wegen Ih- (Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt sind Sie aber
nen! Sie haben das doch verhindert!) weit vom Thema weg! Teppichklopfen!)
das von der Großen Koalition umgesetzt wurde Landwirtschaft geht nun auch einmal mit der Zeit.
Moderne Technik und eine stärkere Spezialisierung ge-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hören auch hier dazu. Der Weg zwischen Acker und Tel-
NEN]: Ja! Weil Sie dann mussten! – Waltraud ler ist heute länger: Futterwirtschaft, Landwirtschaft,
Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wer hat denn im Verarbeitung und Handel arbeiten in einer Wertschöp-
Bundesrat Nein dazu gesagt? – Ulrich Kelber fungskette. Die Dioxinfunde haben es deutlich gemacht:
[SPD]: Verwässert durch Herrn Bleser!) Allein Futtermittel gehen einen langen und komplizier-
und das wir nun im Sinne der Verbraucher noch besser ten Weg.
und verbindlicher gestalten werden. All das gehört zur Natürlich wäre es wünschenswert, wenn unsere Land-
umfassenden Verbraucherinformation dazu. wirte das Futter wieder mehr auf den eigenen Höfen oder
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 5 Millionen in der eigenen Region produzieren würden; das will ich
Beschäftigte gibt es in der Land- und Ernährungswirt- auch befördern. So sind Eiweißstrategie und regionale
schaft. Wenige Einzelne haben offensichtlich mit hoher Wertschöpfungsketten in Ordnung, jedoch weiß auch
krimineller Energie gehandelt und gegen alle gesetzli- ich: Wir können uns nicht zu 100 Prozent unabhängig
chen, aber auch moralischen Regeln verstoßen. Es trifft von Zukäufen machen. Deshalb müssen auch diese Pro-
die ganze Branche und ganz besonders unsere Land- dukte allerhöchsten Sicherheitsmaßstäben gerecht wer-
wirte. Sie sind diejenigen, die von harter und ehrlicher den und in der Qualität unantastbar sein.
Arbeit leben. Sie sind unverschuldet Opfer in diesem Damit nicht genug: Es ist auch wichtig, dass wir die
ganzen Skandal geworden. regionale Herkunft stärken und „Region“ zur Marke ma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen. Deshalb will ich ein regionales Herkunftskennzei-
(B) Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Sie haben den chen befördern. (D)
Schaden noch vergrößert!) Ich will eine unternehmerische bäuerliche Landwirt-
schaft, damit Landwirtschaft bei uns dauerhaft leistungs-
Auch für sie wollen wir schnell das Vertrauen der Ver-
fähig sein kann.
braucher zurückgewinnen, indem wir an der politischen
Aufarbeitung arbeiten, aber auch, indem wir den Wert (Zuruf von der CDU: Richtig!)
von Lebensmitteln hochhalten.
Ich will auch in Zukunft eine flächendeckende Land-
In diesen Tagen steht die Landwirtschaft besonders wirtschaft. Deshalb wird in Deutschland nur noch die
im Fokus der Öffentlichkeit. Ich sehe darin auch eine Bewirtschaftung der Fläche gefördert und nicht mehr die
Chance für eine breite gesellschaftliche Debatte um die Produktion. Deshalb bekommt nach der jetzt laufenden
Rolle der Landwirtschaft. Die Ansprüche und Wünsche Umstellungsphase bei den Direktzahlungen ein Betrieb,
der Verbraucher sollen dabei die Richtschnur sein. Es der keine Fläche mehr bewirtschaftet und zum Beispiel
geht darum, unterschiedliche Zielvorstellungen mitei- ausschließlich mästet – auch wenn es Hunderte Tiere
nander in Einklang zu bringen: das Streben nach Nah- sind –, ab 2013 keinen einzigen Eurocent Förderung
rungssicherheit, die verstärkte Produktion nachwachsen- mehr.
der Rohstoffe und den Schutz unseres Klimas und der
Das System verändert sich. Auch sonst hat sich viel
Umwelt. Das sind die großen Zukunftsthemen, die dis-
verändert. Auch wenn vieles immer noch fälschlicher-
kutiert werden müssen. Ich habe deshalb einen Prozess
in meinem Haus angestoßen. Am Ende soll eine Charta weise in den Köpfen der Menschen ist: Die Butterberge
sind abgeschmolzen, die Milchseen sind ausgetrocknet,
für Landwirtschaft und Verbrauchervertrauen stehen.
und ich bin mir mit dem zuständigen EU-Kommissar
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie die heutige mo- Ciolos vollkommen einig: Wir setzen auf eine Landwirt-
derne Landwirtschaft funktioniert, weiß in der breiten schaft, die für Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen
Bevölkerung leider eigentlich niemand so recht. Da herr- Verantwortung übernimmt und Wissen und Können mit
schen Vorstellungen von einem Idyll, und da kursieren Sicherheit und Qualität zusammenbringt.
allerhand Klischees. Was aber hat die Land- und Ernäh-
(Ulrich Kelber [SPD]: Wenn einem nichts
rungswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten nicht
mehr einfällt, muss man die 15 Minuten nicht
alles geleistet? Jeder achte Arbeitnehmer in Deutschland
ausschöpfen!)
arbeitet heute in dieser Branche. Produktivität, Ertrag
und Nachhaltigkeit sind mithilfe moderner Technik Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaft
enorm gestiegen. Auch die Verbraucherinnen und Ver- gehört in die Fläche. Sie schafft dort Arbeitsplätze, sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9267
Bundesministerin Ilse Aigner
(A) produziert unser täglich Brot, sie belebt den ländlichen Mit Ihren bisherigen Äußerungen und dem, was Sie (C)
Raum. Ja, sie gehört in die Mitte der Gesellschaft. heute hier vorgetragen haben, haben Sie keinen kon-
struktiven Beitrag geleistet.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Dafür braucht sie Akzeptanz. Landwirte und Verbrau-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
cher sind natürliche Verbündete. Für all das lohnt es sich
zu kämpfen. Es hagelt Schlagzeilen wie: „UNGEAIGNERT! Wer
Herzlichen Dank. schützt uns Verbraucher vor dieser Ministerin?“ Frau
Ministerin, das sind die Folgen Ihres konkreten Han-
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und delns: Zaudern, zögern, ankündigen. Das ist weiß Gott
der FDP) keine Strategie. Wo Ruhe, Übersicht und Führungsstärke
gefordert sind, haben Sie in den letzten Wochen das kon-
Präsident Dr. Norbert Lammert: krete Gegenteil abgeliefert.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Dr. Priesmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
Erlauben Sie mir einige Worte, auch kritische Worte,
(Beifall bei der SPD)
zum Ablauf dieses Krisenmanagements. Wir als SPD-
Fraktion haben bereits am 8. Januar 2011 einen Katalog
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): mit 15 Forderungen vorgelegt,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Frau Ankündigungsministerin! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir haben 14!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- um die Konsequenzen aus diesem Skandal zu ziehen. Ich
spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) bin nicht in den Urlaub gefahren, sondern habe mir die
Mühe gemacht, konkret an diesem Katalog zu arbeiten.
„Wir müssen“, „wir wollen“, „wir werden“: Nichts
Neues aus dem Hause Aigner. Wo konkrete Vorschläge (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)
und Maßnahmen gefordert sind, hört man nur wieder un-
Der von Ihnen angekündigte und im Zusammenhang mit
verbindliche Phrasen, die uns letztendlich nicht weiter-
der Bekanntgabe der Ergebnisse der gestrigen Konferenz
bringen. Ich höre Ihre Worte, Frau Ministerin, allein mir
veröffentlichte Plan enthält im Wesentlichen 14 dieser
fehlt der Glaube.
Forderungen. Eine ist offengeblieben, nämlich der Infor-
Der Markt für Geflügelfleisch ist zusammengebro- mantenschutz.
(B) chen, der Markt für Schweinefleisch und für Eier eben- (D)
falls. Die Kosten gehen mittlerweile weit über (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben
300 Millionen Euro hinaus und steigen täglich. Die Sie doch gerade noch kritisiert!)
Krise hat Folgen über Deutschland hinaus. Der russische Darüber kann ich mich natürlich freuen. Wir wollen hie-
Minister fragt besorgt, warum er seit Tagen keine Ant- rauf kein Copyright haben.
wort aus Berlin auf konkrete Fragen bekommt, und in
den Niederlanden planen die Bauern Protestdemonstra- Wenn es bei diesem Problem um konkretes Handel
tionen. und auch um konkrete Vorschläge geht, stehe ich für den
Sachverstand meiner Fraktion, der SPD-Bundestagsfrak-
Die Frage ist: Wer hat das verursacht? Kriminelle Ma- tion. Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Pressekonferenz
chenschaften sind sicherlich ein Grund. Ein anderer am letzten Freitag behauptet, dass das, was von der SPD
Grund ist die hausgemachte Krise bei der Bewältigung vorgeschlagen wurde, abgeschrieben worden ist. Damit
dieser Dioxinkrise. treffen Sie mich persönlich. Das ist eine Unverfroren-
(Beifall bei der SPD) heit. Das muss ich Ihnen deutlich sagen.
Das ist die Folge Ihres persönlichen Führungsstils in Ih- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
rem Hause, und das ist die Folge einer fehlenden und un-
Die Behauptung, dass das, was vorgeschlagen wird, die
zureichenden Lagebeurteilung und vor allen Dingen ei-
SPD abgeschrieben habe, haben Sie am letzten Freitag
ner mangelhaften Kommunikation nach außen in dieser
auf Ihrer Pressekonferenz gemacht. Dies stimmt nicht.
Krise.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Aigner, die Menschen haben kein Verständnis
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mehr für das föderale Kompetenzgerangel, wenn es um
Gesundheit und Wohlergehen geht. Daher fordere ich
Das Vertrauen in das System, das bisher selbst unter Sie auf, bei der Novelle zum Lebensmittel- und Futter-
dem Minister Seehofer bei dem Gammelfleischskandal mittelgesetzbuch endlich einen klaren, konkreten Rah-
noch leidlich aufrechterhalten werden konnte, haben Sie men mit gesetzlichen Bestimmungen vorzugeben, die
gründlich vernichtet. die Futtermittel- und Lebensmittelkontrollen dezidiert
regeln, entsprechende Quoten vorschreiben, strafbe-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wehrt sind und nach denen die Eigenkontrollen der Be-
Die deutschen Verbraucher sind zutiefst verunsichert triebe in die gesetzlichen Kontrollen mit einbezogen
und fragen sich natürlich: Was gedenken Sie zu tun? werden sowie für betriebliche Kontrollen die gleichen
9268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) Voraussetzungen wie für staatliche Kontrollen gelten. ben dem Sachverstand einen Tritt versetzt und Ihren (C)
Anders kommen wir in dieser Frage nicht weiter. damaligen Staatssekretär vor die Tür gesetzt. Dass es Ih-
nen zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Sachverstand fehlt,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hätten Sie vielleicht vermeiden können. Dann hätten Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vielleicht nicht ganz nackt dagestanden, was Vorschläge,
Egal ob die Bürger in Konstanz, Flensburg, Aachen oder Alternativen und vor allen Dingen das Krisenmanage-
Görlitz wohnen: Sie haben einen Anspruch darauf. Sie ment betrifft.
haben kein Verständnis dafür, dass die erforderlichen Die SPD ist zum Dialog bereit. Es macht keinen Sinn,
Maßnahmen im föderalen Kompetenzwirrwarr unterge- diesen Konflikt auf der Ebene der Parteien politisch wei-
hen. ter eskalieren zu lassen. Denn dafür haben die Bürger
Sie müssen jetzt konkrete Kontrollstandards vorlegen. kein Verständnis. Wir reichen Ihnen die Hand für kon-
Das erwarten wir von Ihnen. Sie müssen das auch durch- krete Vorschläge. Deshalb bitten wir Sie alle in diesem
kämpfen. Sie haben ja vorhin gesagt, dass alle an einem Hause: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Das ist der
Strick ziehen. Wie das aussieht, wissen wir: Auf der ei- erste Schritt dazu.
nen Seite steht die Bundesministerin, auf der anderen
Vielen Dank.
Seite stehen beispielsweise die Landesminister, und ir-
gendwann reißt der Strick. Wir haben das vielfach erlebt. (Beifall bei der SPD)
Sie stehen an demselben Punkt, an dem schon der Kol-
lege Seehofer gestanden hat, und Sie verfangen sich in
denselben Bedingungen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Happach-
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Der ist jetzt Minis- Kasan für die FDP-Fraktion.
terpräsident! – Andreas Mattfeldt [CDU/
CSU]: Funke musste damals zurücktreten!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Kosten der Kontrollen für dieses System sind
selbstverständlich nicht aus den öffentlichen Kassen,
sondern von den Unternehmen bzw. Betrieben zu bezah- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
len. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Fachverstand von Herrn Priesmeier kennen wir alle.
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Bei Funke ist Leider hat er uns davon keine Kostprobe gegeben.
der Strick gerissen!) Schade eigentlich. Ich finde, er hätte etwas Vernünftiges
(B) sagen sollen. (D)
Ein Landrat in Niedersachsen hat mir gesagt, dass er in
dem Bereich allenfalls 55 Prozent der Kosten vom Land (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ersetzt bekommt. Den Rest tragen die Kommunen. So- der CDU/CSU)
lange sich daran nichts ändert, wird dieses System nicht
funktionsfähig sein. Wir können so auch nicht den Kon- Er hat vergessen, was wirklich unser Problem ist: Die
trollumfang darstellen, der nötig wäre. Verbraucherinnen und Verbraucher sind verunsichert. Es
ist auch unsere Aufgabe – nicht nur die der Wirtschaft,
Ihre Wettbewerbsidee à la PISA, was die Kontrollen sondern auch die der Politik –, das verloren gegangene
betrifft, finde ich gut. Mein Vorschlag wäre aber: PISA Verbrauchervertrauen wieder zu stärken. Dazu haben Sie
für die Regierung, PISA für die Kanzlerin, PISA für die nichts beigetragen.
Minister, vor allen Dingen PISA auch für die Agrarmi-
nisterin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es ist auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
Ich glaube, wir würden aus der PISA-Bewertung das Fa-
nicht diejenigen die Zeche zahlen, die nicht daran betei-
zit ziehen, dass Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
ligt waren, nämlich die kleinen und mittelständischen
gerade gut aussehen.
landwirtschaftlichen Betriebe, die jetzt Einnahmever-
Ich wünsche an dieser Stelle vor allen Dingen dem luste haben und in ihrer Existenz gefährdet sind. Auch
neuen niedersächsischen Agrarminister Gert Lindemann für die haben Sie absolut nichts getan. Ich finde das
viel Erfolg. Gert Lindemann ist ein sach- und fachkom- schmählich.
petenter Spezialist für den Agrarbereich. Das hat er im-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mer wieder unter Beweis gestellt.
der CDU/CSU)
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das stimmt!)
Wie wir alle wissen, ist die Qualität unserer Lebens-
Aus meiner persönlichen beruflichen Erfahrung weiß ich mittel hoch. Wenn sie kriminell – wie in diesem Fall –
noch, welche dramatischen Folgen damals die Schwei- oder fahrlässig gefährdet wird, dann müssen diejenigen
nepestkrise hatte. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, zur Verantwortung gezogen werden, die dafür verant-
diese Krise und auch die BSE-Krise in den Griff zu be- wortlich sind. Das sind wir den Verbraucherinnen und
kommen, und zwar für Niedersachsen. Den Sachver- Verbrauchern schuldig. Das sind wir aber auch den Un-
stand hatten Sie bis letztes Jahr in Ihrem Hause. Sie ha- ternehmen schuldig, die darunter leiden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9269
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) (Ulrich Kelber [SPD]: Was ist Ihr konkreter (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Vorschlag?) Ach Gott!)
Wir alle sind uns darin einig, – Sie waren nicht dabei, liebe Frau Höhn. Das müssen
(Ulrich Kelber [SPD]: Konkret!) wir schlicht und ergreifend feststellen.

dass Dioxine nicht in das Frühstücksei und nicht in das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Kotelett gehören. Wir wissen aber auch, dass es eine la- Opfer des Vertrauensverlustes der Bürgerinnen und
tente Umweltbelastung mit Dioxinen gibt und dass des- Bürger sind die kleinen und mittelständischen Betriebe.
wegen das, was die Grünen immer fordern, nämlich Deswegen haben wir als Liberale von Anfang an gefor-
Nulltoleranz, in diesem Fall nicht umzusetzen ist, ob- dert, dass alle Betriebe, die mit Futtermitteln handeln,
wohl es wünschenswert wäre. Ich frage in Richtung der eine Haftpflichtversicherung haben, die so ausgestaltet
SPD: Sie haben einmal den Umweltminister gestellt. Er- ist, dass die Betriebe, die in Not geraten, die entspre-
innern Sie sich noch? Das ist noch gar nicht so lange her. chenden Gelder bekommen; das ist wichtig. Wer ange-
Was hat er denn eigentlich gemacht, um die Dioxinbelas- sichts dieser für die kleinen und mittelständischen Be-
tung in der Umwelt zu mindern? Wie sah seine Vermei- triebe existenziellen Krise von einer industrialisierten
dungsstrategie aus? – Es ist so still bei euch. Ich verstehe Landwirtschaft spricht, der verfolgt eindeutig eigene
das gar nicht. Parteiinteressen und hat nicht das Wohl der Verbrauche-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sollten mal nachle- rinnen und Verbraucher sowie der betroffenen Betriebe
sen, wenn Sie eine neue Funktion bekommen! im Sinn.
Dann wären Sie besser informiert!)
(Widerspruch des Abg. Dr. Wilhelm
Wir wollen genauso wenig Dioxine in Weiderindern. Priesmeier [SPD] – Dr. Dietmar Bartsch [DIE
Auch deswegen ist eine Strategie zur Vermeidung von LINKE]: Die FDP ist die einzige Partei, die
Dioxinen wichtig. Futtermittel sind Lebensmittel für keine eigenen Parteiinteressen verfolgt!)
Tiere. Abfallbeseitigung durch den Tiermagen war und
ist nicht akzeptabel. – Ich weiß gar nicht, warum du zuckst, Wilhelm; du bist
gar nicht gemeint.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir müssen dafür sorgen, dass die Betriebe, die unter
Am 21. Dezember waren erstmals erhöhte Dioxin- der momentanen Krise leiden, ohne dass sie in irgendei-
werte durch Eigenkontrollen festgestellt worden. Heute, ner Weise schuldig geworden sind, nicht existenziell ge-
am 19. Januar, legen wir einen bereits zwischen Bund fährdet werden.
(B) und Ländern abgestimmten Aktionsplan vor. Das ist zü- (D)
giges Handeln. Blicken wir auf die Dioxinfälle in der Vergangenheit
zurück. 1999 ging es in Belgien um Verunreinigungen
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
durch Transformatoröl. 2003 – daran erinnere ich mich
NEN]: Was? Sechs Jahre!)
gut; damit habe ich angefangen – gab es Fälle in Thürin-
Ich bitte Sie herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen gen. Frau Ministerin Künast war zwar da, hatte aber
von der linken Seite, sich im Bundesrat dafür einzuset- nichts umzusetzen.
zen, dass der Maßnahmenkatalog, der von Bund und
Ländern erarbeitet wird, umgesetzt wird. Auch Sie sind (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
hier in der Pflicht. Aber sie hat eine Menge gemacht!)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – Sie hat nicht mehr gemacht, sondern hat schlicht und
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Wir set- ergreifend andere mehr beschimpft, als Frau Aigner das
zen uns vor allem im Bundestag dafür ein!) gemacht hat. Was Sie sagen, Frau Höhn, ist nicht wahr.
Ich finde, es ist nach wie vor ein Skandal, dass wir in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
einem hochtechnologisierten Land immer noch nicht
wissen, woher in diesem konkreten Fall die Dioxine Schauen wir uns die Lebensmittelskandale im letzten
kommen. Nach allen Analysen haben wir ein Dioxin- Jahr an. Damals gab es sieben Tote durch Listerien. Was
muster, das vollkommen unbekannt ist. Das heißt, dass haben die Grünen gesagt? Nichts. 2 500 Tonnen dioxin-
wir in Dioxinforschung, -vermeidung und -analytik wei- belasteter, aber biozertifizierter Mais wurden an Bio-
ter verstärkt investieren müssen. Wir müssen aber auch betriebe geliefert. Was haben die Grünen dazu gesagt?
zur Kenntnis nehmen und den Verbrauchern bewusst Nichts. Es sieht doch so aus: Ihr sagt prinzipiell nichts;
machen: Das BfR hat festgestellt, dass keine gesundheit- und euer Versagen,
lichen Beeinträchtigungen durch den Verzehr von belas- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
teten Eiern zu erwarten sind. Sie haben doch nichts gemacht, Frau Happach-
(Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) Kasan! Das ist doch die letzte Verharmlo-
sung!)
Wir sollten auch darauf hinweisen, dass die Dioxinbelas-
tung seit den 90er-Jahren auf ein Drittel gesunken ist. insbesondere auf der linken Seite dieses Hauses, ist der
Ursache dafür war das konsequente Handeln der letzten Grund, dass sich die Öffentlichkeit sehr viel mehr mit
christlich-liberalen Regierung in den 90er-Jahren. Problemen beschäftigt, die gar keine sind.
9270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) Sie verschärfen die GVO-Analytik, statt sich mit Dio- Die Realität ist aber eine andere. Sie mussten sogar zu (C)
xinanalytik zu beschäftigen. dieser Regierungserklärung getragen werden. Erst auf-
grund der Aktuellen Stunde haben Sie sich dazu ent-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlossen. Das ist schlicht die Wahrheit.
NEN]: Ah, im Schoß der Gentechnik! – Bärbel
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Klien- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
telpolitik für die Chemieunternehmen, Frau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Bleser
Happach-Kasan, das machen Sie!) [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das
ist doch glatt gelogen!)
Sie interessieren sich für Pflanzenschutzmittelrück-
stände. Dioxin hingegen steht bei Ihnen überhaupt nicht Sie müssen zum Jagen getragen werden. Sie haben zu-
auf dem Programm. Sie beschäftigen sich nicht mit der nächst zögerlich agiert und sind dann in Aktionismus
größten Gefahr für die Verbraucherinnen und Verbrau- verfallen. Dann sagen Sie so schöne Sätze wie: Sicher-
cher. heit vor Schnelligkeit. Das ist ganz großes Kino. Das sa-
(Ulrich Kelber [SPD]: Ihnen ist schon klar, gen auch die Formel-1-Manager nach einem Unfall.
dass Sie mit der Opposition reden! – Zurufe Dann wird aber sofort weitergerast. Das ist die Praxis.
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer ist denn schuld am Dioxinskandal? Da gibt es die
– Herr Präsident, ich kann mein eigenes Wort nicht mehr Firmen, die sich gegenseitig die Verantwortung zuschie-
verstehen. ben; da gibt es die Kontrollbehörden der einzelnen Län-
der, die die Schuld jeweils in den anderen Ländern su-
chen. Am Ende kommt heraus: Es gibt schwarze Schafe.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Das haben Sie hier auch so dargestellt. Es gibt skrupel-
Das ist sicherlich richtig. Sie wissen allerdings auch, lose Täter. Das stimmt, aber das ist nicht die Ursache.
dass Ihre Redezeit eigentlich vorbei ist, Die Realität sieht anders aus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Fest steht allerdings eines: Leidtragende sind die Ver-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) braucherinnen und Verbraucher sowie die Landwirte in
sodass wir vielleicht auf beiden Seiten ein bisschen – – diesem Land. Auch Ihr Agieren hat das Vertrauen in sau-
bere Lebensmittel erschüttert.
(Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])
(Beifall bei der LINKEN)
– Einen Augenblick, bitte.
(B) Das Highlight allerdings war Niedersachsen. Hier for- (D)
dert die Bundesministerin personelle Konsequenzen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Diese hat es aber nicht gegeben. Es stellt sich die Frage:
Ich möchte noch meinen letzten Satz sagen. – Wir als War die Forderung falsch, oder sind Herr McAllister und
Politiker sind, auch gegenüber den Verbraucherinnen seine Regierung Futtermittelskandalvertuscher?
und Verbrauchern, gefordert, das Hauptaugenmerk auf
die realen Gefährdungen zu legen. Das sind im Bereich (Zuruf von der CDU: Das ist unsachlich!)
der Lebensmittelsicherheit zum einen die Dioxine; zum
anderen sind es aber auch bakterielle Verunreinigungen – Das ist ja nur eine Frage. – Frau Merkel musste sich
in größerem Umfang. Das hat das Beispiel aus dem letz- einschalten, damit CDU-Ministerpräsident McAllister
ten Jahr gezeigt. Wir sollten uns nicht von Skandalen und Bundesministerin Aigner mit dem Schwarzer-Peter-
treiben lassen, sondern von einem selbstbewussten und Spiel aufhören. Das ist die Realität: Machtspiele und
verantwortlichen Handeln für die Verbraucherinnen und Schuldzuweisungen. Die Verbraucherinnen und Ver-
Verbraucher. braucher wären froh, wenn die Regierung endlich damit
anfinge, sie konsequent und wirksam vor kriminellen
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Futterpanschern zu schützen. Vielleicht ist sogar ein ei-
genes Verbraucherschutzministerium sinnvoll.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir müssen aber vor allem die eigentlichen Ursachen
Präsident Dr. Norbert Lammert: benennen. Diese liegen nicht allein in den kriminellen
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Bartsch für die Handlungen. Gründe sind auch der unkontrollierte Welt-
Fraktion Die Linke. agrarmarkt und der gnadenlose Preiskampf, der stattfin-
det. Lebensmittel werden zum Sicherheitsrisiko, wenn
(Beifall bei der LINKEN) Niedriglöhne und global gehandelte Billigrohstoffe den
Ton angeben. Allein durch mehr Kontrolle und höhere
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Strafen sind die grundlegenden Ursachen nicht zu be-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau kämpfen.
Aigner, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung sehr (Beifall bei der LINKEN)
viele, sehr wohlfeile Worte gefunden. Klarheit und
Wahrheit, wer kann dem schon widersprechen? Da sind Nun haben Sie den mit den Landesministerinnen und
wir alle sehr dafür. Sie haben das Tempo gelobt. Sie sa- Landesministern erarbeiteten 14-Punkte-Plan hier vorge-
gen, Sie wollen die Maßnahmen schnell umsetzen. stellt. Dieser ist durchaus vernünftig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9271
Dr. Dietmar Bartsch
(A) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Immerhin!) Peter Bleser ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Daran haben auch linke Minister aus den Ländern mitge-
arbeitet sowie Grüne und Sozialdemokraten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Peter Bleser (CDU/CSU):
Dabei kommt manchmal etwas Gutes heraus. Das ist gar Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder gute
keine Frage, um Gottes Willen, wenn man auch über De- Feuerwehrleiter löscht erst das Feuer und spricht dann
tails streiten kann. über die notwendigen Brandschutzmaßnahmen. So hat
Die Linke aber fordert, dass die Bundesregierung auch unsere Ministerin zusammen mit ihren Kolleginnen
nicht nur die Symptome behandelt, sondern auch die Ur- und Kollegen aus den Ländern gehandelt: ruhig, ent-
sachen bekämpft. Das ist das Entscheidende. schlossen, zielstrebig. Sie hat als Erstes die Quellen für
die Dioxineinträge verstopft. Sie hat als Zweites die be-
(Beifall bei der LINKEN) troffenen Bauernhöfe ermittelt, die das verseuchte Futter
erhalten haben konnten. Dann hat sie als Drittes die Le-
Es sieht doch jetzt so aus, dass eines gilt: Nach dem
bensmittel, die schon auf dem Markt waren, zurückrufen
Skandal ist vor dem Skandal. Schauen wir einmal zu-
lassen.
rück. Unter Seehofer gab es den Gammelfleischskandal,
unter Frau Künast gab es BSE, (Widerspruch von der SPD)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das war genau die richtige Reihenfolge, um im Interesse
NEN]: Vorher! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ der Verbraucher gesundheitliche Gefahren ausschließen
DIE GRÜNEN]: Frau Künast ist erst Ministe- zu können.
rin geworden durch BSE!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
unter Frau Aigner gibt es den Dioxinskandal. Alle Mi- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nisterinnen und Minister haben bessere Kontrollen ver- Waren Sie im Urlaub, Herr Bleser, dass Sie
sprochen, wie auch Sie heute. Aber alle sind vor der überhaupt nichts mitgekriegt haben?)
Nahrungsmittelindustrie eingeknickt. Das ist die Reali-
tät. Weil Frau Ministerin Aigner in der Öffentlichkeit sehr
beschimpft und unter Druck gesetzt worden ist – Sie wa-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren sich nicht zu schade, den Rücktritt der Frau Ministe-
(B) NEN]: Quatsch!) rin zu fordern –, will ich ihr ganz formal Lob und Dank (D)
für die Vorgehensweise in dieser Krise aussprechen.
Die Skandale werden doch durch die Bank zufällig ent-
deckt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Ich weiß, dass gerade in den Tagen nach Weihnachten,
als viele von Ihnen ihren verdienten Urlaub und ihre
Deswegen sage ich: Legen Sie zügig hier im Hause
Freizeit genossen haben, eine ganze Reihe von Mitarbei-
Gesetze vor! Es waren die Länder, die gestern bei den
tern in den Untersuchungsämtern in Niedersachsen und
Beratungen durchgesetzt haben, dass schon 2011 etwas
in den Ministerien durchgearbeitet haben, um diese
geschieht. Sie hingegen wollten erst 2012 Gesetze vorle-
Krise in den Griff zu bekommen
gen.
(Kerstin Tack [SPD]: Das ist doch ihr Job!)
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Stimmt doch gar
nicht!) und sofort Maßnahmen vorzuschlagen, die wir jetzt zü-
gig umsetzen können, um ein derartiges Geschehen in
Der Druck der Landesminister unterschiedlicher Par- der Zukunft zu verhindern.
teien hat dafür gesorgt, dass Sie in diesem Jahr mit der
Arbeit anfangen. Das ist die Realität. Die Verbraucherin- Ich will aber nicht verschweigen, dass auch der Fut-
nen und Verbraucher haben kein Verständnis für das Hin termittelwirtschaft eine große Verantwortung zukommt.
und Her zwischen Bund und Ländern. Man kann ihnen
ein solches Hin und Her auch nicht zumuten. Sie müssen (Zurufe von der SPD: Aha!)
von der Ankündigungsministerin zu einer Handlungs- Auch sie muss mithelfen, dass möglichst alle erfasst
ministerin werden. Das wäre notwendig. werden, die durch diese Futterlieferung geschädigt wor-
(Beifall bei der LINKEN) den sind.

Damit könnten das Krisenmanagement vom Kopf auf (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: For-
die Füße und die Verbraucherschutzinteressen wirklich derst du jetzt nicht mehr die Selbstverpflich-
auf Platz eins gestellt werden. Das wäre nötig. Ich hoffe, tung der Wirtschaft?)
dass wir in diesem Hause darin einig sind. Ich sage es ganz offen: Ich bin es langsam leid, dass ei-
Danke schön. nige wenige in einer Branche das ganze Umfeld der
Agrar- und Ernährungswirtschaft in Verruf bringen. Das
(Beifall bei der LINKEN) lassen wir uns nicht mehr bieten.
9272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Peter Bleser
(A) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann ten Lebensmittel für jeden nachlesbar sein. Auch das ist (C)
ändere doch selber etwas daran!) Teil des Fortschritts, den wir für die nächsten Jahre an-
streben.
Das werden wir mit dem 14-Punkte-Plan verhindern.
Alle Punkte, die gestern einvernehmlich mit den Län- Ich will hier aber noch einen anderen Punkt anspre-
dern festgelegt worden sind, sorgen in voller Schärfe da- chen, weil gerade dieser Skandal – das ist vorhin schon
für, dass in Zukunft Derartiges nicht mehr geschieht. Ich mehrfach angesprochen worden – wiederum Unschul-
habe mir alle Punkte angesehen. Es sind wesentlich dige trifft. Die Preise für Schweine und für Eier sind zu-
mehr, als von der Opposition bisher vorgeschlagen wur- sammengebrochen. Man fragt sich: Warum musste das
den. sein? Auf der linken Seite des Hauses wird immer wie-
der die Generalforderung gestellt, möglichst alles mit
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ökologischer Landwirtschaft zu betreiben, denn dort
– Es sind wesentlich mehr! – Ich war Gott sei Dank komme das nicht vor.
– das gehört auch zum Führungsstil unserer Ministerin – (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein,
bei der Erarbeitung der Punkte involviert. Sie hat sehr nein! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]:
engen Kontakt mit den Koalitionsfraktionen gehalten, Ist doch gar nicht wahr! – Weiterer Zuruf von
um sicherzustellen, dass diese Punkte unser aller Zu- der SPD: Blödsinn!)
stimmung finden,
Ich sage Ihnen eines: Wir hatten im letzten Jahr auch
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dort einen Skandal. Ich erinnere an dioxinverseuchten
Das musste sie auch! Sie haben doch alles ab- Mais aus Ungarn, der in ökologisch-landwirtschaftliche
gelehnt vorher!) Betriebe geliefert worden ist.
damit sie in den nächsten Monaten möglichst schnell (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
umgesetzt werden können. Dann hätten wir vielleicht mal hier erzeugen
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wer hat können! Aber wenn Sie die Förderung zurück-
denn immer beim VIG auf die Selbstverpflich- fahren, macht das doch keiner mehr!)
tung gepocht? Das war doch die CDU!) – Frau Höhn, wir werden uns – jetzt bin ich dankbar,
Herr Bartsch, es ist in der Tat so – auch wenn es nicht dass Sie doch noch wach geworden sind –
in meinem Sinne ist –: Alle hier vertretenen Parteien (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sind in den Ländern in Verantwortung. Wir werden se- Vielleicht sollten Sie mal wach werden, Herr
hen, ob die Länder bei der konkreten Umsetzung auf Bleser!)
(B) ihren Kompetenzen bestehen, ob sie das Audit der Fut- (D)
termittelkontrollen, das der Bund jetzt einführen will, in Deutschland und auch in der Welt nicht mehr von ei-
mittragen, ob sie sich gemeinsamen Standards stellen. ner arbeitsteiligen Landwirtschaft und von einer arbeits-
Das werden wir in den nächsten Monaten sehen. Ich bin teiligen Produktion in Industrie und Handwerk trennen
sehr hoffnungsvoll, dass der Maßnahmenkatalog, der in können. Diese Zeiten sind vorbei; ein Zurück wird es
der Kürze der Zeit erstellt worden ist, im Laufe dieses nicht geben.
Jahres in konkretes Regelwerk umgesetzt werden kann.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Meine Damen und Herren, es ist auch richtig, dass Das ist genau Ihr Problem!)
wir darüber hinaus die Verbraucherinformation verbes-
Ob ökologisch oder konventionell, alles muss sicher
sern wollen.
sein.
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Und das aus
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ihrem Munde, Herr Bleser! – Waltraud Wolff
[Wolmirstedt] [SPD]: Peters Märchenstunde!) Die Verbraucher müssen darauf vertrauen können, dass
die Lebensmittel, die sie erhalten, absolut in Ordnung
Das steht übrigens schon in unserem Koalitionsvertrag. sind. Das werden wir unter anderem mit diesem Maß-
Auch durch viele öffentliche Erklärungen haben wir un-
nahmenkatalog sicherstellen.
sere Forderung dokumentiert: Wir werden in der Novel-
lierung des Verbraucherinformationsgesetzes vorsehen, Es hat mich schon auf die Palme getrieben, dass es
dass Gesetzesverstöße – und das sind solche Überschrei- hier Rücktrittsforderungen und eine Skandalisierung des
tungen von Grenzwerten – unverzüglich ins Netz gestellt Vorfalls – den ich nicht verniedlichen will, ganz im Ge-
werden. Da braucht dann niemand mehr nachzufragen, genteil – gab. Aber ich will in Erinnerung rufen, dass das
ob das der Fall gewesen ist oder nicht. Bundesinstitut für Risikobewertung erklärt hat, dass von
den hier genannten Überschreitungen beim Dioxingehalt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
keine gesundheitlichen Gefahren ausgehen.
Des Weiteren werden wir die von Bayern beantragte
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Homepage Lebensmittelwarnung.de endlich auf den
Keine akute Gesundheitsgefährdung!)
Weg bringen. Da waren die Bundesländer jetzt die
Reichsbedenkenträger, die ihre Kompetenzen nicht so Damit will ich nicht beschwichtigen; aber es wäre nicht
schnell wahrgenommen haben, wie es notwendig gewe- notwendig gewesen, durch eine Skandalisierung die
sen wäre. Auf dieser Homepage werden alle beanstande- Märkte zusammenbrechen zu lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9273
Peter Bleser
(A) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann vorhanden sind. Beim Gammelfleisch war das so, und (C)
kann man das Zögern ja auch verstehen!) beim Dioxin ist es jetzt wieder so. In den Unternehmen
gab es viele, die das gewusst und gesehen haben. Wir
Ich will das noch einmal verdeutlichen: Es wird jetzt müssen diese Personen ermutigen, Unzulänglichkeiten
auch in den Medien immer wieder darauf hingewiesen, zu melden. Sie haben genau das verhindert.
dass nur die biologische Landwirtschaft die richtige ist.
Ich selber bin Landwirt und habe überhaupt keine Präfe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
renzen für die eine oder andere Form. Jeder soll die Ni- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sche bedienen, in der er glaubt, seinen wirtschaftlichen
Erfolg erzielen zu können. Wer hier aber ständig den Sagen Sie uns doch, ob Sie mit uns gemeinsam die
Eindruck erweckt, dass man mit dieser Form der Land- Whistleblower-Regelung in das Gesetz einführen wol-
bewirtschaftung die Menschheit ernähren kann, der be- len, um diejenigen Arbeitnehmer zu schützen, die solche
trügt die Leute; er macht den Menschen etwas vor. Nach Meldungen machen, damit sie nicht hinterher dafür be-
Angaben der FAO können über diese Art der Produktion zahlen müssen.
nur 4 Milliarden Menschen ernährt werden; auf der Erde Gift in Lebensmitteln ist das eine. Das müssen wir
leben aber über 6 Milliarden Menschen. verhindern. Aber die Kompetenz im Ministerium muss
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben hinzukommen. Gift im Essen und Inkompetenz im Ver-
eine Krise vorgefunden, die durch kriminelle Machen- braucherschutzministerium sind die zwei Seiten einer
schaften verursacht wurde. Es wurde konsequent gehan- Medaille, Frau Ministerin. Sie müssen die Missstände
delt, und es wurde sehr schnell ein Maßnahmenkatalog endlich abstellen, indem Sie tatkräftig handeln.
beschlossen – das ist in dieser Krise ein Glücksfall; sonst (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/
ist so etwas oft nicht möglich; das sage ich ganz offen –, CSU: Schwätzer!)
der eine Form von Lebensmittelsicherheit erwarten lässt,
die auf der ganzen Welt nicht vorzufinden ist. Es besteht
die Möglichkeit, dass wir nach dieser Krise besser daste- Präsident Dr. Norbert Lammert:
hen als vorher. Herr Bleser, zur Erwiderung.
Ich bedanke mich.
Peter Bleser (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Oppermann, ich freue mich, dass Sie
unseren Koalitionsvertrag gelesen haben. Dort steht,
Präsident Dr. Norbert Lammert: dass wir eine Evaluierung, die wir bei der Verabschie-
(B) Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol- dung des VIG, des Verbraucherinformationsgesetzes, (D)
lege Thomas Oppermann. Bitte schön. durch die Große Koalition gemeinsam beschlossen ha-
ben, in diesem Jahr vornehmen. Es hat entsprechende
Thomas Oppermann (SPD): Gutachten gegeben. In Kürze liegen Referentenent-
würfe, die innerhalb der Regierung abgestimmt werden,
Herr Kollege Bleser, Sie haben eben ganz stolz darauf
vor. Wir werden das VIG im Laufe dieses Jahres entspre-
hingewiesen, die Koalition habe den Verbraucherschutz
chend unseren Wünschen ändern.
in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben. Da steht in
der Tat etwas davon; aber im Regierungshandeln können Außerdem haben Sie angesprochen, dass kriminelle
wir nichts davon erkennen. Energie vorhanden gewesen ist. Ich als Abgeordneter
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Vollkommener darf mit aller Vorsicht, was Beschuldigungen angeht, sa-
Blödsinn!) gen: Es gab wohl einen Betrieb, der überhaupt nicht zu-
gelassen war, Futtermittel herzustellen, und der infolge-
Ich darf da einmal nachfassen. Auch die Ministerin dessen nicht registriert war. So etwas können Sie auch
hat gesagt: Wer die Verbraucher schützen will, wer ver- dann nicht vermeiden. Allerdings müssen wir – das ist
hindern will, dass wir Gift im Essen haben, der muss die mit der Abprobung von Futterzusatzstoffen, bevor sie in
kriminellen Machenschaften in der Futtermittelindustrie die Nahrungskette kommen, sichergestellt – die Hürden
und auch in der Lebensmittelindustrie beseitigen. Wer erhöhen, um so etwas zu verhindern.
die kriminelle Energie, die da ganz offenkundig vorhan-
den ist, wirklich bekämpfen will, der muss dann aber Sie haben verlangt – das ist der Kern Ihrer Botschaft –,
auch wirksame Maßnahmen ergreifen. dass wir den Denunziantenschutz in Deutschland einfüh-
ren.
Es ist schon schlimm genug, dass wir ein Kontrollsys-
tem haben, das so viele Mängel und Lücken hat, dass wir (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Da ist
derartige Vorgänge nicht feststellen können. Aber noch es wieder!)
schlimmer ist doch, dass Sie, die CDU/CSU-Fraktion, Das bedeutet, dass Mitarbeiter ihren eigenen Betrieb bei
eine Maßnahme verhindert haben, über die Frau Zypries, Behörden denunzieren, indem sie entsprechende Ereig-
Herr Scholz und Herr Seehofer in der letzten Wahl- nisse melden.
periode schon eine Einigung erzielt hatten. Wir wollten
die Arbeitnehmer in solchen Unternehmen ermutigen, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Schüt-
Meldungen zu machen und zu berichten, wenn in ihrem zen ist für Sie Denunziantentum! – Kerstin
Betrieb Gift beigemischt wird, wenn Unzulänglichkeiten Tack [SPD]: Sie sollten sich was schämen!)
9274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Peter Bleser
(A) Ich will Sie über Folgendes in Kenntnis setzen, Herr Deshalb muss man sich nicht über das wundern, was (C)
Oppermann: Schon jetzt hat jeder Mitarbeiter, der eine momentan geschieht. Vielmehr muss man sich fragen:
Straftat meldet, Kündigungsschutz. Das wäre im vorlie- Was ist die Voraussetzung, wenn man in die ganze Welt
genden Fall so gewesen. Der Mitarbeiter hätte es also Schweinefleisch exportieren will? Die Voraussetzung
melden können. Das betroffene Unternehmen ist aller- sind möglichst niedrige Schweine- und Geflügelfleisch-
dings bereits insolvent; insofern hätte er seinen Arbeits- preise;
platz ohnehin verloren.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Gute Qualität ist
(Kerstin Tack [SPD]: Sie sollten sich was auch wichtig!)
schämen!)
denn nur dann lässt sich das Fleisch gut verkaufen.
Das ist aber nicht der Kern meiner Aussage. In keiner
Forderung der SPD-geführten Länder ist ein solcher An- Eine solche Entwicklung bedeutet Arbeitsteilung. Die
satz enthalten. Warum wurde er gestern nicht vorgetra- Betriebe werden immer größer. In den neuen Bundeslän-
gen? Diese Frage müssen Sie sich selber beantworten. dern gibt es mittlerweile einzelne Betriebe mit Zehntau-
senden von Schweinen. Die Arbeitsteilung ist wichtig,
Herzlichen Dank. weil die großen Betriebe das Futter für ihre Tiere nicht
mehr selber anbauen können. Arbeitsteilung heißt: Es
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gibt eine Futtermittelwirtschaft. Diese Futtermittelwirt-
schaft handelt an vielen Stellen anonym. Da Futter der
Präsident Dr. Norbert Lammert: größte Kostenfaktor ist, wird durch den Wunsch nach
Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn das Wort für die immer mehr Schweine- und Geflügelfleisch auch der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Druck auf den Futtermittelpreis erhöht. Die derzeitige
Politik erhöht also das Risiko, dass im Futtermittelbe-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nun aber!) reich Panscher tätig werden. Mit Ihrer Politik erhöhen
Sie das Risiko von Lebensmittelskandalen.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gesichts des Skandals fragen sich die Menschen: Warum Wenn man technische Fette, die nur halb so teuer sind, in
sind schon wieder Dioxine in Eiern und Fleisch gefun- das Futtermittel mischt, dann kann man die Konkurrenz
den worden? Die Antwort des Bauernverbandes und gnadenlos unterbieten und fette Gewinne machen. Ge-
auch die Antwort, die wir von Frau Ministerin Aigner nau das hat das Unternehmen in Uetersen in Schleswig-
und anderen Politikern bekommen haben, lautet: Das Holstein gemacht.
(B) sind Einzelfälle. Das war ein Krimineller aus Schleswig- (D)
Holstein. Im Übrigen ist alles gar nicht so schlimm; denn Seehofer hat damals das Signal gegeben: Wir kehren
die gefundenen Mengen sind nicht akut gesundheitsge- zur alten Landwirtschaftspolitik zurück; die Förderung
fährdend, und nur wenige Proben lagen über dem Grenz- des Ökolandbaus wird zurückgeschraubt. Für die
wert. Eigentlich ist alles gar nicht so schlimm. – Durch Fleischhändler bedeutete das: Wir können weitermachen
diese Antworten versuchen Sie, den Skandal zu ver- wie damals. Der Gammelfleischskandal war eine logi-
harmlosen, aber damit kommen Sie nicht mehr durch. sche Folge dieser Politik. Deshalb müssen wir zurück zu
einer anderen Landwirtschaftspolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verbraucher wollen mehr Antworten. Die Verbrau- Ihr Krisenmanagement, Frau Ministerin, ist hart zu
cher merken, dass etwas anderes dahintersteckt und dass kritisieren. Im Rahmen der vorhandenen Struktur haben
man viel intensiver diskutieren muss. Deshalb ist es Sie sogar richtig gehandelt. Sie haben sich erst gar nicht
sinnvoll, hier im Bundestag die Grundsatzfrage zu stel- blicken lassen. Ich habe zwischen Weihnachten und
len: Welche Landwirtschaft wollen wir in Deutschland? Neujahr wenig von Ihnen gehört. Da haben die Behör-
Das ist die entscheidende Frage, über die wir debattieren den in Nordrhein-Westfalen gearbeitet, die Behörden in
müssen. Niedersachsen weniger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das stimmt doch
nicht! Die haben Urlaubssperre gehabt!)
Unter Rot-Grün hat Renate Künast nach der BSE-
Krise einen deutlichen Schwenk in der Agrarpolitik ein- Die Behörden in Nordrhein-Westfalen haben die Eier
geleitet und klargestellt: Wir brauchen mehr Klasse und untersucht. Erst dann, als wir in Nordrhein-Westfalen
weniger Masse. Die Politik unter Schwarz-Gelb – leider festgestellt hatten: „Die Eierwerte liegen über den
auch schon vorher unter Seehofer – ist darauf ausgerich- Grenzwerten“, ist Niedersachsen tätig geworden.
tet, in Deutschland immer mehr Fleisch zu produzieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
vor allen Dingen immer mehr Schweinefleisch. Die
ganze Welt soll mit deutschem Schweinefleisch beglückt Das heißt, es ist gut, dass wir in Nordrhein-Westfalen
werden. Das ist die Politik, die Sie in den letzten fünf jetzt einen grünen Landwirtschafts- und Verbraucher-
Jahren gemacht haben. schutzminister haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der FDP: Fehlbesetzung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9275
Bärbel Höhn
(A) Es war natürlich im Sinne des Agrarsystems, dass die rin und nicht als Vertreterin der Futtermittelindustrie und (C)
Ministerin gesagt hat: Die Verantwortung liegt bei den der industriellen Landwirtschaft!
Ländern. Gar nicht so viel darüber reden! Am besten
runterkochen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Spannend ist, wie Niedersachsen da gehandelt hat.
Spannend ist, dass der Staatssekretär bei uns im Aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schuss gesagt hat: Kein belastetes Schweinefleisch ist
auf dem Markt. – Am nächsten Tag musste er zugeben: Michael Goldmann hat das Wort für die FDP-Frak-
Das war doch der Fall. – Er hat die Ministerin nicht in- tion.
formiert, obwohl er schon mehr wusste. (Beifall bei der FDP)
Spannend ist auch, dass es sich dabei um ein Unter-
nehmen in Damme handelte, ein Unternehmen, das zum Hans-Michael Goldmann (FDP):
Raiffeisenverband gehört, für das am Ende jemand ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
antwortlich ist, der Bauernpräsident in Westfalen ist, ei- Liebe Frau Höhn – seien Sie so nett, mir zuzuhören! –,
ner der höchsten Bauernfunktionäre in Deutschland, damit wir da gar keinen Zweifel aufkommen lassen: Es
nämlich Herr Möllers. Ich frage mich: Wo sind da die ist ganz schlimm, was hier passiert ist. Es ist ganz
Äußerungen des Bauernverbands? Auch in Damme ha- schlimm für die Bauern. Ich bin bei Bauern gewesen, de-
ben Leute offensichtlich kriminell gehandelt; denn sie ren Höfe gesperrt sind, die jeden Tag Tausende von Ei-
haben nicht gesagt, dass sie verseuchtes Futtermittel be- ern weggeworfen haben. Es ist ganz schlimm für die
kommen haben. Bauern, die im Moment bei jedem Kilo Schweinefleisch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 40, 50, 60 Cent zusetzen müssen und daran pleitegehen.
und bei der SPD) Und es ist ganz schlimm für die Verbraucher, die total
verunsichert sind, nicht zuletzt durch eine Kampagne,
Am Ende, Frau Aigner, haben Sie McAllister eine die im Zusammenhang mit diesem Skandal läuft und zu
Frist gegeben, um personelle Konsequenzen zu ziehen. der Sie eben entscheidend beigetragen haben, Frau
Die Frist ist verstrichen. McAllister hat das abtropfen Höhn.
lassen. Damit haben Sie Ihre Autorität vollkommen ver-
spielt; denn in Zukunft können die Länder sich sagen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wenn es Forderungen von der Bundesministerin gibt, Sie haben skizziert, dass diese Branche im Kern ver-
dann machen wir den McAllister, das heißt, wir lassen sifft ist. Das ist sie nicht. Diese Branche hat wie alle an-
(B) das einfach abtropfen. deren Branchen in unserer Gesellschaft schwarze (D)
Schafe.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Lachen des Abg. Friedrich Ostendorff
Frau Höhn. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Bärbel
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eine Verharmlosung!)
Damit haben Sie Ihre Macht vollkommen ausgehöhlt.
Sie sind nicht mehr in der Lage, den Ländern wirklich Alle anderen in unserer Gesellschaft haben auch mit die-
Zugeständnisse abzutrotzen und etwas für den Verbrau- sem Problem zu tun.
cherschutz zu tun. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- NEN]: Das ist die FDP: Mal so, mal so!)
SES 90/DIE GRÜNEN) – Frau Künast, das ist nicht ein Problem der Agrarwirt-
schaft oder der Ernährungswirtschaft, das ist ein grund-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sätzliches Problem mangelnder ethischer Verantwortung
Frau Höhn, Sie müssten schon zum Ende gekommen in bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft.
sein.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin ein überzeugter Liberaler, aber ich verstehe Libe-
Ich komme zum Schluss. Letzter Satz. – Frau Minis- ralität nicht so, dass ich in diesem Markt tun und lassen
terin, Sie haben gesagt, es gebe seit zehn Jahren das Ver- darf, was ich will, koste es den Verbraucher, was es
braucherschutzministerium. Das war hart erkämpft. wolle.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber Sie tragen diese Politik mit! Das ist der
Frau Höhn. Punkt!)
Frau Höhn, Sie liegen völlig daneben. In der Sonder-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sitzung des Ausschusses am Dienstag hätten Sie der Frau
Renate Künast war die erste Verbraucherschutzminis- Ministerin die Füße geküsst, wenn sie gesagt hätte:
terin. Handeln Sie endlich als Verbraucherschutzministe- Diese 14 Punkte setzen wir um.
9276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Hans-Michael Goldmann
(A) (Lachen bei der SPD – Peter Bleser [CDU/ (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
CSU]: Genau so! – Renate Künast [BÜND- Die werden Sie alle nicht umsetzen!)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn?)
Da bin ich wirklich sauer auf Sie. Diese 14 Punkte sind Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
fast identisch mit den 10 Punkten, die unter anderem Ihr Herr Goldmann, möchten Sie eine Zwischenfrage des
grüner Landwirtschaftsminister aus Nordrhein-West- Kollegen Miersch zulassen?
falen in die Diskussion gebracht hat.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hans-Michael Goldmann (FDP):
Was ist denn dann Ihre eigene Arbeit dabei?) Ja bitte, gerne.
Diese 14 Punkte – das wissen Sie genauso gut wie ich –
sind keine Erfindung der Ministerin, keine Erfindung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
derzeitig amtierenden Landwirtschafts- und Verbrau- Bitte schön.
cherschutzminister, sondern sie sind im Grunde genom-
men eine sehr alte Forderung an diesen Bereich. Dr. Matthias Miersch (SPD):
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Goldmann, Sie haben eben gefragt, wel-
NEN]: Die Sie früher immer verhindert ha- che Punkte uns nicht gefallen. Wir müssen nicht darüber
ben!) reden, wer der Urheber dieser Punkte ist. Als Vorsitzen-
den des Landwirtschaftsausschusses möchte ich Sie den-
Frau Künast, was die Umsetzung angeht, so haben Sie noch etwas fragen.
nicht den Erfolg gehabt, und wir hatten ihn bis jetzt auch
nicht. Jetzt werden wir darangehen. Ministerin Aigner hat uns hier und heute erklärt, dass
es wahrscheinlich um vorsätzliches Handeln und um kri-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- minelle Energie in der Futtermittelindustrie geht. Es gibt
NEN]: Typischer FDP-Wendehals!) augenblicklich einen Vorschlag, der eine Haftpflichtver-
– Ganz ruhig, Frau Künast! – Wir werden das Punkt für sicherung für alle vorsieht. Wir alle, die wir mit diesem
Punkt abarbeiten Bereich zu tun haben, wissen, dass keine Versicherung
bei Vorsatz eintreten wird. Ich habe bisher von Mitglie-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern der Koalition und auch von der Frau Ministerin
der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ noch kein Wort darüber gehört, wie es den Landwirten,
DIE GRÜNEN]: Ihre Landwirtschaftspolitik die geschädigt wurden, augenblicklich geht. Sie werden
(B) kostet Arbeitsplätze!) ihren Schaden nicht ersetzt bekommen; das ist jedenfalls (D)
meine rechtliche Einschätzung. Wenn sie irgendwann
– langsam, Frau Höhn! –, weil wir Fairness in diesem den Urheber des Schadens nennen können, geht dieser
Markt wollen, weil wir wollen, dass in diesem Markt die wahrscheinlich in die Insolvenz.
Machtverhältnisse richtig geordnet werden, weil wir
nicht wollen, dass einige wenige dieses System miss- Müssen wir alle nicht viel ehrlicher mit dem Fakt um-
brauchen und im Grunde genommen Arbeitsplätze zer- gehen, dass die Landwirte und die Verbraucherinnen und
stören. Ich wundere mich darüber, wie die Linken, die Verbraucher nach dem derzeitigen Haftungssystem die
Sozialdemokraten und andere mit diesem Phänomen Gekniffenen sind? Müssen wir nicht zusammen mit dem
umgehen. Das Problem, das wir haben, kostet jede Bauernverband, der ja zum Großteil in den Aufsichtsgre-
Menge Arbeitsplätze. mien der Futterindustrie vertreten ist, und mit der Indus-
trie überlegen, wie wir verhindern können, dass das
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: letzte Glied in der Kette am Ende der Geschädigte ist?
Ihre Landwirtschaftspolitik kostet Arbeits- Ich frage Sie also: Was sind Ihre Rezepte, um dieses Pro-
plätze! Exakt!) blem anzupacken?
Dafür übernehmen wir Verantwortung.
(Beifall bei der SPD – Peter Bleser [CDU/
Sie sollten sich einmal die Zeit nehmen, auf folgende CSU]: Gute Frage!)
Frage einzugehen – vielleicht tut es auch eine nachfol-
gende Rednerin aus Ihrer Fraktion –: Was stört Sie an Hans-Michael Goldmann (FDP):
diesen 14 Punkten? Welcher von Ihnen gewünschte Das ist natürlich eine gute Frage. – Herr Kollege, Sie
Punkt ist in diesem Papier nicht drin? waren in den Prozess mit eingebunden und haben die
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diskussion verfolgt. Lassen Sie mich als Erstes sagen:
Die Agrarwende ist nicht drin!) Ich bin Vorsitzender des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wir müssen im
– Da können Sie ruhig noch weiter dazwischenrufen. Sie Kopf behalten, dass es nicht die Landwirtschaft und die
können mir keinen Punkt nennen. Ernährungswirtschaft auf der einen Seite und den Ver-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: braucherschutz auf der anderen Seite gibt. Es handelt
Doch!) sich vielmehr um einen Strang. Wir gehen jetzt daran,
diesen Strang von bösen – von mir aus auch: kriminellen –
Alle Punkte sind drin. Wir werden sie umsetzen. Elementen zu befreien. Die 14 Punkte sind die Grund-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9277
Hans-Michael Goldmann
(A) lage, um entsprechende Gesetze und Verordnungen auf Wir müssen mehrere Dinge miteinander verknüpfen. (C)
den Weg zu bringen. Wir müssen zunächst an die Eigenverantwortung, an die
moralische, ethische und soziale Verantwortung der Be-
Ich gebe Ihnen recht, dass wir über dieses Problem triebe appellieren und sie in die Pflicht nehmen. Denn
nicht nur nachdenken müssen, sondern dass wir Lösun- der Drecksack im Markt – so will ich es einmal sagen;
gen entwickeln müssen, um den Landwirten, deren Be- wahrscheinlich dürfte ich es nicht so ausdrücken – macht
triebe völlig schuldlos gesperrt wurden und die vier oder diejenigen kaputt, die ordentlich arbeiten. Das wollen
fünf Tage keine Marktteilnehmer sein durften, zu helfen. wir nicht. Darin sollten wir uns einig sein.
Das ist doch überhaupt keine Frage. Wir können durch-
aus zu einer gemeinsamen Aktion all derjenigen kom- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
men, die Sie eben genannt haben. Dazu gehören der
Bauernverband, die großen Futtermittelhersteller und Ich halte nicht sehr viel von den Ausführungen von
auch die Politik. Herrn Oppermann. Aber in dem Punkt, den er vorhin an-
gedeutet hat, gebe ich ihm recht: Es muss auch die
Ich habe an einer Stelle schon angedeutet: Wie wir Selbstreinigungskräfte der Branche geben.
den Bauern in der Milchkrise geholfen haben, könnten
wir auch angesichts dieses Problems die Weichen in (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
Richtung Hilfe für die Betroffenen stellen. GRÜNEN]: Man muss kontrollieren!)

(Zuruf des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier – Nein, nicht kontrollieren. Die Betriebe müssen unter-
[SPD]) einander ein Auge darauf haben

Wenn Sie bessere Vorschläge haben, dann nehmen wir (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sie gerne auf. Freiwillige Selbstverpflichtung! QS-Siegel!
Das ist ja super!)
Herr Kollege Miersch, lassen Sie mich noch einen
wichtigen Punkt ansprechen. Es bringt nichts, zu sagen, – Frau Höhn –, dass die Marktteilnehmer sich ordentlich
dieser und jener habe in der Vergangenheit an der einen verhalten. Wenn Sie der Meinung sind, dass man dies
oder anderen Stelle Schuld gehabt. Das ist völlig uninte- durch Gesetze und Verordnungen erreicht, dann kann ich
ressant. Wir müssen alles unternehmen, damit ein sol- nur sagen: Das wird Ihnen nicht glücken.
ches Problem nicht wieder auf uns zukommt und wir (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht mehr in eine solche schwierige Situation kommen. Aber mit freiwilligen Selbstverpflichtungen
Lassen Sie mich anknüpfen an das, was Frau Höhn auch nicht!)
(B) vorhin gesagt hat. Frau Höhn, es gibt da ein Problem: Es muss das Miteinander aller Betroffenen geben, wenn (D)
Eier von freilaufenden Hühnern enthalten mehr Dioxin wir zu Lösungen kommen wollen.
als Eier von Hühnern aus Gruppenhaltung.
Jetzt gehen wir daran und setzen diese 14 Punkte um.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist
doch eine Frechheit!) Wenn Sie dann noch weitere Punkte haben, bringen
Sie die ins parlamentarische Verfahren ein.
– Nein. Das ist so.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Haben wir gemacht!)
GRÜNEN]: Das hat damit überhaupt nichts zu
tun!) Dann gehen wir zu Ihrem Landwirtschaftsminister in
Nordrhein-Westfalen und zu dem sozialdemokratischen
Das Fleisch von freilaufenden Rindern in Niedersachsen in Rheinland-Pfalz und sagen: Jungs, kommt in die
und in Nordrhein-Westfalen enthält mehr Dioxin als das Pötte. Jetzt machen wir Lebensmittelkontrolle – rück-
Fleisch von Tieren aus der Massentierhaltung. Das müs- wärtsgerichtet und vorwärtsgerichtet! Jetzt veröffentli-
sen wir einfach zur Kenntnis nehmen. chen wir die Proben, die über dem Grenzwert sind. Jetzt
(Widerspruch der Abg. Waltraud Wolff [Wol- machen wir etwas beim Strafmaß, um die zu erwischen,
mirstedt] [SPD]) die in diesem Markt Dinge kaputtmachen.
Liebe Frau Wolff, das ist keine Diskussion über Öko- Lassen Sie uns die Dinge gemeinsam anpacken!
system, Regionalsystem und Intensivsystem. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] Sie werden alles wieder zerreden! Das haben
[SPD]) wir doch bisher immer erlebt!)
– Entschuldigen Sie bitte. Ich habe es gut; denn ich – Nein, Frau Höhn. Dieser Skandal ist nicht der Skandal
kaufe meine Lebensmittel beim Sozialen Ökohof in Pa- der lauten Blubberbotschaften.
penburg; das mache ich gerne. Allerdings habe ich auch (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen dröhnen Sie
die Zeitungen gelesen. Auf der ersten Seite einer großen auch so!)
Zeitung hatte der größte Marktteilnehmer Anzeigen ge-
schaltet, in denen er garantierte, dass seine Produkte si- Dieser Skandal muss durch konsequentes Abarbeiten der
cher sind, weil er alles selbst in der Hand hat und weil er 14 Forderungen bewältigt werden, die gestern zwischen
selbst dafür sorgt, dass dieser Bereich sauber ist. Bund und Ländern vereinbart worden sind.
9278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Hans-Michael Goldmann
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Frau Aigner, im Übrigen war das für mich überhaupt (C)
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kein Problem, weil der Bund beteiligt ist und auch in der
Das wollen Sie doch eigentlich gar nicht lö- Vergangenheit beteiligt war. Sie können sich nicht hin-
sen! Das ist der Punkt!) stellen und sagen, dass Sie damit bisher nichts zu tun
hatten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD)
Als Vertreterin des Bundesrates hat die Staatsministe-
rin Margit Conrad das Wort. Wenn Sie sich das Titelblatt für den „Rahmenplan der
Kontrollaktivitäten im Futtermittelsektor“ anschauen:
(Beifall bei der SPD) Da sehen Sie die Überschriften von Ihrem Ministerium,
von den zuständigen Bundeseinrichtungen, und Sie se-
Margit Conrad, Staatsministerin (Rheinland-Pfalz): hen natürlich auch die Wappen der Länder. Das heißt,
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Sie waren auch bisher an den Vorschriften für die Le-
Herren! Zunächst die gute Botschaft. Ja, es ist richtig: bensmittelüberwachung beteiligt und haben sie auch ein
Die Länder haben gestern zusammen mit dem Bund ein Stück weit mit zu verantworten. Wir haben das deswe-
gemeinsames Handlungskonzept auf den Weg gebracht, gen gemacht, weil wir der Meinung waren, dass sich
das in der Summe – ich sage ausdrücklich, es ist ein Pa- auch der Bund der Auditierung stellen muss; denn der
ket – und nicht in den Einzelbausteinen Veranlassung Bund ist Teil des Systems und ein Baustein in der Si-
gibt, zu sagen: Es bedeutet mehr Sicherheit für Futter- cherheits- und Warenkette. Deswegen gehören Sie dazu.
und damit auch für Lebensmittel. Es ist eine klare An- Ich habe also überhaupt kein Problem damit, dass Sie
sage an die Futtermittelhersteller, dass wir alles tun wer- vom Bund dabei sind.
den, um kriminelle Machenschaften aufzudecken und
mit höheren Strafen zu sanktionieren. Es ist auch ein Si- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja toll!
gnal an die Märkte, die ein solches Handeln dringend Das ist ja super!)
brauchen. Nur, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit hinstellen und
(Beifall bei der SPD) sagen: „Allein die Tatsache, dass der Bund dabei ist,
bürgt schon für Qualität“:
Ich wollte eigentlich wenig zur Vergangenheit sagen.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Auf die
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist recht richtige Bundesregierung kommt es an!)
so! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ein
guter Vorsatz!) Entschuldigen Sie, angesichts des Standards, den wir
(B) beim Krisenmanagement erlebt haben, kann ich das (D)
– Ja. – Aber man wird auch provoziert, wenn man auf
nicht automatisch nachvollziehen. Mehr will ich dazu,
der Bundesratsbank sitzt.
ehrlich gesagt, nicht sagen.
Eines können Sie hier nicht behaupten: dass diese ent-
scheidende gestrige Agrar- und Verbraucherministerkon- (Beifall bei der SPD – Hans-Michael
ferenz auf Initiative des Bundes, der Union oder der FDP Goldmann [FDP]: Was werfen Sie denn dem
zustande gekommen wäre. Bund vor?)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es gehört auch zur Länderzuständigkeit, die Organi-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sation der Strafverfolgungsbehörden zu überprüfen. Wir
LINKEN) haben in Rheinland-Pfalz sehr gute Erfahrungen mit
Schwerpunktstaatsanwaltschaften gemacht. Ich denke,
Das wäre Geschichtsklitterung. Aber das brauchen wir dass wir in den Ländern – ich schaue da auf einige Kol-
heute gar nicht mehr zu strapazieren. Ich bitte Sie nur: leginnen und Kollegen aus den Ländern – hier wirklich
Rüsten Sie ab! Wenn man Gemeinsamkeit einfordert, mehr tun können. Es handelt sich um eine sehr spezielle
muss man dies auch in der Diktion und im Handeln kon- Materie des Wirtschafts-, also des Fachrechts, die bei
kret unterstreichen. Schwerpunktstaatsanwaltschaften besser aufgehoben ist.
(Beifall bei der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Beim Nürburg-
Ich will etwas zu den Bausteinen der Länder sagen. ring beispielsweise!)
Wir Länder wissen sehr wohl, dass wir die Standards für Wir wollen auch eine zentrale Lebensmittelwarnplatt-
die Kontrollen verbessern müssen, und wir werden des- form einrichten. Das ist eine Forderung, deren Umset-
wegen auch länderübergreifend daran arbeiten. Dazu ge- zung überfällig ist. Es bedarf einer Realisierung; sie ist
hört auch, den Rahmenplan für die Futtermittelkontrolle bereits auf den Weg gebracht.
weiterzuentwickeln. Es gehört auch – das war ein Vor-
schlag, der von uns Ländern kam – eine unabhängige Bessere Rechtsgrundlagen für bessere Kontrolle:
und transparente Auditierung der Futtermittelkontrolle Auch das ist notwendig. 10 der 14 Punkte des Maßnah-
dazu. In der Lebensmittelkontrolle haben wir das schon menpakets sind federführend, vorrangig oder vor allem
eingeführt. Wir haben auch beschlossen, dass dazu län- vom Bund umzusetzen. Das zeigt, dass Defizite – Sie
derübergreifend zusammengesetzte Auditorenteams ein- wollen das glauben machen – nicht nur bei den Ländern
gerichtet werden unter – jawohl – Beteiligung des Bun- bestehen. Ich will natürlich nicht behaupten, dass bei uns
des. alles in Ordnung ist. Die 14 Punkte müssen aber ir-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9279
Staatsministerin Margit Conrad (Rheinland-Pfalz)
(A) gendwo auch in Bundeszuständigkeit angepackt werden, nen und Verbraucher, aber auch die Landwirtschaft von (C)
damit das ganze System verbessert wird. uns wollen. Ich denke, wir sollten nach vorne schauen.
Wir sollten vor allen Dingen nicht in der Ich-Form re-
Dazu gehört auch Folgendes: Wir brauchen neue den, sondern darüber, was jetzt gemeinsam umzusetzen
Rechtsvorschriften, etwa bessere Zulassungsvorschriften und zu tun ist.
für die Futtermittelwirtschaft. Wir brauchen Standards
für die innerbetrieblichen Kontrollen und eine Verbesse- Vielen Dank.
rung der behördlichen Kontrollen. Wir brauchen eine
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei
Wiedereinführung der Meldepflichten. Dazu gehört auch
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
der Informantenschutz: Wir wollen, dass er nicht nur bei
GRÜNEN)
Erkenntnissen in den Laboren gilt, sondern auch bei Er-
kenntnissen verantwortlicher Mitarbeiter in den einzel-
nen Betrieben; auch diese Erkenntnisse sind in Zukunft Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
den Behörden zu melden. Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Goldmann das Wort.
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
CSU]: In der Staatskanzlei von Rheinland-
Pfalz brauchen wir das auch!) Hans-Michael Goldmann (FDP):
Sehr geehrte Frau Ministerin Conrad, lassen Sie uns
Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund ein Wort darüber verlieren, ob das systembedingt ist. Ich
dessen, was ich in den letzten Monaten zu diesem Kom- glaube, uns allen geht da eine Menge durch den Kopf.
plex gehört habe, gilt: Wir müssen die Maßnahmen um- Ich fand es bei den Ausführungen von Frau Ministerin
setzen. Das ist der zweite Schritt, der wichtiger ist als Aigner sehr wohltuend – Sie haben es leider nicht er-
der erste. Ich gebe zu: Auch ich habe einige Zweifel wähnt –, dass sie sehr deutlich darauf hingewiesen hat,
– aber Sie können sie durch Taten ausräumen –, dass die dass wir im Grunde genommen das Gesamtsystem
Umsetzung zügig erfolgt. – Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft und Verbrau-
Ich komme zu einem Punkt, der zu Recht in der De- cherschutz – zukunftsfähig machen müssen. Dazu gehört
batte angesprochen worden ist. Herr Goldmann, ich für mich ein Mehrsäulensystem. Wenn wir gemeinsam
muss scharfen Widerspruch zu Ihren Äußerungen einle- darüber nachdenken, kommen wir doch zu dem Ergeb-
gen. Sie passen zur Diskussion: Sie von FDP und Union nis, dass die Problematik der Dioxinbelastung von Le-
wollen immer weismachen, dass es sich hier um den bensmitteln nichts mit dem System zu tun hat.
Einzelfall eines schwarzen Schafes im Futtermittelsektor (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
(B) gehandelt hat. Wir hangeln uns vom Lebensmittelskan- GRÜNEN]: Was? – Bärbel Höhn [BÜND- (D)
dal zum Futtermittelskandal und wieder zurück zum Le- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hat mit dem Sys-
bensmittelskandal. Wir müssen uns doch fragen: Was an tem zu tun!)
diesen Skandalen ist ein Stück weit systembedingt?
Wir hatten Skandale mit sehr geringen Mengen im Öko-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten system. Wir hatten und haben auch im verdichteten Sys-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tem Probleme; das ist überhaupt keine Frage.
Wollen wir mit der zunehmenden Industrialisierung der Ich weiß nicht, ob es zulässig ist, das zu sagen: Es
Landwirtschaft so weitermachen? Was ist uns die bäuer- gibt einen großen deutschen Hersteller in Südoldenburg,
liche Landwirtschaft noch wert, die jetzt das Opfer ist? der Anzeigen geschaltet hat – er ist der größte Marktteil-
Deswegen hatten wir gestern eigentlich vor – das können nehmer –, wonach es dieses Problem in seinem System
Sie nachlesen –, dass Länder und Bund gemeinsam ein nicht gibt, weil er sein Futter aus Südamerika holt, weil
Konzept auf den Weg bringen, sodass als eine der Kon- er eigene Schiffe hat, weil er einen eigenen Hafenum-
sequenzen aus dem Skandal eine entsprechende Debatte schlagsplatz hat, weil er eigene Lastwagen hat, weil er
forciert wird. Union und FDP haben dies gestern ge- eine eigene Futtermittelfirma hat – nebenbei, er hat auch
meinsam abgelehnt, nachzulesen in einer Protokollerklä- noch eine Arzneimittelfirma – und weil er eigene Ver-
rung der SPD-geführten Länder. marktungsstränge hat. Er hat die besten und die sichers-
ten Produkte, und er hat die größte Nachfrage auf dem
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
deutschen Markt. Er hat auch zufriedene Kunden.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter
Bleser [CDU/CSU]: Wo ist denn der Vor- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und glückliche
schlag? Sie haben noch keinen einzigen Vor- Hühner!)
schlag gemacht! Sie fordern nur eine Diskus-
sion! – Gegenruf des Abg. Friedrich Ich warne entschieden davor, den schlimmen Markt-
Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: teilnehmern in diesem Bereich, den kriminellen Elemen-
Das stimmt doch nicht! Das kannst du nachle- ten, auch noch Rückendeckung zu geben, indem man
sen!) sagt, dass das systembedingt ist. Nein, das ist kriminell,
das ist ethisch nicht zu verantworten, das ist moralisch
Wir haben dennoch einen wichtigen Aufschlag ge- nicht zu verantworten, das ist wirtschaftlich nicht zu ver-
macht. Wir alle sind gehalten – jeder und jede in seiner antworten, das ist unter Tierschutzgesichtspunkten nicht
oder ihrer Verantwortung –, die Maßnahmen konsequent zu verantworten, und das hat mit dem System überhaupt
umzusetzen. Das ist das Signal, das die Verbraucherin- nichts zu tun. Das hat vielmehr etwas mit kriminellen
9280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Hans-Michael Goldmann
(A) Elementen zu tun, die wir aus dem Markt herausbekom- Mechthild Heil (CDU/CSU): (C)
men müssen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen. Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Widmen wir uns doch zunächst
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
einmal den Fakten. Was sind die Tatsachen? Worüber re-
CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Dann
den wir eigentlich? Dioxine kommen überall in der Na-
bräuchten wir ja nur einen Staatsanwalt, wenn
tur vor.
das stimmen würde!)
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Jetzt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kommt die Verharmlosungsgeschichte!)
Frau Conrad, Sie möchten antworten? – Bitte schön. Sie werden unwillkürlich von Mensch und Tier täglich
aufgenommen. 95 Prozent der Dioxinbelastung kommt
Margit Conrad, Staatsministerin (Rheinland-Pfalz): aus der Nahrung. Die bedeutendsten Quellen in unserer
Sehr verehrter Herr Abgeordneter, bei dem Beispiel, Nahrung sind Milch und Milchprodukte, mit großem
das Sie angeführt haben, mag das ja funktionieren. Das Abstand gefolgt von Fisch und Fleisch. Nur 10 Prozent
ist aber kein typisches Beispiel für die deutsche Land- machen Hühnereier aus.
wirtschaft heute, und im Übrigen ist das meines Erach-
tens auch kein Beispiel dafür, wie es in Zukunft überall Die Dioxinbelastung ist seit Jahrzehnten rückläufig.
aussehen sollte. Das ist das Erste. Heute ist zum Beispiel ein Drittel weniger Dioxin in der
Milch als vor 20 Jahren. Der Grund: Durch moderne Fil-
Das Zweite ist: Ich habe nicht behauptet, dass es sich tersysteme und optimierte Produktionsprozesse gelangt
hier nicht um kriminelle Täter handelt. Das werden die weniger Dioxin in die Luft, zum Beispiel bei Müllver-
Staatsanwaltschaften wahrscheinlich auch herausfinden. brennungsanlagen.
Was wir aber registrieren müssen, ist, dass auf den ein-
zelnen Landwirten, auf den einzelnen Produzenten mitt- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
lerweile ein enormer Druck liegt. Wir haben das gerade Wegen des Aufstands der Bürger für mehr Fil-
erst bei der Diskussion über die Milchpreise erlebt. ter!)

(Peter Bleser [CDU/CSU]: Was schlagen Sie 1 Kilo Müll, im Garten verbrannt, setzt so viel Dioxin
vor?) frei wie 10 Tonnen Müll in einer Müllverbrennungsan-
lage.
Mittlerweile verfügt der Einzelhandel über viel Markt-
macht, auch gegenüber den Produzenten. Darüber muss (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Was? –
man doch einmal reden können. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
(B) GRÜNEN]: Deswegen ist es ja auch verbo- (D)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist so pau- ten!)
schal formuliert! Das ist Quatsch!)
Vieles ist in der Vergangenheit getan worden, um die
Wir wissen, unter welchem finanziellen Druck die ein- Belastung durch Dioxin zu reduzieren. Manches kann
zelnen Betriebe mittlerweile stehen, und wir wissen, man aber nicht ändern. Ich komme aus einer Region, de-
dass immer billiger produziert werden muss. Das bedeu- ren Böden stärker mit Dioxin belastet sind als alle ande-
tet immer mehr Hochleistung. Das sind regelrecht Hoch- ren Regionen in Deutschland. Grund dafür sind die Vul-
leistungskühe. Das sind doch keine Legehennen mehr. kanausbrüche, die sich vor Tausenden von Jahren
Heute braucht man fast Legemaschinen, um auf dem ereignet haben.
Markt noch mitmischen zu können.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!)
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Quatsch!)
Eine Nullbelastung ist mit der Natur also nicht zu ma-
Hier stoßen wir an Grenzen. Darum geht es uns in der chen. Wer das behauptet, meine sehr verehrten Damen
Debatte. Damit wollen wir nicht davon ablenken, dass es und Herren von der Linken, der lügt. Deshalb werden
sich dabei um einen kriminellen Akt handelte, aber wir Mensch und Tier immer mit Dioxin belastet sein, und sie
wollen in diesem Zusammenhang wenigstens die Frage werden über die Nahrung immer Dioxine aufnehmen.
stellen, was systembedingt ist. Das ist doch kein Einzel-
fall. Das mag jetzt zwar einer sein, aber morgen passiert (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
der nächste. Darum geht es. Den Auftakt zu dieser Dis- Nicht hinnehmbar ist allerdings, dass wir das unnötig
kussion wollen wir damit verbinden. tun, dass unnötig Dioxin in unseren Körper gelangt. Des-
Vielen Dank. wegen müssen wir das, wenn wir es verhindern können,
auch verhindern.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: Woher das Dioxin in der Fettsäure von Harles und
Sie machen nicht einen Vorschlag!) Jentzsch kommt, wissen wir noch nicht. Wir wissen aber,
wohin geliefert wurde. Vor fünf Jahren wäre es noch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nicht möglich gewesen, diese Lieferketten so schnell
aufzudecken. Wir wissen auch, dass kriminelle Energie
Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die
am Werk war. Man hat, vorsätzlich oder nicht – das wird
CDU/CSU-Fraktion.
die Staatsanwaltschaft entscheiden –, Fette, die nicht für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Fütterung zugelassen sind, ins Futter gemischt. Ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9281
Mechthild Heil
(A) einzelner Futtermittelpanscher schädigte Hunderttau- Produkte, die vollkommen unbelastet sind, erleiden ei- (C)
sende unschuldiger Nutzer. nen herben Preisverfall, wirtschaftliche Existenzen sind
bedroht, Staaten verhängen Importverbote, und der
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Markt für Schweinefleisch ist komplett zusammengebro-
Na super! Verharmlosen und herunterspielen! chen. Was tun Sie von den Grünen und von der SPD? Sie
Das machen Sie immer wieder! Sie sagen stän- schüren die Verunsicherung der Verbraucher.
dig: Es war nur ein einzelner Betrieb! Nur
nicht die Systemfrage stellen! – Weiterer Zuruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ach was! Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Wir helfen,
Da steckte doch System dahinter!) aufzuklären!)
Bauern und Verbraucher sind die Opfer dieser kriminel- Mit Aufklärung und Information geben Sie sich nicht ab.
len Machenschaften eines einzelnen Panschers.
(Iris Gleicke [SPD]: Leugnen verunsichert!)
Nun rufen wir alle nach mehr Kontrollen. Kontrollen
sind gut und wichtig. Sie sagen nicht, dass Dioxin in Eiern vermehrt im
Falle der Freilandhaltung von Hühnern vorkommt. Sie
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Kontrollen? sagen auch nicht, dass bestimmte Fischarten besonders
Ich denke, die brauchen wir jetzt gar nicht viel Dioxin einlagern.
mehr! Oder etwa doch?)
(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Das ist rich-
Wir sind dankbar, dass unsere Ministerin Frau Aigner tig! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!
mit ihrem Aktionsplan die nötigen Voraussetzungen da- Zum Beispiel Ostseefisch!)
für schafft. Aber Kontrollen allein helfen gegen krimi-
nelle Machenschaften nicht. Sie schüren die Verunsicherung der Verbraucher, und Sie
benutzen die Verbraucher für Ihre eigenen ideologischen
In Baden-Württemberg gibt es auf 1 000 Betriebe nur Zwecke.
einen Kontrolleur, in Niedersachsen sind es zwölf. Den-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
noch kam es in Niedersachsen zu diesem Skandal. Frau
Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie ver-
Conrad, ich finde es sehr mutig, dass Sie hier ans Red-
harmlosen kriminelle Machenschaften!)
nerpult treten, obwohl Sie ganz genau wissen müssten,
dass 80 Prozent der Kontrolleure in Rheinland-Pfalz die Das Schlimmste, was Sie tun, ist Folgendes: Sie ma-
Behörden nach ihrer Ausbildung verlassen und in die chen keinen Unterschied zwischen kriminellen Pan-
Wirtschaft gehen, weil ihnen von der Wirtschaft viel at- schern und Landwirten und auch keinen Unterschied
(B) traktivere Angebote gemacht werden. Frau Conrad, Sie zwischen kriminellen Panschern und Tierhaltern. (D)
und Ihr Ministerpräsident Beck hatten nun 16 Jahre lang
die Gelegenheit, dies zu ändern. Was haben Sie getan? (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das ist hier
Nichts. doch keine Vorlesung, Frau Kollegin! –
Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bitte? Unmöglich!)
Ulrich Kelber [SPD]: Um den Tarifvertrag der
Länder auf Bundesebene zu ändern? Frau Heil, Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe:
wissen Sie eigentlich, worüber Sie reden? (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Wo bleiben
Nach einem Jahr im Bundestag müsste man ei- Ihre Vorschläge?)
gentlich wenigstens gewisse Grundkenntnisse
des deutschen Rechtssystems haben!) Sie werfen die Landwirte und die kriminellen Panscher
in einen Sack und schlagen drauf.
Gegen kriminelle Energie ist kein Kraut gewachsen.
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: So ein Un-
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das war es sinn! Das ist doch jämmerlich, was Sie da er-
dann wohl für die Veterinärämter!) zählen!)
Wir sind für Kontrollen, wir sind für Eigenkontrollen, Auf diese Weise versuchen Sie, einen Vorteil für sich he-
und wir sind für Kontrollen von Staats wegen. Aber wir rauszuholen.
wollen keinen Kontrollstaat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Noch einmal: Bauern und Verbraucher sind die Opfer
der kriminellen Machenschaften eines einzelnen Futter- Frau Höhn hat bereits darauf hingewiesen, dass Sie
mittelpanschers. von einer Systemfrage sprechen. Ich zitiere Ihre Kolle-
gin Ulrike Höfken; sie ist Wahlkämpferin in Rheinland-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfalz, Grüne und stellvertretende Vorsitzende des Aus-
Ach was! Das konnten Sie vor 15 Jahren er- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
zählen! Heute geht das nicht mehr! Am besten cherschutz. Sie sagte:
essen Sie gleich noch ein Dioxinei, um zu zei-
gen, wie harmlos das ist! – Waltraud Wolff Die Ursachen für die Verseuchung liegen in der
[Wolmirstedt] [SPD]: So ein Unsinn! Das Struktur und der zunehmenden Industrialisierung
glaubt Ihnen doch kein Mensch mehr!) der Landwirtschaft …
9282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Mechthild Heil
(A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Ja! Da hat sie doch auch recht! Genau das wol- Ach was! Es war die Methode Bio, die all das
len Sie aber nicht wahrhaben!) erst aufgedeckt hat! Vor allem waren davon
doch die konventionellen Betriebe betroffen!
Das ist falsch, und es ist gefährlich, so etwas zu sagen. Vielleicht informieren Sie sich erst einmal, be-
Die Ursachen liegen in der kriminellen Handlung eines vor Sie hier etwas Falsches erzählen!)
einzelnen Betriebes.
Wir unterstützen Ökobetriebe genauso wie herkömmlich
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wirtschaftende Betriebe. Denn überall können Futtermit-
Nein! Das ist eben falsch, liebe Frau Heil! Das tel lange Wege über Händler, Zwischenhändler, Trans-
ist wohl Frau Heils Märchenstunde!) porteure und Verarbeiter zurücklegen.
– Frau Höhn, es wäre schön, wenn Sie Folgendes bestä-
Wir, die CDU/CSU, spielen auch keine kleinen Be-
tigen würden: Die Ursachen haben nicht die Tausende
triebe gegen große Betriebe aus.
Landwirte und Bauern zu verantworten, die sich Tag für
Tag um ihre Tiere kümmern und ihr Land bestellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nein! Ihr macht die kleinen gleich platt!)
Die Bauern sind Opfer Ihrer Politik! Das ist
der Punkt! Und immer mehr Bauern merken Auch hier schützt die schiere Größe eines Betriebes
das! Das ist Ihr Problem! – Waltraud Wolff nicht vor Kriminalität. Die Betriebsgrößen sind sehr un-
[Wolmirstedt] [SPD]: Sprache ist eigentlich terschiedlich; das begrüßen wir. Es ist einfach falsch, zu
die logische Aneinanderreihung von Worten! behaupten, dass in größeren Strukturen sicherere Le-
Bei Ihnen ist das anders!) bensmittel produziert werden, Frau Höhn. Sprechen Sie
darüber vielleicht einmal mit einem Betrieb, der über
Zumindest wenn ich die Aussage von Frau Höfken aus
größere Strukturen verfügt und Lebensmittel produziert.
Rheinland-Pfalz beurteile, muss ich feststellen: In
Rheinland-Pfalz sind Grün und Rot nicht zu wählen. Es ist auch erschütternd, zu sehen, dass Sie, Frau
Höhn, Ihre Theorien am grünen Tisch entwickeln, und
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
bei jedem Wort Ihres Vortrags festzustellen, dass Sie von
GRÜNEN]: Was soll denn das jetzt? Macht
der Praxis und vom Wirtschaften keine Ahnung haben.
das doch in Rheinland-Pfalz aus, aber nicht
hier! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Jetzt bitte eine Zusammenfassung!) Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
(B) Wir als CDU/CSU spielen konventionell wirtschaf- GRÜNEN]: Ich glaube, es ist genau umge- (D)
kehrt!)
tende Betriebe nicht gegen Ökobetriebe aus;
(Ulrich Kelber [SPD]: Oh nein! Nur durch die Arbeitsteiliges Wirtschaften und die Konzentration auf
Kürzung der Fördermittel!) eine Kernkompetenz sind in der Wirtschaft gang und
gäbe, und das sollten wir auch der Landwirtschaft bzw.
denn Vielfalt ist uns wichtig. den Bauern ermöglichen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Wann haben
Sie das letzte Mal eine Kuh gemolken?)
Kriminelle Energie kann jeden Betrieb treffen, und jeden
hat sie schon getroffen. Doch Frau Künast – sie ist leider Wir, die CDU/CSU, wollen erschwingliche Lebens-
nicht mehr hier – mittel, damit sie sich jeder leisten kann. Wir wollen Le-
bensmittel, die sowohl nach den neuesten wissenschaft-
(Ulrich Kelber [SPD]: Frau Künast sucht
lichen als auch den alten erprobten Erkenntnissen
wahrscheinlich Frau Klöckner!)
hergestellt sind: mit dem höchsten Stand an Hygiene und
hat das wohl vergessen. Sie müsste eigentlich aus Scha- so arm an Schadstoffen, wie es eine moderne Wirtschaft
den klug geworden sein. Auch unter Landwirtschafts- nur tun kann. Wir müssen weg von der Ideologie und hin
ministerin Künast gab es Lebensmittelskandale. zu wissenschaftlich basierten Aussagen. Dass das funk-
tioniert, hat unsere Ministerin Ilse Aigner eindrucksvoll
(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Oh ja! Jede bewiesen.
Menge!)
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ach was! –
Die Methode Bio hat in ihrer Amtszeit ihre Unschuld Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)
verloren.
Wir fangen nicht bei null an.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ach was! Quatsch! – Johannes Singhammer (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Sie fangen bei
[CDU/CSU]: So ist es!) minus zehn an!)
Abertausende nicht notgeschlachteter Nitrofen-Hühner Heute geht es darum, ein gutes System weiterzuentwi-
wurden ein Beispiel dafür, dass es ohne Kontrollen auch ckeln. Mit dem Aktionsplan der Ministerin Aigner wer-
bei Bioeiern zu einem Lebensmittelskandal kommen den wir die Sicherheit bei Futtermitteln – egal welcher
kann. Herkunft – erhöhen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9283
Mechthild Heil
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Linke fordert deshalb eine schnellstmögliche voll- (C)
Ulrich Kelber [SPD]: Beim Phrasenbingo ha- ständige Aufklärung der gesamten Vorgänge, weil nur
ben Sie auf jeden Fall mal gewonnen!) dann die betroffenen Bauern und Betriebe, die an diesem
Skandal nicht schuld sind, dadurch aber hohe Einnahme-
Der Verbraucher will Vertrauen in die Unbedenklichkeit
verluste haben, nicht Konkurs anmelden müssen. Wir
seiner Nahrungsmittel haben können, und das will ich
brauchen eine Entschädigungsregelung für diese Be-
auch. Wir wollen das Nötige und Mögliche dafür tun.
Wir wollen die Zulassungspflicht anstelle der heutigen triebe.
einfachen Registrierungspflicht für Betriebe. Wir wollen (Beifall bei der LINKEN)
die Anlagen trennen. Da, wo morgens für die Industrie
produziert wird, dürfen nicht nachmittags Lebensmittel Die Politik muss einen Fonds schaffen, weil eine Haft-
hergestellt werden. pflichtversicherung in diesem Fall nicht zahlen wird.
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir stellen die Rede Gesunde Lebensmittel zu bezahlbaren Preisen be-
von Frau Heil auf unsere Website!) kommen wir nur durch klare gesetzliche Vorgaben. Die
Erzeugung unseres Essens vom Acker bis zum Teller
Wir wollen, dass bei der Lieferung von Futterfetten das oder zumindest bis zur Ladentheke muss nachvollzieh-
Analyseergebnis direkt mitgeliefert wird. Also: Ohne bar sein und nach einheitlichen Regeln überwacht wer-
Zeugnis darf kein Lkw vom Hof fahren. den. Wir brauchen auch eine neue Denke und eine Ver-
ständigung an der Ladentheke.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Heil, kommen Sie bitte zum Ende. Sichere Lebensmittel sollen unter fairen Bedingungen
erzeugt werden. Die Produzenten müssen vor ruinösen
Mechthild Heil (CDU/CSU): Bedingungen globalisierter Agrarmärkte geschützt wer-
Es wäre unehrlich, zu sagen, dass es einen 100-pro- den.
zentigen Schutz gibt. Wir von der CDU machen verant- (Beifall bei der LINKEN)
wortliche Politik, wir verharmlosen nicht,
Das hat natürlich seinen Preis, Frau Heil. Die Aufgabe
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist der Politik ist es, sicherzustellen, dass unser Essen be-
ganz neu!) zahlbar bleibt und alle Menschen es bezahlen können.
wir spielen aber auch nichts hoch. Wir stehen auf der Damit bin ich bei dem Punkt, dass ein menschenwürdi-
Seite der Verbraucher und der Erzeuger der landwirt- ges und existenzsicherndes Einkommen die zentrale Vo-
schaftlichen Produkte. raussetzung dafür ist.
(B) (D)
Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael
Goldmann [FDP]: Hartz IV!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Linke fordert deshalb, dass die Bundesregierung die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ursachen des Dioxinskandals bekämpft und nicht an den
Das Wort hat Kollegin Karin Binder für die Fraktion Symptomen herumdoktert.
Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Dazu gehört erstens: Der Bund muss noch intensiver
und noch besser mit den Ländern zusammenarbeiten.
Karin Binder (DIE LINKE): Der jeweils beste Kontrollstandard und die besten Erfah-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rungen in den Bundesländern sind deutschlandweit zum
Meine Damen und Herren! Seit vier Wochen wissen wir Maßstab zu machen.
von diesem Dioxinskandal, und seit vier Wochen befas-
sen wir uns damit. Seit vier Wochen stehen die Verbrau- (Beifall bei der LINKEN)
cherinnen und Verbraucher aber im Regen. Frau Aigner,
Durch die Koordination auf der Bundesebene wird die
Sie haben die Menschen im Regen stehen lassen. Erst
Verantwortung der Länder selbstverständlich nicht er-
nachdem die Länder Sie an den Verhandlungstisch genö-
tigt haben, kommt die Sache ins Laufen. Die Kompe- setzt.
tenzrangeleien zwischen Bund und Ländern lösen die Zweitens. Für gesunde und sichere Lebensmittel
Probleme nicht; Verbraucherschutz sieht anders aus. brauchen wir eine wirksame Kontrolle in der gesamten
(Beifall bei der LINKEN) Erzeugungskette vom Acker bis zur vorher genannten
Ladentheke.
Der designierte Landwirtschaftsminister von Nieder-
sachsen, Gert Lindemann, schließt eine nochmalige Aus- Herr Goldmann, ich muss sagen: Ich bin entsetzt. Sie
weitung dieses Problems nicht aus. Es geht hier definitiv glauben trotz dieses Skandals und der Probleme, die auf
nicht nur um einzelne schwarze Schafe. Das ist der ei- dem Tisch liegen, noch immer an die Eigenkontrollen
gentliche Skandal. Hier läuft etwas grundlegend falsch, der Betriebe und die Selbstheilungskräfte der Branche.
und daran ist die Regierungspolitik zumindest mit Ich verstehe das nicht.
schuld.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Darüber bin
(Beifall bei der LINKEN) ich nicht traurig!)
9284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Karin Binder
(A) Kontrollen der Betriebe und auch Prüfsysteme wie Karin Binder (DIE LINKE): (C)
das QS-System, das unter anderem für die Prozesszerti- Jawohl, ich komme zum letzten Satz. – Frau Aigner,
fizierung notwendig ist, sind nach strengen gesetzlichen Sie blockieren seit einem Jahr die Erneuerung und die
Vorgaben zu regeln. Anders geht es nicht. Verbesserung dieses Gesetzes.
(Beifall bei der LINKEN) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Stimmt
alles nicht!)
Prüfe ich, prüfe ich nicht, was prüft man, wie genau
nimmt man es: Die Antwort auf all diese Fragen darf Das fällt Ihnen im Augenblick wirklich auf die Füße.
nicht dem Gutdünken der Privatwirtschaft überlassen
werden. Deshalb hilft es auch nicht, der Privatwirtschaft Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
diese Fragen zu stellen, sondern wir hier haben das Pro- Frau Binder.
blem durch Vorgaben zu lösen.
(Beifall bei der LINKEN) Karin Binder (DIE LINKE):
Wir sind gespannt, wie und wann Sie mit dem Ver-
Zertifizierer wie die DEKRA müssen Verdachtsfälle braucherschutz ernst machen.
und Grenzüberschreitungen an die Behörden melden.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben, Danke schön.
die die Behörden auf Missstände aufmerksam machen, (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder
müssen zum Beispiel nach dem Vorbild von Großbritan- [CDU/CSU]: Abmahnung!)
nien als Whistleblower wirksam gesetzlich geschützt
werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Gnädige Friedrich Ostendorff hat jetzt das Wort für Bünd-
Frau, fahren Sie einmal nach Großbritannien nis 90/Die Grünen.
und gucken Sie sich das an! – Gegenruf des
Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN]: Wir haben schon gedacht, du sei- NEN):
est krank!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrte Frau Aigner, ja, Sie haben, wenn auch etwas zöger-
Drittens. Unser Essen muss sauber bleiben. Die Über- lich, mittlerweile viele wichtige Forderungen verkündet
prüfung jeder Futtercharge auf Schadstoffe vor der Wei- bzw. von Ihrem grünen Kollegen Remmel aus Nord-
terverarbeitung kann sofort zur Pflicht gemacht werden. rhein-Westfalen abgeschrieben. Über die Quelle des (D)
(B)
Viertens. Statt für den Export von Schweinefleisch zu Dioxins können Sie bis heute aber gar nichts sagen, Frau
werben, brauchen wir eine finanzielle Förderung der re- Aigner. Laut Focus hat das Ministerium wesentlich mehr
gionalen Kreisläufe. Dadurch wird eine größere Chance verunreinigte Futtermittelchargen an die EU gemeldet,
auf Lebensmittelsicherheit und im Verdachtsfall auf als Sie uns mitgeteilt haben. Erst hieß es, die Panscherei
schnelle Untersuchungsergebnisse eröffnet. Deshalb habe im November begonnen, dann hieß es: im März.
müssen wir hier die Entwicklung schneller und sicherer Jetzt hören wir: schon lange davor.
Nachweismethoden wirklich gezielt fördern. In Schleswig-Holstein wurden Giftproben vertauscht.
Fünftens. Das Verbraucherinformationsgesetz – Das Landesamt LAVES in Oldenburg verheimlichte bei
Ihrem Besuch vor Ort die Verstrickung des Raiffeisen-
Unternehmens in Damme. Der niedersächsische Staats-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sekretär Ripke hält Sie öffentlich zum Narren. Die Fut-
Frau Kollegin. termittelwirtschaft – ich glaube, Kollege Bleser, das gilt
auch für Ihre Raiffeisen-Waren-Zentrale Rhein-Main,
Karin Binder (DIE LINKE): deren Aufsichtsratsvorsitzender Sie sind – lässt sich wei-
– ich bin gleich fertig – muss endlich verbessert werden. ter bitten, auch wenn sie gerade mit ihrem QS-System
Die Erzeugungskette von Lebensmitteln muss auch für katastrophal gescheitert ist.
die Kundinnen und Kunden nachvollziehbar sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: KEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: Absolut sau-
Frau Kollegin. ber, Herr Kollege!)
Der Skandal wächst Ihnen hoffnungslos über den
Karin Binder (DIE LINKE): Kopf, Frau Ministerin. Vor allem aber weichen Sie der
entscheidenden Frage weiter aus. Der eigentlichen poli-
Daten der Behörden und Betriebe sind keine Betriebs-
tischen Frage sind Sie in den Tagesthemen, im heute-
geheimnisse, sondern wichtige Verbraucherinformatio-
journal und auch heute wieder ausgewichen. Sie flüch-
nen.
ten sich in technische Details, wenn Sie eigentlich die
entscheidende Frage stellen müssten. Wenn Sie das tun
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: würden, hätten Sie aber in Ihren eigenen Reihen die
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Ende. größten Probleme. Niemals würden Vertreter des Bau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9285
Friedrich Ostendorff
(A) ernverbandes auf der CDU/CSU-Bank zulassen, dass Sie sunde Branche, ungesunde Produkte: So ist es, Michael (C)
diese Frage stellen. Zu eng ist Ihre Partei mit der Agrar- Goldmann.
lobby verbandelt und verfilzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sowie bei Abgeordneten der SPD)
neten der SPD) Frau Aigner, Ihr Problem ist, dass Sie auf das falsche
Spätestens mit der Genossenschaft in Damme hat der System und auf die falschen Leute gesetzt haben. Sie
Dioxinskandal die Saubermänner in Ihren Reihen er- lassen Ihren Exportstaatssekretär Müller um die Welt
wischt, von denen man auch viele auf den Funktionärs- reisen, um Deutschland zum Exportweltmeister von Bil-
listen von Raiffeisen, Agravis, Bauernverband und QS ligfleisch zu machen. Das Geschäft wird mit einer bisher
wiederfindet. nicht dagewesenen Veranstaltung, der Welt-Schweine-
fleisch-Konferenz 2011 in Deutschland, angekurbelt. Ihr
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erklärtes Ziel ist die Verdoppelung der Fleischexporte
NEN]: Hört! Hört!) binnen fünf Jahren.
Die entscheidende Frage lautet, ob wir in der Land- Man fragt sich, ob es ein Ergebnis der Chinareisen
wirtschaft heute mit der Industrialisierung, Exportorien- war, dass jetzt auch noch chinesische Vitaminmischun-
tierung und Massentierhaltung, auf deren Verbreitung gen mit dem verbotenen Antibiotikum Chloramphenicol
Sie von der Regierungsbank und aus der Regierungsko- im Futter gefunden wurden. Zu Ihrer Exportideologie
alition tagtäglich hinarbeiten, auf dem richtigen Weg gehören logischerweise auch massenhafter Sojaimport,
sind oder ob uns nicht erst dieses von der Gier getrie- massiver Ausbau der Massentierhaltung und Fleischpro-
bene System der Agrarfabriken in die Sackgasse geführt duktion auf billigstem Niveau. Dabei entsteht der An-
hat. reiz, Futter auf Teufel komm raus billig zu beschaffen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sei es noch so risikobehaftet. Das ist kein Unfall, son-
sowie bei Abgeordneten der SPD) dern innere Logik.
Man muss das nicht so machen. Wir verfüttern zu-
Das ist die entscheidende Frage, Frau Ministerin, zu
hause in unserem Betrieb keines dieser Futtermittel.
der Sie auch heute nichts gesagt haben.
„Billig und gut passt selten unter einen Hut“ sagt das
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Unverschämt- Katholische Landvolk. Recht hat es!
heit! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sind doch auch kein Wohltäter!) sowie bei Abgeordneten der SPD)
(B) Die Bürgerinnen und Bürger haben diese Frage bereits (D)
Haben Sie endlich den Mut, Frau Ministerin, sich ge-
beantwortet. Wer dieser Tage mit den Menschen spricht, gen die Agrarlobby zu stellen! Wahrheit und Klarheit,
den überrascht das Niveau, auf dem die Verbraucherin- Frau Ministerin, vertragen sich nicht mit Seilschaften
nen und Verbraucher, die angeblich alles billig wollen, und Klüngelei! Knüpfen Sie an die Agrarwende Ihrer
wie Sie immer sagen, heute diskutieren. Die Verbrauche- Vorvorgängerin Frau Ministerin Künast an! Unterstützen
rinnen und Verbraucher sind informiert. Sie glauben das Sie die CDU Brandenburg, die eine Wende vollzogen hat
Märchen von den einzelnen schwarzen Schafen nicht und für die bäuerliche Landwirtschaft streitet! Die Men-
mehr, Michael Goldmann. Sie glauben, dass die Herde schen erwarten jetzt die Agrarwende 2.0. Deshalb gehen
grundsätzlich schwarz ist, Frau Heil von der CDU/CSU. die Menschen am Samstag hier in Berlin am Reichstag
Verharmlosung hilft an diesem Punkt nicht mehr weiter. auf die Straße unter dem Motto „Wir haben es satt!“.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nehmen Sie, die schwarz-gelben Lobbyisten, dies bitte
ganz persönlich!
Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind infor-
miert. Sie sind auf dem Stand der Dinge und sagen ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
deutig: Dieses System vergiftet unsere Nahrung, macht sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
uns Konsumenten zur Müllkippe, zerstört unsere Um- KEN)
welt und hält das Mitgeschöpf Tier in unerträglichen
Verhältnissen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Johannes Singhammer hat jetzt das Wort für die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU-Fraktion.
Es degradiert es zum Produktionsfaktor, der mit demsel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ben Müll gefüttert werden kann wie ein Kraftwerk. neten der FDP)
Hauptsache billig: Das ist die Logik der Agrarindustrie.
Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn wir alle
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Jahre wieder Lebensmittel als Sondermüll entsorgen
müssen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wer Dioxingift in das Futter für Hühner oder
„Branche gesund. Produkte gesund“ lautet das zyni- Schweine vorsätzlich hineinmischt, gehört eingesperrt.
sche Motto des Bauernverbands auf der Grünen Woche, Das wollen die Menschen in Deutschland. Was die Men-
die übermorgen beginnt. Das System verrät sich schein- schen in Deutschland nicht wollen, ist, dass der Skandal
bar selbst. Gesunde Branche, gesunde Produkte? – Unge- verharmlost oder kleingeredet wird
9286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Johannes Singhammer
(A) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
NEN]: Das hat Ihre Kollegin Heil getan!) Durch Ihre Politik sind die Opfer geworden!)
und dass Parteien übereinander herfallen. Herr Ostendorff, und die deshalb nichts verdienen können, obwohl sie da-
die Menschen in Deutschland wollen vor allem nicht, für keine Verantwortung tragen. Wer jetzt versucht, Bau-
dass mit der tiefen Verunsicherung und den Ängsten ern aufgrund bestimmter Produktionsbedingungen in die
Wahlkampf betrieben wird. Nähe des Generalverdachts einer Mitschuld zu schieben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch!)
Ihr wollt nur nichts ändern! – Friedrich
Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der handelt in einem außerordentlichen Maße infam.
Frau Heil!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Ostendorff, Sie sind nur der Stellvertreter von Gruppen von Opfern und Geschädigten gegeneinan-
Frau Künast, der sich zu Wort meldet. Frau Künast ist der auszuspielen – seien sie Verbraucher oder bäuerliche
leider nicht mehr da, Erzeuger –, ist schlimm; aber Bauern, die jetzt mit ihren
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Familien um ihre Existenz bangen müssen, weil sie ihre
GRÜNEN]: Ich bin der landwirtschaftspoliti- Eier oder Hühner nicht verkaufen dürfen oder weil sie
sche Sprecher!) gar keinen Käufer mehr finden

obwohl sie in der Öffentlichkeit das große Wort geführt (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
hat. Deshalb muss ich auf sie eingehen. Frau Künast hat Dann machen Sie doch eine andere Agrarpoli-
eine gewisse Skandalerfahrung; denn mindestens zwei tik!)
Dioxinskandale haben ihren Weg als Ministerin gepflas-
– hören Sie genau zu –, auch noch mit hämischen Mit-
tert. Wir brauchen schärfere Kontrollen für Futtermittel
schuldvorwürfen zu begegnen, das muss ein Ende haben.
und Lebensmittel. Dafür soll die Zuständigkeit des Bun-
des gestärkt werden. – Von wem stammt dieses Zitat? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wann sind diese Forderungen erhoben worden? Dieses Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zitat stammt aus der Welt am Sonntag von 2002 – das Dann machen Sie doch eine andere Agrarpoli-
war also vor rund neun Jahren – und wird der damaligen tik, damit die Bauern keine Opfer mehr sind
Bundesministerin Künast zugeschrieben. Wer die jetzige und produzieren können!)
(B) Agrarministerin kritisiert, weil sie das tut, was Frau Nachhaltiges Wirtschaften ohne Schielen auf den (D)
Künast selber nie geschafft hat – sie ist nie über Ankün-
digungen hinausgekommen; sie hat sich als die Heilige schnellen Euro wird nirgendwo anders so konsequent
Johanna der Dioxinbekämpfung aufgespielt und endete durchgeführt wie bei Familienbetrieben, die in Genera-
dann als Trümmerfrau der Schadensbegrenzung –, sollte tionenfolge Bauernhöfe bewirtschaften und die aus die-
ruhiger sein und diese Debatte verfolgen. sem Grund das größte Interesse daran haben, dass die
nachfolgende Generation auf Böden wirtschaften kann,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die in Ordnung sind.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was hat Frau Aigner denn erreicht? Nichts! (Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich
Keine zusätzlichen Kontrollen!) Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nach sieben Generationen bei mir zu Hause! –
Ministerin Aigner hat nicht nur ein 10-Punkte-Ak- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tionsprogramm aufgelegt, sondern hat gestern auch mit Deshalb wählen die zunehmend nicht mehr die
den Bundesländern 14 entscheidende Schritte für mehr CDU/CSU! Genau die Bauern verlieren Sie
Lebensmittelsicherheit vereinbart. Nur eine von vielen doch!)
neuen Regelungen ist: Die Länder treten in einen vom
Bund koordinierten Qualitätswettbewerb ein. – Das ist Wir ziehen Konsequenzen nach dem Grundsatz „Ta-
ein ganz entscheidender Fortschritt. Dafür sage ich unse- ten statt Worte“, und das in Gemeinsamkeit mit den Län-
rer Ministerin herzlichen Dank. dern. Unser Ziel – und das ist schwierig genug – heißt:
Vertrauen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zurückgewinnen. Das wird ein langer Weg werden.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Freiwillige Selbstverpflichtung der Länder! Ein chinesisches Sprichwort lautet: Ein langer Marsch
Super!) beginnt mit dem ersten Schritt. Die Bundesministerin hat
gestern gemeinsam mit den Ländern 14 Schritte unter-
Herr Ostendorff, es gibt eine große Zahl von Opfern nommen, die ab sofort gelten. Unser gemeinsames Ziel
dieses Skandals. Da sind zunächst Millionen Verbrau- muss es sein, dabei mitzuhelfen, damit diese Schritte ge-
cherinnen und Verbraucher, deren Vertrauen in die Un- lingen.
bedenklichkeit von Eiern oder Schweinefleischproduk-
ten erschüttert worden ist. Ebenso Opfer sind mehrere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Zehntausende landwirtschaftliche Betriebe, Bauern und Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ihre Familien, deren Höfe gesperrt worden sind Wir werden sehen, ob sie die auch umsetzt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9287

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rin Aigner noch der Meinung, eine Selbstverpflichtung (C)
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Ulrich der Futtermittelindustrie reiche aus.
Kelber. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Überhaupt nicht
(Beifall bei der SPD) wahr!)
Am Tag der Ausschusssitzung gab es bereits ein Fünf-
Ulrich Kelber (SPD): Maßnahmen-Paket. Das ist acht Tage her. Vor fünf Ta-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gen gab es schließlich ein 10-Punkte-Programm; und seit
Herren! Löse das Problem, nicht die Schuldfrage – diese gestern sind es 14 Maßnahmen. Wir freuen uns über die
Lebensweisheit hat uns am vergangenen Montag die Geschwindigkeit, und wir würden uns natürlich auch
heute wieder nicht anwesende zuständige Staatssekretä- freuen, wenn auch der 15. Punkt, der Informantenschutz
rin aus dem Verbraucherschutzministerium mit auf den – ich komme gleich dazu –, genauso akzeptiert würde
Weg gegeben. Das kam mir ein wenig so vor wie ein und in dieser Beziehung so dazu gelernt würde wie in
versteckter Vorwurf an die eigene Chefin. den letzten Tagen bei den anderen Maßnahmen.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD)


GRÜNEN]: Wahlkampf!) Die entscheidende Frage, weswegen wir heute die Re-
gierungserklärung eingefordert hatten, ist bis jetzt nicht
Seit drei Wochen ist Bundesministerin Aigner vor al- beantwortet worden; das kann aber eventuell der Kollege
lem um den Selbstschutz bemüht. Da werden Ultimaten Holzenkamp noch machen. Es handelt sich um die
an die eigenen Parteifreunde gestellt und wieder zurück- Frage, ob die Regierungskoalition von CDU/CSU und
gezogen; da werden Vorwürfe an die Opposition erfunden FDP eigentlich bereit ist, das 14-Punkte-Programm der
und konstruiert und ein künstlicher Streit um Bundes- Verbraucherministerkonferenz inhaltlich umzusetzen.
kompetenz ausgetragen, statt sich um die Maßnahmen zu
kümmern, mit denen man im eigenen Zuständigkeitsbe- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist eine
reich sofort beginnen könnte. idiotische Frage!)
(Beifall bei der SPD) – Nein, das ist keine idiotische Frage. – Wir gehen das
einmal Punkt für Punkt durch.
Dabei geht es um eine einfache Sache, nämlich weg
von Ankündigungen und hin zu Maßnahmen zu kom- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das habe
men, um Vertrauen in Lebensmittel und in die staatliche ich doch gesagt! Punkt für Punkt arbeiten wir
Lebensmittelkontrolle zurückzugewinnen. Dafür ist der das ab!)
(B) (D)
Vorschlag der Verbraucherministerkonferenz von ges- Am Dienstag vor acht Tagen hat die SPD im Aus-
tern durchaus eine geeignete Grundlage. schuss die Ministerin Punkt für Punkt zu dem Pro-
Entscheidend aber ist, dass der Katalog diesmal um- gramm befragt. Bei einigen Punkten hat sie gesagt, sie
gesetzt werden muss. Ich kann mich noch an den letzten müsse noch nachhorchen, andere Punkte hat sie in den
Katalog, den Seehofer-Katalog beim Gammelfleisch- 14-Punkte-Plan übernommen. Als es um die Verschär-
skandal, erinnern, den wir alle mit viel Elan angegangen fung des Verbraucherinformationsgesetzes ging, also
sind. Im Laufe der Zeit wurde Maßnahme um Maß- den Zwang zur Veröffentlichung der Namen, war die
nahme verwässert, gestoppt und denunziert. Deswegen FDP dagegen. Als es um die Beprobung jeder Charge
muss es diesmal eine vollinhaltliche Umsetzung des Ka- ging, haben sich die Kollegen der CDU/CSU dagegen
talogs geben, nicht nur der Überschriften. ausgesprochen.

Frau Aigner, dies wäre für Sie doch die Gelegenheit, (Peter Bleser [CDU/CSU]: Stimmt doch gar
den Vorwurf der Ankündigungsministerin zu widerle- nicht!)
gen, indem Sie die Maßnahmen schnell umsetzen und Als es um die Meldepflicht für die Labore bei Grenzwert-
nicht verwässern lassen. überschreitungen ging, sind Zwischenrufe aus der CDU/
CSU gekommen, das sei ein Bruch des Vertrauens zwi-
Es gibt in der Politik kein Urheberrecht, und das ist schen Auftraggeber und Auftragnehmer.
auch gut so. Für eine Opposition, die nicht allein handeln
kann, ist es das größte Lob, wenn ihre Vorschläge von ei- (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Hört! Hört! Das
ner Regierung übernommen werden. Deshalb freuen wir ist eure Politik! Heute so und morgen so!)
uns in der SPD natürlich, dass von den 15 Maßnahmen,
Wir sind gespannt, ob Sie hier diesen Maßnahmen zu-
die wir vor zehn Tagen präsentiert und vor acht Tagen im
stimmen. Wir stellen diese Maßnahmen gleich erneut zur
Ausschuss vorgelegt haben, lieber Peter Bleser von der
CDU/CSU, sich jetzt 14 Maßnahmen im Beschluss der Abstimmung. Dann besteht die Chance, Farbe zu beken-
nen, anstatt nur Ankündigungen zu machen.
Verbraucherministerkonferenz wiederfinden. Das muss
man einmal aussprechen, nachdem vorhin etwas anderes (Beifall bei der SPD)
gesagt wurde. Das ist wichtig. Sonst hätte ich hierzu
nichts gesagt. Frau Ministerin Aigner, im Ausschuss haben Sie mir
vorgeworfen, ich würde Sie zu den einzelnen Maßnah-
Als wir unsere Vorschläge vor zehn Tagen, zwei Tage men nur fragen, um eine Liste zu machen, bei der ich
vor der Ausschusssitzung, vorgelegt hatten, war Ministe- später abhaken könnte, wo Sie etwas angekündigt, aber
9288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Ulrich Kelber
(A) nicht geliefert haben. Ich würde viel lieber Häkchen bei Peter Bleser (CDU/CSU): (C)
den Punkten machen, wo Sie angekündigt und geliefert Herr Kollege Kelber, es ist noch nicht so lange her,
haben. dass wir in derselben Koalition gesessen haben. Wir ha-
ben gerade über das Thema Denunziantenschutz oft ge-
(Beifall bei der SPD) sprochen.

Nur, meine Aufgabe als Oppositionspolitiker ist doch (Iris Gleicke [SPD]: Denunziatenschutz?)
auch, zu benennen, wenn Sie angekündigt, aber nicht ge- Es geht nicht darum – ich bitte Sie, das entsprechend zu
handelt haben. bewerten –, dass jemand bei Straftaten seiner Pflicht
nachkommt, diese den Behörden zu melden. Es geht aus-
Ich komme zu dem letzten Punkt, dem Informanten- schließlich darum, ob auch bei Ordnungswidrigkeiten
schutz, dem einzigen der 15 Punkte, den die SPD bisher – im Extremfall das falsche Sortieren von Müll – Arbeit-
nicht hat durchsetzen können. Fast alle Futtermittel- und nehmer den Betriebsfrieden stören dürfen, indem sie
Lebensmittelskandale der letzten Jahre sind durch mu- zum Beispiel auch Missbrauchsmöglichkeiten nutzen,
tige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgedeckt die bei einem Kündigungsschutz entsprechende Entschä-
worden, die sich an die Öffentlichkeit gewandt und vor digungszahlungen zur Folge hätten. Ist es nicht besser,
solchen Straftaten gewarnt haben. wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht als Geg-
ner und Feinde betrachten, sondern als Partner?
(Zuruf von der FDP: Stimmt doch gar nicht!)
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Singhammer, Sie sind von der CSU aus München.
Herr Bleser, ich erinnere mich in der Tat noch an die
Herr Seehofer hat in München eine Medaille an den
Verhandlungen. Es hat ja viele Stunden gedauert, das
Lkw-Fahrer vergeben, der sich an die Behörden gewandt
Verbraucherinformationsgesetz durchzukriegen. Sechs
und gesagt hatte, er werde gezwungen, Gammelfleisch Stunden lang haben wir auf Sie – inklusive die Bundes-
zur Lebensmittelverarbeitung zu fahren. ratsvertreter – eingeredet, um da die entsprechenden
Maßnahmen hineinzuschreiben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zum Informantenschutz: Sie kennen den Entwurf
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist ja noch, der mit Herrn Seehofer verabredet war. Es gab ja
auch richtig!) bereits eine Verabredung zwischen Scholz, Zypries und
Seehofer. Sie wissen, dass der entscheidende Absatz da-
In Deutschland müssen diese mutigen Arbeitnehme- rin lautete: Wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
rinnen und Arbeitnehmer immer noch befürchten, wenn nehmern zuzumuten ist, bei dieser Angelegenheit fir-
(B) (D)
sie an den falschen Richter geraten, dass sie wegen Stö- menintern vorzugehen, haben sie nicht den Schutz durch
rung des Betriebsfriedens entlassen werden, obwohl sie das Gesetz. Es geht also um schwere Straftaten und
versucht haben, die Öffentlichkeit zu schützen. Dass schwere Ordnungswidrigkeiten, die anders nicht abzu-
Herr Bleser, der erst den 10-Punkte-Katalog von Herrn stellen sind. Ihr Beispiel ist in Bezug auf eine gesetzliche
Seehofer, in dem der Informantenschutz stand, gefeiert Regelung eindeutig ausgenommen.
hat, dann in den Verhandlungen in der Großen Koalition Das ist der entscheidende Punkt: Wir werden im
– ich war sein Gegenüber – diesen verhindert hat und Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zum Infor-
mutige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Un- mantenschutz zur Abstimmung stellen. Die Regierung
schuldige schützen wollen, in seiner Wortwahl mit De- weigert sich, einen zu machen. Wir werden ihn einbrin-
nunzianten vergleicht, die Unschuldige an ein Unrechts- gen. Dann wird sich zeigen, ob die Fraktionen von CDU/
regime ausliefern wollen, ist eine Unverschämtheit. CSU und FDP bereit sind, gegen die schwarzen Schafe
unter den Unternehmen – das sind in der Tat nur wenige –
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit allen Maßnahmen und aller Schärfe vorzugehen,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE oder ob sie diese weiter vor den Konsequenzen schützen
GRÜNEN) und den Verbraucherinnen und Verbrauchern weiter in
den Rücken fallen wollen. Wir sind gespannt, wie CDU/
Dass Ihr Fraktionsvorsitzender, der in der sechsten Le- CSU und FDP reagieren, wenn es endlich mal darum
gislaturperiode im Deutschen Bundestag sitzt, diese mu- geht, „Butter bei die Fische“ zu geben, und wenn man
tigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch noch von den Ankündigungen wegkommt. Dann entscheidet
mit einer NS-Institution, dem Blockwart, vergleicht, ist sich, wie man mit einem Skandal umgeht.
eine bodenlose Frechheit. Herr Kauder, lernen Sie end-
lich einmal Anstand. Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: GRÜNEN)
Herr Kelber, Herr Bleser würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Franz-Josef
Ulrich Kelber (SPD): Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion.
Aber selbstverständlich. Bitte, Peter. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9289

(A) Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Wir alle hier im Parlament sind uns einig, dass das, (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und was vorgefallen ist, eine Riesensauerei ist, und zwar
Herren! Nach den Beiträgen, die ich insbesondere von vollkommen unabhängig von irgendwelchen Grenzwer-
der linken Seite gehört habe, möchte ich mit einem Zitat ten. Es gehören keine Dioxine in Lebensmittel, egal in
beginnen: welche.
Eintausendsiebenhundertachtzehn Tage hatte die Die Verbraucher sind total verunsichert und zu Recht
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernäh- mehr als wütend. Das liegt, wie schon erwähnt, offen-
rung und Landwirtschaft zwischen dem 12. Januar sichtlich an der kriminellen Energie Einzelner. Viele
2001 und dem 27. September 2005, um ein für alle- Tausend Bauern wurden – das will ich an dieser Stelle
mal die Lebensmittel, Futtermittel … einer so straf- unterstreichen – in Mithaftung genommen. Gefährdet
fen Kontrolle zu unterwerfen, dass nie mehr ein sind auch viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und
Nahrungsmittelskandal vorkommen könnte. Frau in vielen Unternehmen. Ich wundere mich, dass das von
Künast hat ihre Chance für eine vorbildliche grüne Ihrer Seite fast gar nicht angesprochen wurde.
Politik nicht nachhaltig genutzt.
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Gerade
So die FAZ von vor wenigen Tagen. Ich finde, sie hat mit wenn es um Lebensmittel geht, steht der Verbraucher für
wenigen Sätzen – mit nur zwei Sätzen – alles auf den uns – auch wenn Sie darüber immer wieder lächeln – an
Punkt gebracht. allererster Stelle. Wichtig ist, vernünftige, sachliche
Aufklärung vorzunehmen und keine Panikmache zu be-
(Ulrich Kelber [SPD]: Womöglich zitieren Sie treiben. Ich finde richtig, dass das BfR, das Bundesinsti-
als nächstes den Bayernkurier!) tut für Risikobewertung, deutlich gemacht hat – für mich
Wer selbst in einem Glashaus sitzt, sollte insbesondere war das ein Lichtblick –, dass für die Menschen in
nicht auf andere mit Steinen werfen. Deutschland keine Gesundheitsgefährdung besteht. Frau
Höhn, das hat mit Verharmlosung überhaupt nichts zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tun.
Ihr kennt euch doch selber mit Dioxinskandalen in (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
den unterschiedlichsten landwirtschaftlichen Betrieben GRÜNEN]: Hier, hier! Da wurde verharmlost,
– ob es um Freilandeier oder anderes geht – aus. Also, bei Frau Heil! Die hat verharmlost!)
Sie selbst setzen nicht ganz viel um, hauen aber auf die
Pauke. Schließlich stehen Wahlen vor der Tür. Dem Ver- Es hat letztendlich einfach nur etwas damit zu tun, dass
braucher helfen nicht Worte allein, dem helfen Taten, angesichts der Verbraucherverunsicherung vernünftig
(B) und die vollbringen wir. aufgeklärt werden muss. (D)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich will dazu einen Punkt ansprechen, weil ich mich
in der letzten Woche in unserem Ausschuss wirklich sehr Wenn wir über Aufklärung reden, dann müssen wir
darüber geärgert habe. Drinnen haben wir Fakten bear- auch darüber sprechen, wie Dioxine entstehen – das ist
beitet. Draußen mussten einige Damen und Herren der mehrfach angesprochen worden –, nämlich durch Ver-
Grünen und der SPD den medialen Markt mit ihrer rot- brennungsprozesse; ich brauche auf die Details nicht
grünen Apokalypse bedienen. mehr einzugehen. Unser Ziel ist natürlich – ich hoffe,
dass das unser gemeinsames Ziel ist – die Reduktion der
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Dioxinbelastung; sie sollte möglichst bei null liegen. Ich
NIS 90/DIE GRÜNEN) hoffe, wir kommen da sehr weit. Ich persönlich freue
Ich habe da andere Vorstellungen von sachorientierter mich darüber, dass beispielsweise das Umweltbundes-
Politik. Jedenfalls entspricht das nicht dem, was Sie hier amt feststellt, dass seit 1990 eine deutliche Reduktion
heute einfordern, meine Damen und Herren von der Op- beim Dioxin gelungen ist. Ich will gar nicht im Detail
position. Das ist wieder einmal Klamauk und sonst gar darauf eingehen, dass einen wesentlichen Beitrag dazu
nichts. das Verbot des verbleiten Benzins im Jahre 1989 geleis-
tet hat. Ich will auch nicht darauf eingehen, wer in dieser
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zeit an der Regierung war; Sie wissen es ja.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie haben Angst, weil Sie selber betroffen Aufklärung gehört zum Verbraucherschutz. Sie ist
sind!) notwendig und hilft dem verunsicherten Verbraucher, die
Situation besser einzuschätzen. Deshalb legen wir im
In einem Punkt sind wir uns einig: Wir arbeiten daran, Gegensatz zu Ihnen, jedenfalls im Gegensatz zu dem,
kriminelle Energie letztendlich so gut, wie es geht, in was ich heute von Ihnen gehört habe, darauf Wert, das zu
den Griff zu bekommen. Alle miteinander wissen wir, tun, worauf es ankommt.
dass das sehr schwierig ist. Es gibt da immer neue He-
rausforderungen, und wir müssen Regeln auf den Weg (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
bringen. Doch ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Wunderschöne Sonntagsrede! – Friedrich
eine dicke Lippe riskiert, sollte man selbst auch etwas Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
vorweisen können. Schauen Sie mal nach Nordrhein-Westfalen!)
9290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Franz-Josef Holzenkamp
(A) Zum 14-Punkte-Plan. Herr Kelber – Sie haben mich Landwirtschaft. Meine Gegenfrage lautet: Was heißt in- (C)
darauf angesprochen –, ich will Ihnen vorwegsagen: Ich dustriell? Industriell bedeutet nichts anderes als arbeits-
bin überzeugtes Mitglied einer Volkspartei. In unserer teiliges Bewirtschaften. Ich verstehe die Diskussion
Volkspartei ist es so, dass wir uns miteinander unterhal- nicht. Es gibt doch in allen Bereichen arbeitsteilige
ten, dass wir diskutieren. Bei uns ist es auch so, dass wir Landwirtschaft: Sie gibt es bei großen und bei kleinen
zuhören. Wenn es etwas Besseres gibt, dann nehmen wir Betrieben, sie gibt es in der ökologischen Landwirtschaft
diese Erkenntnis auf. Das kann auch zur Folge haben, und in der herkömmlichen Landwirtschaft, sie gibt es bei
dass wir Pläne erweitern. großen und bei kleinen Futtermittelproduzenten. Lassen
Sie uns deshalb mit der Spalterei aufhören. Wir tun der
Aber ich will deutlich sagen: Vorschläge müssen auch Landwirtschaft keinen Gefallen und dem Verbraucher
wirklich Sinn machen. durch die zunehmende Verunsicherung erst recht nicht.
(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Machen sie
Ich bin Niedersachse. Niedersachsen ist ein Agrarland
auch!)
und besonders vom Dioxinskandal betroffen.
Im Hinblick auf das, was risikobasiert vernünftig ist, will
ich Ihnen einmal ein ganz einfaches Beispiel nennen: (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
Fette sind grundsätzlich mit Risiken verbunden; das wis- GRÜNEN]: Wie das wohl kommt?)
sen wir. Etwa 5 500 Betriebe wurden in Niedersachsen vorsorg-
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE lich gesperrt. Lassen Sie mich das deutlich sagen: Das ist
GRÜNEN]: Dann verbieten Sie sie doch! Raus vorsorglicher Verbraucherschutz. Die Ergebnisse der
aus der Nahrungsmittelkette!) Proben, die bereits vorgelegt wurden – in den nächsten
Tagen werden weitere vorgelegt –, zeigen: Es gibt eine
Getreide birgt weniger Risiken. Wenn es darum geht, positive Probe beim Schwein und fünf positive Proben
alle Chargen zu kontrollieren, dann will ich nicht, dass bei Hühnereiern. Ich will nicht ausschließen, dass es
jeder Landwirt, der selbst mischt, sein gesamtes Getreide noch mehr werden, aber die Tatsache, dass wir so groß-
untersuchen muss; dadurch würde der Strukturwandel zügig gesperrt haben, ist ein eindeutiger Beweis dafür,
noch mehr forciert. Das kann nicht in unser aller Inte- dass der vorsorgliche Verbraucherschutz in Niedersach-
resse sein. sen an allererster Stelle steht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bleiben Sie mal beim Es wird oft darüber diskutiert, wer was erreicht hat.
Thema!) Ich frage Sie: Wer hat letztendlich dafür gesorgt, dass
(B) (D)
sich die Bundesländer auf eine gemeinsame Protokoll-
Immer wieder wird die Systemfrage gestellt. erklärung geeinigt haben, der sich Berlin, Bremen,
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mecklenburg-Vorpommern, NRW und Rheinland-Pfalz
Das ist genau der Punkt! Da tut es weh!) angeschlossen haben? Das ist unsere Bundesministerin
Ilse Aigner gewesen. Wer hat das vorher geschafft? Nie-
Hören Sie doch endlich auf, die Gesellschaft zu spalten, mand, auch Renate Künast nicht.
die Landwirtschaft aufzuteilen in Böse und Gute! Was
soll das? Herr Ostendorff, Sie haben von Lobbyisten ge- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sprochen. Eigentlich sind Sie der Oberlobbyist; ich frage Oh!)
mich nur, für welche Klientel. Ich bin Ilse Aigner sehr dankbar, dass sie sich an die
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Speerspitze dieser Bewegung stellt.
NEN]: Dann sagen Sie mir mal, wo!) (Ulrich Kelber [SPD]: Da muss sie selbst la-
Ich habe mich vorhin sehr geärgert. Was maßen Sie sich chen!)
an, wenn Sie gegen 300 000 Bauern in Deutschland zu
Die 14 Punkte, Herr Kelber, die mehrfach angesprochen
Felde ziehen, diese stigmatisieren und diffamieren? Ich
wurden, werden wir umsetzen.
finde, das ist nicht in Ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Abschließend will ich festhalten: Verbraucherpolitik,
GRÜNEN]: Wen habe ich denn stigmati- Verbrauchersicherheit und Verbraucherschutz stehen bei
siert? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE uns an erster Stelle.
GRÜNEN]: Die Leute vertrauen doch gar
nicht mehr der großen Volkspartei!) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst
Ich will an diesem Punkt ergänzen: Die Landwirte sind nicht!)
in diesem Skandal wirklich Opfer und nicht Täter. Wer
das noch nicht verstanden hat, der sollte sich tiefer damit – Herr Ostendorff, wenn Sie meinen, wir seien Lobby-
beschäftigen. isten, dann sind wir Lobbyisten;
Zu einem weiteren Punkt: Es wird die Systemfrage (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
gestellt und behauptet, das Problem sei die industrielle GRÜNEN]: Sie mit Sicherheit!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9291
Franz-Josef Holzenkamp
(A) denn wir stehen zu den 350 000 landwirtschaftlichen Be- Fast zwei Drittel der in Deutschland lebenden Aus- (C)
trieben in Deutschland. Sie tun das offensichtlich nicht. länder verfügen über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht.
In dieser Zahl sind die Unionsbürger eingeschlossen.
Herzlichen Dank.
Zwei Drittel der ausländischen Bevölkerung leben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
seit zehn oder mehr Jahren in Deutschland, über ein
Drittel sogar seit mehr als 20 Jahren. 73 Prozent aller
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausländer, also fast drei Viertel, leben seit acht oder
Ich schließe die Aussprache. mehr Jahren in Deutschland und erfüllen insoweit, wenn
nicht andere Kriterien dem entgegenstehen, die Bedin-
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen. Zu- gungen für eine Einbürgerung.
nächst geht es um die Abstimmung zum Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4426. Die Einbürgerungszahlen sind nahezu konstant. Wir
Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – Gegenstim- haben im Jahr 2009 in Deutschland rund 96 000 Einbür-
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gerungen vorgenommen. Im Jahr 2008 waren es 95 000.
abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende Fraktion, Die Größenordnung ist also knapp unter 100 000.
die Koalitionsfraktionen waren dagegen, Bündnis 90/
Die Grünen und Linke haben sich enthalten. Wenn Sie die Zahl der Auswanderungen mit der der
Zuwanderungen vergleichen, stellen Sie fest: Wir haben
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- erneut einen negativen Gesamtwanderungssaldo, das
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4430. Wer heißt, es sind mehr Menschen aus Deutschland abge-
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – wandert, als nach Deutschland zugewandert sind. Der
Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zu- Saldo beträgt minus 12 800. Allerdings ist er deutlich
stimmung durch Bündnis 90/Die Grünen. SPD und geringer als im Jahr 2008. Im Jahr 2008 waren
Linke haben sich enthalten, CDU/CSU und FDP dage- 56 000 Menschen mehr abgewandert als zugewandert.
gen gestimmt. Im Jahr 2009 ist die Zahl, wie gesagt, auf 12 800 zurück-
gegangen. Im Jahr 2010 – wir haben die Zahl noch
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 1 auf:
nicht – könnte sich das insbesondere wegen der deutlich
Befragung der Bundesregierung gestiegenen Asylbewerberzahlen ändern.

Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka- Wer wandert zu? Wenn Sie die Zuwanderungen im
binettssitzung mitgeteilt: Migrationsbericht 2009. Einzelnen analysieren, kommen Sie zu dem Ergebnis: Es
sind drei große Gruppen, die zuwandern. Die größte
(B) Wir hören zur Einführung den fünfminütigen Bericht (D)
Gruppe mit knapp 50 000 Personen sind Ehegatten oder
des Bundesministers des Innern, Thomas de Maizière. sonstige Familienangehörige. Der ganz wesentliche Teil
der Zuwanderung ist also im Familiennachzug begrün-
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- det. Die zweite große Gruppe sind Studenten; auf die
nern: komme ich gleich noch zu sprechen. Die dritte große
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gruppe bilden diejenigen, die zum Zweck der Erwerbs-
Die Bundesregierung hat heute den Migrationsbericht tätigkeit hierherkommen. Das sind, wenn Sie so wollen,
2009 beschlossen. Das ist ein jährlich abzugebender Be- nur 26 000, etwas weniger als in den Vorjahren.
richt, der sich entwickelt hat zu einem, wenn Sie so wol-
Erfreulich ist die Zahl ausländischer Studierender. Sie
len, statistischen Standardwerk über das Migrationsge-
hat in Deutschland im Jahr 2009 mit rund 245 000 einen
schehen, das Wanderungsgeschehen, in Deutschland,
Höchststand erreicht. Das ist eine sehr hohe Zahl, ein
auch im europäischen Vergleich. Er liegt Ihnen vor. Er
großer Anstieg, und auch im europäischen Vergleich
ist umfangreich, aufschlussreich und nüchtern. Er enthält
sehr gut. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika und
keine Strategien zur Bewältigung der Probleme und He-
ein anderes Land – es fällt mir im Moment nicht ein –
rausforderungen, sondern eben statistisches Material.
verzeichnen eine ähnlich hohe Zahl. Das ist eine wirkli-
Lassen Sie mich kurz auf einige wesentliche Zahlen che Erfolgsgeschichte, die sich dort abgespielt hat.
und Aspekte eingehen:
Vielleicht noch etwas zu der Frage: Woher kommen
Der Anteil ausländischer Staatsangehöriger an der die ausländischen Studienabsolventen? Ich sage das na-
Gesamtbevölkerung in Deutschland ist seit Mitte der türlich vor dem Hintergrund der Zuwanderungsdebatte,
90er-Jahre nahezu unverändert und liegt jetzt bei die uns beschäftigt. Im Jahr 2009 haben ungefähr
8,7 Prozent. Etwa 35 Prozent der Ausländer in Deutsch- 33 000 ausländische Studenten hier einen Hochschulab-
land sind Unionsbürger, also Bürger der Europäischen schluss gemacht. Sie sind bei der Zuwanderung für uns
Union, 24 Prozent aus den alten und 11 Prozent aus den natürlich in besonderer Weise interessant. Auf Platz eins
neuen EU-Mitgliedstaaten. Die zweitgrößte Gruppe der steht China mit 4 700 Studienabsolventen. Auf Platz 2
Ausländer in Deutschland stellen trotz eines relativen liegt die Türkei mit 2 300. Ich weiß aber nicht, ob Stu-
Rückgangs die türkischen Staatsangehörigen dar. Ihr An- denten mit doppelter Staatsangehörigkeit mitgezählt
teil liegt bei ungefähr 24,8 Prozent. EU-Bürger und Bür- wurden. Diese Zahl muss man also vor die Klammer zie-
ger mit türkischer Staatsangehörigkeit zusammen stellen hen. Dann folgen Bulgarien, Russland, Polen, die
also knapp 60 Prozent aller hier lebenden Ausländern. Ukraine sowie Frankreich und Österreich. Aus diesen
9292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière des Innern:
Bundesminister
(A) Ländern kommen die meisten Studenten, die bei uns ih- men zu dem Ergebnis, dass 55 Prozent dieser Menschen (C)
ren Abschluss gemacht haben. bereit wären, die deutsche Staatsbürgerschaft anzuneh-
men, wenn eine Mehrstaatlichkeit möglich wäre. Welche
Menschen, die zu Erwerbszwecken hierherkommen, Erkenntnisse gibt es dazu im Migrationsbericht, und
kommen oft aus Indien und interessanterweise aus den welche Erkenntnisse haben Sie, was den Optionszwang
Vereinigten Staaten von Amerika. Allerdings ist die Zahl angeht, gewonnen?
absolut gesehen gering.
Wir untersuchen seit einiger Zeit auch die Zahl der Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
Abwanderungen. Allerdings ist die Statistik in diesem nern:
Punkt nicht sehr aussagekräftig. Warum? Wenn jemand Herr Abgeordneter, der Migrationsbericht, den ich
abwandert, ist er nicht verpflichtet, zu sagen, welchen heute vorgestellt habe, enthält statistisches Material. Es
Bildungsabschluss er hat, wohin er geht und warum er werden sozusagen Köpfe gezählt, aber es wird nicht
auswandert. Außerdem wissen wir nicht genau, ob es nach Motiven gefragt. Darüber bietet das statistische
eine temporäre oder eine dauerhafte Abwanderung ist. Material keine Auskunftsmöglichkeit. Man müsste im
Wenn jemand nach dem Hochschulabschluss fünf Jahre Einzelnen Befragungen durchführen. Das ist aber nicht
eine Doktorarbeit in Amerika schreibt, dann ist er für Gegenstand dieses Berichtes. Ich bin daher auf Mutma-
diese Zeitspanne ausgewandert. Die Zahl der Abwande- ßungen angewiesen.
rungen ist, wie gesagt, nicht sehr aussagekräftig, weil es
keine Vergleichszahlen aus weit zurückliegenden Jahren Wir möchten gerne, dass der Einbürgerungsantrag
gibt. von Ausländern, die die Einbürgerungsvoraussetzungen
erfüllen, positiv beschieden wird und dass sie ihre Loya-
Insgesamt muss man sagen, dass die Zahl der Aus- lität zu unserem Land durch ihre Einbürgerung zeigen
wanderer in Deutschland rückgängig ist. Im Jahre 2009 können. Dazu dienen viele Maßnahmen, etwa dass man
gab es 154 000 Fortzüge von Deutschen aus dem Bun- Einbürgerungsfeiern veranstaltet, dass man eine Will-
desgebiet. Das ist ein Rückgang um 11 Prozent gegen- kommenskultur etabliert. Dass diese Bundesregierung
über dem Vorjahr. Allerdings ist dies deutlich mehr, als und ihre Vorgänger für die Reduzierung der Einwande-
wir es über viele Jahre gewohnt waren. Von den Fortzü- rungszahlen verantwortlich sind, was Sie in Ihrer Frage
gen aus Deutschland im Jahre 2009 entfielen 34,9 Pro- unterstellen, weise ich zurück. Ich bin nicht dieser Auf-
zent auf die alten EU-Staaten. Das ist, wenn man so will, fassung.
das erwünschte Ergebnis des Zusammenwachsens in
Europa. In die USA zogen 13 000. Gleichzeitig kehrten Wir haben allerdings einen Grunddissens – das will
11 000 Deutsche aus den USA nach Deutschland zurück. ich nicht in Abrede stellen –, nämlich in der Frage der
(B) Das ist zwar ein negativer Wanderungssaldo von rund doppelten Staatsbürgerschaft. Die Rechtslage ist so – und (D)
2 000; aber man sieht daran, dass es auf diesem Gebiet ich bekenne mich ausdrücklich dazu –, dass es, von Aus-
bei den Qualifizierten, was die USA angeht, viele Bewe- nahmen abgesehen, die es geben muss und die relativ
gungen gibt. zahlreich sind, grundsätzlich und prinzipiell geboten ist,
sich zu einem Land zu bekennen und nicht zu zweien
Man kann dem Bericht für die Debatten, die wir vor oder dreien. Deswegen ist der Grundsatz, dass, wer
uns haben, und auch für die Debatten, in denen wir uns Deutscher werden will, zugleich seine bisherige Staats-
befinden, eine ganze Menge an Information entnehmen. bürgerschaft abgibt, meiner Ansicht nach richtig.
Ich hoffe, er findet Ihr Interesse.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Daniela
Vielen Dank für den Bericht. Es gibt Nachfragen. Zu-
Kolbe.
nächst hat der Kollege Kilic das Wort.

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr de Maizière, vielen Dank für Ihre Herr Minister, vielen Dank für die Vorstellung des
Berichterstattung. Sie haben aktuelle Zahlen über die Berichts, den ich noch nicht in Gänze gelesen habe, da er
Einbürgerung genannt. Sie ist rückläufig; sie ging um erst heute veröffentlicht worden ist.
1 000 zurück. Langfristig betrachtet, muss man sagen,
dass die Bundesregierung die Einbürgerungspolitik der Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
Bundesrepublik Deutschland an die Wand gefahren hat. nern:
Denn seit 2004 ist die Zahl der Einbürgerungen um ein Der ist auch so dick.
Viertel eingebrochen.
Wie Sie richtig festgestellt haben, erfüllen 73 Prozent Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
der Immigranten – das sind immerhin 5 Millionen Men- Sie haben eine Zahl genannt, die ich in der Tat sehr
schen – die wichtigste Einbürgerungsvoraussetzung, bemerkenswert finde, und zwar die Zahl der Bil-
nämlich einen Aufenthalt von acht Jahren. Trotzdem dungsausländer, die in Deutschland studieren: knapp
können sie nicht eingebürgert werden. Es gibt immer 250 000 Personen, das heißt, wenn ich richtig im Bilde
wieder Maßnahmen, die es den Migranten erschweren, bin, fast 50 000 mehr als noch vor einigen Jahren; das ist
die Einbürgerung zu beantragen. Einige Studien kom- eine signifikante Steigerung. Das ist sehr schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9293
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) In der Großen Koalition haben wir die Situation der ganz zart, weil uns inzwischen das Hemd näher ist als (C)
ausländischen Absolventinnen und Absolventen, die für der Rock. Wir wünschen uns, dass sie hier bleiben. Aber
den deutschen Arbeitsmarkt sehr attraktiv sind, so ver- ich sage nicht ohne Grund, dass die 240 000 Studenten
bessert, dass sie die Möglichkeit haben, hier ein Jahr zu – neben denen, die ohnehin nur auf Zeit da sein wollen –
bleiben, nämlich durch das Zuwanderungsgesetz. Da- das größte und interessanteste Potenzial haben, um kluge
nach gab es eine weitere Verbesserung: Sie haben keine und nachhaltige Zuwanderung in Deutschland zu organi-
Nachrangigkeitsprüfung mehr und können später auch sieren.
wieder zuwandern. Die Frage, die sich mir stellt, ist:
Schlägt sich das in den Zahlen nieder? Nach den Zahlen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
die mir bekannt sind, bleibt nach wie vor nur ein kleiner Die nächste Frage kommt von Sevim Dağdelen.
Teil der ausländischen Absolventinnen und Absolven-
ten, die in Deutschland studiert haben, hier. Ich weiß,
dass viele gern bleiben würden, aber innerhalb dieses ei- Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
nen Jahres schlicht – wie viele Deutsche auch – keine Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrter Herr
entsprechende Anstellung finden. Wenn Sie mir die Zahl Minister, nachdem der Migrationsbericht 2008 weder an
nennen, sie einschätzen und vielleicht auch sagen wür- den Bundestag überwiesen noch in diesem Hause debat-
den, was Sie als Minister vorhaben, um es mehr Men- tiert wurde, wünsche ich mir, dass es mit dem Migra-
schen zu ermöglichen, nach einem erfolgreichen Stu- tionsbericht 2009 anders sein wird: dass es zu einer
dienabschluss in Deutschland zu bleiben, wäre mir Überweisung an den Bundestag kommen wird und wir
geholfen. uns die Zeit für eine Debatte nehmen werden. Das ist
meine Bitte vorweg.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- Zweitens. Die wesentlichen Ergebnisse des Migra-
nern: tionsberichts 2009, die ich der Pressemitteilung der Bun-
Frau Abgeordnete Kolbe, ich habe diese Zahl natür- desregierung von heute entnehmen kann, sind mit denen
lich nicht ohne Grund genannt; denn ich habe mir schon von 2008 zum Teil deckungsgleich, vor allen Dingen im
gedacht, dass das ein wesentlicher Punkt der Debatte ist. Hinblick auf den Umfang der Einwanderung und den
Das ist auch richtig so. Wanderungssaldo. Sie haben eben angesprochen, dass es
2009 einen negativen Wanderungssaldo gab, wie es be-
Ich habe die Zahl aus diesem dicken Bericht jetzt reits 2008 der Fall war. Die Zuwanderung ist vor allen
nicht im Kopf. Wahr ist aber, dass aus dem Reservoir de- Dingen aus Ländern wie der Türkei rückläufig, aber
rer, die aus dem Ausland kommen, diejenigen, die hier auch aus den anderen Anwerbestaaten wie Griechenland
(B) studiert haben, das beste Potenzial für Zuwanderung ha- und Italien, und der Wanderungssaldo ist hier seit 2006 (D)
ben, das Deutschland bekommen kann. Bei allem Streit negativ. Ich frage Sie vor dem Hintergrund der in
über Zuwanderung ist das insoweit auch unstreitig. Des- Deutschland manchmal sehr hitzig geführten Debatten
wegen ist es wichtig – ohne dass ich einer Beratung vor- zum Thema Einwanderung, die mit den Schlagworten
greifen kann oder will –, dass wir genau dort ansetzen. „Überfremdung“ oder „Untergang des Abendlandes“
Wir müssen insbesondere nach einem erfolgreichen Ab- manchmal auch in der Presse erscheinen, ob Sie solche
schluss erleichtern, dass man hier bleiben kann, dass Debatten angesichts der tatsächlichen Zahlen eigentlich
man Arbeit aufnehmen kann. Das ist auch in der Koali- nicht als realitätsfern bezeichnen.
tion längst unstreitig. Die Punkte, die streitig und jetzt
hier nicht zu diskutieren sind, liegen woanders; sie lie- Im Zusammenhang mit den in den Migrationsberich-
gen nicht hier. ten 2008 und 2009 vorliegenden Zahlen zum Trend der
Pendelmigration möchte ich von Ihnen auch wissen, ob
Nun muss man sehen, dass natürlich nicht alle Stu- die Debatten, die wir führen, der Tatsache gerecht wer-
denten, die aus dem Ausland kommen und hier studie- den, dass dies eine temporäre und keine endgültige Mi-
ren, hier bleiben wollen. Wir haben auch eine erhebliche gration nach Deutschland ist.
Zahl deutscher Studenten, die im Ausland studieren. Wer
im Ausland studiert, studiert deswegen dort, um seinen Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
Erfahrungshorizont zu erweitern, nicht unbedingt, um im nern:
Ausland zu bleiben. Das ist auch kein vorwerfbares Ver-
Frau Abgeordnete, der erste Ihrer drei Punkte wundert
halten. Insofern stehen nicht 245 000 potenzielle Zuwan-
mich; denn den Migrationsbericht erstellen wir auf An-
derer zur Verfügung. Ein ganz erheblicher Teil will hier
forderung des Deutschen Bundestages zum achten Mal.
studieren und geht wieder weg. Das hat auch Vorteile,
Wenn der Bericht 2008 Ihnen nicht zugeleitet worden
weil es Kontakte in die ganze Welt hinein schafft. Das
sein sollte, werde ich ihn gern zuleiten.
muss man auch einmal sehen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
In den 70er-Jahren war die entwicklungspolitische GRÜNEN]: Er wurde zugeleitet!)
Debatte so, dass man sie gar nicht davon abhalten dürfte,
zurückzugehen, weil das zu einem Braindrain bei den Mich wundert, dass er bisher nicht zugeleitet worden ist;
Entwicklungsländern führe; wir mussten sehen, dass sie daran soll es nicht scheitern. Ob Sie es diskutieren oder
zurückgehen und dort ihre Länder aufbauen – jedenfalls nicht, müssen Sie entscheiden. Darüber entscheidet nicht
soweit es um entwicklungsschwächere Länder ging. Da- die Bundesregierung; das müssen Sie dann im Deut-
rüber redet heute keiner mehr. Ich sage das nur einmal schen Bundestag erörtern.
9294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière des Innern:
Bundesminister
(A) Was die Frage des Saldos angeht, so haben Sie den lich die vernünftige statistische Grundlage für die politi- (C)
Punkt schon richtig dargestellt. Wir machen hier zu einem sche Debatte, die wir hier führen. Man kann vielleicht
Stichtag eine Statistik, und dahinter verbergen sich Wan- die entsprechenden Zahlen herausklamüsern; aber bisher
derungsbewegungen verschiedener Art. Richtig ist, dass wird nur zwischen den Ausländern unterschieden. Das
der Wanderungssaldo abgenommen hat. Ich könnte jetzt ist insbesondere mit Blick auf die EU-Bürger nicht mehr
auch sagen: Die gute Nachricht ist, dass sich der Wande- so aussagekräftig, wie es vor 10 oder 20 Jahren war.
rungssaldo um zwei Drittel reduziert hat. Nur wäre diese
Aussage angesichts der Zahlen nicht besonders glaubwür- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dig: Von 60 000 sind wir jetzt bei 12 000 angelangt. Das
ist zwar ein Trend in die richtige Richtung; aber wahr ist, Die nächste Frage stellt der Kollege Winkler.
dass immer noch mehr Menschen weggehen als kom-
men. Insoweit stimmt, was die Zahlen angeht, objektiv Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Aussage, dass Deutschland im Moment kein Zuwan- NEN):
derungsland, sondern ein Auswanderungsland ist. Danke, Frau Präsidentin. – Ich will zunächst zur Kol-
legin Dağdelen sagen: Der Migrationsbericht 2008 wurde
Man muss aber immer sehen, wer mit welchen Moti- uns am 8. Februar 2010 mit der Drucksache 17/650 zuge-
ven und mit welchen Folgen kommt. Die Statistik kann leitet.
wohl etwas über Abschlüsse sagen; aber sie sagt zum
Beispiel nichts über die Zahl der Empfänger von Sozial- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das wissen
leistungen und der Menschen mit einem gesicherten Le- wir auch!)
bensunterhalt aus. Diese Debatte haben wir in einem an-
deren Zusammenhang geführt. Wir wollen natürlich Was der Bundestag damit im Innenausschuss macht, ist
Zuwanderung von Menschen, die hier einen Beitrag leis- natürlich seine eigene Angelegenheit. Es ist nicht die
ten, die Arbeit haben, die Steuern zahlen, die Familien Aufgabe des Innenministers, sich dazu zu verhalten.
gründen und einen gesicherten Lebensunterhalt haben. Herr Innenminister, ich habe eine Frage zur demogra-
Das sind wiederum nicht alle. Deswegen lässt allein die fischen Entwicklung. Wir hatten eine aufgeregte De-
Tatsache, dass wir faktisch ein Auswanderungsland ge- batte, angestoßen von Exsenator Sarrazin, der immer
worden sind, nicht den Schluss zu, dass wir alle, die meint, seine Behauptungen seien unwiderlegt. Insofern
nach Deutschland kommen wollen, auch nach Deutsch- frage ich Sie: Haben Sie nach Lektüre des Berichtes
land kommen lassen sollten; vielmehr geht es immer um – Sie haben ihn schon ein paar Tage länger als wir – In-
gesteuerte Zuwanderung. dizien dafür gefunden, dass der Anteil der Unterschicht
(B) Drittens. Die Pendelwanderung ist ein wichtiger an der Bevölkerung kontinuierlich wächst bzw. dass die (D)
Punkt. Ich mache es Ihnen an der größten Gruppe, den Migrantengruppen besonders viele Nachkommen haben,
Polen, einmal deutlich: Im Jahre 2009 sind ungefähr die als bildungsfern eingestuft werden müssten, also
120 000 polnische Staatsbürger nach Deutschland zuge- nach Meinung Sarrazins vor allem die Migranten aus der
wandert, aber es sind auch etwa 120 000 aus Deutsch- Türkei, dem Nahen Osten und Afrika? Stimmen Sie
land abgewandert. Ob das die Gleichen sind – vielleicht Sarrazins These zu, dass „die enorme Fruchtbarkeit der
Pflegekräfte – oder andere, das weiß ich nicht. Aber na- muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kultu-
türlich haben wir Pendelwanderungen. Die zweitgrößte relle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden
Gruppe bilden hier die Rumänen: Wir hatten ungefähr Europa“ darstellt, beispielsweise hier in Deutschland?
48 000 Zuwanderungen aus Rumänien und circa
37 000 Fortzüge. Die Zu- und Abwanderungen sind Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nicht ganz ausgeglichen, aber auch hier gibt es erhebli- nern:
che Veränderungen. Im Falle Griechenland sieht es wie- Herr Abgeordneter, darüber gibt der Migrationsbe-
derum anders aus – man kann das erklären –: Es gab richt keine Auskunft. Wir sind statistisch außerstande,
8 200 Zuwanderungen und 16 000 Fortzüge. eine Unterschicht zu definieren, dann die Kinder zu zäh-
len und vorher noch nach der Religionszugehörigkeit zu
Wenn man zu einer qualitativen Zuwanderungsde- fragen. Ich glaube auch nicht, dass Sie diese Statistik ha-
batte kommen möchte, müsste man die Statistik eigent- ben wollen, auch nicht den Erhebungsaufwand, der da-
lich anders darstellen und sagen: Unionsbürger sind das mit verbunden ist.
eine; denn wir wollen Freizügigkeit in der Europäischen
Union. Unter Zuwanderungsgesichtspunkten ist es ei- Man kann anhand der Sozialstatistik – ich habe schon
gentlich fast egal, ob ein Belgier in Deutschland wohnt, gesagt: sie ist hier nicht Gegenstand – feststellen, wer
ob er ein Deutscher oder ein Belgier ist. Als Zweites von den hier lebenden Ausländern seinen Lebensunter-
sollte man die Asylbewerberzahlen herausnehmen, weil halt aus eigener Arbeit bestreiten kann. Es lässt sich
es sich hier mit Blick auf die Bearbeitung, die Abschie- nicht bestreiten, dass der Anteil derer, die ihren Lebens-
bung, die Duldung usw. um eine Sondergröße handelt. unterhalt nicht aus eigener Arbeit bestreiten können, un-
Die Zuwanderungspolitik, über die wir uns sonst strei- ter Ausländern verglichen mit der deutschen Bevölke-
ten, befasst sich mit der Frage, aus welchen Drittstaaten rung überproportional hoch ist. Jetzt kann man natürlich
Zuwanderer aus welchem Grund kommen und wie lange sagen: Wenn man es Asylbewerbern verbietet, zu arbei-
sie bleiben, sowie mit der Frage, wer in Drittstaaten ab- ten, dürft ihr euch nicht wundern. Das wäre Ihr Gegen-
wandert. Eine entsprechende Unterteilung böte eigent- argument.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9295

(A) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frage gipfelt mit anderen Worten darin, Sie zu bitten, (C)
NEN): eine Einschätzung vorzunehmen: Kann nicht eine ver-
Erwischt! nünftige Altfall- und Bleiberechtsregelung gefunden
werden, um dieser negativen Bevölkerungsentwicklung
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- seitens des Staates entgegenzutreten?
nern: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist Auffor-
Ja. Man muss das also ein bisschen auseinanderkla- derung zum Rechtsbruch!)
müsern.
Die zweite Frage, die damit zusammenhängt, die ich
Ich kann die Thesen, die Sie zitieren, nicht statistisch Sie ebenfalls bitte zu beantworten: Andere europäische
untermauern. Wir wissen: Je länger jemand hier ist, Staaten sind ganz offensichtlich überproportional stark
desto mehr passt sich sein sogenanntes generatives Ver- davon betroffen, dass Flüchtlinge über das Mittelmeer
halten – also die Frage, wie viele Kinder man bekommt – oder auf dem Landweg zu ihnen gelangen. Ist es ange-
an die Aufnahmegesellschaft an. Migranten der zweiten sichts dieser Situation aus Sicht der Bundesregierung
oder dritten Generation kriegen also eher so viele Kinder nicht geboten, im Sinne einer echten Lastenteilung in
wie die Familien in ihrer Umgebung als so viele, wie sie Europa zu sagen: „In Ordnung, wir nehmen nicht nur im
es von zu Hause gewohnt sind. bisherigen Rahmen wenige Flüchtlinge auf – in letzter
Statistisch ist ein zweiter, sehr langfristiger Trend zu Zeit haben wir Flüchtlinge aus dem Iran, wenige aus
erkennen, der für uns ein schweres Dilemma bedeutet: Malta, aus Syrien und Jordanien als Kriegsflüchtlinge
Der Kinderreichtum nimmt in der Regel mit steigendem aufgenommen –, sondern wir beteiligen uns sehr viel
Wohlstand ab und nicht zu. Ich bezeichne das als stärker an der Aufnahme von Flüchtlingen“? Wir hätten
Dilemma, weil das ja nicht bedeuten kann, dass die hier wesentlich mehr Platz für sie als andernorts und bes-
Leute einfach, weil wir mehr Kinder haben wollen, är- sere Möglichkeiten, um sie zu versorgen.
mer werden sollen, weil sie dann mehr Kinder bekom-
men. Eine solche These wäre absurd. Wahr ist aber lei- Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
der: Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, umso nern:
weniger Kinder werden geboren. Das gilt mehr oder we- Herr Abgeordneter Veit, Ihrer Aussage, dass wir alle
niger weltweit. Es gibt ein paar Ausnahmen. Schweden Anstrengungen unternehmen sollten, damit alle Men-
und Frankreich werden genannt. Wie nachhaltig das ist, schen, die hier leben, auch hier bleiben, würde ich gerne
wissen wir aber nicht genau. Von daher kann man sagen, mit zwei Ergänzungen zustimmen: erstens, wenn sie sich
dass die erste Generation derjenigen, die hierherkom- hier legal aufhalten, und zweitens, wenn sie ihren Le-
(B) men, mehr Kinder bekommt als die folgenden Genera- bensunterhalt bestreiten können. Das ist genau der (D)
tionen. Solche grundsätzlichen Plausibilitätsüberlegun- Punkt, über den wir im Rahmen der Bleiberechtsdebat-
gen kann man vielleicht anstellen. Ihr Nicken zeigt, dass ten diskutieren. Es kann keine Prämie dafür geben, dass
Sie das nicht ganz abwegig finden. Die Äußerungen, die man hier illegal eingereist ist und mit cleveren Anwälten
Sie aus dem Sarrazin-Buch anführen, kann ich anhand möglichst lange hierbleibt. Wir können nicht sagen: Ihr
der Statistik nicht bestätigen. seid schon lange hier, also dürft ihr hierbleiben. – Dafür
können wir keinen Anreiz schaffen, weil das nur dazu
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: führt, dass Verfahren verlängert werden.
Die nächste Frage kommt von Rüdiger Veit. Insbesondere bei Kindern – das ist ein Beschluss der
Innenministerkonferenz, den Sie kennen –, die sich gut
Rüdiger Veit (SPD): integriert haben, die einen Schulabschluss haben und de-
Herr Minister, zunächst auch von mir herzlichen ren Eltern, sofern sie keine Straftäter sind, hier für ihren
Dank für Ihren Vortrag. Sie haben in erfrischender Deut- Lebensunterhalt sorgen können, kann eine Bleiberechts-
lichkeit und gestützt auf die Zahlen des Migrationsbe- regelung sinnvoll sein. Aber eine Bleiberechtsregelung,
richts eine Aussage getroffen, die ich teile: Im Augen- die eine Prämie dafür gibt, dass man illegal nach
blick ist Deutschland – das gilt schon seit einigen Jahren – Deutschland gekommen ist, und die auch noch dazu
kein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungs- führt, dass diejenigen, die illegal nach Deutschland ge-
land. kommen sind, dem Steuerzahler dauerhaft zur Last fal-
len, wird meine Zustimmung nicht finden.
Ist vor dem Hintergrund der Entwicklung, dass in
Deutschland immer weniger Menschen leben, zumal im-
Rüdiger Veit (SPD):
mer weniger Menschen hier geboren werden und sie im
Durchschnitt sehr viel älter werden, nicht alle Anstren- Wir müssen aber erst einmal die Voraussetzungen da-
gung geboten, um diejenigen, die bereits in Deutschland für schaffen, dass sie hier arbeiten können und dürfen.
leben – namentlich die Kinder und Jugendlichen, die hier
aufgewachsen oder sogar hier geboren worden sind –, Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
hierzubehalten und dafür zu sorgen, dass sie eine Per- nern:
spektive in Deutschland bekommen, anstatt sie – daran Ja, auch darüber werden viele Debatten geführt. In
sollte man nicht im Entferntesten denken – nach sechs diesen Diskussionen geht es zum Beispiel um Arbeits-
oder acht Jahren Kettenduldung – davon können ihre El- verbote und die Residenzpflicht; Sie kennen diese De-
tern oder sie selbst betroffen sein – abzuschieben? Meine batten.
9296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière des Innern:
Bundesminister
(A) Noch einmal: Voraussetzung muss sein, dass der Be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
troffene nicht straffällig geworden ist und die Gewähr Die nächste Frage kommt von Kornelia Möller.
dafür bietet, den Lebensunterhalt für sich und seine Fa-
milie dauerhaft selbst zu bestreiten. Es reicht nicht aus, Kornelia Möller (DIE LINKE):
dass er sich nur darum bemüht hat. An diesem Punkt gibt Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, zuerst
es zwischen Union und SPD einen Streit. Viele von Ih- eine Korrektur: Der Migrationsbericht 2008 wurde zuge-
nen sagen: Es muss reichen, wenn sich die Betroffenen leitet – ja –, aber er wurde nicht überwiesen. Das ist ein
ernsthaft darum bemüht haben, ihren eigenen Lebensun- Unterschied. Überweisen kann ihn meiner Kenntnis
terhalt zu bestreiten. Wir sagen: Nein, der Lebensunter- nach nur die Bundesregierung; das ist aber nicht gesche-
halt muss gesichert sein. Das ist, wie ich glaube, ein hen. Das ist allerdings nicht meine Frage.
wichtiger Unterschied. Eine Regelung nach dem Motto
„Wer ewig strebend sich bemüht“ reicht nicht aus; denn Meine Frage betrifft die Flüchtlingspolitik. Im
Jahr 2010 wurden ungefähr 41 000 sogenannte Asylan-
diejenigen, die sich bemühen, es aber nicht schaffen,
träge gestellt. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als
würden auf Kosten der Steuerzahler Sozialleistungen be-
10 000 sogenannte Widerrufsverfahren eingeleitet, in
ziehen. Im Hinblick auf Personen, die ihren Lebensun-
denen der Status von bereits anerkannten Flüchtlingen
terhalt selbst bestreiten und nicht straffällig geworden
noch einmal überprüft wurde. 3 000 Flüchtlingen wurde
sind, ist eine Bleiberechtsregelung in dem Sinne, wie Sie ihr bereits anerkannter Status daraufhin aberkannt. Das
es formuliert haben, auch unter dem Gesichtspunkt der ist ein sehr hoher Anteil. In den meisten anderen EU-
Zuwanderungspolitik sicherlich sinnvoll. Ländern wird nicht nach dieser Praxis verfahren. In
Jetzt zu der Frage des sogenannten Resettlements. Frankreich allerdings gibt es sie; dort wurde nach Wider-
Wahr ist: Aufgrund der geografischen Lage ist die Situa- rufsverfahren ungefähr 2 Prozent der Flüchtlinge der
tion in Europa unterschiedlich. Bestimmte Staaten, die Status aberkannt. Meine Frage lautet: Wird die Bundes-
regierung diese EU-weit nahezu einzigartige Wider-
sogenannten Anrainerstaaten, leiden besonders unter Zu-
rufspraxis beenden, was gerade angesichts der EU-wei-
wanderung, andere Staaten weniger. Griechenland, Ita-
ten Harmonisierung der Flüchtlingspolitik angemessen
lien, Malta, Zypern und Spanien haben damit beispiels-
wäre, und, wenn nein, warum nicht?
weise mehr zu tun als etwa Finnland. Vor diesem
Hintergrund wurde die Idee geboren – auch die Europäi-
sche Kommission hat diesen Vorschlag gemacht –, ein Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
sogenanntes Resettlement-Programm aufzulegen, das nern:
dazu führen soll, dass die Lasten geteilt werden. Zum ersten Punkt. Wir geben diesen Bericht dem
(B) Deutschen Bundestag, wie auch immer Sie das bezeich- (D)
Es ist allerdings so, dass verpflichtende Quoten für nen. Was Sie damit machen, ist Ihre Sache. Sie können
die Anrainerstaaten keinen Anreiz darstellen, illegale das gern mit uns oder im Ältestenrat klären. Ich tue alles,
Migration zu verhindern. Vielmehr würden diese Staaten was der Bundestag möchte,
Zuwanderer aufnehmen, ein bisschen abwarten und sie (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
dann in Europa verteilen. Das kann nicht sinnvoll sein. Das merken wir uns! – Iris Gleicke [SPD]: Das
Wir halten es vielmehr für sinnvoll, die Staaten, die be- steht jetzt im Protokoll!)
sondere Lasten zu tragen haben und sich mit ihren
Flüchtlingen große Mühe geben, wie es etwa Malta tut, damit Sie das diskutieren können. An dem Terminus –
freiwillig mit einem Rückkehrprogramm bzw. einem Überweisung oder Zuleitung – soll das nicht scheitern.
Hilfsprogramm zu unterstützen. Vielleicht können wir uns darauf verständigen.
Jetzt zu Ihrer Frage. Dies ist der Migrationsbericht
Wenn man sich die entsprechenden Zahlen im Hin- 2009. Sie fragen nach den Asylbewerberzahlen des Jah-
blick auf das Resettlement ansieht, stellt man fest, dass res 2010. Die sind in der Tat sehr hoch; sie sind angestie-
die Länder, die sich freiwillig zu einer Neuansiedlung gen. Wenn etwa die Zahlen der Asylbewerber aus
bereit erklären, mehr Zuwanderer aufnehmen als die Afghanistan und dem Irak hoch sind, ist das verständ-
Länder, die nach Quoten vorgehen. Unser Nachbarland lich. Völlig unverständlich ist aber ein erheblicher – ich
Frankreich zum Beispiel nimmt nach einer Quote pro sage: dramatischer – Anstieg der Asylbewerberzahlen
Jahr 400 Zuwanderer auf. Deutschland hingegen nimmt aus Serbien, insbesondere nachdem die Visumpflicht für
freiwillig Zuwanderer auf. Wir gehen gezielt und in Ab- Serbien abgeschafft worden ist. Das riecht nach einem
sprache mit den Bundesländern vor, berücksichtigen hu- Missbrauch des Asylverfahrens, und das werden wir
manitäre Gesichtspunkte und wollen die Länder, die sich nicht hinnehmen. Wir sind hier mit der serbischen Re-
im Hinblick auf Zuwanderer besonders große Mühe ge- gierung im Gespräch. So kann es nicht weitergehen. Wir
ben, entlasten. Insgesamt nimmt Deutschland eine grö- haben die Rückkehrhilfen eingestellt; wir werden ent-
ßere Anzahl von Zuwanderern auf als Frankreich. Auch sprechende Maßnahmen ergreifen. Ähnliches gilt für
mit Blick auf die nachfolgende Integration haben wir da- Montenegro und andere Balkanstaaten. Der Wegfall des
mit bessere Erfahrungen gemacht als Länder, die nach Visumverfahrens soll nicht dazu dienen, dass Ausländer,
einer verpflichtenden Quote vorgehen. Zu Resettlement- die Mitglied der Europäischen Union werden wollen, be-
Programmen, wie sie fachlich heißen, sage ich also Ja, quemer in Deutschland einreisen und dann hier einen
aber auf freiwilliger Basis. Das ist auch im Interesse der Antrag auf Asyl stellen. So war das Asylverfahren nicht
Flüchtlinge. gedacht; das kann nicht richtig sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9297
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière des Innern:
Bundesminister
(A) Ich kann Ihre Frage zwar nicht im Detail beantwor- erkennen, beispielsweise die IHKs und die Handwerks- (C)
ten; jedoch haben wir hier keine Rechtsänderungen vor. kammern. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes
Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen die Be- reicht nicht so weit. Deswegen ist der Kernpunkt, einen
gründung im Einzelnen gern schriftlich nachliefern. Anspruch zu schaffen, in einer bestimmten Zeit eine
Entscheidung zu bekommen. Das ist eigentlich ziemlich
Kornelia Möller (DIE LINKE): wenig. Viel mehr wird aufgrund der zersplitterten Zu-
Sehr gern. ständigkeiten gar nicht möglich sein, und selbst das ist
nicht so leicht zu regeln. Wir arbeiten aber mit Hoch-
druck an der Angelegenheit, und ich will mich gerne da-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
für verwenden.
Die letzte Frage stellt nun der Kollege Dr. Ernst
Rossmann. Zu Ihrer zweiten Frage: Ich kann ja verstehen, dass
Sie und Frau Kolbe danach lechzen, irgendwelche Mei-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): nungsunterschiede in der Koalition bei diesem Punkt aus
Herr Minister, Sie haben einen Zusammenhang zwi- meinen Worten herauszuhören.
schen dem Migrationsbericht und Bildungsfragen herge-
(Rüdiger Veit [SPD]: Noch lieber wären uns
stellt. Ich möchte deshalb zweigeteilt auf ein Anliegen Lösungen! – Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]:
zurückkommen, das uns verbindet, nämlich dass wir aus
Konkrete Ansätze!)
allgemeinen Berichten wissen, dass es in Deutschland
geschätzte 300 000 bis 500 000 eingewanderte Men- Ich werde Ihnen diesen Gefallen nicht tun. Wir werden
schen mit akademischer bzw. beruflicher Qualifikation darüber vortragen, wenn wir so weit sind. Ich habe nur
gibt, deren Qualifikation nicht anerkannt wird. Das Vor- gesagt, dass wir etwas tun wollen, um die hier lebenden
haben der Bundesregierung ist ja, das über ein Anerken- Absolventen besser zu stellen als jetzt.
nungsgesetz zu ermöglichen. Das wird diesen Menschen
nun schon seit über einem Jahr versprochen, und wir fra- Wie ist die Lage jetzt? Sie erhalten jetzt eine befris-
gen im zuständigen Bildungsausschuss immer wieder tete Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr, um sich Ar-
nach: Wie weit ist das denn? Nun wurde uns gesagt, dass beit zu suchen. Der erste Vorschlag, der gemacht wird,
sich bis zum 15. November letzten Jahres alle Ressorts lautet, diese Frist zu verlängern. Ich halte davon wenig.
dazu äußern sollten und es auch durch Personalaufsto- Das würde eher dazu führen, dass Arbeitgeber, die Aka-
ckung leider noch nicht gelungen ist, das abzuarbeiten, demiker, also Personen mit einem abgeschlossenen Stu-
damit das Verfahren trotz der Zerklüftung dieser Materie dium, ohnehin mit Praktika abspeisen, dies dann zwei
in Gang kommt. Ich bitte darum – die Regierungsbank Jahre statt ein Jahr lang tun. Ich halte das nicht für ver-
(B) ist jetzt stark besetzt –, dass die Ministerien mit Hoch- nünftig. (D)
druck daran arbeiten, damit dieses Versprechen gegen-
Es gibt aber noch ein zweites Hindernis. Dabei geht
über diesen qualifizierten Menschen zügig eingeleitet
es darum, wie viel nebenbei gearbeitet werden darf. Es
werden kann.
ist schlecht, sie hier zu halten, wenn sie ein Jahr lang ei-
Meine erste Frage lautet daher: Können Sie als ver- nen Job suchen, keine Arbeit finden und sich sozusagen
antwortlicher Innenminister, als Treuhänder für diese nicht über Wasser halten können. Deswegen gibt es
qualifizierten Menschen, nicht Ihren ganzen Einfluss für Überlegungen, bei dem Betrag oder den Tagen – wie die
die Bundesregierung geltend machen, damit es nicht Regelung genau ist, habe ich jetzt nicht im Kopf – etwas
noch weitere Monate dauert? Was können Sie sich vor- zu verändern, sodass sie ihren eigenen Lebensunterhalt
stellen, um dies zu erreichen? während dieses Jahres besser darstellen können als bis-
her. Das hat zwei Vorteile: Sie erhalten so lange keine
Um eine präzise Frage zu einer anderen Materie nach- Sozialleistungen, und sie sorgen selbst für ihren Unter-
zuschieben: Frau Kolbe wollte gern wissen, was Sie sich halt. Das führt zu mehr Bindungen.
als Innenminister in Bezug auf die von Ihnen so apostro-
phierten 32 000 hochinteressanten ausländischen Absol- Es gibt allerdings einen Pferdefuß; deswegen muss
ventinnen und Absolventen konkret vorstellen. Da haben man das klug machen. Wir wollen nämlich nicht, dass
Sie gesetzgeberische Möglichkeiten, zum Beispiel das ein Diplom-Ingenieur, der Taxi fährt und dadurch seinen
Bleiberecht betreffend. Lebensunterhalt bestreitet – quasi unter Niveau –, sagt:
Dann bleibe ich halt Taxifahrer, und was nach fünf Jah-
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- ren ist, weiß ich nicht. – Wir wollen ihn ja da einsetzen,
nern: wofür er ausgebildet ist. Das heißt, das Ganze darf wie-
Herr Abgeordneter, zur ersten Frage: Ich werde gern derum nicht zu Fehlanreizen führen. Wir sind im Ge-
meine ganze Kraft dafür einsetzen, dass das Gesetz spräch darüber, das im Detail herauszuklamüsern.
schnell verabschiedet wird. Ich biete Ihnen auch an,
Das sind die angedachten Instrumente: Verlängerung
noch einmal bilateral mit dem Staatssekretär zu spre-
der Frist – davon halte ich wenig – und das Schaffen der
chen. Er hat mir eben einen Zeitraum zugeflüstert, den
Gelegenheit, in diesem einen Jahr wirklich Zeit und die
ich aber nicht verbindlich nennen will.
Möglichkeit zu haben, einen Arbeitsplatz zu finden, der
Es liegt nicht an bösem Willen, sondern die Sache ist anschließend zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht
kompliziert. Es ist nicht nur ein Bund-Länder-Streit. Es führt. Ich glaube, das ist in der Koalition ziemlich un-
gibt über 400 Stellen in Deutschland, die Abschlüsse an- streitig. Wie das im Einzelnen genau geht, werden wir
9298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière des Innern:
Bundesminister
(A) noch entscheiden, aber die Zielrichtung ist unstreitig, blem vorliege und dass alle beteiligten Ämter und Be- (C)
und die unterstütze ich auch. hörden keinerlei Sicherheitsrisiko sähen.
Aber wenn das alles so in Ordnung, so sicher und so
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: unbedenklich ist, wieso empfiehlt dann der TÜV den
Damit haben wir den zeitlichen Rahmen der Regie- Austausch des unbedenklichen Teiles, was nach meinem
rungsbefragung mehr als ausgeschöpft. Herr Bundes- Kenntnisstand und meinem Verständnis doch eine etwas
minister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fra- aufwendigere Angelegenheit ist?
gen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Fragestunde
heit:
– Drucksachen 17/4406, 17/4421 – Es liegen Messergebnisse von Ultraschalluntersu-
Wir beginnen mit den dringlichen Fragen auf Druck- chungen vor. Diesen Messergebnissen ist auch nachge-
sache 17/4421. Sie betreffen den Geschäftsbereich des gangen worden. Die Messergebnisse sagen nicht, dass es
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Re- zwingend ein Riss ist. Aber gerade weil es sich um ein
aktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Kernkraftwerk und gerade weil es sich um einen sensi-
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche blen Bereich handelt, unterstellen wir einen solchen
zur Verfügung. möglichen Riss. Darauf richten sich die Untersuchun-
gen.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin
Dorothee Menzner auf: Wir messen der Reaktor-Sicherheitskommission und
ihrer Kompetenz große Bedeutung bei, und wir – das
Welche Auffassung über die Sicherheitsrelevanz hat die
Bundesregierung bezüglich des durch Ultraschallmessungen BMU als überwachende Behörde, aber auch das zustän-
festgestellten möglichen Risses einer Hauptkühlleitung inner- dige Ministerium in Bayern als unmittelbare Aufsichts-
halb des Reaktors im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld, über behörde – sind gemeinsam zu der Überzeugung gelangt,
den seit dem Wochenende in den Medien berichtet wird? dass es ausreicht, bei der Revision im März zu detaillier-
teren Erkenntnissen zu kommen. Es gibt zurzeit keinen
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Gefahrenverdacht. Das folgt auch aus der Beratung der
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- RSK.
heit:
Frau Kollegin Menzner, ich beantworte Ihnen die Frage Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) wie folgt: Das Bundesministerium für Umwelt, Natur- Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin. (D)
schutz und Reaktorsicherheit ist nach seiner Sachverhalts-
ermittlung unter Hinzuziehung eigener Sachverständiger
und insbesondere unter Würdigung der Bewertungen der Dorothee Menzner (DIE LINKE):
Reaktor-Sicherheitskommission zu der Auffassung ge- Danke, Frau Präsidentin. – Der Vorfall war diese Wo-
langt, dass eine Klärung eines bei einer Ultraschallunter- che unter anderem Gegenstand der Presseberichterstat-
suchung festgestellten Befundes erforderlich ist, die nur tung. Es wurde berichtet – das wurde auch heute im Aus-
bei abgeschalteter Anlage erfolgen kann. Ob das Ultra- schuss bestätigt –, dass das Bundesministerium erst
schallsignal tatsächlich von einem Riss herrührt, ist unbe- Monate später von diesem Befund Kenntnis bekommen
kannt. Es wird jedoch sicherheitsbedingt ein Riss unter- hatte. Dabei wurde auch deutlich, dass das nicht auf-
stellt. grund eines regulären vereinheitlichten Verfahrens der
Fall war. Es war vielmehr davon die Rede, dass Experten
In der betreffenden Sitzung der RSK hatte keiner der am Rande von Fachkonferenzen immer viel reden. In
anwesenden Experten eine Wachstumsgeschwindigkeit diesem Zusammenhang sei man auf den Vorfall in Gra-
des möglichen Risses für vorstellbar gehalten, welche fenrheinfeld aufmerksam geworden, was dazu geführt
vor März 2011 zu einem Erreichen der sogenannten kri- habe, dass das Bundesumweltministerium Informationen
tischen Risstiefe, ab welcher ein Durchriss des Rohres angefordert habe. Ich frage Sie: Trifft das zu? Welche
nicht mehr auszuschließen wäre, führen würde. Deshalb Schlussfolgerung ziehen Sie daraus für Ihre interne Auf-
ist das BMU mit einer Klärung der Ursache im Rahmen stellung, aber auch für die zukünftige Zusammenarbeit
der Revision im März 2011 einverstanden. mit den ausführenden Landesbehörden?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-


Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? – Bitte. desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit:
Dorothee Menzner (DIE LINKE): In der Tat haben wir im August von Ergebnissen er-
Frau Staatssekretärin, wie Sie sich denken können, fahren und uns daraufhin mit der bayerischen Aufsichts-
haben wir das Thema schon heute Morgen im Umwelt- behörde in Verbindung gesetzt. Die Behörde hat Ermes-
ausschuss behandelt. Dort hat der Vertreter des bayeri- sensspielräume, wann sie informiert. Wir haben das
schen Ministeriums für Umwelt und Gesundheit, Herr Gespräch intensiv gesucht. Auch das wurde berichtet.
Lazik, sehr ausgiebig versucht, uns deutlich zu machen, Berichtet wurde auch, dass in einem intensiven Schrift-
wie sicher Grafenrheinfeld ist, dass überhaupt kein Pro- wechsel im September, Oktober und Dezember ein Aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9299
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
(A) tausch stattfand. Am 9. Dezember fand dann das Fach- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
gespräch statt. Frau Staatssekretärin, mich beunruhigt etwas, wann
das alles aufgedeckt wurde und die Daten bereitgestellt
Es bleibt festzuhalten, dass es einen intensiven Aus-
wurden. Aus Presseberichten haben wir erfahren, dass
tausch gab. Es bleibt vor allem festzuhalten, dass es zur-
im Juni letzten Jahres dieses Messergebnis aufgetaucht
zeit keinen Gefahrenverdacht gibt und dass die RSK zu
sei. Sie sagten, Sie hätten im August davon Kenntnis be-
dem Schluss gekommen ist, dass wir bis März warten
kommen. Im Juni befand sich der Reaktor aber noch in
können, um dann weiterzusehen und intensivere Unter-
einem ungewöhnlich langen Revisionsbetrieb. Das heißt,
suchungen vorzunehmen. Das ist zum jetzigen Stand
er war abgeschaltet. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Be-
das, was das Ministerium heute Morgen im Ausschuss
treiber doch genauer hinschauen können, ob das besagte
sagen konnte und was ich jetzt dazu sagen kann.
Echo auf einen Riss zurückzuführen ist oder nicht. Wa-
rum kann man jetzt nur Vermutungen anstellen? Warum
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gibt es nicht von vornherein Auflagen?
Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Kotting-Uhl.
Ich habe große Sorgen, vor allem auch deswegen,
weil am 30. September letzten Jahres eine Schnellab-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaltung von Grafenrheinfeld vorgenommen werden
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä- musste, und zwar aus angeblich externen Gründen. Wie
rin, Sie sagten, die Wachstumsgeschwindigkeiten gäben wir aber wissen, üben Schnellabschaltungen hohe Belas-
keinen Anlass, davon auszugehen, dass vor März 2011 tungen auf die Kühlmittelleitungen aus. Damit könnte
oder überhaupt Handlungsbedarf bestehe. Ich wüsste auch eine Erhöhung der Geschwindigkeit bei der Riss-
gerne, auf welcher Grundlage Sie die Wachstumsge- bildung zusammenhängen. Ich habe große Sorgen. Wie
schwindigkeiten berechnen. können Sie sicher sein, dass bis zum März dieses Jahres
alles ohne Probleme über die Runden geht, obwohl in-
Wir haben gehört, dass der vermutete Riss eine Tiefe zwischen Ereignisse eingetreten sind, die a) schon wäh-
von maximal 2,7 Millimetern hat und dass die kritische rend der Abschaltung hätten gelöst werden können und
Risstiefe bei 19 Millimetern liegt. Woher wissen Sie, in b) durch die Schnellabschaltung möglicherweise noch
welcher Zeit dieser 2,7 Millimeter tiefe Riss entstanden beschleunigt wurden?
ist? Schon 2001 ist bei einer Revision ein auffälliges
Echogeräusch festgestellt worden. Man ging bereits da-
mals davon aus, dass es sich um einen Riss handeln Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
könnte. Aber woraus schließen Sie, dass anzunehmen desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
(B) ist, dass das Ganze – so habe ich es gelesen – um heit: (D)
0,1 Millimeter im Jahr wächst? Woher nimmt man die Sie haben bereits heute Morgen erfahren, dass der
Gewissheit, dass dieser Riss, sofern es sich um einen TÜV Süd in einer Stellungnahme vom 15. Juni zu dem
handelt, gleichmäßig wächst? Wenn wir zum Beispiel Ergebnis kam, dass es aufgrund einer sehr geringen Be-
davon ausgehen – ich finde, diese Vermutung ist nicht fundtiefe sicherheitstechnisch unbedenklich ist, den Re-
allzu fern –, dass, wie wir heute nebenbei gehört haben, aktor fahren zu lassen. Die Untersuchungen im Rahmen
der Lastfolgebetrieb, in dem der Reaktor gefahren wurde von Revisionen finden in Verantwortung der zuständigen
– ich nehme an, nicht seit zehn Jahren, sondern erst in Genehmigungsbehörde statt, in diesem Fall also in Zu-
jüngster Zeit –, durchaus etwas damit zu tun haben und ständigkeit des Landes Bayern. Das Bundesumweltmi-
eine solche Rissbildung beschleunigen kann, dann kön- nisterium wird über die Prüfergebnisse betreffend Kern-
nen diese 2,7 Millimeter sehr schnell entstanden sein. kraftwerke in der Regel nicht informiert und schaltet
Worauf gründen sich also bitte Ihre Berechnungen? sich in die Entscheidung über das Wiederanfahren
grundsätzlich nicht ein. Das ist die übliche Praxis; das
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- war schon immer so. Ich finde, allein dass wir im Ver-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- laufe des Jahres nachgefragt haben, die RSK damit be-
heit: fasst haben, Informationen gesammelt haben und unsere
Wir werden im März vertiefte Prüfungen vornehmen. Aufsichtspflicht ernst genommen haben, sollte Ihnen ei-
Ich gehe davon aus, dass die Messungen, die regelmäßig nen Teil Ihrer Bedenken – hoffentlich – nehmen können.
im Rahmen periodischer Prüfungen vorgenommen wer-
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den, so zustande kommen, dass sie allen Sicherheitsan-
NEN]: Nein, das kann es nicht nehmen!)
forderungen entsprechen. Wir haben in diesem Fall auch
aktiv mehr Informationen angefordert. Gleichwohl ist
nicht ein Gremium im BMU alleine, sondern die RSK Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
als fachliche Behörde nach Austausch mit Experten zu
der Überzeugung gekommen, dass keine Sicherheitsbe- Herr Kollege Röspel, bitte.
denken bestehen, jedenfalls keine, die nicht bis zum
März auf eine vertiefte Prüfung warten könnten. René Röspel (SPD):
Frau Staatssekretärin, von welcher Haltbarkeitsdauer
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: geht man bei einer solchen Hauptkühlleitung aus? Ist
Eine weitere Zusatzfrage hat der Kollege Fell. diese bereits überschritten?
9300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- schuss heute Morgen wurde erläutert, wie intensiv der (C)
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Kontakt zu den bayerischen Behörden war. Dass wir an-
heit: dere Kraftwerksbetreiber darüber informieren und bit-
Ich kann Ihnen keine Jahreszahlen nennen. Es geht ten, Prüfungen vorzunehmen, ist ein weiterer Beleg da-
aber auch nicht um eine Jahreszahl, sondern darum, ob für, wie sensibel wir mit dem Thema Sicherheitsrelevanz
ein Teil funktionsfähig und intakt ist oder nicht. Sollten bei Kernkraftwerken umgehen.
Zweifel bestehen, muss ein sensibles Teil ausgetauscht
werden. Ich wiederhole mich: Sollten im März die ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tieften Ultraschallmessungen und andere Messungen zu Eine weitere Zusatzfrage?
dem Ergebnis kommen, dass ein Austausch erforderlich
ist, muss und wird ein Austausch vorgenommen werden.
Ich kann Ihnen die Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt Dorothee Menzner (DIE LINKE):
aber noch nicht nennen. Frau Staatssekretärin, es ist vollkommen richtig, dass
Sie heute auf Antrag aus den Reihen der Ausschussmit-
glieder Bericht erstattet haben. Eine solche Nachfrage
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: war uns aber erst möglich, nachdem wir die Pressebe-
Damit kommen wir zur dringlichen Frage 2 der Kol- richterstattung kannten.
legin Dorothee Menzner:
Welche unmittelbaren Maßnahmen zur Gefahrenabwehr Ich möchte Sie an dieser Stelle noch einmal fragen,
und zur Prüfung des neuesten Vorfalls im Atomkraftwerk wie Sie für zukünftige Fälle gewährleisten wollen, dass
Grafenrheinfeld hat die Bundesregierung eingeleitet? der Informationsfluss zwischen den Ländern und dem
Bund besser läuft und man nicht auf zufällig ausge-
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- tauschtes Wissen am Rande von Fachkonferenzen ange-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- wiesen ist – so wurde es zumindest heute Morgen dar-
heit: gestellt –, um erst dann Informationen von den jeweils
Frau Kollegin Menzner, ich antworte wie folgt: Das zuständigen Landesbehörden anzufragen. Mir erscheint
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reak- – das gilt sowohl innerhalb des Parlaments als auch beim
torsicherheit hat sich von der zuständigen Atomauf- Austausch zwischen den Ländern und der Bundes-
sichtsbehörde des Freistaates Bayern schriftlich und ebene – noch einiges optimierungsfähig.
mündlich über den Sachverhalt informieren lassen und
hat darüber hinaus Bewertungen von eigenen Gutachtern Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
und der Reaktor-Sicherheitskommission eingeholt, so desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
(B) wie ich es eben dargestellt habe. heit: (D)
Im Hinblick auf die weiter gehende Bedeutung des Ich kann hier keine Zufälligkeiten erkennen. Gleich-
Ereignisses hat das BMU die Gesellschaft für Anlagen- wohl geht es immer darum, die Kommunikationswege
und Reaktorsicherheit, GRS, mit der Erstellung einer zu verbessern. Allerdings gibt es eine klare Aufgabentei-
Weiterleitungsnachricht beauftragt. Durch diese Weiter- lung zwischen der Zuständigkeit der aufsichtsführenden
leitungsnachrichten soll sichergestellt werden, dass an- Landesbehörden und dem Bund. Wir wollen es bei die-
dere deutsche Kernkraftwerke über den Sachverhalt auf- ser bewährten Aufgabenteilung, deren Funktionsfähig-
geklärt werden und, soweit erforderlich, geeignete keit uns durch internationale Kommissionen in der letz-
Prüfungen vornehmen sowie Maßnahmen ergreifen. ten Legislaturperiode bestätigt wurde, belassen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Ihre Zusatzfrage, Frau Menzner. Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Kotting-Uhl.

Dorothee Menzner (DIE LINKE): Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


Danke, Frau Vorsitzende. – Diesen recht umfangrei- Frau Staatssekretärin, wir reden hier nicht von einem
chen Maßnahmen – wenngleich sie mit deutlichem Zeit- Vorkommnis, das sich irgendwo im Außenbereich des
verzug erfolgen – entnehme ich, dass die Bundesregie- Atomkraftwerks abgespielt hat. Wir reden von einem
rung diesen Befund als nicht ganz so harmlos einstuft, Befund aus dem Innersten, aus dem nuklearen Teil des
wie uns glauben gemacht werden soll. Ich frage Sie, ob Reaktors. Wenn dieser Befund tatsächlich zu einem Stör-
Sie es für normal halten, dass sogar die Mitglieder des fall führen würde, dann hätten wir einen Störfall der
zuständigen Ausschusses solche Vorgänge, solche Pro- Stufe 3. Das ist in Deutschland bisher noch nicht vor-
bleme, solche Debatten erst aus den Medien erfahren. gekommen. Das heißt, die ganze Anlage wäre atomar
verseucht, was entsprechende Auswirkungen hätte. Da
erscheint mir doch das Wort „Sensibilität“, das Sie jetzt
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
einige Male bemüht haben, nicht ganz richtig angewen-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
det.
heit:
Ich weise zurück, dass die Bundesregierung Vor- Ich will Sie fragen, wie es sein kann, dass ein solcher
kommnisse verharmlost oder Informationen nicht in er- Störfall, der eventuell nicht gemeldet wurde – das hat
forderlichem Maße gibt. Wir haben im Ausschuss die sich nämlich heute Morgen im Umweltausschuss nicht
entsprechenden Informationen gegeben. Auch im Aus- so angehört –, sondern mehr zufällig im August letzten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9301
Sylvia Kotting-Uhl
(A) Jahres bei irgendeiner Begegnung übermittelt wurde, der licherweise die Rissgeschwindigkeit erhöht: auch darauf (C)
dem BMU aber immerhin bekannt war, nicht sofort, wie nur Achselzucken. Aber es gibt diese Fragen, Frau
es – das will ich betonen – üblich ist bei Befunden im Staatssekretärin. Damit ist doch bei der Bewertung, dass
Primärkreislauf, dazu geführt hat, das entsprechende da kein Sicherheitsrisiko vorliegen würde, keine Sicher-
Atomkraftwerk abzuschalten, der Ursache auf den heit vorhanden. Es muss zu einer vorsorglichen Hand-
Grund zu gehen und, nachdem man die Ursache für den lung kommen, die bisher auch immer üblich war, näm-
Befund kennt, zu entscheiden, ob das Atomkraftwerk lich dass der Reaktor vorsorglich abgeschaltet wird, um
wieder ans Netz kommt. Erklären Sie mir bitte, wie es diese Auffälligkeiten näher zu untersuchen und festzu-
sein kann, dass dieses Atomkraftwerk von August bis stellen, ob sie ein Problem darstellen oder nicht.
heute ungehindert weiterlief und man jetzt sagt: Jetzt las-
sen wir es weiterlaufen; denn es steht demnächst ohne- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
hin eine Revision an, das reicht. – Das ist ein Tabubruch. desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Dies bricht mit dem, was bisher üblich war. heit:
Frau Staatssekretärin Heinen-Esser hatte Ihnen bereits
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- heute Morgen angeboten, die Ereignismeldung, die In-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- formationen enthält, weiterzuleiten. Ich möchte wieder-
heit: holen, Herr Kollege Fell, dass zurzeit kein Gefahrenver-
Auf Basis der Berechnungen, die vorliegen, kann dacht vorliegt, dass wir uns in dieser Bewertung mit der
nicht festgestellt werden, dass es ein von Ihnen unter- Reaktor-Sicherheitskommission in Übereinstimmung se-
stelltes erhebliches Sicherheitsrisiko gibt. Noch einmal: hen und dass, wenn die Prüfung im März ergeben sollte,
Das haben Experten des Umweltministeriums in Zusam- dass ausgetauscht werden muss, auch ausgetauscht wer-
menarbeit mit der RSK festgestellt. An der Betriebssi- den wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt liegt kein Gefah-
cherheit des Kernkraftwerks – das ist entscheidend – be- renverdacht vor.
stehen keine Zweifel. Auch wenn ein hypothetischer
Abriss – das ist das, was Sie beunruhigt – der Volumen-
ausgleichsleitung an der befundbehafteten Stelle im Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Kraftwerk Grafenrheinfeld unterstellt würde, würde ein Dann kommen wir zur dringlichen Frage 3 der Kolle-
solcher Störfall von der Anlage beherrscht werden. Auch gin Kornelia Möller zum selben Sachverhalt:
das ist eine Aussage, die heute Morgen im Ausschuss so- Welche Informationen bzw. Erkenntnisse haben die Exper-
wohl von der Leitung des Hauses als auch von dem ten in der Abteilung für Reaktorsicherheit des Bundesministe-
bayerischen Ministerium so bestätigt wurde. riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, BMU,
dazu bewogen, die sofortige Abschaltung des Reaktors Gra-
(B) fenrheinfeld und den sofortigen Austausch des mit einem Riss (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: versehenen Bauteils nicht mehr zu fordern?
Herr Kollege Fell zur nächsten Zusatzfrage.
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Frau Staatssekretärin, Sie sagen, an der Sicherheit des heit:
Kernreaktors bestünden keine Zweifel. Ich könnte das Auch Frau Kollegin Möller möchte gerne Auskünfte,
nur dann nachvollziehen, wenn es Beobachtungen gäbe, Erkenntnisse und Informationen zu Grafenrheinfeld ha-
deren jeweilige Erklärung wir kennen würden. Aber es ben. Ich wiederhole mich insofern, als das Bundes-
gibt Beobachtungen, die Fragen aufwerfen, die auch die umweltministerium nach seiner Sachverhaltsermittlung
Experten heute – weder die vom bayerischen Umwelt- – unter Hinzuziehung eigener Sachverständiger und ins-
ministerium noch die vom Bundesumweltministerium – besondere unter Würdigung der Bewertungen der Reak-
nicht zufriedenstellend beantworten konnten. Im Gegen- tor-Sicherheitskommission – zu der Auffassung gelangt
teil: Sie konnten sogar überhaupt keine Antwort auf ist, dass die erforderliche Klärung eines bei einer Ultra-
meine Frage geben. schalluntersuchung festgestellten Befundes nur bei abge-
schalteter Anlage erfolgen kann.
Der Zeitraum der Revision wurde im letzten Jahr um
über einen Monat verlängert, weil Auffälligkeiten, näm- Ich hatte auch ausgeführt, dass in der betreffenden
lich erhebliche Mengen von radioaktivem Eisen, Chrom Sitzung der Reaktor-Sicherheitskommission keiner der
und Nickel, festgestellt wurden. Dieses Eisen, Chrom anwesenden Experten ein Wachstum des möglichen Ris-
und Nickel kann nur aus der Leitung an anderer Stelle ses für vorstellbar gehalten hatte. Wir werden somit im
gekommen sein. Das heißt, es muss irgendwo etwas ero- März 2011 eine erneute Überprüfung durchführen und
dieren; sonst wären in dem Kühlmittel nicht solche gro- haben uns einverstanden erklärt, im Rahmen der Revi-
ßen Mengen, die immerhin zu einer Verlängerung des sion im März 2011 eine Klärung – so wie ich es hier bis-
Revisionszeitraums geführt haben. lang auch im Rahmen der Fragen beantwortet habe – zu
erreichen.
Auf meine Frage, ob das denn nicht untersuchenswert
wäre und ob sie denn eine Antwort darauf hätten, woher
diese Mittel kommen, hatten sie eigentlich nur ein Ach- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
selzucken übrig. Sie wussten nichts. Dasselbe gilt für die Sie haben eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Möller? –
andere Frage, nämlich ob eine Schnellabschaltung mög- Bitte.
9302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Kornelia Möller (DIE LINKE): Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- (C)
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Frau desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Staatssekretärin, ich habe Sie bei der Beantwortung der heit:
ersten Frage so verstanden, als sei es ungewiss, dass es Wir wissen nicht, ob es ein Riss ist; auch das muss
einen Riss gebe. Es sei unwahrscheinlich, dass dieser festgestellt werden. Das lässt sich mittels Ultraschall-
Riss vor März eine relevante Größe erreichen werde. untersuchungen nicht feststellen. Allein der Verdacht, es
Der Kollege Fell hat jetzt Fragen gestellt, die sehr be- könnte ein Riss vorliegen, lässt uns alle nötigen Maß-
sorgniserregend sind und auf die es keine Antworten ge- nahmen ergreifen. Wir haben sie bereits ergriffen und
geben hat. Das Ganze erscheint mir sehr schwammig. werden sie im März fortführen.
Obwohl ich die Wiederholung von Ihnen gehört habe,
dass dieser Riss keine relevante Größe hat, dass alles gut Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ist und dass eine Prüfung im März reicht, habe ich Das Wort zu einer Zusatzfrage hat die Kollegin
– auch hinsichtlich der Bürgerinnen und Bürger, die in Menzner.
der Nähe und im weiteren Umkreis leben müssen – Be-
fürchtungen. Denn es erscheint doch sehr deutlich, dass Dorothee Menzner (DIE LINKE):
Sie nicht wissen: Ist es nun gefährlich, oder ist es nicht Frau Staatssekretärin, diese Fragestellung – auch das
gefährlich? Bekanntwerden der möglichen Probleme an dem Haupt-
Dazu meine Frage. Wenn es sich bei dem Störfall um kühlsystem – kam in einer Zeit auf, wo in diesem Land
die Stufe 3 handeln würde, dann würde das bedeuten, doch recht emotional über die Möglichkeit – das wurde
dass der ganze Bereich verseucht wäre. Sie sagen, das dann von Ihrer Koalition auch umgesetzt – einer Lauf-
habe man im Griff. Sind Sie sich da sicher? Können Sie zeitverlängerung diskutiert wurde. Wir und mit uns viele
angesichts all dieser Ungewissheiten, all dieses Nicht- andere halten dies für kontraproduktiv und gefährlich.
wissens und Nicht-Beantworten-Könnens von relevan- Der Verdacht liegt einfach nahe, dass es in solch einer
ten Fragen gerade in diesem Bereich, der eine derartige Situation, bei einer so schwerwiegenden Sicherheits-
Gesundheitsgefährdung für Menschen bedeutet, so frage – ich spreche nicht von einem Problem – politisch
leichtfertig damit umgehen, dass Sie sagen: „Es reicht, ungewünscht war, das Ganze öffentlich zu machen, die-
wenn das im März überprüft wird“? sen Reaktor abzuschalten, um der Sache auf den Grund
zu gehen. Natürlich war diese Frage auch vom Betreiber
Eon ökonomisch nicht erwünscht. Was sagen Sie dazu?
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
heit: desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- (D)
(B)
Erstens: Die Bundesregierung nimmt ihre Aufsichts- heit:
funktionen und ihre Aufsichtspflichten sehr ernst. Zwei- Ich sehe den von Ihnen konstruierten Zusammenhang
tens: Den Vorwurf der Leichtfertigkeit möchte ich auch nicht. Wir haben unsere Entscheidung in Abwägung des
an dieser Stelle zurückweisen. Drittens: Es gibt Ultra- Vorhabens getroffen, die erneuerbaren Energien auszu-
schalluntersuchungen – es tut mir leid, dass ich mich bauen. Wir brauchen die Kernenergie und fossile Ener-
wiederhole; aber offenbar ist es doch noch nicht ange- gieträger als Brücke. Der Ausbau der erneuerbaren Ener-
kommen –, die vermuten lassen, es könnte ein Riss vor- gien geht schneller voran, als wir alle für möglich
liegen. Wir wissen nicht, ob tatsächlich ein Riss vorliegt. gehalten hätten. Wir brauchen aber für die Übergangs-
Aber allein die Vermutung, dass ein Riss vorhanden sein zeit die Kernenergie. Mit der Atomgesetznovelle haben
könnte, lässt uns alle Maßnahmen ergreifen, weiter auf wir gezeigt: Wir werden das Thema Sicherheit neu anpa-
diesen Befund hin zu forschen. Der aktuelle Befund ist cken und werden Sicherheitspflichten dynamisch einfüh-
allerdings nicht geeignet, einen Gefahrenverdacht zu be- ren, um das Maximum an Sicherheit für die Bürgerinnen
gründen. Auch die Experten der Reaktor-Sicherheits- und Bürger zu gewährleisten.
kommission haben dies so bestätigt.
Im Zusammenspiel von TÜV, RSK und GRS, aber Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
auch im Zusammenspiel der Aufsichtsbehörden in Bay- Herr Kollege Fell hat noch eine Zusatzfrage.
ern und dem Bundesumweltministerium sind wir zu dem
Ergebnis gekommen, bei der Revision im März vertieft Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zu schauen. Der Reaktor wäre allerdings nicht angefah- Frau Staatssekretärin, das Sicherheitsrisiko wird auch
ren worden, hätten die Behörden in Bayern Gegenteili- dann erhöht, wenn es zu Schnellabschaltungen kommt.
ges oder Besorgniserregendes festgestellt. Die hydraulische und thermische Belastung von Kühl-
mittelleitungen werden dadurch drastisch erhöht, und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gefahrenstellen, wie mögliche Risse, werden damit zu
Ihre zweite Zusatzfrage, Frau Möller. einem größeren Sicherheitsrisiko. Können Sie ausschlie-
ßen, dass bei diesem Reaktor bis zum März kommenden
Jahres keine Schnellabschaltungen mehr stattfinden?
Kornelia Möller (DIE LINKE): Können Sie auch ausschließen, dass, wenn es doch zu ei-
Meine zweite Zusatzfrage ist: Können Sie definitiv ner Schnellabschaltung kommt, diese Rissbildung, die
ausschließen, dass dieser Riss eine relevante Größe er- möglicherweise doch vorhanden ist – Sie wissen es nach
reicht? Ihren Bekundungen ja nicht –, zu einem wirklich proble-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9303
Hans-Josef Fell
(A) matischen Störfall in diesem Reaktor führt? Können Sie den ist und erst sechs Monate nach dessen Bekanntwerden an (C)
diese Ereignisse mit Sicherheit ausschließen? das BMU gemeldet wurde?

Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit: heit:
Wir reden von März – der ist in zwei Monaten – und Ich antworte auf diese Frage wie folgt: Der Betreiber
nicht vom kommenden Jahr. Ich bin der Überzeugung, hielt eine Meldepflicht für zunächst nicht gegeben, ent-
dass auf Grundlage der Erkenntnisse der Reaktor-Sicher- schied sich aber nach der vertieften Diskussion des Er-
heitskommission, des TÜV Süd und der aufsichtsführen- eignisses in der RSK im Dezember 2010, vorsorglich
den Behörden dieses Kernkraftwerk weiterlaufen wird. eine Ereignismeldung nachzureichen.
Um mögliche weitere Erkenntnisse zu gewinnen, wer-
den wir die Revision im März sorgfältig durchführen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
und gegebenenfalls Teile austauschen. Sie haben eine Nachfrage, Frau Kollegin?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kornelia Möller (DIE LINKE):


Frau Kollegin Kotting-Uhl. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, es ging gerade um einen neuen Sachverhalt, nämlich
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): um die extreme Belastung für das Material mit der Ge-
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben zum einen aus- fahr einer bestehenden Versprödung. Mir ist nicht ganz
geführt, dass die erneuerbaren Energien ziemlich schnell eingängig, warum Sie den Vorfall nicht sofort prüfen. Es
wachsen, und Sie haben zum anderen noch einmal die handelt sich zwar nur um zwei Monate, aber immerhin
Laufzeitverlängerung begründet; sie sei notwendig und sind es zwei Monate, das heißt, es handelt sich um einen
gerechtfertigt. Vonseiten der Befürworter der Laufzeit- Zeitraum, der relevant sein kann. Warum wird nicht so-
verlängerung haben wir immer wieder das Argument ge- fort abgeschaltet? Ich sage das gerade vor dem Hinter-
hört, Atomkraft und erneuerbare Energien passten gut grund der Verantwortung – ich komme immer wieder auf
zusammen, man könne Atomkraftwerke sehr gut im das Thema Verantwortung zurück –, die die Bundes-
Lastfolgebetrieb fahren. Bisher wussten wir offiziell regierung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern hat; denn
nicht, welche Atomkraftwerke tatsächlich im Lastfolge- man merkt an Begriffen wie „ungewiss“ und „unwahr-
betrieb gefahren werden. Wir haben heute im Umwelt- scheinlich“, dass sie eine Gefahr nicht wirklich aus-
ausschuss eher zufällig gehört, dass Grafenrheinfeld so schließen können. Daher meine Frage: Was bedeutet für
(B) gefahren wurde. Es gab schon immer und es gibt bei Sie Verantwortung? Ist es ein verantwortliches Umge- (D)
vielen Wissenschaftlern den Vorbehalt gegen diesen hen, zwei Monate abzuwarten?
Lastfolgebetrieb. Sie sagen: Das führt zu schnellerer
Versprödung, und schnellere Versprödung könnte zu Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
Rissbildung führen. Wie weit gehen Sie den Fragen nach desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
einem Zusammenhang zwischen gefahrenem Lastfolge- heit:
betrieb und dieser Rissbildung nach? Die Aufsichtsbehörde hat im Schriftwechsel und auch
heute im Fachausschuss klargemacht, dass an der Be-
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- triebssicherheit des Kernkraftwerks keine Zweifel beste-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- hen. Wir sind deshalb gemeinsam zu der Auffassung ge-
heit: kommen, dass es ausreicht, diesen Fragen im Rahmen
Ich kann die Frage nach einem Zusammenhang, gerade der Revision im März nachzugehen.
im Fall Grafenrheinfeld – darüber reden wir hier ja –, we-
der bejahen noch verneinen. Gleichwohl ist es richtig, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dass ein Kernkraftwerk, das stark beansprucht ist, das Frau Möller, bitte sehr.
hoch- und herunterfahren muss, ein hohes Maß an Si-
cherheit liefern muss. Wir werden dieser Frage – ich Kornelia Möller (DIE LINKE):
wiederhole mich – im März erneut nachgehen, nachdem Vielen Dank. – Ich habe noch eine kurze Frage. Nach-
eine Revision erfolgt ist, um sicherzustellen, dass dieses dem ich immer „wir“ höre, frage ich Sie persönlich:
Kernkraftwerk weiter sicher betrieben werden kann. Wenn Sie bei einem Störfall, der nicht ausgeschlossen
Sollten sich Teile als nicht mehr gebrauchsfähig erwei- werden kann, persönlich haftbar wären, würden Sie dann
sen, dann müssen und werden sie ausgetauscht werden. sofort abschalten, oder würden Sie diese zwei Monate
abwarten?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun rufe ich die dringliche Frage 4 der Kollegin Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
Kornelia Möller zum selben Sachverhalt auf: desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
Wie kann es sein, dass ein Vorfall, der nach Meinung von heit:
Experten in der Abteilung für Reaktorsicherheit des BMU ei-
nen möglichen „Störfall der Stufe 3 – meldepflichtiger Stör-
Die Frage nach der persönlichen Haftung ist wohl
fall“ zur Folge hätte bzw. als solcher kategorisiert worden eher rhetorischer Natur. Sie können sich darauf verlas-
wäre, von dem Betreiber Eon als ungefährlich eingestuft wor- sen, dass das Bundesumweltministerium als Bundesauf-
9304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche


(A) sicht alles tut, um den sicheren Betrieb von Kernkraft- Dorothee Menzner (DIE LINKE): (C)
werken zu gewährleisten, um in einem engen Austausch Frau Staatssekretärin, Sie haben eben ausgeführt, dass
der Aufsichtspflicht nachzukommen, und mit den auf- es sich nach Einschätzung des Betreibers um eine frei-
sichtsführenden Behörden darauf achtet, dass ein maxi- willige Mitteilung und keine Pflichtmitteilung handelte,
males Maß an Sicherheit gegeben ist. dass der Vorfall also nicht unter die Mitteilungspflicht
fiel. Das Bundesministerium hat es aber sehr wohl als
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: notwendig erachtet, die Informationen, die Sie offen-
Frau Kollegin Kotting-Uhl. sichtlich haben – so haben Sie es auch ausgeführt –, an-
deren Betreibern von AKWs zu übermitteln mit der
Bitte, zu überprüfen, ob das für sie eventuell relevant
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wäre. Also scheinen Sie doch die Einschätzung zu ha-
Frau Staatssekretärin, Sie sagten eben, der Betreiber ben, dass es sich um eine Störung von einer gewissen Si-
hielt die Meldepflicht für nicht angemessen. Es handelt cherheitsrelevanz handelt mit der Möglichkeit, dass es
sich um eine Unregelmäßigkeit im Primärkreislauf. Tei- auch in anderen Anlagen zu ähnlichen Vorfällen kommt.
len Sie die Ansicht des Betreibers, dass hier die Melde- Ich füge an: Das ist doch gerade dann von Bedeutung,
pflicht nicht angemessen war? wenn wir von vermehrtem Lastfolgebetrieb und damit
erhöhter Beanspruchung von Kühlsystemen reden.
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Was bedeutet dieser Zusammenhang für Sie, wenn es
heit: darum geht, wie Betreiber die Frage „Was ist melde-
pflichtig, und was melden wir freiwillig?“ selbst ein-
Wir haben im Verlauf des Erkenntnisgewinns – – schätzen? Sind also die Kriterien dafür, was Betreiber zu
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE melden haben, aus Ihrer Sicht ausreichend, oder muss da
GRÜNEN]: Nein, nicht im Verlauf des Er- nachgearbeitet werden, wenn bei einem Ereignis, das Sie
kenntnisgewinns!) so einschätzen, dass Sie es an andere zur Kontrolle und
Prüfung weitermelden, der Betreiber zu der Einschät-
– Entschuldigung, Sie möchten eine Antwort von mir, zung kommt, dass es um eine freiwillige Meldung geht?
Frau Kotting-Uhl. Ich unterbreche Sie auch nicht bei der
Fragestellung. Ich würde also gerne antworten, Frau
Kollegin Kotting-Uhl. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit:
(B) NEN]: Das ist doch keine Antwort!) Im Rahmen der Befragung hier ist bereits darauf hin- (D)
Wir haben den Betreiber und auch die aufsichtsfüh- gewiesen worden, dass es in 2001 im Rahmen einer Re-
rende Behörde gebeten, die RSK damit zu beschäftigen, vision einen Hinweis gegeben hat. Bayern hat heute
um Sicherheit beim Erkenntnisgewinn und auch bei ei- noch einmal ausgeführt, dass aufgrund des Prüfbefundes
ner Entscheidung über einen Weiterbetrieb zu erhalten. ein tatsächliches Risswachstum nicht nachgewiesen wer-
Wir haben dies in der Diskussion mit den Experten ent- den konnte. Wir sagen: Es muss weiter überprüft wer-
schieden und sind deshalb zu dem Schluss gekommen, den. Für März wurde die Überprüfung angesetzt. Wir
dass während der Revision im März 2011 die umfängli- warten jetzt auf die Ergebnisse.
che Prüfung erfolgen kann. Ich gehe davon aus, dass die Betreiber ihren Melde-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE pflichten nachkommen. Sollte es Unregelmäßigkeiten
GRÜNEN]: Ich habe eine ganz einfache Frage geben, wird nachgesteuert. Ich kann das im vorliegenden
gestellt!) Fall – über diesen sprechen wir – aber nicht erkennen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Frau Kollegin, die Frau Staatssekretärin antwortet. Die dringlichen Fragen sind damit aufgerufen und be-
antwortet. Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein, sie antwortet nicht!) Wir kommen dann zur Beantwortung der Fragen auf
Drucksache 17/4406 in der üblichen Reihenfolge und
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung. Für die Beantwortung
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bun- der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Dr. Helge Braun zur Verfügung.
heit:
Ich habe geantwortet. Zunächst rufe ich die Frage 1 des Kollegen René
Röspel auf:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Warum hat die Bundesregierung bei der Ausgestaltung des
Gesundheitsforschungsprogramms darauf verzichtet, konkrete
Dann kommen wir zur Nachfrage der Kollegin Forschungsansätze für Hilfsangebote insbesondere für chro-
Menzner. nisch Kranke zu entwickeln?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9305

(A) Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- führten Ausschreibungen überaus gut angenommen wor- (C)
desministerin für Bildung und Forschung: den sind. Wir haben zahlreiche, qualitativ sehr hochwer-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Kollege tige Anträge bekommen. Deshalb führen wir diesen
Röspel, das Gesundheitsforschungsprogramm ist die Prozess fort und intensivieren ihn.
strategische Grundausrichtung der Gesundheitsfor-
schung der Bundesregierung für die nächsten Jahre. Des- Wenn Sie auf konkrete Maßnahmen abstellen, dann
halb gliedert es sich in verschiedene Aktionsfelder. Selbst- muss ich Ihnen klar sagen: Wir haben in der Vergangen-
verständlich ist der Bereich von Hilfsangeboten heit vielleicht etwas konkreter die Forschungsmethodik
insbesondere für chronisch Kranke ein wichtiges Arbeits- benannt. Aber ein Wunsch aus der Wissenschaft war,
feld. Sie fragen hier, warum wir nicht konkrete For- dass Politik das tun sollte, was sie besonders gut kann,
schungsansätze im Gesundheitsforschungsprogramm the- nämlich die gesellschaftlichen Herausforderungen zu de-
matisieren. Das liegt daran, dass dieser Bereich finieren. Das haben wir im Gesundheitsforschungspro-
sicherlich im Wesentlichen unter das Aktionsfeld 4 gramm für den Bereich der Versorgungsforschung sehr
– Versorgungsforschung – subsumiert werden kann. Un- konkret getan. Diese Forschung ist einer der Schwer-
ter dem Dach des Rahmenprogramms, das sich in punkte des Programms.
Schwerpunkte aufteilt, werden konkrete Förderlinien ins Wir definieren aber nicht die Methoden im Einzelnen.
Leben gerufen. Aktuell gibt es zum Beispiel die Förder- Ich will Ihnen auch sagen, warum nicht. Das Gesund-
maßnahme „Versorgungsnahe Forschung“, die sich sehr heitsforschungsprogramm soll für die Dauer von vielen
stark mit der langfristigen Wirksamkeit von Versor- Jahren Leitlinie sein. Wir wollen diejenige wissenschaft-
gungsleistungen beschäftigt. Das ist quasi eine Ebene liche Methodik, die zur Bewältigung der gesellschaftli-
unterhalb des Rahmenprogramms und damit an dieser chen Herausforderungen am besten geeignet ist, fördern.
Stelle nicht thematisiert. Wenn wir im Gesundheitsforschungsprogramm einen
Aber dass wir auf dem Gebiet viel tun, mögen Sie da- stärker technologieorientierten Ansatz wählen würden,
ran sehen, dass wir gemeinsam mit der Deutschen Ren- würden wir Gefahr laufen, dass eine neue Technologie
tenversicherung Bund, der gesetzlichen und der privaten oder eine noch nicht ausreichend erprobte Technologie
Krankenversicherung insgesamt 11 Millionen Euro für aus dem Gesundheitsforschungsprogramm herausfallen
diesen Bereich aufgewendet haben. Davon beträgt allein würde. Das ist unter dem Stichwort „missionsorientierter
der Anteil des BMBF 7 Millionen Euro. Bereits im Mai Ansatz“ zu verstehen.
dieses Jahres werden wir eine neue Förderrunde einlei- Diese strukturelle Veränderung ist auch in den großen
ten. Insofern ist dies sicherlich ein Ansatz, der auch im Forschungsprogrammen anderer Wissenschaftsnationen
Rahmen der Gesundheitsforschung der Bundesregierung heutzutage üblich. Insofern handelt es sich um eine Mo-
(B) verfolgt wird; aber er ist zu konkret, als dass wir ihn im dernisierung, die aber nicht bedeutet – das sage ich ganz (D)
Gesundheitsforschungsprogramm neben all den vielfälti- deutlich –, dass wir diesem Bereich in irgendeiner Weise
gen Aktivitäten der Gesundheitsforschung in Deutsch- eine geringere Priorität beimessen. Ganz im Gegenteil:
land so ansprechen könnten, wie Sie es sich vielleicht er- Die Versorgungsforschung ist ein relevanter Teil und da-
hofft haben. mit ein Schwerpunkt des Gesundheitsforschungspro-
gramms.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? – Bitte. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? – Bitte.
René Röspel (SPD):
Vielen Dank. – Ich stelle allerdings fest, dass der Be-
reich „Pflege- und Versorgungsforschung“ nur einen ganz René Röspel (SPD):
geringen Teil des Gesundheitsforschungsprogramms aus- Mein Einwand, dass auf dieses Thema nur 2 von
macht, nämlich nicht einmal 2 Seiten von 50. Da finde ich 50 Seiten entfallen, ist vielleicht etwas zu kurz gegriffen.
keine Ansätze für konkrete Maßnahmen. Warum misst Daher möchte ich Sie konkreter fragen: Wie hoch ist der
die Bundesregierung der Pflege- und Versorgungsfor- Anteil der finanziellen Mittel am Gesundheitsfor-
schung, die vor dem Hintergrund des demografischen schungsprogramm, die auf die Versorgungs- und Pflege-
Wandels und für ganz viele Menschen, die pflegend tätig forschung entfallen? Liegt dieser Anteil ebenfalls bei
sind oder gepflegt werden müssen, so wichtig ist, nur ei- 1 zu 25?
nen so geringen Stellenwert bei?
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung:
desministerin für Bildung und Forschung: Das unterliegt letzten Endes der Ausgestaltung der
Lieber Herr Kollege Röspel, wenn bei Ihnen der Ein- Förderlinien. Darüber wird jährlich entschieden. Wir ha-
druck entstanden ist – Sie haben die Seiten, die sich mit ben im vergangenen Jahr 20 Millionen Euro für den Be-
diesem Thema befassen, gezählt –, dass für uns dieser reich der Versorgungsforschung in dem entsprechenden
Bereich nicht wichtig ist, dann muss ich Ihnen sagen, Programm aufgewendet. Wir werden im kommenden
dass das nicht der Fall ist. Es ist ein ganz wichtiger Jahr im Zuge des Aufwuchses der Mittel für den Ge-
Punkt. Wir haben bereits im Jahr 2010 gemerkt, dass im sundheitsbereich mehr Geld im Haushalt dafür zur Ver-
Bereich der Versorgungsforschung die von uns durchge- fügung stellen.
9306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (C)
Wir kommen zur Frage 2 des Kollegen Röspel: desministerin für Bildung und Forschung:
Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung Herr Kollege, zum einen haben wir im Rahmen des
im Nachgang zur Vorstellung des Gesundheitsforschungspro- Gesundheitsforschungsprogramms einen zusätzlichen
gramms, um die Defizite bei den strukturellen Voraussetzun- Schwerpunkt auf Nachwuchsforschergruppen gelegt.
gen für die klinische Forschung in Deutschland abzumildern?
Bei den Ausschreibungen wollen wir darauf achten, dass
in Zukunft die Fördergelder im Rahmen des Gesund-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- heitsforschungsprogramms insbesondere auch jungen
desministerin für Bildung und Forschung: und innovativen Forschergruppen zuteilwerden. Ich
Sehr geehrter Herr Kollege, ich danke Ihnen für diese glaube, da setzen wir ein sehr deutliches Signal.
Frage, weil sie ein Thema anspricht, das auch aus unse-
rer Sicht eine große Bedeutung hat. Darüber hinaus werden wir dann ab Mai nach den Er-
fahrungen aus dem Programm, das wir gemeinsam mit
Die klinische Forschung ist diejenige Forschung in der DFG im Bereich der klinischen Studien machen,
Deutschland, die dazu beiträgt, dass die vielen Erkennt- über eine Fortsetzung reden und auf die Frage Antwort
nisse, die in der Grundlagenforschung gewonnen wer- geben, was wir in der ersten Förderrunde für Erfahrun-
den, letztlich dem Menschen zugutekommen. Deshalb gen gesammelt haben. Insgesamt steigt die Aufwendung
ist die klinische Forschung für uns außerordentlich wich- des BMBF für den Bereich der Förderung von Nach-
tig. wuchswissenschaftlern.
Der Wissenschaftsrat hat in den letzten Jahren und
Jahrzehnten immer wieder bemängelt, dass die klinische Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Forschung in Deutschland nicht den Stellenwert hat, den Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Michael Gerdes
sie haben sollte. Darauf hat die Bundesregierung in viel- werden schriftlich beantwortet.
fältiger Weise reagiert. So haben wir zum Beispiel rund
200 Millionen Euro für die Integrierten Forschungs- und Damit rufe ich die Frage 5 der Kollegin Marianne
Behandlungszentren aufgewandt, die ihre Arbeit in den Schieder auf:
Jahren 2008 bis 2010 begonnen haben. Im Jahr 2011 be- Welche Auswirkungen der beschlossenen Haushaltskür-
ginnt die zweite Förderphase der Initiative „Klinische zungen auf die Fördertätigkeit für die Begabtenförderwerke
Studienzentren“. Wir haben fünf solcher Zentren. im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und For-
schung für das laufende Jahr sind der Bundesregierung bereits
Darüber hinaus haben wir für Mai geplant, eine Zwi- bekannt bzw. erwartet die Bundesregierung?
schenbilanz des gemeinsamen Förderprogramms „Klini-
(B) (D)
sche Studien“ von DFG und unserem Hause zu ziehen. Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Wir unterstützen auch die Beteiligung deutscher Wissen- desministerin für Bildung und Forschung:
schaftlerinnen und Wissenschaftler an europäischen
Sehr geehrte Frau Kollegin Schieder, durch einen
Initiativen wie zum Beispiel einem Netzwerk von
Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses vom
klinischen wissenschaftlichen Infrastrukturen auf euro-
11. November – das ist die Drucksache 17/(8)2769 –
päischer Ebene. Damit das gut funktioniert, werden wir
konnten die verfügbaren Mittel für die Begabtenförde-
in den Jahren 2011 bis 2014 den Aufbau eines entspre-
rung im Jahr 2011 noch einmal um 33 Millionen Euro
chenden Büros vorantreiben. Wir wollen die Wissen-
erhöht werden. Deshalb sind keine negativen Auswir-
schaftler mit insgesamt 2 Millionen Euro unterstützen,
kungen für die Begabtenförderungswerke in diesem Jahr
damit sie sich im europäischen Kontext besser an den
zu erwarten. Ganz im Gegenteil: Zum Sommersemester
klinischen Studien beteiligen können.
startet die Erhöhung des Büchergelds von 80 auf
Ich will zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Man 150 Euro. Darüber hinaus erhalten die Studierenden der
kennt zwar nicht genau die Anzahl der klinischen Stu- Begabtenförderwerke analog zur Erhöhung des BAföG
dien in Gänze. Aber wir kennen die Zahl der klinischen auch entsprechend höhere Fördersätze in der Grundfi-
Prüfungen von Arzneimitteln sehr präzise. Da finden im nanzierung. Mit dem jetzt im Haushalt zur Verfügung
europäischen Vergleich inzwischen in Deutschland in stehenden Betrag einschließlich der Summe des Maßga-
absoluten Zahlen die allermeisten statt. Insofern kann bebeschlusses wird es auch möglich sein, finanziell die
man davon ausgehen, dass Deutschland heute ein Stand- von uns gewünschte Quote, einem Prozent der Studie-
ort für klinische Studien ist – mit außerordentlich großer renden eine Förderung durch die Begabtenförderwerke
Expertise. möglich zu machen, zu erreichen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Ihre Nachfrage. Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? – Nein.
Dann kommen wir zur Frage 6 der Kollegin Marianne
René Röspel (SPD): Schieder:
Welche Maßnahme wird die Bundesregierung in die-
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet,
sem Jahr konkret durchführen, um den wissenschaftli- um mit dem Bologna-Mobilitätspaket in diesem und den fol-
chen Nachwuchs im Bereich der medizinischen und ins- genden Jahren deutlich mehr als die bisher rund 1 600 Studie-
besondere klinischen Forschung stärker zu fördern? renden zu erreichen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9307

(A) Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
desministerin für Bildung und Forschung: Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Swen Schulz auf:
Liebe Frau Kollegin Schieder, den Hauptteil an dem Durch welche Maßnahmen stellt die Bundesregierung si-
Bologna-Mobilitätspaket hatte der DAAD mit dem Vor- cher, dass möglichst viele Hochschulen am vom Bund unter-
haben „Bologna macht mobil“. Zwei wichtige und stark stützten dialogorientierten Serviceverfahren in der Hoch-
schulzulassung teilnehmen, das zum Wintersemester 2011/
aufwachsende Programme – darunter sind das Doppel- 2012 starten soll?
diplom und Bachelor Plus – zielen auf die Schaffung von
nachhaltig mobilitätsfördernden Strukturen an den ein-
zelnen Hochschulen ab und nicht auf die Förderung ein- Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
zelner Studierender. desministerin für Bildung und Forschung:
Lieber Herr Kollege Schulz, die Genese dieses dialog-
Auf die direkte Mobilitätsförderung dagegen zielen orientierten Serviceverfahrens war durch die Notwen-
vor allem die Programme ISAP, die integrierten Studien- digkeit begründet, eine Nachfolge für die zentrale Stu-
und Ausbildungspartnerschaften im Rahmen von Hoch- dienplatzvergabe zu finden. Zum damaligen Zeitpunkt
schulkooperationen, sowie RISE, das sich um die For- hat der Haushaltsausschuss die Bereitschaft des Bundes,
schungspraktika im Ausland bemüht, ab. die Entstehung dieses Projekts, also die Software und die
Bereitstellung der Infrastrukturen, mit 15 Millionen
Außerdem wird unter dem Stichwort „Bologna macht
Euro zu fördern, daran geknüpft, dass die Hochschulen
mobil“ eine stark erweiterte Informationskampagne für
und die Länder natürlich auch bereit sein müssen, dieses
das Auslandsstudium gefördert, die den Titel „go out!“
Verfahren im täglichen Betrieb zu nutzen. Die Länder
trägt. Die Erkenntnisse daraus werden erst in den nächs-
haben dies in der KMK stets erklärt, und auch die Hoch-
ten Jahren sichtbar.
schulrektorenkonferenz hat in einer Umfrage unter ihren
Zur Mobilität von Studierenden trägt natürlich auch Mitgliedern bestätigt, dass ein Großteil der Hochschulen
das Auslands-BAföG und das Internationalisierungs-Au- ein Interesse daran hat. Nach einer Versammlung wurde
dit der Hochschulrektorenkonferenz bei. Sie sprechen berichtet, dass 92 Prozent der Hochschulen bereit seien,
hier von 1 600 Geförderten. Nach den ersten Schätzun- daran teilzuhaben.
gen ist es so, dass 2010 wahrscheinlich sogar 1 900 Per- Wenn Sie sagen, Sie hätten Bedenken, dass sich dies
sonen gefördert werden konnten. Wir gehen davon aus, in der Vergangenheit verändert haben könnte, so weise
dass in den Folgejahren die Zahlen noch steigen werden. ich darauf hin, dass zuletzt am 9. Dezember eine Konfe-
renz der Präsidien der Hochschulrektorenkonferenz und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Kultusministerkonferenz stattgefunden hat, auf der
(B) Eine Nachfrage zu diesem Thema hat der Kollege noch einmal bestätigt wurde, dass dieses Projekt in der (D)
Schummer. Breite umgesetzt werden soll. Insofern sehen wir uns an
dieser Stelle auf der sicheren Seite und sind davon über-
zeugt, dass die Hochschulen das neue Verfahren anneh-
Uwe Schummer (CDU/CSU):
men werden.
Herr Staatssekretär, gibt es auch eine Entwicklung der
Zahlen der Studenten, die durch Auslands-BAföG in den
letzten drei Jahren gefördert wurden? Welche Prognose Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
haben Sie für die nächsten drei Jahre? Haben Sie eine Nachfrage dazu? – Bitte.

Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Swen Schulz (Spandau) (SPD):
desministerin für Bildung und Forschung: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind uns einig,
Lieber Herr Kollege, wir haben im letzten Jahr den dass es wichtig ist, dass möglichst viele Hochschulen da-
18. BAföG-Bericht bekommen, in dem sich gezeigt hat, ran teilnehmen, weil sonst die Funktionsfähigkeit des
dass die Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Serviceverfahrens gefährdet wäre. Da Sie gerade gesagt
das Auslands-BAföG auch dazu geführt haben, dass viel haben, dass Sie sich auf der sicheren Seite fühlen, weil
mehr deutsche Studierende im BAföG-Bezug ins Aus- die große Mehrheit der Hochschulen teilnehmen wird,
land gehen. Während es im Jahr 2005 noch 21 000 wa- frage ich Sie: Können Sie eine Erwartungshaltung for-
ren, waren es zum Abschluss des BAföG-Berichts schon mulieren, wie viel Prozent der Hochschulen tatsächlich
28 000. Das bedeutet eine Zunahme um 32 Prozent, was teilnehmen werden und welche Beteiligung notwendig
ich für eine erstaunlich hohe Zahl halte. Offenkundig ist ist, damit wir von einem funktionsfähigen Verfahren
es für die Studierenden besonders attraktiv, einen Aus- sprechen können?
landsaufenthalt im deutschsprachigen Raum, also in
Österreich oder in der Schweiz, anzugehen; diese beiden Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Länder waren Spitzenreiter beim Zuwachs mit über desministerin für Bildung und Forschung:
140 Prozent. Ich denke, dass das BAföG auch in den Herr Abgeordneter Schulz, die Ermittlung einer Min-
kommenden Jahren einen Beitrag leisten wird, mehr Stu- destzahl von Hochschulen, die für ein solches Verfahren
dierenden – gerade denjenigen, die aus weniger guten unerlässlich ist, haben wir gar nicht erst angestrengt. Die
Verhältnissen kommen, was die Einkommen der Eltern Tatsache, dass sich 92 Prozent bereit erklären, teilzuneh-
angeht – einen Auslandsaufenthalt zu ermöglichen. Das men, macht aus unserer Sicht ein so verhaltenes Vorge-
ist insgesamt eine sehr erfreuliche Entwicklung. hen wie die Abschätzung einer Mindestzahl gar nicht er-
9308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun


(A) forderlich. Wichtig ist, dass Sie und wir alle gemeinsam Swen Schulz (Spandau) (SPD): (C)
uns auf das verlassen, was die Länder und die Hochschu- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
len gesagt haben. Im Hinblick auf die Bedeutung kann vielen Dank. Wir erwarten, dass der Bericht möglichst
ich nur noch einmal unterstreichen, dass im Augenblick zügig übermittelt wird. Gibt es irgendeine Ansage bzw.
– „alternativlos“ darf man ja nicht mehr sagen – kein an- Zeitplanung der KMK, wann der Bericht übermittelt
deres konkurrierendes oder ergänzendes Verfahren ange- wird?
dacht ist, mit dem es möglich sein könnte, dafür zu sor-
gen, dass in den zulassungsbeschränkten Studiengängen
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
alle Studierenden möglichst schnell zu Semesterbeginn
desministerin für Bildung und Forschung:
auch einen Studienplatz zugewiesen bekommen. Inso-
fern halten wir die Beteiligung aller Hochschulen für Nein, uns liegen dazu keine Aussagen der KMK vor.
wünschenswert.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Dr. Ernst Dieter
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? Rossmann auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung nach ei-
nem weiteren Ausbau des Angebots an Ganztagsschulen zur
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
besseren individuellen Förderung der Kinder und Jugendli-
Ja, gerne. chen sowie besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Bitte. desministerin für Bildung und Forschung:
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, der Ausbau
Swen Schulz (Spandau) (SPD): des Angebots an Ganztagsschulen findet in Deutschland
Herr Staatssekretär, vielen Dank. Sie haben also keine in der Breite statt. Er wird in der Verantwortung der Län-
Bedenken und glauben, dass das funktionieren wird, und der durchgeführt. Die Länder entscheiden, häufig ge-
die Bundesregierung wird hier keine Maßnahmen ergrei- meinsam mit den Kommunen, wo und in welchem Um-
fen. Haben Sie aber darüber hinaus die Sicherheit, dass fang ein weiterer Ausbau des Ganztagsschulangebots
die Teilnahme an dem Verfahren für die am Studium sinnvoll ist. Eine Beteiligung des Bundes etwa in Form
Interessierten gebührenfrei sein wird, wie es ursprüng- eines neuen Ganztagsschulprogramms, wie es das schon
lich von Bundesseite – auch vom Haushaltsausschuss – einmal gegeben hat, ist nicht möglich, weil eine Beteili-
(B) gefordert war? gung des Bundes an einem solchen Investitionspro- (D)
gramm nach den Föderalismusreformen I und II, die
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- nach dem letzten Ganztagsschulprogramm durchgeführt
desministerin für Bildung und Forschung: wurden, ausgeschlossen ist.
Wir haben in der KMK über die Frage der Betriebs-
kosten gesprochen. Dort wurde vonseiten der Länder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
versichert, dass die Finanzierung des Betriebs auf Ebene Zur Nachfrage, Herr Kollege Rossmann.
der Länder sichergestellt wird.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Staatssekretär, Ihrer euphorischen Unterstützung
Wir kommen zur Frage 8 des Kollegen Swen Schulz:
des Gedankens der Ganztagsschulen kann ich entneh-
Wieso liegen die vom Bundesministerium für Bildung und men, dass Sie auf Bundesebene dem Anliegen nicht
Forschung zugesagten Erfahrungen und Ergebnisse der Studien-
platzbörse, die als Zwischenlösung bis zur Einführung des fernstehen. Ich will Sie deshalb mit dem konfrontieren,
neuen Serviceverfahrens dient, für das Wintersemester 2010/ was zwei gut beleumdete Kollegen aus Schleswig-Hol-
2011 immer noch nicht vor? stein, der Vorsitzende der dortigen CDU-Fraktion, Herr
von Boetticher, und der Vorsitzende der dortigen FDP-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Fraktion, Herr Kubicki, dringend vom Bund einfordern.
desministerin für Bildung und Forschung: Sie sagen: Ohne dass der Bund dabei mit in die Verant-
Lieber Herr Kollege Schulz, die entsprechenden Er- wortung tritt, kann man das große gemeinsame Ziel
fahrungen werden in den Ländern zusammengetragen. nicht erreichen. – Meine Frage ist, ob auch Sie diesem
Die Kultusministerkonferenz legt den entsprechenden Gedanken nahetreten können, zumal Sie aus dem hohen
Bericht, den Sie sehnlich erwarten, vor und leitet ihn an Norden kommen.
die Bundesregierung weiter. Zum gegenwärtigen Zeit-
punkt liegt uns der Bericht vonseiten der Kultusminister- Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
konferenz noch nicht vor. Sobald er der Bundesregierung desministerin für Bildung und Forschung:
vorliegt, werden wir ihn selbstverständlich unverzüglich Sehr geehrter Herr Kollege, ohne eine Veränderung
dem Parlament zur Verfügung stellen. der verfassungsrechtlichen Grundlagen ist dem Ansin-
nen nicht Rechnung zu tragen. Die Bundesregierung
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: plant eine solche Verfassungsänderung im Augenblick
Keine Nachfrage? – Doch. Bitte. nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9309

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dungslotsen reicht – dieser Begriff ist auch von der Re- (C)
Eine weitere Zusatzfrage. gierung in der aktuellen Diskussion genannt worden –,
zu fördern?
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Sie haben eben für die Bundesregierung gesprochen. Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Darf ich an der Stelle fragen, ob Sie damit auch für Ihre desministerin für Bildung und Forschung:
Ministerin gesprochen haben? Wir erinnern uns schwach, Dazu hat das Bundesministerium für Bildung und
dass es von der zuständigen Bundesministerin durchaus Forschung keine Rechtsprüfung angestellt.
Äußerungen gibt, dass sie sich eine Fortsetzung wün-
schen würde und sie sich dafür einsetzen möchte. Ich Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
will die Frage ergänzen – die Beantwortung der ersten Halten Sie es für vorstellbar, dass Sie bei oberfläch-
Frage könnte ja kompliziert für Sie werden –: Können licher Kenntnis des Kinder- und Jugendhilferechts und
Sie sagen, ob Sie Ihre euphorische Unterstützung des des Arbeitsförderungsgesetzes – SGB III –, um zwei
Ganztagsschulprogramms durch begleitende Unterstüt- Rechtsgrundlagen zu nennen, zu dieser Einschätzung
zung wie zum Beispiel Begleitforschung untermauern kommen könnten? Oder glauben Sie, dass im Vermitt-
wollen? lungsverfahren aktuell nur über Stroh geredet wird? Das
ist doch ein konkretes Thema, das im Vermittlungsver-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- fahren auch von der Bundesregierung traktiert wird.
desministerin für Bildung und Forschung:
Herr Kollege, wir haben das Ganztagsschulpro- Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
gramm, das jetzt abgeschlossen ist, einer wissenschaftli- desministerin für Bildung und Forschung:
chen Evaluierung unterzogen. Wir werden den Ausbau Die Bundesregierung hat zu all den von Ihnen ge-
der Ganztagsschulen, der an anderer Stelle stattfindet, nannten Normen vertiefte Kenntnisse. Eine Antwort auf
dadurch unterstützen, dass wir die Ergebnisse und die die Frage, welche Möglichkeiten und Spielräume der
daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen. Vermittlungsausschuss hat, um die verschiedenen von
Ich denke, ich kann Ihnen bestätigen, dass es eine Ihnen angesprochenen Initiativen in die Tat umzusetzen,
Diskussion um das Kooperationsverbot gibt und es aus sollten wir aus Respekt vor diesem Verfassungsgremium
bildungspolitischer Sicht immer wieder Gründe gibt, da- dem Vermittlungsausschuss überlassen.
ran zu zweifeln, dass das Kooperationsverbot uneinge-
schränkt nützlich ist. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) Wir kommen zur Frage 11 der Kollegin Daniela (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kolbe:
Wir kommen zur Frage 10 des Kollegen Dr. Rossmann: Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, wie viele
Wie bewertet die Bundesregierung die Forderungen nach Studierende durch die Kürzungen der Semesterstipendien so-
einem Ausbau der Jugend- und Schulsozialarbeit zur besseren wie der Stipendien für Abschlussarbeiten, Praktika, Fach-
Verwirklichung des Rechts auf Bildungsteilhabe und sozio- kurse, Sprachkurse und Studienreisen des Deutschen Akade-
kulturelle Teilhabe von bedürftigen Kindern? mischen Austauschdienstes, DAAD, im Jahr 2011 weniger
gefördert werden als im Vorjahr, und, wenn ja, wie viele sind
das?
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung: Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, auch hier gilt: desministerin für Bildung und Forschung:
Das Schulwesen liegt in der Zuständigkeit der Länder. Sehr geehrte Frau Kollegin Kolbe, die Bundesregie-
Die Umsetzung von Maßnahmen der Kinder- und Ju- rung hat dem DAAD auch für das Jahr 2011 eine finan-
gendhilfe liegt in der Verantwortung der Länder und der zielle Förderung in der Höhe zugestanden, die für ihn in
kommunalen Gebietskörperschaften. Da Schulsozial- der mittelfristigen Finanzplanung, die übrigens noch
arbeit ein integraler Bestandteil des Alltagslebens in der Peer Steinbrück als Finanzminister aufgestellt hat, vor-
Schule und damit auch des Schulwesens ist, ist der Aus- gesehen ist. Insofern kann man nicht von einer Kürzung
bau der Schulsozialarbeit folglich eine Aufgabe, die im sprechen. Wahr ist, dass wir seit dem Jahr 2005 Jahr für
Kontext des schulischen Bildungsauftrags von den Län- Jahr einen massiven Aufwuchs beim DAAD hatten. Die-
dern wahrgenommen wird. sen Aufwuchs wollen wir verstetigen. Im Jahr 2010 hat-
ten wir eine zusätzliche Summe eingestellt, die in der
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mittelfristigen Finanzplanung aber nicht verstetigt wor-
Ihre Zusatzfrage, bitte. den ist. Insofern war eigentlich von Anfang an klar, dass
hier keine Kürzung vorgenommen wurde, wie Sie unter-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): stellen, sondern eine Umsetzung dessen, was die Bun-
Herr Staatssekretär, könnten Sie jenseits dieser Ein- desregierung in der mittelfristigen Finanzplanung ge-
schätzung sagen, ob Sie damit ausschließen, dass es bun- plant hat.
desgesetzliche Rechtsgrundlagen gibt, die dem Bund
Zuständigkeiten zuweisen und es ihm ermöglichen, in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dem offenen Feld, das von Schulsozialarbeit bis Bil- Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? – Bitte.
9310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Gespräch mit den Verantwortlichen des DAAD suchen, (C)
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr um sich mit ihnen über diese Frage auszutauschen.
Braun, mir ging es bei der Frage insbesondere um ein Die Förderbilanzen für das Jahr 2010 liegen uns zwar
Angebot des DAAD, das meiner Kenntnis nach mittler- noch nicht vollumfänglich vor, ich denke aber, dass es
weile vollkommen eingestellt worden ist, nämlich die von der Struktur her insgesamt sinnvoll ist, gerade die
einsemestrigen und kurzfristigen Stipendien, die bisher kurzfristigeren Stipendien stärker an den Hochschulen
üblich waren. Dadurch war es möglich, dass Stipendia- zu verankern und die aufwendigeren Programme in die
tinnen und Stipendiaten für ein Semester auch ins fer- Verantwortung des DAAD zu legen.
nere Ausland reisen konnten. Für mich mutet ein solcher
Schritt angesichts der Reform in Richtung Bachelor und
Master ein wenig anachronistisch an. Schließlich emp- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
fehlen alle Dozentinnen und Dozenten ihren Studieren- Eine weitere Nachfrage hat der Kollege Dr. Feist.
den, das fünfte Semester im Ausland zu verbringen.
Vielleicht können Sie mir diesen Schritt einmal erklären. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU):
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen, wie sich
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- die Zahl derjenigen Personen, die vom DAAD gefördert
desministerin für Bildung und Forschung: werden, verändert hat, seitdem Annette Schavan Bil-
Frau Kollegin, mit den strukturellen Veränderungen, dungsministerin ist?
die der DAAD in letzter Zeit vorgenommen hat, hat er
sich zum Teil von der Förderung einzelner Studierender Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
wegbewegt und stattdessen Hochschulen ertüchtigt bzw. desministerin für Bildung und Forschung:
dabei unterstützt, selbst strukturierte Auslandsprogramme Sehr geehrter Herr Kollege, die Förderung des DAAD
aufzulegen. Der DAAD kann sicherlich nicht die allei- – ich habe das eingangs erwähnt – ist seit 2005 kontinu-
nige Förderinstitution sein, wenn es darum geht, die Mo- ierlich ausgebaut worden. So standen im Jahre 2005
bilität von Studierenden zu fördern. Deshalb hat es eine 64 Millionen Euro zur Verfügung, im Jahre 2010
Umstrukturierung bei den Programmen des DAAD ge- 75 Millionen Euro. Dadurch hat sich auch die Zahl derer,
geben. Diese ist aber nicht aufgrund der Finanzlage er- die gefördert werden, dramatisch erhöht. So waren es im
folgt, sondern aufgrund sachlicher Erwägungen. Jahr 2005 ungefähr 15 000 Studierende, im Jahr 2009
waren es etwa 17 000 Studierende. Zum Jahr 2010 lie-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen uns noch keine Zahlen vor; sie sind aber mit Sicher-
heit weiter gestiegen. Auf einem Niveau über dem des
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
(B) Jahres 2009 können wir sicherlich auch die Zahl der im (D)
Jahr 2011 Geförderten verstetigen.
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Ja. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Daniela
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kolbe:
Bitte. Wie bewertet die Bundesregierung die infolge der Haus-
haltskürzungen im Einzelplan 30 verringerte Fördertätigkeit
des DAAD, und welche Planungen liegen seitens der Bundes-
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): regierung vor, um diesen Rückgang in der internationalen
Sie müssen mir vielleicht einmal erklären, wieso ge- Mobilität der Studierenden zu kompensieren?
rade diese kurzfristigen Stipendien gekürzt worden sind.
Wenn strukturelle Überlegungen dahinterstecken, dann Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
möchte ich die Nachfrage stellen, wie lange diese struk- desministerin für Bildung und Forschung:
turellen Überlegungen gediehen sind; denn die Strei- Haben wir darüber nicht gerade gesprochen? Die
chung der kurzfristigen und einsemestrigen Stipendien Fragen 11 und 12 habe ich eigentlich im Zusammenhang
hat die Universitäten und die betroffenen Studierenden beantwortet, wenn Ihnen das recht ist.
extrem kurzfristig erreicht. Die Studierenden wurden da-
durch sehr kurzfristig vor die Wahl gestellt, entweder für
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zwei Semester ins Ausland zu gehen, was ihnen auf-
grund ihrer Lebensplanung mitunter schwerfällt, oder Wenn Sie noch Nachfragen haben, Frau Kollegin,
ganz auf ein solches Stipendium zu verzichten. Was dann haben Sie jetzt die Gelegenheit dazu.
steckt dahinter, dass der DAAD diese Umstrukturierung
so kurzfristig vorgenommen hat? Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, eine weitere
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Nachfrage zu stellen.
desministerin für Bildung und Forschung: Den Grund für die Umstrukturierung seitens des
Die Frage nach der Kurzfristigkeit der Umstrukturie- DAAD habe ich verstanden. Die Universitäten sollen so-
rung seitens des DAAD kann ich Ihnen jetzt nicht beant- zusagen befähigt werden, die Mobilität der Studierenden
worten. Ich würde vorschlagen, dass Sie im Rahmen des zu fördern. Es gibt dabei aber ein Problem: Die Studie-
Ausschusses oder der Arbeitsgruppe einmal das direkte renden sind durch den Wegfall der Kurzzeitstipendien
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9311
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) vonseiten des DAAD auf die Kooperationen der jeweili- Was die Zahl der vom DAAD geförderten Personen (C)
gen Universitäten angewiesen, zumindest dann, wenn sie betrifft, sprachen Sie für den Zeitraum zwischen 2005
nicht das dicke Geld haben. Unter anderem hat der und 2009 von einem Aufwuchs von 15 000 auf
DAAD Semestergebühren für den Besuch von Universi- 17 000 Studierende. Auch diese Zahlen sind natürlich zu
täten in nicht geringer Höhe übernommen. Wenn eine relativieren, wenn man sich die Studierendenzahlen ins-
Studierende oder ein Studierender jetzt eine Universität gesamt vor Augen hält. Da wir in Zukunft nicht mit einer
auswählt, die keine Kooperation mit der eigenen Univer- Erhöhung der absoluten Zahlen, sondern mit einer Ver-
sität pflegt, bleibt ihr bzw. ihm ein Wechsel verwehrt. besserung der Relation argumentieren wollen, frage ich
Sehen Sie hier Änderungs- oder Nachbesserungsbedarf, Sie: Wie sehen angesichts Ihrer Finanzplanung Ihre
oder sollte es aus Ihrer Sicht dabei bleiben? Ziele, Ihre Garantien und Ihre Projektionen für die Zu-
kunft aus?
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung: Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Will man die Auslandsmobilität fördern, muss man desministerin für Bildung und Forschung:
insbesondere diejenigen, die im Studium hervorragende Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, am Ende ist es
Leistungen erbringen, unterstützen. Mit dem Deutsch- die Entscheidung des Parlaments; denn der Haushalt
landstipendium ist gerade für begabte Studierende ein wird hier aufgestellt. Wir wollen eine Verstetigung, wir
neues Instrument geschaffen worden, um ihre finanzielle wollen auch einen Aufwuchs. Ob ein Aufwuchs in der
Situation zu verbessern und ihnen zusätzliche Möglich- von Ihnen skizzierten Höhe möglich sein wird, hängt
keiten zu geben, Auslandsaufenthalte zu finanzieren. letzten Endes von der politischen Prioritätensetzung ab,
Ansonsten ist die nun gewählte Struktur der Programme und weil das das Haushaltsrecht angeht, obliegt das in
des DAAD aus meiner Sicht sinnvoll und nachvollzieh- letzter Instanz dem Parlament.
bar und aus Sicht der Bundesregierung nicht kritikwür-
dig. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wir kommen zur Frage 13 des Kollegen Willi Brase:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wie sollen die von der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, am 27. Dezember 2010 in
Herr Dr. Feist, bitte. einem Interview mit der Zeitschrift Focus („Wohlstand macht
bequem“) angekündigten „Bürgerdialoge“ des Bundesminis-
teriums für Bildung und Forschung, BMBF, finanziert wer-
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): den, und welche Kosten erwartet die Bundesregierung für die
Herr Staatssekretär, könnte man eine verstärkte Ko- Umsetzung des diesbezüglichen Gesamtkonzepts des BMBF
(B) operation zwischen Studierenden und Hochschulen nicht (Bürgerdialoge, Internetangebot, Bürgerreport usw.)? (D)
auch als Vorteil und Chance für beide Seiten begreifen?
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung:
desministerin für Bildung und Forschung: Sehr geehrter Herr Kollege Brase, die Bürgerdialoge
sind für uns ein wichtiges Instrument, das in diesem Jahr
Selbstverständlich ist der Gedanke, für eine stärkere
startet. Wir wollen mit den Bürgerinnen und Bürgern ein
Vernetzung der Hochschulen zu sorgen und Hilfe zur
intensives Gespräch über moderne Hoch- und Spitzen-
Selbsthilfe zu leisten, an dieser Stelle sehr wichtig.
technologie führen und ihnen, indem wir ihnen die wis-
Studierende brauchen nicht allein die Expertise des
senschaftliche Expertise der Experten in Deutschland di-
DAAD. Vielmehr bietet auch die Kooperation zwischen
rekt zugänglich machen, die Möglichkeit geben, die
Hochschulen zusätzlich zur Chance auf einen Auslands-
Chancen, aber auch die Risiken dieses Innovationsmo-
aufenthalt weitere Vorteile, zum Beispiel bei der wissen-
tors für die Fortentwicklung Deutschlands abzuwägen,
schaftlichen Zusammenarbeit oder bei dem Bemühen,
damit die Nutzung von Hoch- und Schlüsseltechnolo-
Wissenschaftler und Studierende mit guter Expertise
gien in Zukunft im gesellschaftlichen Konsens erfolgen
nach Deutschland zu holen und in unser Hochschulsys-
kann. Deshalb wendet das Bundesministerium für Bil-
tem zu integrieren. Ich glaube, ein solcher hochschul-
dung und Forschung in Zukunft 2 Millionen Euro pro
zentrierter Ansatz ist grundsätzlich sehr zu begrüßen.
Jahr für diese Bürgerdialoge auf. Sie finden sie im Haus-
halt unter dem Kapitel 3003 Titel 541 01.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Dr. Rossmann. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Haben Sie eine Nachfrage dazu? – Bitte sehr.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Herr Staatssekretär, Sie haben absolute Zahlen ge- Willi Brase (SPD):
nannt. Werden absolute Zahlen erwähnt, muss man im- Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär Braun. – Wenn
mer nach der Relation fragen. Garantieren Sie vor dem ich das alles richtig mitbekommen habe, wollen Sie stär-
Hintergrund Ihrer Finanzplanung für den DAAD, dass ker auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen, wollen Sie
Sie in Zukunft bei deutlich zunehmenden Studierenden- die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis
zahlen mindestens den gleichen Prozentsatz an Förder- nehmen. Ich erlebe gleichzeitig in der Presse, dass die
fällen erreichen wie bisher? Spitze des Hauses – also die Ministerin und auch Sie als
9312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Willi Brase
(A) Staatssekretär – sehr viel unterwegs ist, vielfach mit För- auch bei der Durchsetzung von bestimmten industrie- (C)
derbescheiden; es gibt also schon einen Dialog mit den politischen Projekten in Deutschland zu sorgen?
Menschen vor Ort. Mir ist nicht ganz ersichtlich, wie
man das da einbauen kann. Ist der Besuch der Ministerin Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
jetzt nicht mehr so wichtig? Oder sind diese Besuche desministerin für Bildung und Forschung:
kein Bürgerdialog, weil beim Bürgerdialog eben nicht Sehr geehrter Herr Brase, die Diskussion um Schlüs-
gleich Geld in Form eines Förderbescheides verteilt seltechnologien und um die Chancen und Risiken ist
wird? Wie kann man das miteinander in Verbindung älter als die aktuelle Diskussion um Stuttgart 21, wahr-
bringen? Ich wäre dankbar, wenn Sie mir das noch erklä- scheinlich sogar älter als der Planungsprozess von Stutt-
ren könnten. gart 21. Insofern ist dieser direkte Bezug zu verneinen.
Das Bemühen, das gesellschaftliche Phänomen, dass ein
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Dialog über wichtige Zukunftsfragen stattfindet, aufzu-
desministerin für Bildung und Forschung: greifen, steckt aber sozusagen sowohl hinter den Bürger-
Ich glaube, dass das, was Sie beschreiben, etwas an- dialogen als auch den anderen Dialogformen.
deres ist als das, was der Bürgerdialog bedeutet. Mit
Wissenschaftlern darüber zu reden, welche Forschungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
projekte wir für die Zukunft initiieren, was wir finanziell Eine weitere Zusatzfrage hat der Kollege
unterstützen, ist eine andere Form des Dialogs als der Dr. Rossmann.
mit der Breite der Gesellschaft und zwischen den Bür-
gern. Es geht also nicht darum, einen Dialog zwischen
Politik und Wissenschaft, sondern einen Dialog im Drei- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
ecksverhältnis zwischen Bürgern, Politik und Wissen- Herr Staatssekretär, Sie haben eben die Zahl 2 Millio-
schaft zu organisieren. Dabei wollen wir nicht darauf nen Euro genannt. Meine Frage geht dahin, wie Sie si-
warten, bis die Bürger zu uns kommen und uns Fragen cherstellen und ausdrücklich garantieren, dass Sie nicht
stellen, sondern auf die Bürger zugehen, um mit ihnen durch schlechtes Management dieses Bürgerdialogs ein
über die Zukunftstechnologien zu reden. ähnliches Fiasko erleben wie bei dem ersten Bürgerdia-
log, bei dem ein Wissenschaftszug mit einem Gesamt-
Technologiedialoge gibt es ja an vielen Stellen. Wir investitionsaufwand von 9 Millionen Euro durch Deutsch-
fangen jetzt mit dem Dialog über Gesundheitstechnolo- land geschickt worden ist, wobei alleine beim BMBF
gien aus Anlass des Jahres der Gesundheitsforschung an. Parkgebühren von 240 000 Euro aufgelaufen sind.
Da gibt es zahlreiche Fragen und unglaublich viele Sor-
gen: Ich nenne die Segnungen der modernen Medizin Ein Desaster droht ja immer da, wo man große Ideen
(B) auf der einen Seite und die Sorge bezüglich Entpersona- hat, deren Umsetzung durch die Administration eines (D)
lisierung, Entfremdung und der vermeintlichen Appara- Hauses in der Praxis aber nicht wirklich kontrolliert
temedizin auf der anderen Seite. Um darüber zu reden, wird. Ihr Haus ist ja leider in dem Ruf, solche Flops zu
brauchen wir ein spezielles Veranstaltungsformat. Bei produzieren. Deshalb lautet die ganz konkrete Frage:
den Bürgerdialogen werden wir die Bürger zunächst Durch welche Maßgaben Ihrer Verwaltung stellen Sie si-
über eine Onlineplattform dazu ermutigen, alle Fragen, cher, dass nicht auch noch dieser Bürgerdialog den Weg
die sie zu den jeweiligen Schlüsseltechnologien haben, ins sogenannte Schwarzbuch des Bundes der Steuerzah-
an uns zu richten. Daraufhin kümmern wir uns darum, ler findet?
dass sie adäquate Antworten von den besten Wissen-
schaftlern auf dem jeweiligen Gebiet bekommen. Dabei Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
kristallisieren sich dann öffentlich interessante Frage- desministerin für Bildung und Forschung:
stellungen heraus. In konkreten Veranstaltungen, bei de- Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst einmal zum
nen Wissenschaft, Politik und Bürger an einem Tisch sit- Wissenschaftszug: Ich teile Ihre Bewertung überhaupt
zen, sollen vor einem sehr fundierten Hintergrund nicht. Der Wissenschaftszug war ein unglaublicher Be-
Antworten auf die wirklich drängenden Fragen der Ge- suchermagnet. Wir haben eine hohe Anzahl von Besu-
sellschaft gefunden werden. Das halte ich für außer- chern in den unterschiedlichsten Städten gehabt. Wir ha-
ordentlich vielversprechend und für eine gute Ergänzung ben mit diesem wirklich sehr außergewöhnlichen Projekt
der Veranstaltungsformate, die von der Bundesregierung viele Menschen direkt erreichen und für Forschung und
heute schon genutzt werden. Wissenschaft auch auf einem Niveau begeistern können
– wenn Sie selber ihn einmal besucht haben, dann wer-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Sie das bestätigen –, das seinesgleichen sucht. Auch
Eine weitere Zusatzfrage? in der Zukunft werden die Exponate des Wissenschafts-
zuges in der Wissenschaftskommunikation sicherlich
eine wichtige Rolle spielen. Insofern ist das alles an die-
Willi Brase (SPD):
ser Stelle noch nicht zu Ende.
Ich habe nur noch eine kleine Nachfrage: Kann es
sein, dass die Auseinandersetzungen um das Projekt Hinsichtlich des Vorliegenden habe ich Ihnen deutlich
Stuttgart 21 im Ministerium in gewisser Weise die Ge- gemacht, dass eine aufwendige Infrastruktur nicht erfor-
danken beflügelt haben bzw. Pate für die Idee standen, derlich ist: Infrastrukturmaßnahmen sind nur im Online-
auf einem anderen Weg für eine bessere Kommunikation bereich notwendig, ansonsten handelt es sich um kon-
bei der Weiterentwicklung von Spitzentechnologien oder krete Veranstaltungsformate. Das Entscheidende ist, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9313
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(A) die Bürgerinnen und Bürger das Dialogangebot wahr- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
nehmen. Angesichts der drängenden Probleme unserer Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Gesellschaft, die wir ansprechen, und angesichts der Ex- Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwor-
pertisen, die wir auf der wissenschaftlichen Seite dafür tung der Fragen.
anbieten, bin ich mir ganz sicher, dass die Menschen die-
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
sen Bürgerdialog sehr positiv annehmen werden. Da-
ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
rüber mache ich mir keine Sorgen.
Entwicklung. Für die Beantwortung der Fragen steht
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 14 des Kollegen Willi Brase: Wir beginnen mit der Frage 15 der Kollegin
Durch welche Maßnahmen stellt die Bundesregierung si- Dr. Barbara Hendricks:
cher, dass die Ergebnisse der „Bürgerdialoge“ auch in die Ar- Welche Instrumente und Verfahren setzt die Bundesregie-
beit des BMBF einfließen und Auswirkungen auf die Förder- rung ein, um ihre eigene Entwicklungszusammenarbeit in den
tätigkeit oder Prioritätensetzung haben? Partnerländern frei von Korruption zu halten?

Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
desministerin für Bildung und Forschung: minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung:
Herr Kollege, das Ergebnis der Bürgerdialoge muss
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Dr. Hendricks,
natürlich Eingang in das finden, was wir politisch im
hinsichtlich Ihrer Frage nach der multilateralen Entwick-
weiteren Kontext tun. Wir müssen das bewerten und
lungszusammenarbeit der Bundesregierung in der Kor-
daraus auch Schlüsse ziehen. Das muss nicht nur die
ruptionsbekämpfung verweise ich auf Frage 34.
Politik, sondern das müssen die Bürger insgesamt tun.
Deshalb werden wir parallel zu den Initiativen einen so- Für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ist
genannten Bürgerreport aus den verschiedenen Veran- festzustellen, dass die Korruptionsbekämpfung als Quer-
staltungen erstellen, in dem alle wesentlichen Fragen schnittsaufgabe für uns in allen Förderbereichen eine
und Ergebnisse festgehalten werden. Er wird dann so- ganz zentrale Rolle spielt. Gezielte Maßnahmen werden
wohl der Politik als auch den Repräsentanten von Wirt- darüber hinaus im Förderbereich „Demokratie, Zivilge-
schaft und Wissenschaft übergeben werden, sodass alle sellschaft und öffentliche Verwaltung“ unterstützt, den
Lehren aus ihm ziehen können. So kann es dazu kom- die Bundesregierung mit rund der Hälfte der Partnerlän-
men, dass der Bürgerdialog nicht nur Punktuelles be- der als Arbeitsschwerpunkt vereinbart hat. Dabei geht es
(B) wirkt, sondern wirklich auch Konsequenzen für die um den Aufbau transparenter, leistungsfähiger und bür- (D)
praktische Arbeit mit sich bringt. gerorientierter Strukturen in der Verwaltung, um die
Schaffung eines effizienten Personal- und Beschaffungs-
wesens, um die Verbesserung des öffentlichen Finanz-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wesens sowie den Auf- und Ausbau von Steuer- und
Haben Sie Nachfragen, Herr Kollege? Zollverwaltungen, von funktionstüchtigen und effizien-
ten Rechnungshöfen und von rechtsstaatlichen Struktu-
ren im Sicherheitsbereich.
Willi Brase (SPD):
Ja.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte. Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Die Frage nach
den multilateralen Institutionen wird wahrscheinlich
Willi Brase (SPD):
später schriftlich beantwortet, weil wir wohl nicht mehr
Vielen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. – dazu kommen, den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Ich will nur noch eine Frage stellen: Ist geplant, die Er- Amts aufzurufen.
gebnisse, also diesen Report, auch dem Bundestag zuzu-
leiten, damit wir über möglicherweise gute Erkenntnisse Was unsere eigene Entwicklungszusammenarbeit
hier gemeinsam diskutieren können? – also nicht die multilaterale, sondern unsere bilaterale –
anbelangt, gibt es zwei Ebenen. Die eine Seite, nämlich
die Hilfe bei der Entwicklung möglichst korruptions-
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- freier Verwaltungen und Regierungen, die es auf vielen
desministerin für Bildung und Forschung: Ebenen zu leisten gilt, haben Sie eben kursorisch ange-
Da wir sogar beabsichtigen, diese Ergebnisse öffent- sprochen. Man muss aber auch die andere Seite sehen.
lich zu machen, ist es selbstverständlich, dass sie auch Dabei geht es um die Frage, wie wir bei der Vergabe von
dem Deutschen Bundestag zur Verfügung gestellt wer- Mitteln sicherstellen, dass sie zumindest in gewissem
den. Umfang tatsächlich dort hingelangen, wofür sie vorgese-
hen sind, also dass sie effizient eingesetzt werden, statt
(Willi Brase [SPD]: Herzlichen Dank!) zugunsten korrupter Personen in Regierungen und Ver-
9314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Dr. Barbara Hendricks


(A) waltungen oder deren Verwandten und Begünstigten ab- den willigen Regierungen mit Rat und Tat zur Verfügung (C)
gezweigt zu werden. stehen. Genau das machen wir.
Zurzeit steht in Rede – wir wissen im Moment noch
nicht, ob es stimmt –, dass der bisherige Präsident Tune- Dr. Barbara Hendricks (SPD):
siens mit einer größeren Summe Geld ins Ausland ge- Sind Sie bereit, auch in Zukunft solche Rohstoffpart-
gangen sei. Ich kann die genaue Höhe nicht benennen, nerschaften – so möchte ich sie nennen – zu befördern,
aber man kann sicher sein, dass solche Summen – in und zwar in Zusammenarbeit mit dem Bundesministe-
welcher Höhe auch immer – nicht durch normale regie- rium für Wirtschaft, den internationalen Handelskam-
rungsamtliche Tätigkeit erworben werden können. Die mern und den dort tätigen deutschen Unternehmen, für
Frau Bundeskanzlerin zum Beispiel wird später sicher- deren Verhalten vor Ort wir letztlich eine politische Ver-
lich niemals 100 Millionen Euro übrig haben. antwortung haben, und zugleich mit den Regierungen
der Länder, um die es geht, Abmachungen zu treffen, die
Es sind also entsprechende Vorkehrungen zu treffen. festlegen, welche Steuersummen mindestens aus einer
Auch wenn sie bei uns und auf internationaler Ebene solchen Tätigkeit entstehen müssen?
noch nicht perfekt sind, ist der Weg dorthin richtig und
notwendig und muss intensiv weiterverfolgt werden.
Was geschieht in diesem Bereich nun konkret bei der Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
Mittelvergabe? minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung:
Das kann ich Ihnen sehr gerne bestätigen. Wir arbei-
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- ten auch hier ressortübergreifend. Wir müssen natürlich
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- auch die Grenzen beachten. Wir befördern in diesem Be-
wicklung: reich Entwicklungsprojekte und betreiben keine Außen-
Das ist selbstverständlich der größte Knackpunkt. Wir wirtschaftsförderung; es ist völlig klar, dass hier die
wollen ja erreichen, dass mit der staatlichen Entwick- Schnittstelle ist. Genau das machen wir. Es ist wichtig,
lungszusammenarbeit die größtmögliche Wirkung er- dass wir an dieser Stelle weiterkommen. Es ist notwen-
zielt wird und Gelder denjenigen, die Hilfe brauchen, zu- dig, weltweit die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit
gutekommen. Wir müssen also dafür sorgen, dass sie solcher legalen Einnahmen zu lenken. Wie Sie wissen,
nicht in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwinden. Frau Dr. Hendricks, erzielen die betreffenden Regierun-
Genau diesen Punkt machen wir in allen Regierungsver- gen schon heute Einnahmen im Rohstoffbereich. Aber
handlungen und bei allen Vertragsverhandlungen über meistens landen diese auf irgendwelchen Konten im
Projekte, die wir angehen wollen, zur Auflage und ver- Ausland und kommen nicht den Menschen vor Ort zu-
(B) langen entsprechende Nachweise. Wir führen dann mit gute. Auch hier ist der entscheidende Punkt, Transparenz (D)
der jeweiligen Regierung bzw. dem jeweiligen Partner sicherzustellen und darauf zu achten, dass die Gelder im
– auch das ist wichtig – einen Evaluierungsdiskurs und Land bleiben. Ich kann Ihnen bestätigen, dass genau das
schauen, wie mit den Geldern und Auflagen umgegan- unser Bestreben ist.
gen wurde.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Vielen Dank!)
Ein sehr positives Beispiel für gute Korruptionsbe-
kämpfung kann der Umgang mit Rohstoffinitiativen
sein. Mithilfe der Ihnen sicherlich bekannten Transpa- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
renzinitiative EITI werden Regierungen aufgefordert, im Frau Kollegin Hübinger, bitte.
Rohstoffbereich Partner zu suchen, die bereit sind, be-
stimmte Auflagen betreffend die Mitarbeiter, gegen Kin- Anette Hübinger (CDU/CSU):
derarbeit sowie betreffend Gesundheits- und Arbeitsnor- Frau Staatssekretärin, welche Bedeutung messen Sie
men zu erfüllen. Wir helfen Regierungen, die willig sind einer Konditionalisierung unserer Hilfe im bilateralen
– das sind leider nicht alle –, ein Finanzsystem aufzu- Verhältnis und gerade in der Bekämpfung der Korrup-
bauen, und vermitteln ihnen, wie man die Einnahmen in tion bei?
den Staatshaushalt transparent einstellen kann, um dann
mit mehr Staatseinnahmen Sozial-, Gesundheits- oder
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
Bildungssysteme aufzubauen.
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
Ich nenne Ihnen Ghana als Beispiel. Ghana wird ab wicklung:
diesem Jahr im Rahmen einer solchen Rohstoffinitiative Frau Kollegin Hübinger, wir messen ihr eine sehr
wahrscheinlich pro Jahr 1 Milliarde US-Dollar einneh- große Bedeutung bei. Ich versuchte schon, darzulegen,
men. Dieses Geld wird dann über transparente Struktu- dass wir bei allen – auch bilateralen – Projekten sehr ge-
ren – darauf legen wir großen Wert, und darauf achten zielt darauf achten, dass die Kriterien der Korruptionsbe-
wir – in den Staatshaushalt fließen und die Entwick- kämpfung in die Verhandlungen einbezogen werden, be-
lungspolitik sowie den Aufbau von Strukturen vor Ort vor die entsprechenden Verträge abgeschlossen werden;
entsprechend befördern. Es ist sehr wichtig, unseren denn das Verschwinden von Mitteln, die für arme und
Partnern und den Unternehmen, die sich einer solchen ärmste Menschen gedacht sind, ist heute leider noch im-
Transparenzinitiative anschließen, zu vermitteln, dass mer an der Tagesordnung. Deshalb ist es für uns eine
wir darauf großen Wert legen und mit unserem Know- Selbstverständlichkeit, darauf zu achten, wie wir bei je-
how – Evaluierungs-Know-how, Finanz-Know-how – der kleinen, auch bilateralen Zusammenarbeit dazu bei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9315
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(A) tragen können, Korruption effizient und effektiv zu be- fung darstellen konnte, habe ich vorhin gesagt. Spekula- (C)
kämpfen. Das werden wir in Zukunft weiter ausbauen. tionen oder irgendwelche persönlichen Wertungen
überlasse ich Ihnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Roth, bitte. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Fragen 16 und 17 der Kollegin Dr. Bärbel Kofler
Karin Roth (Esslingen) (SPD): werden schriftlich beantwortet.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kopp. – Mit Blick auf Damit kommen wir zur Frage 18 der Kollegin Karin
Ihre Ausführungen möchte ich Sie fragen: Welche Ver- Roth:
einbarungen haben Sie mit der Regierung von Afghanis- Wie viel der 420 Millionen Euro, die im Jahr 2010 für den
tan getroffen, damit der Vorwurf der Korruption, der öf- zivilen Wiederaufbau Afghanistans bereitstanden, ist abge-
fentlich immer genannt wird, eingedämmt wird? Gibt es, flossen, insbesondere in den regionalen Fonds im Norden
beispielsweise im Bereich des Handels, aber auch bei Afghanistans zur Verbesserung der Regierungsführung auf
anderen entwicklungspolitischen Maßnahmen, die wir Provinz- und Distriktebene, RCDF, und den Regionalinfra-
strukturfonds im Norden Afghanistans zum Ausbau von Infra-
dort finanzieren, ähnliche Vereinbarungen seitens der strukturprojekten, RIDFA, und wie werden die restlichen Mit-
Bundesregierung mit der Regierung Karzai? tel verwendet?

Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung: wicklung:
Frau Kollegin Roth, ich kann Ihnen bestätigen, dass Danke sehr, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Roth,
bei allen Regierungsverhandlungen genau diese Fragen zur Beantwortung Ihrer Frage muss ich Ihnen leider ei-
Inhalt der Gespräche und der konkreten Verhandlungen nige Zahlen vorlesen. Das ist zwar sehr detailliert; aber
waren. Gerade jetzt, da weitere Projekte entwickelt und ich denke, es ist notwendig, um sich einen Überblick zu
umgesetzt werden, kommt es darauf an, dass wir alles verschaffen.
tun, um schon jedem Anfangsverdacht von Korruption
nachzugehen und sie effizient und effektiv zu bekämp- Für die Entwicklung und den zivilen Wiederaufbau
fen. Es ist, gerade in Afghanistan, nicht leicht, solche haben wir im Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
Strukturen zu durchschauen und in die Teilevaluierung sammenarbeit und Entwicklung im Jahr 2010 240 Mil-
zu gehen. Aber auch hier ist es uns ein Anliegen, Kor- lionen Euro als Jahreszusagerahmen – Verpflichtungs-
ruption, wo immer möglich, zu bekämpfen. ermächtigungen – im Bereich der bilateralen Entwick-
(B) lungszusammenarbeit und 10 Millionen Euro Verpflich- (D)
tungsermächtigungen zur Förderung des Engagements
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: im Bereich der privaten Träger zur Verfügung gestellt.
Herr Kollege Raabe, bitte.
Aufgrund der vom Deutschen Bundestag beschlos-
senen Globalkürzung im Bereich der Verpflichtungs-
Dr. Sascha Raabe (SPD):
ermächtigungen – Sie wissen das, Frau Kollegin Roth –
Frau Staatssekretärin, es ist wirklich wichtig – auch wurde bei der bilateralen staatlichen Entwicklungszu-
im Sinne der deutschen Steuerzahler und der vielen sammenarbeit, das heißt der Finanziellen wie der Tech-
Spender –, dass wir, wie Sie gerade sagten, darauf ach- nischen Zusammenarbeit, eine Kürzung des Zusagerah-
ten, in Entwicklungsländern umfassend gegen Korrup- mens für Afghanistan von den eben genannten 240 Mil-
tion vorzugehen und schon jeden Anfangsverdacht zu lionen Euro auf 224,5 Millionen Euro Verpflichtungs-
verfolgen. ermächtigungen erforderlich. Das ist eine Kürzung um
In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie man 6 Prozent. Diese Zusage wurde im Mai 2010 im Rahmen
Korruption definiert. Würden Sie es als Korruption anse- der deutsch-afghanischen Regierungsverhandlungen er-
hen, wenn in einem Land eine Regierungspartei, sagen teilt. Damit wurden Afghanistan vom BMZ inklusive der
wir einmal, Steuern für eine gewisse Branche senkt und Mittel für private Träger insgesamt 234,5 Millionen
diese Partei anschließend eine beträchtliche Summe von Euro zugesagt. Der Abfluss dieser Mittel – genau danach
dieser Branche gespendet bekommt? fragten Sie – war nicht für das Jahr 2010, sondern für die
Folgejahre nach Projektfortschritt geplant.
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Danach?
Das ist doch eine unglaubliche Geschichtsklit- Für den Regionalinfrastrukturfonds, RIDFA, wurden
terung! Märchen!) im Rahmen der Regierungsverhandlungen im Mai 2010
insgesamt 22 Millionen Euro und für den regionalen
Würden Sie das in einem Entwicklungsland in die Nähe Fonds, RCDF, 24 Millionen Euro durch das BMZ zuge-
von Korruption rücken oder nicht? sagt. Im Jahr 2010 wurden die Vorbereitungen zur Im-
plementierung der Fonds ausgeführt, also Unterschriften
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- getätigt und Verträge geschlossen. Für beide Fonds wur-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- den zahlreiche Projektvorschläge eingereicht, die mo-
wicklung: mentan einer Überprüfung zur Durchführbarkeit unter-
Lieber Herr Kollege, wir sprechen von Entwicklungs- zogen werden. Der Gesamtwert dieser Anträge beläuft
zusammenarbeit. Alles, was ich zur Korruptionsbekämp- sich auf über 30 Millionen Euro.
9316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp


(A) Aus einem weiteren Titel leistete das BMZ zusätzlich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
anlassbezogene, entwicklungsorientierte Not- und Über- Haben Sie eine weitere Nachfrage?
gangshilfe. Diese belief sich 2010 auf 11,67 Millionen
Euro und wurde von einer staatlichen Durchführungs- Karin Roth (Esslingen) (SPD):
organisation sowie deutschen Nichtregierungsorganisa- Ja, Frau Präsidentin.
tionen umgesetzt. Im Rahmen des Stabilitätspakts Afgha-
nistan wurden dem Auswärtigen Amt für das Jahr 2010 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
insgesamt 180,7 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Bitte sehr.
Davon sind nach derzeitigem Stand etwa 97 Prozent ab-
geflossen. Jedoch sind noch nicht alle Auszahlungen im
System erfasst. Die Quote kann sich daher noch erhöhen. Karin Roth (Esslingen) (SPD):
Die endgültigen Zahlen werden erst in der dritten Kalen- Vielen Dank für die Klärung der Situation. – Wir wis-
derwoche 2011 vorliegen, also in Kürze. Mittel des Sta- sen, dass das Thema der Fonds schwieriger ist als das
bilitätspakts Afghanistan, die nicht im Jahr 2010 veraus- der anderen Projekte. Daran will ich keine Kritik üben;
denn auch hier stellt sich das Thema der Korruption. Das
gabt wurden, fließen an das Bundesministerium der
ist gar keine Frage.
Finanzen zurück.
Sie hatten für 2010 für den Fonds relativ viel Geld
vorgesehen. Wir haben in diesem Bereich aus guten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Gründen eine Verdopplung der Entwicklungshilfe vorge-
Haben Sie Nachfragen? – Bitte sehr. nommen, damit wir diese Fonds installieren können, um
die Demokratisierungsprozesse in Afghanistan voranzu-
Karin Roth (Esslingen) (SPD): bringen. Das ist auch eine wichtige Voraussetzung für
den Abzug unserer Bundeswehr. Das soll ja gleichzeitig
Vielen Dank, Kollegin Kopp, für die interessanten erfolgen.
Zahlen. – Eine Frage steht aber trotzdem noch im Raum.
Ich habe nach dem Abfluss der Mittel für die Fonds ge- Gesetzt den Fall, dass nicht alle Mittel, wie ich an-
fragt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind die nehme, abgeflossen sind, möchte ich nur wissen: Was
24 Millionen Euro und die 22 Millionen Euro bisher passiert denn mit diesen Mitteln? Werden die dann in das
nicht abgeflossen. Sie haben erst die Fonds gegründet, Jahr 2011 transferiert? Ist das so von Ihrem Ministerium
dann haben Sie sich Projekte angeschaut. Das Geld ist organisiert? Haben Sie dafür die Vorbereitung getroffen?
aber noch nicht abgeflossen. Insofern danke ich Ihnen Denn an diesen beiden Fonds hängt ja wirklich sehr viel,
was die Infrastruktur, die politische Entwicklung der re-
(B) zwar für die Darlegung der Zahlen; aber meine zentrale gionalen Strukturen und die Beteiligung von Menschen (D)
Frage lautet: Ist denn im Jahr 2010 bezogen auf diese
Fonds – natürlich ist auch das andere schön und gut und angeht und die Demokratisierung im Lande voranbrin-
wichtig – Geld geflossen oder nicht? Aus der Beantwor- gen soll. Oder geht das Geld dann auch – so wie die an-
tung dieser Frage ergibt sich nämlich, wo wir – das spielt deren 97 Prozent im Außenministerium – an den Finanz-
eine Rolle bei der Diskussion über die Verlängerung des minister? Der freut sich; aber ich glaube, das ist nicht in
unserem Sinne. Zumindest haben wir das anders verab-
Mandats – stehen. Auf der einen Seite ist die Abzugsper-
redet.
spektive entscheidend, auf der anderen Seite die Demo-
kratisierung, die wir gerade mit diesen beiden Fonds un-
terstützen wollen. Darauf möchte ich eine ehrliche Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
Antwort, nicht nur die Zahlen. minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung:
Frau Kollegin Roth, wir haben uns in der Tat auf allen
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Ebenen ein sehr ambitioniertes Arbeitsprogramm vorge-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- nommen und sind daran interessiert, auch und gerade
wicklung: mit dem zivilen Aufbau erheblich weiterzukommen.
Frau Kollegin Roth, Sie haben völlig recht, wenn Sie Dazu haben wir dort etliche Projekte installiert. Ich kann
diese beiden absolut wichtigen Fonds ansprechen. Sie Ihnen zum derzeitigen Zeitpunkt nur sagen: Ich gehe da-
wissen aber auch, dass diese Fonds zunächst einmal vor- von aus, dass diese beiden Fonds bei ihrer Installierung
bereitet werden mussten bzw. müssen. Sie mussten ein- mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet werden, da-
gerichtet werden, es müssen Verträge geschlossen wer- mit sie in entsprechender Weise verwendet werden kön-
den, und es sind strukturelle Maßnahmen zu treffen. Es nen.
sind Projekte auszuwählen, auszuschreiben, und diesen
muss dann der Zuschlag erteilt werden. Ich habe eben Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
auf die dritte Woche im Januar verwiesen, in der weitere Wir kommen zur Frage 19 des Kollegen Dr. Sascha
Details zum Abfluss von Mitteln bekannt gegeben wer- Raabe:
den. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt lediglich die Zah- Wird die Bundesregierung der in einem Interview mit dem
len nennen, die ich eben genannt habe. Was die beiden Deutschlandfunk am 3. Januar 2011 ausgesprochenen Emp-
Fonds betrifft, so muss ich Sie noch einige wenige Tage fehlung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker
Kauder, folgen und Christen in den Ländern, in denen sie ver-
um Geduld bitten, bis wir wissen, wie viel Geld konkret folgt werden, künftig stärker im Wege der Entwicklungszu-
abgeflossen ist. sammenarbeit unterstützen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9317

(A) Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- in welchen Ländern Christen verfolgt werden und in (C)
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- welchen nicht.
wicklung:
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Raabe, Ich frage Sie in diesem Zusammenhang, ob Ihnen
ich hoffe, Sie sind einverstanden, wenn ich Ihre beiden – ansonsten bitte ich Sie, das an Ihren Koalitionspartner
Fragen zusammenfasse, denn sie gehören zusammen. weiterzugeben – die Aussagen der beiden kirchlichen
Entwicklungswerke Misereor und EED bekannt sind,
dass sie das für ganz falsch halten. Herr Michael Hippler
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vom katholischen Hilfswerk Misereor sagt, dass man mit
Dann rufe ich auch die Frage 20 des Kollegen solchen Vorschlägen gerade radikalen Kräften in die
Dr. Sascha Raabe auf: Hände spiele. Auch Frau Warning vom EED sieht das
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der in ei- so.
nem Interview mit der Rheinischen Post am 3. Januar 2011
gemachten Äußerung des Parlamentarischen Geschäftsführers Als ebenfalls betroffener Christ, der ich immer wieder
der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Stefan erleben muss, dass die Partei mit dem C im Namen mich
Müller (Erlangen), wonach es keine Entwicklungszusammen-
arbeit mit Ländern mehr geben solle, in denen Christen ihre
in Mitverantwortung nimmt, würde ich mir wünschen,
Religion nicht ungehindert ausüben können, und sieht die dass man mehr auf die Kirchen hört, die sagen, gerade
Bundesregierung die Gefahr, dass diese Forderung radikalen moderaten Muslimen müsse man deutlich machen, dass
Kräften in den betreffenden Ländern in die Hände spielen Menschenrechte unteilbar seien und es keine explizite
könnte? Förderung von Christen gebe. Hippler sagte, das katholi-
sche Hilfswerk sehe sich da in der Nachfolge Jesu, der
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- ebenfalls keiner bestimmten, sondern allen Gruppen ge-
minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- holfen hat. Es freut mich, wenn das Ministerium es so
wicklung: sieht, und ich würde mich freuen, wenn dieser christliche
Sie fragen danach – ich sage es einmal mit meinen Geist auch bei der Union einziehen würde.
Worten –, ob wir als BMZ bereit sind, bestimmte Reli-
gionsgruppen in besonderer Weise bei der Entwick- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Vielen Dank für
lungszusammenarbeit zu bedenken. Dazu kann ich Ihnen die Belehrung! Die können Sie sich an den Hut
sagen: Wir legen als BMZ allergrößten Wert darauf, dass stecken!)
die Einhaltung der Menschenrechte in jedem Fall die
Messlatte unseres Handelns ist. Das bedeutet natürlich Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
auch die Gewährleistung von Religionsfreiheit. Für uns minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
(B) ist das ein ganz wichtiges Gut. Daran richten wir auch wicklung: (D)
unsere staatliche Projektförderung aus. Herr Kollege Raabe, ich habe eben ausgeführt: Das
Wir sind nicht der Ansicht, dass bestimmte Religions- Leitprinzip unserer Entwicklungszusammenarbeit – üb-
gruppen in bestimmter Weise besonders mit staatlichen rigens der Entwicklungszusammenarbeit auch der Bun-
Mitteln zu fördern sind. Da geht es zum Beispiel um desregierung, nicht nur des BMZ – ist die Einhaltung der
nichtstaatliche Projekte; da kann man in bestimmter Menschenrechte. Ich bin mir sehr sicher, Herr Kollege
Weise hinschauen. Wir achten aber natürlich auf aller- Raabe, dass das die Kollegen und Kolleginnen der
größte Neutralität. Und wir achten darauf, dass Minder- Union genauso sehen.
heiten nicht unterdrückt werden. Es geht uns darum, dass
wir nicht durch bestimmte Bevorzugung von Gruppen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
möglicherweise konfliktverschärfend handeln.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Insofern kann ich die Frage so beantworten: Wir han- Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Beantwor-
deln nach neutralen Regelungen, ausgerichtet an der tung der Fragen.
Einhaltung von Menschenrechten, an der Religionsfrei-
heit für jedermann und jede Frau in allen Gruppen. Ich rufe den Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin
und des Bundeskanzleramtes auf. Für die Beantwortung
der Fragen steht Frau Staatsministerin Professor
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Ihre Nachfrage, bitte.
Wir kommen zunächst zur Frage 21 des Kollegen Jan
Korte:
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Staatssekretärin, es freut mich, dass das Ministe- Wer trägt nach Auffassung der Bundesregierung die politi-
sche Verantwortung dafür, dass die beim Vorläufer des Bun-
rium offensichtlich eine andere Meinung als der Frak- desnachrichtendienstes, BND, Organisation Gehlen, schon
tionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, und Stefan 1952 vorhandenen Informationen zum Aufenthaltsort des NS-
Müller von der CSU hat. Der Hintergrund der Frage war, Verbrechers Adolf Eichmann in Argentinien seitens der Bun-
dass nach den furchtbaren Anschlägen in Ägypten – die, desregierung nicht genutzt bzw. an die zuständigen Strafver-
was die Brutalität angeht, eigentlich nicht in Worte zu folgungsbehörden des Bundes oder befreundeter Staaten wei-
tergegeben wurden, und wieso wurde die entsprechende
fassen sind – von Herrn Kauder und Herrn Müller die Information erst 1958 an die USA weitergeleitet?
Schlussfolgerung gezogen wurde, dass die Entwick-
lungsarbeit in Zukunft danach ausgerichtet werden solle, Frau Staatsministerin.
9318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- (C)
kanzlerin: kanzlerin:
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Korte, Herr Kollege, niemand in diesem Haus negiert das
ich nehme wie folgt Stellung zu Ihrer Frage: Die Organi- große Interesse, das jeder haben musste. Aufgrund mei-
sation Gehlen befand sich vom 1. Juli 1949 bis Ende nes Alters konnte ich als Schülerin vor dem Fernseh-
März 1956 in der Verantwortung der CIA der Vereinig- schirm den Prozess mitverfolgen, der damals in Israel
ten Staaten von Amerika. Der Bundesnachrichtendienst durchgeführt worden ist. Er hat mich wie viele andere
als dem Bundeskanzleramt unterstellte Behörde wurde auch zutiefst aufgewühlt und bewegt. Man muss alles
erst am 1. April 1956 gegründet. So weit diese Vorbe- dafür tun, um Dinge aufzuklären, erst recht, wenn jetzt
merkung. solche Vermutungen im Raum stehen. Deshalb ist es für
mich von entscheidender Bedeutung, dass eine wissen-
Die im BND derzeit vorhandene Aktenlage zu diesem schaftliche Untersuchung durchgeführt wird und dass
Vorgang erlaubt überdies keine eindeutige Aussage zur uns Historiker die damaligen Zusammenhänge erklären.
damaligen Bewertung und Verwendung der in dieser Aufgrund dieser wissenschaftlich dezidiert vorgetrage-
Frage angesprochenen Information über den angeblichen nen Erkenntnisse können wir uns dann ein Urteil bilden.
Aufenthaltsort von Adolf Eichmann. Daher können der-
zeit auch die von Ihnen aufgeworfenen Fragen seriöser-
weise nicht belastbar beantwortet werden. Dies muss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
vielmehr – das halte ich für ganz entscheidend – der jetzt Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Jan Korte:
eingeleiteten wissenschaftlichen Erforschung der Früh- Wer genau im Bundeskanzleramt oder BND verhindert bis
geschichte des Bundesnachrichtendienstes und seiner heute aus welchen Gründen die vollständige Einsichtnahme
Vorläuferorganisation überlassen bleiben. und/oder Veröffentlichung der mehrere Tausend mikrover-
filmte Seiten umfassenden BND-Akte über Adolf Eichmann?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes-
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? – Bitte. kanzlerin:
Herr Kollege Korte, Sie wissen, dass derzeit vor dem
Jan Korte (DIE LINKE): Bundesverwaltungsgericht zwei Verwaltungsstreitver-
Schönen Dank. – Ich möchte Sie, Frau Staatsministe- fahren gegen den Bundesnachrichtendienst auf Einsicht-
rin, gerne fragen, ob Sie mir in der Bewertung zustim- nahme in Akten zu Adolf Eichmann geführt werden. Das
men, dass die Geheimhaltung des Aufenthaltsorts von Bundeskanzleramt als oberste Dienstbehörde des BND
(B) Adolf Eichmann, seit 1952 bekannt, als Strafvereitelung hat in beiden Verfahren eine sogenannte Sperrerklärung (D)
im Amt zu bewerten ist? auf der Grundlage der Verwaltungsgerichtsordnung ge-
mäß § 99 abgegeben. Ich darf noch einmal sinngemäß
§ 99 in den Blick rücken: Danach kann die Vorlage von
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- Akten verweigert werden, wenn das Bekanntwerden des
kanzlerin: Inhalts dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten würde
Herr Kollege, dies ist eine Unterstellung. Ich habe Ih- oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem
nen eben mitgeteilt, dass es keine Belastbarkeit bei den Wesen nach geheim gehalten werden müssen.
Aussagen gibt. Das ist gerade in einer solchen Frage ent-
scheidend. Ich darf Ihnen sagen: Wir haben ein hohes In- Ein großer Teil der Akten des BND zu Eichmann
teresse daran, dass Transparenz hergestellt wird. Wir wurde vom Bundesnachrichtendienst ungeschwärzt vor-
werden jegliche Unterstützung dazu leisten, dass in die- gelegt. Diese Akten stehen den Klägern im Rahmen ih-
ser Frage Aufklärung gegeben wird. Ich glaube, wir in res Akteneinsichtsrechts uneingeschränkt zur Verfü-
diesem Hohen Hause sind uns einig, dass jeder ein Inte- gung. In Pressemitteilungen war zu lesen, dass auch eine
resse daran hat, dass jeder Punkt aufgeklärt wird. Des- Karteikarte zu diesen Unterlagen gehört. Ein geringerer
halb ist es so wichtig, dass jetzt Forschungen in diesem Teil der Unterlagen wurde gemäß den gesetzlich vorge-
Bereich stattfinden. Darauf setzen wir. Wir haben die Er- sehenen und gerichtlich anerkannten Sperrgründen
gebnisse dieser Forschungen in der gebotenen Gründ- durch den Bundesnachrichtendienst teilweise ge-
lichkeit abzuwarten und auszuwerten. schwärzt vorgelegt. Dies geschah aus berechtigten Grün-
den: wegen des Schutzes personenbezogener Daten von
Dritten, von Informanten und nachrichtendienstlicher In-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: formationsbeschaffung.
Eine weitere Nachfrage.
Auf der einen Seite gibt es das Informationsinteresse
der Kläger sowie der Öffentlichkeit an der Aufarbeitung
Jan Korte (DIE LINKE): der NS-Vergangenheit. Ich habe eben betont, dass jeder
Ich versuche es einmal anders herum: Wie würden Sie von uns, gerade die Bundesregierung, ein deutliches und
aus heutiger Sicht – ich verweise auf den Stand der Wis- nachhaltiges Interesse an der Aufarbeitung hat. Auf der
senschaft und der politischen Entwicklung der Bundes- anderen Seite gilt es, die berechtigten Geheimhaltungs-
republik Deutschland – das damalige Verhalten einord- interessen zu wahren. Beidem ist Rechnung getragen.
nen? Wo sehen Sie die politische Verantwortung für Für das weitere Verfahren gilt es, die Entscheidung des
diesen schier unglaublichen Vorgang? Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9319

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)


Haben Sie eine Nachfrage? – Bitte sehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben das ge-
hört. Nach unserer Geschäftsordnung verdrängt die jetzt
Jan Korte (DIE LINKE):
beantragte Aktuelle Stunde die in der Tagesordnung vor-
gesehene Aktuelle Stunde. Ich bitte die Geschäftsführer,
Ich würde gerne wissen, wie sich das Kanzleramt kurz zu mir zu kommen, um den Zeitplan zu besprechen.
bzw. die Bundesregierung zu diesen Vorfällen verhält.
Wie verhalten Sie sich politisch dazu, dass wir fast jeden Ich unterbreche die Sitzung für einige Minuten.
Sonntag entweder im Spiegel oder in der Süddeutschen
(Unterbrechung von 17.00 bis 17.02 Uhr)
Zeitung neue Informationen bekommen?
(Johannes Selle [CDU/CSU]: Pressefreiheit!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wenn man den Fall Barbie betrachtet, dann stellt man Jetzt wird die unterbrochene Sitzung kurz wieder er-
fest, dass das vielleicht auch für Frankreich interessant öffnet.
ist. Was tut das Kanzleramt von sich aus politisch dafür, Wir haben uns mit den Geschäftsführern gerade da-
die maximale Transparenz herzustellen? rauf verständigt, dass wir die Sitzung für eine halbe
Stunde, das heißt bis 17.35 Uhr, unterbrechen und dann
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- die Sitzung wieder eröffnen mit der beantragten Aktuel-
kanzlerin: len Stunde zu den Antworten der Bundesregierung auf
Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir maximale die Fragen 21 und 22 – Stichwort: Adolf Eichmann –;
Transparenz haben wollen. Das erkennt man daran, dass darauf besteht ein Anspruch. Damit wird die Aktuelle
ein Großteil der Akten weitergegeben worden ist. Da- Stunde, die für heute geplant war, auf morgen verdrängt;
rüber hinaus wird die Erforschung der Unterlagen nach- es sei denn, die Geschäftsführer vereinbaren etwas ande-
haltig unterstützt. Das ist transparent und gegenüber der res.
Öffentlichkeit deutlich gemacht worden. Im Übrigen Jetzt wird die Sitzung also bis 17.35 Uhr unterbro-
wissen Sie – dafür bin ich sehr dankbar –, dass all dies chen.
– das wissen wir von den betreffenden Stellen, die sich
sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigen – auch im In- (Unterbrechung von 17.04 bis 17.45 Uhr)
ternet vorhanden ist. Ich glaube, Transparenz ist klar ge-
geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist wie-
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der eröffnet. (D)
Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Bitte. Die Fraktion Die Linke hat aufgrund der Antworten
in der Fragestunde eine Aktuelle Stunde verlangt. Ich
Jan Korte (DIE LINKE): rufe deshalb Zusatzpunkt 3 auf:
Ich habe noch eine Nachfrage. – Ich würde gerne wis- Aktuelle Stunde
sen: Gibt es zu diesen oder ähnlichen Vorgängen – insbe- auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE gemäß
sondere was die NS-Vergangenheit in den Behörden, in Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT
dem Falle beim BND angesiedelt beim Kanzleramt, an-
geht – weitere Unterlagen, Akten etc. direkt in den Ar- zu den Antworten der Bundesregierung auf
chiven des Kanzleramtes? Wenn dies der Fall wäre, wä- die Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406
ren Sie dann bereit, diese offenzulegen? Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- (Beifall bei der LINKEN)
kanzlerin:
Herr Kollege, mir ist das nicht bekannt; aber ich Jan Korte (DIE LINKE):
glaube, es macht Sinn, wenn die Frage geprüft wird. Ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
würde Sie bitten, das klären zu lassen. Ich bin gerne be- Vorweg möchte ich sagen: Würde sich diese Bundesre-
reit, das im Kanzleramt weiterzugeben. gierung so verhalten, wie es damals Joschka Fischer – in
diesem Falle muss ich ihn loben – mit der Beauftragung
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: einer Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen
Eine Zusatzfrage hat die Kollegin Menzner. Amtes getan hat, hätten wir uns heute die Debatte hier
sparen können, denn dann würden wir wirklich Aufar-
Dorothee Menzner (DIE LINKE): beitung leisten.
Frau Präsidentin, ich spreche im Namen meiner Frak- Am 8. Januar berichtete die Bild-Zeitung, dass die
tion. Wir haben gesehen, wie umfänglich dieses Thema BND-Vorläuferorganisation, die Organisation Gehlen,
ist. Die Fragestellung ist schwierig, und die Fragen wur- bereits 1952 wusste, wo sich Adolf Eichmann versteckt
den nicht zu unserer Zufriedenheit beantwortet. Deswe- hält. Er ist einer der Hauptorganisatoren des Holocaust,
gen beantrage ich im Namen meiner Fraktion eine Aktu- der dafür gesorgt hat, dass bis 1945 die Deportations-
elle Stunde nach § 106 GO Anlage 5. züge mit Frauen, Kindern und Männern pünktlich in die
9320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Jan Korte
(A) Vernichtungslager rollten. Übrigens war Hans Globke sogar der stellvertretende Lagerkommandant des Ver- (C)
seit 1953 Chef des Kanzleramtes. nichtungslagers Majdanek, von deutschen Gerichten
nicht als Täter verurteilt, sondern, wenn sie überhaupt
Gut eine Woche später berichtet Der Spiegel, dass verurteilt wurden, als Gehilfen. Man muss sich das ein-
Klaus Barbie für den BND gearbeitet hat. Der soge- mal vorstellen! Wann, wenn nicht jetzt, ist denn bitte der
nannte Schlächter von Lyon, so steht es in den Akten, sei Zeitpunkt gekommen, dass wir alles dazu offenlegen?
von „kerndeutscher Gesinnung“ und „entschiedener
Kommunistengegner“. – Er war ein Massenmörder, ei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
ner der schlimmsten Massenmörder überhaupt, und er neten der SPD)
arbeitete für den BND.
Heute geht es darum, dass wir Ordnung in diese De-
So läuft es seit einigen Wochen; jede Woche gibt es batte bringen. Dazu gehören die Offenlegung aller Akten
neue Meldungen. Ich frage mich schon, wo der notwen- zu diesem Punkt, der völlig offene Zugang zu den Akten,
dige Grad der Empörung über diese unfassbaren Vor- und zwar nicht nur zu den Akten, die vorher durchge-
gänge aufseiten der Regierung und der Koalitionsfrak- siebt worden sind. Das hat übrigens auch etwas mit
tionen bleibt. freier Wissenschaft zu tun. Ich glaube, dass alle Bürger
in diesem Lande – wir hier im Bundestag, aber auch je-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem der andere draußen auf der Straße – und die Wissen-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaft, insbesondere die jungen Wissenschaftlerinnen
Es wäre doch richtig, angesichts der empörenden Vor- und Wissenschaftler, die gerade in diesem Bereich in den
gänge gemeinsam darüber zu diskutieren, was die ange- letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet haben, vor
messene politische Schlussfolgerung wäre. Die politi- allem aber die Opfer und ihre Angehörigen ein Recht da-
sche Schlussfolgerung aus diesen schier unfassbaren rauf haben, dass hier alles offengelegt wird, dass nichts
Vorgängen kann doch nur in der schonungslosen Offen- behindert wird, sondern dass es bei diesen Fragen größt-
legung all dieser Akten liegen, die zum Teil 50 oder mögliche Transparenz gibt. Ich glaube, das ist jetzt wirk-
60 Jahre alt sind. Das ist die angemessene politische lich geboten.
Schlussfolgerung, die wir ziehen sollten. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Letzte Anmerkung, die ich machen will: Wir müssen
Ich glaube, in der Debatte in den Medien ist die Frage natürlich auch darüber diskutieren, wer die politische
zu kurz gekommen, wie diese Fälle eigentlich auf die Verantwortung für diese Zustände in den 50er- und 60er-
Opfer wirkten: Wie wirkte es auf die Opfer, dass jemand Jahren trägt – das ist eine wichtige Frage – und welche
(B) wie Eichmann gedeckt wurde, dass jemand wie Barbie Verantwortung wir hier und heute haben. Ich glaube, (D)
im Dienst des BND stand? dass unsere gemeinsame Verantwortung heute darin be-
steht, eine ungehinderte Offenlegung aller Unterlagen, die
In der neuen Biografie über Fritz Bauer, den hessi- es gibt – inklusive der Unterlagen des Kanzleramtes –, zu
schen Generalstaatsanwalt und großen Sozialdemokra- gewährleisten.
ten, steht Folgendes:
Fritz Bauer ist einsam gestorben, weil er allein ermit-
Wie stellt sich diese Sicht auf die frühe Bundes- telt hat, weil er den Auschwitz-Prozess damals fast allein
republik eigentlich aus der Perspektive des Remi- anstrengen musste. Leuten wie Fritz Bauer sollten wir
granten, des verfolgten Juden und Sozialdemokra- auch im Nachhinein, obwohl sie schon so lange tot sind,
ten dar? unsere Anerkennung zollen. Das können wir, glaube ich,
Das ist die entscheidende Frage, um die es hier geht: am besten, indem wir alles offenlegen und über diese
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir, auch im Respekt Geschichte offen miteinander diskutieren.
vor den Opfern? Schönen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Michael
neten der SPD) Hartmann [Wackernheim] [SPD])
Ich glaube, dass es auch aus einem ganz anderen
Grund für den Bundestag wichtig ist, über diese Fragen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zu diskutieren: Welche Folgen hatten eigentlich diese Manfred Grund ist der nächste Redner für die CDU/
Fälle – alle Forschungen in diesem Bereich besagen, CSU-Fraktion.
dass das nur die Spitze des Eisberges ist – für die Ent-
wicklung der Bundesrepublik Deutschland, für die De- Manfred Grund (CDU/CSU):
mokratie und den Rechtsstaat? Das ist eine ganz ent-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und
scheidende Frage.
Herren! Dies ist eine der unnötigsten Aktuellen Stunden
Das wirkte sich bis in die Justiz hinein aus. Es kam im Deutschen Bundestag.
nicht nur zu einer Rückkehr der alten Nazirichter in Amt
(Lachen bei der LINKEN – Dr. Lukrezia
und Würden. In den 50er- und 60er-Jahren wurden selbst
Jochimsen [DIE LINKE]: „Unnötig“?)
die schlimmsten Massenmörder, zum Beispiel der Kom-
mandeur der Einsatzgruppe 8, der für die Ermordung Sie ist unnötig, weil die Fragen, die die Linksfraktion
von 15 000 Jüdinnen und Juden verantwortlich war, oder gestellt hat, während der Fragestunde vom Kanzleramt
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Manfred Grund
(A) beantwortet wurden und im Innenausschuss heute bereits Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): (C)
dazu Stellung genommen wurde. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal ein Dankeschön an die Frak-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Eben tion der Linken. Das, was Sie uns heute auf den Tisch
nicht! – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So gelegt haben, ist eine Belebung parlamentarischer For-
ist es!) men. Es ist gut, wenn einmal wirklich spontan und un-
vorbereitet – das gilt zumindest für die übrigen Fraktio-
Herr Kollege Korte, ein Nachrichtendienst wäre kein
nen des Hauses – eine Debatte zu einer durchaus
Nachrichtendienst, wenn er alle seine Unterlagen auf
wichtigen Frage zustande kommt. Das ist absolut in Ord-
den Marktplätzen dieser Welt ausbreiten würde. Ein
nung.
Nachrichtendienst in einer Demokratie – der Bundes-
nachrichtendienst ist ein Nachrichtendienst in einer De- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
mokratie – hat natürlich ein demokratisches Profil. Im KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Rahmen dieses demokratischen Profils hat er aufgeklärt, NEN)
und er hat auch selbstkritisch mit seinen eigenen Wur-
zeln umzugehen. Dass der Anlass diese Debatte in gleichem Maße recht-
fertigt, darüber habe auch ich Zweifel; vielleicht lassen
Seit ungefähr fünf, sechs Jahren gibt es eine Aufarbei- sie sich im Rahmen dieser Debatte noch aus dem Weg
tung der Quellen. Diese Quellen des Bundesnachrichten- räumen.
dienstes und seines Vorläufers, der Organisation Gehlen Im Übrigen finde ich es gut, wenn eine Fraktion wie die
– ich glaube, das sind 10 000 auf Mikrofilm niederge- Ihre, die nicht nur Menschen mit blütenweißer Biografie
legte Dokumente –, werden von einer Historikerkom- in ihren Reihen hat, die Aufarbeitung der Geschichte von
mission erforscht, um die Anfänge zu beleuchten und Nachrichtendiensten offensiv angeht. Vielleicht stellen
um das Wissen zu bekommen, das man braucht, um Leh- Sie ähnliche Anträge wie heute auch einmal im Hinblick
ren zu ziehen. Es geht nicht darum, den Nachrichten- auf die Vergangenheit mancher Ihrer Fraktionsmitglieder;
dienst in ein Zwielicht zu rücken, was Sie, Herr Korte, ich nenne stellvertretend für andere nur Herrn Nord.
versuchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das hat er bei Abgeordneten der SPD)
selbst gemacht! Er hat sich in dieses Zwielicht
gestellt!) Zur Sache selbst. Es sei sehr deutlich gesagt: Auch die
SPD-Bundestagsfraktion ist natürlich der Meinung, dass
In unserem Parlament gibt es ein Kontrollgremium, eine historische Fragestellung wie der Fall Eichmann im
(B) das Parlamentarische Kontrollgremium, in dem alle Interesse der deutschen Geschichtsschreibung und unse- (D)
Fraktionen, auch die Linke, vertreten sind. Bei der rer internationalen Positionierung unbedingt und unein-
nächsten Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgre- geschränkt aufgeklärt gehört. Wenn da noch etwas unklar
miums, nächste Woche Mittwoch, steht das, was in eini- ist, muss es auf den Tisch des Hauses und soll es auf den
gen Magazinen und Zeitungen zum Thema Eichmann Tisch des Hauses. Wir werden jedes Bemühen, das in
angeführt und von Ihnen aufgegriffen worden ist, auf der diese Richtung geht, unterstützen.
Tagesordnung. Wir werden im Kontrollgremium auch (Beifall bei der SPD, der FDP und der LIN-
mit Ihrem Vertreter ernsthaft über das diskutieren, worü- KEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
ber diskutiert werden kann. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist nicht so, dass diese Akten geheim und irgendwo Allerdings werden wir ein anderes Spiel, wenn es sich
verschlossen sind, sondern ein Großteil der Akten wurde daraus entwickeln sollte, nicht mitmachen, nämlich ein
der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Auch die Unterla- BND-Bashing. Wir wissen, dass der Bundesnachrichten-
gen, die mit dem Fall Eichmann zusammenhängen, wer- dienst eine unerlässliche Aufgabe für unsere Sicherheits-
den, nachdem die Historikerkommission, die beim Bun- interessen im Ausland wahrnimmt. Wir unterstützen den
desnachrichtendienst tätig ist, sie gesichtet hat, der Bundesnachrichtendienst dabei. Wir sind froh, dass auch
Öffentlichkeit bekanntgemacht werden, mit allen Impli- dank der guten, qualifizierten und engagierten Aufklä-
kationen, die damit verbunden sind. rungsarbeit des BND beispielsweise die deutschen Sol-
daten in ihren schwierigen Auslandseinsätzen ein Stück
Aber noch einmal: Ein Nachrichtendienst kann nicht weit sicherer sind, als sie es ohne den BND wären.
all seine Quellen öffentlich ausbreiten. Danach könnte er
sich selber auflösen. Zwischen selbstkritischer Aufklä- (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So ist es!)
rung, Selbstvergewisserung und den Aufgaben eines
Der Bundesnachrichtendienst erfüllt eine wichtige Pflicht
Nachrichtendienstes ist der richtige Weg zu finden. Dies
im Interesse Deutschlands. Dafür danke ich ihm bei die-
wird das Parlamentarische Kontrollgremium leisten.
ser Gelegenheit.
Dazu leistet auch dieses Parlament seinen Beitrag.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) FDP)
Wir haben eine klare Gesetzeslage, die vorschreibt,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wie jeder BND-Präsident, wie die Bundesregierung, das
Ich rufe Michael Hartmann für die SPD-Fraktion auf. Kanzleramt und der Koordinator agieren müssen.
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Michael Hartmann (Wackernheim)


(A) Erstens. Es ist eine Historikerkommission – ich nenne Dr. Stefan Ruppert (FDP): (C)
sie einmal so – aus vier unabhängigen, durchaus kriti- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
schen Wissenschaftlern eingesetzt worden, die dieses Herren! Diese Aktuelle Stunde ist auf mehreren Ebenen
Thema aufarbeiten soll. Dann ist in den zuständigen interessant. Die erste Ebene ist der historische Tatbe-
Gremien – da haben Sie recht, Herr Kollege Grund – zu stand; dazu hat Herr Hartmann, wie ich finde, Richtiges
bewerten, wie mit den Ergebnissen im Einzelfall umzu- gesagt und es sehr sachlich vorgetragen. Zur zweiten
gehen ist. Ebene, nämlich zur politischen Bewertung und zur
Frage, warum Sie heute diese Aktuelle Stunde beantragt
Zweitens. Es gibt ein Urteil des Bundesverfassungs- haben, ist noch etwas zu sagen.
gerichts, das von der Fraktion der Grünen, die sich da
sehr engagiert hat, im Zusammenhang mit dem BND- Erst einmal zum historischen Sachverhalt selbst.
Untersuchungsausschuss erwirkt wurde. Wir waren da- Schon als Student, aber auch in meiner Tätigkeit als
mals – die Frontstellung gab es nicht her – zwar nicht Rechtshistoriker am Max-Planck-Institut für europäische
dafür, ein Urteil zu erwirken; aber mit dem Ergebnis Rechtsgeschichte hat mich dieses Thema seit vielen Jah-
können wir als Parlamentarier insgesamt zufrieden sein. ren, seit fast zwei Jahrzehnten, interessiert. Norbert Frei
Dieses Urteil besagt nämlich, dass die Bundesregierung hat in seinem Buch Vergangenheitspolitik sehr viele his-
Akten nicht einfach wegschließen oder schwärzen oder torische Wahrheiten über die frühe Bundesrepublik er-
bestimmte Teile herausnehmen darf mit der Begründung forscht. Es gibt keine zwei Meinungen: Auch in meiner
„Das ist ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwor- Partei gab es Menschen, die früher Mitglied der NSDAP
tung“ oder Ähnlichem, sondern es muss detailliert be- waren. Auch in meiner Partei gab es Menschen, die Mit-
gründet werden, warum was nicht vorgelegt wird. Wir glied der NSDAP geworden sind. In allen obersten Bun-
wollen, dass auch der Fall Eichmann nach Maßgabe die- desbehörden, in Ministerien, im Bundesgerichtshof
ses Urteils aufgearbeitet wird. Das müsste eigentlich von – hier besteht insofern Kontinuität gegenüber dem
allen Seiten dieses Hauses unterstützt werden. Reichsgericht –, gab es natürlich Mitglieder der NSDAP
und Nazis, die dort bedauerlicherweise weiter beschäf-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tigt worden sind. Das gehört aufgearbeitet, historisiert,
bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und bewertet. Kein Mensch – so hat es auch Herr Hartmann
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gesagt – hat etwas dagegen, und keine Partei in diesem
Parlament will in irgendeiner Weise die Arbeit von His-
Letzter Punkt. Der BND arbeitet genauso wenig wie
andere geheime Nachrichtendienste im luftleeren Raum. torikern erschweren. Insofern sollten Sie hier auch nicht
Das bedeutet, dass wir nicht nur von eigenen Informatio- diesen Eindruck erwecken.
nen leben und eigene Informationen, die von eigenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Quellen gewonnen wurden, aufarbeiten. Vielmehr haben Dann kommt aber die nächste Ebene, nämlich, dass (D)
wir sehr viele unserer Informationen nur deshalb erhal-
ten, weil wir mit Partnerdiensten zusammenarbeiten, dieses Thema heute Morgen im Innenausschuss disku-
weil uns Quellen von dort zugearbeitet haben. Auch das tiert worden ist. Da hat der Kollege Hartmann als Einzi-
müssen wir, ob es uns gefällt oder nicht, respektieren, ger – wie ich finde, zu Recht – die Frage gestellt, die die-
wenn wir nachrichtendienstliches Handeln nicht insge- ser Tage interessant ist: Wie arbeitet das Bundesamt für
samt bedrohen wollen. Dieses Geschäft lebt nun einmal Verfassungsschutz seine eigene Geschichte auf? – Da
vom Geben und Nehmen. gab es eine Ausschreibung, die am 28. Dezember endete,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe. In der FAZ und
Ich hoffe sehr und vertraue darauf, dass der skanda- in anderen Medien gab es Diskussionen über die Frage:
löse Fall Eichmann ohne Schonung aufgearbeitet wird Wie weit soll die Offenlegung von Akten, die nicht be-
und der Öffentlichkeit alle Akten zur Verfügung gestellt reits im Bundesarchiv liegen – das ist die Mehrheit der
werden. Ich sehe und höre nicht, dass sich irgendjemand Akten –, gehen, vor allem wenn es um die Arbeit von
dem verweigert. Seien wir also nicht vorauseilend unge- Geheimdiensten geht, die auch international vernetzt
horsam, sondern warten wir ab, was erarbeitet wird! sind und die natürlich ein legitimes Geheimhaltungsinte-
Dann ist vielleicht Zeit für Kritik. Bis jetzt gehe ich al- resse haben? Über diese Frage ist in der Tat zu entschei-
lerdings davon aus, dass die Bundesregierung ebenso den, und da muss man zwischen dem historischen Inte-
wie das gesamte Haus daran interessiert ist, dass eine resse, etwas aufzuarbeiten, und dem Interesse eines
gründliche, solide und vollständige Aufarbeitung statt- Bundesamtes für Verfassungsschutz – das keineswegs
findet. im rechtsfreien Raum agiert –, eben auch diese interna-
tionale Vernetzung und die Aufgabenwahrnehmung ver-
Vielen Dank. antwortlich auszuüben, abwägen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Interessanterweise hatte der Kollege Korte, der hier
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- so engagiert vortrug, heute im Innenausschuss alle
SES 90/DIE GRÜNEN) Chancen, sich mit dieser Frage zu befassen.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Hallo!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Frak- Er hat sie in keiner Weise genutzt.
tion. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Im Gegenteil: Als es zu der Frage kam, warum das Bun-
der CDU/CSU) desamt für Verfassungsschutz – wie ich finde, zu Recht –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9323
Dr. Stefan Ruppert
(A) die Linke weiter beobachtet, hat er die Situation aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
schließlich dazu genutzt, sozusagen einen Ausfallangriff Jetzt spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grü-
zu starten und diesen historischen Sachverhalt ausdrück- nen.
lich zu thematisieren, und zwar ohne einen einzigen Mo-
ment der Selbstkritik, ohne eine einzige Reflexion, dass
Ihre „Vergangenheitspolitik“ – um mit Norbert Freis Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Worten zu sprechen – so defizitär ist, dass Sie sich schä- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
men müssten, dass Sie dieses Thema nicht ordnungs- Organe, Ämter und Beamte dieses Staates, unseres Staa-
gemäß und sachlicher angehen. tes – es ist lange her, aber es bleibt dabei: So war es –,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben nach dem Krieg nationalsozialistischen Mördern
zur Flucht verholfen. Sie haben ihre Aufenthaltsorte ver-
Wozu machen Sie das? Ich habe als Vertreter einer schwiegen und verhindert, dass sie der Justiz überant-
jüngeren Generation kein Problem damit, die Geschichte wortet werden konnten. Das ist ein Zustand, der zum
meiner Partei historisch aufzuarbeiten. Teil bekannt ist, zum Teil aber auch noch nicht bekannt
(Sönke Rix [SPD]: Das wird auch Zeit!) ist.
Sowohl im Archiv des Liberalismus als auch bei anderen Die Debatte in diesem Hause darüber, wie wir uns
– genauso wie bei Ihnen übrigens auch – gibt es Leute, auch nach Jahrzehnten mit diesem Phänomen beschäfti-
die daran sehr gut arbeiten. Ich habe damit kein Problem. gen – das will ich an den Anfang stellen –, ist, Herr Kol-
Womit ich ein Problem habe, ist, wenn von der Links- lege Grund, jedenfalls für mich niemals eine unnötige
partei in einer Art Entlastungsangriff eine Frage hochge- Debatte.
spielt wird, ohne dass diese Frage in dem zuständigen
Ausschuss auch nur einmal thematisiert worden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau das ist es!)
Da, lieber Herr Korte, bekommt die Frage ein ausdrück- Trotz aller Berechtigung der Vorwürfe gegenüber der
liches Geschmäckle, weil Sie eben nicht an ernsthafter Linken, dass sie in dieser Sache „Leichen im eigenen
historischer Vergangenheitsbewältigung interessiert sind, Keller“ liegen hat – bezüglich ihrer Verantwortung für
sondern einen Entlastungsangriff fahren wollen, weil Sie den Staatssicherheitsdienst der DDR zum Beispiel –,
Ihre Wege zum Kommunismus noch nicht so genau be- würde ich diese Themen gerne trennen und nicht in ei-
werten können. nem Atemzug nennen

(Zuruf von der SPD: Gilt das auch für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD) (D)
Globke?)
– Auch der Vorgang zu Herrn Globke ist natürlich aufzu- und die Debatte über den Nationalsozialismus und seine
arbeiten. Wir sollten nicht einen anderen Eindruck erwe- Fortwirkung bis heute nicht zusammen mit der über die
cken. Über diese Dinge forschen Generationen von His- fehlende Aufarbeitung des Unrechts in der DDR führen
torikern, angefangen in den frühen 70er-Jahren unter wollen. Auch durch den Hinweis darauf, dass das heute
schwierigen Bedingungen, in den letzten vielleicht Vormittag in einer nichtöffentlichen Innenausschusssit-
15 Jahren zunehmend erfolgreicher, sachlicher und auch zung vielleicht schon besprochen worden ist,
besser.
Ich nehme Ihnen Ihr ernsthaftes Interesse an histori- (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Hätte werden
scher Aufarbeitung erst dann ab, wenn Sie sich der Auf- können!)
arbeitung Ihrer eigenen Vergangenheit mit dergleichen werden wir nicht davon entbunden, über dieses Thema
Ernsthaftigkeit stellen. hier im Plenum zu diskutieren, wenn es aus diesem
(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Das ist Hause den Wunsch danach gibt.
unverschämt!)
Die Situation ist so – jedenfalls aus meiner Sicht –,
Diese lassen Sie jeden Tag wieder vermissen. dass sich die Historiker auch in den letzten Jahren und
(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Das ist auch auf der Seite der FDP darum bemüht haben, auf-
richtig unverschämt! – Gegenruf des Abg. zudecken, was man eigentlich schon vor Jahrzehnten
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da hat er hätte offenlegen müssen. Mich schmerzt, ärgert und
ausnahmsweise recht!) wundert, dass es offensichtlich das Faktum gibt – das ist
herausgekommen –, dass in den Akten des Bundesnach-
Stattdessen faseln Sie über Wege zum Kommunismus. richtendienstes aus dem Jahre 1952 steht, dass dem Bun-
Dies ist unseriös, sodass ich Ihnen Ihr Interesse nicht ab- desnachrichtendienst bekannt war, wo sich der Massen-
nehme. Es besteht eben ein Unterschied zwischen dem mörder Eichmann aufgehalten hat und unter welchem
verantwortungsvollen Redebeitrag der Opposition, von Decknamen er wo gelebt hat. Davon haben wir nichts
Herrn Hartmann, und dem Redebeitrag von Ihnen, Herr gewusst.
Korte, der eben nicht ernst zu nehmen ist.
Ich würde mir wünschen, dass der Bundesnachrich-
Vielen Dank.
tendienst – ich mache wirklich kein BND-Bashing – von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich aus ein Symposium organisiert,
9324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Jerzy Montag
(A) (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Hat er doch Wenn es uns damit ernst ist, dann müssen wir aber in (C)
getan! – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Hat dieser politischen Debatte darauf achten, dass wir dieses
er doch!) ernsthafte Anliegen, das uns alle eint, nicht vordergrün-
dig politisch motiviert nutzen, um irgendetwas zu skan-
in dem er sich zum Beispiel mit seiner Frühgeschichte dalisieren oder von irgendetwas abzulenken. Diesen Vor-
auseinandersetzt wurf mache ich Ihnen, Herr Korte.
(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das macht (Widerspruch bei der LINKEN)
er doch, Herr Montag!)
Sie haben eher den Eindruck erweckt, dass es Ihnen um
und von sich aus offenlegt, dass er Informationen über die aktuelle Bundesregierung geht, die irgendetwas ver-
den Fall Eichmann in seinem Keller hat. Solange so et- deckt, als um die wirkliche Aufklärung von Verstrickun-
was nicht geschieht, gen anhand von Akten unserer Sicherheitsbehörden.
(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Es (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Natürlich!)
geschieht!)
Wenn das so durchsichtig politisch motiviert ist, wie es
habe ich die Befürchtung, dass nicht nur in den Akten- bei Ihnen der Fall ist, dann sind Sie nicht glaubwürdig.
beständen des BND, sondern auch in denen des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
amtes für Verfassungsschutz und vielleicht auch in den
alten Akten des Bundeskriminalamtes noch mehr solcher Das muss ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
Informationen zu finden sind. Wenn es um Aufklärung geht, dann darf man, glaube
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Genau!) ich, in dieser Debatte zu Recht darauf hinweisen, dass
sich die Bundesregierung heute Nachmittag nicht gewei-
Solange wir die Vergangenheit und unsere Verantwor- gert hat, die Fragen von Herrn Korte zu beantworten,
tung aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland
nicht lückenlos aufarbeiten, wird uns die Geschichte des (Jan Korte [DIE LINKE]: Doch!)
Nationalsozialismus immer wieder einholen. Deswegen sondern beide Fragen beantwortet hat,
ist es mein Wunsch bzw. meine Forderung an die Bun-
desregierung, wirklich in einer radikalen Art und Weise (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein!)
zu sagen: Wir drehen jetzt die Richtung um. Die Ämter und dass wir bei dieser Aufgabe schon seit geraumer
sind nicht in erster Linie daran interessiert, ihre alten Zeit dem Bundesarchiv in Koblenz eine zentrale Rolle
Aktenbestände, ihre Historie aus 60 Jahren abzudecken zukommen lassen.
und zu kuvrieren, sondern wir werden diese Unterlagen,
(B) soweit es unter der notwendigen Beachtung der Persön- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Interes- (D)
lichkeitsrechte und auch der heute aktuell noch vorhan- sant ist, dass die Bundesregierung jetzt dazu
denen Probleme mit benachbarten Staaten und befreun- nicht spricht!)
deten Diensten geht, selbst auf den Tisch legen. Wenn Die gleiche Debatte haben Joschka Fischer im Auswärti-
wir drei- oder viermal erleben, dass uns die Exekutive gen Amt und der Präsident des Bundeskriminalamtes
mit neuem Material versorgt, statt dass wir immer nur Ziercke in seinem Amt angestoßen. Das liegt schon et-
von investigativen Journalisten aus der Presse oder was zurück. Der BND-Präsident Ernst Uhrlau hat schon
durch Zufall etwas erfahren, dann ändert sich etwas. Das im letzten Jahr eine Historikerkommission eingesetzt,
ist mein Wunsch. Das wäre ein Gewinn aus dieser De- die inzwischen ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie befasst
batte. sich mit genau solchen Fragen und soll aufarbeiten, wo
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es solche schlimmen Verstrickungen gab.
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dafür stellt die Bundesregierung Mittel zur Verfü-
der SPD) gung, und zwar je eine halbe Million Euro in 2010 und
2011.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Warum
Clemens Binninger hat das Wort für die CDU/CSU- spricht die Bundesregierung nicht in dieser
Fraktion. Aktuellen Stunde? Das würde mich mal inte-
ressieren!)
Clemens Binninger (CDU/CSU): – Herr Kollege Lange, wenn es uns wie mir, den Kolle-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen Montag und Hartmann – das nehme ich ihm ab –
gen! Herr Kollege Montag, gestatten Sie mir, dass ich und auch dem Kollegen Ruppert von der FDP ernsthaft
zunächst auf Ihren Beitrag eingehe. Ich bin mit Ihnen darum geht,
einig, dass wir Verstrickungen oder Verbindungen zwi-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Deswe-
schen Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutsch-
gen erwarte ich eine Stellungnahme der Bun-
land in ihrer Anfangszeit und Nazis und anderen Verbre-
desregierung, und zwar definitiv!)
chern aus dieser schlimmen Zeit deutscher Geschichte
aufklären, jedem Einzelfall nachgehen und ihn bewerten dann müssen wir uns, glaube ich, nicht gegenseitig vor-
müssen, um damit einen weiteren Beitrag dazu zu leis- halten, wer wie viel zu wenig oder noch nicht genug ge-
ten, dass wir hier nichts, aber auch gar nichts zu verde- macht hat. Entscheidend ist für uns, dass wir uns darin
cken haben. Darin sind wir uns, glaube ich, alle einig. einig sind, dass wir das machen wollen, und dass wir als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9325
Clemens Binninger
(A) Parlamentarier auch im Blick behalten, dass es umge- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (C)
setzt wird. Aber wir sollten nicht so tun, als ob nichts ge- Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
macht würde. Zunächst möchte ich eines festhalten: Erinnern Sie sich
eigentlich noch, wer in diesem Hohen Haus die Initiative
Trotz aller Aufarbeitung und der Notwendigkeit, his- zur Rehabilitierung von Kriegsverrätern angestoßen hat?
torische Akten aufzuarbeiten und Versäumnisse aufzu- War das zufälligerweise Jan Korte von der Linksfrak-
decken, bleibt ein Spannungsfeld. Das wissen Sie, Kol- tion? Wie lange hat er gebraucht, bis Einigkeit in diesem
lege Montag. Ein Geheimdienst wird immer darauf Haus darüber herrschte, diesen Teil der Geschichte auf-
hinweisen, dass eine Aufarbeitung in der Öffentlichkeit zuarbeiten? – Unterstellen Sie also uns und gerade ihm
problematisch ist. nicht, nicht an der Aufarbeitung der Geschichte interes-
siert zu sein,
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auch bei
Eichmann! Da bin ich auch gespannt! Haben (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
wir nicht gemeinsam ein großes nationales In- Welcher Geschichte?)
teresse daran, dass alles offengelegt wird, so-
weit irgend möglich?) sondern aufgrund irgendwelcher politischen Vorwände
diese – unbedingt notwendige – Diskussion zu führen.
– Ja, wie Sie gerade sagen: Soweit irgend möglich, muss (Beifall bei der LINKEN)
jeder Fall offengelegt werden. Aber da es um den ge-
samten Aktenbestand geht, gilt für die Fälle, wo dies, Hunderttausende Franzosen lesen zurzeit das Buch
wie auch seitens der Gerichte festgestellt wurde, nicht des 93 Jahre alten Kämpfers der Résistance Stéphane
möglich ist, dass das Parlament nicht außen vor ist. Wir Hessel mit dem Titel Empört euch! Empört euch end-
haben das Parlamentarische Kontrollgremium, das ge- lich; es gibt so viele Anlässe dazu. Würden sich doch
nau dieses Thema in der nächsten Woche auf die Tages- Hunderttausende auch bei uns und dieses Parlament über
ordnung setzen wird. Dieses Gremium ist schließlich die ans Licht kommende Wahrheit über unseren demo-
dafür da, nachzufragen, ob wirklich eine Geheimhal- kratischen Staat und sein Verhältnis zu Massenmördern
tungspflicht besteht oder ob die betreffenden Fälle nicht wie Eichmann und Barbie empören, darüber, wie er sie
doch offengelegt werden können. nicht verfolgt hat, sondern geschützt und sogar noch in
Dienst genommen hat, und zwar im Jahr 1966 und nicht
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr 1956, als Gehlen noch in der Verantwortung der CIA ar-
Binninger, lassen Sie uns das doch gemeinsam beitete. 1966 in Dienst genommen! Welch ein Abgrund
offensiv angehen!) tut sich da auf!
– Das tun wir ja offensiv. Aber tun Sie bitte nicht so, als 1987 habe ich für die ARD eine Dokumentation über
(B) ob das Parlament damit nicht befasst wäre. Wir sind da- Beate und Serge Klarsfeld gedreht, die Geschichte, wie (D)
mit in der heutigen Aktuellen Stunde befasst. sich zwei Individuen, der französische Rechtsanwalt,
dessen Vater im KZ ermordet wurde, und seine deutsche
Es eint uns, dass wir diese Fälle so weit wie möglich Ehefrau, unterstützt von einer kleinen Gruppe Überle-
aufklären wollen, und zwar jeden Fall und je schwerwie- bender des Naziterrors, weltweit und verzweifelt auf die
gender, desto umfassender. Aber zur Wahrheit gehört Suche nach dem Verbrecher Barbie gemacht haben
auch, dass es Vorgänge geben kann, die zuerst dem Gre- – weil die Staaten untätig blieben –, einem Mann, der
mium vorgelegt werden müssen, das sich dieses Parla- den Tod unzähliger Frauen und Männer und vor allen
ment für die Kontrolle der Geheimdienste gegeben hat. Dingen unzähliger Kinder betrieben und zu verantwor-
Das Parlamentarische Kontrollgremium wird sich in der ten hatte. Zwei Einzelpersonen haben sich dies zur Auf-
nächsten Woche damit befassen. In diesem Gremium ist gabe machen müssen, während die Herren des BND
auch der Kollege Nešković von der Linken Mitglied, der wahrscheinlich grinsend zugeschaut haben, wie die bei-
für die heutige Debatte leider keine Zeit gefunden hat. den nicht zum Zuge und zum Erfolg kamen. Nicht nur
So viel zum Thema Interesse. das: Serge und Beate Klarsfeld wurden von der bundes-
republikanischen Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt
Wir werden alles tun, um das gemeinsam in unserem und drangsaliert. Bis heute wird Beate Klarsfeld das
Sinne aufzuklären und aufzuarbeiten. Wir sind dazu be- Bundesverdienstkreuz, dessen Verleihung wir beantragt
reit. Die Bundesregierung ist dazu bereit. Ich habe dieser haben, verweigert.
Debatte entnommen, dass auch alle Fraktionen dazu be-
reit sind. Ihnen, meine Damen und Herren von der Lin- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
ken, unterstelle ich eine etwas doppelzüngige Motiva- GRÜNEN]: Vorschlagen! Das kann man nicht
tion. Das ist schade und dient nicht der Sache. beantragen!)
Herzlichen Dank. Beate und Serge Klarsfeld haben versucht, die Wahrheit
herauszufinden und die Geschichte aufzuarbeiten. Aber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir sind mit ihnen so umgegangen und tun das bis zum
heutigen Tag so.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es stimmt einfach nicht, dass wir an der Aufklärung
Luk Jochimsen hat jetzt das Wort für die Fraktion Die der Wahrheit und an Transparenz nicht interessiert seien.
Linke. „Lügen haben kurze Beine“, sagt der Volksmund. Wenn
sie lange Beine haben und die Wahrheit erst spät, unend-
(Beifall bei der LINKEN) lich spät herauskommt, ist die Erkenntnis aus meiner
9326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) Sicht doppelt belastend. Uns geht es nicht darum, allein Sie keinen Anspruch darauf, in diesem Hause solche Re- (C)
den BND in den Fokus der Diskussion zu stellen, son- den vorzutragen, wie Sie es hier tun.
dern darum, die Verantwortung des Bundeskanzleramtes
in der Diskussion herauszuarbeiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara
Höll [DIE LINKE]: Erbärmlich!)
Ich lasse mich übrigens auch nicht mehr mit dem Satz
abspeisen, ein Geheimdienst sei nun einmal ein Geheim- Zweiter Punkt. Der Kollege Hartmann hat zutreffend
dienst und könne nicht alle seine Dokumente der Öffent- darauf hingewiesen, dass die Aktuelle Stunde keine
lichkeit zugänglich machen. Das verlangt auch niemand. überraschende Stunde ist. Sie wissen, dass Aktuelle
Die Akten von Massenmördern und von Kriegsverbre- Stunden vorbereitet werden. Wenn man die Bericht-
chern hingegen öffentlich zugänglich zu machen, wird erstattung zum Thema Eichmann und zu der Frage, ob
doch wohl im Namen der Demokratie und des Staates zu der BND diesbezüglich schon frühzeitig Kenntnis hatte,
verlangen sein. recherchiert, dann stellt man fest, dass der Spiegel hierzu
bereits am 8. Januar dieses Jahres berichtet hat. Hätten
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie dieses Thema ordnungsgemäß anmelden und aufbe-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE reiten wollen, hätten Sie das lange vor Beginn dieser Sit-
GRÜNEN) zungswoche machen können. Ihnen ging es aber nur da-
Man kann in dem Zusammenhang doch nicht sagen: rum, die für morgen angesetzte Aktuelle Stunde zu
„Ein Geheimdienst ist ein Geheimdienst, so wie eine verdrängen, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob
Rose eine Rose ist, und weil das so ist, kann man nichts Sie in Deutschland nach wie vor den Kommunismus
machen“, aber gleichzeitig darauf bestehen, dass man wollen.
die Wahrheit sucht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ich kann nur sagen: Die Wahrheit, die hier gesucht der CDU/CSU – Dorothee Menzner [DIE
wird, ist längst überfällig. Sie wird uns seit Jahrzehnten LINKE]: Das ist Quatsch! Die findet trotzdem
vorenthalten. Für Menschen meiner Generation, die in statt!)
der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen, erzogen Dritter Punkt. Es ist unstreitig, dass es um die Frage
und gebildet worden sind, bedeutet es eine Zerstörung geht, ob Akten offengelegt werden. Auch hierüber ist in
des Glaubens an die Substanz dieser Bundesrepublik so- dieser Woche berichtet worden: Am 13. Januar meldete
wie ihres Anspruchs, ein im Grunde demokratischer der Spiegel, dass der Bundesnachrichtendienst seine um-
Staat zu sein. Wenn wir die Angelegenheit nicht – so fangreichen Akten für Recherchen bereitstellt. Das zeigt,
spät es auch sein mag – vollständig aufklären und die dass die Bereitschaft zur Offenlegung sogar beim Nach-
Wahrheit auf den Tisch bringen, machen wir uns wieder richtendienst vorhanden ist. Wir werden uns in den ent-
(B) einmal vor der Geschichte schuldig. sprechenden Gremien mit dieser Frage auseinanderset- (D)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zen. Es muss aufgeklärt werden: Was wusste man?
neten der SPD – Zurufe von der FDP: Unfass- Warum hat man hinsichtlich der fraglichen Personen
bar! Eine Frechheit!) keine Ermittlungen aufgenommen und dadurch dazu bei-
getragen, dass sie vor Gericht gestellt werden? Das ge-
hört zur Geschichte der Nachrichtendienste und muss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: aufbereitet sowie historisch ordnungsgemäß bewertet
Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion. werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Debatte, wie wir sie hier führen, bedeutet aber
der CDU/CSU) keinen wesentlichen Fortschritt in der Bewältigung die-
ser Arbeit. Deswegen bleibt es dabei: Ich erwarte von Ih-
Christian Ahrendt (FDP): nen, dass Sie bei der Frage der Aufklärung Ihrer eigenen
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da- Vergangenheit endlich die Maßstäbe anlegen, die Sie
men und Herren! Ich glaube, wir sind uns in der Debatte von anderen verlangen.
darüber einig, dass aufgeklärt werden muss und dass an
die Aufklärung ein hoher Maßstab hinsichtlich des Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wahrheitsgehalts zu legen ist. Ich glaube aber auch, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Partei, die heute die Aktuelle Stunde beantragt hat, der CDU/CSU)
an der einen oder anderen Stelle nicht bereit ist, die
Maßstäbe, die sie bei anderen anlegt, auch bei sich selber
anzulegen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit schließe ich die Aussprache.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Die Sitzung ist beendet.
Erster Punkt. Solange Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Ich rufe Sie auf, die nächste Sitzung des Deutschen
Gysi, mit einstweiligen Verfügungen versucht, Bundestages am morgigen Donnerstag um 9 Uhr zu be-
suchen.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Kommen Sie
zur Sache!) Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonne-
nen Einsichten.
die Wahrheit darüber zu verschweigen, ob er den Bür-
gerrechtler Havemann bespitzelt hat oder nicht, haben (Schluss: 18.24 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9327

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Barthle, Norbert CDU/CSU 19.01.2011 Zöllmer, Manfred SPD 19.01.2011


Helmut
Bülow, Marco SPD 19.01.2011

Burchardt, Ulla SPD 19.01.2011 Anlage 2


Connemann, Gitta CDU/CSU 19.01.2011 Antwort

Edathy, Sebastian SPD 19.01.2011 des Parl. Staatssekretärs Dr. Helge Braun auf die Frage
des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Drucksache
Ernst, Klaus DIE LINKE 19.01.2011 17/4406, Frage 3):
Durch welche Maßnahmen will die Bundesregierung
Friedhoff, Paul K. FDP 19.01.2011 künftig sicherstellen, dass sich Planungsfehler wie beim soge-
nannten Wissenschaftszug, der mit Millioneninvestitionen des
Friedrich, Peter SPD 19.01.2011 Bundes auf das Gleis gestellt und beworben wurde, letztlich
aber aufgrund fehlender sinnvoller Nutzungskonzepte unge-
Funk, Alexander CDU/CSU 19.01.2011 nutzt abgestellt werden musste und offenbar auch verschrottet
werden soll, nicht wiederholen?
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 19.01.2011 Der Wissenschaftszug Science Express war eine zen-
DIE GRÜNEN trale Aktivität des Wissenschaftsjahres 2009. Mehr als
260 000 Besucher in 62 Städten haben im Jahr 2009 den
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 19.01.2011 Zug besichtigt und dadurch vielfältige Einblicke in Wis-
(B) DIE GRÜNEN senschaft und Technik gewonnen. Der Science Express (D)
war damit ein großer Erfolg. Das Bundesministerium für
Jelpke, Ulla DIE LINKE 19.01.2011
Bildung und Forschung, BMBF, hat den Zug auf Antrag
Klöckner, Julia CDU/CSU 19.01.2011 der Max-Planck-Gesellschaft, MPG, vom 1. Juli 2008
bis zum 30. Juni 2010 gefördert. Seit Anfang Januar
Dr. Kofler, Bärbel SPD 19.01.2011 2011 steht der Zug auf einem Bundeswehrgelände im
Land Brandenburg. Abstellung und Bewachung erfolgen
Kruse, Rüdiger CDU/CSU 19.01.2011 dort kostenlos.

Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 19.01.2011 Eigentümerin von Wagen und Loks ist die Deutsche
Bahn AG, DB. Die MPG hat ein achtjähriges Nutzungs-
Mücke, Jan FDP 19.01.2011 recht für die Ausstellung. Die Max-Planck-Gesellschaft
prüft derzeit intensiv die Option, die Exponate auszu-
Nord, Thomas DIE LINKE 19.01.2011 bauen und im Rahmen von bereits bestehenden Ausstel-
lungen weiter zu nutzen, beispielsweise in Science Cen-
Pothmer, Brigitte BÜNDNIS 90/ 19.01.2011 tern oder Museen – im Inland oder auch im Ausland.
DIE GRÜNEN
Aufgrund dieser Sach- und Planungslage rechnet die
Remmers, Ingrid DIE LINKE 19.01.2011 Bundesregierung nicht mit einer Verschrottung, sondern
vielmehr damit, dass der Zug zu einem geeigneten Zeit-
Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 19.01.2011 punkt an die Eigentümerin DB zurückgegeben und die
Exponate weiter sinnvoll zur Wissenschaftskommunika-
Scholz, Olaf SPD 19.01.2011 tion eingesetzt und genutzt werden.
Sendker, Reinhold CDU/CSU 19.01.2011

Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 19.01.2011 Anlage 3


DIE GRÜNEN Antwort
Ulrich, Alexander DIE LINKE 19.01.2011 des Parl. Staatssekretärs Dr. Helge Braun auf die Frage
des Abgeordneten Michael Gerdes (SPD) (Druck-
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 19.01.2011 sache 17/4406, Frage 4):
9328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung eingeleitet, dern stärker und kohärenter zu deren nachhaltiger Ent- (C)
um bei der Auftragsvergabe im Zusammenhang mit dem Bau wicklung beitragen sollen.
des Kernfusionsreaktors ITER in Frankreich den Anteil von
Auftragnehmern aus Deutschland über die bisherige Quote In jährlichen Berichten der Kommission an das Euro-
von rund 2,2 Prozent zu steigern?
päische Parlament und den Rat werden die entsprechen-
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, den Informationen über Finanzierungen im Rahmen des
BMBF, konnte in regelmäßigen Gesprächen mit der EIB-Außenmandats sowie der AKP-Investitionsfazilität
Kommission und der europäischen ITER-Agentur, F4E, veröffentlicht. Darüber hinaus führt die EIB eigene Eva-
erreichen, dass die Ausschreibungsregeln überarbeitet luierungen zu ausgewählten Themen durch und veröf-
wurden. fentlicht diese auf ihrer Internetseite.

Im Blickpunkt stehen nun Fragen der Vergabepraxis


als Teil der Managementreformen der europäischen Anlage 5
ITER-Agentur. Die Bundesregierung konnte bereits
durchsetzen, dass die Kommission vom Rat aufgefordert Antwort
wurde, das Management von F4E zu optimieren. In die- der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Frage der
sem Zusammenhang fordert die Bundesregierung auch Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler (SPD) (Drucksache
solche Änderungen, die auf Verbesserungen bei der Aus- 17/4406, Frage 17):
schreibungspraxis abzielen, zum Beispiel die Reduzie-
rung des Umfangs von geforderten Detailbeschreibun- Welche Strategie verfolgt die Bundesregierung in ihrer
Entwicklungskooperation mit afrikanischen Ländern, wenn
gen, die nach einschlägigen Erfahrungen bis zu mehr als von wirtschaftlichen Wachstumsimpulsen die Rede ist, und
tausend Seiten betragen können. wie will sie gewährleisten, dass wirtschaftliches Wachstum,
wie beispielsweise in der Rohstoffindustrie in Sambia, auch
Auf deutscher Seite vergibt das BMBF Projektmittel, zur Bekämpfung der Armut im Lande und zum Wohle der Be-
die auch darauf abzielen, deutsche KMU zu ertüchtigen, völkerung konkret beiträgt?
sich durch Vernetzung mit den deutschen Forschungs- Die Bundesregierung unterstützt in ihrer Entwick-
einrichtungen erfolgreich auf die ITER-Ausschreibun- lungskooperation in Afrika breitenorientierte Wachstums-
gen zu bewerben. In diesem Zusammenhang wurde das prozesse, die gerade auch der armen Bevölkerung zugu-
deutsche ITER-Industrie Forum, dIIF, im Rahmen der tekommen sollen. Unser Ziel ist, das zum Teil enorme
Projektförderung ins Leben gerufen. Das dIIF nimmt wirtschaftliche Potenzial noch besser für die nachhaltige
eine unterstützende und koordinierende Funktion gegen- Entwicklung der afrikanischen Länder zu nutzen. Unser
über den Unternehmen wahr. Das BMBF steht mit deut- strategischer Ansatz zielt darauf ab, angepasste wirt- (D)
(B) schen Industrievertretern und dem dIIF in engem Aus-
schaftspolitische Reformen gemeinsam mit dem Privat-
tausch. sektor zur Erhöhung von Wettbewerb, Investitionen und
Beschäftigung umzusetzen.

Anlage 4 Im Rohstoffsektor sind Transparenz und gute Regie-


rungsführung von zentraler Bedeutung, um die nachhal-
Antwort tige Verwendung von Rohstoffeinnahmen zum Wohle
der Gesamtbevölkerung zu ermöglichen. Die Bundesre-
der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Frage der gierung unterstützt daher die internationale Initiative zur
Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler (SPD) (Drucksache Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie,
17/4406, Frage 16): Extractive Industries Transparency Initiative/EITI, poli-
Wie gedenkt die Bundesregierung sich dafür einzusetzen, tisch und finanziell. Herausragende Beispiele sind Sam-
dass bei der Vergabe öffentlicher Kredite seitens der Europäi- bia und Ghana.
schen Investitionsbank an die Privatwirtschaft in Entwicklungs-
ländern überprüft wird, ob und inwieweit diese tatsächlich einen In Sambia unterstützt die deutsche Entwicklungszu-
positiven Entwicklungseffekt auf die Entwicklungsländer hat? sammenarbeit nationale Governance-Reformprozesse, so
im Finanzministerium und bei der Steuerbehörde, um bei-
Alle Maßnahmen der Europäischen Investitionsbank, spielsweise die Steuereinnahmen aus dem Rohstoffsektor
EIB, in den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifi- zu steigern und für die Entwicklung des Landes zu nut-
schen Raumes, AKP, müssen zur Erfüllung entwick- zen. Auch kooperieren wir eng mit der Zivilgesellschaft.
lungspolitischer Ziele gemäß dem Cotonou-Abkommen In Ghana geht es um die transparente Verwaltung der ab
beitragen. Eine in Kürze von der EU-Kommission zu ver- 2011 beginnenden Öleinnahmen. Deutschland hat hier
öffentlichende Evaluierung der EIB-Projekte in AKP- das Thema Rohstoffgovernance von Beginn an mit Re-
Ländern hat bestätigt, dass die Maßnahmen der EIB-In- formen der öffentlichen Finanzen, Steuer-, Finanz-,
vestitionsfazilität eine positive Wirkung auf Armutsmin- Haushaltswesen, verbunden und als zentralen Gegen-
derung und nachhaltige Entwicklung entfalten. Für das stand in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
sogenannte Außenmandat der EIB kann auf den aktuellen mit Ghana vereinbart. Auch privatwirtschaftliche Partner,
EU-Gesetzgebungsprozess verwiesen werden, in wel- wie SAP, sind hier eingebunden, um moderne Informa-
chem sich die Bundesregierung bei der Stellungnahme tionstechnologien für die Überwachung von Zahlungs-
des Rates dafür eingesetzt hat, dass auch die Aktivitäten strömen zu nutzen – nach unserer Auffassung ein einma-
unter dem EIB-Außenmandat in allen Entwicklungslän- liges Referenzprojekt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9329

(A) Anlage 6 sichtbare EU-Haltung und Rolle gedrängt und wird diese (C)
Linie auch weiter verfolgen.
Antwort
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat am 15. Ja-
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des nuar 2011 die Bereitschaft der Bundesregierung und der
Abgeordneten Niema Movassat (DIE LINKE) (Druck- Europäischen Union signalisiert, Tunesien bei einem
sache 17/4406, Frage 23): Neuanfang wirklicher Demokratie unterstützend zur
Erwägt die Bundesregierung bzw. ihre Vertretung bei der Seite zu stehen.
EU, die Abkommen mit der tunesischen und der algerischen
Regierung über europäische Finanzhilfen und Wirtschaftsko-
operation im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft zu
überprüfen, aufgrund der Tatsache, dass die tunesische und Anlage 8
die algerische Regierung gegen die Bedingungen dieser Ko-
operation – die Achtung demokratischer Rechte und Men- Antwort
schenrechte – verstoßen?
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der
Die Bundesregierung misst der Achtung demokrati- Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Drucksa-
scher Rechte und Menschenrechte in den Außenbezie- che 17/4406, Frage 25):
hungen der Europäischen Union große Bedeutung zu. Wie bewertet die Bundesregierung ihre Partnerschaft mit
Der Dialog über Grund- und Menschenrechte ist wichti- Tunesien im sogenannten Kampf gegen den Terrorismus vor
ger Bestandteil der Außenbeziehungen der Europäischen dem Hintergrund der staatlichen Repressionsmaßnahmen ge-
Union. gen Demonstrantinnen und Demonstranten, unter denen es
laut tunesischen Quellen bislang 70 Todesopfer gab?
In Reaktion auf die Unruhen in der Demokratischen
Volksrepublik Algerien und der tunesischen Republik Die Bundesregierung misst der Einhaltung rechts-
hat die Bundesregierung deutlich ihre Erwartungen an staatlicher Grundsätze im Kampf gegen den Terrorismus
die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten zum große Bedeutung zu. Im Verlauf der Unruhen in Tune-
Ausdruck gebracht und wiederholt auf ein klares Signal sien hat das Auswärtige Amt wiederholt die Einhaltung
der EU gedrängt. Auch in Anbetracht der Möglichkeit von Menschen- und Bürgerrechten eingefordert.
eines Neuanfangs in Tunesien ist eine klare Postitio- Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
nierung der EU erforderlich, die nachhaltige Reform- Westerwelle, hat am 13. Januar 2011 deutlich zum Aus-
bemühungen unterstützt. Kurzfristig geht es um eine druck gebracht, dass das massive Vorgehen gegen De-
Unterstützung bei der Vorbereitung demokratischer Neu- monstranten ein Ende haben muss und rechtsstaatliche
wahlen, die innerhalb von 6 Monaten stattfinden sollen. Prinzipien gewahrt werden müssen.
(B) Die weitere konkrete Gestaltung der Zusammenar- Die Erwartung des Respekts der Menschenrechte so- (D)
beit, einschließlich der Frage der Fortsetzung europäi- wie der Garantie von Presse- und Versammlungsfreiheit
scher Finanzhilfen bzw. der Wirtschaftskooperation, hat Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 15. Januar
wird im Lichte der Entwicklung der nächsten Tage und 2011 an den amtierenden tunesischen Staatspräsidenten
Wochen zu entscheiden sein. Die Ankündigung der tune- Mebazaa herangetragen.
sischen Übergangsregierung, alle politischen Gefange-
nen freizulassen, ist ein erstes ermutigendes Zeichen.
Anlage 9
Anlage 7 Antwort
Antwort der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen des
Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des 17/4406, Fragen 26 und 27):
Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ Wird die Bundesregierung jeden sicherheitspolitisch ver-
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 24): tretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung des
Beabsichtigt die Bundesregierung, innerhalb der EU auf deutschen ISAF-Kontingents in Afghanistan nutzen?
ein Aussetzen des Assoziationsabkommens der EU mit Tune- Teilen alle Mitglieder der Bundesregierung die Zuversicht,
sien zu drängen, und, wenn nein, warum nicht? die Präsenz des deutschen ISAF-Kontingents ab Ende 2011
reduzieren zu können?
Nachdem der ehemalige Staatspräsident der Tune-
sischen Republik, Ben Ali, am 14. Januar 2011 Tunesien Das Kabinett hat am 12. Januar 2011 vorbehaltlich
verlassen hat, steht das Land vor einem Neuanfang. Die der Zustimmung des Deutschen Bundestags die weitere
weitere konkrete Gestaltung der Zusammenarbeit wird deutsche Beteiligung an der Internationalen Sicherheits-
im Lichte der Entwicklung der nächsten Tage und Wo- unterstützungstruppe, ISAF, beschlossen.
chen zu entscheiden sein. Die Ankündigung der tune-
sischen Übergangsregierung, alle politischen Gefange- Im Antrag der Bundesregierung, der daraufhin dem
nen freizulassen, ist ein erstes ermutigendes Zeichen. Deutschen Bundestag zugeleitet wurde, heißt es: „Die
Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Über-
Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido gabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bun-
Westerwelle, hat am 15. Januar 2011 zu Demokratie und deswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können und wird
Stabilität aufgerufen. Das Auswärtige Amt hat im Ver- dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum
lauf der eskalierenden Unruhen auf eine deutliche und für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die
9330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen abhängt. (C)
die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefähr- Angesichts der enormen Defizite im Land erscheinen
den.“ Maßnahmen zum Aufbau einer leistungsfähigen Verwal-
tung, Polizeiausbildung und Basisdienstleistungen wie
Damit ist die Haltung der Bundesregierung, die von Wasserversorgung, Bildung und Ernährungssicherung
allen Mitgliedern des Kabinetts getragen wird, umfas-
vordringlich.
send dargestellt.
Sowohl für den Nord- als auch den Südsudan ist ein
konstruktiver Dialog über die Einhaltung globaler Men-
Anlage 10 schenrechtsstandards erforderlich.
Antwort Ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung ist auch
die deutsche Unterstützung der internationalen Prozesse
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen der
zu Entschuldungsfragen für den gesamten Sudan und der
Abgeordneten Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE
Frage der HIPC-Entschuldungsinitiative für schwer ver-
GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fragen 28 und 29):
schuldete arme Länder, Heavily Indebted Poor Countries.
Welche Strategie zum Friedensaufbau im Südsudan ver- Dabei darf auch der Nordsudan nicht vergessen werden.
folgt die Bundesregierung als verantwortliches Mitglied des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, und welchen konkre-
Er muss zur Sicherung des Friedensaufbaus in Aufbau-
ten Beitrag will sie künftig dazu vor Ort leisten, um ihren programme einbezogen werden.
Auftrag aus dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen vom 24. März 2010 (Bun-
destagsdrucksache 17/1158) „Freie und faire Wahlen im Su- Zu Frage 29:
dan sicherstellen, den Friedensprozess über das Referendum
2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre und menschen- Die Bundesregierung sieht in ihrem Sudankonzept die
rechtliche Situation verbessern“ zu erfüllen? politische Zusammenarbeit mit den Entscheidungsträ-
Unter welchen Voraussetzungen wird die Bundesregierung gern im Nord- und Südsudan als entscheidend für die
angesichts des bestehenden Haftbefehls des Internationalen Sicherung der gegenwärtigen, immer noch fragilen Frie-
Strafgerichtshofes gegen den Präsidenten des Sudan, Umar al- densprozesse im Sudan an. Ziel der Zusammenarbeit ist
Baschir, wegen Völkermordes in Darfur künftig mit der suda-
nesischen Regierung in Khartoum zusammenarbeiten, und
es, die Lage für die Menschen im gesamten Sudan zu
schließt sich die Bundesregierung dem Vorschlag der Regie- verbessern. Die Wiederaufnahme formeller bilateraler
rung der USA an, die Sanktionen gegen die Regierung Umar staatlicher Entwicklungszusammenarbeit mit der Regie-
al-Baschirs ohne Berücksichtigung des bestehenden Haftbe- rung in Khartum ist aufgrund der Menschenrechtssitua-
fehls aufzuheben, falls diese das Ergebnis des Referendums
(B) akezptiert und den Südsudan in Frieden in die Unabhängigkeit tion und einer ausbleibenden friedlichen Lösung des (D)
entlässt? Darfur-Konflikts noch nicht möglich.
Dennoch beabsichtigt die Bundesregierung ihre politi-
Zu Frage 28:
sche Zusammenarbeit mit dem Nordsudan zu intensivie-
Die Bundesregierung hat erheblich dazu beigetragen, ren. Dazu zählt die Förderung der zivilgesellschaftlichen
dass das Referendum über die Unabhängigkeit des Öffnung und der Entwicklung von Reformkräften, sowie
Südsudan nach Auffassung aller internationalen Be- die für die Friedenssicherung entscheidenden Bereiche
obachter weitestgehend die internationalen Standards für der Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme, die
freie und faire Wahlen erfüllt hat. auch über übergeordnete EU- sowie VN-Programme un-
terstützt werden können. Wichtig ist auch die Aufnahme
Die Bundesregierung hat sich entscheidend für die eines ergebnisorientierten Menschenrechtsdialogs und
Entsendung der EU-Beobachtermission eingesetzt, an eine Stärkung eines den globalen Standards entsprechen-
der fünf Deutsche teilgenommen haben. Das Auswärtige den Justizsektors.
Amt hat das Carter Center und Maßnahmen zu Wähler-
aufklärung mit mehr als 3 Millionen Euro unterstützt. Das Angebot der US-Regierung an den Sudan, Sank-
tionen aufzuheben, bezieht sich auf entsprechende natio-
Mit ersten offiziellen Ergebnissen des Referendums
nale Embargomaßnahmen der US-Regierung. Die Verei-
wird Ende Januar, Anfang Februar 2011 zu rechnen sein.
Mit Ausgaben von rund 87 Millionen Euro hat die Bun- nigten Staaten von Amerika sind nicht Mitglied des
desregierung die Friedenssicherung mit ihrer Beteili- Römischen Statuts. Es steht der Bundesregierung nicht
gung an der Mission der Vereinten Nationen im Sudan, zu, dieses Vorgehen zu bewerten.
UNMIS, dem Training für die südsudanesische Polizei Die Bundesregierung stimmt aber mit den USA, unse-
sowie an Versöhnungsprojekten zwischen Nord- und
ren Partnern in der EU und in der internationalen Ge-
Südsudan unterstützt. Darüber hinaus werden die Rück-
meinschaft darin überein, dass nur ein konstruktiver Dia-
kehr und Reintegration von Flüchtlingen, Maßnahmen
der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe log und die politische Zusammenarbeit mit beiden
sowie Einsätze des Zivilen Friedensdienstes gefördert. Regierungen, sowohl im Norden mit der Regierung in
Khartum als auch im Süden, die Friedensprozesse im
Die Bundesregierung wird den Staatsaufbau im Sudan voranbringen können. Bestandteil dessen ist unter
Südsudan weiter unterstützen, da die Stabilität in hohem anderem die deutsche Unterstützung der internationalen
Maße vom Vertrauen in staatliche Strukturen und von Entschuldungsprozesse für den gesamten Sudan.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9331

(A) Anlage 11 nische Beratung für die Südsudanesische Kommission (C)


für Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration,
Antwort SSDDRC, wird daher zunächst bis Ende März 2011 ver-
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des längert. Ein erneuter finanzieller Beitrag wird von der
Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND- Vorlage und Auswertung des UNDP-internen Audits ab-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 30): hängen.
Wie beurteilt es die Bundesregierung, dass von den ange-
setzten Finanzmitteln für das Kämpferdemobilisierungspro-
gramm im Südsudan, welches die Bundesregierung mit meh- Anlage 12
reren Millionen US-Dollar mitfinanziert und die Deutsche
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH mit Antwort
durchführt, allein 7 Prozent als Verwaltungskosten an das Ent-
wicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP abzufüh- der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des
ren sind sowie dass von den 20 Millionen US-Dollar Perso- Abgeordneten Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE
nalmitteln für 2010 allein 14 Millionen US-Dollar an GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 31):
50 internationale Fachkräfte gezahlt wurden – bis zu einem
Hat die Bundesregierung ein Interesse an der Lösung des
Jahresgehalt von über 370 000 US-Dollar –, sodass einem
Konflikts zwischen griechischen und türkischen Zyprioten,
UNDP-Prüfbericht zufolge das Programm 2011 deshalb fi-
und warum hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel wäh-
nanziell nicht fortgeführt werden kann (vergleiche taz vom
rend ihres Besuchs der Insel Zypern nicht den höchsten Re-
23. Dezember 2010), und welche Initiativen wird die Bundes-
präsentanten der türkisch-zypriotischen Gemeinschaft getrof-
regierung – gegebenenfalls auch im UN-Sicherheitsrat – er-
fen?
greifen, um solche Fehlentwicklungen nicht nur in diesem
Einzelfall zu korrigieren und eine Fortführung des Programms Die Bundesregierung hat sich auch aus europapoliti-
im Sudan zu ermöglichen? schen Gründen immer für eine umfassende Lösung des
Grundsätzlich ist die Kritik in den taz-Artikeln zutref- Zypern-Konflikts eingesetzt.
fend: Das Programm leidet unter überdurchschnittlich Die Bundesregierung begrüßt daher die direkten Ver-
hohen Personalkosten und wird nicht gut umgesetzt. In- handlungen und ermutigt die Verhandlungspartner, ent-
effizienzen haben sich im Laufe des Jahres 2010 ange- schlossen und konstruktiv nach einer dauerhaften und
deutet. So wurden zum Beispiel von der Kreditanstalt für gerechten Lösung des Zypern-Konfliktes zu suchen.
Wiederaufbau, KfW, geforderte finanzielle Informatio-
nen nicht in ausreichender Tiefe bereitgestellt. Dieser Der Besuch von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Eindruck hat sich während des Kontrollbesuchs der KfW galt dem EU-Mitgliedstaat Zypern und insbesondere
im September 2010 erhärtet. Personalkosten standen in dem Regierungschef dieses Mitgliedstaates. In diesem
keinem Verhältnis zum Erfolg des Programms. Wie an- Rahmen wurde auch über die laufenden Verhandlungen
(B) dere Geber auch hat Deutschland deshalb von dem Ent- gesprochen. Ein Treffen mit den Verhandlungsführern (D)
wicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, die war nicht geplant.
Erstellung eines Prüfberichts, „internal audit“, gefordert Die sogenannte Türkische Republik Nordzypern,
und weitere Unterstützungsleistungen von den Ergebnis- TRNZ, umfasst das seit 1974 von der Türkei okkupierte
sen dieses Berichts und daraus zu ziehender Konsequen- Gebiet im Norden Zyperns, etwa ein Drittel des Territo-
zen abhängig gemacht. Der Prüfbericht liegt in seiner riums. Die sogenannte TRNZ wurde 1983 gegründet und
Endfassung noch nicht vor. Die Einsichtnahme ist beim ist allein von der Türkei völkerrechtlich anerkannt. Dies
UNDP-Hauptquartier in New York am 23. Dezember bedeutet, dass weder „Regierung“, „Parlament“ oder
2010 schriftlich beantragt worden. Mit einer Einsicht- „Präsident“ des türkisch-zyprischen Teils international
nahme ist nicht vor Mitte Februar 2011 zu rechnen. anerkannt sind.
Allerdings ist die berechtigte Kritik in Relation zu Treffen von Staats-und Regierungschefs mit Vertre-
den schwierigen Verhältnissen im Sudan zu stellen. Die tern der türkisch-zyprischen Gemeinschaft könnten völ-
Aufgabe der Demobilisierung ehemaliger Soldaten ist kerrechtlich als Anerkennung gewertet werden. Ein ent-
gewaltig, circa 180 000 Personen müssen im Nord- und sprechender Präzedenzfall sollte hier vermieden werden.
Südsudan entwaffnet und in das Zivilleben eingegliedert
werden. Bisher wurden 31 000 Personen entwaffnet.
UNDP ist eine erfahrene Organisation. Leitendes Per- Anlage 13
sonal wurde bereits ausgetauscht. Die reinen UNDP- Antwort
Verwaltungskosten, nicht die Personalkosten, entspre-
chen mit 7 Prozent den üblichen UNDP-Standards für der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Fragen der
die Durchführung von Projekten und können insoweit Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
nicht als überhöht bezeichnet werden. DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fragen 32 und 33):
Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die ak-
Außer Zweifel steht, wie auch im taz-Artikel betont, tuelle Anzahl, den seelischen sowie physischen Zustand und
dass das Programm als solches für die Stabilität des Su- den Stand der juristischen Verfahren der wegen der Proteste
dan von hoher Bedeutung ist. Die Bundesregierung will gegen Fälschung der Präsidentschaftswahl in Belarus am
19. Dezember 2010 inhaftierten politischen Gefangenen, und
daher Demobilisierungsmaßnahmen im Sudan weiter was unternimmt die Bundesregierung zur Unterstützung die-
unterstützen. Umso wichtiger ist es, dass im Geberkreis ser politischen Häftlinge?
konsequent und konstruktiv auf eine effiziente Verwal- Hat die Bundesregierung Kenntnis über die drohende Kin-
tung des Programms hingewirkt wird. Die deutsche tech- desentziehung des dreijährigen Sohnes der beiden politischen
9332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Häftlinge Irina Chalip und Andrej Sannikow, denen wegen Kindesentzuges mit großer Besorgnis und Aufmerksam- (C)
des Vorwurfs des Aufrufs zu Protesten gegen die Fälschung keit.
der belarussischen Präsidentschaftswahl am 19. Dezember
2010 langjährige Haftstrafen drohen, und was unternimmt die Im Rahmen seines Besuches am 14. Januar 2011 in
Bundesregierung, um die Eltern bei der Abwendung der dro-
henden Kindesentziehung zu unterstützen?
Minsk hat sich der Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, Markus
Zu Frage 32: Löning, mit der Mutter von Frau Chalip getroffen und
den dreijährigen Sohn der beiden Inhaftierten Frau
Nach Kenntnis der Bundesregierung sind zum jet- Chalip und Herrn Sannikow gesehen.
zigen Stand 31 Personen wegen der Organisation von
oder der Teilnahme an Massenunruhen angeklagt wor- Die Bundesregierung fordert, dass der Junge in der
den. Das belarussische Strafgesetz droht hierfür bis zu vertrauten Umgebung bei seiner Großmutter bleiben
15 Jahre Gefängnis für Organisatoren und bis zu 8 Jahre kann.
Haft für Teilnehmer an. Gegen 16 weitere Personen lau-
fen Ermittlungsverfahren. Zwei Personen sind des Row-
dytums angeklagt. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu Anlage 14
10 Jahren. Es sind noch knapp 30 Personen in Haft. Antwort
Mehrere Oppositionskandidaten und Journalisten der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der
wurden vor oder bei ihrer Festnahme verletzt. Kontakte Abgeordneten Dr. Barbara Hendricks (SPD) (Druck-
der Inhaftierten zu ihren Anwälten sind eingeschränkt, sache 17/4406, Frage 34):
Besuche der Familien nur in Ausnahmefällen gestattet. Mit welchen Schritten treibt die Bundesregierung die Kor-
Präsidentschaftsbewerber Nikolai Statkewitsch befindet ruptionsbekämpfung auf der Ebene internationaler Organisa-
sich seit seiner Inhaftierung im Hungerstreik. tionen wie den Vereinten Nationen, der Weltbank, der Euro-
päischen Union und der Organisation für wirtschaftliche
Genaue Kenntnisse über den Zustand der Inhaftierten Zusammenarbeit und Entwicklung konkret voran?
bestehen nicht, da ihre Anwälte angehalten sind, nicht
darüber zu berichten, und sich belarussische Behörden Korruption macht vor den Grenzen der Staaten heute
gegenüber fortwährenden EU-Bemühungen in Minsk nicht mehr Halt. Die Bundesregierung unterstützt die
um Informationen über die Inhaftierten und um Besuchs- Schaffung internationaler Rechtsinstrumente zur Be-
erlaubnis nicht kooperativ zeigen. kämpfung der Korruption nachdrücklich. Um möglichst
gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen
Die belarussischen Behörden behaupten, dass die me- im Weltmarkt zu schaffen, ist ein koordiniertes Vorgehen
dizinische Versorgung in den Gefängnissen bei allen In- der Staatengemeinschaft erforderlich.
(B) (D)
haftierten sichergestellt sei. Es gibt jedoch Berichte über
unzumutbare Haftbedingungen und die Versagung medi- Die Bundesregierung begleitet und fördert seit Jahren
zinischer Betreuung. die Umsetzung der völkerrechtlichen Instrumente zur
Korruptionsbekämpfung in den Vereinten Nationen, der
Die Bundesregierung hat die Gewalt nach der Präsi- Europäischen Union, im Europarat und in der Organisa-
dentschaftswahl in Belarus am 19. Dezember 2010 öf- tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
fentlich entschieden verurteilt und die belarussischen lung, OECD.
Behörden dazu aufgerufen, die Festgenommenen unver-
züglich freizulassen und in einen Dialog mit der Opposi- Dies geschieht unter anderem durch finanzielle und
tion zu treten. Das Auswärtige Amt hat den Botschafter projektgebundene Unterstützung von strukturschwa-
der Republik Belarus in der Bundesrepublik Deutsch- chen Ländern. Ein Beispiel ist das vom Bundesministe-
land dreimal einbestellt, seine große Besorgnis zum rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
Ausdruck gebracht und die Freilassung aller Verhafteten lung mit 4,5 Millionen Euro – 2004 bis 2010 –
gefordert. Aus diesem Grund ist auch der Beauftragte finanzierte Sektorvorhaben „Unterstützung von Partner-
der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Hu- ländern bei der Umsetzung der VN-Konvention gegen
manitäre Hilfe, Markus Löning, am 14./15. Januar 2011 Korruption“. Ferner arbeitet die Bundesregierung multi-
nach Minsk gereist. Dort traf er mit Vertretern der Op- lateral mit der Weltbank, dem OECD-Ausschuss für Ent-
position, Angehörigen inhaftierter Regimekritiker und wicklungshilfe, DAC, und regionalen Entwicklungsban-
Vertretern der Regierung zu Gesprächen zusammen. Er ken zusammen. An den jährlichen Internationalen
forderte die sofortige Freilassung der Gefangenen, das Antikorruptionskonferenzen – zuletzt in Bangkok vom
Fallenlassen der Anklagen, einen uneingeschränkten Zu- 10. bis 13. November 2010 – beteiligt sich Deutschland
gang der Verwandten und Anwälte zu den Inhaftierten mit Workshops und stellt seine vielbeachtete Projekt-
sowie ausreichende medizinische Versorgung. und Programmarbeit vor.

Die EU hat sich bereits darauf verständigt, Gewalt- In Deutschland sind bisher zur Bekämpfung der Kor-
und Repressionsopfer und deren Angehörige zum Bei- ruption im internationalen Bereich mit dem EU-Beste-
spiel durch rechtlichen Beistand zu unterstützen. chungsesetz vom 10. September 1998 das EU-Protokoll
vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den
Schutz der finanziellen Interessen der EG und das EU-
Zu Frage 33:
Übereinkommen vom 26. Mai 1997 über die Bekämp-
Die Bundesregierung und die Deutsche Botschaft in fung der Bestechung, an der Beamte der EG oder der
Minsk verfolgen die Entwicklung im Fall des drohenden Mitgliedstaaten der EU beteiligt sind, umgesetzt worden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9333

(A) Mit dem Gesetz zur Bekämpfung internationaler Beste- als in Deutschland macht das ungarische Mediengesetz (C)
chung vom 10. September 1998 wurde das OECD-Über- positive inhaltliche Vorgaben – „ausgewogene Bericht-
einkommen über die Bekämpfung der Bestechung erstattung, umfassend objektiv, Themen von nationaler
ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäfts- Bedeutung“ – statt, wie zum Beispiel in Deutschland,
verkehr vom 17. Dezember 1997 umgesetzt. negative Schranken (Jugendschutz, Strafrecht) zu zie-
hen.
Die Bundesregierung beteiligt sich aktiv an verschie-
denen multilateralen Foren im Rahmen von Vertrags- Das Europäische Parlament trifft heute mit Minister-
staatenkonferenzen und Arbeitsgruppen, zum Beispiel präsident Viktor Orban zusammen, der das Gesetz wei-
über Vermögenseinfrierung und technischer Zusammen- terhin als EU-konform bezeichnet. Die Bundesregierung
arbeit, und bringt sich bei den Anstrengungen der G20 begrüßt aber die Ankündigung Orbans vom 7. Januar
ein, im Rahmen des Aktionsplans gegen Korruption die 2011 gegenüber dem Präsidenten der Europäischen
Bekämpfung der globalen Korruption zu verstärken. Kommission, Jose Manuel Barroso, eventuelle Ände-
Der Aktionsplan fordert die G20-Staaten vorbildhaft rungsvorschläge der EU-Kommission zu akzeptieren.
zur Ratifizierung der VN-Konvention, zur Unterstrafe- Eine abschließende Bewertung des Mediengesetzes
stellung der Bestechung ausländischer Amtsträger, zu nach detaillierter sachlicher Prüfung ist nun Aufgabe der
stärkerem Engagement in der OECD-Arbeitsgruppe ge- EU-Kommission. Die Bundesregierung setzt sich für
gen Bestechung und zu verstärkter Thematisierung von eine möglichst rasche Prüfung durch die EU-Kommis-
Korruption im Rahmen der Financial Action Task Force, sion ein.
FATF, auf.
Informanten zu Korruptionsstraftaten sollen besser
geschützt, die Rückführung von Vermögensgütern soll Anlage 16
verstärkt, und die freie Bewegung korrupter Amtsträger Antwort
soll im Rahmen des Möglichen eingeschränkt werden.
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des
Die Bundesregierung hat außerdem mit Nachdruck
Abgeordneten Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Einrichtung des 2009 beschlossenen Mechanismus
NEN) (Drucksache 17/4406, Frage 36):
zur Überwachung der Implementierung der VN-Kon-
vention gegen Korruption vom 31. Oktober 2003 durch Gibt es innerhalb der Europäischen Union Überlegungen,
das EU-Waffenembargo gegen China aufzuheben, und, wenn
die VN-Mitgliedstaaten vorangetrieben. Dem zuständi- ja, welche Position bezieht die Bundesregierung zu diesem
gen Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Ver- Vorschlag?
brechensbekämpfung, UNODC, wurden vom Auswärti-
(B)
gen Amt 2009/2010 Mittel in Höhe von 1,05 Millionen Einzelne Partner im EU-Kreis haben die Überprüfung (D)
Euro zur Umsetzung der VN-Konvention zur Verfügung bzw. Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen die
gestellt. Volksrepublik China im Rahmen der Beratungen über
die strategische Partnerschaft der EU mit China zur Dis-
kussion gestellt. Dazu gibt es in der EU keinen Konsens.
Anlage 15 China spricht das Thema weiterhin bei Konsultationen
mit EU-Mitgliedstaaten und mit der EU aktiv an.
Antwort
Die Bundesregierung würde bei Vorliegen entspre-
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des chender Voraussetzungen die völlige Normalisierung der
Abgeordneten Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beziehungen der EU zu China begrüßen, kann aber einer
NEN) (Drucksache 17/4406, Frage 35): Aufhebung des Waffenembargos gegenwärtig nicht zu-
Wie steht die Bundesregierung zu dem Mediengesetz, das stimmen. Für eine Aufhebung des Waffenembargos
am 1. Januar 2011 in Ungarn in Kraft getreten ist, und wird müssen nach Ansicht der Bundesregierung bestimmte
die Bundesregierung gegebenenfalls ein Vertragsverletzungs-
verfahren nach Art. 7 des Vertrags über die Europäische Voraussetzungen gegeben sein, die auch in entsprechen-
Union unterstützen? den Beschlüssen der EU festgehalten wurden.
Die Bundesregierung hat ihre Kritik an dem ungari- Dazu gehören:
schen Mediengesetz mehrfach geäußert. Die EU-Kom-
mission und die Organisation für Sicherheit und Zusam- 1. Nachhaltige Entspannung in der Taiwanstraße.
menarbeit in Europa, OSZE, äußerten ebenfalls ihre Hier gibt es deutliche Fortschritte, diese sind jedoch
Besorgnis über mögliche Eingriffe in ein so hohes Gut noch nicht nachhaltig. China verhält sich derzeit kon-
wie die Pressefreiheit. struktiv und pragmatisch, hält sich aber auch die militä-
Eine erste Analyse des Gesetzeswerks kommt zu dem rische Option weiterhin offen und unternimmt gegen
Ergebnis, dass das Gesetz erhebliche Risiken für die Taiwan gerichtete Rüstungsanstrengungen.
Meinungs- und Medienfreiheit birgt. Diese erste Analyse 2. Weitere Verbesserungen der Menschenrechtssitua-
der Gesetzesbestimmungen, Kritikpunkte von ungari- tion.
schen Medienvertretern und der OSZE sehen formale
und inhaltliche Unzulänglichkeiten: Mitglieder im Me- Auch hier gab es seit 1989 insgesamt große Fort-
dienrat sind ausschließlich Mitglieder der Regierungs- schritte, aber gerade in den letzten zwei Jahren eher Sta-
partei Fidesz, die auf neun Jahre ernannt wurden; anders gnation und sogar negative Entwicklungen. Noch sind
9334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) auch Personen in Haft, die im Zusammenhang mit Die im Dezember 2010 im Internet gefundenen Auf- (C)
Tiananmen verurteilt wurden. rufe zu weltweiten Anschlägen gegen koptische Kirchen
während der Weihnachtsfeiertage haben die Sicherheits-
Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido behörden des Bundes unverzüglich an alle Länder ge-
Westerwelle, hat im August 2010 in einem Brief an die steuert. Die Länder, nach dem Grundgesetz zuständig für
Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- den polizeilichen Schutz vor Ort, haben daraufhin die er-
und Sicherheitspolitik, Lady Catherine Ashton, der auch forderlichen Maßnahmen in Abstimmung mit den jewei-
an alle Außenminister der Mitgliedstaaten verteilt ligen koptischen Gemeinden ergriffen. Die zuständigen
wurde, über eine umfassende Chinapolitik der Europäi- Stellen von Bund und Ländern stehen hierzu weiterhin in
schen Union die deutsche Haltung in dieser Frage darge- engem Kontakt. Sicherheitsrelevante Zwischenfälle zum
stellt. Dies wurde von vielen EU-Partnern ausdrücklich Nachteil koptischer Interessen und Einrichtungen sind
begrüßt. den Sicherheitsbehörden in diesem Zusammenhang bis-
her nicht bekannt geworden.
Anlage 17 Den Sicherheitsbehörden liegen gegenwärtig weder
Erkenntnisse noch Hinweise vor, die für eine konkrete
Antwort Gefährdung koptischer Interessen und Einrichtungen auf
der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage der dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sprechen
Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck- würden. Für weitere Maßnahmen der Bundesregierung
sache 17/4406, Frage 37): zum Schutz der koptischen Gemeinden im Bundesgebiet
gibt es aktuell keine Ansätze.
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung ihrer
Vorgängerregierung aus CDU, CSU und SPD, wonach „die Die Bundesregierung plant derzeit keine Aktion zur
Bundesregierung keine Veranlassung hat, am rechtmäßigen Aufnahme von Angehörigen von Minderheiten aus
Vorgehen der amerikanischen Justizbehörden“ gegen die als
„Miami Five“ bekannten kubanischen Gefangenen in den USA Ägypten in Deutschland.
zu zweifeln (Plenarprotokoll 16/135, Seite 14230 (B), Antwort
zu Frage 21), nachdem die US-amerikanische Sektion von Am-
nesty International in einem Brief an den US-Justizminister Anlage 19
Eric Holder vom 4. Oktober 2010 die Wahl von Miami als Ort
der Verhandlung angesichts der überwiegenden Feindseligkeit Antwort
gegenüber der kubanischen Regierung in dieser Region sowie
deren Medienberichterstattung und anderer Ereignisse vor und des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
während der Verhandlung, sodass eine faire Verhandlung
unmöglich gewesen sei, kritisiert hat (www.amnestyusa.org/
des Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE)
(B) document.php?id=ENGUSA20101013001&lang=e)? (Drucksache 17/4406, Frage 39): (D)
Welche Informationen hat die Bundesregierung über den
Die Bundesregierung hat ihre Einschätzung zum Fall Tod der 47 Jahre alten Roma aus dem Landkreis Mayen-
der „Miami Five“ nicht geändert. Koblenz, die in Deutschland fachärztlich therapiert wurde und
einen Monat nach ihrer Abschiebung aus Deutschland im Ko-
Aufgrund der öffentlich zugänglichen Informationen sovo gestorben ist, und wie beurteilt es die Bundesregierung,
sieht die Bundesregierung weiterhin keine Veranlassung, dass bei der Einzelfallprüfung, bei der die Frau nicht als be-
am rechtmäßigen Vorgehen der amerikanischen Justiz- sonders schutzbedürftige Person anerkannt wurde, lediglich
die Flugtauglichkeit der Frau, jedoch nicht die Diagnose ärzt-
behörden zu zweifeln. lich überprüft wurde (taz vom 13. Januar 2011)?
Die Bundesregierung hat keine eigenen Erkenntnisse Es handelt sich hierbei um einen Fall des Rückfüh-
zu den genannten Fällen. rungsvollzugs, den das Land Rheinland-Pfalz durchge-
führt hat, weil Rheinland-Pfalz einzig zuständig ist. Der
Fall wird derzeit im zuständigen Innenministerium
Anlage 18 Rheinland-Pfalz fachaufsichtlich überprüft. Die Prüfung
Antwort dauert noch an.

des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage Nach Kenntnis der Bundesregierung wurde die Ver-
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ storbene mit ihrer Familie und weiteren Personen am
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 38): 7. Dezember 2010 in den Kosovo zurückgeführt. Dabei
kam es zu keinem besonderen Vorfall; auch während des
Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung Fluges und am Flughafen Pristina bereitstehendes ärztli-
zum Schutz von koptischen Christen in Deutschland ergriffen,
und erwägt sie nun eine verstärkte Aufnahme von Angehöri- ches Personal musste weder in diesem Fall noch ander-
gen christlicher und anderer in Ägypten bedrohter Minderhei- weitig in Anspruch genommen werden.
ten, wie etwa den Bahai, sollten diese in Deutschland Schutz
suchen?

Aus Sicht der Bundesregierung stellt der Anschlag Anlage 20


auf Besucher der koptischen Kirche in Alexandria/ Antwort
Ägypten am 1. Januar 2011 eine neue Dimension der
Gewalt dar; vergleichbare Auswirkungen auf die Situa- des Parl. Staatssekretärs Dr. Ole Schröder auf die Frage
tion der Kopten in Deutschland sind jedoch gegenwärtig des Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE)
nicht zu erwarten. (Drucksache 17/4406, Frage 40):
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9335

(A) Wie können Aktivistinnen und Aktivisten aus dem globa- Straftatbestandes einzuleiten. Diese Prüfung ist noch (C)
lisierungskritischen, antirassistischen oder antimilitaristischen nicht abgeschlossen.
Spektrum in Deutschland sichergehen, dass sie nicht in den
letzten sieben Jahren aufgrund falscher Anschuldigungen oder Der Bundesregierung ist weiterhin bekannt, dass bei
durch illegale Handlungen – als Agent Provocateur oder auf
andere Art und Weise, darunter den Einsatz von Sexualität – der Staatsanwaltschaft Hamburg eine Strafanzeige im
von M. K. ins Visier von Verfolgungsbehörden gerieten oder Zusammenhang mit den „Drohnenfällen“ in Pakistan
verurteilt wurden und werden, wie dies unter anderem in eingegangen ist, die dort derzeit bearbeitet wird. Im
Großbritannien geschah und was nach Bekanntwerden zur so- Übrigen darf ich auf die – auch von Ihnen bereits ange-
fortigen Einstellung von Gerichtsverfahren führte?
führte – Antwort der Bundesregierung auf die Frage 27
Wie bereits in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der Kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache 17/4333, nen vom 8. September 2010 „Informationspolitik zum
vom 22. Dezember 2010 unter anderem zum grenzüber- Afghanistan-Einsatz“, Bundestagsdrucksache 17/2884,
schreitenden Einsatz verdeckter Ermittler, verweist die Seite 10 f., verweisen.
Bundesregierung auf die allgemeinen Rechte des Betrof- Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Der Bundesregierung
fenen, im Strafverfahren Eingriffsmaßnahmen einer ist bekannt, dass ein Richter am Oberlandesgericht eine
gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Diese ergeben Strafanzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft
sich unter anderem aus § 98 Abs. 2 Satz 2 analog, §§ 101 Wiesbaden gestellt hat. Die Staatsanwaltschaft Wiesba-
und 304 der Strafprozessordnung. den hat den Vorgang mit der Bitte um Prüfung, ob der
Anfangsverdacht einer in die Zuständigkeit der Bundes-
anwaltschaft fallenden Straftat besteht, an den General-
Anlage 21 bundesanwalt beim Bundesgerichtshof übersandt. Diese
Prüfung findet derzeit statt. In diesem Verfahrenssta-
Antwort dium nimmt die Bundesregierung zu dem erhobenen
strafrechtlichen Vorwurf keine Stellung.
des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 41):
Anlage 22
Wie rechtfertigt die Bundesregierung auch unter straf-
rechtlichen Gesichtspunkten, vor allem einer bedingt vorsätz- Antwort
lichen Mordteilnahme, die laufende Praxis deutscher Militär-
oder Sicherheitsbehörden, in Afghanistan angebliche Aufstän- des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra-
dische für diverse Maßnahmenlisten der Internationalen Si- gen des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick (BÜND-
cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan zu benennen,
(B)
obwohl die Bundesregierung dabei in Kenntnis entsprechen-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fra- (D)
der Vorgehensweisen nicht ausschließen kann, dass die betref- gen 42 und 43):
fenden Personen daraufhin in Afghanistan oder Pakistan unter Wie schätzt die Bundesregierung Umfang und Bedeutung
anderem durch Drohnenangriffe von US-Stellen getötet wer- des Sachverhalts der anonymisierenden Wirkung von Versi-
den (vergleiche Antworten der Bundesregierung auf meine cherungsschutzmänteln (Financial Times Deutschland vom
zahlreichen Anfragen sowie auf die Kleine Anfrage der 10. Dezember 2010) in Bezug auf die verschiedenen Staaten
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Bundestagsdrucksache ein, über die dieses sogenannte Wrapping erfolgen kann?
17/2884 zu Frage 27), und wie beurteilt die Bundesregierung
ebenfalls strafrechtlich die Praxis des Bundeskriminalamtes so- Wie beabsichtigt die Bundesregierung Steuerflucht über
wie wohl weiterer deutscher Sicherheitsbehörden, laufend an sogenanntes Wrapping zu verhindern, und welche Lösungs-
ausländische Partnerdienste Personaldaten über aus Deutsch- möglichkeiten strebt die Bundesregierung im Rahmen der
land ausreisende „Gefährder“ zu übermitteln, ohne dabei eine Verhandlungen mit der Schweiz über ein Steuerabkommen für
Datenverwendung zu deren Tötung auszuschließen, wie – ei- eine dauerhafte Lösung des Problems unversteuerter Kapital-
ner Strafanzeige des Richters am Oberlandesgericht Thomas anlagen deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz diesbezüg-
Schulte-Kellinghaus zufolge – der Präsident des Bundeskri- lich an?
minalamtes, Jörg Ziercke, schon am 21. Juni 2006 öffentlich
eingeräumt haben soll (vergleiche Spiegel Online vom 8. Ja- Zu Frage 42:
nuar 2011, taz vom 12. Januar 2011)?
Die Bundesregierung geht davon aus, dass mit der
Die strafrechtliche Beurteilung der von Ihnen ange- Einbringung von in einem ausländischen Staat geführten
sprochenen Geschehnisse obliegt den zuständigen Stel- Bankdepots oder Bankkonten als Einmalbeitrag in eine
len der Justiz des Bundes und der Länder. Dementspre- nach ausländischem Recht abgeschlossene Lebensversi-
chend hat – vergleiche die Antwort der Bundesregierung cherung eine Auskunftserteilung für Steuerzwecke nach
auf die Frage 23 der Kleinen Anfrage der Fraktion Bünd- einer dem OECD-Standard für Transparenz und effekti-
nis 90/Die Grünen vom 23. November 2010 „US-Droh- ven Informationsaustausch in Steuersachen entsprechen-
nenangriff tötet deutsche Staatsangehörige – Eingreifen den Informationsaustauschklausel nicht ausgeschlossen
der deutschen Justiz“, Bundestagsdrucksache 17/3916, werden kann.
Seite 8, – der Generalbundesanwalt beim Bundesge-
richtshof wegen eines mutmaßlichen Drohnenangriffs Die Verpflichtung zur Auskunftserteilung nach dem
am 4. Oktober 2010 bei der Stadt Mir Ali, über den in OECD-Standard betrifft alle Informationen, die zur Be-
den Medien berichtet wurde, einen Prüfvorgang ange- steuerung im ersuchenden Staat „voraussichtlich erheb-
legt. Gegenstand der Prüfung ist die Frage, ob Anlass be- lich“ sind. Dies gilt für Steuern aller Art und Bezeich-
steht, ein Ermittlungsverfahren wegen eines in die Zu- nung und schließt auch Angaben über die Berechtigten
ständigkeit des Generalbundesanwalts fallenden oder Begünstigten von Lebensversicherungen bzw. über
9336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Transaktionen wie die Übertragung von Depots oder zierung der ersten Tranche des Irland-Kredits eine erste (C)
Konten ein. Anleihe begeben. Die Rating-Agenturen werden diese
Anleihe erstklassig bewerten.
Zu Frage 43:
Die EFSF ist als Refinanzierungsinstrument für Kre-
Der Gesetzgeber hat durch die gesetzliche Regelung dithilfen ausgestaltet. Die Euro-Staaten – sofern sie nicht
in § 20 Abs. 1 Nr. 6 Satz 5 EStG im Jahressteuergesetz selbst Nehmer eines Kredits sind – stellen hierzu Garan-
2009 etwaige steuerliche Privilegierungen für vermö- tien bereit, um die Kredite abzusichern. Die Grundlagen
gensverwaltende Lebensversicherungen – den klassi- dieses Mechanismus sind in einem Gesellschafts- und in
schen Versicherungs-„Wraps“ – erheblich eingeschränkt, einem Rahmenvertrag geregelt.
indem die Besteuerung durch den Lebensversicherungs-
Das Ziel der Bundesregierung ist, diesen Mechanis-
„Mantel“ auf das vom Versicherungsunternehmen gehal-
mus effizient und effektiv zu nutzen. Nach der Mechanik
tene Anlage-Produkt durchgreift. Außerdem hat er den
der Fazilität stehen die beschlossenen 440 Milliarden
Steuerabzug bei Lebensversicherungserträgen auf inlän-
Euro in der Realität nicht voll umfänglich zur Wahrung
dische Niederlassungen ausländischer Unternehmen er-
der Finanzstabilität zur Verfügung stehen, weil die EFSF
weitert. Schließlich sind nunmehr auch Versicherungs-
ein erstklassiges Rating braucht und deshalb finanzielle
vermittler im Inland verpflichtet, den Vertragsabschluss
Mittel in der EFSF gebunden werden müssen. Änderun-
eines Kunden mit einem ausländischen Unternehmen an-
gen, die das Verhältnis von Mitteleinsatz und Wirkungs-
zuzeigen.
grad verbessern, werden von der Bundesregierung ge-
Ferner verfolgt die Bundesregierung im Rahmen der prüft.
Revision der EU-Zinsrichtlinie das Ziel, bestimmte Le-
Eine Aufstockung des Eurorettungsschirms steht jetzt
bensversicherungen in den Anwendungsbereich der
nicht an. Abzüglich des Irland-Kredits ist genügend
Zinsrichtlinie aufzunehmen.
Spielraum für weitere Stabilisierungshilfen vorhanden,
In den Steuerverhandlungen mit der Schweiz ist es wenn die Europäische Union, die Mitgliedstaaten und
ein Anliegen der Bundesregierung, dass die zu vereinba- der Internationale Währungsfonds in bewährter Manier
renden Lösungen nicht durch Umgehungsgestaltungen zusammenwirken.
wie zum Beispiel durch die Verwendung von „Versiche- Zu der von Wissenschaftlern und Experten vorgeschla-
rungs-Mänteln“ unterlaufen werden können. Ich bitte genen Erweiterung des Aufgabenspektrums der EFSF in
um Verständnis, dass die Bundesregierung keine weiter- Form einer finanziellen Unterstützung von Schulden-
gehenden Einzelheiten zum Inhalt der laufenden Ver- rückkäufen durch die überschuldeten Staaten selbst hat
handlungen mitteilt. sich die Bundesregierung bislang nicht positioniert. (D)
(B)
Schuldenrückkäufe durch die EFSF bewertet sie aber als
äußerst problematisch.
Anlage 23
Antwort
Anlage 24
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
des Abgeordneten Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Antwort
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 44): des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
Wie hat sich die Bundesregierung in den derzeit laufenden des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE
Verhandlungen gegenüber den geplanten Änderungen der Eu-
ropäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, positioniert,
GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 45):
und wie steht sie zu dem Vorschlag, dass die EFSF in Zukunft Wie viele direkte und indirekte Arbeitsplätze existieren in
nach einer vorherigen Gläubigerbeteiligung – sogenanntes den Bundesländern der ehemaligen DDR in der Sanierung
Haircut – Staatsanleihen von krisengebeutelten Staaten an- von Braunkohletagebauen und Braunkohleveredelungsanla-
kauft? gen – bitte nach aktuellem Stand nach Bundesländern auf-
schlüsseln, möglichst für 2010 –, die nach der Wende nicht
Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklungen privatisiert werden konnten?
an den Finanz- und Anleihemärkten sehr genau. Sie ist
entschlossen, das Notwendige umzusetzen, um die Sta- Gemäß Angaben des bundeseigenen Bergbausanierers
bilität der Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes LMBV, Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwal-
zu sichern. tungsgesellschaft mbH, bestanden im Jahr 2010 insge-
samt circa 2 800 Arbeitsplätze in der Braunkohlesanie-
Die Bundesregierung vertritt dabei die Auffassung, rung. Davon ergeben sich 2 477 direkte Arbeitsplätze,
dass alle Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung in eine gleich primäre Beschäftigungswirkung, aus folgenden
Gesamtstrategie zur Krisenbewältigung eingebettet wer- Gruppen: Beschäftigte bei der LMBV, förderfähige Ar-
den müssen, über die auch in einem Gesamtkontext zu beitsplätze, Arbeitsplätze bei Nachauftragnehmern und
befinden und entscheiden ist. Eine solche Gesamtstrate- Auszubildende. Circa 330 Arbeitsplätze ergaben sich aus
gie beinhaltet beispielsweise auch die Anstrengungen der sekundäre Beschäftigungswirkung der Kaufkraft aus
der einzelnen Länder und eine stärkere wirtschaftspoliti- Arbeitseinkommen, indirekte Arbeitsplätze.
sche Koordinierung.
Nachfolgend die erbetene Zuordnung auf die Bundes-
Die EFSF hat im letzten Jahr ihre Arbeit aufgenom- länder: Land Brandenburg: 1 134 direkte und circa 150 in-
men. Ende Januar wird sie voraussichtlich zur Finan- direkte Arbeitsplätze; Freistaat Sachsen: 1 019 direkte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9337

(A) und circa 140 indirekte Arbeitsplätze; Land Sachsen-An- gung des Auswärtigen Ausschusses und des Haushaltsaus- (C)
halt: 298 direkte und circa 40 indirekte Arbeitsplätze; schusses des Deutschen Bundestages wurden bisher in
Freistaat Thüringen: 26 direkte und circa 4 indirekte Ar- Bewilligungszeiträumen von jeweils 3 bis 4 Jahren ins-
beitsplätze. gesamt rund 44 Millionen Euro bereitgestellt. Die Liefe-
rung von Waffen und Munition ist dabei ausdrücklich durch
Haushaltsvermerk ausgeschlossen. Die Ausstattungshil-
Anlage 25 fen bezogen sich unter anderem auf Transportfahrzeuge,
technische Ausbildungszentren und medizinische Ein-
Antwort richtungen. Die entsprechenden Ausstattungshilfen sind
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des abgeschlossen. Eine Wiederaufnahme Tunesiens in das
Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE Programm ist nicht vorgesehen.
GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 46):
Wie bewertet die Bundesregierung die Ankündigungen
der Europäischen Kommission zur Erstellung eines Rechts- Anlage 27
gutachtens zu unkonventionellen Erdgasbohrungen und der
damit einhergehenden Frage, ob die bestehenden rechtlichen Antwort
Rahmenbedingungen in Europa und Deutschland ausreichen des Parl. Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe auf die Fra-
(dpa-Meldung vom 10. Januar 2011), vor dem Hintergrund ih-
rer Aussagen in der Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bun- gen des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
destagsdrucksache 17/1867, dass bei Beachtung der geltenden (Drucksache 17/4406, Fragen 48 und 49):
technischen Umweltstandards grundsätzlich keine Unter- Welche Vorteile erwartet die Bundesregierung von der ge-
schiede zur Förderung von konventionellem Erdgas bestehen? planten Umstrukturierung der Integrationsfachdienste, IFD,
für den Fachbereich Berufliche Sicherung (§ 109 ff. des
Die Bundesregierung begrüßt die Initiative der Euro- Neunten Buches Sozialgesetzbuch – SGB IX), wonach die
päischen Kommission, durch externen Sachverstand freihändige Vergabe seitens der Bundesagentur für Arbeit für
überprüfen zu lassen, ob der bestehende europäische Vermittlungsdienstleistungen entfällt, in Anbetracht der Tatsa-
Rechtsrahmen ausreicht, um die geltenden Umweltstan- che, dass damit die Umsetzung des im SGB IX formulierten
dards auch bei der Förderung von unkonventionellem Ziels, mit den Integrationsfachdiensten eine verlässliche und
kontinuierliche Struktur für schwerbehinderte Menschen und
Erdgas europaweit einzuhalten. ihre Arbeitgeber zu schaffen, gefährdet wird?
Wie stellte sich 2010 die Arbeitsmarktsituation für Men-
schen mit Behinderung dar, und wie bewertet die Bundesre-
Anlage 26 gierung diese Entwicklungen?

Antwort Zu Frage 48:


(B) (D)
des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage der Die Bundesregierung plant keine Umstrukturierung
Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Drucksa- der Integrationsfachdienste. Die Bundesagentur für Ar-
che 17/4406, Frage 47): beit beschafft Arbeitsmarktdienstleistungen im Rahmen
Hat die Bundesregierung vor, deutsche Ausstattungshilfe des Vergaberechts. Dies gilt auch für die Leistungen der
für die tunesische Polizei und das tunesische Militär sowie Integrationsfachdienste zur Vermittlung schwerbehin-
Rüstungsexporte nach Tunesien vor dem Hintergrund der ak-
tuellen Polizeigewalt zu überprüfen (bitte begründen)?
derter Menschen, soweit sie keine Rehabilitanden sind.
Nach den Änderungen der VOL/A im Jahr 2009 können
Die Bundesregierung entscheidet über Rüstungs- Integrationsfachdienste nicht mehr im Wege der freihän-
exporte jeweils im Einzelfall und im Lichte der aktuellen digen Vergabe beauftragt werden. Diese Rechtsänderung
Situation. Grundlage dafür sind die „Politischen Grund- folgt der Rechtsprechung zum Vergaberecht, an das auch
sätze der Bundesregierung für den Export von Kriegs- die Bundesagentur für Arbeit als öffentlicher Auftragge-
waffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem Jahr ber gebunden ist.
2000 und der „Gemeinsame Standpunkt 2008/944/
GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. De- Die in der Frage genannten §§ 109 ff. Neuntes Buch
zember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Sozialgesetzbuch, SGB IX, gelten nur für Rehabilitan-
Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Mili- den. Integrationsfachdienste werden in diesen Fällen
tärgütern“. Der Beachtung der Menschenrechte im Emp- nicht im Wege des Vergaberechts in Anspruch genom-
fängerland kommt danach eine besondere Bedeutung zu. men und vergütet, sondern auf der Grundlage der Ge-
Dies gilt auch für Exporte und Ausstattungshilfe für meinsamen Empfehlung nach § 113 SGB IX.
Polizei und Militär in Tunesien.
Zu Frage 49:
In den Jahren 2007 und 2008 wurde die tunesische
Polizei mit Informationstechnik sowie mit Bürokommu- Von der guten Entwicklung des Arbeitsmarktes insge-
nikation in Höhe von circa 37 000 Euro durch das BKA samt hat im vergangen Jahr der Arbeitsmarkt für schwer-
unterstützt. Für 2011 sind keine polizeilichen Ausstat- behinderte Menschen leider nicht in dem gewünschten
tungshilfen vorgesehen. Ausmaß profitiert. Entgegen der Gesamtentwicklung der
Arbeitslosigkeit 2010, Rückgang um 5,2 Prozent auf
Die Streitkräfte der Republik Tunesien waren, mit 3,2 Millionen, nahm die Arbeitslosigkeit schwerbehin-
zeitlichen Unterbrechungen, seit 1968 Empfängerland derter Menschen um 4,8 Prozent auf 175 586 zu. Aller-
im Rahmen des Ausstattungshilfeprogramms, AH, der dings gelang es im Vergleich zu 2009 deutlich mehr
Bundesregierung für ausländische Streitkräfte. Mit Billi- schwerbehinderten Menschen, ihre Arbeitslosigkeit durch
9338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Aufnahme einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeits- Die Kontrolle von Lebensmitteln und Futtermitteln (C)
markt zu beenden, + 20,2 Prozent. Dieser Anstieg liegt fällt in Deutschland in die Zuständigkeit der Länder.
spürbar über der Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit ins- Über die Faktengrundlage, auf deren Basis die Länder
gesamt, + 11 Prozent. die Öffentlichkeit informieren oder informiert haben, lie-
gen dem Bund keine Erkenntnisse vor.
Angesichts der Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit
schwerbehinderter Menschen und vor dem Hintergrund
des Fachkräftebedarfs muss es das Ziel sein, bisher unge- Anlage 30
nutzte Potenziale schwerbehinderter Menschen intensi-
ver für den Arbeitsmarkt zu nutzen. Die Bundesregierung Antwort
prüft derzeit in Abstimmung mit den Ländern, auf welche des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Fragen
Weise vorhandene Bundesmittel aus der Ausgleichsab- des Abgeordneten Alexander Süßmair (DIE LINKE)
gabe zur Verbesserung der Ausbildungs- und Beschäfti- (Drucksache 17/4406, Fragen 52 und 53):
gungssituation schwerbehinderter Menschen genutzt
Welche Probenstrategie wurde in den jeweiligen Bundes-
werden können. ländern bei der Untersuchung der Betriebe im Zusammenhang
mit dem derzeitigen Dioxinskandal angewendet?
Hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer Bewertung der
Anlage 28 Gefährdung der Bevölkerung durch Dioxin im Zusammen-
hang mit dem aktuellen Skandal Risikogruppen wie Schwan-
Antwort gere, Stillende, Personen mit Gewichtsreduzierung und an-
dere gesondert berücksichtigt?
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
des Abgeordneten Niema Movassat (DIE LINKE) Zu Frage 52:
(Drucksache 17/4406, Frage 50):
Die Zuständigkeit für die Durchführung der amtli-
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung auf natio-
naler, europäischer und internationaler Ebene ergreifen, um
chen Lebensmittel- und Futtermittelüberwachung liegt
die Preisspirale bei Nahrungsmitteln, die sich derzeit wieder bei den Ländern. Nach den dem Bundesministerium für
gefährlich in die Höhe dreht, zu stoppen und Hungerrevolten Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über-
wie derzeit in Algerien zu verhindern? mittelten Angaben geben die Überwachungsbehörden
Die Bundesregierung sieht die extremen Preis- die Betriebe erst wieder frei, wenn die Erzeugnisse keine
schwankungen mit Sorge, weil sich damit die Risiken erhöhten Dioxingehalte aufweisen oder wenn durch Un-
für die weltweite Ernährungssicherheit erheblich ver- tersuchungen erwiesen ist, dass die verfütterten Partien
stärkt haben. Sie setzt sich vor diesem Hintergrund aktiv keine überhöhten Dioxingehalte enthielten.
(B) (D)
dafür ein, im Rahmen der Bemühungen um eine stärkere
Regulierung der Finanzmärkte auch mögliche Maßnah- Zu Frage 53:
men im Agrarbereich intensiv zu prüfen. Auch hat sie ihr Das Bundesinstitut für Risikobewertung zieht bei sei-
entwicklungspolitisches Engagement zur Sicherung der nen Risikobewertungen vielfältige Kriterien heran.
Welternährung in den letzten Jahren deutlich ausgebaut. Hierzu gehören auch die in der Fragestellung genannten
empfindlichen Bevölkerungsgruppen.
Im internationalen Bereich setzt sich die Bundesre-
gierung für einen erfolgreichen Abschluss der Doha-
Runde bei der WTO ein, von dem stabilisierende Wir-
Anlage 31
kungen auf die Märkte erwartet werden.
Antwort
Außerdem veranstaltet das BMELV in dieser Woche
die internationale Agrarministerkonferenz in Berlin, die des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
sich im Rahmen des „Global Forum for Food and Agri- der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE
culture“ auch mit dem Thema Preisvolatilität und Aus- GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 54):
wirkungen auf die Welternährungslage befasst. Wie viele landwirtschaftliche Betriebe sind aktuell auf-
grund der Dioxinfunde in Futtermitteln noch gesperrt – bitte
auch nach Bundesländern auflisten –, und wie viele der in die-
sem Zusammenhang bundesweit analysierten Proben weisen
Anlage 29 Dioxinwerte über dem entsprechenden Grenzwert auf?
Antwort Nach derzeitigem Stand (16. Januar 2011, 18:00 Uhr)
sind 943 landwirtschaftliche Betriebe gesperrt, hiervon
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage 879 in Niedersachsen, 56 in Nordrhein-Westfalen, 4 in
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Sachsen-Anhalt, 2 in Mecklenburg-Vorpommern und je
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 51): ein Betrieb in Brandenburg und Hessen.
Auf welcher Faktengrundlage – bitte für die jeweilige ver-
öffentlichende Stelle mit Veröffentlichungsdatum aufschlüs- Es liegen Analyseergebnisse für 34 amtliche Proben
seln – wurde den deutschen Verbrauchern mitgeteilt, es sei von Mischfuttermitteln vor. Die Ergebnisse liegen im
keine mit Dioxin belastete Ware in den Lebensmittelhandel Bereich von 0,039 (+/- 0,008) bis 0,41 (+/- 0,12) ng
gelangt, und welche dioxinbelasteten Lebensmittel sind nach
Kenntnis der Bundesregierung in den Handel – sowohl in
PCDD/F WHO-TEQ/kg und damit unterhalb des
Deutschland als auch durch den Export – gelangt (Spiegel On- Höchstgehalts für Mischfuttermittel von 0,75 ng PCDD/
line vom 13. Januar 2011)? F WHO-TEQ/kg.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9339

(A) Untersuchungsergebnisse von Eiern aus den betroffe- Anlage 33 (C)


nen Betrieben zeigen Gehalte im Bereich des zulässigen
Höchstgehalts von 3 pg/g Fett, WHO-PCDD/F-TEQ und Antwort
in Einzelfällen Überschreitungen bis zum Vierfachen. des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die
Von insgesamt 98 Proben von Hühnereiern und Eipro- Frage der Abgeordneten Heidrun Dittrich (DIE LINKE)
dukten (homogenisiertes und pasteurisiertes Vollei) wei- (Drucksache 17/4406, Frage 56):
sen 66 (73 Prozent) keine Höchstgehaltsüberschreitungen Inwieweit wurden die Ergebnisse des runden Tisches Heim-
auf. Die Gehalte der Proben mit Höchstgehaltsüber- erziehung zur Entschädigung ehemaliger Heimkinder ange-
schreitungen liegen zwischen 3 und 8,7 pg/g Fett. sichts des hohen Alters der Betroffenen und der finanziellen
und psychischen Not vieler umgesetzt, und was müssen Be-
Zwei von drei amtlichen Untersuchungsergebnissen troffene tun, um eine Entschädigung für entgangenes Entgelt,
von Fleisch der Legehennen aus den betroffenen Betrie- nicht gezahlte Rentenversicherungsbeiträge sowie einen Nach-
ben wiesen erhöhte Dioxingehalte auf (4,99 pg/g bzw. teilsausgleich wegen zwangsläufigen Abbruchs der Berufs-
ausbildung durch Heimunterbringung zu erlangen?
3,93 pg/g, Höchstgehalt 2 pg/g WHO-PCDD/ F-TEQ).
Der runde Tisch Heimerziehung in den 50er- und
Sechs Proben von Hähnchen – davon jeweils drei aus
60er-Jahren hat heute, 19. Januar 2011, seinen Ab-
Eigenkontrollen und drei aus amtlichen Kontrollen –
schlussbericht dem Bundestagpräsidenten übergeben.
weisen keine Überschreitungen des Höchstgehalts von
Damit hat er sein auf zwei Jahre befristetes Mandat des
2 pg/g WHO-PCDD/ F-TEQ) auf.
Deutschen Bundestags fristgerecht und mit einem sehr
Bei Mastputen liegen bisher amtliche Ergebnisse für eindrücklichen Ergebnis erfüllt.
16 Proben und weitere 5 Ergebnisse aus betrieblichen
Eigenkontrollen vor. Deren Gehalte liegen deutlich un- Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich der Mo-
terhalb des Höchstgehalts von 2,0 pg/g WHO-PCDD/ deratorin des runden Tischs, Frau Dr. Vollmer, und na-
F-TEQ. türlich allen Mitgliedern des runden Tischs aus Verbän-
den, Kirchen, Wissenschaft und Verwaltung, aber ganz
42 Untersuchungen vom Fleisch von Schweinen zei- besonders den ehemaligen Heimkindern, die trotz man-
gen keine Überschreitungen des Höchstgehalts von 1 pg/g nigfaltiger Anfeindungen von außen konstruktiv, aber
Fett WHO-PCDD/ F-TEQ. Bei zwei Probeschlachtun- nachdrücklich ihre Erfahrungen und Interessen in die
gen von Schweinen aus gesperrten landwirtschaftlichen Arbeit des runden Tischs sowie in den Abschlussbericht
Betrieben wurde bei einer Probe eine Überschreitung des eingebracht haben.
Höchstgehalts (1,51 pg/g) festgestellt. Eine weitere
Probe liegt mit 1,07 pg/g im Streubereich des Höchstge- Nach Übergabe des Abschlussberichts an den Deut-
schen Bundestag obliegt es nun diesem, den Länderpar-
(B) halts. lamenten sowie den beiden christlichen Kirchen und ih- (D)
Für Rindfleisch liegt bisher ein amtliches Untersu- ren Wohlfahrtsverbänden, die im Abschlussbericht des
chungsergebnis vor, welches deutlich unterhalb des runden Tischs Heimerziehung unterbreiteten Vorschläge
Höchstgehalts von 3,0 pg/g, WHO-PCDD/ F-TEQ, liegt. und Empfehlungen zu bewerten, darüber zu entscheiden
und die Umsetzung in die Wege zu leiten. Ich teile jedoch
26 amtliche Proben von Kuhmilch sind inzwischen
Ihre Auffassung, dass eine zügige Behandlung der Vor-
analysiert. Die Ergebnisse liegen alle unterhalb des
schläge des runden Tischs im Interesse der Betroffenen
Höchstgehalts von 3,0 pg/g Fett WHO-PCDD/ F-TEQ.
wünschenswert ist.
Da die Arbeit der Geschäfts- und Infostelle des run-
Anlage 32 den Tischs im Februar 2011 enden wird hat der runde
Tisch Heimerziehung in seinem Anschlussbericht die
Antwort
dringende Empfehlung an Bund und Länder ausgespro-
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage chen, für eine Übergangszeit eine Stelle einzurichten, die
der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) als Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder dient und
(Drucksache 17/4406, Frage 55): sonstige interessierte Personen über die Entwicklung in-
Welche Angaben kann die Bundesregierung über die Her- formiert.
kunft der Waffen machen, die bislang im Zuge der Militärmis-
sionen von EU und NATO am Horn von Afrika bei der Be- Es ist geplant, die bisherige Ansprechstelle für die
kämpfung der Piraterie – Atalanta, Allied Protection, Allied Betroffenen bis Ende 2011 fortzuführen.
Provider, Ocean Shield – sichergestellt wurden, und welche
Informationen hat sie darüber, ob von den Piraten auch Waf- Derzeit finden hierzu Gespräche zwischen Bund, Län-
fen verwendet werden, die im Zuge der Entführung des dern sowie dem bisherigen Träger der bisherigen An-
Motorschiffs „Faina“, das Waffen von der Ukraine an die sprechstelle zur Klärung der Rahmenbedingungen statt.
„Regierung des Südsudan“ bzw. die Sudanesische Volksbe-
freiungsarmee SPLA lieferte, im September 2008 – unmittel-
bar vor dem drastischen Anstieg der Piratenübergriffe am
Horn von Afrika, dem drastischen Appell des UN-Generalse- Anlage 34
kretärs zur Bekämpfung der Piraterie und dem Beginn der ers-
ten entsprechenden NATO-Mission – erbeutet wurden? Antwort
Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse zur des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Fra-
Herkunft der im Rahmen der Pirateriebekämpfung am gen der Abgeordneten Caren Marks (SPD) (Druck-
Horn von Afrika beschlagnahmten Waffen vor. sache 17/4406, Fragen 57 und 58):
9340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Wie begründet die Bundesregierung die Tatsache, dass zur sich meistens an einem vom Deutschen Hebammenver- (C)
langfristigen Stärkung des Kinderschutzes – insbesondere des band, DHV, entwickelten Fortbildungscurriculum.
Netzwerks Frühe Hilfen – Familienhebammen eingesetzt wer-
den sollen, während gleichzeitig die geplante Bundesinitiative
Familienhebammen, die im Referentenentwurf des Bundes- Familienhebammen begleiten Familien in belasten-
kinderschutzgesetzes enthalten ist, auf den Zeitraum von 2012 den Lebenslagen bis maximal zum 1. Lebensjahr des
bis 2015 befristet ist? Kindes. Ziel ist es, in dieser Zeit die Familie so zu stabi-
In welchem Zeitraum vor und nach der Geburt eines Kin- lisieren, dass sie selbstständig zu Recht kommt oder sie
des sollen die im Rahmen der geplanten Bundesinitiative Fa- in die Hand einer anderen Hilfe zu geben zum Beispiel
milienhebammen tätig werdenden Familienhebammen zum sozialpädagogische Familienhilfe, Vermittlung einer El-
Einsatz kommen, und welche Qualifikation müssen diese ha-
ben?
terngruppe in der örtlichen Familienberatungsstelle, usw.
Für jede Hebamme – also auch die Familienhebamme –
Zu Frage 57: ist grundsätzlich eine Abrechnung der im Hebammen-
vergütungsvertrag, i. V. m. § 134 a SGB V, vorgesehenen
Zuständig für den Einsatz von Familienhebammen
sind ganz klar Länder und Kommunen – insbesondere Leistungen und damit über die Gesetzliche Krankenver-
im Rahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und sicherung möglich, also eine Betreuung von Beginn der
der Kinder- und Jugendhilfe. Schwangerschaft bis zur 8. Woche nach der Geburt.

Um jedoch die Aktivitäten zu Familienhebammen als


Teil der Frühen Hilfen von Ländern und Kommunen zu
unterstützen und dort solche anzuregen, wo es noch Anlage 35
keine gibt, möchten wir auch als Bund unseren Beitrag
Antwort
leisten und planen mit dem Bundeskinderschutzgesetz
eine Regelung im Kontext der Vorgaben zur strukturel- des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die
len Zusammenarbeit im Rahmen des Gesetzes zur Frage der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchen-
Kooperation und Information im Kinderschutz, KKG. bach) (SPD) (Drucksache 17/4406, Frage 59):
Wir werden uns im Rahmen unserer begrenzten Zu- Inwiefern hat aus Sicht der Bundesregierung die Umset-
ständigkeit mit der „Bundesinitiative Familienhebam- zung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
men“ dafür einsetzten, dass der Aus- und Aufbau der Ar- Behinderungen Auswirkungen auf § 35 a des Achten Buches
Sozialgesetzbuch, und inwieweit sieht die Bundesregierung
beit der Familienhebammen auch im Hinblick auf ihre bei dieser Regelung Änderungsbedarf?
Funktion in Netzwerken Früher Hilfen so gestärkt wird,
(B) dass der Kinderschutz langfristig davon profitieren kann. Die VN-Behindertenrechtskonvention prägt grund- (D)
sätzlich das Verständnis für die Teilhabe der Menschen
Die Initiative ist auf den Zeitraum 2012 bis 2015, vier
mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Dieses Ver-
Jahre, befristet. Geplant ist ein Zwischenbericht nach
ständnis hat Ausstrahlungswirkung auf alle Bereiche, die
zwei Jahren, der konkrete Empfehlungen enthält, wie die
Menschen mit Behinderungen betreffen.
Erfahrungen aus dem Programm nach dieser durch den
Bund initiierten und unterstützten Anlaufphase umge- § 35 a SGB VIII dient dazu, Kindern und Jugendlichen
setzt werden sollen. Klar ist, dass der Bund diese Leis- mit seelischer Behinderung die Teilhabe am Leben in der
tung vor Ort nicht dauerhaft finanzieren kann. Wir wer- Gesellschaft zu ermöglichen. Dies entspricht dem Anlie-
den rechtzeitige Gespräche zwischen Bund, Ländern und gen der VN-Behindertenrechtskonvention, Menschen mit
Kommunen initiieren, um die Nachhaltigkeit der Behinderungen zu einer unabhängigen Lebensführung
Bundesinitiative sicherzustellen. und zur vollen Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ver-
helfen.
Zu Frage 58:
Zur weiteren Beförderung des Inklusionsgedankens
Die dazu im Einzelnen zu klärenden Fragen werden der VN-Behindertenrechtskonvention prüft die Bundes-
wir in den kommenden Monaten in engem Austausch regierung derzeit die Zusammenführung der Eingliede-
mit Ländern und Kommunen sowie Verbänden und wei- rungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen mit Behin-
teren Expertinnen und Experten erörtern. Wir planen, für derungen.
die Laufzeit der Bundesinitiative und die Vergabe der
Bundesmittel eine Kooperationsvereinbarung mit den BMFSFJ und BMAS arbeiten hier eng zusammen und
Ländern abzuschließen. bringen sich aktiv in die neue gemeinsame Arbeitsgruppe
der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, ASMK, und
Familienhebammen sind staatlich examinierte Heb-
ammen mit einer Zusatzqualifikation. Die Weiterbildung der Jugend- und Familienministerkonferenz, JFMK, ein,
erfolgt über die Länder, in der Regel durch Landesbe- die sich unter Beteiligung der kommunalen Spitzenver-
rufsverbände, aber auch Fortbildungsinstitute, Jugend- bände, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesju-
ämter oder Landessozialministerien, und ist bundesweit gendämter und der Bundesarbeitsgemeinschaft der über-
nicht einheitlich. örtlichen Sozialhilfeträger im Jahr 2011 vertieft mit der
Thematik befassen wird. Die Arbeitsgruppe wird 2011
Sie umfasst je nach Land 150 bis 240 Stunden in ei- der ASMK und der JFMK einen qualifizierten Zwischen-
nem Zeitraum von 6 Monaten bis 1 Jahr und orientiert bericht vorlegen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9341

(A) Anlage 36 tung umgehend nach Zuschlag ihre Arbeit aufnehmen (C)
wird.
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Fragen der
Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer (SPD) (Drucksa- Anlage 37
che 17/4406, Fragen 60 und 61): Antwort
Welche Maßnahmen hat der Beauftragte der Bundesregie-
rung für die Belange der Patientinnen und Patienten ergriffen,
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage der
um seine Zuversicht, „dass wir mit Beginn des neuen Jahres Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE)
eine unabhängige Verbraucher- und Patientenberatung als Re- (Drucksache 17/4406, Frage 62):
gelversorgung haben werden“ (Pressemitteilung vom 11. No- Wann ist seitens der Bundesregierung mit einem, wie vom
vember 2010), in politisches Handeln umzusetzen? GKV-Spitzenverband gemeinsam mit den Vertragspartnern
Aus welchen Gründen erweist sich die in Frage 60 zitierte nach § 113 des Elften Buches Sozialgesetzbuch geforderten,
Aussage bisher – ausweislich der nach wie vor nicht stattfin- für die Weiterentwicklung der Pflegetransparenzvereinbarun-
denden Beratung der Patientinnen und Patienten – als unzu- gen ambulant und stationär geeigneten Konfliktlösungsver-
treffend, und wann erwartet der Beauftragte der Bundesregie- fahren und den dafür notwendigen Änderungen des SGB XI
rung, dass die Beratung der Patientinnen und Patienten in den zu rechnen, und wie weit sind die dafür notwendigen Vorbe-
Beratungsstellen telefonisch und über das Internet vollständig reitungen für das gesetzgeberische Verfahren vorangeschrit-
wieder aufgenommen wird? ten?

Eine Überarbeitung der Transparenzvereinbarungen


Zu Frage 60: kann derzeit nur einvernehmlich erfolgen. Notwendige
Weiterentwicklungen können damit durch Minderheiten
Auch als Mitglied des Beirates, der den Spitzenver-
blockiert werden. Um die Chance zu erhalten, sowohl
band Bund der Krankenkassen bei der Vergabe der För-
die Qualität der Einrichtungen als auch die Transparenz
dermittel nach § 65 b Fünftes Buch Sozialgesetzbuch,
für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen weiter
SGB V, berät, hat der Beauftragte der Bundesregierung
zu verbessern, wird – auch dem Wunsch relevanter Teile
für die Belange der Patientinnen und Patienten auf eine
der Selbstverwaltung entsprechend – die Bundesregie-
zügige und sachgerechte Bewertung der im Rahmen des
rung daher ein geeignetes Konfliktlösungsverfahren vor-
Vergabeverfahrens eingereichten konkreten Konzepte
schlagen.
zur Einrichtung einer unabhängigen Patienten- und Ver-
braucherberatung hingewirkt. Die Bundesregierung strebt die rasche Einbringung
des Vorschlags einer gesetzlichen Änderung und parla-
Nach Auskunft des Beauftragten der Bundesregie- mentarische Behandlung an.
(B) rung für die Belange der Patientinnen und Patienten, der (D)
über die Vergabe der Fördermittel entsprechend der ge-
setzlichen Vorgabe in § 65 b Abs. 1 SGB V mit dem Anlage 38
Spitzenverband der Krankenkassen einvernehmlich ent-
scheidet, gab es gute Bewerber, mit denen intensive Ver- Antwort
handlungen um die beste Qualität der Beratung geführt
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die Fra-
wurden.
gen des Abgeordneten Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
Die letzte Verhandlung mit den Bietern hat stattgefun- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fragen 63 und 64):
den. Aktuell läuft die zehntägige sogenannte Stillhalte- Wie hoch ist der Investitionsbedarf in Summe und nach
frist bis zum 23. Januar 2011, 00:00 Uhr. Es ist geplant, aktuellem Kostenstand für die Straßenbauprojekte des Bun-
am 24. Januar den Zuschlag an den Gewinner der Aus- desverkehrswegeplanes 2003 im Freistaat Bayern, für die ein
unanfechtbarer Planfeststellungsbeschluss vorliegt, deren Bau
schreibung zu erteilen. jedoch noch nicht begonnen wurde, und wie hoch ist der In-
vestitionsbedarf in Summe und nach aktuellem Kostenstand
Zu Frage 61: für die Straßenbauprojekte des Bundesverkehrswegeplanes
2003 im Freistaat Bayern, die sich derzeit im Planfeststel-
Bereits im August 2010 hat der Spitzenverband Bund lungsverfahren befinden?
der Krankenkassen unter dem Vorbehalt des Inkraft-Tre- Wie hoch ist der Investitionsbedarf in Summe und nach
aktuellem Kostenstand für die Straßenbauprojekte des Bun-
tens der Neufassung des § 65 b SGB V mit einer europa- desverkehrswegeplanes 2003 im Freistaat Bayern, für die die
weiten Neuausschreibung begonnen und die Vergabebe- Linienbestimmungsverfahren abgeschlossen sind und Plan-
kanntmachung veröffentlicht. feststellungsverfahren noch nicht aufgenommen wurden, und
wie hoch ist der Investitionsbedarf in Summe und nach aktu-
Die im Einvernehmen mit dem Beauftragten der Bun- ellem Kostenstand für die Straßenbauprojekte des Bundesver-
desregierung für die Belange der Patientinnen und Pa- kehrswegeplanes 2003 im Freistaat Bayern, für die bereits
tienten gefallene Entscheidung des Spitzenverbandes Entwurfsplanungen erarbeitet wurden bzw. werden, die je-
doch noch nicht linienbestimmt sind?
Bund der Krankenkassen über die Vergabe der Förder-
mittel nach § 65 b SGB V wird aufgrund der gegenwär-
Zu Frage 63:
tig laufenden zehntägigen sogenannten Stillhaltefrist des
Vergabeverfahrens bis zum 23. Januar 2011, 00:00 Uhr Die Investitionssumme der Projekte mit Baurecht, die
zum jetzigen Zeitpunkt nicht veröffentlicht. Der Beauf- noch nicht begonnen wurden, beträgt nach derzeitigem
tragte der Bundesregierung für die Belange der Patientin- Stand 1,42 Milliarden Euro, die der im Planfeststellungs-
nen und Patienten erwartet, dass die Beratungseinrich- verfahren befindlichen 1,23 Milliarden Euro.
9342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011

(A) Zu Frage 64: Zu Frage 66: (C)


Die geschätzte Investitionssumme für die linienbe- Das Bundesamt für Strahlenschutz, BfS, hat am
stimmten Projekte, die sich noch nicht im Planfeststel- 27. Oktober 2010 beim Niedersächsischen Ministerium
lungsverfahren befinden, beläuft sich auf 2,49 Milliar- für Umwelt und Klimaschutz, NMU, einen Antrag nach
den Euro, wobei auch Projekte berücksichtigt wurden, § 9 Abs. 1 Atomgesetz, AtG, für die Faktenerhebung
für die keine formale Linienbestimmung erfolgt ist. Schritt 1 zum Anbohren von zwei ausgewählten Einlage-
Davon ausgehend, dass im zweiten Teil der Frage rungskammern gestellt. Am 23. Dezember 2010 lagen
Projekte in der Phase der Linienplanung gemeint sind, be- dem NMU die Antragsunterlagen vor. Das NMU hat
trägt deren geschätzte Investitionssumme 3,01 Milliarden sich zum Ziel gesetzt, die Genehmigung circa zwei Mo-
Euro. nate nach Vorliegen der Antragsunterlagen zu beschei-
den.
Nicht für alle diese Projekte wird eine formale Linien-
bestimmung erfolgen und die Entwurfsplanung wird erst Es liegt zurzeit keine Situation vor, die es als unab-
nach der Linienplanung durchgeführt. weisbar erscheinen lässt, nach Gefahrenabwehrrecht
vorzugehen, so dass aufgrund der derzeitigen Situation
das gesetzlich vorgesehene Genehmigungsverfahren
Anlage 39 durchgeführt wird. Diese Entscheidung hat das Bundes-
ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
Antwort cherheit getroffen.
des Parl. Staatssekretärs Dr. Andreas Scheuer auf die
Frage der Abgeordneten Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Zu Frage 67:
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 65):
Nach Vorlage des Notfallplans im Februar 2010 hat
Auf welche Weise stellt die Bundesregierung sicher, dass
bei den durch das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung fest-
das Bundesamt für Strahlenschutz, BfS, unverzüglich
zulegenden Flugrouten am zukünftigen Flughafen Berlin mit der Umsetzung von Vorsorge- und Notfallmaßnah-
Brandenburg International BBI, die entsprechend der gelten- men begonnen. Bereits in der Umsetzung befinden sich
den Gesetzeslage nicht im Rahmen des Planfeststellungsver- die Rückholung gasbildender und wassergefährdender
fahrens festgelegt worden sind und die nach aktuellen Vor- Stoffe sowie die Reduzierung des Resthohlraumvolu-
schlägen anders verlaufen werden als nach der dem
Planfeststellungsverfahren zugrunde liegenden Grobplanung, mens durch Feststoffversatz als Maßnahmen zur Mini-
europäische Vogelschutzgebiete – Special Protection Areas, mierung der Konsequenzen eines auslegungsüberschrei-
SPA – wie das SPA-Gebiet Nr. 7023 am Rangsdorfer See aus- tenden Lösungszutritts.
reichend Berücksichtigung finden, unter anderem durch eine
(B) Flora-Fauna-Habitat-Prüfung bzw. Umweltverträglichkeits- Auch wurden Maßnahmen zur Verbesserung der An- (D)
prüfung? lagenauslegung durchgeführt. Hierzu gehören die Ein-
Für die Festlegung von Flugverfahren durch das Bun- richtung eines über- und unterirdischen Notfalllagers zur
desaufsichtsamt für Flugsicherung sieht das Gesetz über Lagerung technischer Geräte wie zum Beispiel Rohrlei-
die Umweltverträglichkeitsprüfung weder eine Umwelt- tungen und Pumpen für den Fall eines unvorgesehenen
verträglichkeitsprüfung noch eine Strategische Umwelt- Lösungszutritts sowie die vertragliche Sicherung einer
prüfung vor. erhöhten Entsorgungskapazität für eine technisch förder-
bare Lösungsmenge von nunmehr 500 Kubikmetern.
Das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung beabsich- Daneben laufen die Auffahrungen von zusätzlichen Not-
tigt nicht, eine FFH-Verträglichkeitsprüfung gemäß § 34 fallspeichervolumen für steigende Lösungsmengen auf
und 35 Bundesnaturschutzgesetz, durchzuführen. der 800-Meter-Sohle.
Zur Stützung des Grubengebäudes wurde mit der
Anlage 40 Firstspaltverfüllung als Gefahrenabwehrmaßnahme be-
gonnen; bisher wurden circa 9 000 Kubikmeter Sorel-
Antwort beton in die Firstspalten gepumpt.
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Fra-
Ebenfalls konnte die Planung der Maßnahmen zur
gen der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜND-
Abdichtung potenzieller Wegsamkeiten durch die sali-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fra-
nare Schutzschicht sowie zur Stabilisierung und Abdich-
gen 66 und 67):
tung der Zugangsbereiche zu den LAW-Kammern, Low
Wie sind, wenn es richtig ist, dass für die Probeöffnung
von Einlagerungskammern des Atommülllagers Asse II ein
Active Waste, deutsch: schwachaktive Abfälle, und der
förmliches atomrechtliches Verfahren durchgeführt wird, die Einlagerungskammern für mittelaktive Abfälle abge-
Zeitabläufe dieses Genehmigungsverfahrens, und aus welchen schlossen werden.
Gründen wurde nicht der nach dem Atomgesetz mögliche
Weg einer Maßnahme zur Gefahrenabwehr gewählt (bitte mit Schließlich laufen derzeit Planungsarbeiten für den
Angabe, wer in diesem Fall die Entscheidung für das förmli- Fall, dass der Lösungszutritt in das Grubengebäude der
che Verfahren getroffen hat)? Schachtanlage Asse II nicht mehr kontrolliert werden
Werden bereits Komponenten des vom Bundesamt für kann. Hierzu gehören das Verfüllen der Resthohlräume
Strahlenschutz vorgelegten Notfallplans für das Atommüll-
lager Asse II umgesetzt – gegebenenfalls bitte mit Angabe,
in den Nebenbauen der Einlagerungskammern mit
welche –, und, wenn nein, aus welchen Gründen wurde mit schwachradioaktiven Abfällen, das Verfüllen der Rest-
diesen Maßnahmen noch nicht begonnen? hohlräume in den Einlagerungskammern, das Verfüllen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 83. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Januar 2011 9343

(A) und Abdichten der Tagesschächte sowie die Gegenflu- § 9 Abs. 1 Atomgesetz, AtG, für die Faktenerhebung (C)
tung zur Verringerung der Umlösungsprozesse. Schritt 1 zum Anbohren von zwei ausgewählten Einlage-
rungskammern gestellt. Am 23. Dezember 2010 lagen
dem NMU die Antragsunterlagen vor. Das NMU hat
Anlage 41 sich zum Ziel gesetzt, die Genehmigung circa zwei Mo-
nate nach Vorliegen der Antragsunterlagen zu beschei-
Antwort
den. Somit verläuft das Genehmigungsverfahren derzeit
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Fra- planmäßig. Die für ein atomrechtliches Genehmigungs-
gen der Abgeordneten Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ verfahren vergleichsweise kurze Bearbeitungszeit zeigt
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fragen 68 und 69): die Anstrengungen aller Verfahrensbeteiligten, das Ge-
Wurden vor dem Hintergrund, dass im Atommülllager nehmigungsverfahren unter Einhaltung der atomrechtli-
Asse II bei Wolfenbüttel in 750 Meter Tiefe erstmals von au- chen Bestimmungen schnellstmöglich zum Abschluss zu
ßen eindringendes Wasser den Weg in eine Lagerkammer mit bringen.
über 11 000 Atommüllfässern gefunden hat, entsprechende
Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung des Eintretens von
Laugen in die Einlagerungskammern mit höchster Priorität
versehen, wurde mit diesen Maßnahmen bereits begonnen Anlage 42
und, wenn nein, warum nicht?
Was gedenkt die Bundesregierung zur Beschleunigung des Antwort
stockenden Genehmigungsverfahrens (vergleiche Braun-
schweiger Zeitung vom 8. Januar 2011) zum Anbohren der
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Fragen
ersten Kammer im Atommülllager Asse II zu tun, welches der des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE
Gefahrenabwehr dient und eine wichtige Vorraussetzung für GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Fragen 70 und 71):
den schnellen Beginn der Rückholung der Fässer darstellt?
Erwartet die Bundesregierung, dass die Erneuerbare-Ener-
gien-Ziele der Europäischen Union für 2020 auf der Grund-
Zu Frage 68: lage der bestehenden Richtlinie für erneuerbare Energien und
der vorliegenden nationalen Aktionsprogramme der Mitglied-
Vorsorge- und Notfallmaßnahmen zur Minimierung staaten erreicht werden, und was spricht aus Sicht der Bun-
eines auslegungsüberschreitenden Lösungszutritts haben desregierung dagegen, neben den Energiekonzernen auch die
oberste Priorität. Um das Zutreten von Lösungen aus mittelständischen Vertreter der Erneuerbare-Energien-Bran-
dem umgebenden Gebirge zu verhindern, werden poten- che zu ihren Energiegesprächen zur europäischen Energie-
politik der Bundesregierung ins Bundeskanzleramt einzula-
zielle Wegsamkeiten abgedichtet, Resthohlräume aufge- den?
füllt und Kammern mit Sorelbeton stabilisiert, in denen
Befürwortet die Bundesregierung den Fortbestand des
keine radioaktiven Abfälle lagern. deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf der Grundlage
(B) der bestehenden EU-Richtlinie für erneuerbare Energien, oder (D)
Derzeit wird das Resthohlraumvolumen durch Fest-
unterstützt die Bundesregierung die Pläne der Europäischen
stoffversatz reduziert und bei der Firstspaltverfüllung Kommission für die Abschaffung der nationalen Fördersys-
zur Stützung des Grubengebäudes wurden bereits circa teme und deren Ersatz durch ein europaweit vereinheitlichtes
9 000 Kubikmeter Sorelbeton in die Firstspalten ge- Fördersystem?
pumpt. Zutrittswässer werden soweit technisch möglich
gesammelt, um ein Eindringen in die Einlagerungskam- Zu Frage 70:
mern zu verhindern.
Die von den Mitgliedstaaten vorgelegten Nationalen
Die Planung der Maßnahmen zur Abdichtung poten- Aktionspläne für erneuerbare Energie sind noch nicht
zieller Wegsamkeiten durch die salinare Schutzschicht von der Europäischen Kommission ausgewertet worden.
sowie zur Stabilisierung und Abdichtung der Zugangs- Nach einer ersten, vorläufigen Abschätzung der Kom-
bereiche zu den LAW-Kammern, Low Active Waste, mission kann das EU-Ziel von 20 Prozent erneuerbare
deutsch: schwachaktive Abfälle, und der Einlagerungs- Energien im Jahr 2020 erreicht werden.
kammern für mittelradioaktive Abfälle konnte bereits
abgeschlossen werden. Dagegen laufen noch die Pla- Die Bundesregierung führt zur europäischen Energie-
nungsarbeiten für die Maßnahmen zum Verfüllen der politik regelmäßig Gespräche mit allen betroffenen Wirt-
Resthohlräume in den Nebenbauen der Einlagerungs- schaftsbranchen, selbstverständlich auch mit der Erneu-
kammern mit schwachradioaktiven Abfällen, zum Ver- erbare-Energien-Branche.
füllen der Resthohlräume in den Einlagerungskammern,
zum Verfüllen und Abdichten der Tagesschächte sowie Zu Frage 71:
für die Gegenflutung zur Verringerung der Umlösungs- Die Bundesregierung hält am Erneuerbare-Energien-
prozesse. Gesetz fest und wird im Rahmen des EEG-Erfahrungs-
Notfall- und Vorsorgemaßnahmen werden so geplant berichts über seine Weiterentwicklung beraten und ent-
und durchgeführt, dass sie einer Rückholung der radio- scheiden.
aktiven Abfälle möglichst wenig entgegenstehen.
Die Erneuerbaren-Energien-Richtlinie sieht als In-
strument zur Zielerfüllung nationale Fördersysteme vor.
Zu Frage 69:
Der Bundesregierung ist kein aktueller Vorschlag der
Das Bundesamt für Strahlenschutz, BfS, hat am Europäischen Kommission für eine Abschaffung der na-
27. Oktober 2010 beim Niedersächsischen Ministerium tionalen Fördersysteme durch ein EU-weit vereinheit-
für Umwelt und Klimaschutz, NMU, einen Antrag nach lichtes Fördersystem bekannt.
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(A) Anlage 43 genschaft fällt unter das Verwaltungsabkommen zwi- (C)


schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land
Antwort
Brandenburg zur Übertragung der von der Westgruppe
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage der Truppen, WGT, genutzten Liegenschaften auf das
der Abgeordneten Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE Land Brandenburg vom 20. Juni 1994, WGT-Abkom-
GRÜNEN) (Drucksache 17/4406, Frage 72): men. Der Bund, die Bundesanstalt für Immobilienaufga-
Inwieweit kann die von der Bundesregierung angedachte ben, hat sich mit diesem Abkommen verpflichtet, die
Übertragung des Geländes der ehemaligen Heeresversuchs- Liegenschaft dem Land Brandenburg zu übereignen. Das
stelle Kummersdorf in das Nationale Naturerbe sicherstellen, Land Brandenburg ist im Gegenzug verpflichtet, diese
dass das Gelände in seiner Gesamtheit erhalten bleibt, ohne Liegenschaft ohne weitere Bedingungen in ihr Eigentum
dass der Status des Nationalen Naturerbes eine Nutzung von
Teilflächen für erneuerbare Energien verhindert? zu übernehmen.
Die Bundesregierung hat bisher keine Schritte zur Davon unabhängig gilt, dass auf Flächen des Natio-
Aufnahme der ehemaligen Heeresversuchsstelle Kum- nalen Naturerbes nicht bzw. – in Ausnahmefällen – nur
mersdorf in das Nationale Naturerbe ergriffen. Die Lie- für einen Übergangszeitraum eine Nutzung möglich ist.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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