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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
67. Sitzung
Inhalt:
Mündliche Frage 39
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 11 DIE GRÜNEN)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE)
Erhöhte Gefahr der Übertragung des MRSA-
Bundesrepublik Deutschland als Einwan- Bakteriums vor allem in ländlichen Regio-
derungsland nen mit Intensivtierhaltung
Antwort Antwort
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7120 A BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7125 A
Zusatzfragen Zusatzfragen
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7120 C Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7125 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7121 B
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7121 C
Mündliche Frage 40
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
Mündliche Frage 12 DIE GRÜNEN)
Sevim Dağdelen (DIE LINKE)
Konsequenzen aus Medienberichten zum
Ergebnisse der Umfrage zu Erfahrungen steigenden Risiko des MRSA-Befalls in
der Bundesländer bezüglich bestehender Krankenhäusern in ländlichen Regionen mit
Sanktionsmöglichkeiten im Zusammenhang Intensivtierhaltung
mit integrationswidrigem Verhalten von Antwort
Ausländern Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7125 C
Antwort
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär Zusatzfragen
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7122 A Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7125 D
Zusatzfragen Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7122 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7126 B
Anlage 1 Antwort
Cornelia Pieper, Staatsministerin
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7145 A AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7146 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 V
Anlage 13
Anlage 9
Mündliche Frage 20
Mündliche Frage 16 Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN)
Beantwortung des an Bundesminister
Vorlage des gesamten Schriftwechsels der
Ronald Pofalla am 5. Oktober 2010 ge-
Bundesregierung mit den vier großen Ener-
schickten Fragenkatalogs der Fraktion
gieversorgungsunternehmen zur AKW-
Bündnis 90/Die Grünen in Ausschüssen des
Laufzeitverlängerung bis zum 29. Oktober
Deutschen Bundestages
2010
Antwort
Antwort
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7148 B
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7147 C
Anlage 10 Anlage 14
Anlage 11
Anlage 15
Mündliche Frage 18
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 22
DIE GRÜNEN) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Inhalt der Gesprächsergebnisse zwischen
Bundesregierung und Energieversorgungs- Deutsche bilaterale Regelung zum Umgang
unternehmen im Zusammenhang mit dem mit Steuerhinterziehern im Vergleich zur
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Anlage 25 Antwort
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
Mündliche Frage 37
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7154 A
René Röspel (SPD)
Bewertung der Tätigkeit des XCell-Centers
in Köln und Düsseldorf Anlage 29
Antwort Mündliche Frage 48
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7152 D DIE GRÜNEN)
Prämissen und Rahmenbedingungen für
Anlage 26 die Berechnung der Kapazitäten der Atom-
müllzwischenlager
Mündliche Frage 38
René Röspel (SPD) Antwort
Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
Vorlage eines Entwurfs für eine Änderung BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7154 B
des Transplantationsgesetzes
Antwort
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin Anlage 30
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7153 B
Mündliche Frage 49
Klaus Hagemann (SPD)
Anlage 27 Vorlage der Projektkosten- und Terminpla-
Mündliche Frage 41 nung für die Rückbauprojekte Kompakte
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Natriumgekühlte Kernreaktoranlage (KNK II)
und Mehrzweckforschungsreaktor (MZFR)
Gründe für die Unterschiede bei der Finan-
zierung der Pflegeassistenz für Schwerstbe- Antwort
hinderte nach dem Arbeitgebermodell und Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
durch den ambulanten Dienst BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7154 D
Antwort
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin Anlage 31
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7153 C
Mündliche Frage 50
Nicole Gohlke (DIE LINKE)
Anlage 28 Bereitstellung zusätzlicher Studienplätze im
Mündliche Fragen 42 und 43 Rahmen des Hochschulpaktes 2020 infolge
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ der zusätzlichen Nachfrage aufgrund der
DIE GRÜNEN) Aussetzung der Wehrpflicht
Fahrradmitnahme im ICE sowie bei künf- Antwort
tigen Konkurrenten der Deutschen Bahn Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
im Hochgeschwindigkeitsverkehr BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7155 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7081
(A) (C)
Redetext
67. Sitzung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das heißt konkret: Unser sozialer und wirtschaftlicher
Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kol- Erfolg ist untrennbar mit der europäischen Entwicklung
legen! Die Sitzung ist eröffnet. verknüpft. Das macht es notwendig, dass sich alle Mit-
gliedstaaten gemeinsamen Regeln unterwerfen. Denn
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
das Fehlverhalten Einzelner kann zu Verwerfungen für
Abgabe einer Regierungserklärung durch die alle führen; das haben uns die Krisensituation im Früh-
Bundeskanzlerin jahr in Griechenland und die Krise des Euro in erschre-
ckender Weise vor Augen geführt. Diese Krise in Europa
zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010
war existenziell. Wir haben sie in den Griff bekommen,
in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 11./12. No- aber das alleine reicht noch nicht. Ich sage Ihnen deshalb
vember 2010 in Seoul
ganz deutlich: Mein Ziel und das Ziel der Bundesregie-
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen rung insgesamt ist, dass die Währung Europas, der Euro,
der CDU/CSU und FDP sowie je ein Entschließungsan- dauerhaft stabil ist.
(B) trag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- (D)
nis 90/Die Grünen vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Interfraktionell ist verabredet, in der Aussprache im Das hat mein Handeln im Frühjahr bestimmt, und das
Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel bestimmt unser Handeln heute.
Stunden zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen. In meiner Regierungserklärung vom 19. Mai habe ich
hier gesagt – ich darf das wiederholen –:
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Wir müssen zweierlei schaffen: die Bewältigung
der akuten Krisensituation zum einen und die Vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sorge für die Zukunft zum anderen.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Heute können wir festhalten: Bei der Bewältigung der
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ge- aktuellen Krise haben wir einen großen Schritt nach
meinsam haben wir vor dreieinhalb Wochen den vorne gemacht, gerade auch dank der ehrgeizigen Refor-
20. Geburtstag des wiedervereinten Deutschlands gefei- men und Sparmaßnahmen, die Griechenland, aber auch
ert. Gemeinsam haben wir uns die Kraft der Freiheit in andere Länder ergriffen haben.
Erinnerung gerufen, die es möglich gemacht hat, dass
wir heute mit all unseren Nachbarn in Freundschaft le- Wir haben – wie Sie sich erinnern werden – gegen
ben. Wir erleben die glücklichste Phase in der deutschen großen Widerstand aus diesem Haus wie auch aus Eu-
Geschichte. Dafür sind wir unendlich dankbar. ropa auf Reformen und Sparmaßnahmen bestanden.
Heute weiß nun jeder, dass der Kurs der Regierung der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einzig richtige war.
Wir vergessen nie, dass dieses Glück unseres Landes
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
von der Geschichte der Europäischen Union nicht zu
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was heißt
trennen ist. In diesem Bewusstsein macht unsere Gene-
hier „jeder“?)
ration Politik für unser Land und für Europa; denn um-
gekehrt ist das europäische Einigungswerk ohne deut- Auf speziellen Wunsch nehme ich die Linke aus.
sche Beteiligung überhaupt nicht vorstellbar. Dessen
sollten wir uns nicht nur an Festtagen und Jubiläen be- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich danke
wusst sein, sondern auch im politischen Alltag. Ihnen!)
7082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Wer sich in den europäischen Dingen ein bisschen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
auskennt, muss befürchten, dass man sich im Élysée an- Auf den Finanzmärkten geht es im Grunde genom-
gesichts dieses Ergebnisses ein wenig die Hände gerie- men zu wie vor der Krise: Banken und Investmenthäuser
ben hat. Ich selbst weiß, wie schwierig es ist, im interna- peitschen Renditeziele hoch. 144 Milliarden Euro an
tionalen Geschäft Vereinbarungen zu erringen. Deshalb Boni werden in diesem Jahr an der Wall Street ausge-
lasse ich mir auch nicht vormachen, das Ergebnis von schüttet. Der Handel mit Derivaten, so war dieser Tage
Deauville sei am Ende ein riesiger Erfolg für Deutsch- zu lesen, blüht wie nie zuvor. In der Finanzwelt geht al-
land gewesen. les so weiter. Die Politik dagegen, gegen diese Praxis
(Beifall bei der SPD) und gegen diese Auswüchse, ist aus meiner Sicht nach
wie vor ohne Überzeugung, ohne Zähne und vor allem
Damit wir uns nicht missverstehen: Auch wir, die ohne wirklich notwendige Konsequenz. Auch daran
SPD, sind für einen wirksamen Frühwarnmechanismus. trägt diese Bundesregierung Mitschuld. Das ist die trau-
Auch wir sind für glaubwürdige Sanktionen gegen noto- rige Wahrheit.
rische Defizitsünder. Aber genau das scheint mir durch
(Beifall bei der SPD)
den Alleingang, den ich Ihnen eben geschildert habe, ge-
fährdet zu sein. Sie sind mit unhaltbaren Maximalforde- Die SPD-Fraktion und auch ich wissen: Natürlich
rungen losgerannt und haben diese gegen wenig belast- können wir von deutscher Seite aus nicht alles im Allein-
bare Zusagen eingetauscht. Sie sind sozusagen als Hans gang erreichen. Aber gerade wenn wir uns gegenseitig
im Glück gestartet und versuchen nun, das, was Sie mit- ein bisschen ernst nehmen, dann wissen wir auch: Wenn
gebracht haben, als Goldklumpen zu verkaufen. Das man schon nicht alles im Alleingang erreichen kann,
7090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Birgit Homburger
(A) Auf dem Europäischen Rat wird jetzt ein Auftrag für Regulation der Finanzmärkte und sämtliche Kapitalver- (C)
die weiteren Verhandlungen formuliert. Das Ziel sind kehrskontrollen durch Art. 63 im Vertrag über die Ar-
klare Stabilitätskriterien. Wir haben klare Erwartungen beitsweise der EU, AEUV. Die Linke hatte das damals
an die Mitgliedstaaten. Wir wollen klare Sanktionsmög- ebenso vorausgesagt wie Gewerkschaften und die Ar-
lichkeiten, und wir wollen, dass diese Sanktionsmöglich- beitnehmer-AG in der SPD. Der Lissabon-Vertrag ist ein
keiten automatisch greifen. Darüber hinaus wollen wir Freund der Finanzhaie.
einen klaren dauerhaften Krisenmechanismus durch
Umschuldung, der durch eine Vertragsänderung abgesi- (Beifall bei der LINKEN)
chert werden muss. Jetzt, gerade acht Monate nach Inkrafttreten, wollen
Das ist es, was jetzt auf den Weg gebracht werden Sie, Frau Bundeskanzlerin, den Vertrag, den Sie hier für
muss. Das ist nicht einfach, aber es ist notwendig. Wir unveränderbar erklärt hatten, so einschneidend verän-
haben heute in einem Entschließungsantrag der Fraktio- dern, und Sie wollen ihn noch unsozialer machen. Jetzt
nen der Koalition noch einmal klargestellt, welche Posi- wollen Sie Mitgliedstaaten, die von deutschen und ande-
tionen wir unterstützen. Dies stellt eine Fortschreibung ren EU- bzw. US-Konzernen, von Finanzhaien und
des Antrags dar, den wir im Mai hier im Deutschen Bun- durch Lohndumping in Deutschland in große Engpässe
destag auf den Weg gebracht und in dem wir deutlich ge- manövriert wurden, nicht nur solidarische Hilfe wegneh-
macht haben, dass wir harte Verhandlungen für eine ent- men, sondern auch noch das demokratische Stimmrecht.
sprechende Verschärfung des Stabilitätspakts fordern. Dies ist ein Skandal, Frau Bundeskanzlerin.
Wir wissen auch, dass bei den Verhandlungen mit den (Beifall bei der LINKEN)
anderen Ländern in Europa letztendlich nicht eins zu Die Arbeiterklasse, Arbeitslose und Kleinunterneh-
eins das erreicht werden wird, was wir uns hier im Deut- men in diesen Staaten würden so zu EU-Bürgern zweiter
schen Bundestag wünschen. Aber wir wissen sehr wohl, Klasse. Damit spalten Sie die EU, gefährden Sie ihren
dass es wichtig ist, in einer solchen Verhandlung eine Bestand. Die Menschen, die jetzt in Frankreich demon-
klare Haltung zu haben. Deshalb werden wir diesen Ent- strieren, und unsere Bahnangestellten, die hier streiken,
schließungsantrag heute mehrheitlich beschließen und tun mehr für den sozialen Aufbruch in Europa und für
damit der Bundeskanzlerin für die schwierigen Verhand- die Integration als mit dieser Idee, die Stimmrechte weg-
lungen, die sie jetzt zu führen hat, den Rücken stärken. zunehmen, erreicht werden kann.
Das ist eine Rückendeckung, die der Deutsche Bundes-
tag an dieser Stelle gibt – mit dem klaren Auftrag, für ei- (Beifall bei der LINKEN)
nen harten Euro zu verhandeln. Und sie verdienen unseren Respekt.
(B) Vielen Dank. Ich widerspreche hier auch ausdrücklich dem Horror- (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander paket der EU-Kommission. Wer jetzt meint, Krisenopfern
Ulrich [DIE LINKE]: Ohne uns!) mit Strafzahlungen und asozial hohen Schuldentil-
gungsraten begegnen zu können, wird im Ergebnis die
bestehende Not nur verschärfen und Rechtsextremen die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Hasen in die Küche treiben.
Der Kollege Dr. Diether Dehm hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke. Frau Bundeskanzlerin, bevor Ihr Eigenlob über Ihre
Wirtschaftspolitik zu selbstgefällig wird: Wer unsere Ex-
(Beifall bei der LINKEN) portkonzerne und Privatbanken mit Steuergeschenken
hochpäppelt, ohne Profite in Lohnerhöhungen umzuver-
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): teilen, wird auf diese Krise die nächste Krise folgen las-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau sen.
Bundeskanzlerin, am 24. April 2008 haben Sie an dieser
Stelle vollmundig verkündet – ich zitiere –: (Beifall bei der LINKEN)
… anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag Sie sorgen dafür, dass eine normale Erholung nach einer
von Lissabon kein Verfallsdatum … keine Revi- solch tiefen Krise an den Arbeitnehmern, den Rentnerin-
sionsklausel. nen und Rentnern und unserem Handwerk völlig vorbei-
geht, dass Exportkonzerne profitieren, aber die Löhne
Dann sagten Sie: auf Schmalspur bleiben. Solange das so ist, haben Sie
nichts richtig gemacht in Ihrer Wirtschaftspolitik!
Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge
ist heute nicht in Sicht. (Beifall bei der LINKEN)
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Sie hört nicht Völlig unannehmbar ist auch der Vorschlag, künftig
mal zu!) Sanktionen gegen Mitgliedstaaten automatisch in Kraft
zu setzen. Wenn Maßnahmen alleine vom Exekutivappa-
– Natürlich hört sie nicht zu. Haben Sie etwas anderes
rat EU-Kommission beschlossen werden können und
erwartet, Frau Kollegin?
wenn dann nur eine qualifizierte Mehrheit im Rat deren
Aber kurz nach dem Inkrafttreten entpuppte sich der Aufhebung beschließen kann, verstößt das gegen jede
Vertrag bereits als Bremsklotz bei der Bewältigung der demokratische Verfasstheit der EU und gegen unsere
vor uns liegenden Krisenlasten, denn er verbietet jede Verfassung, meine Damen und Herren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7093
Dr. Diether Dehm
(A) Vielleicht, Herr Steinmeier, ist das der Grund, dass Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen (C)
der Bundesfinanzminister in der letzten Bild am Sonntag haben in dieser Phase von Anfang an klargemacht, dass
gesagt hat, es habe niemals, zu keiner Zeit eine Chance wir im Notfall für Hilfen für bedrohte Länder in Europa
für automatische Sanktionen gegen Defizitsünder gege- sind – natürlich auch für Griechenland –, aber dass wir
ben. Vielleicht veranlasste ihn der Blick auf unser Ver- es für genauso notwendig halten und wir diese Hilfen da-
fassungsgericht dazu: „Niemals“, hat er gesagt. Aber hat ran koppeln wollen, dass auch das betroffene Land selbst
der Bundesfinanzminister – er ist jetzt auch nicht hier – alles Mögliche tut, um die drohende Zahlungsunfähig-
der FDP das vielleicht verschwiegen, oder wird dort be- keit und weitere Krisen abzuwenden.
wusst gelogen, wenn weiterhin von diesem Automatis-
mus geredet und schwadroniert wird? Hören Sie damit (Beifall bei der CDU/CSU)
auf! Hören Sie auf Ihren Bundesfinanzminister! Er hat in Wir haben dann im Mai ein Gesamtkonzept unter Einbe-
dieser Frage ausnahmsweise recht. ziehung des Internationalen Währungsfonds zusammen-
(Beifall bei der LINKEN) stellen können. Insofern konnten wir die Griechenland-
Krise aussetzen.
Er hat deswegen recht, weil ein Sanktionsautomatismus
gegen Art. 126 des AEUV verstößt und auch eine ver- Unmittelbar im Anschluss an unsere Debatte hier im
steckte Änderung von EU-Primärrecht die Billigung Bundestag – ich kann mich noch genau daran erinnern;
durch die Mitgliedstaaten nötig macht. Sonst würde er ich finde es schon erstaunlich, wenn Herr Steinmeier
spätestens am Bundesverfassungsgericht scheitern, wie sagt, Frau Bundeskanzlerin Merkel hätte hier die Backen
jeder seit dem Lissabon-Urteil weiß. Die Linke würde geplustert und dann das Gegenteil gemacht; niemand
wieder Karlsruhe anrufen. Verfassungsbruch ist mit uns wusste es, niemand hat es vorausgesehen –,
nicht machbar! (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der LINKEN) NEN]: Falsch!)
Aber was ist die Alternative? Wir brauchen in der Tat noch am selben Tag, als wir hier das Griechenland-Paket
eine grundlegende Änderung der Verträge, aber eine Än- beschlossen haben, mehrten sich zum Abend hin, ver-
derung für demokratische Finanzmarktregulierung, für schärft zum Wochenende hin die Hinweise darauf – das
mehr Sozialstaatlichkeit in der EU und für Mechanis- war schon am Montag der darauffolgenden Woche –,
men, mit denen die Krisenlasten ihren Verursachern, der (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Deutschen Bank und anderen Taliban in Nadelstreifen, Wann denn nun? Freitag? Montag?)
auferlegt werden.
dass auch Länder wie Portugal, Irland und Spanien in die
(B) (Beifall bei der LINKEN) Zahlungsunfähigkeit kommen könnten. (D)
Wenn Sie solche sozialstaatlichen und zivilisatorischen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Reformen der EU durchsetzen wollen, Frau Bundes- NEN]: Und da war Ihre Bundeskanzlerin
kanzlerin, werden Sie auf breite Mehrheiten in den Par- schwer überrascht!)
lamenten und auf den Straßen und Plätzen in Frankreich,
Griechenland und Deutschland setzen können. Die Euro- – Das war nicht abzusehen. Auch Sie haben das nicht ab-
päische Union wird demokratisch und sozial sein – oder sehen können. Sogar die Grünen – da stimme ich Ihnen
nicht von langer Dauer. zu – haben damals dem Griechenland-Paket zugestimmt.
(Beifall bei der LINKEN) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das wollen Sie ja jetzt abschaffen!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber bei einem wichtigeren Paket haben Sie sich dann in
Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak- die Büsche geschlagen.
tion.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN]: Was? Seit wann stimmen wir Sachen
der FDP) zu, wozu die Unterlagen nicht vorliegen?)
Die Europäische Union war in der Lage, quasi über
Michael Stübgen (CDU/CSU):
das Wochenende den sogenannten europäischen Ret-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tungsschirm aufzubauen, zu kreieren: 750 Milliarden
Herren! Die Europäische Union hat in den letzten acht Euro, 60 Milliarden Euro von der Kommission, 440 Mil-
Monaten eine beispiellose Entwicklung im Euro-Raum liarden Euro von den Mitgliedstaaten und bis zu
erleben müssen. Schon Ende des letzten Jahres mehrten 250 Milliarden Euro vom IWF. Wir als Mitglieder des
sich die Hinweise auf eine drohende Zahlungsunfähig- Bundestages waren in der Lage, binnen einer Woche die
keit Griechenlands. Die Ursachen lagen – das wissen wir dazu notwendigen und richtigen Beschlüsse zu fassen.
eindeutig – in der immer deutlicher werdenden katastro-
phalen Haushalts- und Finanzsituation in Griechenland An dieser Stelle will ich kurz darauf eingehen, wie
und in gezielten Spekulationen gegen Griechenland. Die sich die Opposition in dieser Zeit verhalten hat: Sie wä-
Risikoaufschläge auf den Kapitalmärkten für griechische ren eventuell für diesen Rettungsschirm gewesen; aber
Anleihen stiegen in eine Höhe, die dieses Land nicht Sie hätten – wir haben es vorhin von Herrn Steinmeier
mehr finanzieren konnte. selbst gehört – nicht zustimmen können, weil wir uns
7094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Michael Stübgen
(A) nicht nachdrücklich für die Finanztransaktionsteuer ein- Sie haben damals verhindert, dass ein Sanktionsverfah- (C)
gesetzt haben. Ich will Ihnen den wahren Grund für Ihr ren umgesetzt wird, und haben damit in Kauf genom-
Verhalten nennen: Sie haben natürlich mitbekommen, men, dass später viel Schlimmeres passiert.
dass die notwendigen Entscheidungen, die die Koalition
getroffen hat, in Deutschland sehr unpopulär waren. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist falsch
von der Entwicklung!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was? Sie waren zerstritten! – Jürgen Ich bin allerdings der Meinung – das ist die Schluss-
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei folgerung aus meiner Analyse –, dass auch ein Festhal-
uns nicht! Bei Ihnen vielleicht!) ten am alten Stabilitätspakt, also am Stabilitätspakt vor
seiner Aufweichung, diese Krise wohl nicht hätte ver-
Einige Medien haben sich darauf eingeschossen. Sie ha- hindern können.
ben es vorgezogen, sich in dieser Frage in die Büsche zu
schlagen. Das ist pure Verantwortungslosigkeit. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Hört! Hört!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Aber es ist dadurch noch schlimmer geworden.
neten der FDP) (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Falsch!)
Beide Ad-hoc-Maßnahmen – das zeigt sich heute sehr – Bitte plustern Sie sich jetzt nicht auf, indem Sie sagen,
deutlich – haben ihre Ziele erreicht. Wir konnten die dass das, was wir umsetzen, zu wenig sei. Wir sind da-
existenzielle Gefahr für den Euro und für die gesamte bei, die Fehler, die Rot-Grün gemacht hat, zu beheben.
Europäische Union abwenden. Griechenland befindet
sich auf dem Weg der Besserung. Es hat eigene nachhal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tige Reformen umgesetzt und strebt weitere Reformen Der Stabilitätspakt ist eindeutig einseitig fokussiert.
an. Alle Mitgliedsländer der Europäischen Union unter- Er orientiert sich nämlich im Wesentlichen am Defizit-
nehmen mittlerweile nachhaltige Konsolidierungsanstren- kriterium, aber nicht mehr an der Gesamtverschuldung.
gungen, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland. Er ist kompliziert und schwerfällig und politisch leicht
Die Europäische Zentralbank konnte in der vergangenen manipulierbar – siehe das Handeln der rot-grünen Regie-
Woche mit dem Ankauf von Staatsanleihen aufhören. rung und Frankreichs im Jahre 2004. Deshalb ist es not-
Auch sie sieht mittlerweile die Euro-Stabilität als ausrei- wendig, dass wir hier die geeigneten Maßnahmen zur
chend gesichert an, sodass sie solche Maßnahmen nicht Verschärfung ergreifen.
mehr durchführen muss.
Die Europäische Kommission hat im September die-
Wir können feststellen: Der Feuerwehreinsatz in der ses Jahres Vorschläge vorgelegt. Diese Vorschläge sind
(B) ersten Hälfte dieses Jahres war erfolgreich. Die Brände ambitioniert. Sie greift im Wesentlichen die Reformvor- (D)
sind weitgehend gelöscht. Jetzt kommt es darauf an, das schläge auf, die wir in der Koalition schon im Sommer
Gebäude feuerfest zu bauen. Darum geht es im Wesentli- dieses Jahres gemacht haben. Die Vorschläge der Kom-
chen morgen und übermorgen beim Europäischen Rat. mission bilden einen ausreichend guten Ansatz; aller-
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung ha- dings hatten sie bis vor wenigen Tagen einen entschei-
ben schon im Juni angefangen, zu definieren, welche denden Nachteil: Es war absolut ausgeschlossen, dass
Maßnahmen wir denn ergreifen müssen, um eine Wie- sie im Europäischen Rat eine Mehrheit finden könnten,
derholung derartiger Krisen in der Europäischen Union damit sie umgesetzt werden können.
zu verhindern. Wir haben in einer Entschließung im Juni
dieses Jahres zum einen darauf hingewiesen, dass wir es (Florian Pronold [SPD]: Demokratietheore-
für notwendig halten, den Euro-Stabilitätspakt deutlich tisch ist das ein Problem, ja!)
zu verschärfen. Zum anderen gehen wir mehr und mehr
Deshalb war es richtig, dass der Europäische Rat
davon aus, dass wir auch Maßnahmen ergreifen müssen,
schon im Sommer dieses Jahres eine Taskforce unter der
die mit einer Vertragsveränderung verbunden sind.
Leitung von Kommissionspräsident Van Rompuy einge-
Ich will zum ersten Punkt kommen. richtet hat, die ihrerseits Vorschläge für den Europäi-
schen Rat zur Verschärfung des Stabilitätspaktes erarbei-
(Florian Pronold [SPD]: Das wurde auch
ten soll. Man hat von dieser Kommission leider längere
Zeit!)
Zeit nichts gehört, außer dass es wohl schwierig war,
Die Europäische Kommission hat im September dieses sich dort zu einigen. In der letzten Woche haben wir aber
Jahres Vorschläge zur Stärkung des Stabilitäts- und einen Vorschlag dieser Taskforce erhalten, der am
Wachstumspaktes gemacht. Hier muss man Folgendes 18. Oktober einstimmig verabschiedet wurde, das heißt
sehen – das gehört zur Analyse dazu –: Nachdem im Jahr von den 27 EU-Finanzministern, dem Ratspräsidenten
2004 der Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht und dem Währungskommissar. Das bedeutet, dass dieser
worden war, entwickelte er sich leider endgültig zu ei- Vorschlag, der sehr nah am Vorschlag der Kommission
nem zahnlosen Tiger. Zur historischen Wahrheit gehört ist und in einigen Punkten, gerade im präventiven Be-
nun einfach dazu, dass diese Aufweichung auf Initiative reich, sogar konkreter und weitgehend ist, umgesetzt
von Frankreich und der rot-grünen Bundesregierung zu- werden kann. Das ist ein erster großer Erfolg im Bereich
stande gekommen ist. der notwendigen Reformen, die wir ergreifen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir sollten solche Erfolge nicht kleinreden. Es ist der
neten der FDP) größte Fehler, nur zu sagen, was vielleicht noch besser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7095
Michael Stübgen
(A) gewesen wäre, anstatt darauf hinzuweisen und den Men- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
schen zu erklären, dass diese Entscheidung gut ist. Na- Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
türlich kann ein solcher Kompromiss der 27 EU-Finanz- Grünen.
minister niemals zu 100 Prozent die Überzeugung jedes
Einzelnen zum Ausdruck bringen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Frage ist aber: Was bleibt noch übrig? Das ist eine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
entscheidende Frage; wir haben sie bereits im Sommer Bundeskanzlerin, ich glaube, Sie haben uns ein Schau-
beantwortet. Wir sind der Meinung, dass wir für einen spiel dargebracht. Das Theaterstück, das Sie inszenieren,
Teil – wir haben drei wesentliche Punkte definiert; ich heißt: Handlungsfähigkeit und der Herbst der Entschei-
will mich aus Zeitgründen auf nur einen konzentrieren – dungen.
eine Vertragsänderung brauchen. Warum? Wir sind der
Die Sache mit dem „Herbst der Entscheidungen“ ist
Meinung, dass es wesentlich ist, dass wir in der Europäi-
aber – das muss ich gleich sagen, Frau Merkel – nach
schen Union, nachdem die Ad-hoc-Maßnahmen ausge-
hinten losgegangen. Sie haben versucht, sich hier als
laufen sind, langfristig zu einer Struktur, zu einem robus-
große Europäerin zu präsentieren. Wenn ich mir aber an-
ten Krisenbewältigungsmechanismus kommen müssen,
sehe, was in den letzten Wochen, insbesondere in den
der uns in die Lage versetzt, dass es in einem vielleicht
letzten Tagen geschehen ist, komme ich zu dem Ergeb-
doch wieder eintretenden Krisenfall, den wir vielleicht
nis: Sie hinterlassen eher den Eindruck einer europapoli-
nicht verhindern können,
tischen Novizin; höher könnte ich gar nicht gehen.
(Florian Pronold [SPD]: Was will uns diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Rede sagen?)
Schauen wir uns einmal an, was in den letzten Tagen
als Ultima Ratio zu einem geordneten Umschuldungs- los war. Ihre Europapolitik ist ein einziger Widerspruch.
verfahren kommt und dass private Gläubiger, die in je- Erst haben Sie unter Vorsitz von Van Rompuy eine
dem Fall Profiteure einer solchen Krise sind, mit zur Taskforce installiert. Übrigens, Herr Stübgen, wenn ich
Verantwortung gezogen werden. einmal Nachhilfeunterricht geben darf: Van Rompuy ist
nicht Kommissionspräsident. Wenn man mit der Vehe-
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aha! –
menz, die Sie an den Tag gelegt haben, eine Rede hält,
Florian Pronold [SPD]: Könnten Sie das noch
aber die Titel falsch verteilt, dann ist das schade. Außer-
einmal sagen, damit man das versteht?)
dem wird der Inhalt dadurch infrage gestellt.
Die genauere Analyse der Situation scheint problema- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) tisch zu sein, weil die deutliche Mehrheit der Mitglied- (D)
sowie des Abg. Johannes Kahrs [SPD])
staaten sie nicht wünscht. Allerdings will die deutliche
Mehrheit der Mitgliedstaaten, dass wir eine Entfristung Nun denn, Van Rompuy wurde Leiter einer Taskforce
des vorhandenen Stabilisierungsmechanismus vorneh- – das war Ausdruck des Misstrauens gegenüber Barroso
men. Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum die CDU/ und der EU-Kommission –, die parallel schärfere Vor-
CSU-Fraktion das kategorisch ablehnt: schläge erarbeiten sollte. Herausgekommen ist übrigens
nichts Schärferes. Das Ansehen der Kommission ist
Erstens. Dieser Mechanismus ist vertrags- und verfas- ramponiert.
sungsrechtlich sehr fragwürdig, wenn er entfristet wird.
Er ist maximal als kurzfristige Übergangslösung zuläs- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Verrom-
sig. puyniert!)
Zweitens. Der Mechanismus ist auch politisch inak- – „Verrompuyniert“ könnte man auch sagen. Wenn ich
zeptabel; denn er hat einen ganz entscheidenden Nach- nur wüsste, wie man das schreibt. – Das sorgte für unnö-
teil: Die privaten Gläubiger werden in gar keiner Weise tige Doppelstrukturen und Chaos.
einbezogen. Jetzt kommt noch Folgendes: Die Van-Rompuy-
Gruppe hat sich wie die Kommission auf ein quasi auto-
Wenn wir es jetzt schaffen, dass sich der Europäische
matisches Defizitverfahren geeinigt. Das ist schon ein-
Rat morgen und übermorgen darauf einigt – das ist der
mal gut, wenn dort auch einiges schwächer formuliert
Vorschlag von Deauville –, eine zweite Taskforce – Van
war. Doch dann haben Sie den französischen Präsiden-
Rompuy zwei – einzurichten und ihr den Auftrag zu ge-
ten, Herrn Sarkozy, am Strand von Deauville getroffen
ben, in dieser Frage Vorschläge zu erarbeiten, damit wir
und mit ihm am vergangenen Montag einen Deal verein-
in Zukunft auf gesicherter vertraglicher Grundlage agie-
bart: Kehrtwende um 180 Grad. Das ist keine konsis-
ren können, aber auch die privaten Gläubiger mit einbe-
tente europäische Politik. Es stellt sogar die herrschen-
ziehen können, dann haben wir die wesentlichen Anfor-
den Institutionen infrage, wenn Sie an dem gleichen Tag,
derungen, die sich aus der Krise ergeben haben, erfüllt.
an dem Van Rompuy ein quasi automatisches Sanktions-
Deshalb wünsche ich der Bundeskanzlerin für morgen
verfahren vorschlägt, gemeinsam mit Sarkozy sagen:
ruhige, harte und erfolgreiche Verhandlungen.
Das wollen wir aber nicht. – Das ist nicht nur beschä-
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. mend für Deutschland, sondern schädigt auch unsere
Durchsetzungskraft und die Durchsetzungskraft Euro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pas, zum Beispiel im Rahmen der G 20.
7096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Renate Künast
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zukommt. Der Satz, man habe es nicht gewusst, stimmt (C)
Peter Altmaier [CDU/CSU]: Das haben Sie nicht. Wenn Sie einmal Wirtschafts- und Finanzseiten
jetzt wirklich nicht verstanden!) gelesen hätten, hätten Sie gewusst, dass wir deutlich ge-
sehen haben, welche finanziellen Debakel dort auf uns
Was gilt denn jetzt eigentlich? Am Wochenende hieß zukommen.
es noch: „Kein Automatismus“, und jetzt will man wie-
der einen Automatismus. Es ist wie üblich in dieser (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
Koalition: Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut. LINKE])
(Otto Fricke [FDP]: Was wollen Sie denn?) Da haben Sie gesagt: Europa interessiert uns nicht; un-
Irgendetwas muss doch der Grund dafür sein, dass Herr sere Haushalte interessieren uns nicht. Uns interessiert
Westerwelle und andere Europaexperten in Ihrer Frak- nur die Wahl in Nordrhein-Westfalen. – Zu Recht sind
tion sauer waren. Aus den Reihen von FDP und CDU/ Sie dann dort abgestraft worden.
CSU kam immer wieder der Hinweis, dass das eine nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
abgesprochene Politik ist. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Otto Fricke [FDP]: Was wollen Sie denn?) der SPD – Zuruf von der FDP: Wer sagt denn
so etwas?)
Sauer sind auch die Mitgliedstaaten. Frau Merkel, als
Sie noch in der Opposition waren, haben Sie immer mit Wir wissen, dass wir die zentralen Fragen, die sich in
viel Getöse gesagt, man solle die Dinge nicht nur mit unserem Land, in Europa und in dieser Welt stellen, nur
Frankreich abstimmen, sondern auch die kleinen Mit- global werden beantworten können. Dafür brauchen wir
gliedstaaten mitnehmen. Jetzt haben offensichtlich auch ein starkes Europa. Dazu brauchen wir ein Deutschland,
Sie verstanden, dass man Dinge mit Frankreich ab- das sich seiner Rolle bewusst ist, voranzugehen und
stimmt. Aber Sie haben das auf die denkbar schlechteste Europa zusammenzuhalten, statt wie jetzt Luxemburg,
Art und Weise getan. Wenn zwei vorangehen, bedeutet Österreich, Tschechien und andere auf die Palme zu trei-
das nämlich nicht zwangsläufig, dass alle anderen außen ben.
vor gelassen und verärgert werden.
Frau Merkel, Sie haben gesagt, dies werde der Herbst
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der Entscheidungen. Ich sage hingegen: Das wird der
Zuruf von der FDP) Herbst der schwarz-gelben Wirrungen. Es wird der
Herbst der verbal-radikalen Ankündigungen, der Nach-
– Sie können gerne erzählen, wie das unter Rot-Grün
besserungen und der Respektlosigkeiten, aber nicht der
war. Ich weiß, was Sie damals wollten und was Sie nicht
(B) wollten. Ich weiß auch, dass Sie Ihre konservativen Herbst, in dem diese Bundesregierung wirklich anste- (D)
hende Probleme aktiv, verantwortlich und mit Respekt
Freunde in Frankreich bei so ziemlich jeder Reform in
vor anderen EU-Mitgliedstaaten löst.
Europa auf die Zinne getrieben haben. Daher würde ich
an Ihrer Stelle die Füße still halten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie wären besser der Volksweisheit „Besser den Spatz Meine Damen und Herren, Europa ist nach einer glo-
in der Hand als die Taube auf dem Dach“ gefolgt. Der balen Finanzkrise auch in eine Schuldenkrise gerutscht.
Spatz in der Hand wäre an dieser Stelle nämlich nicht ein Viele Mitgliedstaaten haben Defizite, die so gar nicht
possierliches Tierchen gewesen, sondern ein von Kom- tragbar sind.
mission und Taskforce erarbeitetes Regelwerk, das quasi
automatisch funktioniert, und zwar im präventiven wie (Otto Fricke [FDP]: Die gab es doch schon
auch korrektiven Bereich. Dazu bräuchten Sie keine Ver- vorher!)
tragsänderung und keine politische Lähmung der De-
batte. Wie wollen Sie das jetzt machen? Soll das heißen, Wir wissen alle: Mehr Hilfepakete kann es nicht ge-
dass Sie wirklich glauben, Sie könnten die europäischen ben. Es muss also zu grundlegenden Reformen kommen.
Mitgliedstaaten zu Vertragsänderungen bewegen, wo- Auch wir sagen, dass es zum einen mehr wirtschaftspoli-
möglich per Referendum? Glauben Sie, dass Sie die tische Koordination braucht. Es braucht mehr Abstim-
Regierungschefs dazu bewegen können, zu Hause zu sa- mung in der Haushaltspolitik. Daher ist es richtig, dass
gen: „Ihr Lieben, wir haben nicht nur einen Mechanis- man seine Haushaltspläne vorlegen muss. Zum anderen
mus implementiert; das Verfahren wirkt präventiv und braucht es aber auch ein außenwirtschaftliches Gleichge-
bei Defizitsündern“, sondern auch beschlossen, dass wir wicht.
im entscheidenden Augenblick nichts zu sagen haben? Tun wir also nicht so, als würden nur andere Pro-
Das glauben Sie selbst nicht. So etwas würden Sie mit bleme bereiten. In Deutschland müssen wir uns auch
sich selber auch nicht machen lassen. überlegen, wie unsere eigene wirtschaftspolitische Ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wicklung verläuft und wie wir die Binnennachfrage bei
und bei der SPD) uns stärken. Deshalb kommt man am Ende um Mindest-
lohndebatten – um nur einen Punkt zu nennen – gar nicht
Meine These ist, dass Sie in der EU-Politik alles ver- herum.
masselt haben, was zu vermasseln ist. Auch das Thema
Griechenland – das sage ich Ihnen ganz klar – haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Sie nicht angepackt, obwohl alle wussten, was da auf uns Widerspruch bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7097
Renate Künast
(A) Wenn Sie die Binnennachfrage stärken wollen, müs- Michael Link (Heilbronn) (FDP): (C)
sen Sie dafür Maßnahmen ergreifen, anstatt sich über Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Griechenland zu beklagen, aber am Ende festzustellen, Dies war eine ganz sachliche Debatte, bis Kollege Dehm
dass wir im Wesentlichen auch von unseren Exporten in und Kollegin Künast gesprochen haben.
andere Mitgliedstaaten leben.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deshalb sagen wir auch Ja zu dem stärksten Vor- NEN]: Das haben Sie sich schon vorher so
schlag der EU-Kommission des quasi automatischen aufgeschrieben!)
Defizitverfahrens. Die EU-Kommission hat – auch das
Ich kann nur sagen: Für flotte Sprüche und Belehrungen
haben Sie heute gar nicht erwähnt – sechs Vorschläge
à la Oberlehrer ist dieses Thema zu ernst.
vorgelegt, von denen vier auch durch das Europäische
Parlament gehen müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Sorge ist, dass Sie mit Ihrem Alleingang das
Europäische Parlament eher gegen sich aufgebracht ha- Wenn Sie in den ersten Jahren der Währungsunion, als
ben, als es zu unterstützen. Meine Sorge ist, dass dieses Sie Regierungsverantwortung getragen haben – damals
dilettantische Vorgehen voller Widersprüchlichkeit wurde auch der Stabilitätspakt ausgehöhlt –,
– man weiß immer noch nicht, was eigentlich gelten soll;
wir könnten jetzt auf die Sarkozy-Antwort auf die (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wo hat der
Merkel-Rede warten – am Ende auch die Schlagkraft bei Kollege Dehm Regierungsverantwortung ge-
dem G-20-Gipfel in Seoul nicht erhöhen wird, weil alle tragen?)
Welt sich über die deutsche und europäische Wider- besser aufgepasst hätten, dann hätten wir einige der Pro-
sprüchlichkeit kaputtlacht. bleme, die wir heute haben, vielleicht nicht. Sie hatten
die Gelegenheit dazu, unter anderem auch bei Griechen-
Frau Merkel, Sie haben die Hausaufgaben nicht ge-
land.
macht. Sie tragen hier allgemeine Sätze über internatio-
nales, weltweites Wachstum vor. Frau Merkel, dann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
müssen Sie jetzt auch einmal Butter zu den Fischen ge-
ben. Die CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion legen Ih-
nen heute einen Entschließungsantrag vor, weil wir un-
(Otto Fricke [FDP]: Es heißt „bei“!) sere Verantwortung für die europäische Integration sehr
ernst nehmen. Dass wir sie ernst nehmen, zeigen wir, in-
Sie müssen sagen, welches Wachstum Sie wollen: Nach-
dem wir vor einem Europäischen Rat Maßstäbe definie-
haltigkeit statt Raubbau? Tatsächliches Verteilen der
(B) Lasten auf mehrere Schultern in der EU und in Deutsch- ren. Wir haben viele Wochen gemeinsam an diesem An- (D)
trag gearbeitet. Ich glaube, dies zeigt ein bisschen, wie
land? Starten Sie doch eine Initiative für die Doha-
die Europäische Union nach Lissabon funktioniert: Vor
Runde, damit Europa nicht mehr auf Kosten anderer
dem Europäischen Rat sagen wir als Bundestag klar, was
lebt.
wir wollen. Wir begrüßen im Übrigen, dass die Grünen
und die Linken ebenfalls Anträge vorgelegt haben. Er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: staunlicherweise hat die SPD keinen Antrag vorgelegt.
Frau Kollegin. Das finde ich schade; denn genau das wäre wichtig. Wir
sollen und wollen hier darüber diskutieren, was die ver-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schiedenen Fraktionen vor dem Europäischen Rat sagen.
Ich bin beim letzten Satz. – Dann hören Sie auf mit Frau Bundeskanzlerin, wir begrüßen, dass wir beim
Ihrer Blockade, zum Beispiel bei der Reform der EU- Europäischen Rat die ersten Schritte machen werden.
Agrarpolitik, und zeigen anderen Ländern auf dieser Wir begrüßen auch, dass der Zeitplan für die möglichen
Welt: Wir wollen uns bewegen. Vertragsänderungen, die wir anstreben, bis März 2011
Zukunftsfragen kann man nur global lösen. Dazu sehr ambitioniert ist. Da kann viel schiefgehen; das ist
braucht es eine einige Europäische Union. Dazu braucht völlig klar. Es ist logisch, dass es hier und da am Anfang
es Weichenstellungen bei der Wirtschafts- und Wäh- manchmal rumpelt. Glauben Sie denn, dass vor einem
rungsunion. Europäischen Rat – das wissen Sie aus Ihrer Erfahrung
am besten – in Europa immer alles einstimmig gesehen
Frau Merkel, ich kann nur sagen – das ist jetzt wirk- wird? Nein, das ist nicht der Fall. Umso wichtiger ist,
lich aus meinem tiefsten Inneren gesprochen –, dass ich dass wir als Bundestag sagen, was wir wollen, und dass
nach Ihrem Ausflug nach Deauville eine Erwartung wir Maßstäbe definieren, wobei wir erwarten, dass sich
habe: Vermasseln Sie es nicht! die Bundesregierung in den Verhandlungen an diesen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maßstäben orientiert.
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir haben viele Maßstäbe genannt – ich brauche sie
Michael Link spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
nicht im Einzelnen zu wiederholen –, zum Beispiel die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten automatischen Sanktionen und den robusten Mechanis-
der CDU/CSU) mus. Beim robusten Mechanismus, so wie er von
7098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Thomas Silberhorn
(A) nur dann eine Umstrukturierung und eine notwendige finden, dann, meine ich, lassen Sie uns darüber ganz of- (C)
Umschuldung vorgenommen werden können. fen diskutieren. Immerhin ist jetzt eine gemeinsame Ver-
handlungsgrundlage für den Europäischen Rat beschlos-
Die Wirtschafts- und Währungsunion weist dazu eine sen worden. Aber am Ende müssen natürlich alle
Regelungslücke auf, durch die wir vor ernsthafte Pro- 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Es wird insbesondere
bleme gestellt sind. Wir können ein Mitglied der Euro- auch das Europäische Parlament zustimmen müssen.
Zone, das dauerhaft gegen die Regeln verstößt, nicht ein-
fach ausschließen, wir können aber auch nicht einfach Deswegen höre ich mit Interesse, dass unsere Kolle-
immer helfen; denn im Vertrag von Maastricht ist ganz ginnen und Kollegen in Brüssel nochmals ganz deutlich
klar das Verbot vorgesehen, Schulden anderer Mitglied- für automatische Sanktionen plädiert haben. Sie befür-
staaten zu übernehmen. Das ist nach der Rechtsprechung worten außerdem unseren Vorschlag, notorischen Defi-
unseres Bundesverfassungsgerichts – insoweit müssen zitsündern das Stimmrecht zu entziehen,
wir unsere Nachbarn um Verständnis bitten – eine ver-
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dafür gibt es
fassungsrechtliche Voraussetzung für die Zustimmung
keine Mehrheiten, nirgendwo!)
Deutschlands zum Eintritt in die Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion gewesen. Deswegen kann ein dauerhafter und sie fordern genauso vehement wie wir ein, dass pri-
Hilfsmechanismus mit uns nicht möglich sein, deswegen vate Gläubiger beteiligt werden.
wird es mit uns keine Rettungsschirme für Griechenland
oder die gesamte Euro-Zone nach dem vereinbarten (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zeitpunkt geben können. NEN]: Davon träumen Sie!)
(Beifall der Abg. Veronika Bellmann [CDU/ Also gilt der alte Grundsatz: Es ist nichts vereinbart, so-
CSU]) lange nicht alles vereinbart ist. Wir stehen erst am Be-
ginn dieser Verhandlungen.
Es ist allerdings auch nicht erstrebenswert, einem
Mitgliedstaat der Euro-Zone nicht zu helfen, weil die Nun, meine Damen und Herren, die Lehre bezüglich
Konsequenzen natürlich furchtbar gravierend wären. Griechenland muss doch sein, dass gerade das Fehlen
Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass diese Option gemeinsamer Regeln für eine Umschuldung dazu ge-
auf dem Tisch bleiben muss, nicht, um jemanden be- führt hat, dass bei Griechenland die privaten Gläubiger
drängen oder erniedrigen zu wollen, sondern um der Sta- geschont worden sind und allein die Steuerzahler die Ze-
bilität des Euro willen; denn der Ausweg wird am Ende che zahlen mussten. Wer das nicht will, muss jetzt mit
nur sein können, dass wir ein Verfahren finden – und uns dafür streiten, dass zwingend eine Beteiligung priva-
dazu die Verträge ändern –, mit dem wir diese Rege- ter Gläubiger vereinbart wird, wenn in Krisenfällen
(B) lungslücke schließen können. Das ist die Voraussetzung künftig Hilfe angefordert werden sollte. (D)
dafür, dass wir in künftigen Fällen überhaupt Hilfe leis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten können.
Nur so wird man den Fehlanreiz verhindern, mit einer
Deshalb ist die deutsch-französische Erklärung von unsoliden Haushaltspolitik fortzufahren.
Deauville ein Bekenntnis der gemeinsamen Bereitschaft
von Deutschland und auch Frankreich, die jetzt notwen- Die Alternative dazu wäre auch nicht sehr viel besser;
digen Änderungen der europäischen Verträge vorzuneh- denn wenn wir in der Europäischen Union nicht in der
men. Das ist durchaus ein beachtlicher Verhandlungser- Lage sind, dieses Thema für uns selbst zu regeln, dann
folg, Frau Bundeskanzlerin, und ich habe gerade mit wird man im Zweifel im Rahmen des Internationalen
Interesse gehört, dass jetzt auch der luxemburgische Pre- Währungsfonds eine Lösung dafür finden müssen. Der
mierminister, Jean-Claude Juncker, öffentlich erklärt hat, Internationale Währungsfonds hatte dazu bereits einen
dieses Vorgehen unterstützen zu wollen, nachdem er sich Mechanismus aufgesetzt, als es bei Argentinien anstand,
vor ein, zwei Tagen noch ganz anders geäußert hat. eine Umschuldung vorzunehmen. Die Besonderheit bei
Griechenland ist doch nur, dass wir feststellen mussten,
Meine Damen und Herren, ein solches Verfahren der dass, anders als damals bei Argentinien, jetzt ein ver-
Vertragsänderung ist auch keineswegs ein unüberwind- gleichsweise kleines Land der Euro-Zone mit einem ver-
bares Hindernis. Wir brauchen nur wenige Sätze im Ver- gleichsweise überschaubaren Anteil an der volkswirt-
trag zu ändern. Wir müssen ohnehin die Verträge für schaftlichen Wertschöpfung in der Europäischen Union
Kroatien und Irland ändern. Eine Änderung brauchen von nur 2 Prozent eine gewaltige Turbulenz nicht nur in
wir auch nur für die Mitglieder der Euro-Zone, sodass der Euro-Zone verursacht hat, sondern auch den Dollar-
Staaten, die heute noch Skepsis signalisieren – wie bei- raum und den Yenraum in Mitleidenschaft zu ziehen
spielsweise Großbritannien oder Tschechien –, davon drohte. Deswegen wird es notwendig sein, dass wir von
gar nicht betroffen wären. Es sollte also keiner so tun, als diesen Einzelfällen abstrahieren und generelle Verfahren
wäre eine Vertragsänderung ein Ding der Unmöglich- schaffen, wie wir Staaten, die eine untragbar hohe Ver-
keit. Im Gegenteil, wir müssen ohnehin dieses Verfahren schuldung haben, eine Umschuldung ermöglichen.
aufsetzen.
Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir auch
Wenn ich nun höre, Herr Steinmeier, dass der große ein sehr klares Signal an die Finanzmärkte senden. Die
Ehrgeiz besteht, zu noch weiter gehenden Vereinbarun- Finanzmärkte müssen wissen, dass Hilfen für Staaten,
gen zu kommen, als sie in der deutsch-französischen Er- die von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind, nicht noch
klärung von Deauville ihren unmittelbaren Ausdruck einmal gewährleistet werden können, ohne dass private
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7101
Thomas Silberhorn
(A) Gläubiger mit in die Haftung genommen werden. Erst abgestimmt werden. Drittens muss ein dauerhafter Kri- (C)
wenn wir dieses klare Signal an die Finanzmärkte sen- senmechanismus entwickelt werden. Diese drei Punkte
den, werden wir bewirken können, dass Unterschiede sind für uns wichtig.
zwischen den Schuldnern gemacht werden, dass natür-
lich bei unterschiedlicher Haushaltslage unterschiedliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Zinsen für staatliche Anleihen gezahlt werden müssen. der FDP)
Das bedeutet, dass Länder mit Haushaltsproblemen al- Zur Haushaltsdisziplin: Das Volumen des Rettungs-
lein dadurch zu haushaltspolitischer Disziplin angehal- schirms macht deutlich, dass die Währungsunion nicht
ten würden. Zugleich müssen die Gläubiger wissen, dass noch einmal mit solchen Beträgen stabilisiert werden
sie für höhere Zinsen auch ein höheres Risiko eingehen, kann. Es muss klar das Ziel sein, solche Krisen zu ver-
das sie dann tragen müssen, wenn es schiefgeht und sich meiden oder zumindest die Wucht einer solchen Krise
das Risiko realisiert. abzubremsen.
Dieser Marktmechanismus entfaltet mindestens ge- Die Situation der öffentlichen Haushalte in Europa ist
nauso disziplinierende Wirkung wie die Verankerung au- schwierig. Die Zahlen der EU-Statistikbehörde aus der
tomatischer Sanktionen im Stabilitäts- und Wachstums- letzten Woche kommen klar zu einem unschönen Ergeb-
pakt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir die nis: Fast in allen EU-Staaten stieg das Staatsdefizit auf
Beteiligung von privaten Gläubigern durchsetzen. Wir Höhen, die vor der Krise unvorstellbar waren.
haben dazu jetzt schwierige Verhandlungen vor uns; aber
die Alternative für uns kann nicht sein – aus politischen Es gibt viele Gründe für die Krise. Dazu gehört das
wie aus juristischen Gründen –, in eine Transferunion zu staatliche Regierungshandeln in den USA. Aber es gab
marschieren, nicht nur weil wir die größten Garantiege- auch andere Gründe für die Krise. Wenn Shareholder-Va-
ber sind, sondern weil insgesamt die Stabilität der Euro- lue oder Bonuszahlungen die einzigen Erfolgskriterien
Zone auf dem Spiel steht. sind und sich die Freiheit von der Verantwortung löst,
dann darf das Risiko nicht zulasten Dritter bzw. des Steu-
Deswegen ist es jetzt an der Zeit, die notwendigen erzahlers gehen. Das muss in Zukunft verhindert werden.
Vertragsänderungen vorzunehmen und insbesondere den Dafür ist dringend ein funktionsfähiger Ordnungsrahmen
privaten Sektor bei der Übernahme von Garantien, wenn erforderlich: effiziente Aufsicht, mehr Transparenz und
es schiefgeht, mit einzubeziehen. bessere internationale Zusammenarbeit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der FDP)
(B) Zunächst müssen aber alle Länder der Euro-Zone ihre (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Defizite reduzieren. Denn sie sind Ursache und Anlass
Der nächste Redner ist der Kollege Bernhard Schulte- für Spekulationen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt
Drüggelte für die CDU/CSU-Fraktion. hat entgegen den Erwartungen nicht ausgereicht, die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Staatsverschuldung einzudämmen. Damit ist das Erfor-
der FDP) dernis einer grundlegenden Reform erkennbar gewor-
den. Aber das bedeutet keine Aufweichung, sondern eine
Verstärkung der Stabilitätskriterien.
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Die Koalition setzt sich in ihrem Antrag für die Stär-
legen! Im Mai haben wir uns an dieser Stelle neben Grie- kung von präventiven Maßnahmen ein. Ziel ist eine aus-
chenland auch mit dem europäischen Stabilisierungsme- geglichene Haushaltsführung. Denn zu einer Eröffnung
chanismus beschäftigt und auch darüber verständigt. Das eines Defizitverfahrens soll es erst gar nicht kommen.
heißt, die eine Seite des Hauses hat sich verständigt. Die Das ist zwar eine Idealvorstellung, aber es ist auch das
andere Seite des Hauses – die Linke und die SPD – hat Ziel der Maastricht-Verträge.
sich verantwortungslos gedrückt. Wenn aber Vorgaben nicht eingehalten werden, dann
Es war eine schnelle, aber auch eine einmalige Ent- müssen schnell weitere Sanktionen folgen. Vorschläge
scheidung. Die Maßnahmen des Rettungsschirms wer- aus verschiedenen Bereichen liegen vor. Ich hoffe, dass
den im Sommer 2013 auslaufen. Eine solche Maßnahme auf dem EU-Gipfel nicht nur debattiert, sondern auch
kann und darf nicht zur Dauereinrichtung werden. zügig entschieden wird.
Krisen markieren aber auch Wendepunkte. Die Frage Aber über eines bin ich mir natürlich auch klar – Herr
ist nun, wie künftig verfahren werden soll. Wie kann Finanzminister Schäuble hat es gesagt; es gibt Politiker,
eine Situation verhindert werden, wie wir sie im Früh- die sich in Europa auskennen –: Wer annimmt, bei 27 Mit-
jahr erleben mussten? Aus dieser Krise müssen Konse- gliedern könne die Position Deutschlands zu 100 Prozent
quenzen gezogen werden. durchgesetzt werden, dem fehlt es an Verständnis für Eu-
ropa. – So einfach wird es also nicht sein, aber eine Leit-
Ich möchte drei Bereiche ansprechen, in denen Kon- planke müssen wir deutlich setzen: Es darf nicht sein, dass
sequenzen zu ziehen sind: Erstens. Die Haushaltsdiszi- die Währungsunion zu einer Transferunion wird. Das leh-
plin muss durch strengere Regeln unterstützt werden. nen wir entschieden ab.
Zweitens. Die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken der
europäischen Mitgliedstaaten müssen besser aufeinander (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
7102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Bernhard Schulte-Drüggelte
(A) Es sollte selbstverständlich sein, dass verantwortlich ist völlig klar; aber ich möchte Professor Fuest zitieren, (C)
handelnde Regierungen, die betroffenen Mitgliedstaaten der in der letzten Woche im Handelsblatt gesagt hat:
in der Europäischen Union auch die Haftung für getrof- Merkel hat besser verhandelt, als die Kritiker glauben. –
fene Fehlentscheidungen übernehmen. Auf diesem Weg werden wir die Kanzlerin auch weiter
unterstützen, auch wenn er steinig sein sollte.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Auch die Wirt-
schafts- und Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Es ist an
ein „Europäisches Semester“ gedacht, das erstmals 2011 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
eingeführt wird und die Elemente der finanz- und wirt- Ich schließe die Aussprache.
schaftspolitischen Überwachung besser und wirksamer
im Sinne eines Frühwarnsystems koordinieren soll. Als Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.
Haushälter möchte ich sagen: Natürlich darf nicht in das Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
Budgetrecht der nationalen Parlamente eingegriffen wer- tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3408.
den. Dieser Punkt ist aus meiner Sicht nicht zu verhan- Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegen-
deln. stimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Länder muss in
Zukunft anhand ausgewählter Indikatoren besser über- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
wacht werden; denn in den letzten Jahren haben sich die Die Linke auf Drucksache 17/3412? – Gegenstimmen? –
Relationen zwischen den Volkswirtschaften verändert, Enthaltungen? – Dann ist der Entschließungsantrag der
auch innerhalb der Euro-Zone und innerhalb Europas. Linken mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
Da bleiben Spannungen natürlich nicht aus, doch es der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
bleibt unverzichtbar, Verantwortung auch für einen län- Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
geren Zeitraum zu übernehmen. Grünen abgelehnt.1)
Das führt zum nächsten Punkt, zum dauerhaften Kri- Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
senmechanismus. Die Europäische Union sowie die na- Die Grünen auf Drucksache 17/3425 soll überwiesen
tionalen Regierungen dürfen zukünftig nicht wieder werden, und zwar zur federführenden Beratung an den
durch eine Dynamik krisenhafter Ereignisse zu kurzfris- Haushaltsausschuss und zur Mitberatung an den Finanz-
tigen Maßnahmen gezwungen werden. Wir waren da- ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie sowie den Ausschuss für die Angelegenheiten der
(B) mals gezwungen und hatten kaum eine andere Chance. Europäischen Union. Sind Sie damit einverstanden? – (D)
Deshalb muss ein glaubwürdiger Krisenmechanismus
entwickelt werden, der aber nicht nur aus rechtlichen Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Regeln bestehen darf, sondern auch die Kräfte der Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Märkte nutzt, damit die Staaten Verschuldung vermei-
den. Ich möchte deutlich betonen, was in der letzten Befragung der Bundesregierung
Zeit, auch in der Presse, diskutiert worden ist: Das Bail- Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
out-Verbot muss bestehen bleiben. Kein Land darf binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Schulden für ein anderes Land übernehmen. Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren
(Beifall bei der CDU/CSU) Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Ände-
rung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vor-
In diesem Zusammenhang möchte ich das aufgreifen, schriften.
was die Vorredner gesagt haben: Auch die Gläubiger
hochverschuldeter Staaten müssen sich künftig an der Das Wort für den einführenden fünfminütigen Bericht
Sanierung finanziell beteiligen. hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Thomas de
Maizière.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann ma-
chen Sie doch mal was!) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
Das Stichwort heißt „Haircut“. Ein geordnetes Entschul- nern:
dungsverfahren für diese Staaten muss möglich sein, und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
es muss möglich sein, auch die Gläubiger heranzuzie- Bundesregierung hat heute den von mir eingebrachten
hen. Das ist die klare Ausrichtung für eine künftige Ent- Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangshei-
wicklung. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das rat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
Prinzip von Risiko und Haftung muss stärker zur Gel- sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrecht-
tung gebracht werden. licher Vorschriften beschlossen. Mit diesem Gesetzent-
wurf werden mehrere aufenthaltsrechtliche und integra-
(Beifall bei der CDU/CSU) tionspolitische Vorhaben umgesetzt, auf die sich die
Das wird nach allem, was zu hören und zu lesen ist, Koalitionspartner im Koalitionsvertrag verständigt ha-
nicht ohne Vertragsveränderungen möglich sein. Ich ben. Den Schwerpunkt bilden verbesserte Regelungen
habe den Eindruck, dass die Bundesregierung hier auf
einem guten Weg ist. Dass dieser Weg nicht einfach ist, 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7103
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière des Innern
Bundesminister
(A) zur Bekämpfung der Zwangsheirat einerseits und zum Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Regelun- (C)
Schutz der Opfer von Zwangsheirat andererseits. gen, die die Kontrolle der Einhaltung von Integrations-
verpflichtungen verbessern sollen. Deutsche Sprach-
Zwangsheirat ist auch in Deutschland ein ernst zu neh- kenntnisse und Alltagswissen sowie Kenntnisse der
mendes Problem, das in den letzten Jahren verstärkt in den deutschen Rechtsordnung, Kultur und Geschichte sind
Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist. Um Zwangshei- der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration von Aus-
rat stärker als bisher als strafwürdiges Unrecht zu ächten, ländern in Deutschland. Diese Kenntnisse werden in In-
soll mit dem Gesetz ein eigener Straftatbestand geschaf- tegrationskursen vermittelt, deren Besuch unter den im
fen werden. Dadurch bringt der Gesetzgeber klar zum Aufenthaltsgesetz genannten Voraussetzungen für etli-
Ausdruck, dass Zwangsheirat als schweres Unrecht zu che Zuwanderer verpflichtend ist.
verurteilen ist.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Ver-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE pflichtung der Ausländerbehörden noch einmal aus-
GRÜNEN]: So wie bisher!) drücklich normiert, vor Verlängerung einer Aufenthalts-
erlaubnis festzustellen, ob ein Ausländer seiner Pflicht
Er tritt damit gleichzeitig der Fehlvorstellung entgegen,
zur ordnungsgemäßen Integrationskursteilnahme auch
es handele sich um eine zumindest tolerable Tradition
wirklich nachgekommen ist. Dies ist deshalb wichtig,
aus früheren Zeiten oder anderen Kulturen. Durch einen
weil die Verletzung dieser Pflicht aufenthaltsrechtliche
neuen Absatz wird auch die Verschleppung zum Zweck
Sanktionen bis hin zur Ablehnung von Anträgen auf Ver-
der Zwangsheirat unter Strafe gestellt. Insofern dient
längerung von Aufenthaltserlaubnissen im Wege eines
diese Neuregelung einer allgemeinen integrationspoli-
pflichtgemäßen Ermessens nach sich ziehen kann.
tischen Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Wir müssen
deutlich machen, dass Zwangsheiraten nicht mit unserer Außerdem werden in dem Gesetzentwurf Datenüber-
Werteordnung vereinbar sind. Wir müssen dafür sorgen, mittlungsregelungen im Zusammenhang mit der Durch-
dass unsere Werteordnung stärker als bisher als ver- führung von Integrationsmaßnahmen gesetzlich geregelt,
pflichtend wahrgenommen wird. die bislang nur in einer Rechtsverordnung, der Integra-
tionskursverordnung, enthalten sind. Es gibt viele, die an
Der Entwurf sieht weiter die Schaffung eines eigen- diesem Thema mitarbeiten, insbesondere die Träger von
ständigen Wiederkehrrechts vor. Wir wollen die Opfer Integrationskursen, die Ausländerbehörden, die Bundes-
von Zwangsheirat besserstellen. Dies dient der Verbesse- agentur für Arbeit, Argen und Optionskommunen. In die-
rung der aufenthaltsrechtlichen Stellung ausländischer sen Fällen muss der Austausch darüber, ob jemand an ei-
Opfer von Zwangsverheiratungen, die sich als Minder- nem Integrationskurs teilgenommen hat – wenn nicht, aus
jährige in Deutschland aufgehalten haben und nach der welchen Gründen –, verbessert werden, sodass man die
(B) Zwangsheirat an der Rückkehr nach Deutschland gehin- entsprechenden Konsequenzen ziehen kann. (D)
dert werden. Voraussetzung für die Inanspruchnahme
dieses Wiederkehrrechts ist eine starke Vorintegration in Das sogenannte aufenthaltsrechtliche Paket verdeut-
Deutschland oder eine positive Integrationsprognose. Es licht in besonders guter Weise die Mischung im Bereich
gibt also zwei Möglichkeiten in diesem Zusammenhang. von Migration und Integration, von Fördern und For-
Des Weiteren wird die Antragsfrist zur Aufhebung einer dern. Das Gesetzgebungsverfahren geht mit dem heuti-
Zwangsehe verlängert, damit die Opfer von Zwangshei- gen Tage los.
rat mehr Zeit haben, sich von dem Druck zu lösen und
einen entsprechenden Antrag zu stellen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Ich habe jetzt
Ein ernst zu nehmendes aufenthaltsrechtliches Pro-
eine ganze Palette von Wortmeldungen. Ich habe sie so
blem ist die Eingehung einer Ehe ausschließlich zu dem
aufgeschrieben, wie sie mir zur Kenntnis gekommen
Zweck, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, eine soge-
sind.
nannte Scheinehe. Die Mindestbestandszeit einer Ehe,
die erforderlich ist, um ein eigenständiges Aufenthalts- Wir fangen an mit der Kollegin Humme von der SPD-
recht zu begründen, wird deshalb von zwei auf drei Jahre Fraktion.
verlängert. Damit wird der Anreiz zur Schließung von
Scheinehen verringert und die Wahrscheinlichkeit der Christel Humme (SPD):
Aufdeckung einer Scheinehe erhöht. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr de Maizière, es
Schließlich werden die Regelungen für die räumliche ist richtig, dass wir gemeinsam das Ziel haben, Zwangs-
Beschränkung von Asylbewerbern und Geduldeten gelo- verheiratungen zu bekämpfen. Sie wollen das mit der
ckert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, ei- Schaffung eines eigenen Straftatbestandes tun. Nach
ner Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbe- § 240 Strafgesetzbuch ist es zurzeit so, dass bei einer
such in einem Gebiet zu erleichtern, das nicht von der Zwangsverheiratung ein Fall von schwerer Nötigung
jetzigen aufenthaltsbeschränkenden Maßnahme erfasst vorliegt. Dafür vorgesehen ist ein Strafmaß von sechs
ist. Monaten bis zu fünf Jahren. Ist es eigentlich eine Hilfe
für Zwangsverheiratete, wenn das Strafmaß erhöht wird?
Das ist eine Regelung, die für Ballungsgebiete und Ist es nicht eine größere Hilfe, wenn die Strafverfolgung
auch länderübergreifend gedacht ist und etwa im Groß- verbessert wird? Was ist an dieser Stelle geplant? Wel-
raum Berlin, im Großraum Hamburg, im Großraum Bre- che Erkenntnisse haben Sie in der Vergangenheit darüber
men helfen wird. gewonnen, dass die Strafverfolgung so schwierig war?
7104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- haben das damals sogar mit der FDP gemacht. Was also (C)
nern: veranlasst die Regierung, zu glauben, mit einer Verlän-
Frau Abgeordnete Humme, meines Erachtens ist es gerung der Frist um ein Jahr würden Sie diesem Phäno-
falsch, das als Alternativen zu sehen. Rechtspolitisch men besser begegnen können?
macht es einen Unterschied, ob ein Unterfall der Nöti-
gung vorliegt oder ob man der deutschen und der inter- Wenn ich das sagen darf: Ich persönlich habe dieses
nationalen Öffentlichkeit mit einem eigenen, auch so be- Ansinnen auch in Zeiten der Großen Koalition immer als
nannten Paragrafen deutlich macht: Wir wollen in eine sittlich nicht ganz gerechtfertigte Verbindung
Deutschland freiwillige Verheiratung und keine Zwangs- zweier unterschiedlicher Sachverhalte angesehen, die
heirat. Das ist rechtspolitisch ein gewichtiger Unter- deswegen auch nicht zu einem faulen Kompromiss ver-
schied, auch wenn das Strafmaß in diesem Fall nicht er- bunden werden konnten.
höht werden soll. Zugleich wird in einem weiteren Bei aller Freude also diese leichte Eintrübung und die
Absatz festgestellt: Auch die Verschleppung von Perso- daraus abgeleitete Frage: Warum jetzt wieder diese Kop-
nen für eine Zwangsheirat ist strafbar. Ich glaube, das pelung?
dient der rechtspolitischen Klarheit und ist ein Fort-
schritt. Die Frage der Strafverfolgung ist davon zu tren-
nen. Sie wissen, die Länder sind dafür zuständig. Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:
Sie fragen, warum die Verfolgung so schwierig ist.
Das liegt exakt an der Zwangslage der Frau und an den Ich freue mich, dass Sie zu einigen dieser Regelungen
schwierigen Beweislagen zur Aufklärung einer Straftat, eine Zustimmung in Aussicht stellen. Es tut gut, wenn
die innerhalb der Familie stattfindet. Wie Sie wissen, ist man in diesen Fragen in beiden Kammern Deutschlands
das vor etlichen Jahren beim Thema „Vergewaltigung in eine große Mehrheit zustande bringt.
der Ehe“ diskutiert worden, also bei einer sehr ähnlichen Was uns veranlasst hat, dies zusammen zu regeln,
Fragestellung. Man sollte den Opfern nicht vorwerfen, wissen Sie natürlich selbst. Sie kleiden Ihre These nur in
dass sie nicht gleich einen Strafantrag stellen; sie sind ja eine Frage; das ist verständlich.
einem bestimmten Zwang ausgesetzt, und sie halten sich
oft im Ausland auf. Deswegen lässt sich aus einer man- (Rüdiger Veit [SPD]: Die Frage ist ganz ein-
gelnden Verfolgungsmöglichkeit nicht der Rückschluss fach!)
ziehen, dass wir diesen Straftatbestand nicht ernst neh-
men oder nicht angemessen bezeichnen sollten. Vielmehr Aber ich will gern Folgendes sagen: Für uns ist der
brauchen wir beides: einen klaren Straftatbestand und Schutz der Ehe wichtig, nicht nur weil das im Grundge-
(B) eine ordnungsgemäße und zügige Strafverfolgung. setz steht, sondern aus innerer Überzeugung. Wir haben (D)
auch Verständnis dafür, dass man, wenn Ehen zwischen
jemandem, der in Deutschland lebt, und jemandem, der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
im Ausland lebt, zustande gekommen sind, einen Ehe-
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Jetzt hat der gattennachzug organisiert. Denn Ehepartner sollen zu-
Kollege Rüdiger Veit das Fragerecht. sammenleben können und dürfen. Das Problem ist nur,
dass diese sinnvollen und vernünftigen Maßnahmen zum
Rüdiger Veit (SPD): Schutz der Ehe missbraucht worden sind und ständig
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich missbraucht werden, um in Wahrheit einen ungesteuer-
möchte meiner Frage ein anerkennendes Wort voranstel- ten Zuzug nach Deutschland zu organisieren, und dies
len, indem ich sage: Das Rückkehrrecht für Opfer von unter Missachtung der Rechte der Frauen. Das wollen
Zwangsheirat, aber beispielsweise auch Erleichterungen wir verhindern. Das ist immer ein Optimierungsproblem.
bei der Residenzpflicht für Geduldete sind durchaus Deswegen die Regelung bezüglich der Zwangsheirat.
Schritte in die richtige Richtung. Dazu haben wir auch Das ist ein Baustein, der unter bestimmten Vorausset-
als SPD-Fraktion bereits an einem eigenen Gesetzent- zungen auch ein Rückkehrrecht für die Opfer vorsieht.
wurf gearbeitet. Es freut uns, dass wir dabei jetzt offen-
bar auf einen Nenner kommen. Ich verrate auch kein Ge- In diesem Zusammenhang will ich auch das Eingehen
heimnis, wenn ich sage, dass wir in der Großen einer Scheinehe nennen, einer Ehe, die den Zweck hat,
Koalition an diesem Problem auch schon gearbeitet ha- dass anschließend ein Ehepartner – in der Regel ist dies
ben. Damit leite ich zu meiner Frage über. eine Frau – ein eigenständiges Aufenthaltsrecht be-
kommt. Ist die Frist sehr kurz, so ermuntern Sie manche
Bei aller Freude über dieses Aufeinander-Zugehen dazu, die vernünftigen Regelungen, die es gibt, damit
habe ich kritisch zu fragen: Was veranlasst Sie als Per- Ehepartner zusammenleben können, zu missbrauchen,
son oder auch die Koalition – vielleicht können Sie auf- wodurch es zu einer Zuwanderung nach Deutschland
grund der Verhandlungen, die vorausgegangen sein wer- kommt, die so nicht beabsichtigt war.
den, sogar für die FDP mit antworten –, jetzt zu sagen:
„Scheinehen könnten dadurch besser vermieden werden, Insoweit ist die Frist von drei Jahren besser als eine
dass die für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehe- Frist von zwei Jahren. Wir gehen davon aus, dass gute
gatten erforderliche Ehebestandszeit von zwei auf drei Ehen in der Regel zwei bis drei Jahre und möglichst län-
Jahre heraufgesetzt wird“? Warum gerade drei Jahre? Im ger halten sollten. Je kürzer eine Ehe ist, desto stärker ist
Jahr 2000 haben wir die Frist von vier auf zwei Jahre he- dies ein Indiz dafür, dass die Ehe vielleicht aus ganz be-
runtergesetzt, und dies aus gutem Grund. Ich glaube, wir stimmten Gründen eingegangen worden ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7105
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière des Innern
Bundesminister
(A) Insoweit finde ich drei Jahre besser als zwei, und drei Die Frage der Beweisführung und des Opferschutzes (C)
Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und vier Jah- ist in allen Fällen schwierig. Wir haben mit diesem Ge-
ren. setzentwurf versucht, diesbezüglich einen vernünftigen
Ausgleich zu finden. Dass wir damit nicht alle Fälle er-
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fassen, ist sicherlich wahr. Denn wir haben es in dieser
Fallkonstellation – ich sage es einmal etwas hart – mit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verdecktem Elend zu tun, und die Aufdeckung wird
Vielen Dank. – Jetzt hat das Fragerecht die Kollegin manche Frau in eine doppelte Opferrolle bringen, weil
Sevim Dağdelen. sie womöglich aussagen muss; das kennen wir bereits
aus vielen anderen Bereichen des Strafrechts.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Trotzdem finden wir, dass wir in dieser Gesellschaft
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr klar sagen müssen, dass wir diese Art von archaischen
Minister, ich muss im Anschluss an die Frage des Kolle- Strukturen, diesen Missbrauch der Ehe in unserem Land
gen Veit nachfragen. Sie haben von Missbrauchsfällen und zum Zwecke des Erschleichens des Zugangs in un-
berichtet. Es wäre interessant, zu wissen, auf welcher ser Land nicht dulden wollen. Das ist die Aussage dieses
empirischen Grundlage diese Bundesregierung diese Entwurfs.
Aussagen macht, dass hier Missbrauch betrieben wird
und deshalb die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
verlängert werden soll. Den Deutschen Bundestag haben Danke schön. – Der nächste Fragesteller ist der Kol-
in den letzten Jahren sehr viele Praktikerinnen und Prak- lege Memet Kilic.
tiker sowie Expertinnen und Experten über die Zwangs-
situation der Frauen unterrichtet. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir haben in der letzten Wahlperiode, als Sie nicht In- Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr
nenminister waren, mit Ihrem Vorgänger, Herrn Bundesinnenminister, ich habe im Juli einen Antrag zur
Schäuble, im Bundestagsinnenausschuss Anhörungen Verbesserung der Rechte von zwangsverheirateten Per-
zum Thema Zwangsverheiratung durchgeführt; auch im sonen gestellt. Ich kann mit Freude feststellen, dass die
Familienausschuss fanden dazu Anhörungen statt. Dabei Koalition über ihren Schatten gesprungen ist und sich
wurde immer wieder von Expertinnen und Experten Fol- auf einem Gebiet – ich meine die Rückkehrrechte von
gendes gefordert: Wenn man den Opferschutz tatsächlich Zwangsverheirateten – Bewegung abzeichnet. Ich hoffe,
möchte – von diesem haben Sie gerade gesprochen –, dass es bis zum Ende so bleibt und dass Herr Grindel
(B) dann sollte man die Ehebestandszeit nicht verlängern, auch weiterhin zustimmt. (D)
sondern eher reduzieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Das steht im Koali-
tionsvertrag!)
Ich komme zu meiner eigentlichen Frage zum Thema
Opferschutz: Inwieweit wird die Bundesregierung die Das wird auch so bleiben, denke ich.
vom Forum Menschenrechte geforderten Verbesserun-
gen im Opferschutz umsetzen, beispielsweise Regelun- Würden Sie mir zustimmen, dass Verschleppung be-
gen im Melderecht schaffen, die verhindern, dass ein reits nach heute geltendem Recht strafbar ist? Das ist
bundesweiter Zugriff auf die Daten von bedrohten oder schließlich Freiheitsberaubung. Wenn Sie diese Verbes-
von Zwangsverheiratung betroffenen Personen möglich serung damit begründen, ist es womöglich nicht richtig.
wird, sodass nicht der Mann über das Scheidungsverfah- Würden Sie mir auch zustimmen, dass Zwangsverhei-
ren oder das gerichtliche Umgangs- und Sorgerechtsver- ratung in Deutschland bereits seit Jahren aufgrund von
fahren am Amtsgericht den Wohnort der jungen Frau § 240 des Strafgesetzbuches verboten ist? Und würden
herausfinden kann und damit alle Anonymisierungsbe- Sie mir auch zustimmen, dass die damalige rot-grüne
mühungen zunichte gemacht werden? – Ich hoffe, Sie Bundesregierung diese zu einem besonders schweren
haben die Frage verstanden. Wenn nicht, kann ich sie Fall der Nötigung erklärt und ein Strafmaß von bis zu
wiederholen. fünf Jahren vorgesehen hat?
Sie sehen allerdings in der Tat ein Novum vor. Denn
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- Sie sagen: In minderschweren Fällen wird das Strafmaß
nern: sechs Monate bis drei Jahre betragen. Ich würde sagen:
Ich möchte, ehrlich gesagt, jetzt nicht im einzelnen zu Genauso wenig wie es „ein bisschen Schwangerschaft“
Forderungskatalogen von noch so ehrwürdigen Organi- gibt, so wenig gibt es auch „ein bisschen Zwangsverhei-
sationen Stellung nehmen; das kann gerne im Gesetzge- ratung“. Wie also soll man sich minderschwere Fälle bei
bungsverfahren geschehen. Zwangsverheiratung vorstellen, wofür das niedrigere
Strafmaß vorgesehen ist?
Das Melderecht enthält bestimmte Auskunftsrechte,
welche jedermann zur Verfügung stehen. Nun in Bezug Ein weiterer Bereich ist: Sie wollen die Zahlen bezüg-
auf Ihre Fallkonstellation eine spezifische Auskunftsein- lich der Verweigerung der Teilnahme an Integrations-
schränkung vorzunehmen, scheint meiner Meinung nach kursen ermitteln. Aber Sie haben schon im Vorhinein
problematisch zu sein; darüber können wir allerdings erklärt, dass 10 bis 15 Prozent der Immigranten Integra-
gerne im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reden. tionsverweigerer sind. Danach haben Sie versucht, zu-
7106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Memet Kilic
(A) rückzurudern; aber das ist nicht gelungen. Ihre Antwort worden. Aber das war immer meine Aussage, und dabei (C)
auf eine schriftliche Frage von mir belegt Ihre Aussage bleibt es auch.
nicht.
Was die Frage des Abbruchs der Teilnahme an Inte-
Nach unseren Erkenntnissen besuchen die Immigran- grationskursen angeht, so ist es wahr: Viele Gründe kön-
ten die Integrationskurse. 140 000 nehmen zurzeit daran nen ausschlaggebend dafür sein. Ungefähr 30 Prozent
teil, 9 000 warten darauf. Bis Ende dieses Jahres werden der Teilnehmer brechen einen Integrationskurs ab oder
es 20 000 Immigranten sein. bringen ihn nicht erfolgreich zum Abschluss. Das kann
viele Ursachen haben: Man findet Arbeit, der Ehepartner
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verbietet vielleicht die Teilnahme, es liegt eine Krank-
Herr Kollege Kilic. heit vor, ein Kind wird krank und vieles andere. Es kann
aber auch Integrationsunwilligkeit sein. Bisher haben
wir diesbezüglich keine klaren Erkenntnisse. Weder die
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausländerbehörden noch die Argen und Optionskommu-
Ich komme sofort zum Schluss. – Die Leute, die die nen haben das bislang verfolgt und sich ausführlich da-
Teilnahme an den Kursen abbrechen, haben unterschied- mit befasst.
liche Gründe: Es können gesundheitliche Gründe sein,
oder sie finden einen Job; in dem Fall müssen sie den In- Wir wollen, dass sich das ändert. Erstens muss ein
tegrationskurs sogar abbrechen und dem Job den Vor- Datenaustausch zwischen dem Träger eines Kurses und
rang geben. Würden Sie also die Zahl korrigieren und den zuständigen Behörden möglich werden. Zweitens
sagen, dass nicht 10 bis 15 Prozent der Immigranten in- wollen wir, dass die Ausländerbehörden gezwungen
tegrationsunwillig sind? werden, darauf zu achten, woran es gelegen hat, wenn
ein dazu Verpflichteter nicht an einem Integrationskurs
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- teilgenommen hat. Dann muss im Wege des pflichtge-
nern: mäßen Ermessens entschieden werden, ob deswegen die
Ich beginne einmal mit Ihrer ersten Frage. Wenn Er- Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt oder nicht verlän-
gänzungen nötig sind, bitte ich Herrn Stadler, diese vor- gert wird.
zunehmen; denn das Justizministerium ist ja für das (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Strafrecht zuständig. GRÜNEN]: Das ist schon geltende Rechts-
Man könnte sehr viele Paragrafen des Strafrechts lage!)
streichen und alles unter Beleidigung und Nötigung fas- Es gibt da keinen Automatismus, sondern im Wege des
sen. Wir haben vor einiger Zeit das Stalking, die unange- pflichtgemäßen Ermessens muss berücksichtigt werden, (D)
(B)
messene Belästigung, als Straftatbestand eingeführt. dass es unterschiedliche Gründe dafür geben kann, der
Auch das ist eine Art Nötigung. Ich finde – ich wieder- Verpflichtung der Teilnahme an einem Integrationskurs
hole das noch einmal; ich habe es der Kollegin Humme nicht nachgekommen zu sein.
schon gesagt –, es macht einen Unterschied, ob ich von
einem noch so gewichtigen Unterfall der Nötigung spre- Dass wir hier offensichtlich ein Vollzugsdefizit ha-
che oder ob ich im In- und Ausland sage: Wir wollen ben, scheint mir unstreitig zu sein. Ich werde mit meinen
keine Zwangsheirat. – Das ist ein großer rechtspoliti- Kollegen Innenministern noch darüber zu reden haben,
scher Unterschied. Es dient der Systematisierung und woran das liegt. Aber das Argument, wir könnten be-
der Transparenz, auch im Hinblick auf das gesellschaftli- stimmte Sachen nicht machen, um das Vollzugsdefizit zu
che Unwerturteil. Deswegen haben wir das heute so be- beheben, etwa weil wir die Daten nicht austauschen
schlossen. dürften, möchte ich durch diesen Gesetzentwurf entkräf-
ten.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe nicht gesagt, dass
nach meiner Schätzung 10 bis 15 Prozent aller Migran-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ten integrationsunwillig sind. Vielmehr habe ich gesagt,
dass 10 bis 15 Prozent der hier lebenden Muslime inte- Der nächste Fragesteller ist der Kollege Josef
grationsunwillig sind. Winkler.
(Caren Marks [SPD]: Das verschlimmbessert (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
es!) Justizministerium wollte noch antworten!)
Das ist eine Schätzung, die ich vorgenommen habe. Ich – Entschuldigung! Es bedarf noch einer weiteren Ant-
habe das auch ausdrücklich so vorgetragen. Das ist eine wort. Herr Kollege Dr. Stadler, bitte.
Schätzung, die sich aus der großen Studie „Muslimi-
sches Leben in Deutschland“ herleitet, die im Zusam- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
menhang mit der Deutschen Islam-Konferenz in der letz- ministerin der Justiz:
ten Legislaturperiode entstanden ist. Ein paar Indizien Herr Kollege Kilic, zu Ihren strafrechtlichen Fragen
aus dieser Studie – zum Beispiel Nichtteilnahme am darf ich noch auf Folgendes aufmerksam machen: Zu-
Sportunterricht, auch Selbstaussagen von Betroffenen – nächst einmal sind wir alle uns sicherlich einig, dass es
bringen mich zu der Aussage, die ich in Bezug auf Mus- ein elementares Menschenrecht ist, selber frei zu ent-
lime – nicht auf die Gesamtheit der Migranten – getrof- scheiden, ob man eine Ehe eingeht und, wenn ja, mit
fen habe. Das ist von interessierter Seite anders berichtet wem.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7107
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(A) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: richterlichen Praxis überlassen, das zu definieren. Von (C)
So ist es!) der Gesetzgebung her meinen wir aber, dass das der sel-
tene Ausnahmefall sein wird. So ist es auch in der Be-
Dass dieses elementare Menschenrecht durch die gründung dargestellt.
Rechtsordnung, auch durch das Strafrecht, geschützt
werden muss, ist unstreitig. Hinzu kommt jetzt, dass es
beim Rückkehrrecht Verbesserungen für die Opfer gibt; Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das hat Herr Minister de Maizière ausgeführt. Vielen Dank. Das war auch für Nichtjuristen eine
kleine Lehrstunde.
Die Koalition aus SPD und Grünen hat das, was die
strafrechtliche Seite angeht, übrigens genauso gesehen, Das Fragerecht hat jetzt der Kollege Josef Winkler.
da sie beim Nötigungstatbestand die Zwangsverheira-
tung als besonders schweren Fall definiert hat. Das Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
taucht spiegelbildlich im neuen Grundtatbestand des NEN):
§ 237 Abs. 1 auf. Insofern gibt es hier sicherlich keiner-
lei Differenz. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesinnen-
minister, im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass die
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Verlängerung der Ehebestandszeit zur Erlangung eines
GRÜNEN]: Das bringt nur nichts!) eigenständigen Aufenthaltstitels von zwei auf drei Jahre
geprüft werden soll. Uns würde interessieren, was bei
Hinzu kommt jetzt, dass wir auch andere Tatmodalitäten dieser Prüfung herausgekommen ist; denn Sie haben sich
unter Strafe stellen, die zum Teil im Strafgesetzbuch ver- für einen Zeitraum von drei Jahren entschieden. Der Be-
streut, in anderen Vorschriften erfasst waren, zum Teil gründung des Gesetzentwurfs entnehme ich dazu nur die
aber auch nicht. Das betrifft das Verbringen des Opfers Formulierung, dass Wahrnehmungen aus der ausländer-
ins Ausland zum Zweck der Begehung der Tat. behördlichen Praxis darauf hindeuten, dass die Verkür-
zung der Mindestehebestandszeit auf zwei Jahre zu einer
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle geführt hat. Nun
Freiheitsberaubung!) besteht aber ein Unterschied zwischen Verdachtsfällen,
Soweit dies durch Gewalt geschieht, ist es als Verschlep- bei denen Wahrnehmungen darauf hindeuten, dass ihre
pungstatbestand erfasst. Darüber hinaus gibt es den Be- Zahl zugenommen hat, und tatsächlichen Fällen. Das Er-
griff der Drohung mit einem empfindlichen Übel – das gebnis Ihrer Prüfung halte ich daher auch in Anbetracht
war bisher Nötigung –, aber auch die Verbringung ins der Tatsache, dass Sie den Sachverhalt ernsthaft prüfen
wollten, für nicht besonders stichhaltig.
(B) Ausland durch List. Es ist schon fraglich, ob das von den (D)
bestehenden Strafgesetzen wirklich erfasst wird. Die Ich möchte Sie noch zu einem anderen Punkt fragen,
neue Regelung dient auch der Rechtsklarheit, weil dies und zwar zur Regelung für die Wiedereinreise. Plant die
alles jetzt in einer einzigen Vorschrift zusammengefasst Bundesregierung, für Personen, die von Zwangsverhei-
und somit eindeutig als strafwürdiges Verhalten gekenn- ratung nur bedroht sind und versuchen, dieser zu ent-
zeichnet ist. kommen, die Einreise nach Ablauf der Sechsmonatsfrist
Sie hatten die Frage aufgeworfen, ob minderschwere ebenfalls zu erleichtern, oder halten Sie diese Personen-
Fälle überhaupt denkbar seien, die nach unserem Ent- gruppe für nicht schutzbedürftig? Nach dem Wortlaut
wurf mit einem geringeren Strafrahmen bedacht sind, des Gesetzentwurfes gilt das Recht auf Wiedereinreise
nämlich mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei nur für bereits zwangsverheiratete Personen.
Jahren, während der Grundtatbestand wie im bisherigen
§ 240 Abs. 4 mit sechs Monaten bis fünf Jahren Frei- Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
heitsstrafe bestraft wird. Es ist eine bekannte Regelungs- nern:
technik im Strafgesetzbuch, dass vom Gesetzgeber bei Meine Antwort auf die erste Frage: Das Ergebnis der
vielen Straftatbeständen auch die Möglichkeit eines min- Prüfung ist der heute vorliegende Gesetzentwurf.
derschweren Falls vorgesehen ist. Wir sind uns einig,
dass bei dem Straftatbestand der Zwangsheirat vermut- Meine Antwort auf die zweite Frage: Die von Ihnen
lich eher selten ein minderschwerer Fall angenommen angesprochene Konstellation wird außerordentlich selten
werden kann; dies haben wir auch in die Begründung des sein. Das Rückkehrrecht bezieht sich auf Personen, ins-
Gesetzentwurfs geschrieben. Gleichwohl wollten wir der besondere Frauen und Minderjährige, die hier waren und
gerichtlichen Praxis diese Möglichkeit eröffnen. beispielsweise zur Ferienzeit mit List, mit Gewalt oder
auf andere Weise ins Ausland – ich sage es einmal neu-
Sie wissen, dass auch der Versuch strafbar ist, jeman- tral – verbracht werden, verheiratet werden und dann zu-
den ins Ausland zu verbringen. Die Tatmodalitäten stel- rückkehren können sollen. Wer hier ist und von Zwangs-
len sich in einer Gesamtwürdigung möglicherweise et- verheiratung nur bedroht ist, für den ist die
was anders dar als der Grundtatbestand. In die entsprechende Regelung nicht einschlägig. Dieser Fall
Gesamtbewertung – Herr Kollege Montag als Strafver- wird daher so gut wie nie eintreten.
teidiger weiß das – fließt auch die Persönlichkeit des Tä-
ters, die bisherige Unbescholtenheit und Ähnliches ein.
Daher kann es Fälle geben, in denen ein minderschwerer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Fall in Betracht kommt. Wir wollen es gerne der straf- Die nächste Frage stellt der Kollege Jerzy Montag.
7108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, ich weiß, dass Kollege Stadler.
Sie ein glänzender Jurist sind. Außerdem sind Sie für
diesen Gesetzentwurf verantwortlich. Deswegen er- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
laube ich mir, diese Frage, obwohl sie sich auf das Straf- ministerin der Justiz:
recht bezieht, erst einmal an Sie zu stellen. Wenn Sie Herr Kollege Montag, wir alle wissen, dass mit dem
mögen, können Sie die Beantwortung gern Herrn Staats- Straftatbestand der Nötigung die Willensentschließungs-
sekretär Stadler überlassen. freiheit strafrechtlich geschützt wird. Nun kann man sei-
Es geht um die Strafvorschriften, die Sie vorschlagen. nen Willen zu verschiedenen Handlungen oder Unterlas-
Insbesondere für das Strafrecht gilt: Wenn es nicht unab- sungen äußern. Ich habe es schon vorhin ausgeführt: Ich
weisbar nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es unabweis- finde, dass die Entscheidung, ob man eine eheliche Bin-
bar nötig, kein Gesetz zu machen. Nun stellen Sie eine dung eingeht und mit wem, ein so elementares Men-
Vorschrift vor, die bis auf Punkt und Komma – sowohl schenrecht ist, dass es durchaus gerechtfertigt ist, diese
was das Strafmaß als auch was die Textformulierung an- Entscheidung mit einer eigenen Norm unter strafrechtli-
belangt – dem seit fünf Jahren geltenden Recht ent- chen Schutz zu stellen, auch wenn Zwangsheiraten
spricht. Sie führen sozusagen nur eine Umetikettierung schon durch den Strafbestand der Nötigung, der viele an-
durch. Dafür muss es einen vernünftigen Grund geben. dere Sachverhalte mit erfasst, unter Strafe gestellt waren.
Ich frage Sie, ob Ihnen vielleicht Tatsachen bekannt Es geht hier um den Schutz von Mädchen und jungen
sind, die es unabdingbar machen, der Strafvorschrift eine Frauen im Hinblick auf ihre freie Willensentscheidung,
neue Überschrift zu geben, nämlich dass beispielsweise ob sie eine Ehe eingehen und mit wem.
die Polizeibehörden das bisherige Recht nicht richtig
kennen oder dass die Staatsanwaltschaften den besonde- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
ren Tatbestand der Nötigung nicht im Auge gehabt ha- GRÜNEN]: Darum ging es uns auch damals!
ben, sodass die Straftaten – es handelt sich ja nicht um Darum steht es ja unter Strafe!)
ein Antragsdelikt – nicht verfolgt worden sind. Was ist Das ist ein spezieller Fall. Die Freiheit der Eheschlie-
also außer der Umetikettierung der Grund dafür, dass Sie ßung ist nicht nur durch Art. 6 des Grundgesetzes ge-
die Strafvorschrift ändern? schützt, sondern auch durch die Europäische Menschen-
Der zweite Teil meiner Frage geht in die gleiche rechtskonvention und die UN-Menschenrechtscharta.
Richtung. Ich bin ein Freund der minderschweren Fälle; Deswegen halte ich es für eine durchaus gerechtfertigte
vorhin wurde ich darauf persönlich angesprochen. In al- Entscheidung, den Schutz dieser Freiheit im Strafgesetz-
(B) len Fällen, in denen eine Mindeststrafe von sechs Mona- buch gesondert zum Ausdruck zu bringen. (D)
ten vorgesehen ist, sollte es den Richtern möglich sein, Sie haben recht, dass der Strafrahmen der bisher gülti-
auch minderschwere Fälle zu judizieren. Fakt ist aber, gen Vorschrift zur Nötigung nach § 240 Abs. 4 Strafge-
dass Sie mit diesem Gesetzentwurf entgegen den Ver- setzbuch entnommen ist. Ich stimme Ihnen ebenfalls zu,
lautbarungen in der Presse die Strafvorschriften zur dass es zweckmäßig ist, den Richtern für die vielen Ein-
Zwangsverheiratung nicht verschärfen – Sie lassen sie zelfälle – man kann bei Verabschiedung eines Gesetzes
nicht einmal gleich –, sondern entschärfen, indem Sie gar nicht vorhersehen, was sich in der Praxis zuträgt –
diese minderschweren Fälle einführen. Das sollten Sie die Möglichkeit zu geben, das Strafmaß sachgerecht, auf
der Ehrlichkeit halber der Öffentlichkeit sagen. den jeweiligen Einzelfall bezogen festzulegen. Deshalb
sehen wir, dem Vorbild vieler anderer Straftatbestände
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- folgend, einen minderschweren Fall mit einem anderen
nern: Strafrahmen vor. Ich bin sicher, dass die Judikatur davon
in sachgerechter Weise Gebrauch machen wird.
Herr Abgeordneter, da wir alle – Sie, Herr Stadler und
ich – ordentliche Juristen sind, können wir das im Rah- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
men der Zuständigkeit beantworten. Ich würde deshalb Also senken Sie die Strafen!)
den ehemaligen Staatsanwalt Stadler bitten, zu antwor-
ten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich will nur eines vorweg sagen. Sie haben von einer Vielen Dank. – Eigentlich ist die Zeit für die Befra-
Umetikettierung gesprochen. Das klingt so herabwürdi- gung der Bundesregierung abgelaufen. Wenn Sie einver-
gend. Ich finde, das ist auch rechtspolitisch ein wichtiger standen sind, verlängere ich die Zeit dafür, und zwar auf
Punkt: Wie bezeichnen wir das, was wir allgemein für Kosten der Fragestunde, bei der die Zeit dann mögli-
strafwürdig halten? Ich finde, es ist rechtspolitisch ein cherweise nicht ganz ausgeschöpft werden kann. – Da-
gewichtiger Unterschied, ob wir Zwangsheiraten als ei- rüber scheint Einvernehmen zu bestehen.
nen Unterfall von Nötigung bezeichnen oder aber durch Die nächste Frage hat die Kollegin Heidrun Dittrich.
Schaffung einer eigenen Regelung zum Ausdruck brin-
gen: Wir wollen keine Zwangsheiraten.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich
GRÜNEN]: Ein Unterfall von Nötigung ist habe eine Detailfrage zum Schutz der Opfer von
Nötigung!) Zwangsverheiratungen. Nach dem Personenstandsgesetz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7109
Heidrun Dittrich
(A) muss eine Namensänderung in das Familienbuch einge- wissen aber selbst – schließlich haben Sie eine entspre- (C)
tragen werden, in das enge Angehörige Einsicht nehmen chende Nichtregierungsorganisation erwähnt –, dass wir
dürfen. Dadurch sind Betroffene extrem gefährdet. Im auf diesem Gebiet ein beträchtliches Problem in unserer
Notfall kann den Behörden jedoch die Bedrohungssitua- Gesellschaft haben.
tion einer Betroffenen dargelegt und so eine Eintragung
Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, diese Fälle aufzu-
des neuen Namens verhindert werden. Diese Prozedur
decken. Natürlich brauchen wir dafür die Mitarbeit Be-
ist jedoch schwierig. Es werden hohe Anforderungen an
troffener. Einige Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes
die Glaubhaftmachung einer Zwangsverheiratung oder
können wir aufzeigen, wie es wirkt. Es liegt aber in der
einer entsprechenden Bedrohung gestellt. Beabsichtigen
Natur der Sache, dass es kaum Statistiken über Zwangs-
Sie, diese hohen Anforderungen zu senken, um den
heiraten und Scheinehen gibt.
Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen besser zu
gewährleisten? (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ehebestandszeit! Können Sie dazu
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- noch etwas sagen?)
nern:
Frau Abgeordnete, ich muss freimütig gestehen, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ich die Frage nicht aus dem Stand beantworten kann. Ich Die nächste Frage stellt die Kollegin Ekin Deligöz.
würde Ihnen die Antwort gern schriftlich nachreichen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Minister, ich gebe zu, dass es eine frauenpoliti-
Die nächste Frage hat die Kollegin Monika Lazar. sche Errungenschaft ist, wenn es in Zukunft ein Rück-
kehrrecht gibt. Das ist eine Forderung, die ich als Fami-
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lienpolitikerin schon seit Jahren stelle. Leider konnte ich
Ich habe eine Nachfrage zur Erhöhung der zur Erlan- sie bisher, auch zur Zeit einer anderen Regierungskoali-
gung eines Aufenthaltstitels notwendigen Ehebestands- tion, nicht durchsetzen. Ich gebe zu, dass das ein wichti-
zeit. Mein Kollege Winkler hat schon versucht, Ihnen et- ger Schritt ist.
was mehr zu entlocken als die Antwort: Das Ergebnis Jetzt kommt mein großes Aber bei der Sache. Wir re-
sehen Sie heute. In der Gesetzesbegründung heißt es, den hier über juristische Finessen, die ihre Berechtigung
dass Wahrnehmungen darauf hindeuten. Uns würde inte- haben und die ich auch nicht schmälern will. Wenn ich
ressieren, welche Wahrnehmungen Sie haben. Können mir aber die Praxis in Deutschland anschaue, stelle ich
(B) Sie uns diese Wahrnehmungen mitteilen? Unter anderem fest, dass die größten Defizite nicht im Bereich des (D)
Terre des Femmes sieht die Erhöhung der Ehebestands- Strafrechts liegen, sondern die Situation vor Ort betref-
zeit sehr kritisch. Diese Organisation, die sich seit vielen fen. Was werden Sie tun, um Ihre Absicht, diese Form
Jahren für Frauenrechte einsetzt, spricht sich dagegen von unmenschlicher Heirat zu verhindern, Wirklichkeit
aus. werden zu lassen? Welche Begleit- und Unterstützungs-
Ich habe eine weitere Frage zu diesem Themenkomp- maßnahmen wollen Sie ergreifen? Wird es dazu eine
lex. Es gibt eine Härtefallregelung. Wissen Sie, wie viele Kampagne geben? Werden Sie darauf insistieren, dass es
Frauen und Männer von der Härtefallregelung Gebrauch Beratungsstellen gibt? Werden Sie Unterstützungsmaß-
machen und die Möglichkeit zur Verkürzung der Ehebe- nahmen anbieten, zum Beispiel in Frauenhäusern, damit
standszeit in Anspruch nehmen? Können Sie uns diese die Frauen, die sich befreien und zurückkehren, auch die
Zahlen zur Verfügung stellen? Möglichkeit haben, sich an jemanden zu wenden? Wenn
es zwar eine Rückkehroption, aber keine Aufnahmeop-
tion gibt, werden die Frauen den entscheidenden Schritt
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- vermutlich nicht wagen, sondern sich sozusagen ergeben
nern: und in die Familienstruktur, die sie unter Druck setzt, zu-
Frau Abgeordnete, wir haben weder zu der Frage rückkehren müssen. Mit welchen Begleitmaßnahmen
„Wie viele Zwangsverheiratungen gibt es in Deutsch- wollen Sie Ihre Intention, die richtig ist, durchsetzen?
land?“ noch zu der Frage „ Wie viele Scheinehen gibt es Aus dem Blickwinkel der Frauen- und Familienpolitik
in Deutschland?“ eine Statistik. Das liegt in der Natur war bisher nicht der Straftatbestand das entscheidende
der Sache. Diese Ehen werden schließlich in scheinba- Problem, sondern die Tatsache, dass Deutschland nicht
rem Einvernehmen der Beteiligten geschlossen, um die in der Lage war, Unterstützungsstrukturen für diese Op-
wahre Absicht des Vorgangs zu verschleiern. Es wäre er- fer aufzubauen.
staunlich, wenn man hierzu Statistiken hätte.
Beides wollen wir aber nicht. Wir wollen weder Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
Zwangsheiraten noch Scheinehen. Herr Stadler hat über- nern:
zeugend vorgetragen, warum wir keine Zwangsheiraten Heute reden wir über ein Paket, das sich auf das Auf-
wollen. Wir wollen auch keine Scheinehen, und zwar enthaltsrecht bezieht. Es besteht aus einem strafrechtli-
nicht nur, weil man sich dadurch das Recht zum Zuzug chen Element und aus einer Gesetzgebung, die mit dem
nach Deutschland erschleicht, sondern auch, weil es un- Aufenthaltsgesetz zu tun hat. Das ist Gegenstand dieses
serem Verständnis von der Würde und dem Ansehen der Gesetzentwurfs. Damit können wir die ganze soziale
Ehe nicht entspricht, sie nur zum Schein einzugehen. Sie Wirklichkeit und die Dramen, die sich abspielen, natür-
7110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Das Feldhospital des DRK wird seinen Standort bei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
behalten. Mit Ausstattungsmitteln des Hospitals, das mit Eine weitere Nachfrage?
Mitteln der humanitären Hilfe der Bundesregierung fi-
nanziert wurde, werden zwei zusätzliche Behandlungs- (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zentren an den Ausfallstraßen von Port-au-Prince errich- NEN]: Nein, das wäre es, danke!)
tet. Auch das Technische Hilfswerk ist noch vor Ort und Wir sind damit am Ende der Beantwortung der dring-
prüft momentan eine Ausweitung seiner laufenden lichen Fragen.
Trinkwasseraufbereitung.
Wir kommen zu den Fragen der Fragestunde in der
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lage üblichen Reihenfolge.
zwar ernst ist, den akut Betroffenen aufgrund der in ver-
gleichsweise hoher Zahl präsenten internationalen Hilfe Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Siegmund Ehrmann
momentan aber noch weitgehend mit den vorhandenen sollen schriftlich beantwortet werden.
Kapazitäten geholfen werden kann. Die Bundesregie- Dann kommen wir zur Frage 3 des Abgeordneten
rung steht im engen Kontakt mit den genannten und mit Christian Ströbele:
weiteren Hilfsorganisationen. Sie wird ihre Hilfe bei Be-
Welche Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft oder
darf im Rahmen verfügbarer Mittel natürlich aufstocken. letztem Wohnsitz in Deutschland wurden nach Kenntnis der
Ich bitte um Nachsicht, dass ich das etwas länger ausge- Bundesregierung durch US-Sicherheitskräfte im Raum Afgha-
führt habe. Ich denke, es war auch in Ihrem Interesse. nistan/Pakistan seit 2007 – insbesondere mittels Drohnen – getö-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7117
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) tet (zum Beispiel in Mir Ali in diesem Herbst oder am sche Gebiet an der Grenze zu Afghanistan, weil Nord- (C)
13. September 2009 Tötung des angeblichen IJU-Gründers; wasiristan auch für die pakistanischen Behörden ein
vergleiche SPON, 17. September 2009), und zu welcher dieser
Personen haben deutsche Stellen zuvor der US-Seite – direkt schwer zugängliches Gebiet ist, in dem sich selbstver-
oder indirekt, etwa über ISAF – Informationen zur Identifizie- waltete Stämme befinden. Ich kann nur bestätigen, was
rung oder Ortung übermittelt? mir die Botschaft heute noch einmal als Auskunft gege-
Hierfür steht wiederum Frau Staatsministerin ben hat – sie ist in ständigem Kontakt mit den pakistani-
Cornelia Pieper zur Verfügung. schen Behörden –: dass uns bis jetzt seitens der pakista-
nischen Behörden keine Antworten auf unsere Fragen
gegeben werden konnten und dass wir deswegen auch
Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen noch keine andere Faktenlage haben.
Amt:
Ähnliche Fragen haben uns schon in der letzten Fra-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gestunde beschäftigt. Diese Frage des Abgeordneten
Ströbele beantworte ich wie folgt: Nun die zweite Nachfrage des Herrn Kollege
Ströbele.
Der Bundesregierung liegen keine belastbaren Er-
kenntnisse über die Tötung deutscher Staatsangehöriger Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
durch amerikanische Sicherheitskräfte im Raum Afgha- GRÜNEN):
nistan/Pakistan vor. Es wurden keine Daten übermittelt,
Jetzt muss ich ein bisschen heftig werden. Die Bun-
die nach Kenntnis der Bundesregierung im Sinne der
desregierung besteht ja nicht nur aus dem Auswärtigen
Fragestellung hätten verwendet werden können.
Amt, und nachgeordnete Stellen sind nicht nur die Bot-
schaften. Haben Sie, bevor Sie diese Antwort gegeben
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: haben, an deren Richtigkeit ich – um es einmal ganz
Nachfrage, Herr Ströbele? milde auszudrücken – erhebliche Zweifel habe, einmal
im Bundeskanzleramt nachgefragt, ob es Informationen
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE über die Identität der Getöteten gibt, ob es sich dabei um
GRÜNEN): deutsche Staatsangehörige handelt?
Ja. – Frau Staatsministerin, ich habe ganz konkret ge-
fragt und unter anderem auch das Datum des Angriffs Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen
genannt, bei dem im pakistanisch-afghanischen Grenz- Amt:
gebiet mindestens drei Personen getötet worden sein sol- Dem Bundeskanzleramt stehen ebenso wie dem Aus-
len. Pressemeldungen zufolge sollen dabei drei vermut- wärtigen Amt im Moment keine anderen Fakten zur Ver- (D)
(B) lich deutsche Staatsangehörige oder Personen, die
fügung. Wir stehen natürlich – auch in dieser Frage – in
zuletzt längere Zeit in Deutschland gelebt haben, getötet ständigem Austausch mit dem Bundeskanzleramt.
worden sein. Ich frage Sie jetzt: Auch zu diesen Perso-
nen haben die Bundesregierung oder ihr nachgeordnete
Behörden keinerlei Information? Das wollen Sie ernst- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
haft sagen? Ich rufe auf die Frage 4 des Kollegen Ströbele:
Welche Informationen zur Ortung oder Identifizierung
über den deutschen Staatsbürger A. S., der in Kabul im Juni
Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen 2010 verhaftet wurde, als er auf dem Weg zur deutschen Bot-
Amt: schaft gewesen sein soll, der seither auf dem US-Stützpunkt
Sie haben Ihre Informationen, die Sie mir gerade ge- Bagram inhaftiert ist und nun in die USA verbracht werden
schildert haben und die Sie vor 14 Tagen auch schon soll, haben deutsche Stellen zuvor afghanischen oder US-
Sicherheitsstellen – direkt oder indirekt, etwa über ISAF –
Staatsminister Hoyer geschildert haben, ernst zu neh- übermittelt (vergleiche www.stern.de, 6. Oktober 2010), und
menden Medienberichten entnommen. Ich kann nur sa- welche Bemühungen wurden von deutscher Seite nach Kennt-
gen, dass die Bundesregierung unmittelbar nach Erschei- nis der Bundesregierung vor und nach der Festnahme unter-
nen der letzten Medienberichte zur angeblichen Tötung nommen, um die Rückkehr des A. S. nach Deutschland zu er-
reichen?
mehrerer deutscher Staatsangehöriger durch US-Droh-
nen in Pakistan pakistanische Behörden offiziell um
Auskunft gebeten hat. Das Auswärtige Amt und die Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen
deutsche Botschaft in Islamabad bemühen sich weiterhin Amt:
um Aufklärung insbesondere der Frage, ob es sich bei Ich möchte die Frage des Abgeordneten wie folgt be-
den Getöteten um deutsche Staatsangehörige handelt. antworten:
Bislang liegen jedoch keine belastbaren Informationen
Es wurden keine Daten übermittelt, die nach Kenntnis
vor.
der Bundesregierung im Sinne der Fragestellung hätten
Da ich wusste, dass Sie heute nachhaken, habe ich verwendet werden können. Die Bundesregierung hat
noch einmal in unserer deutschen Botschaft in Islamabad sich gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten
angerufen und mich erkundigt, welche Maßnahmen von Amerika dafür eingesetzt, dass der Inhaftierte, der
nachträglich noch unternommen worden sind. Sie müs- sowohl deutscher als auch afghanischer Staatsangehöri-
sen natürlich auch verstehen, dass die Umstände für die ger ist, zum Zwecke der Strafverfolgung in die Bundes-
pakistanischen Behörden vor Ort extrem schwierig sind, republik Deutschland zurückgeführt wird. Gegen den In-
weil – was Sie sicherlich auch wissen – das pakistani- haftierten besteht ein Haftbefehl des Bundesgerichtshofs
7118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Danke schön. – Wir kommen nun zu Frage 5 der Ab- Vielen Dank. – Die Frage 6 des Kollegen Hunko so-
geordneten Inge Höger, die sich wohl mit dem gleichen wie die Fragen 7 und 8 des Kollegen Mützenich aus die-
Sachverhalt beschäftigt. sem Geschäftsbereich sollen schriftlich beantwortet wer-
Welche Schritte über Forderung nach Auslieferung an die den. Deswegen bedanke ich mich bei Ihnen, Frau
Bundesrepublik Deutschland durch die Staatsanwaltschaft hi- Staatsministerin.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7119
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim (C)
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Bundesminister des Innern:
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner Herr Kollege Koppelin, ich kann Ihnen jetzt keine
zur Verfügung. konkrete Angabe machen, wie oft das Bundesverwal-
tungsamt im Rahmen der Verwendungsnachweisprüfung
Zunächst kommen wir zur Frage 9 des Kollegen entsprechende Prüfungen vorgenommen hat. Ich kann
Koppelin: nur sagen, dass die Fachreferate und auch mein Büro als
Findet durch das Bundesverwaltungsamt die inhaltliche das Beauftragtenbüro relativ häufig auf diese Seiten zu-
Prüfung von Internetseiten von Zuwendungsempfängern des
Bundes statt?
greifen und die Inhalte dieser Seiten sichten.
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bundesminister des Innern: Damit kommen wir zur Frage 10 des Kollegen
Herr Kollege Koppelin, das Bundesverwaltungsamt Koppelin:
als ein zentraler Dienstleister des Bundes, gleichzeitig Aufgrund welcher Rechtsgrundlage wurden vom Bundes-
verwaltungsamt die Kosten für einen in einem deutschen Sa-
nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bun- natorium sich aufhaltenden Russlanddeutschen und dessen
desministeriums des Innern, ist für mehrere Ressorts mit Operation übernommen?
der administrativen Bearbeitung von zuwendungsrechtli-
chen Angelegenheiten beauftragt. Dabei prüft das Bun-
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
desverwaltungsamt im Rahmen seiner Beauftragung die
zweckentsprechende Verwendung von Bundesmitteln Bundesminister des Innern:
– das die sogenannte Verwendungsnachweisprüfung – Herr Kollege Koppelin, die Rechtsgrundlagen sind
und in diesem Rahmen stichprobenartig gegebenenfalls die haushaltsrechtliche Ermächtigung des Kap. 640,
geförderte Internetseiten. Tit. 684 22, „Unterstützung für deutsche Minderheiten
in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa einschließlich
nichteuropäischer Nachfolgestaaten der UdSSR“, die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Suchdienstvereinbarung, geschlossen zwischen dem
Nachfrage, Kollege Koppelin? Bundesministerium des Innern und dem Deutschen Ro-
ten Kreuz, vom 28. Mai 1958 in der Fassung vom 8. Juni
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): 2001 sowie der Zuwendungsbescheid des Bundesver-
Herr Staatssekretär, es ist allerdings so, dass ich einen waltungsamtes vom 11. Juni 2008 und die darin enthalte-
Unterschied feststelle zwischen dem, was Sie mir jetzt nen Nebenbestimmungen zur Gesundheitshilfe.
(B) sagen, und dem, was Sie mir schriftlich am 1. Oktober (D)
dieses Jahres mitgeteilt haben. Dort hieß es nämlich, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
eine inhaltliche Prüfung finde im Rahmen der Erfolgs- Nachfrage?
kontrolle in Form von Stichproben durch das Bundesver-
waltungsamt statt. Stichproben sind ja mehr als zufällige
Funde. Hier beziehe ich mich besonders auf das Internet- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
portal rusdeutsch.ru, das in russischer Sprache erscheint. Herr Staatssekretär, darf ich dann fragen: Wer hat die
Heißt das, dass beim Bundesverwaltungsamt Experten Übernahme der Kosten der Operation in Höhe von
sitzen, die der russischen Sprache mächtig sind und 20 000 Euro genehmigt? Wo ist diese Genehmigung er-
diese Seiten kontrollieren können? Es geht ja vor allem folgt? Sind Sie wirklich der Überzeugung, dass Sie mit
um den Inhalt. dem, was Sie eben vorgetragen haben, begründen konn-
ten, dass die Bezahlung dieser Operation rechtmäßig ist?
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern: Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal ist festzu- Bundesminister des Innern:
stellen, dass die Seite rusdeutsch.ru auch eine deutsche Ich bin der Überzeugung, dass die Bezahlung dieser
Ausgabe unter rusdeutsch.eu hat, dass diese Seiten so- Operation rechtmäßig ist. Es ist ausdrücklich im Zuwen-
wohl von der Mittlerorganisation GTZ als auch von den dungsbescheid vorgesehen, dass unter bestimmten Prü-
Fachreferaten begleitet werden, weil die Art der Kom- fungsbedingungen Gesundheitshilfen auch in Deutsch-
munikation auch Teil des Fördergeschehens ist, und dass land erbracht werden können. Es handelt sich im Falle
die Überprüfung durch das Bundesverwaltungsamt der betroffenen Person um einen Angehörigen der Erleb-
stichprobenartig, erforderlichenfalls auch unter der Ver- nisgeneration, der Gulag-Zwangsarbeit erlebt hat und
wendung von Sprachmittlern, stattfinden kann. der sich über den Aufbau der Russlanddeutschen-Bewe-
gung verdient gemacht hat.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Weitere Nachfrage, bitte? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zweite Nachfrage, bitte.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann sagen, wie Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
oft diese Seiten in den letzten zwei Jahren auf den Inhalt Ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie die Person an-
überprüft worden sind? scheinend sehr gut kennen. Darf ich einmal fragen, wie
7120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Heidrun Dittrich
(A) den. Gleichzeitig konnte man aber den Missbrauch nicht trainerin für einen Kinderverein tätig ist. Die Beispiele, (C)
aufdecken. die bei Panorama angeführt wurden, waren anders. Die
ehrenamtliche und die hauptberufliche Tätigkeit waren
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- nicht getrennt; die Person hat den ganzen Tag mit dem
desminister der Finanzen: Auto Personen befördert. Diesen Missbrauch sollten wir
Verehrte Frau Kollegin, ich will Ihnen einmal zwei ausschließen.
Fallbeispiele nennen, die deutlich machen, dass es nach
geltendem Recht und nach der geltenden Verordnungs- Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
lage absolut in Ordnung ist, wenn zum Beispiel ehren- desminister der Finanzen:
amtlich Tätige dies tun und es mit einer hauptberuflichen Frau Kollegin, ich kann und will nicht ausschließen,
Tätigkeit verbinden. dass es hier Missbrauch gibt. Aber die Bundesregierung
Das erste Fallbeispiel ist die Pflege alter, kranker oder sieht aufgrund der überwiegend ordnungsgemäß abgewi-
behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeits- ckelten Fälle – das habe ich an zwei Beispielen deutlich
zeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs, wenn sie im gemacht – keinen Anlass zu einer Gesetzesinitiative.
Dienst einer staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützi-
gen Einrichtung mit einem monatlichen Entgelt von Präsident Dr. Norbert Lammert:
400 Euro erfolgt. Hierfür sind vom Arbeitgeber pauscha- Weitere Zusatzfragen sehe ich nicht. – Ich bedanke
lierte Sozialversicherungsabgaben sowie pauschalierte mich beim Kollegen Koschyk für die Beantwortung der
Lohnsteuer zu zahlen. Dazu können 175 Euro steuer- Fragen.
und sozialabgabenfrei gezahlt werden, ohne dass dane-
ben ein Hauptberuf ausgeübt wird. Die Frage 16 der Abgeordneten Bärbel Höhn, die
Frage 17 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, die Fra-
Das zweite Beispiel ist die Pflege alter, kranker oder gen 18 und 19 des Abgeordneten Volker Beck, die Frage
behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeits- 20 der Abgeordneten Britta Haßelmann, die Fragen 21
zeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs im Dienst ei- und 22 des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick und die
ner staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützigen Ein- Fragen 23 und 24 der Abgeordneten Lisa Paus werden
richtung mit einem monatlichen Entgelt von 400 Euro schriftlich beantwortet.
plus 175 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei neben
einem davon zu unterscheidenden, gänzlich anders gear- Ebenfalls schriftlich beantwortet werden – diese Fra-
teten Hauptberuf. Dieser kann auch bei demselben Ar- gen betreffen den Geschäftsbereich des Bundesministe-
beitgeber ausgeübt werden. Beispiel: Jemand ist haupt- riums für Wirtschaft und Technologie – die Fragen 25
(B) beruflich Sekretärin bei einer Wohlfahrtseinrichtung und und 26 des Abgeordneten Garrelt Duin, die Fragen 27 (D)
übt zusätzlich eine nebenberufliche bzw. ehrenamtliche und 28 des Abgeordneten Oliver Krischer und die Frage
Tätigkeit abends oder am Wochenende bei derselben 29 des Abgeordneten Swen Schulz.
Wohlfahrtseinrichtung als Pflegekraft oder Rettungssa- Das Gleiche gilt für die Fragen 30 und 31 der Abge-
nitäterin aus. ordneten Sabine Zimmermann und die Frage 32 des Ab-
Darin sieht die Bundesregierung keinen Missbrauch geordneten Ilja Seifert, die den Geschäftsbereich des
gegenwärtig geltender Gesetze. Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betreffen.
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Er-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz werden
Vielen Dank. – Haben Sie eine zweite Nachfrage? – die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Hans-Josef Fell
Bitte schön, Frau Dittrich. schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
Heidrun Dittrich (DIE LINKE): desministeriums für Gesundheit. Die Fragen 35 und 36
Vielen Dank für die Antwort. Es freut mich, dass der der Abgeordneten Silvia Schmidt und die Fragen 37 und
Bundesregierung die tatsächlichen Verhältnisse in ge- 38 des Abgeordneten René Röspel werden schriftlich be-
meinnützigen Organisationen bekannt sind. antwortet.
Ich möchte fragen, ob die Regierung bereit ist, einen Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Friedrich
Gesetzentwurf einzubringen, um die unklare Lage bei Ostendorff auf:
Empfängern von Übungsleiterpauschalen und ehrenamt-
Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr, dass sich
lich Beschäftigten sowie Minijobbern zu beenden, und das MRSA-Bakterium vor allem in Betrieben mit Intensivtier-
zwar dahin gehend, dass ein und dieselbe Person nicht haltung – die in den ländlichen Räumen zurzeit stark an Zahl
für 400 Euro arbeiten und gleichzeitig ehrenamtlich als zunehmen – auf die dort arbeitenden Menschen überträgt und
Übungsleiterin tätig sein darf. aufgrund des hohen Antibiotikaeinsatzes Resistenzen entwi-
ckelt, was nach Angaben des Robert-Koch-Instituts Wernige-
Dazu ein Beispiel: Es gibt den Verbund Sozialthera- rode (laut ZDF-heute-journal am 18. Oktober 2010; Beitrag
peutischer Einrichtungen mit Sitz in Celle, der vor allem „Tod im Krankenhaus“) das Gesundheitsrisiko der Menschen
in Niedersachsen aktiv ist. Dort wurde ein Ehrenkodex im Umfeld dieser Anlagen durch Übertragungswege, zum
Beispiel in Krankenhäusern, aber auch darüber hinaus erhöht?
vereinbart: Dieselbe Person darf nicht beide Tätigkeiten
ausüben. Sie haben als Beispiel genannt, dass jemand Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz wird die Frage
morgens als Sekretärin arbeitet und abends als Musik- freundlicherweise beantworten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7125
(A) Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Symptome zeigten, angesprochen –, eigene Untersu- (C)
Bundesminister für Gesundheit: chungen in Auftrag zu geben?
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Ostendorff, die
Studien zeigen, dass Beschäftigte in landwirtschaftlichen Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Nutztierbeständen, deren Tiere Träger von LA-MRSA Bundesminister für Gesundheit:
sind, einem erhöhten Risiko der klinisch inapparenten Die Untersuchungen des RKI werden schwerpunkt-
nasalen Besiedlung durch die im Bestand vorkommen- mäßig im Rahmen der Surveillance durchgeführt. Insbe-
den LA-MRSA ausgesetzt sind. Ein ähnliches Risiko gilt sondere in den entsprechenden Schwerpunktzentren
für Beschäftigte in Schlachthöfen, die Umgang mit le- werden dauerhafte Überwachungen durchgeführt. Wir
benden Tieren vor der Schlachtung haben, sowie für werden die Verbreitung weiterhin beobachten.
Tierärztinnen und Tierärzte, die in Nutztierbeständen tä-
tig sind, in denen Tiere Träger von LA-MRSA sind.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sehr selten erfolgt eine Verbreitung über diesen Perso- Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Ostendorff auf:
nenkreis hinaus. So erbrachte die gegenwärtig vom Na- Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
tionalen Referenzzentrum für Staphylokokken am Robert- laut ZDF-heute-journal vom 18. Oktober 2010 (Beitrag „Tod
Koch-Institut durchgeführte Untersuchung in Altenhei- im Krankenhaus“) steigenden Risiko des MRSA-Befalls in
deutschen Krankenhäusern vor allem in ländlichen Regionen
men in einer Region mit einer hohen Dichte von Schwei- mit Intensivtierhaltung vor dem Hintergrund, dass es anders
nemastanlagen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern als zum Beispiel in den Niederlanden keine gesetzlich vorge-
bisher keinen einzigen Nachweis von LA-MRSA. Der schriebene obligatorische Voruntersuchung von Menschen
Anteil von LA-MRSA an MRSA aus Krankenhausinfek- aus den einschlägigen Risikogruppen – Nutztierhaltung –
tionen ist gering und lag im Jahr 2009 bei 1,8 Prozent. Die gibt?
Ausbreitung im Krankenhaus selbst erfolgt im Unter-
schied zu den krankenhausassoziierten MRSA nur selten. Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister für Gesundheit:
Die in Deutschland gewonnenen Untersuchungser- Ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen: Präventiv
gebnisse sind auch mit Daten aus den Niederlanden ver- erfolgte eine Erweiterung der Empfehlung des prästatio-
gleichbar. Derzeit gibt es nach unserer Einschätzung nären Aufnahmescreenings für MRSA bei Risikopatien-
keine Hinweise auf eine allgemeine Verbreitung auf Per- ten auf Beschäftigte in der Landwirtschaft mit Tierkon-
sonen ohne Kontakt zu den besiedelten Tieren. Aufgrund takt sowie auf Tierärzte und Tierärztinnen, um der
der prinzipiellen Möglichkeit der Verbreitung werden Verbreitung im Krankenhausbereich vorzubeugen. Dies
LA-MRSA dennoch von uns als potenzielles Risiko für ist auch dem Epidemiologischen Bulletin des RKI, des
(B) den Menschen eingeschätzt und überwacht. Robert-Koch-Instituts, zu entnehmen. Auftreten und Ver- (D)
breitung von LA-MRSA sind zudem ein Schwerpunkt der
Präsident Dr. Norbert Lammert: auf molekularepidemiologischen Untersuchungen beru-
Zusatzfrage? – Bitte schön. henden Surveillance-Aktivitäten des Robert-Koch-Insti-
tuts, insbesondere des dort angesiedelten Nationalen Re-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ferenzzentrums für Staphylokokken. Weiterführende
Frau Staatssekretärin, schönen Dank für die Beantwor- Forschungsarbeiten zur Epidemiologie und zum zoonoti-
tung der Frage. Das Robert-Koch-Institut hat auch klei- schen Potenzial von LA-MRSA werden im Rahmen des
nere Tierhaltungen auf Stroh, die zum Programm „Neu- vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ge-
land“ gehören – in diesem Fall Schweinehaltungen –, förderten Forschungsclusters MedVet-Staph ab Novem-
untersucht. Die Untersuchung ergab, dass fast 100 Pro- ber 2010 durchgeführt; für den Titel sind wir nicht verant-
zent der dort arbeitenden Menschen keinerlei MRSA-Be- wortlich.
siedlung zeigten. Das führt mich zu der Frage, ob die
Bundesregierung in ihre Betrachtung einbezieht, dass es Präsident Dr. Norbert Lammert:
offenbar große Unterschiede je nach Intensität der Tier- Wer dafür die Verantwortung zu übernehmen hat, klä-
haltung gibt. Die Intensivtierhaltung scheint hier das Pro- ren wir bei anderer Gelegenheit.
blem zu sein. Wie sieht die Bundesregierung diesen Fakt? (Heiterkeit)
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Eine Zusatzfrage des Kollegen Ostendorff.
Bundesminister für Gesundheit:
Das Robert-Koch-Institut hat dazu eine Studie durch- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
geführt. Wir sehen hier Unterschiede. Allerdings haben Die Begrifflichkeiten waren in der Tat etwas verwir-
wir keine Gefährdungen für nicht in den Beständen tä- rend. – Letztlich bedeutet das, was Sie gesagt haben,
tige und im Umfeld von Beständen tätige Menschen er- dass in Deutschland, anders als in den Niederlanden,
kennen können. kein obligatorisches Krankenhausscreening durchge-
führt wird.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den Niederlanden waren nur noch 4 Prozent der
Gestatten Sie mir eine zweite Zusatzfrage? – Planen Menschen – diese Zahl wurde uns genannt –, die ins
Sie – Sie haben das Ergebnis der Untersuchung des Krankenhaus gekommen sind, Träger des MRSA-Virus,
Robert-Koch-Instituts über Beschäftigte, die keinerlei nachdem sie isoliert und behandelt worden sind. Zahlen
7126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Friedrich Ostendorff
(A) aus Deutschland, zum Beispiel aus dem Münsterland, erstbehandelt hatte, musste er isoliert werden, weil er ge- (C)
deuten auf eine Trägerschaft von weit mehr als nau diese MRSA-Bakterien hatte, und er lag dort nicht
20 Prozent der Patienten hin. Angesichts dieser Zahlen alleine. Es gibt also eine wirklich sehr weite Verbreitung.
und der Ergebnisse, die in den Niederlanden festzustel-
Haben Sie nicht die Sorge, dass es hier zu einer Aus-
len waren, frage ich Sie: Warum ist in Deutschland kein
breitung kommen kann, die man nicht mehr in den Griff
obligatorisches Screening vorgesehen, vor allen Dingen
bekommt, wenn man nicht rechtzeitig Schutzmaßnah-
in Gebieten mit sehr großen Stalleinheiten, zum Beispiel
men ergreift?
in bestimmten Teilen des Münsterlandes oder des Olden-
burger Landes?
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister für Gesundheit:
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister für Gesundheit: Frau Abgeordnete, Ihre Besorgnis wird von der Bun-
desregierung geteilt. Deshalb werden seit vielen Jahren
Herr Abgeordneter Ostendorff, es gibt eine gemein-
Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushy-
same Aktivität, und zwar das Projekt Euregio MRSA-net,
giene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Insti-
das insbesondere vom Bundesministerium für Gesund-
tut veröffentlicht. Diese werden kontinuierlich erneuert
heit gefördert wird. In diesem Rahmen wird versucht,
und bearbeitet, und es wird ganz deutlich gemacht, für
über unterschiedliche Situationen Erkenntnisse zu gewin-
welche Personengruppen ein Eingangstest empfohlen
nen. Wir haben allerdings festgestellt, dass die angewand-
wird und welche Gruppen den Risikogruppen zuzuord-
ten Hygienemaßnahmen, nämlich Isolation, Kittelpflege,
nen sind. Dies wird ständig aktualisiert.
die Verwendung von Mundschutz und Handschuhen so-
wie die Desinfektion der Hände, vom Grundsatz her ver- Gerade in dem Epidemiologischen Bulletin Nr. 42
gleichbar sind und sich aufgrund der Handhabung keine von 2008, das ich vorhin bereits erwähnt habe, wird
Unterschiede feststellen lassen. Durch die Verpflichtung nochmals ganz deutlich darauf hingewiesen,
allein lassen sich Unterschiede letztlich nicht erklären.
Deshalb sind aus unserer Sicht Handhabung und Praxis dass für Krankenhäuser und Einrichtungen für am-
entscheidend. bulantes Operieren die Verpflichtung zur Erfassung
und Bewertung von Erregern mit besonderen Resis-
tenzen und Multiresistenzen … und zur Meldung
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Ausbrüchen an das Gesundheitsamt … besteht
Ich habe eine zweite Frage zum Themenkomplex …
MRSA. Wir können den vorliegenden Zahlen auch ent-
nehmen, dass der Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhal- Es wird empfohlen, diese entsprechenden Eingangs-
(B) tungen sehr stark steigt und zunehmend zu einem Pro- untersuchungen durchzuführen, damit es nicht zu den (D)
blem wird. Sieht das Bundesgesundheitsministerium Maßnahmen kommen muss, die Sie selbst gerade be-
hier gesetzlichen Regelungsbedarf? Werden Sie, was den schrieben haben.
Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhaltungen betrifft, mög-
licherweise zur Tat schreiten und Regelungen treffen, Präsident Dr. Norbert Lammert:
um die Praxis, dass den Tieren mehr als zwei Drittel ih- Die Frage 41 des Kollegen Seifert wird schriftlich be-
res Lebens Antibiotika verabreicht werden, einzuschrän- antwortet.
ken?
Vielen Dank, Frau Widmann-Mauz.
Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
Bundesminister für Gesundheit: ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Die Entwicklungen bei der Verabreichung von Anti- Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Scheuer zur
biotika werden im Bundesgesundheitsministerium mit Verfügung.
besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Auch zu diesem Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Hofreiter werden
Thema haben wir die Forschungsaktivitäten in unserem schriftlich beantwortet.
Haus verstärkt.
Ich rufe die Frage 44 des Kollegen Heinz Paula auf:
Wenn wir die Ergebnisse dieser Forschungsaktivitä- Wie weit ist das Vergabeverfahren für den sechsstreifigen
ten ausgewertet haben, wird die Bundesregierung bewer- Ausbau der Autobahn 8 zwischen Ulm und Augsburg fortge-
ten, ob sie darüber hinausgehende Maßnahmen für erfor- schritten, und wann findet der Baubeginn statt?
derlich hält.
Herr Staatssekretär Scheuer, bitte.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Es gibt einen weiteren Punkt, meine Damen und Her-
CDU/CSU: So schlimm wie bei der Linken ren. In der Antwort auf die Große Anfrage, die wir an
kann es gar nicht sein!) die Bundesregierung gestellt haben, wird bestätigt, dass
36 Prozent der Betriebe keine Mitarbeiter beschäftigen,
Ich zitiere Herrn Schlarmann aus dem CDU-Vorstand: die älter als 50 Jahre sind.
Wenn Herr Seehofer dies (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Pfui! –
Weiterer Zuruf von der LINKEN: So sieht es
– die Rente mit 67 –
aus!)
infrage stellt, stört er nicht nur den Koalitionsfrie-
36 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der
den, sondern bestätigt auch diejenigen, die die Re-
über 50 Jahre alt ist!
gierung für handlungsunfähig halten.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil die Ge-
Jetzt frage ich mich natürlich, meine Damen und Her-
werkschaftssekretäre sie hinausgemobbt ha-
ren aus der CDU/CSU: Was ist Ihnen eigentlich wichti-
ben! – Weiterer Zuruf des Abg. Paul Lehrieder
ger? Tatsächlich das Wohl der Bürger in diesem Lande,
[CDU/CSU])
das Wohl der Menschen, die irgendwann eine Rente
brauchen, oder Ihr Koalitionsfrieden? Wenn sich bei – Warum regen Sie sich denn so auf? Ich verstehe das
euch von der CSU schon einmal eine Einsicht durch- überhaupt nicht. Herr Seehofer hat doch recht. Jetzt un-
setzt, dann müsst ihr doch euren Vorsitzenden nicht in terstütze ich einmal euren Vorsitzenden, und ihr be-
7130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Klaus Ernst
(A) kommt schon wieder einen heißen Hintern. Das muss Die entscheidende Frage lautet deswegen: Wird es im (C)
doch wirklich nicht sein. Jahr 2029 in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt genauso
aussehen wie heute?
(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit des Abg.
Anton Schaaf [SPD]) (Zuruf von der LINKEN: Sind Sie Hellseher?)
Meine Damen und Herren, wir kommen ja von einer Nun ist das Allerschwierigste, die Zukunft zu pro-
Veranstaltung der IG Metall, an der auch andere Kol- gnostizieren. Auch Herr Ernst hat in seiner Märchen-
legen des Hauses teilgenommen haben. So kann ich Ih- stunde nichts dazu gesagt, was 2029 sein wird. Ein paar
nen noch ein paar weitere Beispiele nennen: Von den Sachen wissen wir aber schon.
4 800 Beschäftigten der Salzgitter Flachstahl GmbH ist (Elke Ferner [SPD]: Noch größere
1 Prozent älter als 63 Jahre. Märchenstunde!)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Da bekannt ist, wie viele Kinder in Deutschland geboren
Weil sie alle in Rente sind!) wurden und wie viele Personen ins Rentenalter kommen
werden, wissen wir, dass bis zum Jahr 2025 die Zahl der-
Beim Küchenhersteller SieMatic ist genau einer von
jenigen, die arbeiten gehen können, also im arbeitsfähi-
400 Beschäftigten 61 Jahre alt, niemand ist älter. Und da
gen Alter sind, um 7 Millionen Personen im Vergleich zu
wollen Sie an der Rente mit 67 festhalten!
heute abnehmen wird. Wir wissen,
Ich kann nur Herrn Hartmut Koschyk von der CSU (Zuruf von der LINKEN: Außer Herrn
zitieren, der gesagt hat: Seehofer!)
Ich halte nichts davon, einmal getroffene politische dass die Zahl der 15- bis 20-Jährigen – das sind diejeni-
Entscheidungen wieder infrage zu stellen – nur weil gen, die sich auf das Berufsleben vorbereiten – im Ver-
sich die SPD beim Thema Rente mit 67 vom Acker gleich zu heute um 16,8 Prozent zurückgehen wird.
macht.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Erzählen Sie das
Das ist doch Ihr Problem, meine Damen und Herren. dem Seehofer, nicht uns!)
Wenn Sie schon einmal ein richtiges Korn herausgepickt
haben, sollten Sie auch dabei bleiben. Ich kann Herrn Das heißt, der Arbeitsmarkt im Jahr 2029 wird grundle-
Seehofer nur empfehlen – vielleicht können Sie ihm das gend anders aussehen als heute. Man wird dann die
ausrichten –, bei seiner Position zu bleiben. Das bayeri- Menschen nicht mehr in den Vorruhestand schicken,
sche Wappentier ist schließlich der Löwe und nicht der sondern dankbar sein, wenn jemand bereit ist, etwas län-
ger zu arbeiten. Das ist das, was wir wissen.
(B) flüchtende Hase. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
(Beifall bei der LINKEN) Und die Erde ist eine Scheibe!)
Jetzt zu Horst Seehofer. CDU/CSU und SPD haben in
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Großen Koalition das Gesetz zur Anpassung der Re-
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ gelaltersgrenze bis zum Jahr 2029 verabschiedet und
CSU-Fraktion. dort festgeschrieben, dass die Bundesregierung dem
Bundestag vom Jahr 2010, also von diesem Jahr an, alle
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älte-
rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berichten
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): muss und eine Einschätzung darüber abzugeben hat, ob
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichti-
Herr Ernst hat so getan, als würde heute die Rente mit 67 gung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der
eingeführt werden. Dann hätte er mit all den Beispielen, wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeit-
die er vorgetragen hat, recht. Die Rente mit 67 stellte nehmerinnen und Arbeitnehmer weiterhin vertretbar er-
dann für die meisten Rentnerinnen und Rentner eine scheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen be-
Rentenkürzung dar. stehen können. Wir nehmen diesen Beschluss sehr ernst.
(Elke Ferner [SPD]: Das wäre einmal etwas
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hat der Seehofer
Neues!)
unrecht?)
Deshalb wird die Bundesregierung im November einen
Nur, Herr Ernst hat uns alle hier mit seinen Beispielen ausführlichen Bericht genau zu diesen Themen vorlegen.
angelogen,
Nun hätte ich Verständnis gehabt, wenn die Linke
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann eine Aktuelle Stunde unmittelbar nach Vorlage dieses
Herr Seehofer auch!) Berichts beantragt hätte. Dass Sie von der Linken für
weil die Rente mit 67 nicht heute, sondern erst im Jahr heute eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben,
2029 kommt. zeigt, dass Sie das, was wir im Bundestag beschließen,
für völlig irrelevant halten und vor allen Dingen nicht an
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer öffentlichen Diskussion über Daten und Fakten in-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7131
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) teressiert sind. Die Tatsache, dass Sie für heute eine sol- (Beifall bei der SPD) (C)
che Aktuelle Stunde beantragt haben, ohne dass der ent-
sprechende Bericht vorliegt, zeigt: Sie sind nicht an Elke Ferner (SPD):
Daten und Fakten, sondern schlichtweg an Polemik inte-
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
ressiert.
Herr Seehofer hat zwar etwas Richtiges gesagt, aber bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herrn Seehofer weiß man nicht, ob er morgen noch für
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir ha- das steht, was er heute gesagt hat.
ben Horst Seehofer ernst genommen! Ent-
schuldigung! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht
Dann müssen wir noch eine Aktuelle Stunde wie bei euch! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]:
machen!) Die CSU ist nicht die SPD!)
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- Herr Seehofer hat beispielsweise auch einmal gesagt:
land zählen auf eine solide Rente. Diese kann man nur „Kopfpauschale – nur über meine Leiche.“ Er lebt im-
mit klaren Berechnungen, beruhend auf Daten und Fak- mer noch, und das Modell der Kopfpauschale steht kurz
ten, gewährleisten. Mit Polemik kann man die Rente vor der Beschlussfassung. Insofern steht man ein biss-
höchstens kaputtmachen. Das ist Tatsache. chen auf wackligen Füßen, wenn man sich auf Herrn
Seehofer bezieht, auch wenn er in der Sache einmal
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Kirsten recht hat; denn er wechselt seine Meinungen so schnell,
Tackmann [DIE LINKE]: Das war Seehofers dass man mit dem Schauen kaum noch hinterherkommt.
Polemik! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das
macht ihr doch!) Herr Kollege Weiß, es geht um die Frage, ob wir es
vor dem Hintergrund der jetzigen Arbeitsmarktsituation
Gestern Abend hat „Das Demographie Netzwerk“ verantworten können, 2012 in die Anhebung des Ren-
– das ist ein Zusammenschluss von über 200 Betrieben teneintrittsalters einzusteigen. Sie haben soeben kriti-
in Deutschland, die mit Förderung des Bundesministe- siert, dass wir heute darüber debattieren, obwohl der Be-
riums für Arbeit und Soziales neue Wege zur Verbesse- richt über die Beschäftigungssituation Älterer noch nicht
rung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehme- vorliegt. Ich hätte gern einmal gehört, dass Sie Frau von
rinnen und Arbeitnehmer ausprobieren – hier in Berlin der Leyen kritisieren, die ja jetzt schon weiß, dass der
zu einem Parlamentarischen Abend eingeladen. Von der Einstieg 2012 losgehen kann, obwohl dieser Bericht
Linken war niemand da; wahrscheinlich ist Herr Ernst noch nicht vorliegt.
wieder Porsche gefahren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Noch der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (D)
tiefer geht es nicht! – Weiterer Zuruf von der GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen]
LINKEN: Oje! Oje!) [CDU/CSU]: Weil es im Gesetz steht!)
Das zeigt: Die Linke ist nur daran interessiert, hier im Dazu habe ich von Ihnen jetzt nichts gehört.
Bundestag vorzutragen, was in den Betrieben schlecht
läuft. Sie hat aber null Interesse daran, darzustellen, was Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Einschätzung jetzt schon
in den Betrieben gut läuft. feststeht, geht das an den Fakten vorbei. Die Fakten hat
der Kollege Ernst eben genannt. Sie spiegeln sich wider
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Zahlen, die die von Ihnen getragene Bundesregierung
Gestern Abend wurde vorgestellt, dass ältere Arbeitneh- in einer Bundestagsdrucksache als Antwort auf eine
merinnen und Arbeitnehmer dann, wenn sich Betriebe – Große Anfrage veröffentlicht hat. Fakt ist, dass 9,9 Pro-
zent, also weniger als 10 Prozent, der 64-Jährigen in ei-
ner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sind.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
es! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Heute, Frau
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Kollegin!)
– ich komme zum Ende – bei Gesundheitsmanage- Jetzt kommt Frau von der Leyen daher und sagt: Na
ment, Arbeitsorganisation sowie Fort- und Weiterbil- ja, es sind eigentlich viel mehr. Klar sind es viel mehr:
dung anstrengen, eine Chance haben. Wenn Rente mit 67 Einbezogen wurden nämlich auch Minijobber – dazu ge-
eine Perspektive sein soll, muss mit dem Jugendwahn hören teilweise Rentner und Rentnerinnen, die sich zu
Schluss sein und es mehr Chancen für ältere Arbeitneh- ihrer Rente etwas dazuverdienen – und 1-Euro-Jobber.
merinnen und Arbeitnehmer geben. Dafür treten wir ein.
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das
Vielen Dank. weiß ja Herr Weiß nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So kann man aber die Leute nicht in die Irre führen. Man
muss wirklich bei den Fakten bleiben und diejenigen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Zahlen ins Kalkül ziehen, um die es geht. Was ist denn
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPD- mit den 90 Prozent der 64-Jährigen, die heute keiner so-
Fraktion. zialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit nachgehen?
7132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Elke Ferner
(A) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Hat Renten armutsfest zu machen, möglichst durchgängige (C)
man in den Vorruhestand geschickt!) Erwerbsbiografien, und zwar nicht nur von Männern,
sondern auch von Frauen, möglichst vollzeitnah und vor
Sollen die Arbeitnehmer später unter Inkaufnahme allen Dingen zu Löhnen, die später eine sichere und aus-
von Zwangsabschlägen in Rente gehen müssen, weil sie kömmliche Rente garantieren. Deshalb müssen wir flä-
nicht mehr die Arbeit ausüben können, die sie bisher ge- chendeckend Mindestlöhne einführen; denn anders ist
tan haben? Diejenigen, die auf der heutigen IG-Metall- dies nicht möglich. Aber auch im Hinblick hierauf ver-
Veranstaltung waren, durften lernen, dass selbst in gro- weigern Sie sich.
ßen Betrieben mit einem hohen Organisationsgrad, mit
starken Gewerkschaften und starken Betriebsräten die (Zuruf von der CDU/CSU: Gleiten Sie nicht
Arbeitsabläufe Menschen zwangsläufig krankmachen. ab! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Zustände in all
Sie nehmen lieber Altersarmut in Kauf,
den Betrieben, wo hart und schwer gearbeitet wird, in
zwei Jahren überwunden sein werden? Ich glaube das
nicht. Wir müssen daran arbeiten; das ist wohl richtig. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin!
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Also!)
Elke Ferner (SPD):
Niemand hier bestreitet, dass die Beschäftigungssitua- Sie nehmen lieber in Kauf, dass ein großer Teil unse-
tion der Älteren verbessert worden ist. Aber wir be- rer Gesellschaft, der arbeiten will, nicht in dem Umfang
streiten, dass das ausreichend ist, um im Jahre 2012 den arbeiten kann, wie er das gerne möchte. Mit dem Ein-
Einstieg in die Anhebung des Renteneintrittsalters zu stieg in die Verlängerung der Lebensarbeitszeit –
vollziehen. Das geht unter den jetzigen Bedingungen
nicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wir brauchen auch flexiblere Übergänge. Sie weigern Liebe Frau Ferner!
sich, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist auch Elke Ferner (SPD):
richtig, damit Ältere länger in der Arbeit sind, – gehen Sie den falschen Weg, nämlich den zweiten
Frau Ferner!) Schritt vor dem ersten.
Wir brauchen eine Brücke für die Älteren, die, aus wel- (Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
(B) chen Gründen auch immer, nicht mehr können, und eine CSU]: Frau Ferner, sollten Sie sich nicht erin- (D)
Brücke für die Jüngeren, damit sie eine Ausbildung ma- nern: Den sind wir gemeinsam gegangen!)
chen oder nach ihrer Ausbildung im Betrieb bleiben kön-
nen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen,
Was im Moment stattfindet, ist aus meiner Sicht ein
dass nach unseren Regelungen der einzelne Redner in
wenig schizophren. Diejenigen, die heute nach Fachkräf-
der Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten spre-
ten rufen, sind diejenigen, die sich in der Vergangenheit
chen darf. Das bedeutet im Umkehrschluss: Notfalls
um die Erfüllung ihrer Ausbildungspflicht gedrückt ha-
können es kürzere Redezeiten sein.
ben. Das ist die Wahrheit.
(Heiterkeit)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Aber die üblicherweise vom amtierenden Präsidenten er-
GRÜNEN) wartete Großzügigkeit bei der Bewirtschaftung der Re-
dezeit lässt unsere Geschäftsordnung für Aktuelle Stun-
Diejenigen, die verlangen, wir müssten das Erwerbsper- den gar nicht zu.
sonenpotenzial besser ausschöpfen, sind diejenigen, die
es versäumt haben, insbesondere Frauen und Älteren (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Ebendiese Frauen Und das vor Herrn Kolb!)
und Älteren sind heute teilweise in Teilzeitbeschäfti-
gung, obwohl sie es nicht wollen. Es gibt keine familien- Dass das machbar ist, wird nun der Kollege Heinrich
freundlichen Arbeitszeiten, und die Rahmenbedingun- Kolb nachweisen, der als Nächster für die FDP-Fraktion
gen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind leider das Wort erhält.
immer noch nicht gut genug. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Angesichts dieser Notwendigkeiten und noch nicht
ausgeschöpften Möglichkeiten können wir 2012 nicht Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
einsteigen. Wir brauchen mehr flexible Übergänge. Dazu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
haben wir Vorschläge erarbeitet, und wir werden dies Herr Präsident, das Problem besteht ja auch darin, dass
auch noch in einer Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt ha- es in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen gibt,
ben, vertiefen. Wir brauchen weiterhin die geförderte sodass es heute wirklich bei den fünf Minuten bleiben
Altersteilzeit, und vor allen Dingen brauchen wir, um die muss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7133
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben auch die Altersteilzeit angesprochen. Ich (C)
Gott sei Dank! stehe dazu, dass wir die beitragsgeförderte Altersteilzeit
beendet haben, und meine Fraktion hat auch nicht die
(Heiterkeit bei CDU/CSU und FDP) Absicht, das zu ändern. Ich halte das für einen richtigen
Schritt. Weiterhin soll es möglich sein, auf Kosten der
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Unternehmen, aber nicht auf Kosten der Beitragszahler,
Ich will mich also in den einzelnen Punkten kurzfas- wenn auch mit steuerlicher Förderung, Altersteilzeitmo-
sen. delle zu praktizieren, wenn das so gewünscht wird und
Ich danke dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst sich in einzelnen Branchen anbietet. Im Übrigen sind
Seehofer, dass wir heute wieder einmal die Möglichkeit wir, so denke ich, diesbezüglich gut aufgestellt.
haben, uns über die Rente mit 67 auszutauschen. Das führt dazu – das bringt mich zum nächsten Punkt –,
(Elke Ferner [SPD]: Die Sie ja nie wollten!) dass die Erwerbsquoten älterer Arbeitnehmer inzwi-
schen erfreulich angestiegen sind. Wenn ich mir die Ent-
Ich habe mir natürlich auch Gedanken gemacht; denn wicklung seit dem Beschluss zur Rente mit 67 anschaue,
man ist ja immer bemüht, etwas Neues in die Debatte so kann ich eigentlich nur zu dem Schluss kommen: Die
einzubringen. Heute habe ich mir überlegt, Frau Ferner: Erwerbsteilhabe Älterer hat sich toll entwickelt.
Warum führen wir die Diskussion eigentlich so drama-
tisch, als ob es den Untergang des Abendlandes bedeu- (Elke Ferner [SPD]: Bei 9,9 Prozent! Das ist
tet, wenn die Lebensarbeitszeit verlängert wird? Ich lächerlich!)
habe einmal nachgeschaut, wann eigentlich die Alters- Frau Ferner, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von
grenze von 65 Jahren festgelegt worden ist. Für Ange- der SPD müssen sich fragen lassen: Haben Sie denn da-
stellte war das 1911 und für Arbeiter 1916 – für den Kol- mals ernsthaft mehr erwartet? Der Trend ist sowohl in
legen Birkwald habe ich auch die Quelle dabei. der Altersgruppe zwischen 55 und 60 Jahren als auch in
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr der Altersgruppe zwischen 60 und 65 Jahren ungebro-
gut!) chen positiv. Das heißt, wir dürfen vor allem angesichts
der demografischen Entwicklung davon ausgehen, dass
Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung sich das in den nächsten Jahren weiter verbessern wird.
der Frauen 48 Jahre und die der Männer 45 Jahre. Heute Vor diesem Hintergrund – das muss ich sagen – halte ich
liegt sie sowohl bei Männern als auch bei Frauen unge- es auch für verantwortbar, Frau Kollegin Ferner, den
fähr 30 Jahre höher. Weg weiterzugehen, den Franz Müntefering, der von Ih-
(Elke Ferner [SPD]: Damals sind Frauen auch rer Partei gestellte Bundesarbeitsminister, damals aufge-
(B)
noch im Kindbett gestorben! – Zuruf von der zeigt hat. Er hat gesagt: Wir wollen das probieren. Wir (D)
LINKEN: Und die Produktivität?) überprüfen regelmäßig,
Vor diesem Hintergrund halte ich es jedenfalls nicht (Elke Ferner [SPD]: Kürzen Sie nicht gerade
für vollkommen unanständig, dass man darüber nach- beim Eingliederungstitel, bei der aktiven Ar-
denkt, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, obwohl ich beitsmarktpolitik?)
– das wissen Sie – kein Freund von starren Altersgren- ob der Arbeitsmarkt das hergibt. – Obwohl ich kein
zen bin, sondern mich in diesem Zusammenhang eher Freund der Rente mit 67 bin und damals dagegenge-
für flexible Lösungen ausspreche. stimmt habe, muss ich sagen:
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LIN- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört!
KEN: Ja, für die Reichen!) Hört!)
Ich will es hier sehr deutlich sagen: Eine lange Er- Angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im
werbsteilhabe, allerdings auf der Basis einer eigenen Allgemeinen – wir werden in Kürze erleben, dass die Ar-
freien Entscheidung, ist für uns nichts Schlechtes. Wir beitslosenzahlen auf unter 3 Millionen sinken werden –,
reden doch in vielen Bereichen über Teilhabe. Junge aber auch im Speziellen – damit meine ich die Beschäfti-
Menschen, behinderte Menschen, alle sollen teilhaben gungsquote Älterer –, gibt es keinen Grund, dieses
am gesellschaftlichen Leben. Die Erwerbsarbeit ist ein Müntefering’sche Projekt zum jetzigen Zeitpunkt zu
ganz wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Lebens. stoppen.
Daher sollte uns die Frage umtreiben, wie man es orga-
nisieren kann, dass Menschen möglichst lange dabeiblei- (Elke Ferner [SPD]: Das wollte die CDU! Das
ben können, und es sollte nicht um die Frage gehen, wie ist kein Müntefering’sches Projekt gewesen!)
man sie möglichst früh aus dem Erwerbsleben heraus-
Das heißt, wir werden 2012 damit beginnen, die Lebens-
bringen kann, was lange das Dogma auch in den Füh-
arbeitszeit Jahr für Jahr um einen Monat zu verlängern.
rungsetagen deutscher Unternehmen gewesen ist. Das
Wir werden auch in vier Jahren wieder gucken,
will ich hier sehr deutlich sagen, Herr Ernst.
(Elke Ferner [SPD]: In vier Jahren brauchen
(Elke Ferner [SPD]: Waren Sie nicht Staatssekre-
Sie nicht mehr zu gucken, Herr Kolb! Das
tär, als die Frühverrentungspraxis lief?)
kann ich Ihnen versprechen! – Zurufe von der
– Aber nicht in DAX-Konzernen, Frau Kollegin Ferner. FDP und der CDU/CSU: Doch! Da können Sie
Wir haben das auch korrigiert. beruhigt sein!)
7134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Max Straubinger
(A) -oder die Wochenarbeitszeit zu verlängern. Unter diesen Max Straubinger (CDU/CSU): (C)
Gesichtspunkten war es vernünftig, die Lebensarbeits- Im Jahr 2010 haben bisher fast 51 000 Personen An-
zeit auf 67 zu verlängern, und das über einen langen träge gestellt, und circa 43 000 Genehmigungen wurden
Zeitraum hinweg, nämlich bis zum Jahr 2029. erteilt.
Ich bin besonders stolz darauf, dass insbesondere auf Ich bin überzeugt, es wäre weit besser, wenn ältere
Initiative der CSU eingeführt wurde, dass jemand, der Arbeitslose ihren Erfahrungsschatz bei uns in die Be-
45 Beitragsjahre oder gleichgestellte Beitragszeiten hin- triebe brächten. Hier wäre uns dann doppelt geholfen:
terlegt hat, mit dem 65. Lebensjahr ohne Abschlag in Zum einen wären sie Beitragszahler und zum anderen
Rente gehen kann. Das kommt besonders Menschen mit keine Bezieher von Leistungen aus der Arbeitslosenver-
handwerklichen Berufen und auch Menschen, die auf sicherung mehr.
Baustellen arbeiten, zugute, weil sie relativ früh mit der (Der Präsident stellt dem Redner das Mikrofon
Lehre beginnen. So hat man diese sozialpolitische He- ab – Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-
rausforderung gemeistert. geordneten der FDP)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie fallen
Seehofer in den Rücken!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Redner hat zum Schluss noch für die Aufmerk-
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um samkeit danken wollen. Das trage ich hiermit nach.
die Frage der Arbeitsmöglichkeiten für ältere Bürgerin-
nen und Bürger. Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe (Heiterkeit)
vor uns. Arbeitsplätze in unseren Betrieben müssen na- Der nächste Redner ist nun der Kollege Josip
türlich – Herr Strengmann-Kuhn, hier gebe ich Ihnen Juratovic für die SPD-Fraktion.
ausdrücklich recht – auf die älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer abgestellt und auch weiterentwickelt (Beifall bei der SPD)
werden.
Josip Juratovic (SPD):
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sind sie aber Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nicht, sagt Seehofer!) nen und Kollegen! Manchmal wundert man sich, was al-
Ich bin überzeugt, dass wir hier gute Vorgaben bringen les möglich ist.
werden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt!)
(B) Entscheidend ist, zuerst zu versuchen, die bei uns ar- Ein Unions-Ministerpräsident fordert zur Rente mit 67 (D)
beitslos gemeldeten Menschen in Arbeit zu bringen, ins- das, was im Gesetz steht, nämlich eine Überprüfung der
besondere die Älteren, wie es uns zunehmend gelingt, Arbeitsmarktsituation für ältere Arbeitnehmer.
Herr Kollege Ernst.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das wird
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- getan!)
neten der FDP) Sofort gibt es in den Reihen der Unionsfraktionen einen
Ich wehre mich dagegen, dass die ganze Zeit nur Rufe Aufruhr. Kolleginnen und Kollegen von der Union, da
kommen, dass Arbeitsplätze mit Zuwanderern aus Dritt- muss ich mich doch wundern. Sie kritisieren Herrn
staaten besetzt werden sollen. Seehofer dafür, dass er sich an das Gesetz halten will.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN)
NEN]: Darum geht es in dieser Debatte doch
gar nicht! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Erlauben Sie mir, Folgendes in Erinnerung zu rufen:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mit Die vornehmste Aufgabe der Politik ist es, sicherzustel-
der Rente mit 67 überhaupt nichts zu tun!) len, dass Menschen, die drei Viertel ihres Lebens anstän-
dig gearbeitet haben und unseren Wohlstand zum Teil
Vielleicht noch eines, weil auch dies in diesem Zu- unter schwierigsten Bedingungen gesichert haben, im
sammenhang zu berücksichtigen ist. Ab und zu wird be- Alter ein menschenwürdiges Leben mit einer fairen
richtet, unser Arbeitsmarkt sei vernagelt. Ich habe mir Rente haben.
heute die Zahlen von der Bundesagentur für Arbeit ge-
ben lassen. Ich war überrascht: Über 100 000 Menschen Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor der schwie-
aus Drittstaaten haben einen Antrag gestellt – oder von rigen Aufgabe, die Rente zukunftsfest zu machen. Durch
deren Arbeitgebern ist ein Antrag gestellt worden –, um den demografischen Wandel und veränderte Erwerbsbio-
nach einer Vorbehaltsprüfung Arbeit in Deutschland auf- grafien haben wir immer weniger junge Menschen, und
zunehmen. Davon sind allein im Jahr 2009 fast 90 000 diese steigen auch noch immer später ins Berufsleben
Anträge positiv beschieden und ist die Genehmigung er- ein. Außerdem werden die Menschen dank fortschrittli-
teilt worden. cher medizinischer Versorgung Gott sei Dank immer äl-
ter. Deshalb haben wir 2007 verantwortungsvoll und
trotz aller Proteste den stufenweisen Einstieg in die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Rente mit 67 beschlossen, die 2029 voll zum Tragen
Herr Straubinger! kommen soll.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7137
Josip Juratovic
(A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und heute?) Menschen schuldig, die ihr Leben lang für den Wohl- (C)
stand von uns allen anständig arbeiten.
Allerdings müssen wir in unserer Arbeitswelt Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass die Menschen tatsächlich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
länger arbeiten können. Das haben wir Sozialdemokra-
ten bereits bei der Gesetzgebung angemahnt. Deshalb (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
haben wir die sogenannte Überprüfungsklausel bewusst DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
in das Gesetz geschrieben und nicht, wie es die Union LINKEN)
wollte, nur in die Präambel.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!) Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Spitzenreiterposi-
Heute sehen wir: Das war richtig und wichtig. tion im Zeitmanagement der Aktuellen Stunde.
Pascal Kober
(A) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Da feiern wir gol- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 60 und (C)
dene Hochzeit!) 64 Jahren – auch das sind Zahlen, die gelten und wahr
sind – von 10,7 Prozent im Jahr 2000 auf 21,5 Prozent
Ihnen stehen diejenigen gegenüber, die zu diesem Zeit-
im Jahr 2009 gestiegen ist und sich damit mehr als ver-
punkt ins Erwerbsleben eintreten werden.
doppelt hat. Die Entwicklungen gehen in die richtige
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zu wenig!) Richtung.
Dazu zählen unter anderem diejenigen, die letztes Jahr (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Entscheidend sind
geboren sind, nämlich – wir wissen es ganz genau – die 67-Jährigen, nicht die 63-Jährigen! Die
651 000. Jetzt stehen sich diese beiden Zahlen, die Sie sollen noch arbeiten!)
nicht leugnen können, gegenüber:
Wir werden in der Politik noch mehr dafür tun, dass es in
(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Eben haben Zukunft so weitergeht. Dabei wird uns der anstehende
Sie noch gesagt, Sie hätten gelernt! Das Fachkräftemangel unterstützen; denn es wird gar nicht
stimmt aber nicht!) anders gehen, als dass die Menschen in unserem Land
1,35 Millionen Menschen, die im Jahr 2029 das Ren- mehr und länger arbeiten
tenalter erreichen, und 651 000 Personen, die dann unge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
fähr in dem Alter sind, mit der Arbeit zu beginnen.
und die Unternehmen in Zukunft verstärkt ältere Arbeit-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist beeindru- nehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.
ckend!)
Vielen Dank.
Diesen Zusammenhang können Sie nicht leugnen; wir
müssen darauf reagieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich sage wie mein Kollege Heinrich Kolb: Wir von
der FDP haben eigentlich ein anderes Modell. Wir er- Präsident Dr. Norbert Lammert:
kennen aber zumindest an, dass das Problem mit der Matthias Birkwald ist der nächste Redner für die
Einführung der Rente mit 67 in der richtigen Richtung Fraktion Die Linke.
angegangen worden ist. Letztlich werden wir nicht da-
rum herumkommen, dass die Menschen mehr und länger (Beifall bei der LINKEN)
arbeiten. Wir trauen uns, diese Wahrheit offen anzuspre-
chen und mit den Menschen darüber zu diskutieren. Wir Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
machen den Menschen keine Angst. Wir versuchen, den Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (D)
(B)
Menschen Zuversicht zu geben; denn wir erklären ihnen Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
plausibel, dass wir schon jetzt die Weichen in die rich- Eigentlich wollte ich mich jetzt – –
tige Richtung stellen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was hat der wie-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die müssen Ihnen der Papier dabei!)
Zuversicht geben!)
– Ja, besser Papier dabeihaben und über Fakten reden,
Die gegenwärtige Situation am Arbeitsmarkt ist bei
als hier heiße Luft zu verbreiten. –
weitem nicht so dramatisch schlecht, wie Sie es skizziert
haben. (Beifall bei der LINKEN)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: War irgendeine Ich hätte mich heute gerne an dieser Stelle, von diesem
Zahl falsch?) Pult aus bei Ministerpräsident Seehofer entschuldigt.
– Nein. Ich sage Ihnen aber eine weitere Zahl. Warum? Ich habe seinen Vorschlag als – Verzeihung,
Herr Präsident! – „derbe Volksverarschung aus Bayern“
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nur 9,9 Prozent bezeichnet. Genauso stellt es sich dar; denn die richtigen
der Menschen im Alter von 64 haben eine so- Einlassungen von Herrn Seehofer sind unisono von Ih-
zialversicherungspflichtige Beschäftigung!). nen abgelehnt worden. Deswegen kann ich nur sagen:
– Lieber Herr Ernst, unterbrechen Sie mich nicht. Der Ich habe an der Stelle recht gehabt; es handelt sich hier
Präsident möchte, dass ich rechtzeitig fertig werde. um eine Parodie, um eine Tragödie und um eine „derbe
Volksverarschung aus Bayern“.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU) Ich will mich jetzt mit dem auseinandersetzen, was
Sie hier eben gesagt haben. Herr Kollege Weiß, Sie ha-
Präsident Dr. Norbert Lammert: ben eben behauptet, wir Linken würden lügen und hätten
Der Präsident möchte es nicht; er stellt es sicher. kein Interesse an Daten und Fakten.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja,
ständig! Daten und Fakten interessieren euch
nicht! Ihr schwätzt irgendwas daher!)
Pascal Kober (FDP):
Es ist eine erfreuliche Entwicklung, dass der Prozent- Schauen wir uns das doch einmal genau an. Sie haben
satz der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ar- gesagt, die Rente erst mit 67 käme 2029.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7139
Matthias W. Birkwald
(A) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So Wir wollen nicht, dass Ihre Basta-Variante durchkommt. (C)
ist es!) Wenn wir nachfragen, was denn nun wird, dann sagt bei-
spielsweise Staatssekretär Brauksiepe – ich habe ihn
Das kann man so sagen, wenn Sie den letzten Jahrgang schon zitiert –: Es ist sinnvoll, die Beschäftigungsquote
meinen. bei Älteren zu steigern; die Rente ab 67 kommt in jedem
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das Fall. Dazu sage ich: Das ist die Basta-Variante, und die
steht im Gesetz!) akzeptieren wir nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit Rente erst ab 67 soll aber schon im Jahr 2012 begon-
nen werden. Das müssen alle Menschen wissen, die da- Es gibt aber auch die Trickser-Variante. Da wird ge-
von betroffen sind. Dann geht es los. sagt: Es wird alles besser. Das haben wir hier heute auch
gehört. Ich sage: Es wird nicht alles besser.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ein
Monat!) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Im Kommu-
nismus ist es auch ständig abwärts gegangen,
Sie haben gesagt, wir hätten eine Verringerung des Herr Birkwald!)
Erwerbspersonenpotenzials um 7 Millionen bis 2025.
Wir haben jetzt mehrfach gehört, dass nur knapp 10 Pro-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: zent der 64-Jährigen einen sozialversicherungspflichti-
IAB-Bericht!) gen Job haben. Man muss hinzufügen – das ist ganz per-
fide –, dass das für nur 7 Prozent der Frauen gilt. An die-
Der Kollege Kober hat eben den ganzen Unsinn der De- ser Stelle kann man auch sagen: Die Rente erst ab 67 ist
mografielüge auch noch einmal erzählt. Ich möchte jetzt besonders ungerecht für die Frauen, und das ist nicht in
gerne zitieren aus Rente mit 67?, dem Vierten Monito- Ordnung.
ring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte Rente, he-
rausgegeben vom DGB und anderen. Auch Herr Kolb (Beifall bei der LINKEN)
kennt ihn. Die Zahlen darin wurden nicht selbst ausge- Außerdem bleibt das Muster: Je näher Sie dem
rechnet, sondern es wurde Bezug genommen auf die Be- 65. Geburtstag kommen, umso weniger sozialversiche-
rechnungen der Statistischen Landes- und Bundesämter rungspflichtig Beschäftigte gibt es. Aber nicht nur das:
für das Jahr 2009; die haben nichts mit der Linken zu Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass vieles
tun. Es gibt verschiedene Varianten. Bei allen Varianten schlechter geworden ist, Herr Kober, und nicht besser.
wird das Erwerbspersonenpotenzial auch in den
(Pascal Kober [FDP]: Doch, vieles ist besser
Jahren 2020 und 2030 groß genug sein. Heute sind es
geworden, zum Beispiel die Regierung!)
(B) 42 Millionen Menschen. Die Varianten, mit denen ge- (D)
rechnet wird, liegen zwischen 35 und 43 Millionen Er- Was meine ich? Es ist doch wichtig, ob jemand unmittel-
werbspersonen. bar vor seinem Renteneintritt sozialversicherungspflich-
tig beschäftigt gewesen ist. Wie sieht es damit aus? 1999
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie ein- waren das noch 29,6 Prozent. Jetzt sind es noch gerade
mal die Seite! Dann können wir mitlesen!) einmal etwa 18 Prozent. Deswegen sage ich: Nein, es
Zusammengefasst heißt das: wird nicht besser, es wird schlechter, und das ist nicht zu
akzeptieren.
Die Statistischen Ämter … des Bundes und der Der nächste Punkt. Wir haben vor 14 Tagen in den
Länder folgern aus ihren Berechnungen: Zeitungen gelesen – das ist sehr traurig –, dass es zwei
– ich zitiere – schwere Lkw-Unfälle gegeben hat. Der eine Fahrer war
67, der andere 69 Jahre alt. Sie fuhren 40-Tonner. Das
„Damit ist es eher unwahrscheinlich, dass es in ab- möchten wir nicht. Die Menschen müssen dann in Rente
sehbarer Zeit aus demographischen Gründen zu ei- gehen, wenn sie noch leistungsfähig sind. Es darf nicht
nem Arbeitskräftemangel kommen wird.“ sein, dass dadurch Gefährdungen auf uns zukommen.
So sieht es aus. (Beifall bei der LINKEN – Pascal Kober
[FDP]: Wollen Sie den älteren Menschen den
(Beifall bei der LINKEN) Führerschein wegnehmen?)
Dann wollen wir einmal festhalten, dass die Ver- Da mich der Herr Präsident gleich mahnen wird,
pflichtung, die im Gesetz steht, alle vier Jahre zu prüfen, komme ich jetzt zum Schluss und sage noch einmal ganz
ob die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen deutlich: Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und
vorhanden sind – auch die Situation der Älteren auf dem Arbeitnehmer bereit wären, 7 Euro im Monat mehr in
Arbeitsmarkt ist zu prüfen –, nicht für das Jahr 2029, die Rentenkasse einzuzahlen, und es einen höheren Bun-
sondern heute gilt; denn in zwei Jahren soll die Rente deszuschuss gäbe, dann wäre die ganze Nummer mit der
erst ab 67 schrittweise eingeführt werden. Rente erst ab 67 vom Tisch. Sagen Sie den Menschen,
dass es um 7 Euro im Monat geht. Dann sperren Sie Ihre
Wir nehmen die Sorgen der Menschen an dieser Stelle Ohren weit auf. Ich sage Ihnen voraus, dass alle sagen
ernst. werden: Die zahlen wir gerne, wenn wir dafür weiterhin
mit 65 in Rente gehen dürfen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die
interessieren euch überhaupt nicht!) Herzlichen Dank.
7140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
Matthias W. Birkwald
(A) (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger Meine Damen und Herren, es wurde bereits ausge- (C)
[CDU/CSU]: Typisch Linke! Den Arbeitneh- führt, dass der Bericht der Bundesregierung nach § 154
mern das Geld aus der Tasche ziehen! – Ge- SGB VI erfolgt, weil vorgesehen ist, dass alle vier Jahre
genruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das ma- über die Beschäftigungsquote und die soziale Lage so-
chen Sie doch! Sie erhöhen doch alles!) wie die Arbeitsmarktsituation älterer Beschäftigter be-
richtet wird. Danach ist eine Einschätzung abzugeben,
Präsident Dr. Norbert Lammert: ob die Rente mit 67 vertretbar ist. So ist es im Gesetz ge-
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Lehrieder für regelt; Herr Kollege Juratovic hat darauf hingewiesen.
die CDU/CSU-Fraktion. Herr Müntefering hat das Gesetz somit vernünftig
und richtig auf den Weg gebracht. Ich danke der SPD
Paul Lehrieder (CDU/CSU): heute noch einmal dafür, dass wir dies in der Großen Ko-
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen alition so sinnvoll für die Zukunft gestalten konnten.
und Kollegen! Lieber Klaus Ernst, Sie haben den Antrag
eingebracht, hören Sie mir bitte zu. Herr Kollege (Max Straubinger [CDU/CSU]: Und bei
Birkwald, es war schon ungeheuerlich, was Sie zum Wahrung der Beitragsstabilität!)
Schluss erzählt haben. Weil ein älterer Arbeitnehmer mit Der erste Bericht wird bis zum Jahresende vorliegen.
einem Lkw einen Unfall verursacht hat Dann schauen wir einmal. Erst dann können wir kon-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zwei!) krete Aussagen über die Vertretbarkeit der Rente mit 67
treffen.
– weil zwei ältere Arbeitnehmer mit einem Lkw einen
Unfall verursacht haben –, sind Ältere nicht mehr leis- (Anton Schaaf [SPD]: Das hat die Ministerin
tungsfähig? Ja, wo sind wir denn? Sie können doch nicht aber doch gemacht!)
die Leistungsfähigkeit unserer älteren Generation per se
mit einer solchen flapsigen Behauptung infrage stellen. Es ist unseriös, ausgehend vom heutigen Arbeits-
Das ist ungeheuerlich. markt bei nachweisbar und stetig steigenden Beschäf-
tigungsquoten älterer Menschen aus der aktuellen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Situation heraus zu behaupten, es gebe nicht genügend
Widerspruch bei der LINKEN) Arbeitsplätze für Ältere. Wir alle werden die Entwick-
Lieber Herr Kollege Ernst, Sie haben in Ihrem Auf- lung verfolgen.
schlag zur Begründung Ihres Antrags sehr viel über un- Außerdem möchte ich den Jugendlichen hier auf den
seren geschätzten bayerischen Ministerpräsidenten Horst Tribünen ganz bewusst sagen: Auch bei der Rente mit 67
(B) Seehofer ausgeführt. wird es nach 45 Beitragsjahren möglich sein, mit 65 in (D)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wo er recht hat, Rente zu gehen und eine abschlagsfreie Rente zu bezie-
hat er recht!) hen. Das gilt auch für die heute junge Generation, das
muss man fairerweise gelegentlich wiederholen, weil es
Ich freue mich ja, dass Sie seine Reden zumindest zu le- zu schnell in Vergessenheit gerät.
sen versuchen. Wie der Kollege Max Straubinger bereits
ausgeführt hat, wäre es aber schon gut, wenn Sie alles le- (Beifall bei der CDU/CSU)
sen würden, was er gesagt hat. Da war natürlich auch
vom Problem der Zuwanderung die Rede. Ich brauche es Die Diskussion darüber, dass bis jetzt noch zu wenige
hier nicht zu vertiefen. Sie haben völlig recht, letztend- ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind,
lich ist es müßig, das zu wiederholen. rechtfertigt es nicht, jetzt schon über einen Ausstieg bzw.
einen Verzicht auf die Rente mit 67 nachzudenken.
Lieber Herr Kollege Ernst, im Hinblick auf die von
Ihnen bemühten Zahlen müssen wir auch erst einmal Wir werden die volle Wirkung der Rente mit 67 im
schauen, wo wir eigentlich stehen. Wir stehen im Jahr Jahr 2029 erleben. Vom Statistischen Bundesamt wurde
eins nach dem Auslaufen der 58er-Regelung. Wenn die belegt, dass aktuell knapp jeder Vierte im Alter von
Beschäftigungsquote unserer älteren Mitbürgerinnen 64 Jahren – 23,7 Prozent – noch am Erwerbsleben betei-
und Mitbürger noch relativ niedrig ist, ist das natürlich ligt ist, während es von den 65-Jährigen jeder Neunte
zum großen Teil den früheren Möglichkeiten des vorzei- – 11,6 Prozent – ist, und zwar aus den von mir eingangs
tigen Ruhestandes geschuldet. Das muss man realisti- geschilderten Gründen. Der Arbeitsmarkt gibt den Älte-
scherweise mit in die Diskussion einführen, ren jedoch Hoffnung. Im Jahr 2009 waren immerhin
38,7 Prozent der Personen zwischen 60 und 64 Jahren
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) erwerbstätig. Das waren fast doppelt so viele wie zehn
um die Leute nicht weiter einseitig zu verunsichern, wie Jahre zuvor.
wir es von Ihnen von der Linkspartei gewohnt sind und
Wir stellen also fest, dass ältere Mitbürgerinnen und
immer wieder erleben.
Mitbürger in zunehmendem Maße in den Unternehmen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- gebraucht werden. Im Übrigen sollten wir die Arbeit
ruf von der LINKEN: Tosender Beifall! – nicht nur als Belastung sehen, sondern auch ein Stück
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Jetzt auch noch weit als Erfüllung. Viele ältere Mitbürgerinnen und Mit-
Unterstützung von Seehofer! Das ist ja furcht- bürger wollen auch in Zukunft ganz bewusst und gern
bar!) ihrer Arbeit nachgehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7141
Paul Lehrieder
(A) Ich weiß nicht, wie der Job des Fraktionsvorsitzenden Die Zeiten stehen schlecht für die Rente mit 67. Das (C)
der Linkspartei ist. Er muss eine ziemliche Qual sein, zeigen die aktuellen Zahlen. Deswegen hat mein Partei-
wenn Sie so über Arbeit denken. vorstand beschlossen, mit der Anhebung des Renten-
alters erst 2015 zu beginnen. Wir haben uns aber nicht
(Elke Ferner [SPD]: Ihre Rede ist eine Qual,
von der Rente mit 67 verabschiedet. Wir wollen den Pro-
Herr Kollege!)
zess begleiten und mit den Menschen darüber reden, um
Herr Kollege Strengmann-Kuhn hat völlig recht: Wir Verständnis herzustellen.
sind die nächsten Jahre und Jahrzehnte aufgefordert, die
Mein zweites großes Thema ist die Erwerbsminde-
Arbeitswelt für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbür-
rungsrente. Die Zugangsvoraussetzungen sind nicht gut:
ger, die Arbeitsbedingungen und die medizinische Ver-
Man muss meistens den Kopf unter dem Arm tragen. Ich
sorgung entsprechend zu gestalten. Dann wird das alles
nenne als Beispiel meine Freundin Petra; sie hat eine
auch möglich sein. Lassen Sie uns deshalb nach vorne
Netzhautablösung und ist bald blind. Sie musste klagen
schauen.
– der Sozialverband hat ihr dabei geholfen –, damit sie
Lieber Herr Präsident, es geschehen noch Zeichen eine Erwerbsminderungsrente bekommt. Das kann ein-
und Wunder: Ich bin schon vor meiner Zeit fertig. – fach nicht sein; das muss man feststellen.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der LINKEN)
Anton Schaaf [SPD]: Auf Wunder seid ihr
auch angewiesen!) Es gibt auch das Problem, dass die Erwerbsminderungs-
renten – das habe ich schon beim letzten Mal gesagt –
weiter schrumpfen. Hier müssen wir etwas tun. Wir
Präsident Dr. Norbert Lammert: müssen über Zuschläge reden und darüber, wie wir die
Silvia Schmidt erhält nun das Wort für die SPD-Frak- Erwerbsminderungsrenten in Zukunft gestalten, damit
tion. die Menschen sicher davon leben können.
(Beifall bei der SPD) Ein weiterer Punkt, den wir im Zusammenhang mit der
Erwerbsminderungsrente beachten sollten, ist, dass gerade
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): diese Menschen – ich wiederhole die Zahl: 1,2 Millionen –
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gerne arbeiten möchten. Hier muss die Rentenversiche-
Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! rung deutlicher eingreifen, um diesen Menschen eine
Herr Kober, die Menschen im lutherischen Mansfelder Chance zu geben. Mit 48 Jahren darf man nicht in eine
(B) Land haben Angst. Sie haben Angst vor Arbeitslosigkeit Ecke abgeschoben werden, in der man nichts mehr tun (D)
– es gibt dort die höchste Arbeitslosenquote –, und vor kann. Da gehört man nicht hin. Das ist wichtig.
allen Dingen haben sie Angst, dass sie keine ausrei-
Sie sagen: Schluss mit dem Jugendwahn. Ja, das kann
chende Rente mehr bekommen. Das ist keine Polemik ir-
man so sehen. Das ist auch wichtig. Ich sage, dass wir
gendeiner Partei; dieses Gefühl besteht tatsächlich. Herr
eher eine Kampagne brauchen, um den Bürgern und
Kolb, tolle Entwicklung? Die Zahlen der arbeitslosen
Bürgerinnen, um vor allem unseren jungen Leuten zu
Schwerbehinderten steigen. Sie profitieren nicht davon.
zeigen, was ältere Menschen tatsächlich leisten können,
In Sachsen-Anhalt hat die Zahl der älteren Arbeitslosen,
die Leistungen nach dem SGB III bekommen, um (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)
4 Prozent zugenommen. Das sind Tatsachen.
welchen Wert Weisheit und Klugheit in den Betrieben
Ich sage, dass ich durchaus zur Rente mit 67 stehe. haben. Wir brauchen – das haben auch Sie gesagt; das
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin! Das möchte ich gerne betonen – eine lebenslange Bildung.
ist eine Aussage!) Ich muss Ihnen sagen: Da habe ich die größten Bauch-
schmerzen. Ihre Kürzungen bezüglich des SGB II und
Wenn ich mit diesem Thema in meinem Wahlkreis oder SGB III treffen den Osten besonders scharf. Wir haben
bundesweit unterwegs bin, erhalte ich immer mal wieder die höchsten Arbeitslosenzahlen. Wir haben die meisten
ein gewaltiges „Buh!“. Ich erkläre den Menschen dann, SGB-II-Empfänger. Wir brauchen – auch das habe ich
um was es im Einzelfall geht – Sie haben das gerade an- schon gesagt – in Zukunft ausgebildete Fachkräfte. Un-
gesprochen –: Es geht um gute Arbeitsbedingungen, eine ternehmen können das nicht alleine leisten. Man muss
Arbeitswelt, in der es Spaß macht, arbeiten zu gehen, in ihnen zur Seite stehen. Wir gehen mit Schrecken auf die
der man sich wohlfühlt. kommenden Jahre zu. Die Arbeitsämter, die Eigenbe-
triebe und die optierenden Kommunen bis hin zu den Ar-
Jetzt komme ich zu dem Thema Frauen. Wir brauchen
gen haben ihre Bedenken angemeldet. Die Gewerkschaf-
natürlich Kindergartenplätze, damit Mütter arbeiten ge-
ten möchte ich erst gar nicht erwähnen.
hen können. Sie brauchen auch ordentliche Löhne. Da-
mit komme ich zu Karthago: Wir brauchen Mindest- Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Akzeptanz
löhne, um Altersarmut zu verhindern, der Rente mit 67. Wir müssen beste Voraussetzungen
schaffen; das ist wichtig. Ansätze sind schon gegeben.
(Beifall bei der SPD)
Wir werden uns in der nächsten Zeit damit befassen. Wir
obwohl – das habe ich Ihnen schon einmal gesagt – haben im Willy-Brandt-Haus eine Arbeitsgruppe; Elke
8,50 Euro nicht ausreichen. Ferner ist dabei.
7142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) tigkeit der Stiftung orientiert sich vor allem auf die In- Anlage 6 (C)
formation und die Vermittlung von Kontakten.
Antwort
Das Problemfeld, das sich aus dem Übergang in neue
Berufe ergibt, ist komplex. Sonderregelungen für ein- der Staatsministerin Cornelia Pieper auf die Frage des
zelne Berufsgruppen werfen eine Reihe von sozialpoliti- Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache
schen und juristischen Fragen auf. Der Beauftragte der 17/3363, Frage 7):
Bundesregierung für Kultur und Medien hat von Anfang Hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
an klargestellt, dass die mit dem Stichwort Transition be- Westerwelle, sich bei den Verhandlungen zur neuen NATO-
Strategie mit seinem Anliegen durchsetzen können, dass die
nannte Problematik nicht allein mit den Instrumenten der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden?
Kulturpolitik gelöst werden kann.
Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Dennoch hat der Beauftragte der Bundesregierung für Westerwelle, hat sich wiederholt, zuletzt beim Außen-
Kultur und Medien dieses wichtige Thema aufgegriffen. und Verteidigungsministertreffen der NATO am 14. Ok-
So wurde die Projektstudie „Modellentwicklung Transi- tober 2010 in Brüssel, aktiv dafür eingesetzt, dass sich
tion Zentrum Tanz Deutschland“ aus Mitteln des vom die NATO in ihrer Strategie auf das politische Ziel einer
Bund geförderten Fonds Darstellende Künste unter- nuklearwaffenfreien Welt verpflichtet und – analog zur
stützt. Der von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Nuklearstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika –
„Tanzplan Deutschland“ hat den Aufbau der „Stiftung die verminderte Bedeutung von Nuklearwaffen fest-
TANZ – Transition Zentrum Deutschland“ inhaltlich be- schreibt. Daran anknüpfend setzt sich die Bundesregie-
gleitet und finanziell gefördert. rung im Bündnis für eine Überprüfung von Rolle und
Umfang nuklearer Bewaffnung im sich entwickelnden
Diese Hilfe war von vornherein nur als Anschubfi- Sicherheitsumfeld ein.
nanzierung vorgesehen und auch nur zulässig, denn eine
unbegrenzte institutionelle Förderung ist der Kulturstif- Die in diesem Kontext stehende Frage des Abzugs
tung des Bundes nicht möglich. taktischer Nuklearwaffen vom Territorium von NATO-
Mitgliedstaaten wird nicht national, sondern im Bündnis
Im Anschluss an den auslaufenden „Tanzplan Deutsch- zu behandeln und zu entscheiden sein.
land“ sind zwei Projektförderfonds zur Realisierung
künstlerischer Projekte im Bereich Kulturerbe sowie in An dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel, sich
der Partnerschaft von Tanzkompanien mit Schulen ge- im Bündnis und gegenüber den amerikanischen Verbün-
plant. Darüber hinaus wird die Kulturstiftung des Bundes deten für den Abzug der in Deutschland verbliebenen
den „Tanzkongress Deutschland“ als Leuchtturm fördern. Atomwaffen einzusetzen, hält die Bundesregierung fest.
(B) In diesem Zusammenhang unterstützt die Bundesre- (D)
gierung auch die Einbeziehung aller taktischen Nuklear-
Anlage 5 waffen in den weiteren Abrüstungsprozess zwischen den
Antwort USA und der Russischen Föderation.
(A) während der beiden letzten EU-Präsidentschaften Stellt uns die Bundesregierung bis zum 29. Oktober 2010 (C)
eingesetzt. den gesamten Schriftwechsel/-austausch der Bundesregierung
mit den vier großen Energieversorgern im Zusammenhang mit
Diese Linie ist auch im Koalitionsvertrag festge- der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke und insbeson-
schrieben, in dem es dazu heißt: dere dort mit der Entstehung des Term Sheet zur Verfügung?
Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer Ihre Frage wird, da sie einen Tagesordnungspunkt der
Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen zur Tür- laufenden Sitzungswoche betrifft, gemäß Anlage 4 GO-BT
(Richtlinie für die Fragestunde und für die schriftlichen
kei und an einer Anbindung des Landes an die
Einzelfragen Nr. I. 2) schriftlich wie folgt beantwortet:
Europäische Union. Die 2005 mit dem Ziel des Bei-
tritts aufgenommenen Verhandlungen sind ein Pro- Die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung
zess mit offenem Ende, der keinen Automatismus und den Betreibern der Kernkraftwerke in Deutschland
begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vor- sind mündlich geführt worden. Soweit es Schriftverkehr
hinein garantieren lässt. gegeben hat, der über das Term Sheet und den Vertrags-
entwurf hinaus inhaltlich relevant ist, hat die Bundesre-
Sollte die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei gierung hierüber bereits im Rahmen früherer Anfragen
nicht in der Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft berichtet.
verbundenen Verpflichtungen voll und ganz einzu-
halten, muss die Türkei in einer Weise, die ihr privi- Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass im
legiertes Verhältnis zur EU weiter entwickelt, Rahmen des parlamentarischen Auskunftsrechts unstrei-
möglichst eng an die europäischen Strukturen ange- tig kein Anspruch auf Herausgabe von Akten besteht.
bunden werden. Ich bitte um Verständnis, dass die Bundesregierung auch
in diesem Fall nicht anders verfahren möchte.
Der Koalitionsvertrag ist für die Politik der Bundes-
regierung maßgeblich.
Anlage 10
Anlage 8 Antwort
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage
Antwort
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
des Parl. Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner auf die DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 17):
Frage der Abgeordneten Ingrid Hönlinger (BÜND- Wurde der Abteilungsleiter im Bundesministerium für Um-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 13): welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Gerald Hennenhöfer,
vonseiten der Bundesregierung oder vonseiten der Energie-
(B) Unter welchen Umständen dürfen nach Meinung der Bun- versorgungsunternehmen in der Nacht vom 5. auf den 6. Sep- (D)
desregierung Schülerinnen und Schüler das grundrechtlich ge- tember 2010 zu den Verhandlungen des Term Sheet hinzuge-
schützte Recht auf Demonstrationsfreiheit wahrnehmen? beten, und wie lange genau – Stunden – war er an den
Verhandlungen beteiligt?
Minderjährigen Schülerinnen und Schülern stehen
ebenso wie Erwachsenen die im Rahmen einer Demon- Ihre Frage wird, da sie einen Tagesordnungspunkt der
stration betroffenen Grundrechte des Art. 8 Abs. 1 des laufenden Sitzungswoche betrifft, gemäß Anlage 4 GO-BT
Grundgesetzes, GG, und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu. (Richtlinie für die Fragestunde und für die schriftlichen
Nehmen sie an einer Demonstration teil, unterliegen sie Einzelfragen Nr. I. 2) schriftlich wie folgt beantwortet:
denselben gesetzlichen Einschränkungen, die auch alle
Der zuständige Abteilungsleiter im Bundesministe-
übrigen Teilnehmer der Demonstration treffen.
rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat
Es ist zu begrüßen, wenn junge Menschen sich poli- auf Bitte des Bundesministeriums der Finanzen die sich
tisch und gesellschaftlich engagieren. Selbstverständ- aus der Laufzeitentscheidung auf der Grundlage des
lich kann zum politischen und gesellschaftlichen Enga- Atomgesetzes ergebenden Strommengen erläutert. Er
gement auch gehören, politische Ziele und Ideale im war zu diesem Zweck einschließlich einer längeren Sit-
Rahmen von Demonstrationen geltend zu machen. zungsunterbrechung etwa 1 bis 2 Stunden im Bundes-
ministerium der Finanzen.
Bleibt eine Schülerin oder ein Schüler jedoch dem re-
gulären Schulunterricht fern, um an einer Demonstration
teilzunehmen, kollidiert dies mit der Schulpflicht. Die
Anlage 11
grundrechtlichen Freiheiten des einzelnen Schülers wer-
den durch den staatlichen Erziehungsauftrag beschränkt, Antwort
sodass auch die Verpflichtung zur Unterrichtsteilnahme
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage
verfassungsgemäß ist.
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 18):
Welchen Inhalt hatten Gesprächsergebnisse zwischen Bun-
Anlage 9 desregierung und Energieversorgungsunternehmen auf der
Antwort politischen oder auf der Beamtenebene im Zusammenhang
mit dem Vertrag der Bundesregierung mit den Energieversor-
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage gungsunternehmen und der Gesetze bezüglich der Energie-
und Atompolitik, die der Deutsche Bundestag am 28. Oktober
der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE 2010 verabschieden soll, die Auswirkung auf die Auslegung
GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 16): von Vertrag oder Gesetzen haben könnten?
7148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) Ihre Frage wird, da sie einen Tagesordnungspunkt der Anlage 14 (C)
laufenden Sitzungswoche betrifft, gemäß Anlage 4 GO-BT
Antwort
(Richtlinie für die Fragestunde und für die schriftlichen
Einzelfragen Nr. I. 2) schriftlich wie folgt beantwortet: des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Die Ergebnisse der von der Bundesregierung und den DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 21):
Betreibern der Kernkraftwerke geführten Gespräche sind
Führt aus Sicht der Bundesregierung der laut Pressebe-
im Vorvertrag und dem paraphierten Vertragsentwurf richten (Focus Nr. 42 vom 18. Oktober 2010) offenbar bevor-
vom 28. September 2010 umgesetzt, die veröffentlicht stehende Abschluss eines Revisionsprotokolls zum Doppelbe-
sind. steuerungsabkommen mit der Schweiz unter Einschluss einer
anonymen Abgeltungsteuer zu einer Schwächung der Ver-
handlungsposition der Bundesregierung in Bezug auf die zu-
künftige Durchsetzung eines automatischen Informationsaus-
Anlage 12 tauschs mit Drittstaaten, und, wenn nein, warum nicht?
Anlage 16
Anlage 13
Antwort
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Fra-
des Parl. Staatssekretärs Steffen Kampeter auf die Frage gen der Abgeordneten Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE
der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Fragen 23 und 24):
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 20): Kann die Bundesregierung Presseberichte (FAZ vom
18. Oktober 2010) bestätigen, wonach ein Revisionsprotokoll
Welche Antworten gaben die Vertreter der Bundesregie- zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz verein-
rung auf die Fragen des Fragenkataloges der Fraktion Bünd- bart werden soll, das eine anonyme Abgeltungsteuer in Höhe
nis 90/Die Grünen vom 5. Oktober 2010 an Bundesminister von 25 bis 35 Prozent beinhaltet, und, wenn nein, welches ist
Ronald Pofalla in den Ausschüssen des Deutschen Bundesta- genau der Stand der Verhandlungen in Bezug auf die Nachver-
ges, und in welchen Ausschusssitzungen – Ausschuss plus steuerung bei Altfällen und für die Besteuerung von Schweizer
Datum – wurden sie jeweils gegeben? Kapitalerträgen deutscher Steuerpflichtiger für die Zukunft?
Hält die Bundesregierung den möglichen Abschluss eines
Ihre Frage wird, da sie einen Tagesordnungspunkt der Revisionsprotokolls zum Doppelbesteuerungsabkommen mit
laufenden Sitzungswoche betrifft, gemäß Anlage 4 GO-BT der Schweiz, das einen eigenen Abgeltungsteuersatz enthält,
(Richtlinie für die Fragestunde und für die schriftlichen für vereinbar mit dem EU-Recht, das ab 1. Januar 2011 die
Einzelfragen Nr. I. 2) schriftlich wie folgt beantwortet: Abführung einer Quellensteuer von 35 Prozent auf Zins-
erträge ausländischer Anleger in der Schweiz vorsieht, und,
wenn ja, warum?
Die Bundesregierung hat die gestellten Fragen in der
34. Sitzung des Haushaltsausschusses des Deutschen
Zu Frage 23:
Bundestages am 26. Oktober 2010 mündlich beantwor-
tet. Die Antworten wurden den Ausschussmitgliedern Das unterschriftsreife Revisionsprotokoll zur Ände-
auch in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt. rung des bestehenden deutsch-schweizerischen Doppel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7149
(A) besteuerungsabkommens für den Bereich der Steuern reswechsel wie geplant auslaufen zu lassen. Hieran hält (C)
vom Einkommen und vom Vermögen enthält keine Re- die Bundesregierung fest.
gelungen zu einer anonymen Abgeltungsteuer oder für
Die Europäische Kommission hat am 4. Oktober 2010
sogenannte Altfälle.
die Verlängerung des „Vorübergehenden Gemeinschafts-
Möglichkeiten für eine dauerhafte Lösung des Pro- rahmens“ als EU-beihilferechtliche Grundlage solcher
blems unversteuerter Kapitalanlagen deutscher Steuer- Programme um ein Jahr bei gleichzeitiger deutlicher Re-
pflichtiger in der Schweiz unter Einschluss von Altfällen duktion des Umfangs der Fördermöglichkeiten beschlos-
werden im Rahmen einer bilateralen Arbeitsgruppe son- sen. Damit trägt die Kommission der sehr heterogenen
diert. Diese wurde im März 2010 von den Finanzminis- wirtschaftlichen Situation in der Europäischen Union
tern Deutschlands und der Schweiz eingesetzt und steht Rechnung.
unter der Leitung der Staatssekretäre Dr. Beus, Deutsch- Vor diesem Hintergrund begrüßt es die Bundesregie-
land, und Dr. Ambühl, Schweiz. Die Sondierungsgesprä- rung, dass die Kommission in ihren Vorschlägen die Ver-
che der Arbeitsgruppe verliefen konstruktiv. Zu den längerung des „Vorübergehenden Gemeinschaftsrahmens“
Einzelheiten haben beide Parteien Stillschweigen verein- auf ein Jahr begrenzt und den Umfang der bisher mögli-
bart. chen Erleichterungen bei der Vergabe von Bürgschaften
Wie im März 2010 von den Finanzministern verein- und Darlehen deutlich reduziert hat. Damit trägt die
bart, soll im Herbst aufgrund einer Bilanz der Sondie- Kommission der insgesamt verbesserten wirtschaftli-
rungsgespräche entschieden werden, ob auf dieser chen Situation Rechnung und setzt ein Signal im Hin-
Grundlage formelle Verhandlungen aufgenommen wer- blick auf den zielgerichteten Ausstieg aus den krisenbe-
den. Erst im Rahmen dieser Verhandlungen wird es um dingten Konjunkturmaßnahmen.
die konkrete Ausgestaltung der Besteuerung auch von
Altfällen sowie um Steuersätze und Bemessungsgrund- Zu Frage 26:
lagen gehen. Vor Aufnahme von Verhandlungen bereits Die Länder werten die Vorschläge der Kommission
über deren Ergebnisse zu spekulieren, ist verfrüht. Daher unterschiedlich. Während einige Länder die Strategie der
nimmt die Bundesregierung keine Stellung zu den in der Kommission grundsätzlich begrüßen, fordern andere den
Presse geäußerten Mutmaßungen über die möglichen Erhalt substanziell weitergehender Erleichterungen als
Lösungsansätze. von der Kommission vorgeschlagen, zum Beispiel For-
derung nach 90 Prozent-Bürgschaften für Unternehmen,
Zu Frage 24: die aktuell in Schwierigkeiten sind; Forderungen nach
Betriebsmittelbürgschaften für Großunternehmen. Teil-
Da das geplante Revisionsprotokoll keine derartigen
(B) weise werden diese Forderungen zum EU-wettbewerbs- (D)
Regelungen enthält, ist die Frage gegenstandslos.
rechtlichen Rahmen auch mit Forderungen nach der fis-
kalischen Beteiligung des Bundes an entsprechenden
Fördermaßnahmen verknüpft.
Anlage 17
Die Bundesregierung wird diese Forderungen nicht
Antwort aufgreifen, da sich die Situation in Deutschland allge-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Fra- mein deutlich verbessert hat und daher am Ausstieg aus
gen des Abgeordneten Garrelt Duin (SPD) (Drucksache den krisenbedingten Konjunkturmaßnahmen festgehal-
ten wird. Im Hinblick auf die auch von zahlreichen Län-
17/3363, Fragen 25 und 26):
dern befürwortete Kleinbeihilfenregelung (500 000 Euro
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus in drei Jahren) hat sich das BMWi mit dem BMF darauf
den aktuellen Vorschlägen der EU-Kommission zur Verlänge-
rung des Temporary Framework, insbesondere auch zur Frage
verständigt, in Brüssel eine Verlängerung bis Ende 2011
einer Verlängerung der Regelungen zu Bürgschaften und Kre- zu fordern. Ob die EU-Kommission dieser Forderung
diten aus dem Wirtschaftsfonds Deutschland? entspricht, wird sich frühestens Anfang Dezember zei-
Wie bewertet die Bundesregierung die diesbezüglichen gen. Zur Einhaltung der Haushaltsneutralität über die
Positionen der Bundesländer, und wie sieht vor diesem Hin- Maßnahmen insgesamt würde die Umsetzung auf Bun-
tergrund die gemeinsame deutsche Position gegenüber den desebene auf kleine und mittlere Unternehmen be-
EU-Kommissionsvorschlägen aus? schränkt.
Zu Frage 25:
Anlage 18
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die
Konjunkturmaßnahmen nicht länger bestehen dürfen, als Antwort
es die wirtschaftliche Situation unbedingt erforderlich
macht. Maßnahmen, die zur Überwindung der Krise vo- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Fra-
rübergehend notwendig und akzeptabel waren, dürfen gen des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
keine Dauereinrichtung werden. In Deutschland hat sich DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Fragen 27 und 28):
die Wirtschaft seit dem Höhepunkt der Krise deutlich er- Welche Szenarien hinsichtlich des Abbaus der Belegschaf-
ten, der Reduzierung der Förderung, der Schließung von
holt. Die Bundesregierung hat sich dementsprechend da- Standorten, der Kosten für die öffentliche Hand usw. lagen der
für entschieden, das Bürgschafts- und Kreditprogramm Entscheidung zum Ausstieg aus dem Steinkohlenbergbau im
des Bundes („Wirtschaftsfonds Deutschland“) zum Jah- Jahr 2007 zugrunde, und inwieweit stimmen diese Szenarien
7150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) überein bzw. wodurch unterscheiden sie sich konkret von den Wie viele der befristeten Arbeitsverträge bei den Jobcen- (C)
vom RWI (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschafts- tern wurden inzwischen zur Entfristung freigegeben – bitte
forschung e. V.) bzw. der RAG-Stiftung der Bundesregierung Zahlen für den Bund sowie die Bundesländer nennen –, und
aktuell vorgelegten Szenarien? wie hoch ist nach diesen Entfristungen der Anteil der befriste-
Wie viele Personen hat die RAG Aktiengesellschaft im un- ten Arbeitskräfte bei den Jobcentern (bitte auch hier Zahlen
ter- und übertägigen Bereich des Steinkohlenbergbaus seit dem für den Bund sowie die Bundesländer nennen und beim Bund
Inkrafttreten des Gesetzes zur Finanzierung der Beendigung nach Aufgabenbereich aufgliedern)?
des subventionierten Steinkohlenbergbaus zum Jahr 2018 Gab es auch im Bereich der Arbeitsagenturen eine Entfris-
(Steinkohlefinanzierungsgesetz) im Jahr 2007 neu eingestellt tung von Arbeitskräften, und wie stellt sich hier die absolute
– Einstellungen vom Arbeitsmarkt, Übernahme von Auszubil- Zahl und der relative Anteil der befristeten Arbeitskräfte vor
denden, Überführung von Zeitverträgen in Dauerarbeitsverhält- bzw. nach der Entfristung dar (bitte auch hier Zahlen für den
nisse usw. –, und wie viele Personen haben im gleichen Zeit- Bund sowie die Bundesländer nennen und beim Bund nach
raum die RAG Aktiengesellschaft im unter- und übertägigen Aufgabenbereich aufgliedern)?
Bereich des Steinkohlenbergbaus durch Inanspruchnahme wel-
cher arbeitsmarktpolitischen Instrumente – Frühverrentung,
Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt usw. – verlassen?
Zu Frage 30:
Die Bundesregierung geht davon aus, dass sich die
Zu Frage 27: Frage auf die durch den Haushaltsausschuss des Deutschen
Der im Jahre 2007 getroffenen Entscheidung zum Bundestages am 9. Juni 2010 entsperrten 3 200 Stellen im
Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau Haushalt der Bundesagentur für Arbeit für den Aufga-
lagen vor allem überprüfte Modellrechnungen der benbereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende be-
RAG AG zu den diskutierten Stilllegungszeitpunkten zieht. Alle 3 200 Stellen stehen zur Übernahme bislang
2012, 2014, 2016 und 2018 zugrunde. Bei den von der befristet beschäftigter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
RAG AG und der RAG-Stiftung an die Bundesregierung bzw. zur Übernahme von Amtshilfekräften zur Verfü-
übermittelten Daten handelt es sich nicht um Szenarien, gung und wurden auf die Regionaldirektionsbezirke
sondern um Einzelwerte, die nur Teilpositionen der frü- verteilt. Die Stellenbesetzungsverfahren sind nach Mit-
heren Szenarien betreffen. Das RWI hat der Bundesre- teilung der Bundesagentur für Arbeit weitestgehend ab-
gierung kein Szenario vorgelegt. geschlossen.
Zu den mit der Frage gewünschten detaillierten Dar-
Zu Frage 28: stellungen verweist die Bundesregierung auf die Ant-
Von Anfang 2008 bis Ende September 2010 kam es worten vom 12. Oktober 2010 zur Kleinen Anfrage der
– nach Angaben der RAG AG – im RAG-Bergbau zu ins- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdruck-
gesamt 1 603 Neueinstellungen – darunter 1 554 Über- sache 17/3294, sowie vom 2. Juli 2010 zur Kleinen
Anfrage der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache
(B) nahmen von Auszubildenden und 49 Einstellungen vom (D)
Arbeitsmarkt. Dabei handelte es sich ausschließlich um 17/2378. Ebenso erinnert die Bundesregierung an die
befristete Arbeitsverhältnisse. Im gleichen Zeitraum Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ralf
schieden 9 865 Mitarbeiter aus. Dies geschah über Vor- Brauksiepe vom 17. Mai 2010 an die Fragestellerin,
ruhestandsregelungen, Arbeitsmarktabgänge sowie ar- Bundestagsdrucksache 17/1812. Darüber hinausge-
beitsmarktpolitische Instrumente wie Handwerkerinitia- hende Informationen liegen der Bundesregierung im
tive, Qualifizierung und Übergangshilfen. Moment nicht vor.
Zu Frage 31:
Anlage 19 Mit der Kleinen Anfrage vom 12. Oktober 2010, Bun-
Antwort destagsdrucksache 17/3304, hat die Fraktion Die Linke
unter Frage 10 einen identischen Sachverhalt erfragt.
des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage Die Bundesregierung wird der Beantwortung zu dieser
des Abgeordneten Swen Schulz (Spandau) (SPD) Frage fristgerecht nachkommen und bittet die Fragestel-
(Drucksache 17/3363, Frage 29): lerin bis dahin um Geduld.
Ist der Bundesregierung bekannt, in wie vielen Fällen
– aufgeschlüsselt nach Bundesländern – der barrierefreie Zu-
gang zu Filialen der Deutschen Post AG nicht gewährleistet ist?
Anlage 21
Der Bundesregierung liegen keine detaillierten Zah-
Antwort
len hinsichtlich eines barrierefreien Zugangs zu den bun-
desweit 12 400 Filialen der Deutschen Post AG vor. Das des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Unternehmen führt dazu aktuell eine Erhebung durch, Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
ein Ergebnis liegt noch nicht vor. (Drucksache 17/3363, Frage 32):
Welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zieht die
Bundesregierung aus dem Gespräch der Bundeskanzlerin
Anlage 20 Dr. Angela Merkel mit den Vertreterinnen und Vertretern des
Deutschen Behindertenrates, DBR, am 14. Oktober 2010 im
Antwort Bundeskanzleramt?
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die Das Gespräch der Bundeskanzlerin mit dem Spre-
Fragen der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE cherrat des Deutschen Behindertenrates am 14. Oktober
LINKE) (Drucksache 17/3363, Fragen 30 und 31): 2010 diente dem Meinungsaustausch zu Themen der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7151
(A) Politik für Menschen mit Behinderungen; vor allem im stoffe als sinnvoll an, sofern die ordnungspolitischen (C)
Hinblick auf die Vorbereitung eines Aktionsplans der Rahmenbedingungen eine breite Verwendung, vor allem
Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behinderten- in der Land- und Forstwirtschaft, und damit einen ent-
rechtskonvention, der im kommenden Jahr beschlossen sprechenden Marktzugang für Pflanzenöle zulassen.
werden soll. Ohne diese Voraussetzungen können Fördermaßnahmen
nicht die gewünschte Wirkung entfalten.
Im Einzelnen wurden Themen wie „Inklusive Bil-
dung“, berufliche Teilhabe, Barrierefreiheit sowie Zudem unterstützt das BMELV institutionell das
Selbstbestimmtes Leben und Wohnen erörtert. Die Er- Deutsche Biomasseforschungszentrum, DBFZ, das ei-
kenntnisse des Gespräches und die daraus zu ziehenden gene Forschung auf diesem Gebiet betreibt. So werden
Schlussfolgerungen werden im Aktionsplan der Bundes- derzeit gerade ein Motorenprüfstand zur Testung der
regierung Berücksichtigung finden. Nutzung von Pflanzenölen errichtet, Marktstudien zum
Thema erstellt sowie eine intensive analytische Begleit-
forschung durchgeführt.
Anlage 22
Antwort Anlage 23
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage Antwort
des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 33): des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
Wie verteilen sich die derzeitigen Anteile der einzelnen des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE
Biokraftstoffarten – bitte aufteilen nach Biodiesel, Pflanzenöl, GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 34):
Bioethanol, BtL bzw. Fischer-Tropsch-Kraftstoffe und Ähnli- Welche Bundesministerien schreiben die Projektträger-
ches sowie sonstige Biokraftstoffe – auf die Biokraftstofffor- schaften für ihre Forschungsbereiche grundsätzlich aus, und
schungsförderung des Bundesministeriums für Ernährung, welche Projektträgerschaften – insbesondere des Bundes-
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, BMELV, und trifft es ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
zu, dass das BMELV die Förderung für die Entwicklung der schutz – werden nicht ausgeschrieben?
Pflanzenölkraftstofftechnologie im Allgemeinen und im Be-
reich der Landwirtschaftsmaschinen im Besonderen beendet? Ausweislich des Bundesberichtes Forschung und
Innovation 2010 haben BMBF, BMWi, BMELV, BMU,
Zum Stichtag 25. Oktober 2010 wurden 30 Projekte
BMG und BMVBS Institutionen mit der Projektträger-
im Bereich Biokraftstoffe im Rahmen des seit 2001 gel-
schaft für ihre Forschungsbereiche beauftragt. Grund-
tenden und 2008 fortgeschriebenen Förderprogramms
sätzlich erfolgt eine Vergabe im Wettbewerb nach den
Nachwachsende Rohstoffe des Bundesministeriums für
(B) Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, einschlägigen Vergaberegeln, sofern nicht Gründe im (D)
Einzelfall für ein Absehen von der Ausschreibung spre-
BMELV, gefördert:
chen.
Gesamtförderung BMELV hat die Bundesanstalt für Landwirtschaft und
Thematik Ernährung, BLE, und die Fachagentur Nachwachsende
[Tsd. Euro]
Rohstoffe, FNR, mit Projektträgerschaften im For-
Übergeordnet* 3 795 schungsbereich beauftragt. Diese wurden nicht ausge-
schrieben.
Biodiesel 419
Pflanzenöl 621
Anlage 24
Ethanol 2 662
Antwort
BtL** 10 289
der Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz auf
Sonstige 47 die Fragen der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben)
(SPD) (Drucksache 17/3363, Fragen 35 und 36):
Gesamt 17 836
Ist der Bundesregierung bekannt, dass für einen pflegebe-
* Nicht direkt einzelnen Biokraftstoffarten zuzuordnende Projekte dürftigen Menschen, der Pflegeleistungen der Berufsgenos-
(zum Beispiel Methodenentwicklungen für Untersuchungsverfah- senschaft nach § 44 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch,
ren oder Zertifizierung) SGB VII, als vorrangige Leistung erhält, gemäß § 34 SGB XI
** Davon 10 000 Tsd. Euro im Rahmen des Konjunkturpaketes II der die Leistungen der Pflegeversicherung, insbesondere Leistun-
gen gemäß § 45 b SGB XI – Betreuungsleistungen –, für die
Bundesregierung aus dem Sondervermögen Investitions- und Til-
Höhe dieses Betrages ruhen, und teilt die Bundesregierung die
gungsfonds, ITF, (nicht aus der Titelgruppe 08 des BMELV)
Einschätzung, dass er somit trotz der leicht besseren Ausge-
staltung der Leistungen im SGB VII gegenüber Leistungs-
empfängern im SGB XI strukturell benachteiligt wird?
Das Förderprogramm ist weiterhin im vollen Umfang
gültig. Damit ergibt sich auch, dass Landmaschinenher- Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass ein pfle-
gebedürftiger Mensch, der Leistungen der Berufsgenossen-
steller als mögliche Zuwendungsempfänger nicht ausge- schaft nach § 44 SGB VII als vorrangige Leistung erhält und
schlossen sind. für den somit gemäß § 34 SGB XI die Leistungen der Pflege-
versicherung für die Höhe dieses Betrages ruhen, trotzdem
Das BMELV sieht eine Förderung von Forschungs- grundsätzlich Anspruch auf zusätzliche Leistungen gemäß § 45 b
und Entwicklungsvorhaben zu Pflanzenölen als Kraft- SGB XI hat, und, wenn nein, besteht hier nach Ansicht der
7152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010
(A) Bundesregierung eine zu schließende Gesetzeslücke, da es § 41 SGB XI plus die Leistung nach § 45 b SGB XI (C)
eine Ungleichbehandlung der Betroffenen im SGB VII und im Kalenderjahr höher sind als die Pflegeleistungen
SGB XI darstellt, wenn die Leistung gemäß § 45 b SGB XI
deshalb nicht gewährt wird, weil sie im Falle von Berufsun- nach § 35 BVG. Dies bedeutet, sofern die gesamten
fällen im SGB VII nicht normiert ist und auch auf Grundlage Leistungen nach dem SGB XI der Höhe nach über
des SGB XI nicht gewährt werden kann? dem anzurechnenden Betrag der Pflegezulage nach
§ 35 BVG liegen, kann die Differenz ausgezahlt
Die Bundesregierung teilt die in den Fragen zum Aus-
werden.
druck kommende Auffassung nicht.
In § 34 Abs. 1 Nr. 2 des Elften Buches Sozialgesetz- Die vorstehenden Ausführungen sind analog auch
buch, SGB XI, ist festgelegt, dass der Anspruch auf auf die anderen Entschädigungsleistungen aus der
Leistungen der Pflegeversicherung ruht, soweit Versi- gesetzlichen Unfallversicherung, aus der Unfallver-
cherte Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürf- sorgung nach öffentlichem Dienstrecht oder aus
tigkeit aus der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten. dem Ausland oder von einer zwischenstaatlichen
Das Ruhen des Leistungsanspruchs nach dem SGB XI oder überstaatlichen Einrichtung anzuwenden.
wegen Bezugs von Entschädigungsleistungen tritt nur in Die gesetzliche Unfallversicherung enthält ein umfas-
Höhe der bezogenen Entschädigungsleistungen ein. sendes Leistungsspektrum, das auch die nach § 45 b
Hiermit soll eine Doppelleistung vermieden werden, SGB XI geregelten zusätzlichen Betreuungsleistungen
wenn die beiden in Betracht kommenden Leistungen im inhaltlich erfasst. Dies sind zunächst die Leistungen bei
Wesentlichen dem gleichen Zweck dienen und zeitgleich Pflegebedürftigkeit nach § 44 Siebtes Buch Sozialge-
bezogen bzw. beansprucht werden. setzbuch, SGB VII. Es wird ein nach Art und Schwere
Ist der Leistungsanspruch nach den §§ 36 ff. SGB XI des Gesundheitsschadens bemessenes Pflegegeld ge-
höher als die Entschädigungsleistung, ist der Differenz- zahlt, alternativ Haus- oder Heimpflege geleistet. Dazu
betrag von der Pflegekasse zu erbringen. erbringt die gesetzliche Unfallversicherung umfassende
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft,
Der Vorrang der Leistungen der gesetzlichen Unfall- § 39 SGB VII. Zu diesen Hilfen gehören auch Hilfen zur
versicherung gilt seit Einführung der Regelung über den Verbesserung der sozialen Eingliederung, wie zum Bei-
zusätzlichen Betreuungsbetrag nach § 45 b SGB XI, also spiel Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder kultu-
seit 1. April 2002. rellen Einrichtungen. Regelmäßig können daher die
Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung das
Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 wur- Leistungsniveau der sozialen Pflegeversicherung nicht
den die Leistungen nach § 45 b SGB XI erhöht, und es unterschreiten. Die Unfallversicherung leistet allerdings
wurden auch Personen der sogenannten Pflegestufe 0 in ausschließlich für unfallbedingte Pflegebedürftigkeit. In (D)
(B) die Regelung mit einbezogen. Dabei wurde das Vorrang-
Fällen, in denen Unfallfolgen mit weiteren unfallunab-
Nachrang-Verhältnis zur gesetzlichen Unfallversiche- hängigen Gesundheitsbeeinträchtigungen zusammentref-
rung nicht geändert, vielmehr wurde in der Begründung fen, kann deshalb ausnahmsweise eine solche Unter-
zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz das Vorrang-Nach- schreitung eintreten.
rang-Verhältnis von Entschädigungsrecht zur Pflegever-
sicherung im Zusammenhang mit § 45 b SGB XI aus-
drücklich angesprochen und damit inzidenter unterstellt,
dass dieses Vorrang-Nachrang-Verhältnis auch bezogen Anlage 25
auf die Leistungsart nach § 45 b SGB XI Anwendung Antwort
findet, siehe Bundestagsdrucksache 16/7439, dort die
Begründung zu § 45 b SGB XI, Buchstabe a, Doppel- der Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz auf
buchstabe bb. die Frage des Abgeordneten René Röspel (SPD)
(Drucksache 17/3363, Frage 37):
Es lag im Ermessen des Gesetzgebers, bei einer An-
Hat sich die Bewertung der Tätigkeit des sogenannten
spruchskonkurrenz der vorliegenden Art das Ruhen der XCell-Centers in Köln und Düsseldorf durch die Bundesre-
beitragsfinanzierten Pflegeleistung der Pflegeversiche- gierung (siehe Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs
rung bei Fortdauer des Bezugs einer nach seiner Ein- Daniel Bahr vom 3. Mai 2010, schriftliche Frage 112 auf Bun-
schätzung im Wesentlichen gleichgerichteten arbeitge- destagsdrucksache 17/1645) angesichts des jüngst bekannt ge-
berfinanzierten Leistung anzuordnen. wordenen Todesfalls („Schluss mit lebensgefährlicher Stamm-
zelltherapie“, Wirtschaftswoche vom 18. Oktober 2010)
Die Praxis verfährt entsprechend dieser Rechtslage, geändert, und wäre es der Bundesregierung angesichts der
einhelligen Kritik aus Wissenschaft, Medizin und Forschung
seitdem es die angesprochenen Leistungen nach § 45 b an der Tätigkeit des XCell-Centers nicht schon vor dem Ein-
SGB XI gibt, seit dem 1. April 2002. Das Gemeinsame tritt von Todesfällen möglich gewesen, hier im Sinne eines
Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes führt zu § 34 überzeugenden Patientenschutzes aktiv zu werden?
Abs. 1 Nr. 2 SGB XI Folgendes aus:
Das rechtliche Instrumentarium zum Verbraucher-
Da die Pflegezulage nach § 35 BVG auch die Betreu- und Patientenschutz bei Therapien mit Stammzellpräpa-
ung des Pflegebedürftigen umfasst, ruhen grund- raten sind insbesondere das Arzneimittelgesetz und das
sätzlich die Leistungen nach § 45 b SGB XI. Eine ärztliche Berufsrecht. Der Vollzug dieses rechtlichen In-
Leistungsgewährung durch die Pflegekasse kommt strumentariums liegt in der Verantwortung der Länder.
nur in Betracht, soweit die laufenden monatlichen Im Übrigen greift die Bundesregierung nicht in laufende
Leistungen nach den §§ 36 bis 38 SGB XI bzw. staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren ein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7153
(A) Auf die ausführliche Darstellung in der Antwort zu Grundsätzlich wird sich die geplante Änderung auf (C)
Ihrer schriftlichen Frage Nr. 112 auf Bundestagsdrucksa- die Umsetzung der EU-Richtlinie beschränken. Im Zu-
che 17/1645 vom 3. Mai 2010 wird verwiesen. Ergän- sammenhang mit der Umsetzung stehen auch Fragen zur
zend ist zu der seither eingetretenen Entwicklung Fol- Organisation der Organspende. Insofern wird die Bun-
gendes zu berichten: desregierung auch weitergehende Vorschläge, zum Bei-
Ausgehend von der Meldung zweier schwerwiegen- spiel zur gesetzlichen Regelung von Transplantationsbe-
der unerwünschter Reaktionen, in einem Fall mit tödli- auftragten, prüfen.
chem Ausgang, nach Anwendung von Stammzellpräpa-
raten im Gehirn (intrazerebral/intraventrikulär) durch die
Firma XCell-Center hat die zuständige Bundesoberbe- Anlage 27
hörde, das Paul-Ehrlich-Institut, ein wissenschaftliches Antwort
Gutachten erstellt und der Landesregierung Nordrhein-
Westfalen am 1. Oktober 2010 zur Verfügung gestellt. der Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz auf
Darin vertritt das Paul-Ehrlich-Institut die Auffassung, die Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE
dass nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen LINKE) (Drucksache 17/3363, Frage 41):
Erkenntnisse die Anwendung von autologen Stammzell- Wie begründet die Bundesregierung, dass eine schwerst-
präparaten im Gehirn durch die Firma XCell-Center behinderte Person, die ihre „besonderen Pflegekräfte“ nach
schädliche Wirkungen habe. Diese würden über ein nach dem Arbeitgebermodell bei sich angestellt hat, die Assistenz
den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ver- im Krankenhaus finanziert bekommt, wohingegen eine Per-
son mit exakt der gleichen Beeinträchtigung, also auch mit
tretbares Maß erheblich hinaus gehen. Nach den derzeit exakt dem gleichen Hilfebedarf, die ihre Assistenz über einen
vorliegenden Daten sei die Anwendung dieser Stamm- ambulanten Dienst erhält, kein Geld für ihre lebensnotwen-
zellpräparate für die genannten Anwendungen deshalb dige Hilfe erhält, obwohl in beiden Fällen ein gleich gelager-
als bedenklich anzusehen. ter und gleich großer besonderer Pflegebedarf vorliegt, der
über die pflegerischen Leistungen im Rahmen der stationären
Es ist gesetzlich verboten, bedenkliche Arzneimittel Krankenhausbehandlung gemäß § 39 SGB V hinausgeht?
in den Verkehr zu bringen oder bei einem anderen Men-
schen anzuwenden (§ 5 Arzneimittelgesetz). Der Gesetzgeber hat sich beim Assistenzpflegebe-
darfsgesetz darauf beschränkt, dass pflegebedürftige
Nach Eingang dieses Gutachtens hat die zuständige Menschen mit Behinderungen die von ihnen beschäftig-
Landesbehörde, Bezirksregierung Köln, die Firma ten besonderen Pflegekräfte bei Krankenhausaufenthal-
XCell-Center unverzüglich zu der von ihr beabsichtigten ten weiter beschäftigen können, um damit schnellstmög-
Untersagungsverfügung angehört. Die Firma hat darauf- lich eine bisherige Regelungslücke zu bereits
hin mit sofortiger Wirkung eine wirksame Unterlas- bestehenden Bestimmungen zu schließen (vergleiche (D)
(B) sungserklärung abgegeben. Sie führt derzeit keine An-
Sozialhilfe § 63 SGB XII und Soziale Pflegeversiche-
wendungen autologer Stammzellzubereitungen im rung, § 34 SGB XI).
Gehirn durch. Das Paul-Ehrlich-Institut steht seit Be-
kanntwerden der schwerwiegenden unerwünschten Re- Eine Regelungslücke zu bereits gesetzlich veranker-
aktionen in engem Kontakt mit der zuständigen Landes- ten leistungrechtlichen Ansprüchen besteht demgegen-
behörde. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft. über bei dem von Ihnen vergleichsweise angeführten
Personenkreis zur Finanzierung der persönlichen Assis-
tenz über einen ambulanten Pflegedienst auch nach der
Anlage 26 Rechtslage vor Inkrafttreten des Assistenzpflegebedarfs-
gesetzes nicht.
Antwort
Die Beschränkung des anspruchsberechtigten Perso-
der Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz auf
nenkreises erfolgte aufgrund der Tatsache, dass im Rah-
die Frage des Abgeordneten René Röspel (SPD)
men eines Expertengesprächs im Bundesministerium für
(Drucksache 17/3363, Frage 38):
Gesundheit, BMG, am 10. November 2008, das die dama-
Wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
tag einen Entwurf für eine Änderung des Transplantationsge-
lige Parlamentarische Staatssekretärin im BMG, Frau
setzes – insbesondere mit dem Ziel, Krankenhäuser zu ver- Caspers-Merk, mit Betroffenenverbänden und beteiligten
pflichten, Stellen bzw. Arbeitszeit für einen ärztlichen Ressorts geführt hat, insbesondere für diesen Personen-
Transplantationsbeauftragten und -assistenten vorzuhalten – kreis ein besonderer Pflegebedarf festgestellt werden
vorlegen, der von den Abgeordneten Ulrike Flach, Wolfgang konnte, der über die pflegerischen Leistungen im Rahmen
Zöller und Dr. Rolf Koschorrek im August 2010 für die Zeit
„nach der Sommerpause“ öffentlich angekündigt worden war,
der stationären Krankenhausbehandlung gemäß § 39 des
oder sieht die Bundesregierung im Gegensatz zu den genann- Fünften Buches Sozialgesetzbuch, SGB V, hinausgeht.
ten Abgeordneten keinen Reformbedarf beim Transplanta-
tionsgesetz?
(A) Wie ist der aktuelle Sachstand bei der vom Bundesminis- ger Abtransport in eine Konditionierungsanlage für be- (C)
ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagenen strahlte Brennelemente erfolgt – Endlagerung ab dem
Einrichtung einer Pilotstrecke zur Fahrradmitnahme im ICE,
und welche Vorschläge für mögliche Pilotstrecken hat die Jahr 2035 –, gibt es unter diesen Umständen bei irgend-
Bundesregierung der Deutschen Bahn AG unterbreitet? welchen Kernkraftwerken einen Engpass bei der Zwi-
Welche Initiativen unternimmt oder beabsichtigt die Bun- schenlagerung der abgebrannten Brennelemente? Bei
desregierung gegenüber der Deutschen Bahn AG, um die der Prüfung sollten realistische jährliche Entlademengen
Fahrradmitnahme im ICE zu ermöglichen, und wie bewertet unterstellt werden.“
sie die Fahrradmitnahme künftiger Konkurrenten der Deut-
schen Bahn AG im Hochgeschwindigkeitsverkehr in Deutsch- Darüber hinaus wurden keine weiteren Prämissen
land? oder Rahmenbedingungen seitens des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zu Frage 42: festgelegt.
Die Idee der Einrichtung und Durchführung eines Pi- Hintergrund für diese Studie war, ob im Hinblick auf
lotprojekts zur Fahrradmitnahme im ICE wurde im Jahr mögliche Laufzeitverlängerungen Beschränkungen bei
2007 von der seinerzeitigen Bundesregierung initiiert. der Entsorgung von bestrahlten Brennelementen zu be-
Eine abschließende Klärung geeigneter Pilotstrecken ist sorgen sind. Dabei wurde von einer unbeschränkten
seinerzeit nicht erfolgt. Im Hinblick auf die unternehme- Laufzeit als abdeckende Voraussetzung ausgegangen.
rische Verantwortung der am Markt tätigen Eisenbahn- Weiterhin wurde, basierend auf den Planungen aller
verkehrsunternehmen und ein früheres, wegen Unwirt- Bundesregierungen, dass etwa ab dem Jahr 2035 ein
schaftlichkeit wieder eingestelltes Pilotprojekt wurde Endlager für wärmeentwickelnde radioaktive Abfälle
das Projekt nicht weiter verfolgt. Im Übrigen wird auf zur Verfügung stehen soll, von einem Abtransport etwa
die Entscheidungen des Ausschusses für Wahlprüfung, ab dem Jahr 2025 zur Konditionierung der bestrahlten
Immunität und Geschäftsordnung zur Auslegung der Brennelemente ausgegangen. Der Beginn des Abtrans-
§§ 105 und 108 Geschäftsordnung des Deutschen Bun- ports ist darüber hinaus auch durch die Laufzeitbegren-
destages (Bundestagsdrucksache 13/6149 und 16/8467) zung der Zwischenlager auf 40 Jahre nach der Einlage-
verwiesen. rung des ersten Behälters erforderlich.
Zu Frage 43: Der Beschluss der Bundesregierung zur Laufzeitver-
längerung von im Mittel zwölf Jahren alleine macht den
Die Bundesregierung ist nach wie vor der Auffas- Abtransport nicht erforderlich.
sung, dass die Weiterentwicklung der Intermodalität von
Rad- und Eisenbahnverkehr sinnvoll ist, auch im Hin-
(B) blick auf den Tourismus. Allerdings kann sie sich auch Anlage 30 (D)
den wirtschaftlichen Argumenten der Deutschen Bahn
AG nicht verschließen, dass hierdurch Mehrkosten ver- Antwort
ursacht werden, die durch die Fahrpreise nicht erwirt-
schaftet werden. Es ist nicht beabsichtigt, konkrete Ein- des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
zelplanungen zur Fahrradmitnahme durchzuführen und des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Druck-
gegebenenfalls bei Eisenbahnverkehrsunternehmen ent- sache 17/3363, Frage 49):
sprechende Leistungen gegen Erstattung der Kosten- Aus welchen konkreten Gründen sieht sich das Bundes-
unterdeckung zu bestellen. Sollten Wettbewerber der ministerium für Bildung und Forschung aktuell nicht in der
Deutschen Bahn AG im Hochgeschwindigkeitsverkehr Lage, die vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundesta-
ges geforderte, aktualisierte Projektkosten- und Terminpla-
die Mitnahme von Fahrrädern anbieten, sieht die Bun- nung für die Rückbauprojekte Kompakte Natriumgekühlte
desregierung dies als Beweis für die Wirksamkeit der Kernreaktoranlage, KNK II, und Mehrzweckforschungsreak-
Marktkräfte. tor, MZFR, für die im Januar 2010 bereits weitere Kostenstei-
gerungen und zusätzliche Restkosten von mindestens 40 Mil-
lionen Euro – KNK II – und 45 Millionen Euro – MZFR – bei
nochmals verlängerten Restlaufzeiten angekündigt wurden,
Anlage 29 vorzulegen, und welche konkreten Rückbauarbeiten erfolgen
– auch im Hinblick auf die seit 2008 laufenden Ermittlungen
Antwort der Staatsanwaltschaft Karlsruhe – bei diesen beiden Altlas-
tenvorhaben aktuell?
der Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche auf die Frage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Die Tendenz eines erhöhten Haushaltsmittelbedarfes
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3363, Frage 48): für den noch zu bewältigenden Rückbau der Forschungs-
Welche Prämissen und Rahmenbedingungen hat die Bun- reaktoren Kompakte Natriumgekühlte Kernreaktoran-
desregierung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktor- lage, KNK II, und Mehrzweckforschungsreaktor,
sicherheit für ihre Berechnung zu den Kapazitäten der Atom- MZFR, wurde bereits dem Haushaltsausschuss mit dem
müllzwischenlager vom Dezember 2009 vorgegeben?
Bericht vom 29. Januar 2010 aufgezeigt und eine end-
Folgendes Szenario sollte durch die Gesellschaft für gültige Quantifizierung der noch erforderlichen Haus-
Anlagen- und Reaktorsicherheit mbH, GRS, geprüft haltsmittel des Bundes für die zweite Jahreshälfte 2010
werden: „Unterstellt man die bestehenden Kapazitäten in Aussicht gestellt. Zur exakten Ermittlung des Restauf-
der Standortzwischenlager sowie die Nutzung der ge- wandes hat die Muttergesellschaft der WAK, die Ener-
nehmigten Nasslagerkapazitäten in den Kernkraftwerken giewerke Nord, EWN, die Gesellschaft für Reaktor-
sowie weiterhin, dass ab dem Jahr 2025 ein regelmäßi- sicherheit, GRS, als einen neutralen Sachverständigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 67. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. Oktober 2010 7155
(A) mit der Kosten- und Terminberechnung beauftragt. Das (Tonnen) demontiert. Die Arbeiten werden voraussicht- (C)
Bundesministerium für Bildung und Forschung legt gro- lich Ende 2011 abgeschlossen sein.
ßen Wert auf eine sorgfältige Kalkulation, die bis zum
Status der „Grünen Wiese“ der Projekte Bestand hat.
Unmittelbar nach Vorliegen des GRS-Berichtes, der ge- Anlage 31
gen Ende des Jahres erwartet wird, beabsichtigt das
Antwort
BMBF, die Berichterstatter des Haushaltsauschusses zu
informieren. des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
der Abgeordneten Nicole Gohlke (DIE LINKE) (Druck-
Unabhängig von der Verifizierung der Kostensitua-
sache 17/3363, Frage 50):
tion finden die Rückbautätigkeiten wie folgt statt:
Ist die Bundesregierung bereit, zusätzliche Studienplätze
Rückbautätigkeiten am KNK II im Rahmen des Hochschulpaktes 2020 mit den Ländern be-
reitzustellen, um den laut Medienberichten bis zu 50 000 bis
Nach Abschluss der fernbedienten Demontage des 64 000 zusätzlichen Studieninteressierten aufgrund der Aus-
doppelwandigen natriumbenetzten Reaktortanks wurde setzung der Wehrpflicht einen Studienplatz zu sichern, oder
mit der fernbedienten Demontage der Wärmeisolierung welche anderen Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu
ergreifen?
begonnen. Von insgesamt 11 Mg (Tonnen) sind circa
3 Mg (Tonnen) bereits demontiert. Die nächsten wesent- Die Frage, ob der Wehr- und Zivildienst zum 1. Juli
lichen Schritte werden der Umbau der Einrichtungen zur 2011 ausgesetzt werden soll, wird derzeit erörtert. Ent-
Demontage der aktivierten Primärabschirmungen mit scheidungen sind noch nicht getroffen. Die möglichen
90 Mg (Tonnen) Graugussteilen sein. Alle Einrichtungen Auswirkungen auf die Studienanfängerzahlen in den
sind mit Erfolg getestet worden. Der Umbau erfolgt ab nächsten Jahren lassen sich deshalb derzeit nicht genau
Mitte 2011. bestimmen. Insofern bleiben die weiteren Entwicklun-
gen und Überlegungen abzuwarten. Die Gemeinsame
Rückbautätigkeiten am MZFR
Wissenschaftskonferenz hat in dieser Woche ihre Staats-
Der fernbediente Abbau des Stahlliners des biologi- sekretärs-Arbeitsgruppe „Hochschulpakt“ beauftragt,
schen Schildes mit 5,5 Mg (Tonnen) wurde im Juni 2010 die zahlenmäßigen Auswirkungen einer möglichen Aus-
erfolgreich abgeschlossen. Zurzeit wird das aktivierte setzung von Wehrpflicht und Zivildienst zu prüfen und
Bioschild (bewehrter Beton) fernbedient abgebaut. Von bis Ende November eine Positionierung der GWK vor-
circa 400 bis 500 Mg (Tonnen) wurden bis heute 100 Mg zuschlagen.
(B) (D)
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ISSN 0722-7980