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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
149. Sitzung
Inhalt:
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 17765 D
neten Erich Fritz und Susanne Kastner . . . 17759 A
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . 17766 D
Wahl der Abgeordneten Dr. h. c. Jürgen
Koppelin und Dr. Gesine Lötzsch in den Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17768 A
Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wie-
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 17769 B
deraufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17759 B
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
Absetzung der Tagesordnungspunkte 15
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17770 C
und 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17759 B
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17772 A
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17759 B
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 17761 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17773 C
und Risiken für Verbraucher reduzie- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Verbot von
ren Koka-Blättern – Für die völkerrechtli-
(Drucksache 17/8158) . . . . . . . . . . . . . . . . 17811 C che Anerkennung als schützenswerte
Kultur der indigenen Völker im Anden-
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Raum
Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, wei- (Drucksachen 17/6120, 17/7291) . . . . . . . 17813 A
terer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD: Antibiotika-Einsatz in der Tier- c) Beschlussempfehlung und Bericht des
haltung senken und eine wirksame Re- Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
duktionsstrategie umsetzen gie
(Drucksache 17/8157) . . . . . . . . . . . . . . . . 17811 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten
d) Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs,
Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Kai Wegner, weiterer Abgeordneter
Crone, weiterer Abgeordneter und der und der Fraktion der CDU/CSU sowie
Fraktion der SPD: Übereinkommen des der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Europarats zur Bekämpfung des Men- Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin),
schenhandels korrekt ratifizieren – Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
Deutsches Recht wirksam anpassen und der Fraktion der FDP: Weniger
(Drucksache 17/8156) . . . . . . . . . . . . . . . . 17811 D Bürokratie und Belastungen für den
Mittelstand – Den Erfolgskurs fort-
e) Antrag der Fraktion der SPD: Recht auf
setzen
Eheschließung auch gleichgeschlechtli-
chen Paaren ermöglichen – zu dem Antrag der Abgeordneten
(Drucksache 17/8155) . . . . . . . . . . . . . . . . 17811 D Andrea Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus
f) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Heil (Peine), weiterer Abgeordneter
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, weiterer und der Fraktion der SPD: Stagnation
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- beim Bürokratieabbau überwinden –
NIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Einfüh- Neue Schwerpunktsetzung für den
rung eines transparenten und unabhän- Mittelstand umsetzen
gigen Staateninsolvenzverfahrens (Drucksachen 17/7636, 17/7610, 17/8167) 17813 B
(Drucksache 17/8162) . . . . . . . . . . . . . . . . 17812 A
d) – m)
g) Antrag der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, Beratung der Beschlussempfehlungen des
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Petitionsausschusses: Sammelübersich-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechtssi- ten 354, 355, 356, 357, 358, 359, 360,
cherheit für verwaiste Werke herstellen 361, 362 und 363 zu Petitionen
und den Ausbau der Deutschen Digita- (Drucksachen 17/7969, 17/7970, 17/7971,
len Bibliothek auf ein solides Funda- 17/7972, 17/7973, 17/7974, 17/7975,
ment stellen 17/7976, 17/7977, 17/7978) . . . . . . . . . . . 17813 C
(Drucksache 17/8164) . . . . . . . . . . . . . . . . 17812 A
in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 34:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Zusatztagesordnungspunkt 4:
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- a) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
neten Stephan Kühn, Winfried Hermann, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abge-
Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordne- ordneter und der Fraktion der SPD: Ver-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE bot der Haltung wildlebender Tierarten
GRÜNEN: Zukunftsfähige Alternativen im Zirkus
zur Nordverlängerung der Bundesauto- (Drucksache 17/8160) . . . . . . . . . . . . . . . 17814 C
bahn 14 (Magdeburg–Schwerin) entwi-
ckeln b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
(Drucksachen 17/4199, 17/5033) . . . . . . . 17812 D Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion
b) Beschlussempfehlung und Bericht des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erneuer-
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag bare Energien und Energieeffizienz als
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Alternative zum polnischen Atompro-
Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe, weiterer gramm fördern und fordern
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Drucksache 17/8163) . . . . . . . . . . . . . . . 17814 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Tagesordnungspunkt 6:
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne-
Aktuelle Stunde auf Verlangen aller Fraktio- ten Marianne Schieder (Schwandorf), Ulla
nen: Demokratiebewegung in Russland . . . 17818 B Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weite-
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 17818 B rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17819 D Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 17821 A LINKE sowie der Abgeordneten Krista Sager,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Ab-
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17822 B geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Geschlechtergerechtigkeit
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17823 C in Wissenschaft und Forschung
(Drucksachen 17/5541, 17/7756) . . . . . . . . . . 17848 D
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17824 D
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 17849 A
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 17825 D
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17826 D BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17850 B
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17827 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17851 C
Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17828 D Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 17852 D
Tagesordnungspunkt 8:
Tagesordnungspunkt 10:
Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz
Kuhn, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach,
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordne-
NEN: Das Bildungs- und Teilhabepaket – ter und der Fraktion der SPD: Folgen von
Leistungen für Kinder und Jugendliche Kassenschließungen – Versicherte und Be-
unbürokratisch, zielgenau und bedarfsge- schäftigte schützen, Wettbewerb stärken,
recht erbringen Zusatzbeiträge abschaffen
(Drucksache 17/8149) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17866 B (Drucksache 17/6485) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17887 B
Tagesordnungspunkt 25:
Anlage 1
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17957 A
Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qua-
lität der Integrationskurse verbessern Anlage 2
(Drucksachen 17/7639, 17/8179) . . . . . . . . . . 17939 C
Mündliche Frage 8
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 17939 D (148. Sitzung, Drucksache 17/8101)
Caren Marks (SPD)
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 17941 B
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17942 A Einbringung eines Gesetzentwurfs zur
künstlichen Befruchtung
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17943 B
Antwort
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17945 A BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17957 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 IX
Anlage 3 Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Beate Müller-Gemmeke, Maria Klein-Schmeink, des Antrags: Begleitgesetzgebung zum Ver-
Uwe Kekeritz, Monika Lazar, Agnes Krumwiede, trag von Lissabon konsequent anwenden –
Agnes Brugger, Dorothea Steiner, Sylvia Mitwirkungsrechte des Bundestages in Ange-
Kotting-Uhl und Thilo Hoppe (alle BÜND- legenheiten der Europäischen Union weiter
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu den Abstimmun- stärken (Zusatztagesordnungspunkt 7 und 8)
gen über die Entschließungsanträge der Frak-
tionen der SPD (Drucksache 17/8150) und Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17969 C
DIE LINKE (Drucksache 17/8151) zu der Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17970 C
Großen Anfrage „Rente erst ab 67 – Risiken
für Jung und Alt“ (Tagesordnungspunkt 4) . . 17957 D Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17972 B
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 17974 B
Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17975 B
Anlage 4
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17976 D
Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen und
Gudrun Kopp (alle FDP) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Förde-
rung der Mediation und anderer Verfahren der Anlage 8
außergerichtlichen Konfliktbeilegung (Tages-
ordnungspunkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17959 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Widerruf der gemäß § 8 des Parla-
mentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zustim-
mungen zu den Anträgen der Bundesregierung
Anlage 5
vom 28. Januar 2011 und 23. März 2011 –
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Bundeswehr aus Afghanistan abziehen (Ta-
des Antrags: Folgen von Kassenschließun- gesordnungspunkt 14)
gen – Versicherte und Beschäftigte schützen,
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17977 D
Wettbewerb stärken, Zusatzbeiträge abschaf-
fen (Tagesordnungspunkt 10) Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17979 A
Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17959 C Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17979 D
Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17961 A Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17980 B
Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 17962 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17981 A
Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17963 B Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17981 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17964 A
Anlage 9
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: des Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung
Beschlussempfehlung und Bericht zu dem des Doktorgrads aus dem Passgesetz, dem
Antrag: Bei der Vergabe von Exportkreditga- Gesetz über Personalausweise, dem Aufent-
rantien auch menschenrechtliche Aspekte haltsgesetz und den dazugehörigen Verord-
prüfen (Tagesordnungspunkt 12) nungen (Tagesordnungspunkt 16)
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17964 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17982 C
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 17966 D Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 17983 C
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 17968 A Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17984 A
Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17968 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17984 D
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Krista Sager (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17968 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17985 C
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) (C)
149. Sitzung
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- Der Einstieg in die Transition – ich wähle das Wort „Ein-
wärtigen: stieg“ bewusst – ist ein Erfolg trotz schwerster An-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- schläge.
ren Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Tagen in Bonn
haben Afghanistan und die internationale Gemeinschaft Drittens. Für eine stabile Entwicklung Afghanistans
(B)
eine neue Partnerschaft besiegelt, eine Partnerschaft, die ist die Mitwirkung aller Nachbarstaaten erforderlich. (D)
einem souveränen Afghanistan über das Jahr 2014 hi- Am 2. November hat sich in Istanbul die afghanische
naus eine Perspektive gibt. Der Einstieg in die Übergabe Regierung mit allen Nachbarn und anderen wichtigen
der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte Akteuren auf einen Prozess verständigt, der langfristig
hat begonnen – trotz aller Versuche, diesen Prozess die ganze Region wirtschaftlich und politisch enger zu-
durch schreckliche Anschläge aus der Bahn zu werfen. sammenführen soll. Im September haben wir dazu in
Die Ansätze für einen Versöhnungsprozess in Afghanis- New York das Konzept der sogenannten Neuen Seiden-
tan entwickeln sich, auch wenn die Ermordung von straße bei der Generalversammlung der Vereinten Natio-
Professor Rabbani ein schmerzhafter Rückschlag war. nen vorgestellt. Dieser Prozess gründet auf gemeinsa-
men Prinzipien für Sicherheit und Stabilität in der
Von der Korruption über die Menschenrechte bis zur Region und auf einem ehrgeizigen Katalog von vertrau-
Sicherheitslage: Nichts ist einfach in Afghanistan, und ensbildenden Maßnahmen zur Förderung der regionalen
doch steht Afghanistan heute besser da als vor einem Zusammenarbeit. Das ist ein echtes Novum in der Re-
Jahr und erst recht besser als vor zehn Jahren. Dazu ha- gion. Auch wenn Pakistan sich nach der Tötung von
ben die Bundeswehr, die Polizei, die Wiederaufbauhelfer
mehr als 24 Soldaten nicht in der Lage sah, an der Bon-
und auch die deutschen Diplomaten einen Beitrag geleis-
ner Konferenz teilzunehmen, war auch die pakistanische
tet, für den wir danken.
Regierung an diesen Vereinbarungen, die ich eben ge-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der nannt habe, konstruktiv beteiligt. Pakistan wurde auch
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- durch meine Reise nach Islamabad wenige Tage vor der
SES 90/DIE GRÜNEN) Bonner Konferenz in die Vorbereitung einbezogen. Ich
kann Ihnen berichten: Die pakistanische Außenministe-
Wir danken also gemeinsam unseren Landsleuten in rin hat mir nach der Konferenz versichert, dass Pakistan
Uniform und ohne Uniform für ihren Einsatz. Wir ver- den politischen Prozess in Afghanistan auch weiterhin
neigen uns vor den Soldaten, die den Einsatz mit ihrem
unterstützen wird. Wir unsererseits sagen allen Nach-
Leben bezahlt haben. Auch unschuldige afghanische
barländern: Eine stabile, friedliche und demokratische
Kinder, Frauen und Männer haben ihr Leben verloren.
Entwicklung Afghanistans liegt nicht nur im Interesse
Wenn wir an die Zukunft Afghanistans in Sicherheit und
Frieden denken, dann trauern wir um alle Opfer. Afghanistans und der Weltgemeinschaft, sie liegt aus-
drücklich auch im Interesse der Nachbarregion, und
2011 markiert einen Wendepunkt in der internationa- zwar aller Nachbarstaaten. Wir appellieren an alle Nach-
len Afghanistan-Politik. Der strategische Konsens von barstaaten, diesen Prozess auch zu unterstützen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17763
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Hilfe beim Aufbau eines wettbewerbsfähigen Privatsek- (C)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- tors wird noch über Jahre gefordert sein.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Besonders der Rohstoffsektor hat großes Potenzial
Viertens. Wir werden eine stabile Entwicklung nur und kann Afghanistan langfristig unabhängiger von in-
schaffen, wenn wir Afghanistan auch nach 2014 weiter ternationalen Geldzuwendungen machen. Die afghani-
unterstützen. Mit der Internationalen Afghanistan-Kon- schen Rohstoffvorkommen werden bisher kaum genutzt,
ferenz in Bonn haben wir die Partnerschaft zwischen Af- weil Investoren vor der Bedrohungslage und mangelnder
ghanistan und der internationalen Gemeinschaft erneu- Rechtssicherheit in Afghanistan zurückschrecken. Auch
ert. Wir haben eine verlässliche Grundlage für eine hier haben wir auf dem Weg nach Bonn mit der voraus-
sogenannte Transformationsdekade von 2015 bis 2024 gehenden Brüsseler Wirtschaftskonferenz Fortschritte
geschaffen. Das ist die neue Perspektive für die Zeit erreichen können. Angesichts dessen ist es auch wichtig,
nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen. Ich dass wir unsere Afghanistan-Politik umfassend und ver-
will auch hier vor dem Deutschen Bundestag wiederho- netzt betreiben. Erlauben Sie mir, dass ich mich bei den
len, was die Bundeskanzlerin und was ich selbst bei der Kollegen dreier Häuser, beim Bundesinnenminister – ich
Eröffnung der Afghanistan-Konferenz in Bonn gesagt denke dabei an den Aufbau der Polizei –, beim Bundes-
habe: Wir lassen die Menschen in Afghanistan nicht im minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und vor al-
Stich, auch nicht nach 2014. Wir werden kein Vakuum len Dingen beim Bundesverteidigungsminister, für die
hinterlassen, in dem dann wieder neuer Terror gedeihen gemeinsame, gute und koordinierte Arbeit bedanke.
kann. Wir tun das, was wir tun, für Afghanistan, für das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Land, aber wir tun es auch unverändert für uns und für
unsere eigene Sicherheit, und wir werden die früheren Afghanistan wird auch nach 2014 kein normales Part-
Fehler in der Geschichte nicht wiederholen. nerland der Entwicklungszusammenarbeit sein. Darauf
hat Entwicklungsminister Dirk Niebel immer wieder
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hingewiesen. Der Entwicklungszusammenarbeit mit Af-
Dieses Ergebnis ist die Frucht mühevoller Arbeit von ghanistan kommt auf Grundlage der besonderen Verant-
vielen in den letzten zwei Jahren. Wir machen uns keine wortung, die wir in den letzten zehn Jahren übernommen
Illusionen: Die Afghanistan-Konferenz war eine Konfe- haben, ein besonderer Status zu. Diese neue Art der Part-
renz des Möglichen. Die Bundesregierung verfolgt eine nerschaft manifestiert sich in der in Bonn beschlossenen,
Politik des Machbaren in Afghanistan. Wir haben uns bereits erwähnten Transformationsdekade. Die Europäi-
realistische Ziele gesetzt, haben uns realistische Mittel sche Union hat bereits Verhandlungen für ein Partner-
und einen realistischen Zeitplan gegeben. Wir haben dies schafts- und Kooperationsabkommen mit Afghanistan
(B) mit Afghanistan und der internationalen Gemeinschaft aufgenommen. Daneben wird die Bundesregierung im (D)
vereinbart und setzen es mit unseren Partnern konse- kommenden Jahr auch ein bilaterales Partnerschaftsab-
quent um. Nie hatten wir einen größeren internationalen kommen mit Afghanistan verhandeln, das unsere Zu-
Konsens als heute; auch das haben wir in Bonn ein- sammenarbeit auf eine feste Grundlage stellt. So ist es
drucksvoll gesehen. unmittelbar nach der Afghanistan-Konferenz zwischen
Staatspräsident Karzai und Bundeskanzlerin Angela
Im Vorfeld hat die Bonner Konferenz übrigens auch Merkel vereinbart worden.
geholfen, innenpolitische Blockaden in Afghanistan zu
überwinden, etwa die Parlamentskrise oder die Aus- Teil des strategischen Konsenses von Bonn ist, dass
einandersetzung um die Kabul Bank. die internationale Gemeinschaft nun gemeinsam hinter
der Notwendigkeit eines politischen Prozesses und von
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her- Friedensgesprächen auch mit den Taliban steht. Mittler-
ren, die neue Partnerschaft mit Afghanistan ist keine weile sind sich alle einig, dass es keine militärische, son-
Einbahnstraße. Sie beruht auf festen gegenseitigen Ver- dern nur eine politische Lösung geben kann. Diese poli-
pflichtungen zwischen der internationalen Gemeinschaft tische Lösung braucht aber auch klare Maßstäbe. In
und Afghanistan. Die afghanische Regierung hat sich zu Bonn hat sich die internationale Gemeinschaft deshalb
Verbesserungen bei der Regierungsführung, bei der Be- auf sieben Prinzipien geeinigt. Dazu gehört eine eindeu-
kämpfung der Korruption und beim Aufbau des Justiz- tig afghanische Führungsrolle; niemand anders kann
sektors verpflichtet. Die Rolle der Verfassung und der eine Lösung erzwingen. Außerdem muss der Prozess die
Menschenrechte als Fundament der afghanischen Ge- legitimen Interessen aller Afghanen widerspiegeln und
sellschaft soll gestärkt werden. ihnen die Chance geben, sich in ihrem Staat politisch
wiederzufinden.
Auf der anderen Seite hat sich die internationale Ge-
meinschaft in bemerkenswert starker Form zu einem Dauerhaften Frieden wird es in Afghanistan nur ge-
langfristigen Engagement in Afghanistan über 2014 hi- ben, wenn alle afghanischen Bevölkerungsgruppen sich
naus verpflichtet. Diese zivilen und entwicklungspoliti- im Friedensprozess und in seinem Ergebnis wiederfin-
schen Zusagen werden im kommenden Juli in Tokio den können. Deshalb war es beeindruckend, dass zum
konkretisiert. Ich sage dem Deutschen Bundestag als ersten Mal in so großer Zahl auch die Vertreter der Zivil-
dem Haushaltsgesetzgeber in aller Offenheit: Es wird gesellschaft im Vorfeld der Bonner Konferenz einbezo-
noch länger finanzielle Belastungen geben. Entwicklung gen wurden und an ihr teilgenommen haben. Darunter
und Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Die Wirtschaft waren übrigens auch sehr viele Frauen; sie machten
in Afghanistan muss auf die Beine kommen. Unsere einen erheblichen Anteil aus. Ich sage das ausdrücklich,
17764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Deutschland ist Teil des Krieges am Hindukusch. Wir (C)
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Gehrcke wollen, dass das beendet wird.
für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben hier ein persönliches Bild gebraucht, was
ich übrigens gut verstehen kann. Das geht mir schon sehr
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): nahe. Auch ich gebrauche ein persönliches Bild: Ich
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- denke an die 10 000, 30 000, bis zu 100 000 Menschen
legen! Ich will sofort über eine Grunddifferenz reden. in Afghanistan, die diesem Krieg zum Opfer gefallen
Man muss sich nicht an Nebensächlichkeiten aufhalten, sind. Ich denke an die 35 000 Menschen, die in Pakistan
sondern man muss Grunddifferenzen benennen können. infolge des Krieges umgekommen sind; die pakistani-
sche Außenministerin hat diese Zahl genannt. Ich denke
Das, was der Außenminister für die Regierung hier auch an die im Einsatz umgekommenen Soldatinnen und
erklärt hat, bzw. das Mandat, das zur Entscheidung vor- Soldaten, auch Bundeswehrsoldaten. Die Angehörigen
gelegt worden ist, enthält zwei Botschaften. Die erste der Opfer blicken uns an und fragen uns: Warum? Auf
Botschaft ist: Die Bundeswehr bleibt in Afghanistan. diese Frage haben Sie hier keine Antwort gegeben. Die
Die zweite Botschaft ist: Der Krieg wird fortgesetzt. Das Kinder von Kunduz haben das Recht, eine Antwort auf
ist hier erklärt worden und Inhalt des Mandats. Ich füge die Frage zu erhalten, warum sie umgebracht worden
hinzu: Die militärische Strategie der Bundesregierung sind. Diese Antwort muss auch der Bundestag geben.
und der NATO zielt sogar darauf ab, den Krieg zu ver-
schärfen, weil man noch immer glaubt, dass über eine (Beifall bei der LINKEN)
Verschärfung des Krieges die Lage in Afghanistan
gewendet werden könnte. Das ist die Richtung, die hier Ich will Ihnen erklären, warum Sie keine politische
vorgegeben worden ist. Diese Richtung, Herr Außen- Lösung erreichen werden. Solange in Afghanistan der
minister, führt weg von dem, was Sie als politisches Ziel Eindruck entsteht, dass das Land besetzt ist – schauen
erklärt haben. Sie haben hier deutlich gesagt, der Krieg Sie sich einmal die Zahlen an –, so lange werden sich die
sei militärisch nicht zu gewinnen. Früher haben Sie Menschen in Afghanistan wehren. Sie müssen doch
immer „nicht nur“ gesagt; jetzt sagen Sie schon, er sei zumindest die Frage beantworten, warum eine Kriegs-
militärisch nicht zu gewinnen. Es muss eine politische macht von 134 000 ausländischen Soldaten, 100 000
Lösung geben. Wer einen solchen Kurs fährt, wird aber sogenannten privaten Sicherheitskräften und 305 000
keine politische Lösung erreichen; er wird sie verhin- Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte bislang
nicht in der Lage war, diesen Krieg militärisch zu gewin-
(B) dern. Die Linke will eine politische Lösung. nen. Darauf gibt es doch nur eine Antwort: Die Wider- (D)
(Beifall bei der LINKEN) standskräfte sind so stark in der Bevölkerung verankert,
dass sie bis heute starken militärischen Widerstand leis-
Die Herabsetzung der Obergrenze der Zahl der einge- ten können. Der Schlüssel, um diesen Krieg zu beenden
setzten Soldaten hat nur ein Ziel gehabt: Sie wollten und eine politische Lösung zu finden, ist der Abzug der
SPD und Grüne einbinden, Ihrem Mandat wieder zuzu- Truppen. Der Abzug der Bundeswehr ist der Schlüssel,
stimmen. Was die SPD angeht, ist das offensichtlich ge- um eine politische Lösung zu erreichen. Vor dieser
lungen. Die Meinung der Grünen werden wir noch mit Schlussfolgerung drücken Sie sich.
Interesse hören. Die Fraktion Die Linke sagt Ihnen ganz
deutlich: Wir werden dem Club, der Deutschland am (Beifall bei der LINKEN)
Hindukusch verteidigen will, nicht beitreten. Wir wer-
den diesem Mandat nicht zustimmen; das ist völlig klar. Man bekommt ja nichts dafür, dass man recht gehabt
Auf diese Grunddifferenz lege ich allergrößten Wert. hat; das möchte ich auch gar nicht reklamieren. Ich
möchte Ihnen eine Äußerung von jemandem vortragen,
(Beifall bei der LINKEN) dessen Aussagen für Sie vielleicht etwas leichter zu
akzeptieren sind als Aussagen von Politikern der Linken.
Herr Außenminister, ich fand Ihre Regierungserklä- Gorbatschow, der durchaus sehr unterschiedlich beurteilt
rung ohne Mut und, ehrlich gesagt, auch ein bisschen wird, hat sich in einem Interview, das er zusammen mit
saft- und kraftlos – ohne Mut deshalb, weil es der meiner Kollegin Sahra Wagenknecht der Bild-Zeitung
Anstand vor der Mehrheit unserer Bevölkerung verlangt gegeben hat, zu diesem Thema geäußert.
hätte, hier deutlich zu sagen, dass die bisherige Afgha-
nistan-Politik, auch der Bundesregierung, gescheitert ist. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es wäre erforderlich gewesen, dass man deutlich sagt: NEN]: Oh! – Rainer Brüderle [FDP]: Aha! –
Es war falsch, eine solche Entscheidung zu treffen. Wir Thomas Oppermann [SPD]: Darauf sind Sie
wollen diese Entscheidung korrigieren. stolz, nicht?)
(Beifall bei der LINKEN) – Ja, darauf bin ich stolz. Das ist, wie ich finde, eine in-
teressante Mischung.
Aber zu all dem fehlt Ihnen persönlich und auch der
Bundesregierung der Mut. Wer im elften Jahr des Krie- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
ges noch immer nicht die Fähigkeit hat, so etwas auszu- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sprechen, wird keine politische Wende herbeiführen. NEN]: Was ist denn daran interessant?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17769
Wolfgang Gehrcke
(A) Ich zitiere Gorbatschow: jetzt vor der guten Aussicht auf den Abzug der militäri- (C)
schen Hilfe. Ungeduld, Herr Kollege Gehrcke, zahlt sich
Aus meiner bitteren Erfahrung von damals kann ich
jedoch nicht aus.
nur raten: Raus aus Afghanistan! Diesen Krieg
kann niemand gewinnen! (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das wird
sich herausstellen!)
Wenn Sie uns nicht glauben, dann glauben Sie
Gorbatschow. Raus aus Afghanistan, das ist die Losung, Ungeduld wäre sogar gefährlich und würde die erreichte
die jetzt politisch umgesetzt werden muss. positive Entwicklung völlig kaputtmachen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich will noch einen weiteren Punkt kurz ansprechen.
Ohne tatsächliche Selbstbestimmung wird sich nichts Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um
ändern. Sie sprechen ja von einer Übergabe. Das heißt, einen direkten Abzug aller Soldatinnen und Soldaten
jetzt liegt die Macht, politische Entscheidungen zu tref- geht. Es ist aber auch klar, dass aus Afghanistan keine
fen, nicht in Afghanistan, nicht bei den Afghaninnen und Hochburg der Demokratie werden wird. Es geht darum,
Afghanen. Das war auch auf der Konferenz in Bonn diesen Übergangsprozess verantwortungsvoll und ordent-
nicht der Fall. Wenn Sie diese Selbstbestimmung nicht lich abzuschließen; das ist die heutige Sachlage.
wollen und nicht dafür eintreten – der Friede in Afgha-
nistan wird von den Afghaninnen und Afghanen ge- Wir verlängern diesen Einsatz um ein weiteres Jahr.
schlossen werden müssen –, werden Sie nichts erreichen. Aber diese Verlängerung ist kein Weiter-so; denn gleich-
zeitig wird die Zahl der eingesetzten Soldatinnen und
Wer Pakistan als eine Nebensächlichkeit abtut, der Soldaten auf 4 900 reduziert. Zum ersten Mal nach zehn
weigert sich, einzusehen, dass der Krieg längst auf Jahren Einsatz lässt die Sicherheitslage einen schrittwei-
Pakistan übergegriffen hat. Wo in der Welt darf man ein sen Abzug der internationalen Truppen zu. Damit begin-
anderes Land einfach so angreifen und bombardieren? nen wir direkt im Jahr 2012 und werden diese Entwick-
Ich sage Ihnen: Da ballt sich mehr zusammen, eine Ver- lung bis 2014 fortsetzen.
schärfung des Krieges, eine neue Katastrophe.
Deutschland wird sich auch nach dem Abzug der
Ich will eine politische Lösung. Deswegen können militärischen Hilfe im Jahr 2014 weiter am zivilen Wie-
wir dem Kurs der Bundesregierung nicht zustimmen. deraufbau Afghanistans beteiligen. Wir tragen dazu bei,
dass das Land nicht wieder eine Basis für internationalen
Herzlichen Dank.
Terrorismus wird. Deutschland steht jetzt und auch in
(Beifall bei der LINKEN) Zukunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung,
(B) (D)
meine Damen und Herren.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai für
die FDP-Fraktion. Eines ist klar: Es wird in Afghanistan keine militäri-
sche Lösung geben. Afghanistan wird nur eine Zukunft
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben, wenn sich dort eine kraftvolle und funktionie-
rende Zivilgesellschaft entwickelt. In diesem Bereich
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): steht uns noch viel Arbeit bevor, die wir mit den Afgha-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist seit nen zusammen angehen müssen. Wir müssen weiter
fast zehn Jahren eine jährliche Tradition, dass wir hier erklären, wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in
im Deutschen Bundestag über den Fortgang des Bundes- Afghanistan konkret unterstützen können. Der innere
wehreinsatzes in Afghanistan diskutieren. Doch dieses Aussöhnungsprozess muss allerdings zuerst von den Af-
Jahr ist die Diskussion anders; das muss man in dieser ghanen selbst vorangetrieben werden; denn Frieden in
Debatte deutlich betonen. Mit diesem Mandat ab 2012 Afghanistan kann nur zwischen den Parteien und Grup-
beginnen wir mit der Reduzierung unseres Bundeswehr- pierungen vor Ort geschlossen werden.
kontingents in Afghanistan. Es war ein langer und harter
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Weg bis zur heutigen Debatte. Wenn wir heute diesen
der CDU/CSU)
Weg analysieren, so stellen wir fest: Es gibt in Afghanis-
tan Erfolge, aber auch Misserfolge. Das müssen wir ehr- Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten würde allerdings
lich eingestehen. die vielen mühsam erreichten Erfolge vernichten und
wäre für viele Menschen vor Ort zum jetzigen Zeitpunkt
2001 hat sich Deutschland unter zum Teil falschen
eine echte Katastrophe.
Vorstellungen vom Einsatz und von seinen Zielen mit
der Bundeswehr in diesen Einsatz begeben. Daher muss- Wir müssen uns weiterhin mit den Problemfeldern
ten die Erwartungen im Laufe der Zeit genauso über- beschäftigen. Leider verbessert sich die Menschen-
dacht und angepasst werden wie die Einsatzstrategie rechtslage in Afghanistan nur schleppend; das hat die
selbst. Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt Bundesregierung auf der Bonner Konferenz bereits deut-
und auch in Zukunft geben wird, trägt die aktuelle Stra- lich kommuniziert. Hieran muss Afghanistan arbeiten,
tegie zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation und hier muss die afghanische Regierung mehr umset-
im Land bei. Wir sehen: Insgesamt hat sich seit 2001 zen. Gerade im Hinblick auf Demokratie und Regie-
etwas Positives in Afghanistan getan. Daher stehen wir rungsführung gibt es weiterhin viel Arbeit.
17770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Mandat, das wir erarbeitet haben und das wir (C)
Herr Minister – – heute in erster Lesung diskutieren, ist militärisch verant-
wortbar und politisch zustimmungsfähig. Wir haben uns,
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
wie viele hier im Raum wissen, um eine Zustimmung
teidigung: der Opposition, insbesondere der großen Oppositions-
fraktion, bemüht. Ich bedanke mich, Herr Erler, für die
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen, Zustimmung, die Sie heute vor dem Deutschen Bundes-
wenn Sie das meinten. tag signalisiert haben.
Nun zur Frage der Klarheit, Herr Schmidt. Es ist so: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir können keine Klarheit darüber haben, wie es weiter-
geht. Wir brauchen Flexibilität, gerade für das nächste Diese breite Zustimmung des Parlaments wäre neben
Jahr. Darum reden wir nicht herum. Warum ist das so? dem Dank, den wir alle ausgesprochen haben, das beste
Weil die Amerikaner ihre Pläne zum Abzug bis zum Zeichen des Respekts und der Anerkennung vor der
30. September 2012 befristet haben. Unser Mandat wird Leistung der Soldatinnen und Soldaten, der Polizisten,
jetzt bis zum Januar 2013 gehen. Die Amerikaner sagen der zivilen Aufbauhelfer und der Diplomaten. Je breiter
uns erst im April, was sie nach dem 30. September ma- die Zustimmung hier ist, desto besser für sie. Deswegen
chen werden. Deswegen können wir jetzt nicht genau bitte ich nach einer gründlichen Diskussion Anfang des
festlegen, was wir in der zweiten Jahreshälfte 2012 vor- nächsten Jahres um eine breite Zustimmung zu diesem
haben. Deswegen ist die Zahl von 500 Soldaten, um die Weg.
die Truppe reduziert wird, flexibel auf das Jahr zu vertei-
len. Es bleibt dabei: Wir sind gemeinsam nach Afghanis- Herzlichen Dank.
tan reingegangen, und wir gehen gemeinsam raus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nichts anderes wäre verantwortlich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele
Die Planungen darüber werden wir vorlegen, Herr
das Wort.
Schmidt. Aber sie folgen einem Prinzip, das ich folgen-
dermaßen beschreiben will: Wo wir sind, sind wir rich-
tig. Wir werden keine Ausdünnung an Einsatzstandorten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
dergestalt machen, dass wir die Sicherheit unserer Sol- GRÜNEN):
daten gefährden. Das ist die konsequente Umsetzung ei- Danke, Herr Präsident. – Der Herr Minister hat meine
(B) nes Transitionsprozesses. Wenn Afghanistan die Verant- Frage leider nicht zugelassen. Ich habe mich gemeldet, (D)
wortung für die Sicherheit in Gebieten übertragen als er davon gesprochen hat, dass die Angriffe auf die
bekommt, dann bitte schön. Das ist die Konsequenz die- Zivilbevölkerung in Afghanistan durch Afghanen beson-
ses Prozesses. Diesen werden wir Schritt für Schritt voll- ders niederträchtig sind. Ich kann dem nur zustimmen.
ziehen. Sie sind heimtückisch und niederträchtig.
Nun will ich noch ein Wort zu den Jahren danach oder (Zuruf von der FDP: Sie wollten doch fragen!)
für den Weg bis 2014 sagen. Ich habe das gestern auch
schon im Verteidigungsausschuss gesagt. Einen Abzug Aber was sind denn dann Angriffe von Killerdrohnen,
zu organisieren, ist so ungefähr das Komplizierteste, was die übers Land fliegen und nach einer Liste Menschen
es militärisch gibt. gezielt töten, während sie zu Hause schlafen, während
sie zu Hause essen, während sie im Auto sitzen, während
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Dann geht doch sie auf dem Feld sind, und die auf diese Weise Tötungs-
nicht rein!) listen abarbeiten?
Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Von einem Was sagt der Minister dazu, dass das nicht nur eine
Baum herunterzuklettern, ist manchmal komplizierter, abstrakte Möglichkeit ist, sondern in ganz Afghanistan
als auf einen Baum hinaufzuklettern. Deswegen werden und leider auch in Pakistan durch die US-Drohnen prak-
wir im Laufe des nächsten Jahres darüber diskutieren tiziert wird? Was sagt er dazu, dass solche Drohnen ab
und die Pläne transparent vorlegen. Ein Abzug muss Januar 2012 im Verantwortungsbereich der Bundeswehr
klug organisiert werden. Dazu braucht man gegebenen- in Masar-i-Scharif stationiert werden, von da aus operie-
falls andere Kräfte als die, die jetzt da sind. Das werden ren und damit den Krieg in Afghanistan grundsätzlich
wir besprechen. zusätzlich eskalieren, statt zu deeskalieren und auf Frie-
den hinzuarbeiten?
Wir wissen auch nicht, ob möglicherweise der ganze
Norden wegen der Unsicherheit im Osten von Pakistan Der Außenminister hat vorhin gesagt, dass er Ver-
das Abzugsgebiet für die Amerikaner, Franzosen, Briten handlungen für richtig hält und dass auf diesem Weg
und alle anderen ist. Dann stellen sich die Fragen 2013 fortgefahren werden muss. Ich sehe noch nicht, dass der
noch einmal anders. Ob sich die ganze Organisation des Weg begangen worden ist. Aber sind nicht solche geziel-
Abzuges über den Norden vollziehen wird, können wir ten Tötungen geradezu kontraproduktiv, und verhindern
jetzt noch gar nicht sagen, Herr Schmidt. Aber ich weise sie nicht die Verhandlungen? Wird dadurch nicht nur
darauf hin, dass ein Abzug andere Kräfte temporär bin- neuer Hass geschürt, und müssen die, die zu Verhandlun-
det. Darüber werden wir in Ruhe zu reden haben. gen bereit sind, wie es schon geschehen ist, nicht fürch-
17774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Hans-Christian Ströbele
(A) ten, dass sie anschließend durch solche Killerdrohnen Kollateralschäden vermeiden will, etwas mit gezieltem (C)
abgeschossen werden? Vorgehen zu tun.
Ist das der richtige Weg? Wenn Sie es mit Verhand- (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
lungen ernst meinen, dann müssen Sie andere Wege ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
hen. Sie müssen möglichst bald wenigstens in dem Be-
reich zu einem Waffenstillstand kommen, in dem die – Jetzt hören Sie zu. – Es ist gerade das Dilemma des
modernen Krieges, dass man gezielter vorgeht als früher
Bundeswehr Verantwortung trägt. Sie müssen mit allen,
mit Bombenteppichen, um zivile Schäden zu vermeiden.
die dazu bereit sind, darüber Verhandlungen führen.
Das ist die Ambivalenz des Zielens. Das ist aber eine
Ich war im September selber in Afghanistan und habe Auseinandersetzung zwischen Gegnern.
Gespräche darüber geführt. Es gibt eine Bereitschaft
Was ich besonders niederträchtig finde, ist, dass
zu solchen Gesprächen und Vereinbarungen. Herr Landsleute, obwohl sie vielleicht die Gegner meinen,
Westerwelle und Herr de Maizière, Sie kennen die aus psychologischen oder sonstigen, niederträchtigen
Adressen; wenn nicht, können Sie sie von mir bekom- Gründen ihre eigenen Landsleute in die Luft jagen. Das
men. Fahren Sie dort hin und reden Sie mit den Leuten! ist ein gewaltiger Unterschied. Es wäre nett, wenn Sie
Reden Sie vor allen Dingen mit den US-Amerikanern, das zur Kenntnis nähmen.
damit sie die gezielten Tötungen einstellen, die jegliche
Verhandlungen und jeglichen Friedensprozess verhin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
dern und unmöglich machen. bei Abgeordneten der SPD)
Abschließend komme ich zu der persönlichen Bemer-
kung von Herrn Westerwelle. Gestatten Sie mir auch Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
eine persönliche Bemerkung dazu. wärtigen:
Herr Kollege, da Sie auch mich in Ihrer Kurzinterven-
tion angesprochen haben, möchte ich drei Bemerkungen
Präsident Dr. Norbert Lammert: machen. Die erste ist: Ich glaube, dass die Bilder des
Sie muss jetzt aber knapp ausfallen. Krieges gerade für die Kinder schreckliche Bilder sind.
Was wir aber nicht verwechseln dürfen, sind Ursache
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE und Wirkung. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Men-
GRÜNEN): schen in Afghanistan jahrzehntelang im Krieg leben, und
Ja, das geht noch schneller als beim Außenminister. wir dürfen nicht vergessen, wie der Einsatz begonnen
hat, nämlich mit den schlimmsten Terroranschlägen in
Ich war auch in Afghanistan und habe dort Zeichnun- New York und in Washington, die die Menschheit bisher
(B) gen und Gemälde von kleinen Kindern gesehen, denen (D)
gesehen hat, und mit den Anschlägen, die übrigens auch
man Buntstifte gegeben hat. Es waren wunderschöne uns in Europa getroffen haben, in London und Madrid,
bunte Blätter. Wenn man genau hinguckte, hat man gese- aber auch in Casablanca. Wenn ich an die Sicherheit un-
hen, was sie für Bilder im Kopf haben: zerstörte Ge- serer eigenen Bürgerinnen und Bürger denke, dann muss
bäude, angreifende Flugzeuge, Waffen, abgesprengte ich feststellen: Wir haben nicht nur das Recht, sondern
und herumfliegende Arme und Beine. Das ist die Reali- wir haben auch die Pflicht, unsere eigene Sicherheit vor
tät des grausamen Krieges in Afghanistan, von dem Sie solchem Terror zu verteidigen.
im Deutschen Bundestag leider überhaupt nicht reden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch der CDU/CSU)
nicht richtig, was Sie sagen! Wovon haben wir
denn die ganze Zeit geredet? – Gegenruf des Das Zweite, was ich Ihnen sagen möchte, ist: Der
Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: politische Prozess wird – da gibt es keine Alternative –
Lass doch! Er weiß nicht, wovon er redet!) nur ein Prozess sein, der in Afghanistan selbst geführt
wird. Es ist ein politischer Prozess, der uns deutlich
macht, dass man Frieden nicht zwischen Freunden
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- schließt, sondern dass man Frieden zwischen Gegnern
teidigung: schließen muss. Das ist der entscheidende Unterschied.
Herr Abgeordneter Ströbele, vielleicht hätte ich doch Dieser politische Prozess muss in Afghanistan stattfin-
Ihre Zwischenfrage zulassen sollen. Das bereue ich jetzt. den. Es muss ein afghanisch geführter politischer Pro-
Aber gut. zess sein.
Was die Frage der Drohnen angeht, haben Sie gestern Das Dritte, was ich Ihnen nach der Debatte sagen
in der Fragestunde von Staatssekretär Schmidt eine über- möchte, ist: Ich finde, es ist bemerkenswert, wie mit der
zeugende und abschließende Antwort bekommen. Das Geschichte des Afghanistan-Einsatzes in diesem Hause
will ich nicht wiederholen. umgegangen wird. Dieser Afghanistan-Einsatz ist hier
im Hause beschlossen worden – ich sage das, weil Sie
Aber ich möchte eines sagen: In der Tat ist eine mili- die schrecklichen Opfer beklagen –, und zwar vor zehn
tärische und kriegerische Auseinandersetzung bitter und Jahren. Es gibt nur drei Möglichkeiten: Entweder wir
bluternst. Ich war vor zwei Wochen mit dem amerikani- setzen den Einsatz unbestimmt immer weiter fort – das
schen Botschafter in Ramstein und habe Soldaten gese- will doch wohl niemand –, oder wir beenden ihn sofort,
hen, deren Beine zerfetzt waren. Natürlich hat eine mili-
tärische Auseinandersetzung gerade dann, wenn man (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17775
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) unüberlegt, und machen alles für einen sofortigen Ab- Wenn wir diese Chance nicht sähen, wäre es auch nicht (C)
zug, oder aber wir organisieren verantwortungsvoll die verantwortbar, deutsche Soldaten dorthin zu schicken.
Rückführung unserer Kräfte und die Übergabe der Ver-
Aber klar ist auch: Bei einer Mandatsverlängerung
antwortung in Verantwortung.
nach zehn Jahren darf es keine Routine geben. Es muss
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stets die Frage gestellt werden: Warum sind wir dort, wo
der CDU/CSU) stehen wir, und wie wird es weitergehen? Natürlich hat
sich die Begründung, warum wir dort sind, verschoben.
Ich begrüße sehr, dass sich die eine Oppositionspartei Der internationale Terror bedroht uns nicht mehr aus
noch daran erinnert, wer diesen Einsatz seinerzeit dem Afghanistan; er ist inzwischen leider in anderen Ländern
Deutschen Bundestag vorgeschlagen hat. Dass Sie als angekommen. Aber die regionale Stabilität hängt in
Grüne nicht mehr bei der verantwortungsvollen Abwick- hohem Maße von der Stabilität Afghanistans ab. Ich will
lung dieses Einsatzes mitwirken wollen, hat innenpoliti- mir nicht ausmalen, was passiert, wenn Afghanistan in
sche Gründe, unter denen Sie leiden und die ich nicht in einen Bürgerkrieg zurückfällt, zu einem gescheiterten
Ordnung finde. Staat wird, und welche Auswirkungen dies auf die zen-
tralasiatischen Staaten, vor allen Dingen auf Pakistan,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hätte. Das ist Grund genug dafür, dass die Bundeswehr
und Deutschland ihre Aufgaben dort weiterhin sorgfältig
Präsident Dr. Norbert Lammert: erfüllen und zu dem geplanten Ende bringen.
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die Wo stehen wir in Afghanistan? Natürlich gibt es Fort-
SPD-Fraktion. schritte. Das Interessante ist: Möglicherweise trennen
den Fortschritt und die ernste Situation im Sicherheitsbe-
Rainer Arnold (SPD): reich nur eine Bergkette; das ist die Wirklichkeit in
Afghanistan. Dies sollten wir den Menschen ehrlich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
schildern. Angesichts dessen ist es richtig, dass heute
ist nicht ganz einfach nach der Debatte in den letzten Mi-
auch der Verteidigungsminister gesprochen hat, obwohl
nuten, eine Rede zum Einsatz in Afghanistan zu halten,
der Außenminister eine Regierungserklärung abgegeben
weil wir an die Grundlagen der ethischen Bedingungen
hat. Schließlich entscheiden wir heute über den Einsatz
gekommen sind. Herr Ströbele, wenn wir mit den Bürge-
bewaffneter Streitkräfte.
rinnen und Bürgern über Afghanistan diskutieren, dann
geschieht es oft, dass jemand eine halbe Stunde erzählt, An beide Minister gerichtet sage ich: Wir wissen ja,
wie schlecht alles ist, es geschieht aber auch oft, dass je- dass Sie sich in der Frage „Wie wird es in Afghanistan
(B) mand eine halbe Stunde erzählt, wie gut alles ist. Ich bis zum Jahr 2014 und darüber hinaus weitergehen?“ (D)
muss Ihnen sagen: Beide haben recht. nicht immer einig waren. Ich kann Ihnen nur sagen: Das
Ergebnis zählt. Da bewegen Sie sich auf der Linie, die
Afghanistan ist ein sehr kompliziertes und differen- die Sozialdemokraten gezeichnet haben. Deshalb ist es
ziert zu betrachtendes Land. Der Bericht der Bundesre- schlüssig, wenn Sozialdemokraten diesem Mandat wei-
gierung spiegelt das durchaus wider. Weil Sie die Ge- ter zustimmen. Trotzdem müssen wir uns noch sehr
schichte mit den Kindern angesprochen haben, sage ich intensiv darüber unterhalten: Wie machen wir weiter bis
Ihnen, was ich mit einem Kind erlebt habe. Ich habe ein zum Jahr 2014, und was machen wir danach? Ich habe in
13-jähriges Mädchen in der deutschen Schule getroffen. der Debatte manchmal ein bisschen Sorge, dass der Ein-
Ich habe es gefragt, was man nun einmal so fragt: Was druck entsteht: 2014 ist das Ziel. – Nein, das Ziel ist, bis
willst du denn einmal werden? Das Mädchen sagte zu zum Jahr 2014 so weit zu kommen, dass die Afghanen
mir: Staatsanwältin. – Warum? – Weil ich weiß, dass mit den dann verbliebenen Problemen – sie werden ja
Staatsanwälte in meinem Land am meisten fehlen. – Das nicht weg sein – selbst fertig werden, selbst umgehen
war ein 13-jähriges Mädchen. Auch das ist ein Teil der können; das ist das Entscheidende. Dazu bedarf es
afghanischen Wirklichkeit. Dieses Mädchen verlässt Sicherheitskomponenten, dazu bedarf es weiterer ver-
sich darauf, dass die Staatengemeinschaft das einhält, stärkter Anstrengungen im zivilen Bereich.
was vor zehn Jahren auf dem Petersberg zugesagt wurde,
nämlich Afghanistan beim Aufbau des Staates zu unter- Das, was in Bonn beschlossen wurde, ist ja schön; das
stützen. ist alles richtig. Aber im Kern wird es darum gehen – das
ist die Schlüsselfrage –, für eine nachhaltige Finanzie-
Wir alle miteinander sollten Arroganz in der Diskus- rung der afghanischen Sicherheitsorganisationen zu sor-
sion vermeiden. In manchen Talkshows treten Leute auf, gen. Das wird auch Deutschland viel Geld kosten; das
die Afghanistan für mittelalterlich erklären und behaup- müssen wir den Menschen erklären. Wenn dies im
ten, die Lage sei nun einmal so, wie sie ist, und Afgha- nächsten Jahr nicht gelingt, dann werden die Afghanen
nistan sei gescheitert. Nein, wir müssen darauf ver- erleben, dass die Sicherheitsorgane – wie schon einmal –
trauen, dass die afghanische Gesellschaft zum Wandel davonlaufen und ihr Staat zerfällt. Deshalb muss das im
bereit und selbst in der Lage ist, die Geschicke ihres nächsten Jahr erledigt werden. Ich bin durchaus froh,
Landes in die Hand zu nehmen. Ich sehe die Chance, dass der Außenminister das auch gesagt hat.
dass sie das tut.
Zum Kernbereich der Bundeswehr. Herr Minister
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten de Maizière, wir haben gestern im Verteidigungsaus-
der FDP) schuss darüber gesprochen. Ich glaube, es ist richtig,
17776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Rainer Arnold
(A) dass sich die Bundeswehr zunächst aus der Fläche zu- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
rückzieht, etwa von manchen Außenposten in Faizabad. Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die
Aber ich habe ein bisschen Sorge, dass es zu einer Ver- FDP-Fraktion.
stetigung unserer unterstützenden und logistischen Auf-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gaben kommt. Ich glaube, da müssen wir aufpassen und
der CDU/CSU)
ein Konzept entwickeln. Die Logistik in Masar-i-Scharif
ist angewachsen, weil der Umfang der Aufgaben größer
geworden ist. Jetzt muss aufgezeigt werden, welche Elke Hoff (FDP):
Zuständigkeiten und welche Aufgaben in den nächsten Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
zwei Jahren Stück für Stück abgegeben werden. Nur Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
wenn das vorgegeben wird, wird es möglich sein, die ren! Ich muss an dieser Stelle für die Qualität und den
Anzahl der Soldaten in Masar-i-Scharif – derzeit sind es Inhalt dieser Debatte wirklich große Anerkennung aus-
über 3 000 – zu verringern. An dieser Stelle müssen wir sprechen. Mein Dank gilt besonders, Kollege Arnold,
aufpassen. den Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass sie die
Verantwortung, die sie damals zu Regierungszeiten für
Ein weiterer Punkt ist die Debatte über Kampftrup- unser Land übernommen haben, nun auch bis zum
pen. Solange 100 Soldaten in Afghanistan sind, werden Schluss, bis zu einem hoffentlich baldigen Abzug der
sie natürlich auch kämpfen können; deshalb ist der Truppen und bis zu einem hoffentlich baldigen Waffen-
Begriff „Kampftruppen“ nicht so glücklich. Worum geht stillstand, wenn nicht sogar Frieden, für eine schwierige,
es im Kern? Es geht darum, dass deutsche Soldaten ab gebeutelte und gequälte Region mittragen werden. Dafür
dem Jahr 2014 nicht mehr in den Dörfern, auf den Stra- auch von meiner Fraktion ein ganz herzliches Danke-
ßen, in den Städten die Verantwortung für die Sicherheit schön.
haben. Dies müssen die Afghanen selbst leisten. Es geht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auch darum, dass Ausbildungskonzepte anders aussehen der CDU/CSU)
müssen als heute. Partnering draußen kann es nach den
neuen Konzepten nicht mehr geben. Folglich erwarten Ich möchte an dieser Stelle auch ausdrücklich den
wir auch hier eine Debatte und Vorschläge zur Umstel- beiden Ministern, die hier heute die Inhalte des Manda-
lung der Ausbildungskonzepte. Es kann keine Breiten- tes vorgetragen haben und vor allen Dingen auch die
ausbildung durch IDAF-Kräfte mehr geben, sondern es Perspektive aufgezeigt haben, für ihre realistische Ein-
muss hier eher um die Spitze, um „Train the Trainer“ schätzung danken. Sie haben keine Schönfärberei der
gehen. Alles andere werden die Afghanen selbst leisten Lage betrieben. Sie haben auch auf die nach wie vor vor-
handenen Risiken in diesem sehr sensiblen Prozess auf-
(B) können und selbst leisten müssen. (D)
merksam gemacht. Ich glaube, dass gerade das Engage-
Kurz vor Weihnachten sind wir ja in einer besinnli- ment der Bundesrepublik, als Honest Broker, als
chen Zeit, und wir wissen alle, dass in diesen Tagen bei ehrlicher Vermittler, als ehrlicher Partner, in dieser
den Soldaten und ihren Familien nicht einfach Alltags- Region ein Mindestmaß an Stabilität herzustellen, ein
routine herrscht. Die Gedanken an die Familie und an außerordentliches Kompliment und ein großes Lob ver-
Freunde oder die Gedanken an die Soldaten im Einsatz dient hat.
prägen sicherlich diese Tage der Soldaten und ihrer
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Familien ganz besonders.
Es ist auch sehr deutlich geworden, dass wir eine tiefe
Wir alle, die wir viel mit Soldaten reden, hören ja oft: moralische Verpflichtung gegenüber der afghanischen
Wir haben die Sorge, dass die deutsche Gesellschaft Bevölkerung haben. Ein überstürzter Abzug der Sicher-
unser Engagement nicht richtig sieht, nicht richtig aner- heitskräfte, Kollege Gehrcke, würde genau denen wieder
kennt. – Ich glaube, diese Einschätzung ist falsch. Die die Bahn ebnen, die dazu beigetragen haben, dass sich
deutsche Gesellschaft streitet politisch über die Fortset- dieses Land und die Region heute in einer so desolaten
zung des Mandates und des Einsatzes. Das ist normal in Lage befinden. Wir vergessen häufig, weil zehn Jahre ja
der Demokratie. Aber die Soldaten, die ihren Dienst tun, eine lange Zeit sind, den Grund für den Einsatz, nämlich
erfahren nicht nur große Anerkennung, Respekt und dass diese Region zum Opfer und zum Ziel von Kräften
Dank vom Parlament, sondern – da bin ich mir sehr geworden ist, die die internationale Staatengemeinschaft
sicher – auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- an ihren sensibelsten Punkten herausfordern wollten und
land wissen, dass die Soldatinnen und Soldaten für uns wollen. Al-Qaida und die islamistische Bewegung füh-
alle eine schwierige Aufgabe wahrnehmen und dass sie ren diese Versuche ja nach wie vor uneingeschränkt fort.
ihnen Dank schuldig sind. Mein Rat an die Uniformträ-
ger lautet also: Seien Sie da selbstbewusst! Seien Sie da Kollege Ströbele, ich bin erstaunt, dass gerade Sie als
gelassen! – Soldatinnen und Soldaten haben in den jemand, der auch hin und wieder in der Fraktion quer-
Umfragen das gleiche hohe Ansehen wie die Polizisten, denkt, in diese Falle hineintappen. Ich kann es nicht
und das ist auch gut so. nachvollziehen. Sie wissen, dass in den letzten Jahren
zivile Opfer fast überwiegend durch Aktivitäten der
Herzlichen Dank. Insurgency verursacht wurden. Natürlich hat es auch
Probleme gegeben. In diesem Hause gab es ja einen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Untersuchungsausschuss zu einem solchen Ereignis. Das
der CDU/CSU und der FDP) heißt, auch wir als Parlament gehen, wenn etwas in die-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17777
Elke Hoff
(A) ser Richtung passiert, verantwortungsvoll damit um. Ich Sie wissen genauso gut wie ich, dass es gerade in (C)
kann von daher nicht nachvollziehen, dass Sie nicht einem asymmetrischen Umfeld zu den perfiden Taktiken
bereit sind, wenn Sie auf der einen Seite die NATO- der Aufständischen gehört, die Zivilbevölkerung sozusa-
Truppen kritisieren, auf der anderen Seite auch auf das gen zu einer Partei zu machen und zum Teil sogar
Verhalten von Taliban, al-Qaida und anderen Gruppen Deckung und Schutz in der Zivilbevölkerung zu suchen.
aufmerksam zu machen. Das gibt ein schiefes Bild, und Wenn das, wie es Minister de Maizière richtig gesagt
es ist für mich persönlich, lieber Herr Ströbele, ein hat, nicht niederträchtig ist, dann weiß ich nicht, was es
Schlag ins Gesicht unserer Streitkräfte. ist. Dazu, lieber Herr Ströbele
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Präsident Dr. Norbert Lammert: – jetzt bin ich dran! –, höre ich von Ihnen nie auch nur
Darf der Kollege Ströbele noch eine Zwischenbemer- ein einziges Wort.
kung machen? – Bitte.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Insofern ist für mich die Frage jetzt auch beantwortet.
GRÜNEN):
Frau Kollegin, Sie verweigern sich einfach der Reali- Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen anderen
tät, wie das die Minister auch schon gemacht haben. Punkt eingehen. Ich habe mich in der Vergangenheit,
Realität ist, dass bei den Counter-Insurgency-Maßnah- auch in den letzten Wochen, zu einem Thema geäußert,
men der Bundeswehr – vor allen Dingen aber der US- das mir sehr wichtig ist und das ich an dieser Stelle noch
Streitkräfte – im Norden, wo die Bundeswehr die Ver- einmal erwähnen möchte. Selbstverständlich schicken
antwortung trägt – das hat der Kollege Schmidt vorhin wir nach wie vor unsere Soldatinnen und Soldaten in
ausgeführt –, ein Großteil der getöteten Menschen nichts einen gefährlichen Einsatz. Deswegen bin ich Ihnen,
mit den Taliban zu tun hat. Diese Menschen sind Denun- Herr Minister de Maizière, für Ihre Klarstellung gestern
zierte, es handelt sich um fehlgeleitete Bomben. im Verteidigungsausschuss dankbar, dass es zurzeit
ernsthafte Bemühungen mit der wehrtechnischen Indus-
Genauso verhält es sich nach allen Statistiken bei den trie und mit den Verbündeten gibt, sodass unsere Solda-
Getöteten, die durch die Killerdrohnen ums Leben tinnen und Soldaten auch dann über entsprechenden
gekommen sind. Das sind extralegale Hinrichtungen, Schutz verfügen, wenn sie in eine schwierige Lage kom-
wobei ein Großteil der Getöteten – der Anteil wird auf men.
einen Wert zwischen 30 und 50 Prozent geschätzt –
(B) Menschen sind, die auf die Listen geraten sind, ohne je Ich halte dies für gut und für richtig. Ich glaube, es ist (D)
irgendetwas mit al-Qaida oder so zu tun gehabt zu eine entscheidende Botschaft an unsere Soldatinnen und
haben. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis! Soldaten, dass wir im Parlament alles dafür tun, dass sie
heil und gesund an Leib und Leben wieder zu ihrer
Das heißt, da werden – wenn Sie so wollen – Zivilis- Familie und zu ihren Freunden zurückkommen können.
ten getötet, nur weil sie auf eine solche Liste geraten
sind. Das muss doch eine Partei, die für sich in Anspruch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nimmt, der Gerechtigkeit und den Freiheitsrechten ver- Wir wissen, dass uns ganz schwierige Monate – wenn
bunden zu sein, auf die Palme treiben. Die muss doch nicht sogar Jahre – bevorstehen. Ich glaube, es ist gut,
sagen: Das kann so nicht weitergehen. Es handelt sich dass inzwischen auch die Regionen, um die es letztend-
jedes Mal um Verstöße gegen das Völkerrecht. Extrale- lich geht, begriffen haben, dass auch sie einen Beitrag
gale Hinrichtungen sind verboten, auch im Krieg. zur Stabilität und Sicherheit auf den Weg bringen müs-
sen, wenn die westlichen Truppen abgezogen sein wer-
Elke Hoff (FDP): den.
Lieber Herr Ströbele, durch ständige Wiederholung
Wir haben uns immer vorgestellt, einen Prozess zu
der gleichen Argumente wird die Gesamtbetrachtung der
initiieren, der in Europa erfolgreich war; ich nenne nur
Lage durch Sie nicht besser. Vielleicht können Sie an
OSZE und KSZE. Wenn es dann am Ende der Reise
dieser Stelle zur Kenntnis nehmen: Ja, natürlich hat es
dazu kommen sollte, dass Institutionen in der Region
das gegeben. Ich glaube, dass im Gegensatz zu Organi-
einen solchen Prozess beginnen, wäre ich sehr froh und
sationen wie den Taliban und al-Qaida die NATO zumin-
zufrieden. Ich hoffe, dass Staaten wie China, Russland
dest in der Lage war, sich für diese Vorgänge zu ent-
und Indien sich ihrer Verantwortung bewusst sind, dass
schuldigen
sie sich aktiv an einem solchen politischen Prozess betei-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das hilft ligen und dass auch die Bundesrepublik Deutschland
den Betroffenen sehr viel!) weiterhin wie bisher mit aller Kraft daran arbeitet, dass
ein solcher politischer Prozess an dieser Stelle auf den
und für die Betroffenen Kompensation zu leisten. Weg gebracht wird.
Darüber hinaus hat man versucht, durch eine Änderung
der Einsatzregeln – die hat am Ende der Reise dazu Lassen Sie mich zum Schluss meiner Ausführungen
geführt, dass die Inkaufnahme eigener Verluste wesent- an dieser Stelle ganz besonders auch allen Soldatinnen
lich höher geworden ist – diesem Ereignis Rechnung zu und Soldaten der NATO, der mit uns verbündeten
tragen. Armeen danken, die Leib und Leben für unsere Sicher-
17778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Elke Hoff
(A) heit einsetzen. Ich bedanke mich bei unseren Polizisten, kein Einkommen und lebt beim Bruder ihres toten Man- (C)
bei unseren für die Entwicklungszusammenarbeit nes in einem kleinen Raum in einer Lehmhütte. Sie ist so
Zuständigen und bei den Diplomaten, die auch in arm, dass sie sich noch nicht einmal eine Decke für jedes
schwieriger Lage ihre schwierige Arbeit vollführen müs- ihrer Kinder leisten kann. Drei Kinder schlafen unter
sen. Vor allen Dingen darf ich mich bei den Kolleginnen einer Decke – und das, wo der harte Winter in Afghanis-
und Kollegen bedanken, die dieses schwierige Mandat in tan bevorsteht. Ihr Schwager ist also ihre einzige Ret-
schwieriger Zeit unterstützen werden. tung; aber auch er ist bitterarm. Morgens um 4 Uhr geht
er los – 14 Kilometer zu Fuß –, um seine Arbeitskraft als
Vielen Dank. Tagelöhner auf dem Markt anzubieten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Bundesregierung kümmert sich nicht um diese
Opfer des Krieges. Sie haben – wie alle Kunduz-Opfer –
Präsident Dr. Norbert Lammert: keine anständige Entschädigung erhalten, auch nicht die
Die Kollegin Christine Buchholz ist die nächste Red- 5 000 Dollar, die einige der Opfer, willkürlich ausge-
nerin für die Fraktion Die Linke. wählt, bekamen. Qureischa und ihre Kinder haben nichts
(Beifall bei der LINKEN) bekommen.
Ich sage Ihnen: Es sind nicht nur die Kommandoak-
Christine Buchholz (DIE LINKE): tionen der NATO, die die Zivilbevölkerung gegen die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unter dem Besatzer aufbringen. Es ist diese Arroganz, mit der die
Stichwort „Perspektiven in Afghanistan“ werden heute Regierung die Würde der Opfer immer mit Füßen tritt,
die Ergebnisse der Bonner Afghanistan-Konferenz, der
sogenannte Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundes- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr rich-
regierung und das neue Mandat für den Bundeswehrein- tig!)
satz diskutiert. Wir sagen ganz klar: Herr Westerwelle, die die Bundeswehr und die NATO in Afghanistan zum
Herr de Maizière, Sie haben den Menschen in Afghanis- Feind macht.
tan keine Perspektive zu bieten. Die Bonner Afghanis-
tan-Konferenz war eine reine Showveranstaltung. Es gab (Henning Otte [CDU/CSU]: Was ist denn in
keine konkreten Maßnahmen, die die Lebensbedingun- Kabul bei den Anschlägen passiert?)
gen der Menschen in Afghanistan verbessern. Ihre
Bilanz ist unehrlich. Hier haben Sie nichts gelernt. Und ich sage Ihnen:
Menschlichkeit kann man nicht teilen.
(Beifall bei der LINKEN)
(B) (Beifall bei der LINKEN) (D)
Das hat auch einen ganz konkreten Ausdruck in Bonn
gefunden: Regierungskritische Personen waren nicht Der Krieg in Afghanistan war von Anfang an falsch,
anwesend. Selbst die handverlesenen Vertreter der und weil Sie nicht weiterwissen, machen Sie weiter wie
afghanischen Zivilgesellschaft ziehen eine vernichtende bisher. Der Abzug ist eine Mogelpackung und eine
Bilanz. So sagt die Frauenrechtlerin Selay Ghaffar: Das Lüge; denn – Sie haben es selbst noch einmal betont,
ist wie die ganzen Konferenzen zuvor, viele Verspre- Herr de Maizière – die Bundeswehr wird nur dann wirk-
chungen werden gemacht, aber nichts geschieht. – Ich lich abgezogen, wenn es die Sicherheitslage zulässt. Das
wiederhole: Die Bonner Afghanistan-Konferenz war heißt, wenn sie es nicht zulässt, bleibt die Bundeswehr
eine Showveranstaltung. dort. Auch das Mandat ist unverändert. Mit den
AWACS-Flugzeugen, den Tornado RECCEs und den
(Beifall bei der LINKEN) Spezialeinheiten wird – trotz Ihres Geredes vom Abzug –
Aber noch schlimmer: Sie treten die Würde der Opfer weiter Krieg in Afghanistan geführt werden. Der Krieg
des Krieges mit Füßen. geht weiter, weitere drei Jahre, und dem werden wir
nicht zustimmen.
(Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Jetzt reicht es
aber!) (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/
CSU]: Sie haben keinen Durchblick!)
Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, dass Sie in Kabul in
die Augen von Kindern geschaut und Hoffnung gesehen Der Truppenrückzug ist nicht die Lösung der Pro-
haben. Ich glaube Ihnen das. Warum aber haben Sie es bleme, aber er ist die notwendige Voraussetzung für eine
noch nicht geschafft, in die Augen der Waisen des von politische Lösung. Deshalb: Truppen raus jetzt und nicht
der Bundeswehr befehligten Kunduz-Massakers zu erst 2014!
schauen?
(Beifall bei der LINKEN)
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr rich-
tig!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mir ist die Geschichte von Qureischa aus Kunduz Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
zugetragen worden. Qureischa ist Witwe, eine der CDU/CSU.
Frauen, die durch den Befehl der Bundeswehr am Kun-
duz-Fluss ihren Mann verloren hat. Sie ist 35 und hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sechs Kinder im Alter von 4 bis 16 Jahren. Qureischa hat neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17779
(A) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): vention von Herrn Ströbele hin deutlich gesagt haben: (C)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wenn man ein Versprechen gegeben hat und sich einem
Herren! Zunächst einmal nur ganz kurz zu Ihnen, Frau Land gegenüber verpflichtet hat, wie wir es gegenüber
Buchholz: Sie haben gesagt, die Afghanistan-Konferenz den Menschen in Afghanistan getan haben – nicht gegen-
sei eine Showveranstaltung gewesen. Abgesehen davon, über den Politikern in Afghanistan, was sogar zu ver-
dass es sich dabei um eine vollkommen unpolitische nachlässigen wäre, sondern gegenüber der Bevölkerung
Bemerkung von Ihnen handelt, möchte ich fragen: Wer Afghanistans –, dann muss man dieses Versprechen auch
hat dort überhaupt eine Show veranstaltet? Das waren erfüllen; dann muss man trotz großer Widerstände in der
doch Sie persönlich. eigenen Bevölkerung – ich glaube, keiner von uns
bekommt in seinem Wahlkreis großen Applaus dafür,
(Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE dass wir das Afghanistan-Mandat wieder verlängern –
LINKE])
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das finde
Sie haben dort mit zwei weiteren Abgeordneten der
ich gut! Das finde ich toll! Zunder müssen Sie
Linkspartei herumkrakeelt und den Konferenzfrieden
kriegen!)
gestört. Ich finde, das ist einer internationalen Konferenz
nicht angemessen. zu seinem Wort stehen. Wenn man einmal in ein Land
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gegangen ist, muss man später verantwortungsbewusst
Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Postpuber- aus diesem Land hinausgehen.
täres Gehabe!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn man von einer Showveranstaltung sprechen will,
Deshalb kann man keinen abrupten Abzug vornehmen,
dann Ihretwegen, Frau Buchholz, und wegen Ihrer bei-
so wie Sie von der Linkspartei es fordern.
den Kollegen, die dort aufgetreten sind. Dabei möchte
ich es dann aber auch belassen. Es ist klar, dass wir bei den Rückschlägen, die wir in
Wir reden hier über eine Entscheidung, die wir sehr Afghanistan erkennen müssen, mit schwindender Unter-
verantwortungsbewusst zu treffen haben. Nur ein paar stützung und mehr Kritik aus der deutschen Bevölkerung
Flugstunden entfernt von hier erfüllen Soldatinnen und zu rechnen haben.
Soldaten, Entwicklungshelfer, Diplomaten und andere, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, genau!)
die sich an unsere Seite stellen, für uns einen ganz wich-
tigen Auftrag. Meine Damen und Herren, Verantwortung Wir müssen uns bei jedem Militäreinsatz immer fragen:
kann man nicht zu einem Politikum machen; Verantwor- Haben wir die Ziele in dem Umfang erreicht, wie wir sie
(B) tung ist Realität. Deshalb bin ich sehr froh, dass der erreichen wollten? Deshalb hat Minister Westerwelle zu (D)
größte Teil dieser Debatte fraktionsübergreifend von die- Recht den wichtigsten Punkt der Debatte am heutigen
ser Verantwortung geprägt war. Tage angesprochen: Wir streben keine militärische
Lösung der Probleme Afghanistans an. Wir geben uns
Die von uns vor zehn Jahren gemeinsam getroffene nicht der Illusion hin, dass der Konflikt in der Region
Entscheidung, in den Afghanistan-Einsatz zu gehen, ist insgesamt militärisch zu lösen sei, sondern streben eine
niemandem leichtgefallen; niemand hat sie gar leichtfer- große politische, integrative Lösung an. Dabei haben wir
tig getroffen – ganz im Gegenteil. Insofern ist es richtig, in den letzten zwei Jahren erhebliche Fortschritte
dass wir uns hier alljährlich in großer Ernsthaftigkeit die gemacht. Zu dem Ergebnis komme ich, wenn ich mir
Frage stellen: Ist das, was wir in den vergangenen zwölf den Prozess der Befriedung und Aussöhnung in der
Monaten getan haben, sinnvoll gewesen? Hat uns das im gesamten Region vor Augen führe. Wir haben die Mög-
Hinblick auf die Ziele, die wir uns gesetzt haben, lichkeit, auch Nachbarländer Afghanistans an unsere
genutzt? Hat es zu einer Befriedung der Region, insbe- Seite zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer eige-
sondere Afghanistans, beigetragen? nen Verantwortung in ihrer Region gerecht werden und
Natürlich gibt es – das ist von vielen Vorrednern uns damit ein Stück weit entlasten. Das werte ich ein-
schon gesagt worden – Licht und Schatten. Natürlich deutig als Fortschritt.
gibt es Fortschritte, aber auch erhebliche Rückschritte.
Es gehört für diese Regierung und die sie tragenden Vor dem Hintergrund ist es auch richtig, dass wir alle
Fraktionen zur Ehrlichkeit dazu, dass im Fortschritts- unsere Bemühungen im zivilen, im diplomatischen und
bericht die Defizite deutlich angesprochen werden. Das im wirtschaftlichen Bereich verstärkt haben. Ich will
zeigt auch, dass wir uns diese Entscheidung keineswegs Herrn Botschafter Steiner und seinen Mitarbeiterinnen
leicht machen, meine Damen und Herren. Vielmehr plä- und Mitarbeitern aus dem Auswärtigen Amt ausdrück-
dieren wir dafür, den Weg, den wir eingeschlagen haben, lich danken, dass sie tatsächlich viele bürokratische Hür-
die Übergabe in Verantwortung, fortzusetzen und dafür den überwunden und Maßnahmen gebündelt haben;
zu sorgen, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan dau- denn das ist nicht gerade einfach. Obwohl wir hier die
erhaft in der Lage sein werden, selbst die Sicherheit vor Minister in großer Eintracht erlebt haben, ist festzuhal-
Ort zu gewährleisten. ten: Wir haben unsere eigenen Bürokratien, auch im
Bündnis selbst. Das macht es nicht einfach, die Maßnah-
Das heißt gleichzeitig aber auch, dass wir gegebene men so zu bündeln, wie es notwendig ist. Herr Botschaf-
Versprechen nicht brechen werden. Herr Kollege Arnold, ter Steiner, deshalb ein herzlicher Dank für Ihr großarti-
ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es vorhin auf die Inter- ges Engagement, durch das Sie in den letzten Jahren
17780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Philipp Mißfelder
(A) vieles auf den Weg gebracht haben, das ich ausdrücklich (Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Weitere (C)
unterstützen will. Zurufe von der FDP: So ist es! – Wolfgang
Gehrcke [DIE LINKE]: Da sind wir stolz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie drauf!)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben nach der Rede von Hillary Clinton ein Pla-
kat hochgehalten, auf dem darauf hingewiesen wurde,
Warum sind wir in Afghanistan? Warum sollen wir in dass die Politik der NATO für die Bevölkerung mit Ter-
der Mandatszeit in Afghanistan bleiben und auch über ror gleichzusetzen ist. Wir haben in der Debatte hier über
das Jahr 2014 hinaus, wenn auch in einem wesentlich die gezielten Tötungen, die Night Raids, gesprochen.
geringeren Umfang, Verantwortung übernehmen? Letzt- Die 19 Kommandoaktionen, die die NATO im Schnitt
endlich um unsere eigenen Interessen zu schützen! Das am Tag durchführt, sind für die Zivilbevölkerung in
sind in erster Linie Sicherheitsinteressen. Man kann sich Afghanistan Terror. Wir haben gefordert, dass die Trup-
in Deutschland natürlich in Sicherheit wiegen und sagen: pen nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern jetzt
Hier ist noch nie ein solcher Anschlag passiert. Der abgezogen werden sollten. Ich finde, es ist besser, den
11. September 2001 ist lange her. Seitdem sind auf der vermeintlichen Frieden einer Konferenz zu stören, als
ganzen Welt zwar weiterhin Anschläge verübt worden, der Friedenspropaganda, wie sie von Ihnen hier im Bun-
aber die wurden an anderen Orten geplant und nicht destag vertreten wird, das Wort zu reden.
unbedingt von Afghanistan aus koordiniert.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Auch hier möchte ich an die Regierungserklärung von Auf der Afghanistan-Konferenz waren keine Vertreter
Guido Westerwelle anknüpfen. Wir dürfen nicht zulas- der afghanischen Opposition zugelassen. Wir haben in
sen, dass Afghanistan wieder das Planungshauptquartier einem persönlichen Schreiben noch versucht, regie-
für terroristische Aktivitäten in der Welt wird. Deshalb rungskritische Vertreterinnen und Vertreter aus Afgha-
wäre ein Wegschauen unverantwortlich, und deshalb nistan über Minister Westerwelle anzumelden. Das ist
müssen wir unsere Bemühungen über das Jahr 2014 nicht gelungen, obwohl die Besucherränge leer waren.
hinaus aufrechterhalten, auch wenn es einen wesentlich Das heißt, wir hatten keine oppositionellen Kräfte dort.
geringeren militärischen Anteil geben wird. Dafür müs- Wir haben deren Position auf die Konferenz getragen.
sen wir wahrscheinlich mehr Anstrengungen beispiels-
weise bei der Entwicklungszusammenarbeit unterneh- (Joachim Spatz [FDP]: Was für eine Arro-
men. Da wird es mehr Bedarf geben, als das momentan ganz!)
der Fall ist. Wir haben uns dem offensichtlichen Anschein entgegen-
(B) Eines ist klar: Wenn man seine Interessen einmal defi- gestellt, dass mit dieser Konferenz eine weitere Legiti- (D)
niert hat – dazu gehören unsere Sicherheitsinteressen –, mation für den Krieg gegeben wird.
dann muss man sie auch seriös verteidigen. Dazu gehört Interessanterweise ist gerade die durch die Bombar-
eben auch, dass man den Menschen reinen Wein ein- dierung des Stützpunktes in Pakistan entstandene Situa-
schenkt. Das machen wir in dieser Debatte. Wir sagen: tion in den ersten Reden auf der Konferenz überhaupt
Unser Ziel ist, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, kein Thema gewesen. Sie ist ausgeblendet worden. Ich
aber wir wollen uns nicht kopflos aus Afghanistan glaube daher, dass wir für unsere Partner in Afghanistan,
zurückziehen, sondern wir wollen durch eine Übergabe für demokratische und friedensorientierte Kräfte in Af-
in Verantwortung dafür sorgen, dass die Sicherheits- ghanistan, ein wichtiges Signal gesetzt und nicht den
strukturen in Afghanistan selbsttragend werden, dass die vermeintlichen Frieden dieser Konferenz gestört haben.
afghanischen Streitkräfte und die Polizeikräfte in der
Lage sind, sich selber und ihre Bevölkerung zu schützen. (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte
Klar ist auch: Wir werden Afghanistan in dieser schwie- [CDU/CSU]: Dann stimmt ja Ihr Weltbild wie-
rigen Aufbauphase, in der es sich befindet, nicht im der!)
Stich lassen, sondern unserer Verantwortung gerecht
werden. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung Kollege Mißfelder.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Nur ganz kurz dazu: Einerseits werfen Sie uns
Kriegspropaganda und Kriegstreiberei vor, und anderer-
Präsident Dr. Norbert Lammert: seits werfen Sie uns Friedenspropaganda vor. Alles, was
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Sie sagen, Frau Buchholz, passt eigentlich nie zusam-
Buchholz das Wort. men.
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Sie verste-
Christine Buchholz (DIE LINKE): hen es bloß nicht!)
Herr Mißfelder, Sie haben eben mir und damit auch
Ich finde es wirklich eine Unverschämtheit, wenn Sie
meinen Kolleginnen Heike Hänsel und Kathrin Vogler
die NATO mit Terror gleichsetzen.
vorgeworfen, wir hätten den Konferenzfrieden der Bon-
ner Afghanistan-Konferenz gestört. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17781
Philipp Mißfelder
(A) Frau Buchholz, bitte beschäftigen Sie sich einfach ein- dass der schöne Schein von Bonn gestört worden wäre. (C)
mal mit der Historie dieses Einsatzes und mit dem „Die Botschaft von Bonn ist: Wir lassen Afghanistan
11. September 2001. Dann werden Sie sehen, wer die nicht im Stich“, verkündet lautstark der aktuelle Fort-
Terroristen waren. schrittsbericht der Bundesregierung. Die Botschaft der
USA klingt allerdings etwas anders: Wir lassen Afgha-
Frau Buchholz, ich habe mich sehr dafür eingesetzt, nistan zwar nicht im Stich, aber die Zeiten unbegrenzter
dass Parlamentarier, auch aus Deutschland, an dieser Hilfen sind vorüber.
Konferenz teilnehmen dürfen. Die Bundesregierung hat
diesem Ansinnen unserer Fraktion entsprochen. Dafür Zwei Beispiele verdeutlichen das: Zum einen werden
bin ich sehr dankbar. Wenn Sie an solchen Konferenzen die USA ihre Entwicklungshilfe für Afghanistan von
teilnehmen, dann beschädigen Sie bitte nicht das Anse- 4,5 Milliarden Dollar im Jahr 2010 auf 1 Milliarde Dol-
hen von Abgeordneten und damit des gesamten Hauses. lar im Jahr 2014 zusammenstreichen. Das entspricht ei-
ner Kürzung um fast 80 Prozent. Zum anderen gibt es
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ganz im
Anzeichen dafür, dass die Amerikaner von den mindes-
Gegenteil!)
tens 6 Milliarden Dollar, die jährlich für die Unterstüt-
Wenn Sie schon hingehen dürfen, dann benehmen Sie zung der afghanischen Sicherheitskräfte aufgebracht
sich bitte so, wie sich ein Abgeordneter zu benehmen werden müssen, noch höchstens 3 Milliarden Dollar
hat. übernehmen werden. 3 Milliarden Dollar entsprechen
nämlich in etwa der US-Militärhilfe für Israel, und der
(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das kann amerikanische Kongress hat angekündigt, keinem Staat
sie doch gar nicht!) mehr Unterstützung als Israel gewähren zu wollen. Wäh-
Herzlichen Dank. rend sich die deutsche Entwicklungshilfe für Afghanis-
tan in Millionen bemisst, drohen hier Milliardenbeträge
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu fehlen, auf die das Land dringend angewiesen ist.
Johannes Pflug
(A) wir von Ihnen geeignete Vorschläge für die Konferenz in Von der Bonner Konferenz geht somit ein eindeutiges (C)
Tokio. Im Zweifelsfall muss die weitere Unterstützung Signal aus: Die internationale Staatengemeinschaft lässt
von ernsthaften Reformbemühungen der Afghanen ab- Afghanistan nicht im Stich. Wir werden Afghanistan
hängig gemacht werden. auch nach der Übernahme der vollständigen Regierungs-
verantwortung durch die Afghanen zur Seite stehen.
Finanzielle Hilfen allein werden die Dinge in Afgha-
nistan nicht zum Guten wenden. Und mehr Geld muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht notwendigerweise immer besser für Afghanistan
sein. Im Gegenteil: Es kann sogar schaden, wenn da- Die einstimmige Annahme des Schlussdokuments durch
durch Korruption und Klientelnetzwerke gefördert wer- alle 100 Delegationen stellt dies eindrucksvoll unter Be-
den. weis. Dabei war und ist allen Beteiligten klar, dass es nur
– das ist heute schon angesprochen worden – eine politi-
Trotzdem gibt es Dinge in Afghanistan, die zwingend sche Lösung geben kann.
einer robusten Finanzierung bedürften. Aber diese Finan-
zierung ist nach wie vor nicht einmal ansatzweise er- Diese Unterstützung für Afghanistan leisten wir –
kennbar. An erster Stelle dürften dabei die teuren afgha- man muss es offensichtlich immer wieder ansprechen,
nischen Sicherheitskräfte stehen, ohne die kein verant- auch heute – auch im Interesse unserer eigenen Sicher-
wortungsvoller Abzug unserer Bundeswehr und unserer heit;
Verbündeten stattfinden kann. Aber auch zivile Hilfspro- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr
jekte werden noch lange auf Gelder der internationalen richtig!)
Gemeinschaft angewiesen sein.
denn der Terrorismus bedroht uns alle. Sicherheit war
Die Frage, wie sich Afghanistan in Zukunft finanzie- ein zentrales Thema der Bonner Konferenz. Die Über-
ren soll, ist zu wichtig, als dass man bloß von einer Kon- gabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische
ferenz auf die nächste verweisen könnte. Diese Frage be- Hände hat im Sommer dieses Jahres begonnen und soll
darf konkreter Planung und Absprachen mit unseren gemäß den Beschlüssen der Konferenzen in London und
internationalen Partnern. Bei beidem erwarten wir zu- Kabul im letzten Jahr bis Ende 2014 abgeschlossen sein.
künftig deutlich bessere Ergebnisse von der Bundesre- Das Engagement deutscher Streitkräfte soll im Rahmen
gierung als bisher. des ISAF-Mandats entsprechend dieser Zielvorgabe fort-
Vielen Dank. gesetzt werden. Dabei wollen wir in einem ersten Schritt
zu Beginn des Jahres 2012 die Mandatsobergrenze von
(Beifall bei der SPD) derzeit 5 350 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten sen-
ken. Je nach Entwicklung der Sicherheitslage und dem
(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Verlauf des Übergabeprozesses – das ist also noch offen – (D)
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Wolfgang wollen wir die tatsächliche Truppenstärke 2012 weiter
Götzer das Wort. reduzieren. 2014 soll der Einsatz in seiner bisherigen
Form – ich betone: in seiner bisherigen Form – beendet
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sein.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Wir halten eine Reduzierung der Zahl der deutschen
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Einsatzkräfte im Laufe des nächsten Jahres aus mehreren
gen! Am 10. Oktober dieses Jahres hat der Sicherheitsrat Gründen für möglich. Zum einen werden Provinzen und
der Vereinten Nationen beschlossen, das ISAF-Mandat Distrikte im Norden Afghanistans, also im deutschen
bis zum 13. Oktober des nächsten Jahres zu verlängern. Verantwortungsbereich, in absehbarer Zeit in afghani-
Eine Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sche Verantwortung übergeben. Zum anderen hat sich,
– auch deutscher – ist nötig, um den Prozess der Über- wie auch der aktuelle Fortschrittsbericht der Bundesre-
nahme von Sicherheitsverantwortung durch die Afgha- gierung zur Lage in Afghanistan zweifelsfrei feststellt,
nen nicht zu gefährden. die Sicherheitslage verbessert. Nach zehn Jahren Hilfe
sind trotz eines immens schwierigen, oft lebensgefährli-
Erst vor wenigen Tagen hat die internationale Staaten- chen Umfeldes heute Fortschritte unübersehbar, wenn-
gemeinschaft auf der Afghanistan-Konferenz in Bonn gleich es noch ein weiter Weg bis zum Frieden ist.
ihr Engagement für Afghanistan über das Jahr 2014 hi-
naus bekräftigt. Die Aufgabe ist immens: Aus einem Auch der Aufbau der afghanischen Armee und Poli-
Krisenherd soll ein souveräner Staat werden, der seinen zei verläuft nach Plan, sodass bis Oktober nächsten Jah-
eigenen Beitrag zu Frieden und Sicherheit leisten kann. res über 350 000 afghanische Sicherheitskräfte bereit
sein werden, Sicherheitsverantwortung zu übernehmen.
Die Bonner Konferenz hat gezeigt: Die Bereitschaft, Während des Prozesses der schrittweisen Übergabe in
Afghanistan zu unterstützen, ist auch nach zehn Jahren Verantwortung gilt es, die Fähigkeiten der afghanischen
ungebrochen. Mit dieser Konferenz haben wir die Sicherheitskräfte weiter zu stärken. Konkrete Pläne hier-
Grundlage für ein langfristiges Engagement der interna- für sollen bereits auf dem NATO-Gipfel im Mai 2012
tionalen Gemeinschaft für Afghanistan über 2014 hinaus beschlossen werden.
gelegt. Dieses langfristige Engagement erstreckt sich auf
die Bereiche gute Regierungsführung, Sicherheit, in- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eines der für uns
nerafghanischer Friedensprozess, wirtschaftliche und so- wesentlichen Ergebnisse der Bonner Konferenz ist die
ziale Entwicklung sowie regionale Zusammenarbeit. gegenseitige Verpflichtung zwischen der internationalen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17783
Dr. Wolfgang Götzer
(A) Staatengemeinschaft und Afghanistan. Um es ganz klar so schnell wie möglich zu verlassen, sondern es muss (C)
zu sagen: Die internationale Gemeinschaft sichert Af- unser Ehrgeiz sein, Afghanistan in Verantwortung für
ghanistan Hilfe über 2014 hinaus zu; zugleich aber neh- das Land zu stabilisieren und in der Region für mehr Sta-
men wir die Afghanen in die Pflicht. Wir werden darauf bilität und Verantwortung zu sorgen. Wenn die Botschaft
drängen, dass Afghanistan die in Bonn bekräftigten Ver- lautet: „Wir lassen Afghanistan nicht im Stich“, dann
pflichtungen hinsichtlich guter Regierungsführung um- heißt das also genauso: Afghanistan muss stabiler und si-
setzt und einen politischen Prozess rechtsstaatlicher Teil- cherer werden.
habe in Gang setzt. Außerdem erwarten wir von
Afghanistan, dass ein landesweiter innerafghanischer Zweitens hat sich Afghanistan verpflichtet – wir müs-
Aussöhnungsprozess auf der Basis der hierfür in Bonn sen auf die Einhaltung dieser Verpflichtung bestehen –,
vereinbarten Prinzipien erfolgt. Ebenso werden wir von sich im Gegenzug intensiver um eine Stärkung seiner
der afghanischen Regierung echte Fortschritte im Kampf Regierungsfähigkeit zu kümmern.
gegen Korruption und Drogenanbau einfordern. Drittens – der Bundesverteidigungsminister hat den
Wir müssen bereits jetzt den Blick über die Über- Abzug und die Gestaltung der Abzugsplanung schon an-
gangsphase hinaus auf den sich anschließenden Trans- gesprochen –: Die regionale Dimension ist ganz ent-
formationsprozess richten, der bis zum Jahr 2024 ange- scheidend für die Stabilisierung und Sicherung des Er-
setzt ist. Auch das war ein wichtiger Aspekt der Bonner reichten. Hier sind politische Lösungen gefragt. Obwohl
Konferenz. Der im Rahmen dieses Mandats eingeleitete Pakistan an der Konferenz in Bonn nicht teilgenommen
Truppenabzug bis 2014 ist – das möchte ich an dieser hat, ist deutlich geworden, dass wir die Region einbin-
Stelle ganz klar sagen – keineswegs das Ende des Enga- den. Mit Blick auf die Abzugsplanung geht es auch da-
gements der internationalen Streitkräfte. rum, dass wir mit den nördlichen Nachbarn Afghanis-
tans Einvernehmen über die Art und Weise des Abzugs
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hätte und über deren Verantwortung in der Region herstellen.
das gedacht!) Das halte ich für besonders wichtig.
Im Gegenteil: Um die Zukunft Afghanistans zu sichern
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es sind,
und die Region langfristig zu stabilisieren, muss das
glaube ich, vier Aspekte, die aus der Debatte herauszu-
ISAF-Mandat auf die Bewältigung neuer Aufgaben, vor
destillieren sind.
allem im zivilen Bereich und bei der Ausbildung der Si-
cherheitskräfte, über 2014 hinaus ausgerichtet werden. Erstens: die Stärkung und Ausbildung der afghani-
Dabei wird die Bundeswehr weiterhin vor Ort eine wich- schen Sicherheitskräfte. Darüber ist hier viel gesprochen
tige Rolle spielen. worden. Wichtig ist, dass wir Qualität erreichen – wir
(B) Lassen Sie mich an dieser Stelle abschließend einmal brauchen Qualitätssteigerungen und müssen vor allen (D)
mehr unseren Soldatinnen und Soldaten danken, die ih- Dingen im Bereich der zivilen Verwaltung Fortschritte
ren lebensgefährlichen Dienst in Afghanistan leisten. erzielen – und dass die Finanzierung bis zum NATO-
Heute, wenige Tage vor Weihnachten, richte ich damit Gipfel in Chicago bzw. bis zur Geberkonferenz in Tokio
verbunden einen Gruß an diejenigen, die dieses Fest weit geklärt wird.
weg von ihren Familien feiern werden. Zweitens: die Restrukturierung des deutschen Ein-
Vielen Dank. satzkontingents. Hier ein ganz kurzer Blick auf das
Mandat: Es beinhaltet flexible Kontingentwechselmög-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lichkeiten, und es wurden sowohl die AWACS-Aufklä-
neten der FDP) rungsflugzeuge als auch die Tornado-Aufklärungsflug-
zeuge mitberücksichtigt. Ich kann nur sagen:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kompliment zu dieser Mandatsgestaltung!
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
ruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- LINKE])
neten der FDP)
– Für Sie vielleicht.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Drittens: die regionale Einbettung des Prozesses; ich
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und habe sie bereits angesprochen.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich zum Abschluss dieser Debatte ein paar Gedanken Lassen Sie mich viertens, weil es aufseiten der Linken
aufgreifen. Wir haben eine sehr sachliche Debatte ge- gerade laut geworden ist, die Ausrichtung des zivilen
führt. Ich glaube, wir haben der Bevölkerung auch sehr Engagements ansprechen. Wir als Parlament waren in
viele Erklärungen geliefert, um klarzumachen, warum Bonn ordentlich vertreten. Wir haben uns gekümmert
wir in Afghanistan sind, warum wir dort noch eine Weile und viele Gespräche geführt. Wir haben die Chance ge-
bleiben müssen und warum Afghanistan unseren Einsatz nutzt, mit 27 Vertreterinnen und Vertretern der Zivilge-
verdient. sellschaft zu sprechen. Was hat die Linke gemacht?
Erstens haben wir deutlich gemacht: Verantwortung (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Wir waren
geht vor Ehrgeiz. Es ist nicht unser Ehrgeiz, Afghanistan bei der Friedensbewegung!)
17784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Roderich Kiesewetter
(A) Sie hat Transparente ausgerollt. Als wir noch zwei Stun- selbst verursachen, etwa zwischen 19 Uhr und 19.30 Uhr (C)
den drangehängt haben, um mit Botschafter Steiner und stattfinden.
den 27 Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesell-
schaft zu sprechen, sind Sie mit fliegenden Rockschößen Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
und eingerollten Transparenten zum Bonner Hauptbahn- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
hof geeilt. Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE LINKE
GRÜNEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ Rente erst ab 67 – Risiken für Jung und Alt
CSU]: Ja! So sind sie!)
– Drucksachen 17/5106, 17/7966 –
In Bonn ist deutlich geworden, was die Zivilgesell-
schaft von uns erwartet. Sie erwartet, dass wir uns küm- Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
mern: um die Versehrten, um den Aufbau der Kranken- SPD und der Fraktion Die Linke vor. Über den Ent-
häuser und um das Bildungssystem. Gefordert wird auch schließungsantrag der Fraktion Die Linke werden wir
eine Intensivierung der akademischen und handwerkli- später namentlich abstimmen.
chen Ausbildung. Hier sind unsere Stärken. Diese Stär-
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, zu diesem
ken müssen wir nutzen. Wir haben durch unsere Anwe-
Tagesordnungspunkt eineinhalb Stunden zu debattieren. –
senheit und durch unser Interesse gezeigt, dass uns
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
genau daran gelegen ist. Vielen Dank an die Kolleginnen
das so beschlossen.
und Kollegen, die mit dabei waren!
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
des Abg. Johannes Pflug [SPD])
Lassen Sie mich abschließend einen weiteren Punkt (Beifall bei der LINKEN)
ansprechen – Herr Minister de Maizière hat ihn vorhin
bereits erwähnt –: In Landstuhl befindet sich zurzeit eine Klaus Ernst (DIE LINKE):
Reihe schwer Kriegsversehrter, die für wenige Tage hier Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
sind; ich hatte die Ehre, den Minister bei seinem Besuch Herren! Mit unserer Großen Anfrage wollen wir uns er-
zu begleiten. Lassen Sie uns in der letzten Einsatzdebatte neut mit der Rente erst ab 67 beschäftigen. Die Antwort,
in diesem Jahr in unseren Gedanken bei den Einsatzver- die wir von der Bundesregierung auf über 380 Seiten be-
sehrten sein, bei den alliierten wie auch bei den deut- kommen haben, ist ein sehr umfangreiches Werk, das be- (D)
(B)
schen Einsatzversehrten und Veteranen. Lassen Sie uns weist, dass wir von der Rente ab 67, die ab 1. Januar des
in Gedanken bei unseren Soldatinnen und Soldaten im nächsten Jahres eingeführt werden soll, dringend Ab-
Einsatz sein, unter denen über 400 Reservistinnen und stand nehmen müssen.
Reservisten sind, bei unseren Polizistinnen und Polizis-
ten und den zivilen Aufbauhelfern. Lassen Sie uns von (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
dieser Stelle einen Weihnachtsgruß in die Einsatzgebiete Kolb [FDP]: Wo sind denn die Beweise?)
schicken. – Die Beweise werde ich Ihnen jetzt vortragen.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Mein Ich nenne drei Argumente:
Gott!)
Erstens. Auch Ihnen wird einleuchten, dass, wenn
Lassen Sie uns den Kameraden dort versichern: Wir ste- man bis 67 arbeiten soll, eine Voraussetzung erfüllt wer-
hen an ihrer Seite, und wir unterstützen sie, und wir wol- den müsste, nämlich die, dass man im Alter von 64 noch
len unserer Bevölkerung den Einsatzwechsel und das eine Arbeit hat. Hat man im Alter von 64 keine Arbeit
neue Mandat im neuen Jahr noch intensiver als bisher er- mehr, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit
klären. Sie haben all unsere Unterstützung. 65 oder 66 wieder eingestellt wird, äußerst gering. Ich
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. glaube, selbst die FDP wird dem zustimmen. Um es ein-
mal ganz deutlich zu sagen: In diesem Land bekommt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man mit 65 eher das Bundesverdienstkreuz als einen
Job.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der LINKEN)
Damit schließe ich die Aussprache.
Da das so ist, müssen wir uns die Frage stellen – da-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
rauf ist in der Antwort auf die Große Anfrage einge-
Drucksache 17/8166 an die in der Tagesordnung aufge-
gangen worden –, wie viele Menschen im Alter von
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
64 Jahren eigentlich noch sozialversicherungspflichtig
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
beschäftigt sind. Die Antwort lautet: 8,7 Prozent der
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass heute Abend Menschen im Alter von 64 haben noch eine sozialver-
eine weitere namentliche Abstimmung stattfinden wird, sicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Bei den
und zwar zum Tagesordnungspunkt 11. Die Abstim- Frauen, Frau von der Leyen, sind es übrigens nur 5 Pro-
mung wird vorbehaltlich aller Änderungen, die wir zent.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17785
Klaus Ernst
(A) Wenn das wirklich so ist, wie Sie es hier vorlegen, tung gar nicht steigt. Im Gegenteil: Die Studie hat erge- (C)
dann bedeutet das im Ergebnis, dass Sie mit der Anhe- ben, dass die Geringverdiener zunehmend früher ster-
bung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre 90 Prozent der ben.
Menschen nichts anderes als eine ganz brutale Renten-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
kürzung verordnen.
Quatsch! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer
(Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling hat die Studie erstellt?)
[CDU/CSU]: Bisher war noch nichts Neues!)
Während sie im Jahre 2001 durchschnittlich mit
Das hat Ihre Antwort auf unsere Anfrage eindeutig erge- 77,5 Jahren verstorben sind, verstarben sie im Jahr 2010
ben. im Durchschnitt mit 76 Jahren. Das ist ein Fakt, den die
Es wird immer gesagt, die Rente mit 67 komme erst Studie ergeben hat.
später. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann erken-
nen wir, dass diese Rentenkürzung bereits ab dem 1. Ja- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nuar 2012 wirken wird; das heißt, bereits im ersten Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Quartal wäre eine Rentenkürzung von fast 1 Prozent für
die Menschen möglich, die nicht mehr sozialversiche- Klaus Ernst (DIE LINKE):
rungspflichtig beschäftigt werden können. 90 Prozent! Ja, gern.
Das ist Ihre Rentenpolitik!
Nun ein paar Worte zur SPD. Sie machen den Vor- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
schlag – ich habe das in Ihrem Parteiprogramm gelesen –, Herr Ernst, weil Sie den Eindruck erwecken, dass hier
die Rente mit 67 erst dann einzuführen, wenn die Alters- wissenschaftliche Ergebnisse zitiert würden, möchte ich
gruppe der 60- bis 64-Jährigen zu 50 Prozent beschäftigt Sie fragen: Würden Sie mir, wenn Sie von einer Studie
ist. sprechen, recht geben, wenn ich sage, dass es eine Studie
(Elke Ferner [SPD]: Sozialversicherungs- Ihres Kollegen Birkwald ist, die Sie hier zitieren, und
pflichtig!) dass das sozusagen ein linker Zirkelschluss ist?
Klaus Ernst
(A) (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er- In den letzten 50 Jahren hat die Lebenserwartung um (C)
langen] [CDU/CSU]: Frei erfunden!) 11 Jahre zugenommen. Die durchschnittliche Rentenbe-
zugszeit hat sich in den letzten 50 Jahren von 10 Jahren
Im Übrigen – lassen Sie mich auch das noch sagen, auf 18 Jahre erhöht. Man muss schon so betonhart wie
Herr Dr. Kolb – ist es so, dass wir offensichtlich ausge- die Linke in der Vergangenheit leben,
rechnet gegen die in diesem Land vorgehen, die wenig
verdienen. Sie weigern sich konsequent, den Mindest- (Zurufe von der LINKEN: Oh!)
lohn einzuführen. Die Menschen mit geringeren Ein- um diese Wirklichkeit nicht realisieren zu können, meine
kommen haben geringere Renten. Jetzt stellen wir fest, Damen und Herren.
sie sterben auch noch früher. Das ist nicht hinzunehmen.
Über diesen Vorgang sollten Sie sich einmal Gedanken (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
machen. Ich habe mich wirklich gefragt, ob die Linke die Sta-
(Beifall bei der LINKEN) tistiken der Deutschen Rentenversicherung auch heute
noch einmal dazu missbrauchen würde,
Meine Damen und Herren, ein drittes Argument
möchte ich noch anführen. Es heißt immer, wir müssten (Zuruf von der LINKEN: Na, na!)
die Rente mit 67 einführen; wir könnten uns die Rente um den Unsinn zu erzählen, dass bei Geringverdienern
mit 65 nicht mehr leisten. Alle Antworten der Bundes- in den letzten drei Jahren die Lebenserwartung entgegen
regierung ergeben aber, dass der Beitragssatz nur um dem Trend gesunken sei.
0,5 Beitragssatzpunkte höher wäre, wenn wir bei der
Rente mit 65 blieben. Frau von der Leyen, das sind bei (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das steht doch
einer paritätischen Finanzierung der Rente 0,25 Bei- da!)
tragssatzpunkte. Das sind bei einem Durchschnittsver- Wir haben vorhin geklärt, dass es keine Studie ist, son-
diener um die 6,30 Euro monatlich. dern dass die Deutsche Rentenversicherung Statistiken
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: geliefert hat, aus denen Sie etwas herausgelesen haben.
Auch das ist wieder falsch!) Die Deutsche Rentenversicherung hat klipp und klar ge-
sagt, dass aus diesen kleinen Fallzahlen kein Trend abzu-
Ich habe noch niemanden in diesem Lande erlebt, der lesen ist. Aber auch da bleiben Sie beinhart in der Ver-
wegen eines um 6,30 Euro höheren Beitrags im Monat gangenheit.
zwei Jahre länger arbeiten möchte. Aber Sie muten das Ich empfehle Ihnen einen ausgesprochen guten Arti-
den Leuten zu, und das ist inakzeptabel. kel aus der Sächsischen Zeitung.
(B) (Beifall bei der LINKEN) (D)
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Richtig!)
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Diese Zeitung hat nämlich diesen Unsinn einmal aufge-
Wir haben ja nun Weihnachten. Vor Weihnachten gibt es griffen und mit der Technik der Linken die Miniaturfall-
den Nikolaus, und der Nikolaus hat eine Rute. Ich sage zahlen so analysiert, dass man auch einen vermeintli-
Ihnen: Wenn Sie dem Nikolaus begegnet wären, hätte er chen anderen Trend herauslesen kann. Danach ergäbe
Ihnen wegen Ihrer Rentenpolitik so lange den Hintern sich nämlich, dass sich die Lebenserwartung von gering-
versohlt, dass Sie bis Weihnachten nicht mehr sitzen verdienenden Frauen im Osten – oh Wunder! – um lo-
könnten. ckere sechs Jahre von 79 auf 85 verlängert hat.
(Beifall bei der LINKEN) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und bei
den Männern, Frau Ministerin?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Ergebnis ist also hervorragend, wenn man die Statis-
Das Wort hat die Bundesministerin Ursula von der tiken auf die Art und Weise interpretiert, wie die Linke
Leyen. damit umgeht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist ein Paradestück dafür, dass die Linken mit Zah-
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für len nicht umgehen können.
Arbeit und Soziales:
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsinn!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Völliger Unsinn!)
Ernst, wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man den Ein-
druck, als ob die Rente mit 67 den Menschen tatsächlich Es zeigt den tiefen Realitätsverlust der Linken. Ihnen
etwas wegnehmen würde. passt es nämlich nicht, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
Wirklichkeit Ihnen inzwischen etwas völlig anderes ins
(Zurufe von der LINKEN: Ja!) Stammbuch schreibt.
– Da hört man die Linken schreien. – Es geht aber um (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gewonnene Lebensjahre.
Noch haben wir keinen einzigen Monat Arbeit mehr.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Wider- In diesem Jahr ist es noch so, dass mit 65 Jahren die ab-
spruch bei der LINKEN) schlagsfreie Rente bezogen werden kann. Wenn die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17787
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Rente mit 67 Jahren greift, werden wir 5 Millionen Men- Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für (C)
schen mehr in der Rente und 6 Millionen Menschen we- Arbeit und Soziales:
niger im erwerbsfähigen Alter haben. Es ist schön, wenn Nein, bitte keine Zwischenfrage. Ich möchte den Ge-
wir alle länger leben. Aber das heißt auch, dass die Mitte danken zu Ende führen. Er kann nachher eine Kurzinter-
schmilzt. Diese Veränderung in der Alterszusammenset- vention machen.
zung der Bevölkerung hat längst stattgefunden. Dement-
sprechend entsteht jetzt auch ein neues Bild des Alters. Es ist meine Generation, also die Generation der jetzt
über 50-Jährigen, die in die Rente mit 67 hineinwächst.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an. In den letzten Ich würde es einfach einmal andersherum formulieren:
zehn Jahren hat sich schon enorm viel verändert. Die Wir werden gebraucht. Wir trauen uns auch etwas zu. Ja,
Zahl der Erwerbstätigen im Alter von über 55 Jahren hat wir werden als Gesellschaft älter. Aber die Ältereren
sich um 1,5 Millionen erhöht. 57 Prozent der 55- bis 64- bleiben auch länger jung. Es ist keine Frage des Alters,
Jährigen stehen inzwischen im Erwerbsleben. Das ist sondern es ist eine Frage der Fähigkeiten und der Moti-
hinter Schweden Platz zwei in Europa. Wir können stolz vation, am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können.
darauf sein, dass diese Veränderung inzwischen stattge-
funden hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte einen zweiten Gedanken einführen. Wir
haben in den letzten Tagen intensiv über den Euro und
Bei den 60- bis 64-Jährigen hat sich die Erwerbstäti- über Europa diskutiert. Wir haben uns alle miteinander
genquote in den letzten zehn Jahren sogar verdoppelt. fest in die Hand versprochen, dass das nachhaltige Wirt-
Ich weiß, dass Sie immer nur auf die sozialversiche- schaften in Europa einer der Garanten dafür ist, dass
rungspflichtig Beschäftigten schauen. Dort ist die Er- wieder Vertrauen in Europa entsteht. Europa ist insge-
werbstätigenquote deutlich mehr als doppelt so hoch. samt ein Kontinent auf dem Weg zum langen Leben. Da-
Mit der Technik der Linken betrachtet, hat sie um rauf müssen wir reagieren. Großbritannien, Frankreich,
150 Prozent zugenommen. Auch dabei handelt es sich Spanien und Dänemark haben inzwischen die Rente mit
um einen Erfolg des Arbeitsmarktes und einen Erfolg 67 eingeführt. Sie werden sie sogar sehr viel früher als
der Älteren am Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren, wir erreichen. Italien wird wahrscheinlich nachziehen.
meine Damen und Herren. Alle handeln in dem Wissen: Wer sich der Wirklichkeit
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht stellt, der ruiniert seine Sozialsysteme.
neten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Auf (Elke Ferner [SPD]: Sie stellen sich doch nicht
8 Prozent! Das ist wirklich enorm!) der Wirklichkeit!)
(B) (D)
Ich glaube, wenn im Jahr 2029 – erst dann greift die Warum sollten ausgerechnet wir jetzt eine Rolle rück-
Rente mit 67 – so viel mehr Menschen älter sind und so wärts machen? Nein, wir bleiben standfest, weil wir das
viel weniger Menschen am Arbeitsmarkt sind, ist es den jungen Menschen in unserem Land schuldig sind.
auch eine Frage der Fairness und der Gerechtigkeit der
schmelzenden Mitte gegenüber, zu sagen: Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zehn Jahre Lebenserwartung dazugewonnen haben, dann
können wir zwei Jahre davon in Arbeit investieren. Wir müssen in den nächsten Jahren nach vorne
schauen, bis die Rente mit 67 Jahren greift. Bis zum
(Elke Ferner [SPD]: Dann muss man aber erst Jahre 2029 müssen wir daran arbeiten, die Rente mit
einmal einen Arbeitsplatz finden, Frau Minste- 67 mit Leben zu erfüllen. Mir ist wichtig, dass wir die
rin!) Frage eines guten Übergangs und der Gerechtigkeit be-
antworten. Wir möchten dazu die Kombirente vorschla-
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit den Jungen gegen-
gen, die bewirkt, dass man mit Teilzeitarbeit und Teil-
über. Auch das sollten wir einmal thematisieren.
rente den Übergang in die Rente schon früher, also im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alter zwischen 63 und 67 Jahren, schaffen kann.
Meine Bitte an die Linken ist: Hören Sie endlich auf, Wenn wir über die Rente mit 67 im Jahr 2029 spre-
die Alten so schwachzureden. chen, ist es wichtig, die Frage zu stellen – das ist eben
eine Frage der Gerechtigkeit –, ob insbesondere Gering-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist verdiener, wenn sie 30, 35 oder 40 Jahre Beiträge ge-
eine Unverschämtheit!) zahlt haben, es schaffen, eine eigene auskömmliche
Die Älteren sind am Arbeitsmarkt unverzichtbar. Die Äl- Rente zu erhalten. Darunter sind sehr viele Frauen, die
teren, die später die Rente mit 67 erarbeiten werden, ge- Teilzeit gearbeitet haben, aber nicht aus Bequemlichkeit.
hören meiner Generation an. Wir sind die Ersten, die die Ich sage es noch einmal: Das ist meine Generation. Da-
Rente mit 67 dann auch tatsächlich mit Leben füllen mals hat es keine Ganztagsschulen und nur wenig Kin-
müssen. dergartenplätze gegeben, von Krippenplätzen war über-
haupt nicht die Rede. Wenn diese Frauen gearbeitet
haben, dann haben sie sich wirklich krummgelegt, und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zwar ein Leben lang. Sie haben neben der Arbeit Kinder
Frau Ministerin, der Kollege Ernst äußert den erzogen und die Älteren gepflegt. Sie müssen, wenn sie
Wunsch nach einer Zwischenfrage. für ihr Alter vorgesorgt haben, am Ende des Lebens eine
17788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir den jungen Arbeit und Soziales:
Menschen gegenüber gerecht sein müssen und bereit Herr Ernst, an der Länge Ihrer verschwurbelten ersten
sein müssen, einen Teil unseres längeren Lebens in Ar- Frage konnte man sehen, dass Sie versucht haben, einen
beit zu investieren. Andererseits müssen wir den Gering- einfachen Zusammenhang möglichst kompliziert darzu-
verdienern, die sich wirklich krummgelegt und ein Le- stellen, damit er Ihrer Realitätsverweigerung standhält.
ben lang alles richtig gemacht haben, eine eigene Rente (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ermöglichen. der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)
(Elke Ferner [SPD]: Sehen Sie zu, dass aus Meine einfache Antwort ist: Ab 2012 müssen die Men-
Geringverdienern Normalverdiener werden! – schen einen Monat länger arbeiten, Herr Ernst; mehr
Anette Kramme [SPD]: Wir sind gespannt, nicht in diesem Jahr.
wann Sie einen Antrag zum Mindestlohn all-
gemeiner Art einbringen werden!) (Elke Ferner [SPD]: Was ist, wenn sie keinen
Job haben?)
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ohne diese Gerech-
tigkeit verliert das Rentensystem seine Berechtigung, Ich glaube, es ist eine Frage der Gerechtigkeit den Jun-
und ohne Kinder verliert es seine Zukunft. gen gegenüber, dass wir langsam, aber sicher monats-
weise in die Rente mit 67 einsteigen.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Reden
Sie sich nicht heraus! Ja oder Nein?)
(B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D)
– Sie haben eben das Wort gehabt. Jetzt habe ich es.
Zu einer Kurzintervention der Kollege Klaus Ernst.
Zu Ihrer zweiten Frage: Die Zuschussrente ist auf die
Klaus Ernst (DIE LINKE): Zukunft ausgerichtet. Das heißt, wir stellen die Bedin-
gung der Vorsorge nicht für die Vergangenheit, sondern
Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen – ich habe jetzt
für die Zukunft, auch um deutlich zu machen: Wenn un-
doch noch die Gelegenheit, etwas zu sagen – eine ganz
ser Rentensystem auf Dauer halten soll, dann muss es
konkrete Frage stellen. Ab 1. Januar nächsten Jahres,
auf zwei Beinen stehen, nämlich der gesetzlichen Rente
also ab 1. Januar 2012, gibt es Abschläge bei der Rente
und der privaten Vorsorge.
für langjährig Versicherte ab dem Jahrgang 1949, und
zwar in Höhe von 0,9 Prozent, also circa 1 Prozent, Schon heute sind 30 Prozent der Riester-Sparer Ge-
wenn sie drei Monate früher in Rente gehen. Ist das rich- ringverdiener. 50 Prozent aller Riester-Sparer haben ein
tig, oder ist das falsch? Wenn es richtig ist, heißt das jährliches Einkommen von unter 20 000 Euro. Mit
dann nicht, dass die Rentenkürzung nicht erst ab 2029 5 Euro im Monat ist man mit dem kleinsten Einkommen
greift, was Sie eben zu vermitteln versuchten, sondern dabei. Es gibt 13 Euro Zuschuss vom Staat für einen Er-
eigentlich ab dem 1. Januar des Jahres 2012? Diese wachsenen.
Frage ist sehr konkret. Man braucht sie auch nicht mit
(Anette Kramme [SPD]: Was kassiert die Ver-
Hinweis auf England, Afrika oder Frankreich zu beant-
sicherung als Provision? Wie hoch ist die Ren-
worten. Man kann sie mit Ja oder Nein beantworten.
dite bei der Riester-Rente?)
Zu Ihrer Zuschussrente, Frau von der Leyen. Sie wis-
Es gibt 25 Euro Zuschuss für ein Kind. Deshalb wollen
sen genauso gut wie ich, dass diese Zuschussrente so gut
wir auf die Dauer die private Vorsorge als zweites Stand-
wie niemand erhält. Sie ist daran gebunden, dass jemand
bein ausbauen. Es muss sich aber zum Schluss für die
privat vorgesorgt hat. Jetzt wissen wir ganz genau, dass
Geringverdiener lohnen, damit sie ihre Riester-Rente,
insbesondere Geringverdiener kaum in der Lage sind,
ihre betriebliche Altersvorsorge oder eine andere Vor-
privat vorzusorgen, und das auch kaum tun. Übrigens
sorge tatsächlich als eigene Rente haben. Das ist der
sind geringverdienende Männer laut dieser Statistik ganz
Grundgedanke der Zuschussrente. Deshalb werden wir
besonders betroffen, weil sie erstens inzwischen tatsäch-
darum kämpfen.
lich eine geringere Lebenserwartung haben und weil ih-
nen zweitens kaum die Möglichkeit zur Vorsorge gege- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
ben ist. Das bedeutet aber, dass sie nicht in den Genuss derspruch bei der SPD – Klaus Ernst [DIE
der Zuschussrente kommen, weil sie nicht privat vorge- LINKE]: Sie verweigern eine Antwort!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17789
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werbsstatus. Ihre Aussage, Frau von der Leyen, es gehe (C)
Die Kollegin Elke Ferner hat jetzt das Wort für die nur um einen Monat, trifft nur auf die knapp 9 Prozent
SPD-Fraktion. zu, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Es
trifft aber nicht auf die übrigen 91 Prozent zu, um die es
(Beifall bei der SPD) hier geht.
Elke Ferner
(A) bestimmen, ob sie aus der Arbeit in die normale Rente laufen kommt, um Ihnen das Geld zur Verfügung zu stel- (C)
oder in eine vorgezogene Rente gehen. Die Situation, len. Denn das über Beiträge zu finanzieren, hielte ich in
dass die Menschen selber darüber entscheiden können, der Tat für ganz schwierig, weil das nichts mit der Bei-
haben wir leider immer noch nicht erreicht. tragsbezogenheit der Rente und mit Arbeitsleistung zu
tun hat.
Sie haben eben über niedrige Rentenanwartschaften
gesprochen. Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Zuschussrente, die Wer das Renteneintrittsalter erhöht, muss sich auch
mittlerweile außer Ihnen selbst überhaupt niemand mehr darüber Gedanken machen, wie Menschen in Beschäfti-
gut findet, lösen Sie das Problem nicht. Sie als Arbeits- gung bleiben können. Dazu gehört auch ein betriebliches
ministerin müssten sich eigentlich für Mindestlöhne Gesundheitsmanagement. Dazu gehört ebenfalls, denen
nicht nur einsetzen, sondern sie einführen. Das wäre Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben, die lange gear-
Aufgabe. beitet haben, die vielleicht 60 und älter sind und eine
körperliche Beeinträchtigung haben, die zwar, Gott sei
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Dank, noch nicht so schlimm ist, dass es zur Erwerbs-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE minderungsrente reicht, die aber dennoch so groß ist,
GRÜNEN) dass man seine alte Beschäftigung nicht mehr ausüben
Sie als Arbeitsministerin müssten sich dafür einsetzen, kann.
dass die Entgeltdiskriminierung von Frauen beseitigt Wir möchten gerne – Herr Kollege Ernst, Ihre Aus-
wird. Auch das ist ein Grund, warum gerade Frauen so sage eben, dass uns die restlichen 50 Prozent egal sind,
niedrige Renten haben; denn sie haben niedrige Löhne. ist falsch –, dass alle über 60-Jährigen gegenüber der
Sie müssten eigentlich Ihren Kollegen von den Koali- Bundesagentur für Arbeit einen Rechtsanspruch auf eine
tionsfraktionen auf die Finger klopfen, wenn diese ver- sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekommen,
einbaren, die Minijobgrenze von 400 Euro auf 450 Euro damit sie eben nicht in der Arbeitslosigkeit und dann in
zu erhöhen. Denn was bedeutet das? Weniger sozialver- der vorgezogenen abschlaggeminderten Rente landen,
sicherungspflichtige Beschäftigung, mehr Altersarmut. sondern damit sie aus der Erwerbsarbeit, also sozusagen
Das ist das Ergebnis einer solchen Politik. aus eigener Kraft, in Rente gehen können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN)
Das ist im Übrigen der Unterschied zwischen Ihnen und
Wenn Sie nur am Ende ansetzen, dann springen Sie zu uns: Sie sind grundsätzlich dagegen, während wir die
kurz. Die Brüche in den Erwerbsbiografien können wir Auffassung vertreten, dass man unter bestimmten Bedin-
(B) nicht ausschließlich über das Rentenrecht korrigieren. (D)
gungen durchaus eine Anhebung des Renteneintritts-
Natürlich muss man auch da korrigieren, aber aus- alters vertreten kann.
schließlich da zu korrigieren, funktioniert nicht. Ihre Zu-
schussrente ist eine Belohnung für diejenigen, die privat Wir sehen darüber hinaus Handlungsbedarf bei der
vorgesorgt haben. Aber all denjenigen, die wegen der Si- Erwerbsminderungsrente. Wir möchten gerne die Zu-
tuation auf dem Arbeitsmarkt in ihren Regionen, ob im rechnungszeiten in einem Schritt bis zum 62. Lebensjahr
Osten oder im Westen, oder wegen fehlender Kinderbe- anheben, und wir möchten gerne auch die rentenrechtli-
treuungsmöglichkeiten oder anderer Dinge keine voll- chen Abschläge auf die Erwerbsminderungsrenten ab-
ständige Erwerbsbiografie haben, helfen Sie nicht, und schaffen. Ich weiß nicht, wie Sie jemandem diese
denen wollen Sie auch gar nicht helfen. Sie wollen näm- Abschläge erklären können; ich konnte sie bisher nie-
lich nur denen helfen, die eine entsprechend große An- mandem erklären. Wer erwerbsgemindert ist, der geht
zahl von Jahren privater Vorsorge haben. Die anderen nicht freiwillig in Rente, weil er es sich nicht aussuchen
lassen Sie außen vor. Damit springen Sie zu kurz. kann, sondern er geht in Rente, weil er körperlich beein-
trächtigt ist und nicht mehr arbeiten kann. Angesichts
Wir schlagen vor, dass die Rente nach Mindestent- dessen halten wir an dieser Stelle Abschläge für nicht
geltpunkten so lange verlängert wird, bis wir einen flä- geboten; sie gehören vielmehr schlicht und ergreifend
chendeckenden Mindestlohn in diesem Land haben. Wir abgeschafft.
schlagen weiterhin vor, dass die Zeiten der Langzeitar-
beitslosigkeit höher bewertet werden, wenn insgesamt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
weniger als 30 Entgeltpunkte erworben worden sind. der LINKEN)
Das sind Nachteilsausgleiche, die wir für notwendig hal- Es ist an der Zeit, die Übergänge in die Rente so zu
ten, die wir dann aber auch über Steuern und nicht über flexibilisieren, dass sie den Bedürfnissen und den Wün-
Beiträge finanzieren wollen. schen der Beschäftigten mehr entgegenkommen, als es
(Beifall bei der SPD) heute der Fall ist. Wir wollen Menschen ab dem 60. Le-
bensjahr eine Teilrente ermöglichen, die mit einer Teil-
Frau von der Leyen, Sie haben eben gesagt, Sie zeitbeschäftigung einhergeht. Wir möchten, dass die Ab-
kämpften um Ihre Zuschussrente. Das heißt im Klartext: schläge ausgeglichen werden können. Vor allen Dingen
Sie haben sie noch lange nicht eingetütet. Ich bin einmal möchten wir sicherstellen, dass bei Inanspruchnahme ei-
gespannt, ob der Finanzminister, wenn im nächsten Jahr ner solchen Rente keine Altersarmut vorprogrammiert
an vielen anderen Stellen noch zusätzlicher Finanzie- ist. Wir möchten also, dass ein Schutz für die Beschäf-
rungsbedarf besteht, mit wehenden Röcken auf Sie zuge- tigten aufgebaut wird, damit Arbeitgeber sie nicht über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17791
Elke Ferner
(A) die Teilrente aus der Beschäftigung herausdrängen kön- den ist, der für viele in meiner Partei schmerzhaft gewe- (C)
nen. sen ist? Es ist zufällig ein SPD-Arbeitsminister gewesen,
der das umzusetzen hatte, was in der Koalitionsvereinba-
Letzter Punkt: Wer alles soll in die Rentenversiche- rung stand. Ich weise die Behauptung, dass das unsere
rung einzahlen müssen? Gerade weil die Erwerbsver- Erfindung gewesen ist, entschieden zurück. Im Gegen-
läufe so vielfältig geworden sind, müssen dem auch die teil: Es ist die Erfindung der Christlich Demokratischen
sozialen Sicherungssysteme gerecht werden. Deshalb Union und der Christlich-Sozialen Union gewesen.
wollen wir eine Erwerbstätigenversicherung in der ge-
setzlichen Rentenversicherung einführen. Einbezogen
werden sollen zunächst einmal die Soloselbstständigen, Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
die bekanntermaßen ebenfalls sehr stark von Altersarmut Frau Kollegin Ferner, ich glaube, mit dem, was Sie da
bedroht sind, damit sie nach einem langen Arbeitsleben gerade darzustellen versuchen, betreiben Sie jetzt ein
eine entsprechende Absicherung im Alter haben. bisschen Geschichtsklitterung.
Unterm Strich kann ich nur an Sie appellieren, liebe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kollegen und Kolleginnen von der Koalition: Schauen der CDU/CSU)
Sie sich die Zahlen einfach noch einmal an! Spielen Sie
Es heißt ja in der Bibel: An ihren Taten sollt ihr sie er-
nicht die drei chinesischen Affen – nichts sehen, nichts
kennen. – Nicht an ihren Wahlprogrammen, sondern an
hören und nichts sagen –, sondern ziehen Sie die Konse-
ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Sie können mich ja
quenzen aus den Zahlen, die Sie selber vorgelegt haben!
gerne korrigieren, aber nach allem, was ich weiß, ist vor
Schönen Dank. einer denkwürdigen Kabinettssitzung der SPD-Minister
Franz Müntefering, der unter dem starken Druck stand,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einen Rentenversicherungsbericht vorzulegen, zu dessen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wesentlichem Bestandteil eine Beitragsprojektion ge-
hört, an die Bundeskanzlerin herangetreten und hat sie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: um Zustimmung zur Einführung einer Rente mit 67 ge-
Der Kollege Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die beten,
FDP-Fraktion.
(Elke Ferner [SPD]: Im Koalitionsvertrag
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stand das drin!)
der CDU/CSU)
weil nur so, Frau Kollegin Ferner, die Beitragsziele zu
realisieren waren, die man sich vorgenommen hatte und
(B) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): die in diesem Rentenbericht ausgewiesen werden muss- (D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten.
Zunächst einmal – Frau Ferner, ich weiß, Sie mögen das
nicht –: Wir müssen hier die Verantwortungen klarstel- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So war es!)
len. Es war die SPD, die die Rente mit 67 in Deutschland So war es nach meiner Erinnerung.
wollte und eingeführt hat.
(Elke Ferner [SPD]: Sie waren nicht dabei!)
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht,
Herr Kolb!) – Ich war zwar nicht in der Kabinettssitzung dabei, aber
das ist damals alles sehr zeitnah und breit berichtet wor-
Da beißt die Maus keinen Faden ab.
den und von Franz Müntefering nie dementiert worden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich finde es einfach feige,
der CDU/CSU)
(Elke Ferner [SPD]: Der Koalitionsvertrag ist
Sie wollten die Rente mit 67. – Frau Ferner, Sie dürfen maßgeblich, Herr Kolb!)
sofort eine Zwischenfrage dazu stellen.
wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Wir sind
es nicht gewesen. Die CDU war es. – Nein, die SPD war
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: federführend dabei und war treibende Kraft bei diesem
Jetzt gleich? – Bitte, Frau Ferner. Projekt. Das muss man hier sehr deutlich sagen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Elke Ferner (SPD):
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Waren Sie dage-
Herr Kollege Kolb, würden Sie bitte zur Kenntnis gen, Herr Dr. Kolb?)
nehmen, dass in unserem Wahlprogramm 2005 aus-
drücklich gestanden hat, dass wir keine Rente mit 67 Wir haben damals übrigens dagegen gestimmt.
wollen,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum?)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Es geht nicht
ums Wahlprogramm, sondern ums Tun!) – Wir hatten unsere Gründe, dass wir dagegen gestimmt
haben. Aber wir haben uns natürlich auch die weitere
dass im Wahlprogramm der Union gestanden hat, dass Entwicklung angeschaut. Dazu will ich gerne noch et-
sie eine Anhebung der Regelaltersgrenze will und dass was sagen. Das kann ich wesentlich ausführlicher darle-
im Koalitionsvertrag ein Kompromiss geschlossen wor- gen, wenn Sie, Herr Ernst, eine Zwischenfrage stellen.
17792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Würde auf die Anhebung der Altersgrenzen gemäß weil natürlich die Beamten mit dazuzählen, auch die
dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verzich- Soldaten, die bis zu ihrem 65. Lebensjahr Dienst tun,
tet, fiele der Beitragssatz im Jahr 2030 um 0,5 Pro- (Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie Herrn
zentpunkte höher aus. Gleichzeitig wäre das Siche- Ackermann auch noch dazunehmen, oder
rungsniveau vor Steuern um 0,6 Prozentpunkte wie?)
geringer.
und andere, die in der Gruppe der Erwerbstätigen einge-
Hier müssten Sie als eine Partei, die zu Regierungszeiten schlossen, aber aus der Gruppe der sozialversicherungs-
entsprechende Maßnahmen ergriffen hat, jetzt, in Oppo- pflichtig Beschäftigten ausgeschlossen sind. Wenn Sie
sitionszeiten, doch eigentlich in ihrem Entschließungs- sagen, von allen, die 64 oder 65 Jahre alt sind,
antrag eine Antwort auf die Frage geben, wie das zu-
künftig aussehen soll, statt sich einen schlanken Fuß zu (Elke Ferner [SPD]: 60 bis 64!)
machen. müssen 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäf-
Sie sagen jetzt einfach: Wir schieben das in die Zu- tigt sein, dann legen Sie die Messlatte für die Gruppe der
kunft. – Demografisch ändert sich aber dadurch über- sozialversicherungspflichtig Beschäftigten so hoch, dass
haupt nichts. Die Probleme, die Franz Müntefering es nie zur Einführung der Rente mit 67 kommen könnte,
damals verantwortungsvoll lösen wollte, bestehen un-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
verändert fort. Sie wollen nun die Lösung wegnehmen,
sagen aber nicht, was an die Stelle dieser Lösung treten jedenfalls nicht in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Da
soll. Das finde ich einfach unverantwortlich. Auch eine muss ich Ihnen sagen: Hier handelt es sich um einen
Oppositionspartei hat ein Mindestmaß an Verantwortung Versuch der Irreführung und Täuschung. Sie machen
in diesem Haus wahrzunehmen. sich hier wirklich vom Acker.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Vom Acker machen sich
andere!)
Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch der Kollege
Ernst angesprochen hat. – Frau Kollegin Ferner, ich Das kann ich und das werden wir Ihnen nicht durchge-
wäre dankbar, wenn Sie mir Ihre ungeteilte Aufmerk- hen lassen. Sie stehen hier genauso in der Verantwor-
(B) samkeit schenken könnten. (D)
tung.
(Elke Ferner [SPD]: Herr Kolb, ich bin multi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
taskingfähig! Ich kann das!)
Jetzt zu den Linken; denn eigentlich diskutieren wir ja
– Das ist sehr schön. Gut. – Jetzt frage ich Sie: Welche über Ihre Große Anfrage und die Antworten. Herr Kol-
Entwicklung haben Sie denn damals eigentlich bei der lege Ernst und auch Herr Kollege Birkwald – der sitzt ja
Erwerbsteilhabe und der Quote der sozialversicherungs- nicht nur zufällig dort, sondern hat das Ganze wesentlich
pflichtig beschäftigten Älteren erwartet? Sie müssen mit ausgearbeitet –:
doch irgendeine Vorstellung gehabt haben. Ich könnte ja
verstehen, dass die SPD jetzt Bauchschmerzen be- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Er wird auch
kommt, wenn es in den letzten Jahren ganz furchtbar und gleich reden!)
katastrophal gelaufen wäre. Wir sind ja von den Linken einiges gewohnt. Aber dass
(Elke Ferner [SPD]: 9 Prozent ist doch Sie es diesmal derart unseriös angehen, das ist auf der
lächerlich gering!) nach unten offenen Birkwald-und-Ernst-Skala ein neuer
Tiefstand. Das muss man einmal klipp und klar sagen.
Nur: Die Zahlen sprechen doch eine vollkommen andere
Sprache, Frau Kollegin Ferner. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
chen bei der LINKEN – Abg. Klaus Ernst
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben offensichtlich [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischen-
Wahrnehmungsstörungen!) frage)
Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen hat sich – Herr Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen, Frau
von 2000 bis 2009 auf mehr als 40 Prozent verdoppelt. Präsidentin.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
die falsche Bezugsgröße! Es geht nicht um die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Erwerbstätigen, sondern um die sozialversi- Herr Ernst, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?
cherungspflichtig Beschäftigten!) Ich glaube, Herr Kolb freut sich sehr.
Es handelt sich übrigens, wie ich finde, um einen Fehler
in Ihrem Entschließungsantrag, dass Sie nur auf die Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ja, klar.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17793
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Er will noch schäftigten bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Nur darum (C)
tiefer!) ging es mir.
Was Ihre zweite Frage anbelangt, so ist es wie bei Be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ton: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, ob die
Bitte schön. Menschen in Arbeit sind oder nicht.
Klaus Ernst (DIE LINKE): (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn sie nicht in Ar-
Herr Dr. Kolb, nur wegen der Seriosität: Sie haben beit sind! Das ist die Voraussetzung!)
gerade versucht, darzustellen, dass die Bezugsgröße Aber auch dann geht Ihre Rechnung noch nicht auf; denn
falsch sei, wenn man die 60- bis 64-Jährigen nehme. Sie versuchen, eine Durchschnittsbetrachtung vorzuneh-
Stimmen Sie mir zu, dass Rentenansprüche ausschließ- men. Sie müssen aber immer die individuellen Verhält-
lich diejenigen stellen, die sozialversicherungspflichtig nisse berücksichtigen.
beschäftigt sind, die also in die Rentenkasse einbezahlt
haben? Ob und wie sich die Rente für einen Versicherten
lohnt oder nicht – das klingt in dem Zusammenhang ein
Tatsächlich müssen wir, wenn wir nach den Voraus- bisschen blöd –, hängt natürlich immer von der Gesamt-
setzungen zur Einführung der Rente mit 67 fragen, die rentenbezugsdauer im Anschluss an den Renteneintritt
Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ab. Um eine effektive, individuelle Rentenrendite be-
betrachten, stimmen zu können, müssten Sie fragen: Wie lange lebt
(Elke Ferner [SPD]: So ist es!) derjenige, der früher in Rente geht, hinterher tatsächlich?
weil die anderen überhaupt nicht rentenbezugsberechtigt (Zuruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE
sind. LINKE])
Wenn Sie von Unseriosität reden, dann würde ich Sie Von daher hinkt Ihr Vergleich, den Sie hier vortragen.
bitten, darauf zu achten, was Sie hier eigentlich sagen. Das kann ich nicht akzeptieren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Elke Ferner [SPD]: Sie drücken sich um die
neten der SPD) Antwort, Herr Kolb!)
Sonst kann man Sie überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Sie haben sich mit der Großen Anfrage Mühe gege-
Ich schließe eine zweite Frage an: Stimmen Sie mir ben, das will ich anerkennen.
(B) denn zu – weil Frau von der Leyen diese Frage nicht be- (Elke Ferner [SPD]: Das ist aber großzügig!) (D)
antwortet hat –, dass es tatsächlich so ist, dass langjährig
Versicherte, die jetzt, ab dem 1. Januar 2012, vor dem Sie enthält viele Fragen, die sind auch sehr detailliert
67. Lebensjahr in Rente gehen – wenn sie nicht arbeiten, formuliert. Was aber inakzeptabel ist, ist die äußerst ei-
weil sie keine Beschäftigung haben –, pro Monat genwillige Interpretation der Ergebnisse.
0,3 Prozent Abschläge hinnehmen müssen und damit bis (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Bewusste
einschließlich März nächsten Jahres schon fast 1 Prozent Fehlinterpretation!)
weniger Rente bekommen?
Herr Ernst, Sie hatten jetzt zweimal die Gelegenheit
Ich bitte Sie, diese Frage nicht so kompliziert zu be-
dazu: Sie müssen mir wirklich belegen, wo in der Studie
antworten, wie es Frau von der Leyen versucht hat. Die
steht, dass die Lebenserwartung von Geringverdienern
kann man nämlich wirklich mit Ja oder Nein beantwor-
sinken würde. Herr Kollege Birkwald, ich halte es für
ten.
unglaublich und ein Stück weit für unverschämt – an-
(Beifall bei der LINKEN) sonsten schätze ich Sie sehr –, wenn Sie hier den Ein-
druck erwecken, die Bundesregierung und die sie tra-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gende Koalition sei an einem sozialverträglichen
Ihr erster Punkt war die Frage nach der sozialversi- Frühableben interessiert. Das ist nicht Bestandteil unse-
cherungspflichtigen Beschäftigung. Es ist klar: Nur wer rer Rentenpolitik,
Beiträge gezahlt hat, kann hinterher Rente beantragen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
(Elke Ferner [SPD]: Na immerhin!) die Realität! – Gegenruf des Abg. Karl
Schiewerling [CDU/CSU]: Quatsch!
Das ist ein wesentlicher Aspekt. Birkwald, du weißt es doch besser!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! sondern wir wollen, dass die Menschen möglichst lange
Hört!) ihre Rente genießen können und das auf einem mög-
Das war aber nicht mein Punkt, auf den ich Frau lichst guten Niveau.
Ferner hingewiesen habe. Ich habe nur gesagt: Auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wenn sie auf die Gesamtheit der 60- bis 64-Jährigen eine
50-prozentige Sozialversicherungsquote anlegt, meint Dazu ist aber entscheidend, dass sie Arbeit haben und
sie in Wirklichkeit noch deutlich mehr. Dann müssten eine möglichst ungebrochene Erwerbsbiografie vorwei-
nämlich 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Be- sen können.
17794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
So wird ein Schuh daraus, und auf der Basis können wir (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vielleicht in den weiteren Beratungen vorankommen. NEN]: Schau an!)
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Die Erhöhung des Rentenniveaus bewirkt übrigens
auch eine Erhöhung der Rente für alle, die bereits in
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Rente sind. Von wegen allgemeine Rentenkürzung! Es
Ferner [SPD]: Bei Ihnen werden die Klamot- profitieren alle Bestandsrentnerinnen und -rentner. Sie
ten hingeschmissen, wenn man keine Verant- profitieren zunächst nur ganz wenig, weil die Kurve erst
wortung mehr tragen will!) sachte ansteigt, dann aber immer weiter nach oben
geht. – Der Kollege Troost nickt, stimmt mir also zu.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr schön!
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das Es profitieren auch alle, die länger arbeiten können.
Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Im nächsten Jahr ist das nur ein Monat. Das dürfte vie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17795
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) len, die erwerbstätig sind, auch möglich sein. Selbst bei Niemand soll gezwungen sein, bis 67 zu arbeiten; es soll (C)
den Arbeitslosen, Herr Ernst, muss genau hingeschaut aber auch niemand gezwungen sein, mit 67 aufzuhören.
werden; denn auch wer Arbeitslosengeld I bezieht, be- Wer nicht mehr kann und will, soll nach unserer Vorstel-
kommt im Regelfall eine höhere Rente. Beim Arbeitslo- lung ab 60 in Rente gehen können; wer kann, soll aber
sengeld II ist das schon nicht mehr ganz eindeutig, weil auch länger arbeiten dürfen.
die Rentenhöhe hier von der Gesamtleistungsbewertung
abhängt. (Elke Ferner [SPD]: Länger arbeiten darf man
heute schon!)
Eine Rentenkürzung erhalten allerdings – da haben
Sie recht – auch schon im nächsten Jahr diejenigen Ar- Es ist viel besser, die Barrieren für Gesunde, die länger
beitslosen, die von den Jobcentern frühzeitig in Rente arbeiten wollen, abzubauen, als die Schwachen zu zwin-
geschickt werden. Besonders problematisch finde ich gen, länger zu arbeiten.
das im Hinblick auf Erwerbsgeminderte und Schwerbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hinderte, weil die Altersgrenze, ab der diese ohne Ab-
schlag in Rente gehen dürfen, im nächsten Jahr ebenfalls Wer erwerbsgemindert oder schwerbehindert ist, muss
um einen Monat ansteigt. Das ist aus unserer Sicht ein auch weiterhin ab 63 ohne Abschläge in Rente gehen
schwerer Fehler, der dringend korrigiert werden muss. können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zusammenfassend sage ich: Im Durchschnitt ist die Wir brauchen eine Teilrente ab 60. Wir brauchen eine
Rente mit 67 eine Verbesserung. Deshalb sind wir Kultur der Altersteilzeit in den Betrieben, aber auch in
grundsätzlich für die Rente mit 67: Der Kuchen für die den Köpfen der Beschäftigten, insbesondere der Männer.
Rentnerinnen und Rentner wird größer. Die Rente mit 67 Wir brauchen mehr Arbeitszeitsouveränität, nicht nur,
bedeutet aber ausgerechnet für die Schwächsten – für aber vor allem im Alter: Wir brauchen nicht nur altersge-
Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte, Erwerbsgemin- rechte Arbeitsplätze, sondern auch altersgerechte Ar-
derte und andere, die frühzeitig in Rente müssen – eine beitszeiten.
Rentenkürzung; auch das ist richtig. Die Rente mit 67 Zweitens. Wir müssen das Arbeitsleben insgesamt so
führt dazu, dass die Einkommensschere im Alter weiter verändern, dass die Menschen bis 67 arbeiten können.
auseinandergeht; auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Das heißt: weniger psychische Belastungen, mehr Ar-
Unsere Schlussfolgerung ist, anders als bei den Linken beitsschutz, mehr Gesundheitsprävention am Arbeits-
und in Teilen der SPD, aber nicht: Weg damit! Unser Be- platz, mehr Weiterbildung, eine bessere Work-Life-Ba-
streben ist es, dass möglichst alle von dem größeren Ku- lance. Die Rente mit 67 bietet da aus unserer Sicht eher
(B) chen profitieren. Hier müssen wir ansetzen, und da gibt (D)
eine Chance, weil sie den Lebensverlauf etwas entzerrt
es noch viel zu tun. und weniger Druck in der Rushhour des Lebens verur-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sacht.
Wir halten es für ein wichtiges Signal an die Gesell- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was soll das denn
schaft, dass die Rente mit 67 kommen wird; denn 2031 sein: „den Lebensverlauf entzerren“?)
– nicht 2029, Frau Ministerin; das Rechnen fällt der Drittens. Last, not least brauchen wir ein Mindestni-
Bundesregierung sowieso schwer – brauchen wir sie. veau in der Rente. Wir wollen, dass die Menschen im
Eine Abschaffung oder Aussetzung hilft nicht weiter. Regelfall eine Rente erhalten, die zum Leben ausreicht,
Wir müssen jetzt an die Probleme heran und insbeson- und fordern deswegen die Grüne Garantierente: Wer
dere an die Unternehmen ein Signal senden, damit sie mehr als 30 Versicherungsjahre aufweist, muss sich da-
endlich mehr Arbeitsplätze für Ältere schaffen. rauf verlassen können, dass die Rente über dem Grundsi-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cherungsniveau liegt. Die Zuschussrente von Frau von
der Leyen soll aber erst nach 45 Versicherungsjahren
Ich möchte drei Bereiche ansprechen, in denen drin- und zusätzlich 35 Jahren privater Altersvorsorge gezahlt
gend gehandelt werden muss: werden.
Erstens. Wir brauchen flexible Übergänge in den Ru- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hestand. Eigentlich ist die Bezeichnung „Rente mit 67“ NEN]: Wer schafft das denn?)
Quatsch: Kein Mensch will exakt mit 67 in den Ruhe-
stand. Es ist unserem Rentenberechnungssystem ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Schutz vor
schuldet, dass wir eine Regelaltersgrenze brauchen. Als Armut, sondern Armutsbekämpfung für Auserwählte.
Partei der Freiheit ist es aber unser Ziel, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Anette Kramme [SPD]: Das sind harte NEN]: Es ist ein Placebo!)
Worte!) Aber es ist noch schlimmer: Erst werden 45 Versiche-
dass jeder und jede freier und selbstbestimmter entschei- rungsjahre in der Rentenversicherung und 35 Jahre Ei-
den kann, wann er oder sie in Rente gehen will, in wel- genvorsorge verlangt; danach wird die Eigenvorsorge
chem Umfang er oder sie noch arbeiten will. gegebenenfalls komplett wieder abgezogen: Alle, die die
Zuschussrente kriegen, erhalten 850 Euro. Das ist völlig
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) absurd.
17796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was nutzt das den Davor kann ich die Augen doch nicht verschließen.
Menschen, die mit 64 keinen Job haben?) Auch die Wirtschaft weiß dies. Deswegen muss sich die
Wirtschaft in diesem Bereich anstrengen, und sie wird
Die Menschen werden älter, sie können immer länger in sich anstrengen; denn es ist, wie Konrad Adenauer ge-
den Betrieben arbeiten. Das ist auch ein Teil der Wahr- sagt hat: Sie müssen die Menschen nehmen, wie sie sind,
heit. Wir werden die Rente mit 67 in ihrer vollen Entfal- es gibt keine anderen. – Das ist die Realität, mit der wir
tung erst im Jahre 2029 – je nach Rentenanrechnungszeit umgehen müssen.
2031, das will ich gerne konzedieren – erreicht haben.
Das müssen wir auch in den Blick nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Schaumschläger!) Dann sollen sie unbefristet einstellen! Dann
Wir haben ferner beschlossen, die richtigen Rahmen- kriegen sie auch Leute!)
bedingungen zu schaffen. So ist das Programm „50 plus“ Lassen Sie mich wagen, wenigstens noch einen Satz
aufgelegt worden. Es gab zahlreiche Initiativen, um zum Rentendialog zu sagen, zu dem immerhin der Präsi-
Menschen weiterhin in Beschäftigung zu halten oder in dent der Deutschen Rentenversicherung, Herbert Rische,
Beschäftigung zu bringen, und das ist gelungen. Es gibt auf der letzten Bundesvertreterversammlung gesagt hat,
viele Dinge, die sich gut entwickeln. Die Bundesregie- dass diese Form des Rentendialogs allen Respekt hervor-
rung und die Koalitionsfraktionen verschließen die Au- zurufen hat; denn hier würden die Menschen auf breiter
gen nicht davor, dass es auch Probleme gibt. Das wäre ja Basis einbezogen. Ich glaube, dass die von der Minis-
Schönfärberei. Es ist doch nicht so, dass wir nicht mitbe- terin auf den Weg gebrachte Zuschussrente Teil dieses
kommen, dass es Berufsfelder gibt, die große Probleme Dialoges ist.
hätten, wenn das Renteneintrittsalter heute vollumfäng-
lich bei 67 Jahren liegen würde. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber keine Pro-
blemlösung!)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 90 Prozent haben
mit 64 keinen Job! Das ist die Realität!) Ich mache aber überhaupt keinen Hehl daraus, dass wir
(B)
In diesen Berufsfeldern geht es darum, sich umzustellen. hinter dem Anliegen der Bundesarbeitsministerin stehen, (D)
Deswegen sind wir mit der Wirtschaft aufgefordert dass gerade diejenigen unterstützt werden sollen, die in
– diese Forderung ist wichtig –, zum Beispiel im Bereich ihrem Leben getan haben, was sie konnten, die Kinder
der körperlich sehr anstrengenden Pflege und im Bereich erzogen und ihre alten Angehörigen gepflegt haben und
der körperlich sehr anstrengenden handwerklichen Be- deswegen keine auskömmliche Rente haben, das heißt,
rufe alles zu tun, damit die Menschen länger arbeiten keine Rente, die über dem Grundsicherungsniveau liegt.
können; denn auch die Wirtschaft ist darauf angewiesen, Sie sollen entsprechend der Lebensleistung, die sie er-
dass die Menschen länger arbeiten. bracht haben, unterstützt und gefördert werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die private Ren-
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das hätte man viel- tenversicherung unterstützen! Das ist die
leicht vorher machen sollen und nicht Wahrheit! Lobbyist für die privaten Renten-
nachher! – Elke Ferner [SPD]: Was machen versicherungen!)
Sie denn?) Daran lasse ich keinen Zweifel. Es ist wichtig, dass auch
Wir diskutieren über Fachkräftemangel, diese Menschen in Zukunft von der Rentenversicherung
eine Rente erhalten. Die Rentenversicherung muss für
(Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie einmal auf den Teil, der steuerfinanziert ist, vonseiten des Bundes
die Regierungsbank! Da können Sie den Fach- die notwendigen Mittel erhalten, um diese Renten aus-
kräftemangel besichtigen!) zahlen zu können.
und wir diskutieren darüber, dass immer weniger Kinder (Beifall bei der CDU/CSU)
geboren werden. Aber es darf sich nichts ändern, und es
kann sich nichts ändern? In welcher Welt leben Sie denn
eigentlich? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, ist Ihnen bewusst, dass die Zeit mehr
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als abgelaufen ist?
Die Betriebe sind auf ihre Fachkräfte angewiesen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nur die Redezeit!)
Der Vertreter eines großen Industriebetriebes mit
25 000 Beschäftigten hat mir vor kurzem dargelegt, dass
2019 in seinem Betrieb über die Hälfte der Belegschaft Karl Schiewerling (CDU/CSU):
50 Jahre und älter sein wird, weil sie die Jüngeren nicht Ich sehe, dass Sie mich freundlich anblinken.
17798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Karl Schiewerling
(A) Wenn in dieser Diskussion eine Botschaft rüberkom- falsch, sondern sogar für eine Unglaublichkeit. Das sage (C)
men muss – danach höre ich auf –, dann ist es diese: Wir ich Ihnen ganz deutlich, Frau Ministerin.
haben allen Grund, auf diese Rentenversicherung stolz
zu sein. Sie hält unsere Gesellschaft zusammen. Sie for- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dert unsere Generationen aber auch heraus, und wir ha- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ben alles zu tun, was notwendig ist, damit sie ihre Leis- Schauen wir uns die Zuschussrente doch einmal an:
tungsfähigkeit behält. Dazu gehört auch die Rente mit 67. 45 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sätzlich 35 Jahre privat vorgesorgt – und dann kommt
Tante Ursula und sagt: Weil du so fleißig warst und mit
deiner Rente nicht auskommst, lege ich ein bisschen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: was, sozusagen ein Almosen, obendrauf. – Ich sage: Wer
Unser Kollege Anton Schaaf hat das Wort für die 45 Jahre lang geklebt und selbst ein bisschen vorgesorgt
SPD-Fraktion. hat – das war zumindest immer unser Anspruch –, muss
(Beifall bei der SPD) von sich aus eine vernünftige, auskömmliche Rente ha-
ben und darf keine Zuschussrente brauchen.
Anton Schaaf (SPD): (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Karl Schiewerling, ich schätze dich ja sehr, aber, um ehr- GRÜNEN)
lich zu sein, so viel Unfug, wie du jetzt gerade in Bezug
Wo ist denn Ihr Beitrag, Frau von der Leyen, die ge-
auf die Zuschussrente und ihre Wirkung erzählt hast,
habe ich selten von dir gehört. setzliche Rentenversicherung zu stabilisieren und zu-
kunftsfest zu machen? Genau das ist die Frage, die Sie
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate überhaupt nicht beantworten. Sie stellen sich mit viel Pa-
Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- thos hier hin und reden über diejenigen, die es verdient
NEN]) haben, die zu Hause Kinder erzogen und die Eltern ge-
pflegt haben. Natürlich haben die es verdient, aber mit
Wir überprüfen das einmal.
Armutsbekämpfung hat das nichts zu tun.
Frau von der Leyen, was mich wirklich umtreibt, ist
Ich erinnere nur an den Koalitionsvertrag, Karl
das, was in dieser Woche geschehen ist – Sie müssen
Schiewerling, und zwar an euren, nicht an unseren. Da-
entschuldigen, dass ich nicht sofort auf die Rente mit 67
rin haben die Alterssicherung und die Bekämpfung der
eingehe, aber das, was in dieser Woche geschehen ist, ist
Altersarmut Priorität. Irgendjemand muss einmal versu-
(B) wirklich einmalig –: Die Art und Weise, wie Sie den Prä- chen, mir zu erklären, wie diese Zuschussrente tatsäch- (D)
sidenten der Deutschen Rentenversicherung abgemeiert
lich Altersarmut bekämpft.
haben, weil er sich fachlich und sachlich zu Ihrem Vor-
schlag geäußert hat, ist unglaublich. Das ist ein unglaub- Eigentlich ist es ziemlich zynisch, zu sagen: Wenn die
licher Vorgang. ein Leben lang gering verdient haben, dann helfe ich ih-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen am Ende, wenn sie in Rente gehen, mit einem Almo-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE sen, damit sie über dem Sozialhilfeniveau sind.
GRÜNEN) (Frank Heinrich [CDU/CSU]: Und jetzt zum
Sie haben vor dem Hintergrund Ihres Modells der Zu- Thema!)
schussrente Dr. Rische allen Ernstes vorgeworfen, er Tun Sie lieber etwas gegen die Geringverdienerei! Tun
würde sozusagen mit einem Schulterzucken hinnehmen, Sie etwas gegen prekäre Beschäftigung in diesem Land!
dass die Geringverdiener altersarm werden. Das haben
Sie ihm vorgeworfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ihre Zuschussrente erreicht die Leute, die Geringver- GRÜNEN)
diener, von denen Sie reden, jedoch überhaupt nicht.
Sorgen Sie endlich dafür, dass die Menschen einen Min-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten destlohn haben und sich ordentliche Ansprüche erarbei-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten können! Aber an dieser Stelle machen Sie überhaupt
Die Voraussetzungen sind nämlich so hoch, dass fast nichts.
niemand sie in Anspruch nehmen kann. Ich höre jetzt Der Eingliederungstitel ist schon erwähnt worden.
aus Ihrem Hause, dass Sie vielleicht noch die Anerken- Insbesondere Menschen, die Handicaps und Schwächen
nung der Erziehungs- und Pflegezeiten herausnehmen haben und deshalb nicht in den ersten Arbeitsmarkt
wollen, damit die Zuschussrente mit dem Rentenver- kommen, in einer konjunkturell guten Lage noch Gelder
sicherungssystem überhaupt noch irgendwie kompatibel wegzunehmen, statt sie noch mehr an die Hand zu neh-
ist. Aber wenn Sie das machen, erreichen Sie noch weni- men und ihnen die Chance zu bieten, am Arbeitsmarkt
ger Menschen. Das, was Sie da betreiben, ist keine ak- teilzuhaben, ist zynisch, Frau von der Leyen.
tive Bekämpfung der Altersarmut.
Zum Kollegen Kolb:
Wie Sie sich gegenüber Dr. Rische verhalten haben,
halte ich für in dem Fall nicht nur sachlich und fachlich (Pascal Kober [FDP]: Guter Mann!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17799
Anton Schaaf
(A) Herr Kolb, die Idee, dass man alle verpflichtet, sich zu Renteneintrittsalters verschoben werden. Das betrifft (C)
versichern und für das Alter vorzusorgen, ist prinzipiell übrigens auch gleitende Übergänge und Ähnliches.
nicht verkehrt. Aber wer vor dem Hintergrund dessen, Klaus Ernst, das ist nicht nur die Frage eines Prozentsat-
was sich an den Finanzmärkten getan hat – wir wissen, zes, sondern auch andere Bedingungen müssen schlicht-
dass beispielsweise in den Vereinigten Staaten Hundert- weg stimmen.
tausende, die sich für das Alter nur privat absichern
konnten, jetzt arm und pleite sind und sich Almosen vom Eine Bedingung kenne ich aus meiner Praxis. Ich
Staat holen müssen –, sagt: „Es ist egal, wo sie sich ver- habe bei der Müllabfuhr gearbeitet. Die Arbeit dort ist
sichern. Aber wir wollen auf keinen Fall, dass sie sich in ziemlich hart; die Menschen arbeiten bei Wind und Wet-
der gesetzlichen Rentenversicherung versichern“, ter. Als Betriebsrat habe ich immer gesagt: Schwere Ar-
beit muss besser bezahlt werden. Irgendwann waren
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich diese Menschen kaputt und konnten nicht mehr arbeiten.
nicht gesagt!) Daraufhin hat derselbe Betriebsrat, der diese schwere
Arbeit zugelassen hat, gesagt: Der Sozialstaat muss sich
der handelt entweder ziemlich fahrlässig, oder er igno-
jetzt um sie kümmern. Vielleicht hätten wir einmal da-
riert die Wirklichkeit.
rüber diskutieren sollen, wie wir die Menschen, die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schwer arbeiten, zum Beispiel auch in der Rente ver-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE nünftig absichern. Vielleicht hätten wir darüber diskutie-
GRÜNEN – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] ren sollen, wie wir gute Arbeit schaffen, damit die
meldet sich zu einer Zwischenfrage) Menschen möglichst lange, bis nah an das Rentenein-
trittsalter, arbeiten können. Alle diese Probleme wollen
– Ich lasse Ihre Zwischenfrage nicht zu, Herr Kolb.
wir jetzt sozusagen über die Rentenversicherung lösen.
(Otto Fricke [FDP]: Erst angehen und dann Auf dem Arbeitsmarkt, in den Betrieben, überall haben
nicht reden lassen!) wir Probleme geschaffen, die wir nun über die Renten-
versicherung lösen wollen. An dieser Stelle können wir
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Versicherungspflicht.
einfach nicht mitmachen; wir müssen dies ändern.
Aber Sie wollen keine Verpflichtung dafür, sich in der
gesetzlichen Rentenversicherung versichern zu lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Genau da sind wir anderer Meinung. Wir sind nämlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Meinung, dass alle die, die in irgendeiner Form er-
werbstätig sind, gefälligst in die Rentenversicherung Ich empfinde es nicht als dramatisch, dass man später
einbezahlen sollten, in Rente gehen soll, aber für diejenigen, die nicht mehr
arbeiten können, müssen wir vernünftige Übergänge
(B) (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- schaffen. (D)
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Elke
Ferner [SPD]: Genau!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
weil das nämlich der beste Schutz vor Altersarmut ist,
den wir in unserem System haben. Elke Ferner hat völlig recht, wenn sie sagt, dass die Ab-
schlagsregelung bei der Erwerbsminderungsrente abge-
(Beifall bei der SPD) schafft werden muss. Die Menschen können nichts da-
Herr Strengmann-Kuhn, viele Ihrer Argumente teile für, dass sie nicht mehr arbeiten können. Man darf sie
ich; das ist überhaupt nicht die Frage. Ich bin auch nicht nicht zusätzlich zu ihrem gesundheitlichen Handicap be-
grundsätzlich gegen ein höheres Renteneintrittsalter; da- lasten, indem man ihnen die Rente kürzt. Die Abschaf-
rum geht es nicht. Aber Sie haben es doch selbst gesagt: fung dieser Regelung ist eine Voraussetzung dafür, dass
Wenn wir ab dem 1. Januar ein höheres Renteneintritts- man ein höheres Renteneintrittsalter einführt.
alter haben, dann sind auf jeden Fall zumindest diejeni- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gen gestraft, die nicht entscheiden können, ob sie in der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Rente gehen oder nicht, sondern die in Rente gehen müs- GRÜNEN)
sen, die quasi zwangsverrentet werden müssen, weil sie
nach dem SGB II Renten beantragen müssen. Dazu sa- Elke Ferner hat unseren Antrag ausführlich darge-
gen Sozialdemokraten: Das machen wir nicht mit! stellt. Wir werden bei dem Antrag der Linken mit Nein
stimmen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass es
(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ keine Frage der Finanzierbarkeit ist; 0,5 Beitragssatz-
CSU]: Das hat doch ein Sozialdemokrat punkte sind finanzierbar, auf die lange Strecke bis 2029
durchgesetzt!) allemal. Eines ist klar: Wenn wir die Erhöhung des Ren-
Deswegen sind wir der Meinung: Wir verschieben die teneintrittsalters jetzt verschieben würden, Herr Kolb,
Einführung des höheren Renteneintrittsalters und regeln dann hätte man sozusagen nur Vorfinanzierungskosten;
erst einmal diese Sachverhalte. denn irgendwann wird das Renteneintrittsalter erhöht.
Das würde also finanziell nichts ausmachen.
Ich will einfach nicht hinnehmen, dass Menschen, die
dies nicht beeinflussen können, ab dem nächsten Jahr Mich treibt eher die Frage der Leistungsfähigkeit der
dauerhaft höhere Rentenabschläge hinnehmen müssen. Gesellschaft um. Wir werden weniger Arbeitsfähige in
Sozialdemokraten sagen: Zumindest bis wir solche Sa- der Gesellschaft haben, wir werden unseren Wohlstand,
chen geregelt haben, muss die Einführung eines höheren der verteilt werden soll, aber nach wie vor erarbeiten
17800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Anton Schaaf
(A) müssen. Dies können wir mit kürzeren Lebensarbeitszei- (Elke Ferner [SPD]: Sie folgen den Sachver- (C)
ten nicht schaffen. Wir müssen die Gesellschaft leistungs- ständigenräten auch nicht immer! Wie war das
fähig halten. Darum geht es mir. Wenn man die Gesell- mit den Euro-Bonds?)
schaft leistungsfähig halten möchte, kommt es in erster
Im Übrigen warne ich vor der Idee, jetzt eine Er-
Linie darauf an, dass man für Arbeitnehmerinnen und Ar-
werbstätigenversicherung oder was auch immer einzu-
beitnehmer gute Bedingungen schafft, damit sie Leistung
führen, um auf diese Weise neue Beitragszahler in die
erbringen können.
gesetzliche Rentenversicherung zu holen. Das führt na-
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. türlich zunächst dazu, dass viele zusätzliche Beitragsein-
nahmen generiert werden. Aber auf lange Sicht entste-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen dadurch auch Verpflichtungen für die gesetzliche
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Rentenversicherung. Es spricht einiges dafür, dass die
Ernst [DIE LINKE]: Das geht nur, wenn die Probleme 2030, 2035 kulminieren werden, weil sie dann
64-Jährigen einen Job haben!) demografisch bedingt besonders gravierend sein werden.
Deswegen ist Ihr Vorschlag, die Erwerbstätigenversiche-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rung, keine Lösung des Problems. Eine Pflicht zur Versi-
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den cherung zu installieren, wäre aber, glaube ich, sehr ziel-
Kollegen Kolb. führend.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herr Kollege Schaaf, Sie haben meine Zwischenfrage
der CDU/CSU)
bedauerlicherweise nicht zugelassen. Deswegen muss
ich diese Kurzintervention nutzen, um eine falsche Wie-
dergabe unseres Konzepts für die Altersvorsorge der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Selbstständigen zu korrigieren. Sie haben gesagt, wir Herr Schaaf zur Antwort, bitte.
wollten auf keinen Fall zulassen, dass Selbstständige in
die Rentenversicherung kommen. – Das ist so nicht rich- Anton Schaaf (SPD):
tig. Sehen Sie, Herr Kolb: Mich treibt um, dass es mittler-
(Elke Ferner [SPD]: Die Guten ins Töpfchen, weile eindeutige Zahlen gibt, wie hoch die Rendite der
die Schlechten ins Kröpfchen!) Riester-Rente ist.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben die gelten-
(B) Unser Konzept sieht vor, dass es keine Pflichtversiche- den Rahmenbedingungen geschaffen!) (D)
rung in der gesetzlichen Rentenversicherung flächende-
ckend für jeden geben soll. – Ja. Aber man muss auch dazulernen dürfen und zur
(Elke Ferner [SPD]: Wer sich nicht ausrei- Kenntnis nehmen: Die Rendite der Riester-Rente ist im
chend versichern kann, muss dann in die Ge- Moment der staatliche Zuschuss und sonst gar nichts. An
setzliche!) zusätzlicher Rendite kommt für die Menschen, die in
eine Riester-Rente investieren, nicht viel heraus. Die
Vielmehr wollen wir, dass es eine Pflicht zur Versiche- Menschen, die privat vorgesorgt haben, haben in den
rung gibt. Selbstverständlich müssen auch Selbststän- letzten Monaten und Jahren höllische Angst gehabt, dass
dige angehalten werden, in jedem Jahr ihrer Selbststän- ihre Altersvorsorge flöten geht, weil die Finanzmärkte
digkeit in einem ausreichenden Umfang vorzusorgen. zusammengebrochen sind.
Ausreichender Umfang heißt, dass man so viel anspart,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann hat die
dass es am Ende des Erwerbslebens zum armutsfreien
SPD wohl etwas falsch gemacht!)
Leben im Alter reicht. Das ist unser Konzept.
In Amerika, wo das System der Altersvorsorge fast
Wir trauen den Menschen zu, selbst zu entscheiden,
ausschließlich privat organisiert ist, sind Hunderttau-
wo sie sich versichern wollen. Jemand kann auch sagen:
sende von Menschen aufgrund der Finanzkrise alters-
Ich zahle freiwillig Beiträge in die gesetzliche Renten-
arm. In so einer Zeit zu sagen: „Die Menschen sollen
versicherung. Ich persönlich tue das übrigens auch, weil
selbst überlegen, was sie machen, und sich irgendwie
ich die gesetzliche Rentenversicherung als eine wichtige
privat absichern“, halte ich für fahrlässig. Das ist der
Säule jeder persönlichen Altersvorsorge ansehe. Men-
Punkt.
schen, die selbstständig sind, die ein eigenes Unterneh-
men führen können, sind auch in der Lage, eine solche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Entscheidung zu treffen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Übrigens lehnt auch der Sachverständigenrat der Das System, das den Menschen in der Vergangenheit
Bundesregierung in seinem aktuellen Gutachten eine am meisten Sicherheit geboten hat und bei dem sich je-
Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversiche- der sicher sein konnte, dass es funktioniert, war das Ren-
rung erneut ab. Er hat dies bereits in 2006 getan – das tenversicherungssystem – paritätisch und solidarisch. An
war zu Ihrer Regierungszeit – und bekräftigt nun diese dieser Stelle wird es spannend. Sie haben nämlich ein
Ablehnung. Unsere Ablehnung hat also durchaus kun- Problem mit dem Wort „solidarisch“. Sie glauben, jedem
dige Fürsprecher. ist geholfen, wenn er sich selber hilft. Wir glauben, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17801
Anton Schaaf
(A) eine große, starke Gemeinschaft wie die Rentenversiche- chen. Ich glaube nicht, dass wir das Rad rückwärts dre- (C)
rung, die auf Parität und Umlageverfahren beruht, den hen müssen. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass der
Menschen auch in Zukunft viel mehr Sicherheit bietet. unabweisbare Trend, dass immer mehr ältere Menschen
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, anhalten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und sich in Zukunft weiter verstärken wird. Wir müssen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto
die Menschen und die Betriebe dabei unterstützen, sich
Fricke [FDP]: Aber nur ein Drittel ist Steuer-
darauf einzustellen, dass in Zukunft mehr ältere Men-
zuschuss!)
schen arbeiten wollen. Deshalb ist es gut, dass die Bun-
desregierung – die Bundesarbeitsministerin Ursula von
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Leyen vorneweg – Initiativen wie beispielsweise das
Der Kollege Pascal Kober hat das Wort für die FDP- Demografie-Netzwerk unterstützt. In diesem Rahmen
Fraktion. haben sich über 220 Unternehmen zusammengeschlos-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen, um Wissenstransfer zu leisten und Tipps, wie Men-
der CDU/CSU) schen bei guter Gesundheit längere Zeit in einem Betrieb
arbeiten können, auszutauschen.
Pascal Kober (FDP): Was wir jetzt brauchen, sind neue Konzepte, bei-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spielsweise eine innovativere Berufsbildungspolitik, mit
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich der es in Zukunft vielleicht möglich sein kann, auch in
glaube, Sie unterschätzen die Menschen. einem höheren Alter noch einmal einen neuen Beruf zu
lernen, damit, wenn es in dem einen Beruf nicht mehr
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weitergeht, in einem neuen Beruf eine Erwerbstätigkeit
NEN]: Ich glaube, Sie überschätzen sich bis ins hohe Alter möglich ist.
selbst!)
Lieber Herr Ernst, ich glaube, Sie sollten den Men-
Ich denke, die Menschen wissen sehr genau, dass uns die schen lieber Mut statt Angst machen. Sie sollten in die
zu erwartende demografische Entwicklung, die unab- Zukunft schauen, statt rückwärtsgewandte Politik zu be-
wendbar ist, zum Handeln zwingt. Lieber Herr Ernst, ich treiben. Lieber Herr Ernst, wenn Sie das machen, dann
möchte Ihnen das an zwei Zahlen deutlich machen. werden Sie meine Unterstützung haben.
Im Jahr 2009, also vor zwei Jahren, sind ganz genau
Vielen Dank.
651 000 Kinder geboren worden. Wir wissen, dass rück-
wirkend kein einziges hinzugefügt werden kann. Wenn (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) die Rente mit 67 im Jahr 2029 vollumfänglich zur Gel- (D)
tung kommt, werden diese Kinder 20 Jahre alt sein, ihre Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Berufsausbildung abgeschlossen oder gerade ein Stu- Matthias Birkwald hat jetzt das Wort für die Fraktion
dium begonnen haben. In diesem Jahr, 2029, werden Die Linke.
1,35 Millionen Menschen in den Ruhestand gehen. Al-
lein dieses Zahlenverhältnis zeigt, dass wir handeln müs- (Beifall bei der LINKEN)
sen.
Ich kann Ihnen das auch an einer anderen Zahl deut- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
lich machen. Im Jahr 1970 waren es fünf Beitragszahler, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
die eine Rente finanziert haben, im Jahr 2000 nur noch Meine Damen und Herren! Als Erstes möchte ich einmal
drei. Wenn sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern ein paar Worte zur SPD sagen.
und Rentnern nicht weiter zuungunsten der Beitragszah- (Otto Fricke [FDP]: Nein!)
ler verschieben soll, dann müssen wir handeln. Die Men-
schen verstehen das und werden sich von Ihnen keine Ihr Kollege, unser Bundestagskollege Ottmar Schreiner,
Angst machen lassen. Aus Gründen der Generationenge- hat auf Ihrem Bundesparteitag eine hervorragende und
rechtigkeit war es richtig, hier zu handeln. Wir werden engagierte Rede zur Rentenpolitik und gegen Altersar-
uns von diesem richtigen Weg nicht abkehren. mut gehalten. Man muss deutlich sagen: Die SPD ist sei-
nen vernünftigen Vorschlägen leider nicht gefolgt.
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Ernst. Es ist
nicht so, dass wir den Menschen Rentenzeit bzw. Le- (Elke Ferner [SPD]: Es ist aber nicht abgelehnt
benszeit stehlen würden. Vor 50 Jahren betrug die durch- worden! Das gehört zur Wahrheit auch dazu!)
schnittliche Rentenbezugsdauer 10 Jahre, heute sind es
Deshalb müssen die Menschen wissen – wir haben das
18 Jahre. Ich halte es auch aus Gründen der Generatio-
gerade noch einmal gehört –: Die SPD hält weiterhin
nengerechtigkeit für vertretbar, dass wir das Rentenein-
grundsätzlich an der Rente erst ab 67 fest. Sie will sie
trittsalter maßvoll und in kleinen Schritten bis 2029 er-
nur so lange aussetzen, bis die Hälfte aller 60- bis
höhen – wohlgemerkt, die Rente mit 67 trifft erst die
64-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ei-
Jahrgänge ab 1964, also diejenigen, die heute 47 Jahre
ner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung steht.
alt sind –, damit die Rentenversicherung auch in Zukunft
Wenn alles so weiterliefe wie bisher, dann wäre das frü-
stabil und finanzierbar bleibt.
hestens in 16 Jahren, also 2027, der Fall. Frau Ministe-
Ich glaube, dass die Politik auf dem richtigen Weg ist. rin, auch einmal zu Ihren Zahlen: Das wäre ein Auf-
Wir dürfen den Menschen allerdings keine Angst ma- wuchs von 1,5 Prozentpunkten pro Jahr. Mehr ist das
17802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Matthias W. Birkwald
(A) nicht! Ich sage nur: Das ist Wischiwaschi. Entscheiden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
Sie sich, liebe SPD! Herr Kollege.
(Beifall bei der LINKEN)
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
So traurig es auch ist: Wer SPD sagt, wird auch weiter- All diese Zahlen können Sie in der Antwort der Bun-
hin an Rentenkahlschlag denken müssen. Das ist die desregierung auf unsere Große Anfrage nachlesen, und
Wahrheit. die Deutsche Rentenversicherung hat sie bestätigt.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Wo steht das?)
Besonders hart würden die geforderten zwei Jahre Ar-
beit zusätzlich bis zur Rente jene treffen, die schon heute
aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie als ältere Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Menschen einfach keinen Job mehr finden, vorzeitig in Der Herr Weiß würde Ihnen gerne eine Zwischen-
Rente gehen müssen. Chemiearbeiter, Chemiearbeiterin- frage stellen.
nen, Elektriker und Elektrikerinnen gehen heute zum
Beispiel im Durchschnitt mit 62 Jahren in die Rente. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Knapp 70 Prozent von ihnen müssen Rentenkürzungen
Bitte schön, Herr Weiß.
hinnehmen. Bauarbeiter gehen mit knapp 63 Jahren in
die Rente – drei von fünf mit Abschlägen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Auf diese bereits schlechte Ausgangslage setzen Sie Bitte, Herr Weiß.
mit der Rente erst ab 67 nun noch einen obendrauf. Das
heißt, Sie werden Arbeitgebern Milliarden in die Tasche
spülen, und vor allem werden die Renten der Betroffe- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
nen massenhaft gekürzt werden. Das ist die drohende Herr Kollege Birkwald, nachdem bereits die Vorred-
Wirklichkeit der Rente erst ab 67, und genau das will die nerin, Frau Bundesministerin von der Leyen, und auch
Linke verhindern. die Vorredner der Regierungsfraktionen Sie darauf hin-
gewiesen haben, dass Sie die Zahlen schlichtweg falsch
(Beifall bei der LINKEN) wiedergeben,
Es heißt ja – wir haben das heute wieder gehört –, wer (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nein, das
länger lebt, könne länger arbeiten. Das ist an sich schon tut er nicht!)
(B) falsch; denn die Rente erst ab 67 wird die Menschen we- (D)
der gesünder machen noch haufenweise neue Jobs für frage ich Sie: Würden Sie jetzt endlich einmal zugeste-
Ältere hervorbringen. Wo sollen die denn herkommen? hen, dass das, was Sie vortragen, schlichtweg falsch ist?
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unsinn!
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)
Ich habe es nachgelesen!)
Es kommt aber noch viel schlimmer. Die Lebenser-
Es ist schlichtweg falsch, und Sie haben eine üble
wartung steigt nicht für alle Menschen, Herr Kolb. Im
Falschmeldung in die Presse gesetzt, weil Sie die Sterbe-
Gegenteil!
tafeln der Deutschen Rentenversicherung mit den Unter-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch!) suchungen zur Lebenserwartung verwechseln.
– Hören Sie jetzt bitte gut zu, damit Sie nicht wieder so (Otto Fricke [FDP]: Aha!)
einen Unsinn erzählen. Das ist der grundlegende Fehler, den Sie gemacht haben.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Untersuchungen der Deutschen Rentenversiche-
Die durchschnittliche Lebenszeit von Männern mit nied- rung, die Sie nachlesen können, bestätigen für alle Ein-
rigen oder niedrigsten Löhnen hat sich in den vergange- kommensgruppierungen eine steigende Lebenserwar-
nen zehn Jahren nämlich nicht etwa erhöht, sondern sie tung. Genauso bestätigt das Statistische Bundesamt
hat sich um zwei Jahre verkürzt. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Stimmt
nicht!)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Nein! – Dr. – Heinrich L. Kolb [FDP]: Können steigende Lebenserwartungen für alle Bevölkerungs-
Sie mir sagen, wo das stehen soll? – Otto gruppen in Deutschland.
Fricke [FDP]: Das ist doch falsch!)
(Elke Ferner [SPD]: Dann hat die Bundesre-
Im Osten hat sich die durchschnittliche Lebenszeit ge- gierung wohl falsch geantwortet!)
ringverdienender Männer sogar um fast vier Jahre ver-
ringert. Ich bitte Sie jetzt herzlich, hier im Plenum des Deut-
schen Bundestages endlich diesen Fehler einzugestehen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sterbetafel hat nichts mit Lebenserwartungstafel zu tun.
Falsch! – Frank Heinrich [CDU/CSU]: Blöd- Lesen Sie bitte die richtige Statistik, und geben Sie die
sinn!) bitte hier wieder.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17803
(A) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): die Linke: Weg mit der Rente erst ab 67, ohne Wenn und (C)
Herr Weiß, Sie müssen jetzt wirklich sehr tapfer sein, Aber.
und Sie auch, Herr Kolb. Jetzt passen Sie einmal auf. (Beifall bei der LINKEN)
Schauen Sie doch bitte alle einmal auf Seite 19 der Ant-
wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage nach. Meine Damen und Herren, eine drastische Rentenkür-
Da heißt es in der Antwort der Bundesregierung: zung, wie es Herr Schiewerling eben gesagt hat, ist nicht
die Alternative zur Rente erst ab 67. Das wird ja fälschli-
Die durchschnittliche Bezugsdauer … ist … gestie- cherweise immer wieder behauptet. Im Gegenteil: Sie ist
gen … Dies spiegelt … die Zunahme der Lebenser- die unvermeidliche Folge der verordneten längeren Le-
wartung … wider. bensarbeitszeit.
Damit beziehen Sie sich auf den Durchschnitt über Die von Ihnen, Frau Ministerin von der Leyen, als
alle. Wenn dieser Satz richtig ist, dann ist eine gesun- drastisch bezeichneten höheren Beiträge, die nötig wä-
kene Rentenbezugsbedauer natürlich auch ein Beleg für ren, um die Rente erst ab 67 zu verhindern, schrumpfen
eine gesunkene Lebenserwartung. bei genauerer Betrachtung – das ist hier schon gesagt
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: worden – auf einen halben Beitragssatzpunkt bis zum
Nein!) Jahre 2030 zusammen. Bei einem heutigen Durch-
schnittsverdienst wären das knapp 6,30 Euro im Monat.
– Selbstverständlich! Jetzt hören Sie einmal zu. Sie müs- Das wäre allemal besser als gekürzte Renten im Alter.
sen rechnen können.
(Beifall bei der LINKEN)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie
Aber selbst das muss in diesem Umfang nicht sein.
können nicht rechnen! – Zuruf von der CDU/
Deswegen fordere ich Sie auf: Verzichten Sie auf die ge-
CSU: Oh Mann!)
planten Beitragssatzsenkungen. Dann kann in den kom-
– Wollen Sie jetzt eine Antwort haben oder nicht? – menden Jahren die Rente finanziert werden, ohne dass
Schauen Sie in den Anhang auf Seite 46 ff. Schauen Sie das Renteneintrittsalter angehoben werden muss.
sich in der PDF-Datei die Seiten 96 ff. an. Da geht es um Meine Damen und meine Herren, es ist nicht sinnvoll,
fast 16 400 Fälle, Männer. Das sind diejenigen, die nach starr an einer Altersgrenze als Voraussetzung für eine
dem 65. Lebensjahr als langjährig Versicherte Rente be- Rente festzuhalten. Die Linke sagt, wir brauchen auch
zogen haben. Da müssen Sie nur ganz einfach rechnen. flexible Übergänge in den Ruhestand. Denken Sie bei-
Wenn Sie ein durchschnittliches Sterbealter ausrechnen spielsweise an Fliesenleger, Altenpfleger, Kranken-
wollen, dann müssen Sie sich ansehen, wie lange die schwestern und Erzieherinnen, oder denken Sie an (D)
(B)
Rentenbezugsdauer war. Die durchschnittliche Renten- Gerüstbauer und Sanitäter. Die Linke will, dass bei-
bezugsdauer bei geringverdienenden Männern nach dem spielsweise Menschen wie diese, die 40 Jahre Beiträge
65. Lebensjahr betrug im Jahr 2001 12,5 Jahre. Im Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, vor dem 65. Ge-
2010 waren es 10,5 Jahre. Das sind zwei Jahre weniger burtstag in Rente gehen dürfen, und zwar ohne Kürzun-
oder minus 16 Prozent. Wer rechnen kann, ist klar im gen. Das wäre gerecht.
Vorteil.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Das ist falsch, Herr Meine Damen und Herren, unsere Rentenpolitik geht
Birkwald! – Otto Fricke [FDP]: Jetzt weiß ich, weit über die notwendige Kritik an der Rente erst ab 67
warum die DDR pleite gegangen ist!) hinaus. Das linke Rentenkonzept werden wir im kom-
menden Jahr hier zur Diskussion stellen. Drei Punkte
Wenn jetzt behauptet wird, Herr Weiß, das seien zu werden dabei von zentraler Bedeutung sein: Erstens.
geringe Fallzahlen: Diese über 16 000 Männer sind Linke Rentenpolitik sichert den Lebensstandard. Zwei-
7,4 Prozent aller Betroffenen. Sie können das gerne tens. Linke Rentenpolitik schützt vor Altersarmut. Drit-
nachrechnen. Die Zahlen stimmen. Das haben auch Jour- tens ist unsere linke Rentenpolitik
nalisten gemacht und anschließend schreiben können.
Das Dementi der Regierung war sehr verhalten. Denn es (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unbezahlbar!)
stimmt selbstverständlich, was ich Ihnen hier erzähle.
geprägt vom Prinzip der Solidarität
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Linke Rentenpo-
Bleiben wir dabei: Sie wollen den Menschen unter litik ist unbezahlbar!)
diesen Bedingungen noch zwei Jahre länger Arbeiten und bezahlbar.
oder gekürzte Renten zumuten. Da sage ich: Das ist eine
Verhöhnung der Betroffenen und ein sozialpolitischer (Beifall bei der LINKEN)
Super-GAU, ein Super-GAU, den Union, SPD, FDP und
Grüne zu verantworten haben; denn de facto wird die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Rentenzahlung gerade für Männer mit geringen Einkom- Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Max
men mit der Rente erst ab 67 um bis zu sechs Jahre ver- Straubinger das Wort.
kürzt, wenn es bis zum Ende gerechnet wird. Das ist So-
zialpolitik mit dem Hackebeil. Auch deswegen fordert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
17804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Das Ganze ist auch ein Gebot der Generationenge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rechtigkeit. Es geht natürlich auch um Beiträge. Die
Linke-Fraktion hat hier so einfach gesagt – das hat auch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der Kollege Schaaf ganz locker gemacht –: Das sind Johannes Vogel hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
doch nur 0,5 Prozent. Aber es geht darum, dass die junge tion.
Generation nicht grenzenlos mit Beiträgen, mit Abga-
ben, mit Steuern zu belasten ist, (Beifall bei der FDP)
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
denn sie will auch netto etwas in der Tasche haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben uns mit Ihrer Großen Anfrage diese erneute Ren-
Deshalb geht es bei der Entscheidung über die Rente tendebatte beschert, aber in der Tat wird sie von dieser
mit 67 darum, die Demografiefestigkeit unseres Renten- wirklich bemerkenswerten
versicherungssystems herauszustellen, und darüber hi- (Zuruf von der SPD: Situation der FDP!)
naus auch um Generationengerechtigkeit gegenüber den
jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft. Ich frage – nein! – Verhetzung überlagert, die Sie in den letzten
mich, wie die SPD begründen will, dass die Rente mit 67 Tagen in die Presse gebracht haben, Herr Birkwald. Es
jetzt nicht umsetzbar sei und erst dann umgesetzt werden ist schon mehrfach ausgeführt worden, welcher Quatsch
könne, wenn 50 Prozent der Menschen vom 60. bis zum das ist. Die einzige Stelle, die in Deutschland wirklich
64. Lebensjahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt belastbare und seriöse Daten über die Lebenserwartung
seien. erhebt, ist das Statistische Bundesamt. Das Bundesamt
sagt ganz klar: Die Lebenserwartung ist über alle Ein-
Herr Kollege Schaaf, Frau Kollegin Ferner, wenn sie kommensgruppen hinweg gestiegen, Herr Birkwald.
noch da ist, Eurostat hat für September 2010 ermittelt,
dass 48,6 Prozent der Menschen in Deutschland zwi- Ich sage Ihnen: Das ist eine Frage der politischen
schen 40 und 60 Jahren sozialversicherungspflichtig be- Auseinandersetzung und des Stils unserer Auseinander-
(B) schäftigt gewesen sind. Das zeigt sehr deutlich, dass Sie setzung. Der Kollege Fricke rief mir eben bei Ihrer (D)
sich knallhart und nur mit etwas schöneren Worten von Rechnung zu: Jetzt wissen wir wenigstens, warum die
der Rente mit 67 verabschieden und damit den gleichen DDR damals pleite gegangen ist. Aber auf dem Niveau
Fehler wie 1998 begehen wollen, als Sie die Einführung will ich mich mit Ihnen gar nicht weiter unterhalten.
des demografischen Faktors in der gesetzlichen Renten-
versicherung verhindert bzw. ausgesetzt haben und (Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]
plötzlich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder meldet sich zu einer Zwischenfrage)
aufgewacht ist und festgestellt hat, dass das sein größter – Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Sie haben heute oft
Fehler war. genug versucht, zu erklären, wie Sie zu dieser Rechnung
Sie haben möglicherweise damit zwar die Bundes- kommen. – Ich will ganz offen sagen: Man kann Fakten
tagswahl gewonnen, aber nichts für die älteren Men- politisch unterschiedlich bewerten. Aber Fakten zu ver-
schen und für die Rentnerinnen und Rentner in Deutsch- drehen, Herr Birkwald, ist – das finde ich ganz persön-
land getan, nämlich dafür zu sorgen, dass es weiterhin lich – unter Ihrem Niveau. Das ist schade.
eine sichere und verlässliche Versorgung im Alter gibt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gestützt auf die gesetzliche Rentenversicherung, auf die der CDU/CSU)
betriebliche Altersversorgung und zusätzlich auf die pri-
vate, kapitalgedeckte Versorgung, die mit anzustreben Viel interessanter finde ich, was die SPD in dieser De-
ist. batte abgeliefert hat. Wie Sie hier um das Thema Rente
mit 67 herumgetanzt sind, ist wirklich interessant.
Bei der Zuschussrente, die die Frau Ministerin vorge-
schlagen hat, Herr Kollege Schaaf, müssen die Versiche- Ein Punkt ist: Sie wollen es nicht gewesen sein. Es sei
rungszeiten nicht nur Beitragszeiten sein, sondern hierzu ja nur die CDU/CSU gewesen.
zählen auch Zeiten der Arbeitslosigkeit, des Mutter- (Elke Ferner [SPD]: Wir waren es auch nicht!)
schutzes, der Ausbildung und andere relevante Zeiten.
Damit ist es ein Leichtes, 45 Versicherungsjahre zu er- – Doch. Sie haben gesagt, die CDU/CSU habe es durch-
reichen. gesetzt, und Sie hätten den Kompromiss unter Schmer-
zen vertreten.
(Beifall des Abg. Karl Schiewerling [CDU/
CSU]) (Elke Ferner [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!
Zuhören!)
In diesem Sinne: Lasst uns die kommenden Aufgaben
angehen. Die Rente und vor allen Dingen die Rentenpo- – Das ist das, was Sie behaupten.
17806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Wenn wir also tatsächlich Beteiligung wollen – in den Interessant, dass Sie heute von der „Rente erst ab 67“
letzten Wochen haben wir dieses Wort ja sehr häufig ge- sprechen. Es werden oft Ängste – Herr Kollege
braucht –, dann müssen wir neben den wirtschaftlichen Strengmann-Kuhn hat vorhin darauf hingewiesen – da-
Bedingungen in unserem Land und den wirtschaftlichen durch verstärkt, dass die Sachlage einseitig dargestellt
Bedingungen jedes Einzelnen auch diese Tür öffnen wird.
bzw. offen halten. Viele wollen auch in Zukunft ganz be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Ge-
wusst und gern ihrer Arbeit nachgehen. schäftsmodell der Linken!)
Gestern Abend sprach ich mit einem jungen Mann, Ich zitiere beispielhaft die Bremer Altersforscherin
der aus einem europäischen Land kam. Er erzählte, dass Ursula Staudinger:
in seinem Land ein 66-Jähriger gegen den Staat klagt,
weil dieser ihn in den Ruhestand schicken will. Er be- Oft wird der Eindruck erweckt, Arbeit sei etwas,
gründet seine Klage damit, dass er sich diskriminiert wovon die Politik
fühlt. – also wir –
den Menschen befreien müsste.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des In dieser Aussage ist eine Konnotation enthalten, die aus
Herrn Kollegen Siegfried Kauder? unserer Sicht eine falsche Sicht auf das Problem zum
Ausdruck bringt. Meines Erachtens braucht es dabei ein
Umdenken. Eine Veränderung benötigt allerdings Zeit.
Frank Heinrich (CDU/CSU): Deshalb braucht es eben 18 Jahre, um diese zwei Jahre
Sehr gerne. Verlängerung der Lebensarbeitszeit hinzubekommen. Es
17810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Frank Heinrich
(A) ist gut, dass das langsam geht und sich alle Beteiligten Ich danke für die Aufmerksamkeit. (C)
darauf einstellen können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Daten der letzten Jahre – wir haben jetzt viele ge-
hört – belegen den positiven Trend, auch wenn wir – das Vizepräsident Eduard Oswald:
betone ich ganz bewusst – noch ein ganzes Stück Weg Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
vor uns haben. Eine Zahl ist mir in dem Zusammenhang Aussprache.
wichtig: Deutschland konnte die Erwerbstätigenquote
der 55- bis 65-Jährigen in den letzten zehn Jahren von Uns liegen Erklärungen zur Abstimmung nach § 31
38 Prozent auf 57 Prozent steigern. Trotz dieser beachtli- unserer Geschäftsordnung vor.1)
chen Erfolge bleibt noch eine Menge zu tun, woran wir Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
als Politik auch beteiligt sein müssen. Wichtig ist in dem schließungsanträge.
Zusammenhang, beim Gestalten der Bedingungen, das
„Auch“. Zunächst Entschließungsantrag der Fraktion der So-
zialdemokraten auf Drucksache 17/8150. Wer stimmt für
(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der
Die Bundesregierung beteiligt sich mit veränderten Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Koalitionsfraktionen
Vorgaben, die den Verbleib von Älteren im Erwerbsle- und Teile von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? –
ben besser ermöglichen sollen. Es braucht aber alle in Fraktion Die Linke und Teile der Fraktion Bündnis 90/
unserer Gesellschaft, um den Herausforderungen, die Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
heute mehrfach genannt wurden, gerecht zu werden, wie Ich komme nun zum Entschließungsantrag der Frak-
zum Beispiel der Demografie. tion Die Linke auf Drucksache 17/8151. Die Fraktion
(Beifall bei der CDU/CSU) Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
Eine längere Lebensarbeitszeit ist eben auch eine nen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt?
Chance für die Wirtschaft und für die Unternehmen, Kein gegenteiliger Hinweis? – Das ist der Fall. Ich er-
Stichwort „Fachkräftemangel“. öffne die Abstimmung.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
sinkt die Bezugsdauer!) Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Viele Unternehmen nutzen das schon. In meiner Stadt Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
Chemnitz merke ich, dass ein Bewusstseinswandel statt- rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- (D)
(B)
gefunden hat und immer noch stattfindet, besonders in nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
kleineren und mittleren Unternehmen, die die Fähigkei- bekannt gegeben.2)
ten der 50-Jährigen eben nicht kleinreden oder – wie
Frau von der Leyen das vorhin gesagt hat – schlecht- Wenn Sie sich wieder auf die Plätze begeben, haben
reden, sondern nutzen und entwickeln, wobei sie sich na- wir eine Chance, die gemeinsamen Beratungen fortzu-
türlich darauf einstellen müssen, Maßnahmen im Ge- setzen.
sundheitsbereich oder in der Ausbildung zu treffen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 3 a bis g auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
33 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Positive Zusatzeffekte dieser Regelaltersgrenzenan-
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des
hebung sind zum Beispiel, dass ein höherer Rentenan-
Elterngeldvollzugs
spruch entsteht – auch wenn Sie das immer anders dar-
stellen – und dass dann, wenn mehr Versicherte in das – Drucksache 17/1221 –
System einzahlen, der Nachhaltigkeitsfaktor zu höheren Überweisungsvorschlag:
Anpassungen führt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Finanzausschuss
Ich komme zum Schluss. Ausschuss für Arbeit und Soziales
(Beifall des Abg. Stefan Rebmann [SPD] – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elke Ferner [SPD]: Das ist schön!) Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Für die Anhebung des Rentenalters spricht eine Reihe tion DIE LINKE
von guten Gründen: außer der Demografie, dem Ge-
burtenrückgang, der steigenden Lebenserwartung, der Sozialen Fortschritt und regionale Integration
wachsenden Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Äl- in Lateinamerika unterstützen
teren auch der drohende Fachkräftemangel, aber vor al- – Drucksache 17/3214 –
lem – und das wollte ich betonen – die Erweiterung der
Teilhabemöglichkeiten für ältere Bürgerinnen und Bür- Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
ger in unserer Gesellschaft.
Wir glauben, dabei sind wir auf dem richtigen Weg, 1) Anlage 3
trotz der von Ihnen genannten Risiken. 2) Seite 17816 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17811
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der SPD
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Die europäische Energieeffizienzrichtlinie wir-
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole kungsvoll ausgestalten
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer – Drucksache 17/8159 –
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag:
Keine Teilprivatisierung bei der Hochschul- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
zulassung Verbraucherschutz
– Drucksache 17/7642 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Technikfolgenabschätzung Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi Brase,
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Krumwiede, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Chancen der Nanotechnologien nutzen und
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Risiken für Verbraucher reduzieren
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/8158 –
Prekäre Situation von Lehrbeauftragten an Überweisungsvorschlag:
Musikhochschulen sowie Hochschulen für Ausschuss für Bildung, Forschung und
Musik und Theater beenden – Rahmenbedin- Technikfolgenabschätzung (f)
gungen zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
schaffen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/7825 – Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Überweisungsvorschlag: Federführung strittig
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
der SPD
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
(B) LINKE Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken (D)
und eine wirksame Reduktionsstrategie um-
Verbraucherrecht auf ein kostenloses Giro- setzen
konto für alle gesetzlich verankern
– Drucksache 17/8157 –
– Drucksache 17/8141 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Finanzausschuss (f) Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Federführung strittig Högl, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung der SPD
(18. Ausschuss) gem. § 56 a der Geschäftsord- Übereinkommen des Europarats zur Bekämp-
nung fung des Menschenhandels korrekt ratifizie-
ren – Deutsches Recht wirksam anpassen
Technikfolgenabschätzung (TA)
– Drucksache 17/8156 –
Innovationsreport
Überweisungsvorschlag:
Zukunftspotenziale und Strategien nichtfor- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
schungsintensiver Industrien in Deutschland – Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit und Rechtsausschuss
Beschäftigung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
– Drucksache 17/4983 – e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Recht auf Eheschließung auch gleichge-
Technikfolgenabschätzung (f) schlechtlichen Paaren ermöglichen
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 17/8155 –
Ausschuss für Arbeit und Soziales Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Finanzausschuss
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
17812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
der Fraktion der SPD, also Federführung beim Rechts- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
weisungsvorschlag? – Das ist die Fraktion der Sozial- der Abgeordneten Stephan Kühn, Winfried
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeord-
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Über- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
weisungsvorschlag ist abgelehnt. NEN
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlän-
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, also gerung der Bundesautobahn 14 (Magdeburg–
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt- Schwerin) entwickeln
schaft und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt – Drucksachen 17/4199, 17/5033 –
für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Frak-
tionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer Berichterstattung:
stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen und die So- Abgeordneter Matthias Lietz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17813
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Berichterstattung: (C)
lung auf Drucksache 17/5033, den Antrag der Fraktion Abgeordnete Claudia Bögel
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4199 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grü- Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/
nen. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Die Be- 7636 mit dem Titel „Weniger Bürokratie und Belastun-
schlussempfehlung ist angenommen. gen für den Mittelstand – Den Erfolgskurs fortsetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
Tagesordnungspunkt 34 b: die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Sozialdemo-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- kraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- angenommen.
Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion lehnung des Antrags der Fraktion der Sozialdemokraten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 17/7610 mit dem Titel „Stagnation beim
Kein Verbot von Koka-Blättern – Für die völ- Bürokratieabbau überwinden – Neue Schwerpunktset-
kerrechtliche Anerkennung als schützens- zung für den Mittelstand umsetzen“. Wer stimmt für
werte Kultur der indigenen Völker im Anden- diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-
Raum fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen der
Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die Grünen.
– Drucksachen 17/6120, 17/7291 – Enthaltungen? – Wie hat die Linksfraktion gestimmt? –
Berichterstattung: Die Linksfraktion hat zugestimmt. Die Beschlussemp-
Abgeordnete Erich G. Fritz fehlung ist angenommen.
Dr. Rolf Mützenich Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
Marina Schuster titionsausschusses.
Wolfgang Gehrcke
Hans-Christian Ströbele Tagesordnungspunkt 34 d:
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
lung auf Drucksache 17/7291, den Antrag der Fraktion ausschusses (2. Ausschuss)
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6120 ab-
(B) Sammelübersicht 354 zu Petitionen (D)
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – So- – Drucksache 17/7969 –
zialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfrak-
tion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
ist angenommen. Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
Tagesordnungspunkt 34 c: gen? – Niemand. Die Sammelübersicht 354 ist ange-
nommen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Tagesordnungspunkt 34 e:
nologie (9. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim ausschusses (2. Ausschuss)
Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weite-
Sammelübersicht 355 zu Petitionen
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann – Drucksache 17/7970 –
Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin),
Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
Fraktion der FDP nen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? –
Weniger Bürokratie und Belastungen für Linksfraktion. Sammelübersicht 355 ist angenommen.
den Mittelstand – Den Erfolgskurs fortset-
zen Tagesordnungspunkt 34 f:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wicklein, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), ausschusses (2. Ausschuss)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD Sammelübersicht 356 zu Petitionen
Stagnation beim Bürokratieabbau überwin- – Drucksache 17/7971 –
den – Neue Schwerpunktsetzung für den
Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Mittelstand umsetzen
Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
– Drucksachen 17/7636, 17/7610, 17/8167 – gen? – Niemand. Sammelübersicht 356 ist angenommen.
17814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf: sage erteilt. Für sie bedeutet der inszenierte Ämtertausch
des Tandems Putin/Medwedew nicht Stabilität, sondern
Aktuelle Stunde
Stillstand und Stagnation. Immer mehr verstehen, dass
Demokratiebewegung in Russland Stagnation eben nicht Stabilität bedeutet, sondern in
Erster Redner in dieser von allen Fraktionen des Hau- Wahrheit ein Zurückfallen Russlands, das sie ihrer Zu-
ses beantragten Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der kunft beraubt.
CDU/CSU unser Kollege Dr. Andreas Schockenhoff. – Der letzte Samstag hat Russland verändert. Die fried-
Bitte schön, Kollege Dr. Schockenhoff.
lichen Massendemonstrationen haben auch das Bild ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ändert, das viele im Westen von Russland haben. Bis zu
diesen Wahlen schien es trotz der Reden von Präsident
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Medwedew in Russland keinen Modernisierungskonsens
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zu geben. Im Gegenteil: Die Eliten und die Gesellschaft
Ereignisse der letzten Tage in Russland haben das zyni- schienen Veränderungen und Reformen mehr zu fürch-
sche Modell der gelenkten Demokratie widerlegt. De- ten als eine neue Ära der Stagnation. Die Proteste haben
mokratie mit Attributen funktioniert nicht. Diese Vor- jedoch gezeigt, dass viele Menschen mehr wollen als nur
stellung wirft Russland nur immer weiter zurück. Viele den Status quo und rhetorische Versprechungen. Nach
Russen haben das erkannt und dem jetzt eine klare Ab- individuellen Freiheiten wollen sie nun auch politische
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17819
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) Rechte: demokratische Mitsprache, politischen Wettbe- Putin es vorgeschlagen hat, dann begrüßen wir das, weil (C)
werb und Transparenz. dies den organisierten Wahlfälschungstourismus unter-
binden könnte. Aber entscheidend ist, dass auch vor den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wahlen Fairness herrscht, dass die Kandidaten zugelas-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sen werden und dass sie die Chance haben, sich genau
GRÜNEN) wie Putin im staatlichen Fernsehen zu präsentieren.
Russland steht nun am Scheideweg zwischen einem
Wir müssen die russische Zivilgesellschaft und die
autoritär geführten Staat und einer wirklichen Demokra-
wachsende Mittelschicht in den Mittelpunkt unserer Ko-
tie. Das Erste würde Russland in die Vergangenheit zu-
operationsangebote an Russland rücken. Sie sollte in alle
rückwerfen; diese Gefahr besteht durchaus. Das Zweite
Arbeitsfelder der deutschen und europäischen Moderni-
wäre die Chance auf ein modernes, rechtsstaatliches
sierungspartnerschaft stärker eingebunden werden.
Russland, und zwar innenpolitisch, wirtschaftlich und
außenpolitisch. Es ist klar, dass wir das Letztere wollen Wichtig wäre, in Russland den Status der Gemeinnüt-
und dafür auch unseren Beitrag leisten müssen. zigkeit aufzubauen. Davon würden vor allem Nichtregie-
Die Proteste waren ein Sieg über die Angst vor dem rungsorganisationen profitieren. Die wichtigste Grund-
Kreml. Sie waren vor allem ein Sieg über die politische lage für Russlands Modernisierung ist eine nachhaltige
Apathie, die die russische Gesellschaft in den letzten Stärkung der Verbindung zwischen drittem Sektor und
Jahren gelähmt hat. Sie haben eine neue Generation, eine Wirtschaft, also zwischen Zivilgesellschaft und neuer
veränderte Gesellschaft gezeigt, viele junge Menschen, Mittelklasse. Dort, wo wir einen Beitrag leisten können,
Aktivisten und eine wachsende Mittelklasse. Für mich sind wir gefordert, zu helfen. Das ist im Interesse der rus-
sind das die neuen Russen – demokratisch gesinnt, aktiv, sischen Bevölkerung, aber auch in unserem Interesse für
engagiert und gut vernetzt, also alles, was Russland für eine gemeinsame europäische Zukunft.
seine Modernisierung braucht. Es sind nicht Wutbürger, Herzlichen Dank.
sondern genau die Mutbürger, die jeder Staat braucht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Wenn der russische Ministerpräsident heute im Fern-
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-
sehen sagt, dass ein Teil der Demonstranten das Land
NIS 90/DIE GRÜNEN])
destabilisieren wolle, dann hat er noch nicht verstanden,
dass diese Aufbruchsstimmung dem Land nutzt und
nicht, wie er sagt, falsch und inakzeptabel ist. Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Vielen Dank, Kollege Dr. Schockenhoff. – Nächster
(B) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion (D)
GRÜNEN) der Sozialdemokraten unser Kollege Franz Thönnes.
Bitte schön, Kollege Franz Thönnes.
Im Gegenteil: Diese Menschen sind die wichtigste Re-
formkraft und der wichtigste Modernisierungspartner
Franz Thönnes (SPD):
des russischen Staates und damit auch ein wichtiger
Partner für uns. Mit ihnen muss der russische Staat eine Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Modernisierungspartnerschaft aufbauen, und wir müssen Wir sprechen heute über ein Land, mit dem uns eine
sie gezielter als bisher in die Modernisierungspartner- ganz besondere Verantwortung verbindet. Dieser Verbin-
schaft mit Russland einbeziehen. dung kommt gerade vor dem Hintergrund unserer ge-
meinsamen Geschichte im letzten Jahrhundert bis hin
Die jüngsten Demonstrationen haben den Nichteinmi- zur deutschen Einheit eine besondere Bedeutung zu. Wir
schungsvertrag zwischen Staat und Gesellschaft aufge- tragen gemeinsam Verantwortung für die Sicherheit in
kündigt, den viele als Markenzeichen der gelenkten De- Europa und in der Welt. Diese Verbindung ist auch be-
mokratie Putins sehen. Dieser hat zu Apathie, Zynismus züglich unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
und einer gefährlichen Entfremdung zwischen Macht Beziehungen wichtig.
und Gesellschaft geführt, die die Duma-Wahlen jetzt
aufgedeckt haben. Die Revitalisierung der russischen Der Dezember scheint nicht nur in diesen Tagen für
Gesellschaft ist eine große Chance, vielleicht die letzte Russland ein sehr wichtiger Monat zu sein. Vor knapp
Chance für eine bessere Zukunft Russlands. Um sie zu 20 Jahren, am 8. Dezember 1991, wurde die Auflösungs-
nutzen, muss die russische Führung klare Antworten auf urkunde der Sowjetunion unterzeichnet. Vor 41 Jahren,
die Wahlfälschungen geben, das heißt eine glaubwürdige am 12. August 1970 und am 7. Dezember 1970, wurden
Überprüfung der Wahlergebnisse vom 4. Dezember, die der Warschauer und der Moskauer Vertrag unterzeichnet.
Freilassung aller inhaftierten Demonstranten und die Grundlage hierfür war die von Willy Brandt entwickelte
rechtliche Bestrafung derer, die Wahlmanipulationen zu Entspannungs- und Ostpolitik, für die er am 10. Dezem-
verantworten haben. ber vor 40 Jahren den Friedensnobelpreis in Oslo erhielt.
Der Kern dieser Politik, Wandel durch Annäherung, gilt
Russlands Zukunft entscheidet sich dann bei den Prä- nach wie vor und heute ganz besonders in Russland.
sidentschaftswahlen am 4. März. Sie müssen zeigen,
dass der nächste russische Präsident durch freie und faire (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wahlen legitimiert ist. Wenn für diese Wahlen 90 000 In- der LINKEN und des Abg. Michael Link
ternetkameras in den Wahlbüros installiert werden, wie [Heilbronn] [FDP])
17820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Franz Thönnes
(A) Russland hat sich in den letzten 20 Jahren gewandelt. wurden, freigelassen werden, dass unverzüglich eine (C)
Es entwickelte sich – mit rasanten Veränderungen für Untersuchung der Verstöße gegen das Wahlrecht durch-
das Leben der Menschen – von einer kommunistischen geführt wird, dass die Vorfälle transparent aufgearbeitet
Diktatur hin zu einem Gesellschaftssystem, das aus un- werden und dass dort, wo es notwendig ist, Nachwahlen
serer Sicht auf der Demokratieskala noch erheblichen stattfinden.
Spielraum nach oben hat. Russland hat sich auch in den
letzten Tagen verändert. So ist es gleichermaßen ein Er- Der Beobachtungsbericht der OSZE, in dem beschrie-
folg für die Demonstranten wie auch für die Sicherheits- ben ist, wie Wahlgesetze auszusehen haben, und die
kräfte bei der Großdemonstration in Moskau am letzten Standards, die der Europarat formuliert hat, müssen in
Wochenende, dass die Kundgebung gewaltfrei verlief. Russland eingehalten werden. Es geht darum, freie und
Dieser Maßstab der Gewaltfreiheit muss auch in Zukunft demokratische Präsidentschaftswahlen zu ermöglichen,
in Russland gelten. mit gleichen Chancen für alle Kandidaten, mit Transpa-
renz und echter Konkurrenz. Es geht auch darum, dass
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wahlbeobachter bei den Wahlen nicht behindert werden
der FDP und der LINKEN) dürfen. Eine Demokratie lebt von lauten und gehörten
Es ist ebenso ein Erfolg, dass es nicht nur die alten Re- Stimmen und nicht von Stummheit.
flexe gab, die wir teilweise erlebt haben, zum Beispiel Aber es richten sich auch Forderungen an uns selbst.
Verhaftungen, Behinderungen, Verbote, an der Demon- Wir dürfen im Rahmen der gesellschaftlichen und wirt-
stration teilzunehmen, oder die Ansetzung von Schulun- schaftlichen Kooperationen, die wir mit Russland haben,
terricht, sondern dass es zwischenzeitlich auch Bericht- nicht nachlassen. Sie müssen auf gleicher Augenhöhe
erstattungen in den privaten Medien und im staatlichen stattfinden. Bei diesen Kontakten müssen wir die Forde-
Fernsehen über diese Großdemonstration gab. Auch rungen des Europarates nach Achtung der Menschen-
diese Entwicklung darf nicht zurückgedreht werden. würde, der Bürgerfreiheiten und der Bürgerrechte mit
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einbeziehen. Gesellschaft und Wirtschaft brauchen ge-
der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- meinsam Rechtsstaatlichkeit. Wir selbst sind angespro-
SES 90/DIE GRÜNEN) chen, wenn es darum geht, den Petersburger Dialog zu
modernisieren und auf die neuen Herausforderungen
Der Grund für die Menschen, an der Demonstration auszurichten. Das Deutsch-Russische Jahr der Bildung,
am 4. Dezember teilzunehmen, bestand nicht nur darin, Wissenschaft und Innovation 2011/2012, das Deutsch-
dass 7 000 Wahlverstöße reklamiert worden sind und die landjahr in Russland 2012 bis 2013 und das Russland-
OSZE die Wahlen als nicht fair und nicht frei bezeichnet jahr in Deutschland 2012 bis 2013 sind gute Gelegenhei-
hat. Die Menschen haben auch nicht nur aus sozialen ten hierfür.
(B) (D)
Gründen protestiert. Vielmehr geht es den Menschen
– das sagen Einzelne von ihnen auf Nachfrage – um ihre Auf europäischer Ebene gilt es das Partnerschaftsab-
Würde. Sie haben das Gefühl, getäuscht worden zu sein. kommen mit Russland weiterzuentwickeln und den heu-
Es geht ihnen darum, gegen Rechtswillkür, gegen Recht- tigen Gipfel in Brüssel dazu zu nutzen, diese Kritik offen
losigkeit, gegen Korruption und gegen politische Gänge- anzusprechen, aber auch die Hand zur Kooperation in
lung auf die Straße zu gehen. Viele junge Menschen, diesem Sinne zu reichen. Dabei spielt die Vereinbarung
Akademiker und Wissenschaftler, waren bei der Demon- gemeinsamer Schritte auf dem Weg zur Visafreiheit eine
stration. Die Demonstranten waren eine Abbildung der ganz zentrale Rolle.
vielschichtigen Gesellschaft: Kommunisten, Liberale,
(Beifall im ganzen Hause)
Aktivisten aus Vereinen und Verbänden. Das zeigt deut-
lich, dass der Ruf nach Freiheit und Menschenwürde Über Visaerleichterungen können wir erreichen, –
sich immer wieder Bahn bricht.
Präsident Medwedew sagt, dass es dort, wo es Ver- Vizepräsident Eduard Oswald:
stöße gegeben hat, gerechte Entscheidungen geben wird. Kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Sprecher von Ministerpräsident Putin sagt, dass man
die Ansichten der Demonstranten respektiere, dass man
höre, was gesagt wird, und dass man auch weiter zuhö- Franz Thönnes (SPD):
ren werde. Dem ist hinzuzufügen, dass wir die politisch – dass die Menschen zusammenkommen und Kon-
Verantwortlichen an genau diesen Aussagen messen takte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern entstehen:
werden, wobei ich hoffe, dass der Ruf der Menschen in Wissenschaft und Forschung, unter jungen Leuten und
nach Dialog und Partizipation von den Regierenden im Bereich des Sports. Nur das wird dazu führen, dass
nicht nur gehört, sondern auch verstanden wird. man gegenseitig voneinander lernt und gemeinsam an
der Umsetzung der Werte arbeiten kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des Abg. Michael Link Für Russland, die dortige Opposition und die Macht-
[Heilbronn] [FDP]) haber wie für uns gilt, was damals schon Willy Brandt
gesagt hat:
Deswegen stellen wir berechtigte Forderungen. Es geht
darum, dass in Zukunft in Russland Meinungsfreiheit, Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von
Demonstrations- und Pressefreiheit gewährleistet wer- Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und
den, dass die friedlichen Demonstranten, die verhaftet darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17821
Franz Thönnes
(A) man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt Wir sind insbesondere sehr dankbar, dass die OSZE (C)
werden soll. und ihr Wahlbeobachtungsarm ODIHR sehr genau hin-
geschaut haben. Wir sind gespannt auf den endgültigen
(Beifall bei der SPD) Bericht, der uns bald vorgelegt wird, und wir als FDP-
Fraktion möchten uns ganz ausdrücklich bei Heidi
Vizepräsident Eduard Oswald: Tagliavini bedanken, der sehr professionellen Chefleite-
Vielen Dank, Kollege Thönnes. – Nächster Redner in rin und -beobachterin der ODIHR-Mission in Moskau.
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP Sie verdient unsere volle Unterstützung.
unser Kollege Michael Link. Bitte schön, Kollege
Michael Link. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) SES 90/DIE GRÜNEN)
Oft wird darauf hingewiesen, dass die kommunisti-
Michael Link (Heilbronn) (FDP):
sche Partei ein besonders gutes Ergebnis gehabt hat. Ja,
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen das stimmt. Sie hat ein erstaunlich gutes Ergebnis ge-
und Kollegen! In Anbetracht dessen, was nach der letz- habt,
ten Duma-Wahl geschehen ist, und insbesondere ange-
sichts der Demonstrationen haben sich in der Tat viele (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)
die Augen gerieben. Offen gesagt: Auch viele von uns
hätten nicht gedacht, dass es zu einem so enormen Auf- aber vielleicht auch deshalb, lieber Kollege Gehrcke,
schrei in der Zivilgesellschaft in Russland kommt. Das weil alle anderen Alternativen, die man vielleicht noch
ist ein Lebenszeichen der Zivilgesellschaft, dem wir lieber gewählt hätte, verboten worden sind.
heute durch diese vereinbarte Aktuelle Stunde Rechnung (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das kann
tragen; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Marieluise Beck ja sein!)
hat dies angestoßen. Alle anderen Fraktionen sind ihrem
Vorschlag gerne gefolgt und haben gesagt: Wir müssen – Richtig, das kann sein. – Das zeigt aber zumindest
über dieses Thema diskutieren. – Dies soll auch ein Zei- – hier stimme ich Ihnen zu –, dass es auf jeden Fall den
chen der Unterstützung sein, das wir aus dem Deutschen Wunsch gibt, auszuwählen, also nicht nur zu wählen und
Bundestag an die russische Zivilgesellschaft senden. zu akklamieren; denn so haben sich Medwedew und
Putin die Wahl sicherlich vorgestellt. Eine Wahl ist aber
(Beifall bei der FDP sowie der Abg.
keine Akklamation.
Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN]) Wir wünschen uns, dass eben nicht nur die Kommu- (D)
Wir unterstützen sie in ihrem Kampf um Rechtsstaatlich- nisten und nicht nur die Liberaldemokraten dort, die sich
keit, Demokratie und freie Wahlen; denn nichts weniger nur so nennen und alles andere als liberal und demokra-
hat Russland verdient. tisch, sondern nationalistisch und großrussisch sind, als
Alternative zugelassen sind. Wir wünschen uns, dass
(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen es die Li-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) beralen unterschiedlichster Prägung endlich einmal
schaffen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen,
Die Augen gerieben hat man sich mit Sicherheit auch
alle ihre Teilungen und Spaltungen zu überwinden und
im Kreml. Man wird sich noch wundern, was für eine
mit einem gemeinsamen Kandidaten, einer demokrati-
Eigendynamik die Ergebnisse der beiden Wahlen – der
schen Alternative zu Putin, anzutreten. Das erwarten wir
Duma-Wahl, die gerade stattgefunden hat, und der Präsi-
uns dringend von der russischen liberalen Opposition.
dentschaftswahl im März nächsten Jahres – entwickeln
können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Weshalb gibt es diese Eigendynamik und diese Ent- der CDU/CSU)
wicklung? Es ist sicherlich ganz wichtig, immer wieder Wir appellieren aber auch an uns selbst – Kollege
darauf hinzuweisen, dass das Machtkartell, das am Thönnes hat völlig richtig darauf hingewiesen –, dass
24. September dieses Jahres durch die erneute Rochade wir uns beim Thema Visum, also bei der Frage, wie wir
zwischen Putin und Medwedew endgültig sichtbar uns zu Russland verhalten, dringend endlich öffnen müs-
wurde, sich aber schon lange vorher angedeutet hat, die sen. Es gibt eine Initiative der Außenpolitiker der
Leute schlicht und einfach – ich sage es einmal ganz sa- Unionsfraktion und der FDP-Fraktion, die dieses Jahr
lopp und unparlamentarisch – anwidert. Es ist für junge gerade auch im Kontakt mit den Innenpolitikern schon
Leute, die nicht mehr sowjetisch geprägt sind und nicht intensiv daran gearbeitet haben – natürlich auch inter-
mehr biografisch eingeschüchtert werden können, auch fraktionell unterstützt –, um bei den Verfahren zur Visa-
nicht durch den jetzigen Machtapparat, keine attraktive erteilung zu echten Verbesserungen zu kommen. Ich
Vorstellung, Putin erneut sechs, sieben Jahre als Präsi- sage es deutlich: Ziel muss langfristig die Visafreiheit
denten zu haben und Jedinaja Rossija, die Regierungs- mit Russland sein.
partei, die dem puren Machterhalt dient, sozusagen vor
die Nase gesetzt zu bekommen, egal wer tatsächlich ge- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
wählt wird. Wir sind hier in einer schwierigen Situation. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Deshalb muss man die Gründe verstehen. CDU/CSU und der LINKEN)
17822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Vielen Dank. Ich sage aber auch: Lasst uns genau hinschauen.
Nicht jeder, der demonstriert, muss inhaltlich unsere So-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie lidarität haben. Ich nehme wahr, wie nationalistische
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Gruppen – das geht bis hin zu rechtsextremistischen
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Gruppen – in diesem Feld agieren. Ich finde – das sage
ich ganz deutlich, und ich wäre dankbar, wenn das hier
Vizepräsident Eduard Oswald: im Parlament Übereinstimmung fände –, solchen Grup-
pen, auch wenn sie regierungsamtlich gefördert worden
Vielen Dank, Kollege Michael Link. – Jetzt spricht
sind oder gefördert werden, muss man eine Absage ertei-
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang
len.
Gehrcke. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Auch für Russland ist Nationalismus keine sinnvolle Al-
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): ternative; das muss klar sein.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolle- Dann lohnt es sich, sich das Ergebnis gründlich anzu-
ginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir über dieses schauen. Das ist natürlich vor allem eine Sache der russi-
Thema hier im Parlament diskutieren und dass wir das schen Kolleginnen und Kollegen selber. Ich habe mit
auf der Basis einer Vereinbarung zwischen den Fraktio- meinen Freunden in Russland telefoniert, gesprochen,
nen tun. Ich sage ganz deutlich: Wir haben ein Recht, debattiert, weil mich sehr interessiert hat: Warum haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17823
Wolfgang Gehrcke
(A) die Menschen so gewählt, wie sie gewählt haben? Da Das ist eine Hilfe für die russische Zivilgesellschaft (C)
werden mir vor allen Dingen drei Gründe genannt. und für die russische Kooperation. Mein Vorschlag ist,
dass wir über solche Fragen nachdenken und diskutie-
Der erste Grund, den man bedenken muss, ist, dass in ren.
diesen Wahlen auch ein Stück weit sozialer Protest
steckt. Die Regierungspartei sollte sich klar darüber Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
sein: Nicht nur die Neureichen in Russland sind interes-
(Beifall bei der LINKEN)
sant. Sie sollten einmal in die Metrostationen in Moskau
und woandershin schauen, wo die armen Menschen ihr
Überleben sichern. Da steckt sozialer Protest drin. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Gehrcke. – Nächste
Es ist ein Protest der Mittelschicht. Das ist völlig ein- Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist un-
deutig ablesbar. Das erfordert doch politische Schluss- sere Kollegin Frau Marieluise Beck. Bitte schön, Frau
folgerungen, für Russland selber, aber auch für die deut- Kollegin Marieluise Beck.
sche Politik gegenüber Russland.
Ferner ist es ein Protest – und das nicht wenig – gegen Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
den Zynismus der Macht. Dieses Jobsharing zwischen GRÜNEN):
Putin und Medwedew musste den Protest herausfordern. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- der Tat: Es hat eine atemberaubende Entwicklung in
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Russland gegeben, und niemand hat das vorhergesehen –
ten der FDP) wir nicht und wohl auch nicht die Herren im Kreml und
im Weißen Haus.
Ich bin froh, dass dieser Protest auch in dieser Art ge-
gen den Zynismus der Macht gerichtet worden ist. Was Sie haben auf die historische Verpflichtung hingewie-
das für die Präsidentschaftswahlen bedeutet, kann noch sen, Herr Gehrcke. Unsere historische Verpflichtung ist,
ziemlich spannend werden. dass wir an der Seite der Demokraten in Russland stehen
und nicht an der Seite, die Sie eben mit „Zynismus der
Ich kann der deutschen Politik, also uns selber, nur Macht“ beschrieben haben.
anraten: Möglicherweise ist die Kommunistische Partei
Russlands sehr sperrig – das ist sie mit Sicherheit –, aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
schauen Sie einmal genau hin. Sie ist die stärkste Oppo-
sitionspartei. Wenn man Politik verändern will, muss der FDP)
(B) man mit einer starken Oppositionspartei kooperieren. Diese jungen Menschen haben auch das Recht, uns Fra- (D)
gen zu stellen.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie verhandeln schon die Es hat hier Aussprüche und Einschätzungen gegeben,
Ämter!) dass Präsident Putin ein lupenreiner Demokrat sei. Er ist
von vielen Seiten hofiert worden. Es kann nicht darum
Das Letzte ist eine Bitte, die ich an uns richte. Wenn
gehen, aus Wandel durch Annäherung einen Wandel
wir nicht jetzt und langfristig auf die russische Gesell-
durch Anbiederung zu machen.
schaft zugehen, dann werden wir nichts bewegen. Ich
möchte, dass die Visafreiheit jetzt ganz deutlich im Rah- War es angemessen, dass der Ost-Ausschuss der
men eines fraktionsübergreifenden Votums von diesem Deutschen Wirtschaft vor den Wahlen ohne jegliche Not
Parlament unterstützt und in den Vordergrund gebracht bereits seine tiefe Genugtuung darüber ausgedrückt hat,
wird. dass ein zukünftiger Präsident Putin wieder am rechten
Ort in Russland sein wird? Ist das unsere Angelegenheit?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Muss die deutsche Wirtschaft sich in Russland so bewe-
Das ist für Deutschland vernünftig. Das wäre für gen? Ich glaube, nicht.
Russland vernünftig. Ich bin davon überzeugt worden,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
dass die Frage der Visafreiheit zu einer der zentralen
bei der SPD und bei der FDP – Ute Koczy
Fragen auch im Präsidentschaftswahlkampf werden
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Volle Bla-
wird. Wo man übereinstimmt, kann man wohl auch ir-
mage!)
gendwann etwas Übereinstimmendes machen.
Es hat schon einmal einen großen historischen Irrtum
Denken Sie auch einmal darüber nach – damit will ich
aus Politik und Wirtschaft gegeben, und zwar gegenüber
zum Schluss kommen –, ob nicht gemeinsame Netzpro-
Polen. Der Westen hat nämlich noch das Militärregime
gramme sinnvoll sind. Ich möchte nicht, dass Überwa-
Jaruzelski gestützt, als sich in Polen bereits die Demo-
chungsprogramme deutscher Technik an Russland ver-
kratie- und Bürgerbewegung Solidarnosc formiert hatte,
kauft werden, mit denen Netze kontrolliert werden. Ich
an deren Seite Deutschland sich zu spät gestellt hat.
möchte gemeinsame Netzprogramme mit offener De-
batte haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Das alles ist immer mit dem Wunsch und dem Mythos
DIE GRÜNEN]: Das macht jetzt KT von von Stabilität zu erklären. Diese ist immer mit dem Na-
Brüssel aus! Guter Mann!) men Putin verbunden worden. Ich aber sage: Putin steht
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die aber weiter in den sozialen Netzwerken kommuni- Es ist unsere Aufgabe, durch unsere Angebote, vor allen
zierten und sich zu der Demonstration am Samstag, dem Dingen über die Modernisierungspartnerschaft, genau
10. Dezember, verabredeten, für die erst nur 300 Teil- diesen Lernprozess zu unterstützen.
nehmer gemeldet wurden. Aber dann begann über Face- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
book eine Anmeldewelle: erst 10 000, dann 20 000,
(B) 30 000, 40 000 und dann immer mehr. Dann passierte ein (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (D)
kleines Wunder. An anderer Stelle in Moskau wurde eine und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Demonstration mit 30 000 Teilnehmern zugelassen, und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])
die 52 000 mobilisierten Polizisten wurden nicht gegen
die Demonstranten eingesetzt, sondern zu einer Kon- Vizepräsident Eduard Oswald:
trolle des Ablaufs dieser Großveranstaltung. Die nächste Vielen Dank, Kollege Gernot Erler. – Jetzt für die
große Protestversammlung – das ist schon mehrfach er- Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Marina Schuster.
wähnt worden – ist für den 24. Dezember, unseren Weih- Bitte schön, Frau Kollegin Schuster.
nachtstag, angemeldet, und es erfolgte schon die Einbe-
rufung einer Sondersitzung des Menschenrechtsrats (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
beim Präsidenten für den 23. Dezember, um über diese
ganzen Vorgänge zu beraten. Marina Schuster (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Dieses gar nicht so kleine Wunder in Moskau lässt einer Grundsatzrede vor seinem Amtsantritt beklagte
vielleicht auf einen Lernprozess an der Spitze schließen. Präsident Medwedew, dass sich in Russland kaum je-
Ich finde, es wäre wünschenswert, wenn dieser stattfin- mand an existierende Gesetze halte. Der studierte Jurist
den würde; denn ein solcher Lernprozess ist in der Tat Medwedew nannte dieses Problem Rechtsnihilismus,
überfällig. von dem Russland so betroffen sei wie kein zweites
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Land. Diesen Rechtsnihilismus wollte Medwedew ent-
NEN]: Das Volk hat schon längst viel schnel- schlossen bekämpfen. Von diesem neuen Wind im
ler gelernt!) Kreml erhofften sich damals viele Verbesserungen.
Nun, fast vier Jahre und eine Duma-Wahl später, müs-
Für mich hat sich diese Notwendigkeit allerdings
sen wir Bilanz ziehen. Wie sieht denn der angekündigte
schon am 24. September gezeigt, als der Ämtertausch
Fortschritt aus? Die Bilanz ist erschreckend. Hier von ei-
von Medwedew und Putin vereinbart wurde. Der ge-
ner Verbesserung in Sachen Menschenrechte, Demokra-
schah in der sicheren Annahme, dass das Publikum ap-
tie und Rechtsstaatlichkeit zu sprechen, verbietet sich
plaudieren würde. Das hat es aber nicht gemacht, im Ge-
gerade mit Blick auf die jüngsten Ereignisse.
genteil. Danach begannen Diskussionen, auch in der
Öffentlichkeit, über zweimal sechs Jahre Sastoi, Still- Ich möchte auf die Korruption – viele Kollegen haben
stand, in der russischen Gesellschaft. Dann gab es noch sie schon erwähnt – zu sprechen kommen, die Russland
diese Riesenpanne am 21. November bei dem Auftritt nach wie vor fest im Griff hat. Wer sich Bestechlichkeit,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17827
Marina Schuster
(A) Vetternwirtschaft oder organisierter Kriminalität wider- anwaltschaft aufgesucht, deren Mitarbeiter wurden ein- (C)
setzt, weil er an das Richtige glaubt, nämlich an Recht dringlich befragt und unter Druck gesetzt. Diese
und Gesetz, dem ergeht es wie Sergej Magnitskij. Der Einschüchterung erfuhr leider eine weitere Steigerung:
Rechtsanwalt Sergej Magnitskij hat einen Steuerbetrug Lilija Schebanowa, Vorsitzende von Golos, fand am
von mehreren Hundert Millionen US-Dollar zulasten des Abend des 12. Dezember Schmierereien, unter anderem
russischen Volkes aufgedeckt und angeprangert. Statt mit Todesdrohungen, im Hausflur neben ihrer Wohnung.
ihm zu danken, seinen Vorwürfen ernsthaft nachzugehen Ich sage hier klar vor diesem Haus: Frau Schebanowa,
und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wurden eben- Sie haben unsere Unterstützung und unseren Schutz.
diese Personen mit der Verhaftung von Magnitskij be-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auftragt. Während die Täter frei waren, starb Magnitskij
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
am 19. November 2009 in der Haft einen qualvollen Tod
GRÜNEN – Marieluise Beck [Bremen]
infolge von Folter, Misshandlung und Vorenthaltung von
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erinnert
medizinischer Hilfe.
an Anna Politkowskaja!)
Dies hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bereits
Aber auch die politische Konkurrenz wird massiv an-
im Jahr 2009, als Magnitskij noch lebte, in ihrem Bericht
gefeindet. Erst gestern wurden Konstantin Smirnow und
für die Parlamentarische Versammlung des Europarates
andere Mitglieder von Jabloko sowie oppositionelle
kritisiert, ganz klar benannt, und sie hat sich mehrmals
Journalisten inhaftiert. Das ist eine Eskalation, die ich
an die Behörden gewandt. Wir erleben nun eine unzu-
sehr erschreckend finde.
reichende Aufarbeitung, wenn man bei dem, was
Medwedew eingeleitet hat, überhaupt von einer Aufar- Umso erfreulicher ist es, dass so viele Menschen den
beitung sprechen kann. Diese Aufarbeitung zeigt auch Mut gefunden haben, den Protest auf die Straße zu brin-
die Absurdität des Systems: Das Opfer wurde zum Täter gen und den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Die
verunglimpft. Demonstranten zeigen damit eine Beharrlichkeit, die
auch das Regime in ernste Probleme bringen könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Fall steht
Das sieht man auch daran, wie die Sicherheitskräfte ge-
exemplarisch dafür, dass der Rechtsnihilismus in Russ-
gen die Demonstranten vorgehen.
land nicht ernsthaft bekämpft wird;
Ich fordere deswegen ganz klar: Russland muss zu-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rück auf den Weg der Europäischen Menschenrechts-
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- konvention. Diese Konvention hat Russland selbst durch
SES 90/DIE GRÜNEN) die Mitgliedschaft im Europarat anerkannt, und es sollte
denn im Grunde haben sich viele mit diesem System die Prinzipien des Europarats auch endlich verinnerli-
(B)
arrangiert. Wir werden hier auch nicht wegschauen; chen. Russland sollte an der Umsetzung der Europäi- (D)
denn wir müssen Russland an seinen Taten messen und schen Menschenrechtskonvention arbeiten, statt sie zu
nicht nur an seinen Worten. Die Taten haben wir bei den negieren. Das ist das Signal, das wir heute nach Russ-
letzten Wahlen gesehen: massive Wahlfälschungen im land senden Aber viel mehr ist es das Signal unserer Un-
Vorfeld, aber auch während des Wahlprozesses. Meine terstützung für die Demonstranten, die für Demokratie
Kollegin Marieluise Beck hat es angesprochen – sie war und Menschenrechte und gegen Stillstand, Stagnation
selber für die Parlamentarische Versammlung des Euro- und Rechtsnihilismus auf die Straße gehen.
parates Wahlbeobachterin –: Wir erlebten befüllte Wahl- Vielen Dank.
urnen bereits vor Öffnung des Wahllokals, Soldaten, die
für ihre Kameraden abstimmten, ganze Belegschaften, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
denen man mit Kündigung drohte, falls sie nicht für die bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Regierungspartei Einiges Russland stimmen, und organi- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
sierte Mehrfachstimmabgaben. Dazu kommen die Be-
einflussungen und Einschränkungen vor der Wahl. So ist Vizepräsident Eduard Oswald:
die Partei PARNAS wieder nicht zugelassen worden; Vielen Dank, Frau Kollegin Marina Schuster. – Jetzt
man hat ihre Zulassung verhindert. Insofern muss man für die Fraktion Die Linke unser Kollege Stefan Liebich.
gerade ODIHR und Heidi Tagliavini für ihren klugen Bitte schön, Kollege Stefan Liebich.
Bericht loben, in dem sämtliche Verfehlungen bereits
vor der Wahl aufgedeckt wurden. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Stefan Liebich (DIE LINKE):
der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
stehen an der Seite der Hunderttausenden Russinnen und
Putin hat unabhängige Wahlbeobachter schon im Vor- Russen auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, in Sankt Pe-
feld der Wahlen als Judasse bezeichnet. Das zeugt natür- tersburg und Perm, die sich für freie und faire Wahlen
lich von einem großen Demokratiedefizit. Das zeugt und mehr Demokratie in ihrem Lande aussprechen.
aber auch von großer Nervosität und Angst vor Verlust
an Einfluss. Russland ist ein wichtiges europäisches Land, und
Russland ist ein entscheidender Akteur auf der interna-
Ich möchte auch die unabhängige Wahlbeobachter- tionalen Bühne, gerade wenn es um gemeinsame globale
organisation Golos erwähnen. Sie wurde von der Staats- Herausforderungen geht. Wir in Deutschland haben ein
17828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Stefan Liebich
(A) Interesse an einer guten Partnerschaft mit Russland, ge- Die Zahl derer, die sich ihre Bürgerrechte nicht mehr (C)
rade auch mit Blick auf die deutsch-russische Ge- einschränken lassen wollen, wächst. Im Wahlergebnis
schichte, wie es Herr Thönnes vorhin schon richtig er- zeigt sich weiter – das hat mein Kollege Wolfgang
wähnt hat. Wir setzen dabei nicht auf eine falsch Gehrcke vorhin schon erwähnt –, dass auch die wach-
verstandene Stabilität, die Veränderung durch Stillstand sende soziale Spaltung immer weniger akzeptiert wird.
oder autoritäre Regierungen ausschließt, sondern auf Dass die Armen immer ärmer und die Oligarchen immer
Stabilität, die durch die Beteiligung der Bürgerinnen und reicher werden, trifft auf Widerstand. Das finden wir
Bürger nachhaltig gestaltet wird. Die geplante Rochade sehr gut. Deshalb ist es ein wichtiges Zeichen, wenn der
zwischen Präsident und Ministerpräsident ist das Gegen- Bundestag den Demokratinnen und Demokraten Russ-
teil davon. Die Demokratie wird so behandelt, als sei sie lands, und zwar nicht den „lupenreinen“, sondern den
das Privatspielzeug zweier Herren. echten auf der Straße, zeigt, dass wir mit ihnen solida-
risch sind.
Deswegen finde ich es gut, dass mit der Parlaments-
wahl ein Zeichen gesetzt wurde, nämlich dass die Bürge- Aber – die Vorrednerinnen und Vorredner haben es
rinnen und Bürger in Russland eben nicht immer autori- angesprochen – wir können mehr tun als reden. Wir
täre Regierungen wählen oder ihnen folgen, weil das in müssen auch handeln.
Russland so Tradition habe, wie gern gesagt wurde. Das
wiegt ja umso schwerer, als die Wahlen und der Wahl- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
kampf nicht fair geführt wurden und der Verlauf selbst neten der FDP)
Fragen aufgeworfen hat, wie es die Organisation für Die Menschen müssen sich begegnen können. Das för-
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihrem Mit- dert Verständnis, Vertrauen und Solidarität. Das verän-
gliedstaat Russland vorhalten musste. Auch der zunächst dert vielleicht auch ein wenig in Russland. Eine ganz
erfolgte Einsatz staatlicher Gewalt gegen Demonstran- wesentliche Voraussetzung für mehr Kontakte ist die Er-
tinnen und Demonstranten und die Einschränkung politi- teilung von mehr Visa. Ich kann allen recht geben, die
scher Rechte wie der Versammlungs- und Medienfreiheit das bisher gesagt haben. Ich muss aber Sie, Herr
unmittelbar nach der Wahl sind nicht akzeptabel. Es ist Mißfelder, da konkret ansprechen: Es liegt letztlich an
absurd, wenn Ministerpräsident Putin das Ausland für Ihnen, an der CDU/CSU-Fraktion. Ich hoffe, dass es Ih-
die Proteste verantwortlich machen möchte. Nationalis- nen gelingt, dass sich die konservativen Innenpolitiker
mus und Wiederaufgreifen von Feindbildern zu Recht Ihrer Fraktion endlich einen Ruck geben
vergangener Zeiten sind die falschen Reaktionen auf die
Proteste. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Die konser-
vativen Außenpolitiker haben das schon ge-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- tan!)
(B) (D)
neten der CDU/CSU, der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) und zügig den Weg freimachen für mehr Freiheit der
Bürgerinnen und Bürger Russlands. Hier können wir real
Ich hatte kürzlich Besuch von Jewgenija Tschirikowa. handeln. Ich bitte Sie – ich weiß, viele in Ihrer Fraktion
Sie ist eine junge Frau, die um einen Wald, den Chimki- kämpfen dafür, aber es sind offenkundig noch nicht ge-
Wald in der Nähe von Moskau, kämpft. Dieser Wald soll nug –: Handeln Sie dort endlich!
durch eine Autobahn zerstört werden. Sie kämpft um
Beteiligungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern und (Beifall bei der LINKEN)
damit gegen die Arroganz der Macht. Sie kämpft gegen Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Putin
Baufirmen, die eher als eine Baumafia anzusehen sind. und Medwedew können nicht mehr so weitermachen wie
Sie kämpft gegen Korruption und Vetternwirtschaft, aber bisher. Der Druck der Straße, aber auch bleibende inter-
eben auch gegen die Interessen von dubiosen Tarnfirmen nationale Aufmerksamkeit sind dazu wichtig. Ich hoffe,
im Bunde mit einer großen Firma aus der Europäischen dass wir dazu hier heute einen kleinen Beitrag geleistet
Union, dem französischen Konzern Vinci. haben.
Frau Schuster, wenn Sie sagen, viele hätten sich mit
Danke schön.
dem System arrangiert, so ist festzustellen, dass dazu lei-
der auch Firmen aus Mitgliedstaaten der Europäischen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Union gehören. Da schadet der Westen der Demokratie. neten der SPD)
Denn gegen Umweltaktivisten und engagierte Bürger
vor Ort reichte nicht die massive bürokratische Schi- Vizepräsident Eduard Oswald:
kane, die es ohnehin gab. Nein, rechte Schlägertrupps
Vielen Dank, Kollege Liebich. – Nächster Redner für
sind gegen die Zelte friedlich demonstrierender Protes-
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Bernhard
tierer vorgegangen. Frau Tschirikowa und ihre Mitstrei-
Kaster. Bitte schön, Kollege Bernhard Kaster.
terinnen und Mitstreiter geben nicht auf. Sie kämpfen
weiter. Diese junge, mutige Frau, die den Bürgerprotest (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dort seit vielen Monaten anführt, gibt Anlass zur Hoff-
nung. Das ist die Zivilgesellschaft, die ein modernes Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Russland braucht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten und Kollegen! Ja, es ist viel in Bewegung in Russland.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die russische Gesellschaft ist in Bewegung. Viele spre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17829
Bernhard Kaster
(A) chen davon, wie überrascht man von dem Umfang der Man kann es übersetzen: Bürgerengagement bedingt (C)
Proteste und Demonstrationen und von dem Mut sei. Vertrauen in einen Staat.
Ja, man kann von dem Mut überrascht sein; aber über- Warum ist dieses Fass übergelaufen anlässlich der
rascht von der Unruhe und dem Aufbruch in der russi- Duma-Wahlen, anlässlich der bevorstehenden Präsiden-
schen Gesellschaft kann man eigentlich nicht sein, wenn tenwahl? Es ist deshalb übergelaufen, weil bei den Wah-
man in den letzten Monaten und Jahren in Russland in len selbst – das haben auch die Wochen davor deutlich
der Zivilgesellschaft unterwegs war. Es wächst das Be- gemacht – der wesentliche Kernbestandteil der Demo-
dürfnis nach Mitsprache und nach echter Demokratie. Es kratie gänzlich fehlte. Dieser Kernbestandteil heißt: die
wächst der Wille, sich als Bürger zu engagieren und sich Chance auf einen Wechsel. Die Menschen haben es ge-
aktiv einzubringen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit in spürt: Dieser Kernbestandteil hat gefehlt.
Russland hat sich in den letzten Jahren sehr wohl gravie-
rend verändert, steht aber immer stärker im Widerspruch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zu den tatsächlichen politischen Strukturen. Dieser Wi- der FDP – Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-
derspruch ist immer stärker geworden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das wird es
bei der Präsidentschaftswahl auch nicht ge-
Eine eigene Beobachtung dazu: Ich war vor einigen ben!)
Wochen Teilnehmer einer Veranstaltung in Moskau zum
Thema: Staat und Bürger, Bürgerengagement, Bürgerbe- Deutschland und Russland sind ja sowohl in der Poli-
teiligung. Sie fand statt in der „Gesellschaftskammer“. tik als auch in der Gesellschaft partnerschaftlich und
Wie in Russland insgesamt üblich, hat man auch die freundschaftlich eng miteinander verbunden. Deutsch-
Zivilgesellschaft in einen gesetzlich genau fixierten Rah- land genießt in Russland großes Ansehen als wichtigster
men eingeordnet. Ich sage Ihnen: Ob nun „Gesell- europäischer Partner. Deshalb sollten wir uns unserer be-
schaftskammer“ oder das Gesetz zur Registrierung von sonderen Verantwortung bewusst sein – und zwar klug,
Nichtregierungsorganisationen – das alles ist ein Wider- besonnen und verantwortungsvoll –, wenn Russland an
spruch in sich. Bei dieser Veranstaltung ist sehr deutlich einem politisch-gesellschaftlichen Scheideweg steht.
geworden, was unter der Oberfläche brodelt. Dort wurde
nicht nur über Bürgerengagement bei den Feuerwehren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gesprochen, sondern das Ganze war viel breiter angelegt. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Dabei hat man das gespürt. GRÜNEN)
Das Bedürfnis nach mehr Demokratie, nach mehr Lassen Sie mich sagen: Konkret sollten wir den Men-
Bürgerengagement, man spürt es in Gesprächen mit schen in Russland Mut machen, ihr bürgerschaftliches
(B) Austauschstudenten, man spürt es in der ganzen Breite Engagement nach Kräften stärken, den Rechtsstaat mit (D)
der Gesellschaft – von Künstlern genauso wie von Wirt- unabhängiger Justiz und Meinungsfreiheit unterstützen.
schaftsvertretern –, man spürt es und hört es, wenn man Wir sollten die Grundregeln der Demokratie einfordern,
in den zwischenzeitlich rund 100 russischen Städten un- um Demokratie in ihren Kernbestandteilen – das heißt:
terwegs ist, die enge, freundschaftliche Städtepartner- echtes Wahlrecht – auch zu praktizieren. Hier wurden
schaften nach Deutschland unterhalten. Auch in Russ- vor Jahren riesige Fehler gemacht, als das Wahlrecht
land hat die kommunale Selbstverwaltung schon viele noch einmal verändert und mit neuen Hürden versehen
Freunde gefunden. worden ist. Echter Wettbewerb sollte ermöglicht werden.
Wir sollten die Zivilgesellschaft insgesamt stärken durch
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist die Bot- weitere kommunale Partnerschaften, durch den Ausbau
schaft der jetzigen Proteste und Demonstrationen? Ist es des Jugendaustauschs – eben durch gesellschaftliche Zu-
alleine die Wahlauszählung im engeren Sinne? Nein, sie sammenarbeit und Austausch.
ist nur der Anlass, sie ist der Auslöser. Das hat das Fass
eben zum Überlaufen gebracht. Oder ist es eine konkrete Ich stimme allen Vorrednern zu: Wir können das
andere politische Parteienkonstellation, deren Wahlnie- Thema Visafreiheit und Visabedingungen konkret auf
derlage vielleicht angezweifelt wird? Nein, auch das ist den Weg bringen. Da sind wir schon Schritte weiter.
es nicht; denn die politischen Alternativen sind sehr un- Auch dem stimme ich aber zu: Maßstab dürfen hierbei
klar. nicht kriminelle Minderheiten sein, sondern Maßstab
muss die russische Gesellschaft in der Breite sein.
Die Botschaft der Proteste ist sehr eindeutig: Es geht
um mehr Demokratie, es geht um mehr Bürgergesell- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
schaft. Die Menschen in Russland möchten sich enga- FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
gieren für ihre Städte vor Ort, für die russische Gesell- DIE GRÜNEN)
schaft, für ihr Land. Die Bürger selbst – das Engagement
dieser Bürger – sind immer die eigentliche Stärke eines Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-
Landes. Bürgerengagement aber bedingt eine unabhän- schluss sagen: Wir sprechen immer gerne von den
gige Justiz, eine freie Presse sowie Meinungs- und De- deutsch-russischen Beziehungen im Sinne einer strategi-
monstrationsfreiheit. schen Partnerschaft bzw. einer Modernisierungspartner-
schaft. Vielleicht sollten wir eine Demokratiepartner-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schaft, eine Partnerschaft auch der Werte anstreben.
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
17830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Bernhard Kaster
(A) Leo Tolstoi hat so schön gesagt: „Es sind immer die (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ (C)
einfachsten Ideen, die außergewöhnliche Erfolge ha- DIE GRÜNEN]: Genau!)
ben.“ Ja, die Idee der Freiheit ist ganz einfach. Die Men-
100 von diesen Menschen sitzen noch in Haft, andere
schen in Russland sehen das auch so. Wir sollten Gesell-
müssen in den nächsten Wochen mit Administrativhaft
schaft und Politik dabei unterstützen.
rechnen. Auch diese Menschen haben unsere Aufmerk-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- samkeit und unsere Unterstützung im internationalen
neten der SPD und der LINKEN) Dialog verdient.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Eduard Oswald: sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. – Nächster der FDP)
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist jetzt für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Es ist auch nicht so, dass in Moskau nichts passiert. In
Bitte schön, Kollege Volker Beck. dieser Woche wurden der Chefredakteur Maxim
Kowalski von Kommersant und der Leiter der Media-
Holding von Kommersant, Andrej Galijew, entlassen,
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
weil sich die Zeitung erlaubt hat, dieses Foto zu veröf-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese von fentlichen, das ich Ihnen hier zeige. Das ist ein Wahl-
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam zettel mit einem Spruch, der Herrn Putin etwas beleidigt.
beantragte Aktuelle Stunde ist ein starkes Signal an die Es ist aber ein Zeitdokument. So etwas dürfen Journalis-
Demokratiebewegung in Russland. Wir als Deutscher ten dokumentieren, wenn Pressefreiheit herrscht. Wenn
Bundestag zeigen damit: Wir stehen an der Seite des rus- das der Grund ist, dass Journalisten ihre Stelle verlieren,
sischen Volkes, an der Seite der Demokratinnen und De- dann zeigt dies, wie es um die Pressefreiheit in Russland
mokraten in Russland und gegen eine Macht, die, wie bestellt ist. – Auch das passiert dieser Tage. Deshalb sind
Sie es gesagt haben, keinen Wechsel zulässt und letztlich wir auch jetzt in der Weihnachtszeit aufgefordert, wa-
keine Demokratie in der Zivilgesellschaft anerkennt. chen Auges nach Russland zu schauen und zu reagieren,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn – trotz der Besonnenheit der letzten Tage – die Re-
pression dort wieder zuschlagen sollte.
Präsident Putin hat das heute in seiner Rede wieder
dokumentiert, indem er die Opposition insgesamt diffa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mierte. Er rief allen Demonstrantinnen und Demonstran- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ten zu: Es gibt sicher auch Menschen mit russischem SPD und der FDP)
Pass, die im Interesse fremder Staaten und für fremdes Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sowohl (D)
(B)
Geld handeln. – Das ist infam. Damit wird versucht, den von der Politik als auch von der deutschen Wirtschaft
Protest in die Ecke des Unpatriotischen und des auslän- etwas weniger Naivität in der Betrachtung der innenpoli-
dischen Einflusses zu stellen. Ich befürchte auch, dass tischen Verhältnisse in Russland. Rainer Lindner, der
das der Beginn einer Kampagne gegen die demokrati- Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen
sche Opposition sein könnte. Wirtschaft, hat zu den Wahlen Anfang Dezember gesagt:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, dass wir in Russland die ersten freien
sowie bei Abgeordneten der FDP) Wahlen gesehen haben.
Wir als Deutscher Bundestag sollten uns den Forde- Da wird mir eigentlich nur noch übel.
rungen des Europäischen Parlaments anschließen: Die
Wahlen müssen unabhängig und international untersucht Sein Chef, Herr Cordes, hat noch einen draufgesetzt
werden. Wenn sich die Wahlverstöße bestätigen, muss es und gesagt, er wünsche Herrn Putin Erfolg bei den be-
zu Neuwahlen kommen. Neuwahlen setzen aber auch ei- vorstehenden Präsidentschaftswahlen.
nes voraus: Bei den Duma-Wahlen und bei den Präsi-
Das ist ein Schlag ins Gesicht der russischen Demo-
dentschaftswahlen müssen sowohl neue Bewerber als
kratinnen und Demokraten. Es darf nicht sein, dass wir
Kandidaten wie auch neue Parteien zugelassen werden.
wegschauen, bloß weil der Rubel rollt.
Das setzt eine massive Herabsetzung der Hürden für die
Registrierung voraus. Ansonsten können neue demokra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tische Kräfte das faktisch nicht schaffen. sowie der Abg. Gisela Piltz [FDP])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich muss sagen: Auch wir vonseiten der deutschen
sowie bei Abgeordneten der FDP) Politik sind da nicht immer klar und deutlich. Im Zusam-
menhang mit der Ermordung von Journalisten, Men-
Deshalb brauchen wir hier ein generelles Umdenken,
schenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten in den letz-
und wir müssen, glaube ich, gerade in diesen Tagen ge-
ten Jahren haben wir immer wieder vonseiten der
nauer hinschauen.
Bundesregierung gehört, man begrüße, dass Herr
Es war gut, dass es auf Moskaus Straßen nicht zu Ge- Medwedew eine unverzügliche und energische Aufklä-
walt gekommen ist, dass die Polizei besonnen gehandelt rung der Taten verspreche. Wir haben dabei immer aus-
hat. In vielen Provinzstädten aber – einschließlich der geklammert, dass wir diesen Satz schon hundertmal ge-
Metropole Sankt Petersburg – gab es über 400 Festnah- hört haben und die Täter jedes Mal nicht ermittelt, vor
men. Gericht gestellt und verurteilt wurden. Da darf man nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17831
Volker Beck (Köln)
(A) wegschauen und sich auf solche Sprachformeln der rus- stattfindet. Deutschland und Russland verbindet so viel: (C)
sischen Propaganda einlassen. Vielmehr muss man sa- Es gibt so viele Notwendigkeiten, dass Europa und
gen, dass man daran nicht glaubt, bis es tatsächlich zur Russland zusammenarbeiten; wir haben gemeinsam so
Aufklärung solcher Taten kommt und die Straflosigkeit viele Höhen und Tiefen, so viel schreckliche Gewalt und
der Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger in Russ- so viele kulturelle Höchstleistungen gemeinsam, dass
land ein Ende findet. wir gegenüber dem jeweils anderen nicht unaufmerksam
sein können.
Der Kollege Erler ist leider weg. Ich muss aber sagen:
Auch ich war über seine Pressemitteilung zu den russi- (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
schen Wahlen ein wenig erstaunt, weil sie mich ein biss- LINKE])
chen an die Sätze aus der Diskussion in der deutschen
Wirtschaft erinnert hat. Er bezeichnete die Wahlen als Deshalb müssen wir auf das schauen, was in Russland
Ausdruck einer gewissen Normalisierung der politischen geschieht.
Zustände in Russland und forderte, Putin müsse den Bei diesen Wahlen ist nicht weniger geschehen, als
Nachweis erbringen, dass er die dringend erforderliche dass der Putin‘sche Ansatz, vom Kreml aus ein Parteien-
Modernisierung des Landes voranbringen kann. Ich system zu etablieren, es für eine gelenkte Demokratie zu
glaube nicht, dass Putin die Modernisierung des Landes nutzen, die Vertikale der Macht auszubauen und damit
voranbringen will. Ich glaube auch nicht, dass Putin oder sowohl eine erfolgreiche Veränderung des Landes als
Medwedew ernsthaft gegen die Korruption und die auch alte Stärke und altes Ansehen zu erreichen, ge-
Rechtlosigkeit vorgehen wollen. Die Korruption ist im- scheitert ist. Die Menschen haben gemerkt, dass das
manenter Bestandteil des Systems der Partei Einiges nicht von ihnen ausgeht und dass es ihnen nichts nutzt,
Russland. sondern dass es nur einer Schicht nutzt, die maximal
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 10 Prozent der russischen Bevölkerung ausmacht.
SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Erich Russland ist ein reiches Land mit 80 Prozent wirklich
G. Fritz [CDU/CSU] und Marina Schuster armen Menschen. Zu den anderen 20 Prozent gehören
[FDP]) wahnsinnig Reiche in einem korrupten System – Herr
Die kommunistische Ideologie wurde durch korrupte Beck hat das gerade wunderbar beschrieben –, wo der
Verhältnisse ersetzt, und das hält die Maschinerie am eine auf den anderen angewiesen ist und so das System
Laufen. Die Simonie in diesen Organisationen macht weiter verstärkt.
keinen Sinn, wenn man die errungenen Positionen nicht (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
für Korruption ausbeuten kann. Deshalb brauchen wir DIE GRÜNEN]: Genau!)
(B) eine klare Sicht auf die Dinge. (D)
Es ist der wirtschaftlich freigesetzte, gut ausgebildete,
Bei aller Diplomatie – Russland ist ein wichtiger Part- erfolgreiche und mit Lebenszielen versehene junge Mit-
ner auf der Welt, ist unser Nachbar, ist Mitglied im UN- telstand. Es ist doch selbstverständlich, dass sich die
Sicherheitsrat – sollten wir in den russischen Verhältnis- Menschen, mit denen man das Land wirklich positiv ver-
sen nicht die Wahrheit übersehen. Das ist der erste ändern könnte – als Präsident, als Regierung, als Parla-
Schritt, den wir tun können – neben dem wichtigen ment –, auf Dauer eine weitere Entmündigung nicht ge-
Schritt, jetzt etwas für die Visafreiheit zu tun: für die rus- fallen lassen.
sische Jugend, die russischen Intellektuellen und die rus-
sischen Demokraten. Ich würde mir wünschen, dass sich (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ja!)
die Rednerinnen und Redner in dieser Debatte für einen
Wenn eine Regierung und ein Präsident so deutlich
diesbezüglichen Gruppenantrag zusammentun.
zeigen, dass sie nicht nur kein Vertrauen zu den Men-
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ schen haben – sonst würden sie dazu beitragen, dass
DIE GRÜNEN]: Genau! Gute Idee!) politische Entscheidungsstrukturen von unten wachsen –,
sondern dass sie sogar glauben, ihnen eine Rochade zwi-
Wir sind gemeinsam, fraktionsübergreifend davon über-
schen Präsident und Ministerpräsident zumuten zu kön-
zeugt. Es geht hier nicht darum, eine Partei, eine Regie-
nen, so als wenn es der Wahl gar nicht mehr bedürfte,
rung vorzuführen, sondern konkret darum, etwas für die
dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn der Schuss
Russinnen und Russen zu bewirken.
nach hinten losgeht. Deshalb haben wir allen Grund, de-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen zu danken, die jetzt zeigen, dass demokratische Sub-
stanz in Russland vorhanden ist, die zu unterstützen es
Vizepräsident Eduard Oswald: wert ist.
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. – Nächster Red- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
ner für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich hat Kollege Erler recht. Auch mir ist ein
Stein vom Herzen gefallen, dass es in Moskau nicht zu-
Erich G. Fritz (CDU/CSU): gegangen ist wie in Minsk oder in Damaskus. Aber das
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ist nur die halbe Wahrheit. Die gesetzlichen Grundlagen
Herren! Liebe Kollegen! Es ist gut, dass diese Debatte für den Umgang mit Demonstranten, wie er jetzt zu be-
17832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Erich G. Fritz
(A) obachten ist, wurden gerade erst geschaffen. Das ist kein sicherlich auch aufgrund der Aufforderung des Kollegen (C)
Überbleibsel aus einer alten Zeit. Es passiert eben, dass Beck, einen Antrag dazu erarbeiten wird.
der Repressionsapparat dennoch funktioniert. Natürlich
war es schön, dass Demonstranten, die auf einem fal- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er hat
schen Platz gelandet sind, von der Polizei zum richtigen geredet und ist sofort gegangen!)
geleitet und nicht wegen einer unangemeldeten Demon- Wir wünschen uns auf jeden Fall gemeinsam, dass es
stration verhaftet wurden. Natürlich war es gut, dass vor diesbezüglich vorangeht.
der Wahl Oppositionsparteien zum ersten Mal überhaupt
die Möglichkeit gehabt haben, sich auch in den staatli- Wenn man diese Debatte verfolgt, erkennt man, dass
chen Medien darzustellen. Natürlich ist es gut, dass so- wir alle um den richtigen Ton ringen. Hier war vorhin
gar im staatlichen Fernsehen über Wahlfälschung berich- von Anbiederung die Rede und auch von Anklage. Ich
tet wird. Aber wer genau hinschaut, der weiß, dass die glaube, wir versuchen, genau dazwischen einen Weg zu
Schere im Kopf funktioniert, weil man weiß, dass man finden. Als Mitglieder des deutschen Parlaments und als
nicht sicher ist, wenn man es zu deutlich macht. Mitglieder der Deutsch-Russischen Parlamentarier-
gruppe bauen wir immer wieder Kontakte auf und versu-
Die Forderung nach Transparenz ist allgegenwärtig. chen, den Dialog zu fördern. Wir weisen auf Missstände
Ohne zusätzliche Transparenz wird sich dieses Land hin, versuchen aber vor allem, Gesprächskanäle aufzu-
auch nicht ändern. Der Putin‘sche Gesellschaftsvertrag bauen, sodass wir unseren russischen Freunden mit auf
lautet: Ihr lasst mich mit meinem Netzwerk alles regeln, den Weg geben können, was uns hinsichtlich der Ent-
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ wicklung des Landes besorgt und an welchen Stellen wir
DIE GRÜNEN]: Ja, genau!) uns Veränderungen wünschen.
und ich verteile dafür so viel, dass alle irgendwie zu- Russland ist ein Land mit einer bewegenden und
rechtkommen. komplexen Geschichte. Die russische Bevölkerung hat
viele Herausforderungen zu meistern gehabt. Die Ge-
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE schichte zeigt, dass dieses Land es oft nicht leicht gehabt
GRÜNEN]: Nur die, die dazugehören!) hat. Aber die Menschen haben sich diesen Herausforde-
Keiner soll dabei stören, und wer stört, der kann sich an- rungen immer wieder gestellt, und sie sind heute stolz
schließend mit Chodorkowski die Zelle teilen. auf vieles, was sie in Russland erreicht haben. Die russi-
sche Gesellschaft befindet sich seit 20 Jahren auf dem
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Weg in Richtung Demokratie. Mir ist es deshalb beson-
DIE GRÜNEN]: Der landet in Lagerhaft! Ge- ders wichtig, dass wir uns, wenn wir heute über die ak-
(B) nau! Als persönlicher Gefangener von Putin!) tuellen Entwicklungen reden, bewusst machen, in (D)
welchem Ton wir reden. Wir sehen mit unserem demo-
Diese Art und Weise wird sich die russische Bevölke- kratischen Selbstverständnis, dass es richtig ist, Fehlent-
rung nicht mehr gefallen lassen. Die Menschen, die jetzt wicklungen in aller Deutlichkeit anzusprechen und sie
zeigen, dass sie politische Partizipation wollen und nicht zu kommentieren. Aber wir müssen aufpassen, dass wir
mehr manipuliert werden wollen, sind die, die Russland das nicht von oben herab tun, sondern wir müssen die
für eine positive Veränderung, für Stabilität und Prospe- Augenhöhe suchen. Wir haben eine gemeinsame Ge-
rität braucht. Das sind diejenigen, die die Zukunft dieses schichte mit Russland, aus der für uns eine große Verant-
Landes darstellen. Das sind diejenigen, auf die man set- wortung resultiert, wenn es um die Entwicklung dieses
zen muss. Deshalb sollten wir sie mit unserer ganzen Landes geht. Wir sollten uns daher selbst nicht erhöhen.
Solidarität und allen Möglichkeiten, die wir haben, un- Wir sollten aufpassen, wie wir aus der Distanz beurtei-
terstützen. len, und wir sollten nicht pauschalisieren. Russlands
Herzlichen Dank. Weg in die Demokratie war nicht immer einfach. Wir
Deutsche wissen selbst, wie schwierig, wie steinig Wege
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP hin zu einer Demokratie sein können und wie viele
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rückschläge man in Kauf zu nehmen hat.
Wenn wir die demokratischen und zivilgesellschaftli-
Vizepräsident Eduard Oswald:
chen Prozesse in Russland sehen, dann wissen wir: Das
Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. – Jetzt für die Frak- braucht Zeit. Wenn wir heute wahrnehmen, wie viele
tion der Sozialdemokraten unser Kollege Lars Klingbeil. Menschen in Russland den Willen haben, mehr Demo-
Bitte schön, Kollege Lars Klingbeil. kratie zu erfahren, dann sollten wir nicht den Zeigefinger
(Beifall bei der SPD) erheben, sondern versuchen, den richtigen Ton zu fin-
den. Wir brauchen keine neunmalklugen Ratschläge.
Das hilft den deutsch-russischen Beziehungen nicht, das
Lars Klingbeil (SPD):
hilft der russischen Bevölkerung nicht, und das hilft
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und auch der russischen Demokratie nicht.
Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte überfraktio-
nell führen. Wir alle blicken in diesen Tagen nach Russ- (Beifall bei der SPD und der LINKEN –
land und schauen auf die Ereignisse, die wir alle nicht Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
vorausgeahnt haben, auch nicht hinsichtlich der Dyna- DIE GRÜNEN]: Es gibt keine russische De-
mik. Wir haben eine interfraktionelle Arbeitsgruppe, die, mokratie! Sie haben überhaupt nichts verstan-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17833
Lars Klingbeil
(A) den! Sie reden wie Ihr ehemaliger Chef! – Wi- Freiheit des Netzes auch auf globalen Konferenzen und (C)
derspruch bei Abgeordneten der SPD) in globalen Abkommen stärken und dafür sorgen, dass
es hier keine Zensur gibt. Leider ist meine Redezeit jetzt
Der Frust der russischen Bevölkerung ist nachvoll- um. Ich hätte gerne noch einiges mehr gesagt. Frau
ziehbar. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft Beck, ich verstehe manchen Zwischenruf, den Sie hier
ist in eine Krise geraten, die in diesen Tagen sichtbar gemacht haben, nicht; denn ich glaube, dass wir in den
wird. Bilder im Internet und im Fernsehen haben die Ausführungen nicht weit auseinanderliegen.
Wahlfälschung offensichtlich gemacht. Hohe Zustim-
mungsraten waren in Russland keine Seltenheit, aber Herzlichen Dank fürs Zuhören.
jetzt erleben wir die Offensichtlichkeit der Wahlfäl- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schung. Das Internet spielt dabei eine große Rolle. Hie- der LINKEN)
rauf will ich gleich noch eingehen.
Große Teile der russischen Bevölkerung haben das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gefühl, dass sie nicht mehr ernst genommen werden, Das Wort hat nun Staatsministerin Cornelia Pieper.
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP)
Ja! So ist es!)
dass zwischen Staat und Gesellschaft ein Missverhältnis Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen
besteht, dass die Legitimität der russischen Regierung Amt:
schwindet. Legitimität ist eine Voraussetzung für zivil- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-
gesellschaftliche Entwicklungen, ist Voraussetzung für desregierung begrüßt ausdrücklich diese Aktuelle
eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und ist Vorausset- Stunde, die Sie interfraktionell beantragt haben.
zung für ein verlässliches politisches Handeln. Es liegt Ich teile im Übrigen Ihre Auffassung, Frau Kollegin
daher im Interesse Deutschlands und der Europäischen Beck, dass wir nicht von einer russischen Demokratie
Union, dass jetzt Aufklärung geleistet wird, dass Verant- nach unserem Verständnis sprechen können. Ich glaube,
wortlichkeiten benannt werden und dass die Legitima- Russland ist noch weit davon entfernt.
tion wieder gestärkt wird.
(Franz Thönnes [SPD]: Das ist ja auch kein
Die russische Parlamentswahl hat ebenso wie viele Wunder!)
andere Fälle in diesem Jahr gezeigt, welche Rolle das In-
ternet mittlerweile spielt, wenn es um die Stärkung de- Aber umso mehr haben mich persönlich, wie wahr-
mokratischer Prozesse geht. Internet bedeutet Freiheit, scheinlich auch Sie, die Bilder der vergangenen Tage be-
(B) Internet stärkt die Demokratie, und Internet stärkt die wegt, die wir aus Russland lange nicht mehr gesehen ha- (D)
Meinungsfreiheit. Noch am Tag der Wahl erschienen ben. Zehntausende versammeln sich friedlich, um ihrer
Videos auf Youtube, die Wahlfälschung zeigen. Internet- Forderung nach freien Wahlen Ausdruck zu verleihen.
videos sind mittlerweile ein wichtiges Medium, wenn es Wir waren Zeugen der größten Demonstration in Russ-
um Aufklärung, Transparenz und zivilgesellschaftliche land seit den frühen 90er-Jahren. Mich hat das an den
Kontrolle geht. Die Wahlbeobachtergruppe Golos hat Herbst 1989 im Osten Deutschlands erinnert. Das sollte
zusammen mit einer Internetzeitung eine Plattform ein- uns allen Hoffnung machen auf eine fortschrittliche, bes-
gerichtet, auf der Verstöße gegen das Wahlgesetz doku- sere Entwicklung hin zu einer Demokratie in Russland.
mentiert werden konnten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Wir können aus meiner Sicht nur begrüßen, dass die
DIE GRÜNEN]: Dagegen hat es aber inzwi- Versammlungen in Moskau und vielen anderen Städten
schen ein staatsanwaltschaftliches Verfahren am vergangenen Wochenende weitgehend friedlich ver-
gegeben! Das ist unglaublich, was er da sagt! – laufen sind. Dies ist ein Verdienst aller Beteiligten gewe-
Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE sen: der friedlich Demonstrierenden, aber auch der Si-
LINKE]: Hören Sie doch einmal zu!) cherheitskräfte.
– Lassen Sie mich bitte ausreden. Auch in Zukunft muss gewährleistet sein, dass sich
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwi- russische Bürger frei und friedlich versammeln und ihre
schenrufe sind erlaubt, Herr Klingbeil!) Meinung frei äußern können. Keine Gewalt gegen fried-
liche Demonstranten – das ist die klare Botschaft der
7 700 Verstöße wurden dort gemeldet. Die Informatio- Bundesregierung, übrigens nicht nur an die Adresse der
nen über Wahlfälschungen konnten in Echtzeit über russischen Regierung.
Twitter verbreitet werden, und Demonstrationen wurden
über Facebook organisiert. Wir appellieren außerdem an die russischen Behör-
den, Versammlungen nicht durch allzu enge Auflagen zu
Das alles zeigt uns, welche Rolle soziale Netzwerke beschränken. Die Verlegung der Demonstration in Mos-
heute spielen. Das ist auch eine Aufforderung an uns kau an einen Ort, der Zehntausenden Platz bietet, war ein
selbst, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als gutes Zeichen, aber das erwarten wir auch in Zukunft.
deutsches Parlament darauf achten, dass das Internet ge- Denn nicht in allen Städten zeigte sich die Verwaltung so
stärkt wird, dass wir ein freies Internet haben, dass wir offen für die Gewährleistung des Versammlungsrechts.
einen freien Zugang zum Internet haben, dass wir die Mancherorts kam es auch am vergangenen Wochenende
17834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Sonja Steffen
(A) ken, die uns in den Berichterstattergesprächen viel Kopf- her wäre das Geld für die Mediationskostenhilfe wirk- (C)
zerbrechen bereitet haben. Aber wir erinnern uns: Die lich sinnvoll und gut angelegt.
gerichtsinterne Mediation war immer nur als Instrument
Abschließend möchte ich sagen, dass dieses Gesetz-
geplant, um der Mediation bei ihrer allgemeinen Einfüh-
gebungsverfahren für mich ein sehr positives Beispiel
rung zu helfen. Sie ist als Modell von Anfang an nicht
für eine wirklich gute fraktionsübergreifende Zusam-
auf Dauer angelegt gewesen.
menarbeit war. Ich denke, das sehen alle Berichterstatte-
Ich meine, wir haben nun eine gute Lösung gefunden: rinnen und Berichterstatter der übrigen Fraktionen auch
Durch das nun bundesweit installierte Güterichtermodell so. Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Dr. Stadler
wird einerseits Rollenklarheit geschaffen. Andererseits und seinen sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitar-
bleibt aber die Möglichkeit erhalten, auch noch im lau- beitern bedanken, die uns in der ganzen Zeit sehr unter-
fenden Gerichtsverfahren mithilfe des Güterichters eine stützt haben.
einvernehmliche Beilegung des Konfliktes zu erreichen.
(Beifall im ganzen Hause)
Der Güterichter muss sich nicht – wie der frühere ge-
richtliche Mediator – jeder rechtlichen Bewertung ent- Meine Fraktion wird dem Gesetz zustimmen.
halten, sondern er kann eine rechtliche Bewertung vor- Vielen Dank.
nehmen und den Parteien konkrete Vorschläge zur
Lösung des Konfliktes anbieten. Viele Parteien suchen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nach einem solchen Vorschlag. Der Güterichter ist damit der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
zukünftig zwar kein klassischer Mediator mehr, aber er
kann in der Güteverhandlung zahlreiche Methoden der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Mediation einsetzen. Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-
Die Richtermediatoren haben in den letzten Jahren Fraktion.
bereits einen wichtigen Beitrag zur Etablierung der Me- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diation geleistet. Die Erfahrung, die hier an vielen Ge-
richten erlangt wurde, kann bei dem neuen Güterichter- Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
modell weiter genutzt werden. Es liegt nun in der Hand
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
der jeweiligen Gerichte, dieses Modell mit Leben zu fül-
Rechtspolitiker – das wissen alle, die anwesend sind –
len.
leiden immer darunter, dass unsere Debatten meistens in
Der letzte Punkt, der meiner Fraktion besonders wich- den späten Abendstunden bzw. zu einer nicht unbedingt
tig war, war die Einführung der Mediationskostenhilfe. attraktiven Plenarzeit stattfinden. Auch heute ist es
(B) (D)
Diese hat zu unserem Bedauern keinen verbindlichen durch die Verschiebung relativ spät geworden. Die De-
Eingang in den Gesetzentwurf gefunden, sondern es ist batte war zu einem früheren Zeitpunkt geplant. Es ist gut
lediglich die Möglichkeit eines Forschungsvorhabens und richtig, einmal zu einer etwas früheren Zeit über die-
zwischen Bund und Ländern vorgesehen. Dabei ist es ses so wichtige Thema diskutieren zu können.
meiner Meinung nach ein verfassungsrechtlicher Auf-
(Beifall im ganzen Hause)
trag, für eine Angleichung der Situation von wohlhaben-
den und mittellosen Personen im Bereich des Rechts- Wir kennen den Spruch, dass jeder vermiedene Pro-
schutzes zu sorgen. zess ein guter Prozess ist. Diese Aussage ist nicht nur
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten allgemein anerkannt, sondern mit der Verabschiedung
der FDP und der LINKEN) des heutigen Gesetzentwurfs leisten wir zur Verwirkli-
chung dieses Ziels einen ganz wesentlichen Beitrag. Das
Den ärmeren Parteien wird durch die fehlende Mög- ist gut und richtig so. Der Kollege Ahrendt erwähnte
lichkeit der Mediationskostenhilfe eine wesentliche vorhin, dass wir mit der Verabschiedung des Gesetzent-
Chance der Rechtewahrnehmung genommen. Im Famili- wurfs einen Meilenstein auf dem Weg zu einer veränder-
enrecht kann man dies vielleicht mithilfe des § 135 ten Streitkultur in Deutschland setzen. Auch das kann
FamFG kompensieren; denn darin ist die Möglichkeit man nur unterstreichen.
der kostenfreien Mediation vorgesehen. In allen anderen
Bereichen geht dies gegenwärtig aber nicht. Die Deutschen sind nicht nur ein Volk der Dichter
und Denker, sondern sie gelten auch als besonders streit-
Ich hoffe, dass dieses Forschungsvorhaben erfolg- freudig. Konflikte zwischen Nachbarn, zwischen Teil-
reich durchgeführt wird und dass wir dann in Zukunft, nehmern am Straßenverkehr, aber auch innerhalb von
nach der Evaluierung des Gesetzes, vielleicht auch die Familien münden nicht selten in ausweglose Gerichts-
Mediationskostenhilfe gesetzlich einführen können. verfahren, weil man meint, mit der Befassung der Ge-
richte recht zu bekommen. Solche Streitigkeiten werden
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
meist bis zum bitteren Ende ausgetragen. Selbst wenn
Abgeordneten der CDU/CSU)
ein rechtskräftiges Urteil einer Seite in der Sache formal
Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass wir mit der recht gibt, sind oftmals alle Seiten Verlierer. Der Kollege
außergerichtlichen einvernehmlichen Streitschlichtung Silberhorn aus meiner Fraktion hat in der ersten Lesung
nicht nur eine viel größere Zufriedenheit der Parteien zu diesem Gesetzentwurf gesagt, dass die Klärung einer
erreichen, sondern wahrscheinlich auch Kosten der ge- Rechtsfrage eben leider nicht immer mit der Befriedung
richtlichen Auseinandersetzung einsparen werden. Da- der Parteien einhergeht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17841
Andrea Astrid Voßhoff
(A) Vor diesem Hintergrund können Mediatoren helfen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (C)
Konflikte auf andere Art und Weise als durch ein Urteil SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
zu beenden, nämlich in einem Verfahren, in dem die Par- GRÜNEN)
teien mit Unterstützung des Mediators – das ist schon Wenn wir die gerichtsinterne Mediation, also das ei-
gesagt worden – nach einer Lösung suchen und diese gentliche Instrument der Mediation, als neues Leistungs-
dann – das ist besonders wichtig – eigenverantwortlich paket in die Justiz integriert hätten, dann hätten wir auch
ausgestalten und besiegeln. Damit können Streitigkeiten die Frage der Kostenregelung im Sinne der Wettbe-
häufig frühzeitiger, friedlicher und nachhaltiger gelöst werbsgleichheit mit der außergerichtlichen Klärung
werden als mit einem Urteil. regeln müssen. Gerade das wollten wir nicht, auch im In-
teresse der Bürgerinnen und Bürger, die von dem Ange-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bot, das wir künftig zur Verfügung stellen, nachhaltig
Frühzeitiger deshalb, weil eine Lösung gefunden Gebrauch machen sollen.
wird, bevor ein Rechtsstreit eskaliert und sich zwingend Demzufolge ist es nur zu begrüßen – vieles ist von
Anwälte und Richter damit befassen müssen; friedlicher, meinen Vorrednern gesagt worden –, dass dieses Gesetz
weil die Parteien selbst Herr des Verfahrens sind und da- in einem guten halben Jahr sehr intensiv beraten wurde.
her eine Lösung, wenn sie denn gefunden wird, bewusst Frau Ministerin, wir hatten eine gute Vorgabe aus dem
akzeptieren; nachhaltiger, weil eine dem äußerlichen Ministerium. In erster Linie darf ich meinem Bericht-
Konflikt zugrunde liegende Interessenlage und Span- erstatterkollegen von der FDP, Herrn Ahrendt, aber auch
nungslage erkannt, aber auch – das ist wichtig – gelöst dem Kollegen Sensburg ganz herzlich danken, die, wie
wird. ich glaube, einen guten Entwurf aus dem Ministerium
noch besser gemacht haben. Offenbar ist der heute in
Dass Mediation kein Allheilmittel ist und nicht auf diesem Hause vorgelegte Gesetzentwurf, auch dank der
alle Fälle passt, ist sicherlich nachvollziehbar. Mit Inte- Mitberatungen der Berichterstatter der Opposition, so
resse nehmen wir zur Kenntnis, dass die Berliner Grünen gut, dass er hoffentlich – wie im Rechtsausschuss –
die Mediation in der Politik gerade intern testen, interes- heute einstimmig angenommen wird. Auch das ist nicht
santerweise, meine Damen und Herren Kollegen von immer an der Tagesordnung. Es könnte ein gutes Vorbild
den Grünen, gar mit zwei Mediatoren. Wir haben gesagt, für weitere Initiativen sein. Die Opposition kritisiert die
dass wir nach geraumer Zeit die Entwicklung dieses Ge- Koalition oft genug für das, was sie vorlegt. Angesichts
setzes evaluieren werden. Wir schauen also mit sehr viel dessen ist das beste Lob für die Arbeit der Koalition die
Sorgfalt darauf, wie das mit zwei Mediatoren bei den einstimmige Zustimmung zu einem Gesetzentwurf. In
diesem Sinne kann ich nur hoffen und wünschen, dass es
(B) Berliner Grünen klappt. so kommt.
(D)
Was wir heute verabschieden – das ist hier schon von
Ich bitte auch das Justizministerium, für dieses Gesetz
meinen Vorrednern gesagt worden, und ich muss es nicht
aktiv in Form von Informationsbroschüren und Offensi-
in aller epischen Breite wiederholen –, nämlich in erster
ven zu werben. Die Kollegin Steffen sagte es: Nach einer
Linie die Installierung der außergerichtlichen Mediation, Allensbach-Studie können nur 65 Prozent der Bevölke-
ist ein sehr wichtiger und wesentlicher Schritt. Es ist gut rung zumindest etwas mit dem Begriff „Mediation“ an-
und richtig, dass wir in dieser Frage über die EU-Richtli- fangen. Ich habe aber auch gelesen, dass 41 Prozent der
nie, die das nur für grenzüberschreitende Rechtsstreitig- Mediation skeptisch gegenüberstehen. Deshalb sollten
keiten vorsah, hinausgehen. wir für dieses hervorragende Gesetz sehr offensiv wer-
ben – da setze ich auch auf das BMJ –, damit es bei den
Ich möchte in der Kürze der mir zur Verfügung ste-
Bürgern Akzeptanz findet. Vielleicht können wir in fünf
henden Zeit aber auch noch einmal betonen – der Kol-
Jahren im Großen und Ganzen zufrieden feststellen, wie
lege Ahrendt und die Kollegin Steffen haben es vorhin gut es war, dass wir heute einstimmig ein sehr gutes Ge-
gesagt –: Uns ereilen im Zusammenhang mit diesem Ge- setz auf den Weg gebracht haben.
setzgebungsverfahren, das heute zum Abschluss kommt,
auch kritische Bemerkungen, insbesondere der Länder- Vielen Dank.
justizminister. Mit Verlaub, über das eine oder andere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Schreiben ärgert man sich als Parlamentarier schon – je- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
denfalls von der inhaltlichen Diktion her –, weil der Ein- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
druck erweckt wird, die gerichtsinterne Mediation werde
ersatzlos abgeschafft, und das stimmt schlicht nicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Richter, die bisher als Mediatoren tätig waren, können Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die
ihre Erfahrung, ihr Wissen in dieser Frage im erweiterten Linke.
Güterichtermodell – das ist hier von den Kolleginnen
und Kollegen schon gesagt worden – weiterhin mehr (Beifall bei der LINKEN)
oder weniger einbringen. Demzufolge ist es misslich
– man muss es ja nicht gut finden, was wir hier Jens Petermann (DIE LINKE):
machen –, den Eindruck zu erwecken, wir schafften die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
gerichtliche Mediation ab. Aber genau das ist nicht der Damen und Herren! Was lange währt, sollte schlussend-
Fall. lich gut werden. Diese Formel kann man mit Fug und
17842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Jens Petermann
(A) Recht auch für das heute zu Ende gehende Gesetzge- und nichtanwaltlichen Mediatoren. Der anwaltliche Me- (C)
bungsverfahren bemühen. Es wird hoffentlich heute sei- diator ist zum Beispiel zur Zeugnisverweigerung nach
nen Abschluss im Bundestag finden; ich bin da sehr op- Zivil- und Strafprozessordnung berechtigt. Ob dies auch
timistisch. für den nichtanwaltlichen Mediator gilt, ist höchst um-
stritten und wird in einer Vielzahl von Fachaufsätzen
Frau Ministerin, der Entwurf aus Ihrem Haus ist ge- kontrovers diskutiert. Das betrifft auch den Umgang mit
genüber der ursprünglichen Drucksache so weit nachge- Urkunden, Zeugen und die Vertraulichkeit von Aussa-
bessert, dass heute auch die Linke zustimmen kann. Das gen.
hatte ich bereits in der ersten Lesung in Aussicht gestellt,
und da lasse ich mich gern beim Wort nehmen. Die Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens wird
sich letztlich nur durch eine Mediationsvereinbarung,
Der vorliegende Text ist ein Kompromiss, der die In- die ein ganzes Bündel notwendiger Vertragsklauseln ent-
teressen der Beteiligten weitgehend berücksichtigt und halten muss, sicherstellen lassen. Eine klare gesetzliche
vor allem aufgrund wesentlicher Impulse aus dem Parla- Regelung wäre hier sicher hilfreich gewesen. An dieser
ment selbst zustande gekommen ist. Daher lohnt sich ein Stelle wird die Praxis zeigen, ob mit den gewählten For-
Blick in die Historie. mulierungen den Interessen der Rechtsanwender ausrei-
Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat und chend Rechnung getragen wurde.
das Europäische Parlament den Mitgliedsländern den Neben den Regelungen zur außergerichtlichen Media-
Auftrag, für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- tion sieht der Entwurf auch vor, die bisher praktizierten
und Handelssachen den Zugang zur Mediation zu för- unterschiedlichen Modelle der gerichtsinternen Media-
dern und innerhalb von drei Jahren ein entsprechendes tion mit einer Übergangsfrist zu beenden und stattdessen
Landesgesetz auf den Weg zu bringen. Am 4. August ein erheblich erweitertes Institut des Güterichters einzu-
2010 veröffentlichte das Ministerium dann den ersten führen und auch die Verfahren der Fachgerichtsbarkeit
Referentenentwurf, dem acht Monate später ein durchaus zu erweitern. Die bereits in einigen Bundesländern prak-
ambitionierter Gesetzentwurf folgte. Im Rechtsaus- tizierten Güterichtermodelle werden somit bundesweit
schuss führten wir dann zeitnah eine Sachverständigen- auf alle Gerichtsbarkeiten übertragen.
anhörung durch, der sodann eine Reihe von Bericht-
erstattergesprächen folgte. An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass
der nun vorliegende Kompromiss sowohl bei Richterver-
Mit dem jetzt vorliegenden Änderungsantrag hat die bänden als auch bei einigen Justizministern zu erhebli-
Koalition die Vorschläge der Berichterstatter weitgehend cher Kritik geführt hat. Das ist hier schon von verschie-
aufgegriffen und umgesetzt. Eingeflossen ist dabei übri- denen Kollegen angeführt worden. Ich stimme mit den
(B) gens auch ein Entschließungsantrag der Linksfraktion Kritikern insoweit überein, als es zu den Aufgaben der (D)
vom 11. April 2011. Zentrale Fragen der Berufsausbil- Gerichte gehört, schlichtend tätig zu werden. Sicher ha-
dung, der -zulassung und -ausübung sowie der Fort- und ben die bisherigen Modelle einer gerichtsinternen Me-
Weiterbildung der Mediatoren sind nunmehr sachgerecht diation diesem Anliegen Rechnung getragen, aber eben
geregelt. Die für die sachkundige Durchführung der Me- auch nur dort, wo derartige Modelle tatsächlich instal-
diation erforderliche Qualifikation wird damit zukünftig liert und praktiziert worden sind. Das passierte eher zu-
gewährleistet sein. fällig und stellte kein flächendeckendes Angebot sicher.
Mit der bundesweiten Einführung eines Güterichter-
Mit der geplanten Zertifizierung, einer Art TÜV für
modells in allen Gerichtsbarkeiten wird dem Recht-
Mediatoren, wird es außerdem bundesweit einheitliche
suchenden nun qualitativ und quantitativ ein neues An-
Standards geben. Hinsichtlich der bislang unzureichend
gebot der konfliktlosen Streitbeilegung unterbreitet. Das
beantworteten Frage der Mediationskosten zeigt § 7 des
Entwurfs in Anlehnung an die Regelungen zur Prozess- ist eine echte Innovation.
kostenhilfe einen Weg zur Förderung der Mediation auf. An den Gerichten, an denen Erfahrungen mit ge-
Die Zuweisung von Bundesmitteln ist daran geknüpft, richtsinterner Mediation gemacht wurden, werden diese
dass zwischen dem Bund und den Ländern Forschungs- Erfahrungen weiter im Rahmen des Güterichterverfah-
vorhaben vereinbart werden, auf deren Grundlage dann rens genutzt werden können. Das wurde von den Vorred-
im Einzelfall eine Mediationskostenhilfe gezahlt werden nern schon gesagt. Auch ich bin davon überzeugt, dass
kann. Ob tatsächlich ein Rechtsanspruch des Hilfebe- das gelingt.
dürftigen besteht, ergibt sich daraus leider nicht. Er ist
damit nicht hundertprozentig gewährleistet. Es bleibt Den Befürwortern der gerichtsinternen Mediation ist
aber zu hoffen, dass der Bund ausreichende Mittel zur noch entgegenzuhalten, dass mit einer Tätigkeit als
Verfügung stellt und die Länder sodann auf diese Mittel Richtermediator ungeklärte und höchst strittige verfas-
auch zurückgreifen. Sollte dies nicht gelingen, droht eine sungsrechtliche Fragen, wie die der Vereinbarkeit der
soziale Schieflage, da der Zugang zur Mediation für so- Tätigkeit als Mediator mit dem Grundsatz der richterli-
zial Schwache erschwert würde. chen Unabhängigkeit und der Gewaltenteilung, verbun-
den waren. Rechtsvergleichende Studien haben belegt,
Die bisherige Regelung in § 4 zur Verschwiegenheits- dass die Mediation überwiegend nicht gerichtsintern an-
pflicht wirft eine Reihe von Auslegungsfragen auf, zum geboten wird. Ich halte es dennoch für notwendig, mit
Beispiel, ob ein als Zeuge benannter und geladener Me- den Kritikern des vorliegenden Entwurfes den Dialog zu
diator allgemein nach dem Prozessrecht aussagen muss. suchen und dabei insbesondere die kritischen Fragen
Außerdem gibt es Unterschiede zwischen anwaltlichen hinsichtlich der Vereinbarkeit der Richtermediation mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17843
Jens Petermann
(A) dem Verfassungsrecht zu erörtern. Da sehe ich mich mit „Der Beziehungsaspekt dominiert … den Inhaltsaspekt.“ – (C)
Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das bedeutet, dass eine echte Konfliktlösung in diesen
Fällen die Kommunikations- und Beziehungsebene mit-
Denn eines hat die parlamentarische Diskussion um
berücksichtigen muss.
den vorliegenden Gesetzentwurf gezeigt: Nur verständ-
nisvolles Zuhören und Eingehen auf die Argumente des In der Mediation sitzen die Kontrahenten an einem
jeweils anderen können zu einem Interessenausgleich Tisch. Sie suchen unter Vermittlung eines freigewählten
führen. In diesem Sinne ist das heute zu beschließende Mediators eine Lösung für ihren Konflikt. Auseinander-
Gesetz eine kleine Erfolgsgeschichte und darf sich auch setzungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern in ei-
unserer Zustimmung erfreuen. nem Unternehmen können oft im Gespräch gelöst wer-
den. Auch Streitigkeiten zwischen Mietern und Vermie-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
tern, Zank zwischen Nachbarn um die Thujahecke, For-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem derungen zwischen Firmen aufgrund von Qualitätsmän-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geln oder Interessenunterschiede zwischen Gesellschaf-
geordneten der CDU/CSU und der FDP) tern eines Unternehmens – all diese Konflikte müssen
nicht zwangsläufig vor Gericht landen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Und wer einmal eine hochstreitige Erbauseinander-
Das Wort erhält nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion setzung durchgeführt hat oder wer in nervenaufreiben-
Bündnis 90/Die Grünen. den Scheidungsfällen Schriftwechsel, Gutachten und
Kindesanhörungen miterlebt hat, der weiß, dass hier ne-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben juristischen Kompetenzen sehr stark auch kommuni-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kative und professionelle Mediationskompetenzen ge-
Frau Ministerin! Der heutige Tag ist ein Festtag. Der fragt sind.
heutige Tag ist ein Feiertag für alle Bürgerinnen und Mit dem Mediationsgesetz regeln wir jetzt das Wer,
Bürger, die in unserem Land eine andere Konfliktkultur Wo und Wie der Mediation. Wir regeln die Qualitäts-
und eine bessere Streitkultur wollen. standards für Mediatoren. Wir legen als Voraussetzung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine anspruchsvolle Ausbildung für sie fest; denn Me-
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der diatoren brauchen eine hohe Kompetenz.
SPD) (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])
Mit der Verabschiedung dieses ersten Gesetzes zur För- Um hinsichtlich dieser Kompetenzen die Möglichkei-
(B) derung der Mediation und anderer Verfahren der außer- ten voll auszuschöpfen, brauchen wir Mediatoren mit (D)
gerichtlichen Konfliktbeilegung in Deutschland läuten unterschiedlichen Quellberufen. Juristen, Psychologen,
wir eine neue Ära im Bereich alternativer Konfliktlösun- Pädagogen oder auch Mitglieder anderer Berufsgruppen
gen ein. können und sollen exzellente Mediatoren werden; sie
Wenn wir dieses Gesetz mit seinen Chancen in der sollen mit menschlichen Beziehungen und auch hohen
Praxis ausschöpfen, haben wir ungeahnte Möglichkei- Sachwerten professionell umgehen können.
ten, das Rechtsempfinden unserer Bürgerinnen und Bür- In den letzten Monaten haben wir interfraktionell
ger nachhaltig zu stärken. Wir ermöglichen Konfliktpart- – leidenschaftlich und sachlich zugleich – um die besten
nern – ob Einzelpersonen, Unternehmen oder Verwal- Ergebnisse gerungen. Wir haben Fachgespräche und An-
tungen – die Anwendung eines neuen zwischenmensch- hörungen durchgeführt. Wir haben über den Tellerrand
lichen und juristischen Koordinatensystems. Mit diesem geschaut und uns Anregungen aus anderen Ländern
Gesetz erleichtern wir Konfliktpartnern, die Lösung ih- – aus den Niederlanden, Österreich, Norwegen, den
res Konflikts selbstverantwortlich in die eigene Hand zu USA und weiteren Staaten – geholt. Auch haben wir
nehmen. heiße Eisen angepackt und uns der Verantwortung ge-
Ich sage – und das auch als Juristin – mit großer stellt, um hier klare Vorgaben zu machen.
Überzeugung: Wir haben in Deutschland eines der bes- Es gibt einige Bundesländer, in denen richterliche
ten juristischen Systeme. Und: Es gibt Konfliktfälle, die Mediation praktiziert wird. In vielen anderen Bundeslän-
brauchen eine klare und konsequente Aufarbeitung in ju- dern aber findet diese Praxis überhaupt nicht statt. Aus
ristischer Hinsicht. Aber: Nicht jeder Konfliktfall ist ein Gründen der Klarheit, der Transparenz und auch einer
juristischer Konflikt. Bei unseren Gerichten landen jedes juristisch eindeutigen Aufgabenverteilung haben wir uns
Jahr Zigtausende von Gerichtsverfahren, die im Kern im Gesetz für das Güterichtermodell entschieden, wie es
keinen juristischen, sondern einen anderen Lösungsweg schon in Bayern und Thüringen erfolgreich praktiziert
brauchen. wird. Richter können hier als Güterichter auch weiterhin
Wir alle wissen doch aus eigener Lebenserfahrung all ihre mediativen Kompetenzen zum Wohle der Streit-
– ganz gleich, welchen Beruf wir haben –: Es geht sehr parteien einsetzen.
oft ums Prinzip. Sprachlosigkeit führt häufig zum Recht-
(Beifall im ganzen Hause)
habenwollen, und dann geht es nicht mehr darum, die
beste Lösung zu finden. An dieser Stelle können Media- Eine vollumfängliche Mediation mit dem hierfür nöti-
toren helfen, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. gen Setting – wie zum Beispiel ausreichend Zeit für Ge-
Denn bei Konflikten gilt der Satz von Paul Watzlawick: spräche, hierarchiefreie Rahmenbedingungen, freie Me-
17844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ingrid Hönlinger
(A) diatorenwahl und Einbeziehung von Stakeholdern – Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): (C)
braucht aber ihren eigenen privatautonomen Raum und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Rahmen. Diese Erkenntnis haben wir im Laufe der Bera- Meine Damen und Herren! Fast kein Gesetz verlässt den
tungen gewonnen. Deshalb müssen wir hier auch be- Deutschen Bundestag so, wie die Bundesregierung es
grifflich eindeutig und unmissverständlich sein, und wir eingebracht hat.
müssen dafür sorgen, dass keine unnötigen Konflikt-
linien entstehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das mag nicht bei jedem Gesetz so sein, es ist aber bei
Deshalb möchte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
diesem Gesetz der Fall gewesen. Obwohl der Referen-
gen, und auch die verehrten Richterinnen und Richter
ten- und der Kabinettsentwurf – sie haben sich in Details
bitten, diese Entscheidung mitzutragen und auch in die
unterschieden – gute Voraussetzungen lieferten, eine
Länder zu kommunizieren. Richter, die Mediation als al-
Weichenstellung im deutschen Rechtssystem zu ermög-
ternative Konfliktlösung praktizieren wollen, können
lichen, waren es die Fraktionen, die gearbeitet, verbes-
das im Rahmen ihrer richterlichen Kompetenz weiterhin
sert und Lösungen gefunden haben, um das Mediations-
tun. Einen Streit um Worte sollten wir hier wirklich nicht
gesetz, das wir heute verabschieden wollen, zu einem
entfachen.
Erfolgsgesetzeswerk werden zu lassen.
(Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Meine Damen und Herren Kollegen, mit dem Media- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
tionsgesetz gehen wir einen großen Schritt nach vorn. NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Weitere müssen zügig folgen. Die nächste große Heraus- Das Gesetz ist eine Weichenstellung – ja! –; aber Me-
forderung besteht in der Einführung einer Mediations- diation ist nun wirklich kein neues Verfahren. Es ist für
kostenhilfe. Es ist, wie wir alle wissen, so: Streitparteien, uns neu, dass wir es jetzt in Gesetzesform gießen; aber
die sich Gerichtsverfahren finanziell nicht leisten kön- es geht hier um ein Verfahren, das sich viele Jahrhun-
nen, haben Anspruch auf Prozesskosten- oder Verfahrens- derte, teilweise Jahrtausende zurückverfolgen lässt:
kostenhilfe. Mit der Mediationskostenhilfe sollten wir
dafür sorgen, dass Mediation für alle – unabhängig vom Bereits im Jahre 594 vor Christus gab es in Athen den
Einkommen – möglich ist. Wir sehen hier eine erhebli- Titel „Archon und Diallaktes“, also höchster Beamter
che Chance zur Entlastung der Gerichte und auch zur und zugleich Schiedsrichter oder, wie man vielleicht
Kostendämpfung. Deshalb wäre es wünschenswert, dass besser sagen sollte, Versöhner. Auch da findet sich schon
sich möglichst viele Bundesländer möglichst schnell an der Gedanke, dass es nicht immer nur kontradiktorische
Entscheidungen geben darf, sondern es Interessen gibt,
(B) den Forschungsvorhaben zur Mediationskostenhilfe, die die man besser zum Ausgleich bringt, wenn man den (D)
wir im Gesetz auch vorgesehen haben, beteiligen. Der
Erfolg des Gesetzes hängt davon ab, dass die Justiz in versöhnenden Ansatz wählt.
den Ländern die neuen Chancen und Möglichkeiten die- Es wäre auch beim Westfälischen Frieden nicht ge-
ses Gesetzes zielstrebig nutzt. lungen, die unterschiedlichsten Interessen der Kriegspar-
Mit diesem Mediationsgesetz haben wir das momen- teien in Einklang zu bringen, wenn es nicht Alvise
tan Bestmögliche erreicht. Wir stellen hier dem Hoheits- Contarini gegeben hätte, der dies geschafft hat, weil er
akt der Konfliktaustragung durch eine Entscheidung des von allen Parteien anerkannt war und das Vertrauen der
Gerichts eine alternative, konsensuale und selbstregulie- Parteien genoss, an dieser Stelle einen Ausgleich der In-
rende Form der Konfliktlösung zur Seite. Damit schaf- teressen zu erreichen.
fen wir eine Win-win-Situation für die Bürgerinnen und Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hat der Gedanke
Bürger, die Gerichte und die Mediatoren. Damit eröffnen der Mediation, des Ausgleichs der Interessen gerade im
wir allen die Möglichkeit, Konflikte auf neue Art zu lö- wirtschaftlichen Bereich, in den Vereinigten Staaten Fuß
sen. gefasst, um einen besseren Weg zu finden und, wie es
Kollegin Hönlinger gerade gesagt hat, zu einer Win-win-
Ich danke ganz herzlich allen: der Ministerin, ihren Situation zu kommen, also nicht eine Partei obsiegen zu
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Kolleginnen und lassen und die andere unzufrieden von dannen ziehen zu
Kollegen im Rechtsausschuss und den Verbänden. Ihnen lassen, sondern herauszuarbeiten, wo in einem Konflikt
allen danke ich dafür, dass wir in einer überfraktionellen die wirklichen Interessen liegen, und dann möglicher-
und sachorientierten Zusammenarbeit ein gutes Gesetz weise – in vielen Fällen, in viel mehr Fällen, als man
geschaffen haben. denkt, geht das – zu einem Ergebnis zu kommen, bei
Vielen Dank. dem beide Parteien erkennen, dass ihre Interessen be-
rücksichtigt worden sind.
(Beifall im ganzen Hause)
Auch die Europäische Union hat beim Europäischen
Rat von Tampere 1999 erkannt, dass die außergericht-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: liche Streitbeilegung in den Mitgliedstaaten befördert
Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/ werden muss. Über einzelne Schritte, vom Grünbuch bis
CSU-Fraktion. hin zur Richtlinie, die wir heute mit leichter Verspätung
umsetzen wollen, ist es gelungen, diesen neuen Weg zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beschreiten und diese Weichenstellung vorzunehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17845
Dr. Patrick Sensburg
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ist, wird ein Protokoll nur dann verfasst, wenn dies beide (C)
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Parteien wirklich wollen. Damit haben wir die Unter-
GRÜNEN) schiede so gering wie möglich gehalten, sodass beide
Modelle akzeptiert werden und nebeneinander stehen
Was ist nun das Besondere an diesem Gesetz? Es ist
können. Aber es ist das erklärte Ziel – auch das sage ich
schon an vielen Stellen angesprochen worden: Das Be-
deutlich –, die außergerichtliche Mediation zu stärken;
sondere ist die Entscheidung, die außergerichtliche Streit-
denn jeder Prozess, der vermieden werden kann, weil es
beilegung bzw. Mediation zu stärken und zu sagen: Wir
zu einem gütlichen Ausgleich, zu einer Win-win-Situa-
wollen bundesweit ein Güterichtermodell etablieren und
tion kommt, ist ein Vorteil; das ist unser Ziel.
wissen, dass auch in diesem Rahmen alle mediativen
Elemente, die bisher in vielen guten Projekten in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Bundesländern angewendet worden sind, angewendet SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
werden können. GRÜNEN)
Ich hätte mir gewünscht, dass die Bank des Bundesra- Wir wollen die Qualitätssicherung durch Mindest-
tes heute etwas besser gefüllt wäre. standards erreichen. Über Mindeststandards kann man
(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) natürlich hinausgehen. Wir haben uns auf 120 Stunden
geeinigt. Hinzu kommen hinterlegte Inhalte, die wir in
Denn es gab im Vorfeld viele Diskussionen, Anrufe und einer Verordnung regeln wollen, die es noch zu verab-
Schreiben. Ich wundere mich, dass die Bundesratsbank schieden gilt. Wir haben auch Sorge dafür getragen, dass
heute leider nicht voll besetzt ist. die Altfälle, die bisherigen Mediatoren, berücksichtigt
werden, die bisher noch nicht die 120 Stunden erreichen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
konnten, um sich zertifizierter Mediator nennen zu kön-
SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND-
nen, in der Praxis bisher aber gute Arbeit geleistet haben.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Diese erfahren damit auch Anerkennung.
Gleichzeitig muss ich aber sagen: In den Gesprächen,
die ich geführt habe, ist deutlich geworden, dass die Wir haben eine weitere Änderung im Bereich der
Bundesländer erkannt haben, dass dieser Gesetzentwurf Vollstreckbarkeit vorgesehen – eines der drei Vs der eu-
sehr ausgewogen ist, dass die Fähigkeiten und Kompe- ropäischen Richtlinie –, indem wir gesagt haben: Wir
tenzen, die im Rahmen der Projekte, die gute Arbeit ge- wollen die Vollstreckbarkeit über die bestehenden Nor-
leistet haben, die die Mediation vorangebracht haben, men der ZPO erreichen, nämlich durch die Protokollie-
weil Richter dafür begeistert worden sind, entwickelt rung bei einem deutschen Gericht, die Beurkundung bei
worden sind, auch in Zukunft genutzt werden können. einem Notar oder die Vereinbarung in Form eines an-
(B)
Dafür haben wir gesorgt; auch das war uns wichtig. waltlichen Vergleichs. Damit erfüllen wir die Richtlinie (D)
und erreichen die Vollstreckbarkeit der im Rahmen der
Die Alternative wäre nämlich ein Kostenmodell ge- Mediation erzielten Ergebnisse. Das ist eine sehr ausge-
wesen. Dazu haben wir am 25. Mai eine Anhörung wogene Regelung, die dem Mediationsgesetz und der
durchgeführt, auf der die Experten und Sachverständi- Mediationsrichtlinie Rechnung trägt.
gen die Meinung geäußert haben, dass ein Kostenmodell
nicht der bessere Weg ist. Dies entspricht der Rückmel- Ich möchte an dieser Stelle allen Berichterstattern für
dung aus den Bundesländern, dass hier das Güterichter- die exzellente Zusammenarbeit danken. Wir haben über
modell zu bevorzugen ist. Wir haben schon die Hoff- alle Fraktionen hinweg das Ziel gehabt, ein gutes Gesetz
nung, dass die mediativen Elemente auch weiterhin von zu verabschieden. Ich möchte Herrn Kollegen Ahrendt
den Richtern genutzt und gefördert werden. danken, dass er immer wieder auf die Frage wert gelegt
hat: Wer zertifiziert die Zertifizierer?
Die Kollegin Steffen und der Kollege Petermann ha-
ben es gesagt: Wir dehnen die Mediation auch auf die (Beifall des Abg. Stephan Thomae [FDP])
Bereiche aus, in denen teilweise Skepsis herrschte: auf Er hat auch die Qualitätssicherung im Blick behalten.
die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbar- Ich möchte der Kollegin Steffen danken, die dafür ge-
keit und die Arbeitsgerichtsbarkeit. Denn wir wissen: sorgt hat, dass wir die Mediationskostenhilfe nicht aus
Mediation ist ein freiwilliges Verfahren; wenn die Par- den Augen verlieren.
teien die Mediation nicht akzeptieren, können sie gar
nicht dazu gezwungen werden. Insofern ist es gut, diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Chance in jedem Bereich zu eröffnen, also zu sagen: Abg. Stephan Thomae [FDP])
Wenn Interessen im Rahmen einer Mediation zum Aus-
Ich möchte der Kollegin Hönlinger danken, die sich auf
gleich gebracht werden können, dann nutzen wir die
verschiedene Fragen konzentriert hat, zum Beispiel da-
Chancen, die uns das Mediationsverfahren bietet.
rauf, welche Ausbildung die Zertifizierer mitbringen
Wir haben versucht, die Brüche, die natürlich vorhan- müssen. Sie hat auf die Qualitätssicherung geachtet und
den sind, weil Güterichtermodell und Mediation nicht auch auf die Beantwortung der Frage, wie lange es dau-
eins zu eins das Gleiche sind, möglichst gering zu halten, ern wird, bis wir das neue Modell einführen können. Der
und zwar – das hat der Kollege Ahrendt angesprochen – Kollege Petermann hat auch noch in den letzten Gesprä-
durch § 159 Abs. 2 ZPO, wo wir sagen: Wenn die Be- chen auf die wissenschaftlichen Forschungsvorhaben
sorgnis besteht, dass die Vertraulichkeit, die bei der Me- nach § 6 hingewiesen. Alle Fraktionen haben sich einge-
diation gegeben ist, im Güterichtermodell nicht gegeben bracht. Dieses Ergebnis wäre nicht erzielt worden, wenn
17846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ich begrüße ganz ausdrücklich auch § 8 des neuen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetzes, die Berichtspflicht. Ich habe mich sehr ge- NEN]: Etwas anderes wäre bei der Mediation
freut, dass die Aus- und Fortbildung explizit erwähnt auch gar nicht möglich!)
wird, dass nicht nur gesagt wird: „Wir evaluieren das
Gesetz“, sondern direkt hineingeschrieben worden ist: Hier waren hervorragende Mediatoren am Werk, denen
„Wir achten dabei auch auf die Aus- und Fortbildung“, wir zu Dank verpflichtet sind. Das gilt für die beiden Be-
und das Justizministerium in fünf Jahren darüber Bericht richterstatter der Koalitionsfraktionen, aber natürlich
erstatten muss. Wir alle werden sicherlich ganz genau auch für die Berichterstatter der Opposition. Dank aller
hinschauen, wie sich das entwickelt, und dann gemein- ist ein gutes Gesetz zustande gekommen. Ihnen, Frau
sam schauen, ob die Regelungen, die wir heute vereinba- Ministerin, gebührt Dank dafür, dass die Initiative über-
ren, ausreichen oder noch etwas verbessert werden müs- haupt gekommen ist und dass wir auf diese Weise eine
sen. gute Ergänzung unseres Instrumentenkastens gefunden
haben, um Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft her-
Ich finde auch den Vorschlag, der in der Diskussion zustellen.
ist, eine Institution damit zu beauftragen, auf die Aus-
und Fortbildung genau zu achten und zu schauen, wie Die deutsche Justiz genießt ein hohes Ansehen – im
die beteiligten Akteure agieren, gut. Eine Stiftung dafür Ausland wie auch in unserer Bevölkerung. Die Verfah-
einzurichten, halte ich für eine gute Idee. Ich finde, das ren werden von fachkundigen Richterinnen und Richtern
zügig durchgeführt, von Ausnahmen einmal abgesehen.
(B) sollten wir in der weiteren Debatte auf jeden Fall noch Unsere Justiz genießt nicht ohne Grund ein so hohes (D)
einmal besprechen.
Vertrauen, sodass sie jetzt sehr stark belastet ist; denn
Ich will ganz kurz auf die Richtlinie hinweisen. Ich aufgrund ihres Vertrauens finden viele Menschen den
bin der Auffassung, wenn wir § 5 nicht so formuliert hät- Weg zur Justiz. Deswegen ist eine so hohe Belastung
ten, wie wir ihn formuliert haben, dann hätten wir die entstanden. Daher haben die Länder schon sehr frühzei-
Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Das wird tig darüber nachgedacht, wie wir Wege finden, um die
deutlich, wenn man sich die Richtlinie ganz genau an- Justiz zu entlasten. In diesem Zusammenhang ist man
schaut. Die Richtlinie schreibt ganz klar vor, dass wir die bereits sehr frühzeitig auf den Gedanken der Mediation
Qualitätskontrolle sichern müssen und die Mediation für gekommen.
die Parteien wirksam, unparteiisch und sachkundig
durchgeführt werden muss und das im Zusammenhang Bei dieser Frage geht es aber nicht allein um die Be-
mit der Aus- und Fortbildung zu sehen ist. Deswegen bzw. Entlastung der Justiz, sondern es geht auch um die
freue ich mich, dass wir bei der Umsetzung der Richtli- Möglichkeit, einen größeren Rechtsfrieden in die Gesell-
nie keinen Punkt offengelassen haben. schaft hineinzubringen. Das erleben wir bei einem Urteil
nicht unbedingt. Ein Urteil entscheidet einen Streit zwi-
Also: ganz viel Freude, ganz viel Zufriedenheit und schen zwei Parteien. Natürlich hat es auch die Aufgabe,
ein schönes Gesetz, dem die SPD auf jeden Fall – so hat Rechtsfrieden herzustellen. Aber ich habe in meiner
es meine Kollegin Sonja Steffen gesagt – heute sehr langjährigen Tätigkeit als Anwalt eigentlich noch nicht
gerne zustimmt. Ich möchte uns gemeinsam ermuntern, erlebt, dass eine unterlegene Partei mit der Erkenntnis
weiter an den Themen Qualitätssicherung und -kontrolle aus dem Gerichtssaal gekommen ist, soeben ihren
im Bereich Aus- und Fortbildung zu arbeiten und das Rechtsfrieden gefunden zu haben. Das Gegenteil ist oft
Gesetz in diesem Sinne, wenn nötig, weiterzuentwi- genug der Fall. Wir erleben immer wieder, dass ein Ur-
ckeln. Wir haben durch die Evaluierung die Möglichkeit teil gerade Anlass für einen noch vertiefteren Streit ist,
dazu. Heute können wir ein bisschen stolz sein. Die insbesondere wenn es um Familienstreitigkeiten, Erb-
Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker können an die- schaftsstreitigkeiten oder Nachbarschaftsstreitigkeiten
ser Stelle zufrieden in die Weihnachtspause gehen. geht und die Nachbarn oft generationenlang in gegensei-
Herzlichen Dank. tiger Verärgerung und sogar Abscheu leben. Da ist es
schon eine Überlegung wert, ob wir nicht eine andere
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Form der Streitbeilegung finden. Das Mediationsgesetz
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bietet hier eine Struktur, die dies, wie ich meine, ermög-
bei Abgeordneten der LINKEN) licht.
17848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Norbert Geis
(A) Es gibt gewissermaßen zwei Bereiche dieser Media- rung der Justiz einsetzt. Das ist nach meiner Auffassung (C)
tion, zum einen im gerichtlichen Bereich. Darüber ist ein gewichtiges Argument.
hier schon geredet worden. Wir haben den sogenannten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Richtermediator bereits sehr früh eingesetzt. Viele Län-
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
der sind längst dazu übergegangen, den Güterichter ein-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zusetzen, weil der Richtermediator nur eine sehr be-
grenzte Bewegungsfreiheit hat. Der Güterichter hat Die Justiz hat erstens die Aufgabe, über einen Streit zwi-
bereits sehr erfolgreich gewirkt. schen zwei Parteien zu entscheiden. Sie hat, wie ich ein-
gangs sagte, zweitens die Aufgabe, Rechtsfrieden herzu-
Der Güterichter tritt in Erscheinung, wenn der jewei- stellen; das wird nicht immer gelingen. Sie hat drittens
lige Spruchkörper einen Rechtsstreit an ihn verweist. Er die Aufgabe, eine Entscheidung nach Gesetz und Recht
hat dann die Aufgabe, die Parteien zusammenzuführen zu fällen und so das gesellschaftliche Zusammenleben
und wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Ge- zu ordnen. Diese Aufgabe kann die Justiz nicht mehr er-
gensatz zum Richtermediator hat er auch die Möglich- füllen, wenn zu viele Mediationsverfahren eingeleitet
keit, Belehrungen zu erteilen und Beratungen durchzu- werden. Deswegen müssen wir bei der Evaluierung da-
führen, was oft genug notwendig ist. Zudem hat er die rauf achten, dass dies nicht zum Nachteil gerät. Das wäre
Möglichkeit, einen Lösungsvorschlag zu machen, der schade. Ich hoffe sehr, dass die Mediation außerhalb des
dann, wenn er protokolliert wird, auch vollstreckbar sein Gerichtes, aber auch während des gerichtlichen Verfah-
kann. Insofern ist die Entscheidung in Zusammenhang rens ein großer Erfolg sein wird.
mit diesem Gesetzentwurf, das Güterichterkonzept ganz
besonders zu stärken und den Richtermediator gewisser- Ich danke Ihnen.
maßen wieder abzuschaffen, eine richtige Entscheidung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gewesen. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für die Parteien ist es sehr oft wichtig, dass sie unter-
einander einen Ausgleich finden, bevor sie überhaupt
zum Gericht gehen. Dafür ist der zweite große wichtige Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Teil dieses Gesetzentwurfs zu verabschieden, nämlich Ich schließe die Aussprache.
die Mediation außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
Insbesondere sie soll durch dieses Gesetz große Bedeu- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
tung bekommen. Ich meine, die Chance dazu besteht. Förderung der Mediation und anderer Verfahren der au-
Es wird ein strukturiertes Verfahren angeboten, in ßergerichtlichen Konfliktbeilegung. Zu dieser Abstim-
(B)
dem die Parteien mithilfe eines Mediators, der gut aus- mung liegt mir eine Erklärung nach § 31 unserer Ge- (D)
gebildet ist – das ist natürlich notwendig, da sonst kein schäftsordnung der Kollegin Dyckmans, des Kollegen
Vertrauen besteht –, versuchen, zueinanderzukommen. van Essen und der Kollegin Kopp vor.1)
In einem vertrauensvollen Raum gegenseitigen Ver- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
ständnisses, das erst geweckt werden muss, in Freiwil- empfehlung auf Drucksache 17/8058, den Gesetzent-
ligkeit und Selbstverantwortung sollen sie eine Lösung wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/5335 und
finden. Wenn diese Lösung gefunden ist, kann sie natür- 17/5496 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
lich protokolliert werden und gemäß § 794 ZPO – das diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sieht der Gesetzentwurf ja vor – sogar einen vollstreck- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
baren Titel ermöglichen. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Erstens ist die Vollstreckbarkeit einer in einem Me-
diationsverfahren gefundenen Vereinbarung wichtig. Dritte Beratung
Zweitens ist natürlich sehr wichtig, dass die Mediatoren und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
gut ausgebildet sind; denn sonst wächst kein Vertrauen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Drittens sollte man sich Gedanken machen – das ist in Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
diesem Gesetzentwurf noch nicht berücksichtigt worden –, wurf ist damit in dritter Beratung einstimmig angenom-
dass die Durchführung eines Mediationsverfahrens au- men.
ßerhalb des Gerichtes finanziell unterstützt werden
muss. Bei Gericht gibt es die Prozesskostenhilfe. Das Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Mediationsverfahren außerhalb des Gerichtes soll ja Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
dazu führen, dass Prozesse vermieden werden; das ist Marianne Schieder (Schwandorf), Ulla
die Absicht des Gesetzes. Daher ist es logisch und rich- Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer
tig, dass man das Mediationsverfahren fördert. Ich Abgeordneter und der Fraktion der SPD
meine, wir sollten bei einer Evaluierung überlegen, ob sowie der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes
wir diesen wichtigen Schritt gehen. Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren neter und der Fraktion DIE LINKE
Gedanken anführen, der jetzt nicht ganz zu der großen sowie der Abgeordneten Krista Sager, Kerstin
Zustimmung passt. Wir müssen ein wenig darauf achten,
dass durch die Mediationsverfahren nicht eine Privatisie- 1) Anlage 4
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17849
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter Zeitraum zwischen 2010 und 2019 werden insgesamt (C)
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11 653 Professorinnen und Professoren das 65. Lebens-
jahr erreichen. Damit wird fast ein Drittel aller Professo-
Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft rinnen und Professoren aus dem Arbeitsleben ausschei-
und Forschung den. Bei der Neubesetzung dieser Stellen gilt es, die
– Drucksachen 17/5541, 17/7756 – entscheidenden Weichen für die Frauen zu stellen. Die-
ses Zeitfenster muss genutzt werden, wenn es uns mit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Sache der Frauen ernst ist.
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marianne Schieder für die SPD-Fraktion das Wort. Auf unsere Fragen nach Initiativen und Planungen
gibt es lediglich den Verweis auf Programme der Vor-
(Beifall bei der SPD) gängerregierungen, es gibt Appelle ohne Konsequenzen,
(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Na ja!)
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD):
Lieber Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolle- und es wird von Evaluierungen gesprochen, aus denen
ginnen! Wie wird sie wohl ausgefallen sein, die Antwort Handlungsansätze folgen sollen. Wie diese Ansätze aus-
der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum sehen sollen, bleibt aber äußerst nebulös. Bei mir ent-
Thema Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und steht der Eindruck – allerdings nicht nur bei mir –, als sei
Forschung? die Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und For-
schung für diese Bundesregierung eine völlig neue He-
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Gut!) rausforderung. Ich sage: Das ist Perspektivlosigkeit auf
Ich glaube, Sie alle ahnen es. Es ist wie auch sonst in un- der ganzen Linie.
serer Gesellschaft: Es gibt sie, die qualifizierten Frauen, (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Ach!)
auch in Wissenschaft und Forschung. Doch in den Füh-
rungsetagen sind sie nicht zu finden. Schlimmer noch: Da und dort erkennt die Bundes-
regierung nicht einmal den Handlungsbedarf. So ist es
(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Wie im beispielsweise Fakt, dass Frauen in Wissenschaft und
Bundestag!) Forschung deutlich häufiger als Männer befristet oder in
Sie kommen nicht nach oben. Alle Beteuerungen und Teilzeit beschäftigt sind
(B) Selbstverpflichtungen haben daran nicht viel geändert. (Caren Marks [SPD]: Skandal!) (D)
Inzwischen schließen sogar mehr Frauen als Männer und dass immer mehr Nachwuchswissenschaftlerinnen
erfolgreich ein Hochschulstudium ab. Sie promovieren mit schlecht oder gar nicht bezahlten Lehraufträgen ab-
auch. 44,1 Prozent derjenigen, die promovieren, sind gespeist werden.
Frauen, wie die Statistik besagt. Blickt man auf die Zahl
der Professorinnen, stellt man aber fest: Hier beträgt der (Caren Marks [SPD]: Bei der FDP sitzen ge-
Frauenanteil 18,2 Prozent. Leider steigen immer noch rade auch bloß Männer! Aber die sind ja auch
überproportional viele Frauen nach der Promotion aus nur befristet beschäftigt!)
dem Wissenschaftssystem aus. Das ist nicht nur den Davor verschließt die Bundesregierung gänzlich die Au-
Frauen gegenüber ungerecht, sondern auch volkswirt- gen und suggeriert eine intakte Situation. Aufgrund feh-
schaftlich gesehen eine absolut schlechte Entwicklung. lender Daten, heißt es da, nehme man an, dass es keinen
Wir erlauben uns an dieser Stelle eine massive Ver- Unterschied zu anderen Branchen gebe und deshalb kein
schwendung intellektueller Potenziale. Handlungsbedarf bestehe.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ähnlich problematisch sieht es dort aus, wo die Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. desregierung direkten Einfluss hätte, zum Beispiel in
Anette Hübinger [CDU/CSU]) den von ihr eingerichteten Beratungsgremien. Von
88 Gremien sind gerade einmal drei paritätisch und wei-
So geht die Prognos AG in einer aktuellen Studie da-
tere zwei annähernd paritätisch besetzt. In der Reaktor-
von aus, dass der volkswirtschaftliche Schaden durch die
Sicherheitskommission des BMU sitzt überhaupt keine
unzureichende Ausschöpfung des Arbeitsmarktpoten-
Frau. Im Deutschen Komitee Katastrophenvorsorge e. V.
zials von Frauen allgemein – kumuliert bis 2030 – bei
des Auswärtigen Amtes liegt der Frauenanteil bei
rund 2 Billionen Euro liegt. In der Studie wird der mög-
2,94 Prozent. Wieso nutzt die Bundesregierung hier
liche volkswirtschaftliche Gewinn durch die Erhöhung
nicht ihre Einflussmöglichkeiten?
der Erwerbsbeteiligung von Hochschulabsolventinnen
bis 2015 auf 70 Milliarden Euro beziffert. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie war das denn
zu SPD-Zeiten? – Gegenruf der Abg. Anette
In der Antwort auf unsere Große Anfrage wird leider
Hübinger [CDU/CSU]: Ach! Das war damals
mehr als deutlich, dass die Bundesregierung keine Vor-
genau dasselbe!)
stellung davon hat, was getan werden kann und muss,
um die Entwicklung auf einen besseren Weg zu bringen. – Ich finde das nicht besonders lustig und sehe keinen
Dabei ist es höchste Zeit, tätig zu werden. Denn im Grund, sich albern darüber zu amüsieren.
17850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Aus dem Bereich, für den die Bundesregierung zu- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
ständig ist, könnte ich Ihnen noch viele Programme nen-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
nen. Aus Zeitgründen muss ich darauf verzichten. Ich
Braun, so ist das eben: Was des einen Decke, ist des an-
will nur einige Beispiele nennen, wie das Programm deren Fußboden.
„Effektiv!“ des „Kompetenzzentrums Frauen in der Wis-
senschaft“, in dem viele Best-Practice-Beispiele dafür, Die Bundesregierung will Deutschland zu einem
wie man Hochschulen familienfreundlicher gestalten Land der Ideen machen. Da kann man nur sagen: Gut so,
kann, erarbeitet wurden und allen Hochschulen zur eige- weiter! Immer arbeiten. Aber warum wollen Sie in die-
nen Anwendung empfohlen worden sind. sem Prozess auf die Ideen von so vielen kreativen Frauen
verzichten? Machen wir in diesem Tempo weiter – das
Ich nenne den Pakt für Frauen in MINT-Berufen, an geht aus der Antwort auf die Große Anfrage hervor –,
dessen Programmen bereits 170 000 junge Mädchen teil- dann wird es gerechte Verhältnisse für Frauen in der
genommen haben, und das mit einem durchschlagenden Wissenschaft und Forschung eben erst am Ende des
Erfolg: Rund zwei Drittel dieser jungen Frauen haben Jahrhunderts geben. Ich wollte es aber eigentlich schon
sich dann tatsächlich entschieden, einen MINT-Beruf zu noch erleben.
ergreifen. Das ist, glaube ich, gerade für diesen Bereich,
in dem der Frauenanteil bisher besonders gering ist, ein (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(B) großer und durchschlagender Erfolg. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bereits vor 17 Jahren hat der Bundestag beschlossen,
die Teilhabe von Frauen an Beratungsgremien auf Bun-
Meine Damen und Herren, keine Bundesregierung desebene zu erhöhen. Darunter sind auch knapp 100 ein-
zuvor – Frau Schieder, auch Ihre Partei hat in der Ver- flussreiche wissenschaftliche Beiräte. Was zeigt sich
gangenheit häufig Verantwortung in diesem Bereich ge- jetzt nach 17 Jahren? Weniger als ein Viertel der Mitglie-
tragen – hat so viel aufgewendet, um Geschlechterge- der dieser Beiräte sind Frauen. In einigen Gremien
rechtigkeit in der Wissenschaft zu verwirklichen. Noch – Frau Schieder hat es ja schon gesagt – sind bis heute
nie war die Dynamik der Zunahme der Zahl der Frauen gar keine Frauen. Das ist eine interessante Entwicklung
in den Funktionen der Wissenschaft so hoch wie im Mo- und ein ganz toller Erfolg.
ment. Die Zunahme in Form einer runden Verdoppelung
in den letzten zehn Jahren, denke ich, kann mit Fug und Man fragt sich: Wieso konnte das überhaupt so kom-
Recht auch als ein beeindruckender Erfolg bezeichnet men? Das ist so gekommen, weil die Beschlüsse von da-
werden. mals schlicht und ergreifend zu unscharf, zu unverbind-
lich waren. Sie hatten die Qualität von weichgespülten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und dadurch eben auch vielfach wirkungslosen Selbst-
Damit da kein Missverständnis entsteht: Die absolu- verpflichtungen.
ten Zahlen von Frauen in der Wissenschaft sind auch für Was ist die Folge davon? Es fehlen vielen Empfehlun-
die Bundesregierung bei weitem noch nicht zufrieden- gen aus diesen Beratungsgremien der spezifische Blick-
stellend. winkel von Frauen und die spezifische Bewertung von
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Gott Frauen.
sei Dank, wenigstens das!) Was heißt das wiederum weiterführend? Ich bringe
– Sie sind bei weitem noch nicht zufriedenstellend. ein Beispiel: das Gesundheitsforschungsprogramm. För-
Aber, Frau Schieder, so ist das ja, christlich und vor derprogramme, wissenschaftliche Methoden sind nach
Weihnachten: An ihren Taten sollt ihr sie messen. unserer Auffassung dort zu eng ausgelegt. Es ist zu tech-
nikzentriert, und es wird zu wenig auf die Spezifik von
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Weihrauch!) Frauen bezogen geforscht.
Angesichts der Tatsache, dass wir in den vergangenen Nun haben sich Bund und Länder auf ein sogenanntes
Jahren so viel erreicht haben, hat auch, glaube ich, diese Kaskadenmodell geeinigt. Quoten sollen entsprechend
Bundesregierung die besondere Glaubwürdigkeit, wenn dem Frauenanteil der jeweils vorausgehenden Stufe in
17852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Krista Sager
(A) Herr Neumann, Sie haben völlig recht: Wir haben im system für die besten weiblichen Köpfe nicht attraktiv (C)
Wissenschaftsbereich nicht nur offenkundig ein massi- genug ist. Das muss sich dringend ändern.
ves Gerechtigkeitsproblem, sondern auch ein Innova-
tions- und Qualitätsproblem. Bei mangelndem Erfolg in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Gleichstellungspolitik im Wissenschaftsbereich stellt und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
sich die Frage nach der zukünftigen Wettbewerbsfähig- LINKEN)
keit des deutschen Wissenschaftssystems. Der demogra- Herr Braun, Sie haben gesagt, wir sollen Sie an Ihren
fische Wandel macht die Frage umso dringlicher: Wie Taten messen. Ich finde es gut, dass Sie heute gesagt ha-
können wir die besten weiblichen Kräfte für die Wissen- ben, dass das Professorinnen-Programm weitergeht.
schaft gewinnen, sie dann aber auch dort halten? Aber die Frage, warum Sie Ihre eigene Projektfor-
(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Da ha- schungsförderung nicht mit den Gleichstellungsstan-
ben Sie recht!) dards der Deutschen Forschungsgemeinschaft verbin-
den, haben Sie nicht beantwortet.
Es hat niemand behauptet: Da findet nichts statt.
Oder: Es passiert nichts. Aber Frau Sitte hat doch voll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
kommen recht: Es geht viel zu langsam. bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Warum verbinden Sie die Ressortforschung des Bun-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- des nicht mit verbindlichen Gleichstellungsstandards?
KEN) Warum haben Sie beim Pakt für Forschung und Innova-
tion nicht für eine verbindliche Gleichstellungspolitik
Wer von uns will bis zum Ende des Jahrhunderts warten, gesorgt? Erklärungsbedürftig ist auch, warum Sie es
bis wir Parität erreicht haben? Daraus folgt logisch: Wir nicht einmal bei den eigenen wissenschaftlichen Gre-
müssen mehr Schwung hineinbringen. mien schaffen, auch nur annähernd so etwas wie eine Pa-
Die Wissenschaftsorganisationen haben das Thema rität zu erreichen.
Gleichstellung glücklicherweise zunehmend in den Fo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
kus gerückt. Die Gleichstellungsstandards der Deut- bei der SPD und der LINKEN)
schen Forschungsgemeinschaft zeigen im universitären
Bereich Wirkung. Das bestreitet hier ja auch niemand. Alle diese Fragen haben Sie nicht beantwortet. Des-
Nur, Teile des Wissenschaftsbereichs und der Hochschu- wegen können Sie dankbar sein, dass sich die wissen-
len verharren in gleichstellungspolitischer Rhetorik und schaftspolitisch engagierten Frauen der Opposition un-
lassen dem wenige Taten folgen. Auch das ist leider eine tergehakt haben,
(B) Tatsache. (D)
(Lachen bei der FDP)
Herr Neumann, niemand bestreitet, dass es in den ver-
schiedenen Fachdisziplinen unterschiedliche Vorausset- um deutlich zu machen: Hier brauchen wir mehr frischen
zungen gibt. Nur, wenn ich feststelle, dass die Fraunho- Wind und Schwung für die Gleichstellungspolitik in der
fer-Gesellschaft es in 20 Jahren gerade einmal geschafft Wissenschaft. Dabei müssen wir dem Bund ein bisschen
hat, ihren Frauenanteil beim Führungspersonal von 2 Pro- auf die Sprünge helfen.
zent auf 2,8 Prozent zu steigern, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Ulla Burchardt [SPD]: Tolle Leistung!) bei der SPD und der LINKEN)
möchte ich sagen: Ich erwarte von einer leistungsstarken
Forschungsorganisation auch mehr Leistung bei frauen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
politischen Zielen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin
Anette Hübinger das Wort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Schlussfolgerung ist: Wir brauchen mehr Ver-
bindlichkeit. Wir brauchen Zielquoten, die sich am Kas- Anette Hübinger (CDU/CSU):
kadenmodell orientieren, eine Überprüfung der Zieler- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
reichung, und wir brauchen Anreize, Sanktionsmecha- Kollegen! Aus der Debatte heute Abend ist schon deut-
nismen und gezielte Rekrutierungsmaßnahmen. lich geworden: Weihnachten ist für Frauen noch nicht,
aber das Fest der Freude bringt Hoffnung, und Hoffnung
Es ist in der Tat bedenklich, dass viele junge Leute haben auch die Antworten der Bundesregierung bei mir
nach der Promotion den Wissenschaftsbereich verlassen, geweckt. Dennoch zeigen die Zahlen – das wurde heute
nicht weil sie für diesen ungeeignet sind, sondern weil Abend schon öfter gesagt –, dass bei Immatrikulationen
ihnen die Perspektiven für den Nachwuchs zu unsicher und Abschlüssen Frauen spitze sind; aber wenn die Luft
und die Beschäftigungsverhältnisse zu schlecht sind. oben dünner wird, ist der Anteil der Frauen kaum noch
Aber wenn junge Frauen noch stärker die Tendenz ha- mit dem Fernglas zu erkennen.
ben, den Wissenschaftsbereich zu verlassen, weil sie in
höherem Maße teilzeitbeschäftigt sind und prekäre be- (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Ja,
fristete Verträge bzw. befristete Teilzeitverträge haben, schlimm! – Sibylle Laurischk [FDP]: Denen
dann müssen wir feststellen, dass unser Wissenschafts- geht sozusagen die Puste aus!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17855
Anette Hübinger
(A) Deswegen muss etwas getan werden. Aber wir müssen system beweisen, dass sie es mit dem Anspruch auf (C)
auch zugeben: Ganz bei null beginnen wir nicht. Nur Chancengleichheit wirklich ernst meinen.
muss der eklatante Sprung bei den Karrierewegen aufge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
hoben werden. Dass keine Frauen in Spitzenpositionen
neten der FDP)
sind, findet seinen Grund mit Sicherheit nicht darin, dass
es keine Frauen gibt. Das sieht man an den Abschlüssen: Natürlich gibt es fachspezifische Unterschiede, und
Da sind wir spitze. die müssen auch bei der Gleichberechtigungsfrage eine
Rolle spielen. Dort, wo aufgrund vergangener Ausbil-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- dungsstrukturen noch keine Frauen sind, kann man keine
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rekrutieren. Aber man muss schlicht und ergreifend da-
sowie bei Abgeordneten der FDP) für sorgen, dass mehr Frauen in diese Bereiche hinein-
Allerdings zeigen die Antworten der Bundesregie- kommen. Ich denke dabei an die weitere Förderung von
rung auch, dass in den letzten zehn Jahren schon eine Frauen in MINT-Berufen. Aber wir dürfen auch nicht
Dynamik eingetreten ist und dass es zu mehr Chancen- nachlassen, Frauen auf ihren Karrierewegen mit einer
gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen im Wissen- besonderen Unterstützung zu begleiten.
schaftssystem gekommen ist. Den Grund dafür sehe ich Damit komme ich zur Quote, die die Opposition in
im Gegensatz zur Opposition auch darin, dass die Bun- der Presse gefordert hat. Heute Abend wurde das Kaska-
desregierung die Verbesserung der Repräsentanz von denmodell mehrfach angesprochen. Das hatten wir
Frauen als ein strategisches Erfordernis ansieht und dass schon in unseren Antrag zu Zeiten der Großen Koalition
das BMBF die Erhöhung des Anteils von Frauen in Spit- aufgenommen. Dieses Kaskadenmodell ist für mich ein
zenpositionen in der Wissenschaft als wichtigen Be- sehr guter Ansatz. Es setzt aber voraus – auch das wurde
standteil in seine Fördermaßnahmen integriert. Professo- heute Abend gesagt –, dass man bei der Abfolge vom
rinnen-Programm, Exzellenzinitiative, Pakt für Forschung Studienabschluss bis hin zu den einzelnen Karrierestufen
und Innovation und Hochschulpakt haben mit Sicherheit darauf achtet, dass auch genügend Frauen kommen.
ihren Teil dazu beigetragen. Ein weiterer Grund – auch Wenn nämlich keine Frauen unten sind, können auch nie
das wurde heute Abend schon erwähnt – ist die freiwil- welche nach oben befördert werden. Diese Kaskade
lige Selbstverpflichtung der DFG, der auch viele Hoch- muss mit Zielvorgaben auf den einzelnen Karriereleiter-
schulen, die der DFG angeschlossen sind, beigetreten stufen versehen werden, um die Parität von Frauen künf-
sind. Trotz dieser Dynamik sind wir uns einig, dass diese tig zu erreichen. Wenn diese Zielorientierung in den
Fortschritte noch nicht ausreichen und wir als Frauen mit nächsten Jahren nicht sichtbar greift und eine Selbstver-
Sicherheit nicht noch einmal 20 Jahre warten wollen, bis pflichtung des Wissenschaftssystems keine Fortschritte
(B) vielleicht noch einmal eine Verdoppelung der Habilita- bringt, dann befürworte auch ich die gesetzliche Einfüh- (D)
tionszahlen eingetreten ist. Das wäre Ressourcenver- rung des Kaskadenmodells.
schwendung.
Die Akteure des Wissenschaftssystems haben die Ent-
(Ulla Burchardt [SPD]: Sehr gut!) wicklung in den kommenden Jahren selbst in der Hand.
Ich bin deshalb gespannt, was der Wissenschaftsrat
Wo setzen wir an? Aus meiner Sicht gibt es erst ein- – Herr Braun hat die entsprechende Studie genannt – an
mal zwei Faktoren, die entscheidend sind. Erstens haben Themen und an Verbesserungsvorschlägen aufführen
wir weiter mit dem Phänomen der „leaky pipeline“ wird. Ich muss zugeben: Für die christlich-liberale Ko-
– Frau Sager hat das auch schon erwähnt – zu kämpfen. alition und für mich sind Lösungen, die aus dem Wissen-
Sobald Frauen die Promotion haben, brechen sie ihre schaftsbereich kommen, immer noch die besten.
Karriere im Wissenschaftssystem ab. Hier brauchen wir,
so sage ich, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Herzlichen Dank.
Wissenschaft – das ist das A und O –, genau wie in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wirtschaft. Der Bund hat die ersten Schritte eingeleitet,
indem er das Krippenausbauprogramm beschleunigt hat,
damit Frauen ihre Kinder unterbringen können. Genauso Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist aber erforderlich, dass eine spezifische Frauenförde- Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Burchardt von
rung stattfindet; denn Frauen sind in Bewerbungen zu- der SPD-Fraktion.
rückhaltender, wie die Forschung festgestellt hat. Sie be- (Beifall bei der SPD)
werten sich oft sehr selbstkritisch und fühlen sich nicht
wie die Männer als Hecht im Karpfenteich. Auch hier tut
der Bund das Seine zur Unterstützung von Karrierewe- Ulla Burchardt (SPD):
gen, zum Beispiel durch das Professorinnen-Programm Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
oder Monitoringprogramme. Herr Neumann, ich finde es wirklich rührend – ich
meine das ganz ehrlich und unironisch, auch wenn Sie
Zweitens. Das Ausscheiden von Professorinnen und mir das vielleicht nicht glauben –, wie ernsthaft Sie Ihr
Professoren in den nächsten Jahren muss genutzt wer- Anliegen zum Ausdruck gebracht haben. Ich glaube Ih-
den. Laut Statistischem Bundesamt scheiden bis 2019 nen das auch. Nur muss ich sagen: Wenn man sich die
ungefähr 11 000 Professorinnen und Professoren aus, Antwort der Bundesregierung auf die von SPD, der Lin-
und zwar aus Altersgründen. Bei der Berufung in den ken und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam gestellte
nächsten Jahren können die Akteure im Wissenschafts- Große Anfrage anschaut, dann kann man eine Quint-
17856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ulla Burchardt
(A) essenz formulieren: Nicht wissen, nicht wollen, nicht zellenzinitiative und Frauenförderung sowie der Pakt für (C)
können. Forschung und Innovation stammen aus unserer Regie-
rungszeit. Ich finde es klasse, dass Sie wenigstens eini-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin ges davon weiterführen.
Neumann [Lausitz] [FDP]: Das ist aber hart!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Was das Nichtwissen betrifft, zum Beispiel bei der
DIE GRÜNEN)
Implementierung von Genderaspekten in der Ressortfor-
schung: Es wird auf formale Prüfungsakte von Vorhaben Keine Frage: Es ist gut und lobenswert, dass in der
verwiesen; aber evaluiert wird überhaupt nichts. Das be- Nachfolge im BMBF manches weitergeführt wurde.
deutet doch nichts anderes, als dass man aus Erfahrung Aber, mit Verlaub, das Professorinnen-Programm und
nicht lernen will; schließlich erhebt man diese Daten das Förderprogramm „Frauen an die Spitze“ sind so
überhaupt nicht und schaut nicht, was passiert ist und dünn ausgelegt, dass sie nicht mehr sind als der be-
was man besser machen kann. rühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Sie sollten sich
„Wir wissen das nicht“, das ist auch die Antwort auf gut überlegen, ob Sie das als Säule Ihrer Arbeit darstel-
unsere Frage nach einer möglichen Diskriminierung bei len. Denn Sie sollten dabei beachten: Die Decke wird
den Einkommen in Spitzenpositionen. Die strukturelle ganz schnell einbrechen, so dünn wie das Ganze ist.
Benachteiligung von Frauen manifestiert sich nicht nur Man fragt sich, ob die Durchbrüche wirklich über-
bei der Repräsentanz in Leitungspositionen, sondern ins- haupt gewollt sind. Es ist darauf hingewiesen worden:
besondere auch in der Beschäftigungssituation. Die Kol- Da, wo Sie selber zuständig sind, etwa in wissenschaftli-
leginnen haben es schon angesprochen: Prekäre Be- chen Beratungsgremien, in Ressortforschungseinrichtun-
schäftigung in der Wissenschaft trifft überwiegend gen, ist wirklich nicht viel los; da ist mit der Durchset-
Frauen. Das ist übrigens ein Grund für die Kinderlosig- zung von Gleichstellung kein Staat zu machen, Herr
keit von Akademikerinnen. Die Elternzeit, Herr Braun, Braun und Herr Neumann. Das muss man doch sagen.
kann in den meisten Fällen praktisch überhaupt nicht in Da hat die Regierungskoalition doch schlicht und ergrei-
Anspruch genommen werden. Insofern haben Sie an die- fend versagt. Da könnten Sie mehr machen.
ser Stelle ein totes Pferd geritten.
(Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]
Was die Einkommenssituation angeht: Viele Wissen-
und Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaftlerinnen, gerade in leitenden Positionen, gehen da-
NEN])
von aus, dass es sehr unterschiedliche Leistungsbewer-
tungen in Form von Einkommen gibt, wenn es um hoch- Natürlich ist in den letzten zehn Jahren einiges
(B) dotierte Posten in den Hochschulen, um die höchstbe- erreicht worden. Das ist dank unserer Vorarbeiten (D)
zahlten Professuren mit Leistungszulagen und um die geschehen. Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion
Leitungspositionen in der Forschung geht. Dazu sagt die auch bei den vielen Frauen und Männern bedanken, die
Bundesregierung: Wir wissen das nicht; wir haben über- an führender Stelle in Hochschulen, Forschungseinrich-
haupt keine Zahlen. – Das ist immer das Tollste: Wenn tungen und Wissenschaftsinstitutionen dafür gearbeitet
man nichts weiß, dann ist man auch nicht verantwortlich. haben. Es ist eine Menge erreicht worden; aber das
Wenn man will, könnte man diese Zahlen aber durchaus reicht nicht. Die Dynamik ist zu schwach. Der Aufhol-
erheben. Man könnte zum Beispiel Entgeltberichte er- prozess beispielsweise gegenüber den USA, was das
stellen, wie sie im Übrigen im Rahmen des GWK-Ab- Ausschöpfen all dieser Potenziale angeht, ist völlig
kommens vorgesehen sind. Machen Sie das doch einfach unzureichend. Da hängen wir gnadenlos hinterher. Des-
einmal! wegen muss mehr passieren. Ich sage Ihnen: An der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sofortigen Einführung von Zielquoten führt kein Weg
LINKEN) vorbei.
Was das Können betrifft, das heißt eine ambitionierte, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
strategisch angelegte Politik, um Frauen in Wissenschaft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Forschung zu fördern, muss ich Ihnen sagen: Minis-
Wir warten, Frau Hübinger, nämlich schon 20 Jahre. Es
terin Bulmahn und die rot-grüne Regierungskoalition ha-
ist jetzt wirklich an der Zeit, dass endlich Nägel mit
ben damals die Messlatte gelegt. Die Grundsatzabteilung
Köpfen gemacht werden.
wurde mit Strategieentwicklung beauftragt. Das Leitziel
Chancengleichheit wurde im Haushalt verankert. Mit Bei allem Respekt gegenüber der Offensive Chancen-
dem Programm „Chancengleichheit“ wurden Promotio- gleichheit von DFG und außeruniversitären Forschungs-
nen und Professuren von Frauen gefördert; das ist keine einrichtungen: Das alles reicht nicht. Mit so schlappen
neue Idee von Ihnen. Kindereinrichtungen in For- Fortschritten können wir uns doch nicht ernsthaft zufrie-
schungseinrichtungen wurden ermöglicht. Juniorprofes- den geben. Das, was Bund und Länder in der GWK
suren wurden als Karriereschub für junge Wissenschaft- beschlossen haben, ist völlig unmissverständlich. Dort
lerinnen eingeführt. Das Center of Excellence Women heißt es, dass
and Science wurde zu Zeiten der rot-grünen Koalition
gegründet. Schön, dass auch Sie gut finden, dass es das Zielquoten … unverzichtbar sind und die Anwen-
gibt. Die Förderung von Frauen in MINT-Berufen, die dung des „Kaskadenmodells“ … unbedingt erfor-
Einrichtung des Girls’ Day und die Verbindung von Ex- derlich ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17857
Ulla Burchardt
(A) (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Rich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
tig!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
Es reicht eben nicht mehr, nur auf Selbstverpflichtung zu der FDP-Fraktion.
setzen, auf Sonntagsreden und schöne Worte. Man muss (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
jetzt auch über Sanktionen reden. Anders funktioniert
die ganze Geschichte nämlich überhaupt nicht.
Sibylle Laurischk (FDP):
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
GRÜNEN) Herren! Ich habe an meine Studienzeit zurückgedacht.
Über 30 Jahre ist das her. Ich kann mich nicht erinnern,
Wenn Sie jetzt kommen und sagen, das alles gehe dass es damals auch nur eine Professorin in der Juristi-
nicht, empfehle ich Ihnen eine wunderbare Lektüre, falls schen Fakultät gegeben hat. In den letzten zehn Jahren
Sie noch nicht genug zum Lesen unterm Weihnachts- hat sich die Situation sicherlich deutlich verbessert, aber
baum haben. Es handelt sich um eine Broschüre, die es besteht immer noch eine eklatante Unterrepräsentanz
vom BMBF herausgegeben wurde und die ein Gutachten von Frauen im Wissenschaftssystem. Es ist immer noch
enthält, das von Ihrem Ministerium – Herr Braun, Sie erkennbar, dass die Wissenschaftskarrieren von Frauen
kennen es vielleicht – in Auftrag gegeben wurde, um die nach der Promotion abbrechen. Nur jede vierte Habilita-
rechtlichen Grundlagen für Maßnahmen zur Förderung tion wird von einer Frau abgelegt. Bei den Professuren
der Chancengleichheit in der Wissenschaft zu prüfen. liegt der Frauenanteil bundesweit bei unter 20 Prozent.
Dieses Gutachten wurde von Frau Professor Susanne Es gibt vielfältige Maßnahmen, um diesem Trend entge-
Baer verfasst. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass aus genzuwirken.
europarechtlichen Gründen und Vorgaben, aber auch aus
verfassungsrechtlichen Gründen Wir müssen sicherlich für eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf sorgen; wir brauchen eine Verän-
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die ist jetzt Ver- derung der Arbeitskulturen und -strukturen, nicht nur im
fassungsrichterin!) Bereich von Wissenschaft und Forschung.
und aufgrund von Maßgaben aus allen Rechtsgebieten,
Begrüßenswert ist auch, dass Bund, Länder, Hoch-
die Deutschland überhaupt zu bieten hat, die Förderung
schulen und Forschungseinrichtungen bereits verschie-
von Maßnahmen und die Einführung von Zielquoten mit
denste Initiativen ergriffen haben. Ich erinnere nur an
entsprechender Sanktionierung notwendig und auch
das Professorinnen-Programm, von dem schon mehrfach
machbar sind.
die Rede war. Dadurch wird deutlich, dass Gleichstel-
(B) (D)
Frau Professor Susanne Baer ist seit Februar dieses lung an den Hochschulen eine Leitungsaufgabe ist, auf
Jahres Richterin am Bundesverfassungsgericht. der Leitungsebene verortet werden muss. So ist die Zahl
der Professorinnen in der Wahrnehmung der Öffentlich-
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, genau!)
keit, aber auch messbar gestiegen.
Mir kann jetzt keiner mehr sagen, dass es sich hierbei
nur um irgendwelche illusionären Dinge handelt, mit Meine Damen und Herren, Frauenförderung ist auch
denen sich eine Bundesregierung nicht befassen muss. in der Wissenschaft eine Führungsaufgabe.
Ich stelle für heute fest, dass wir an vielen Stellen ja (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gar nicht so weit auseinander sind, und zwar nicht nur der CDU/CSU)
wegen der weihnachtlichen Harmonie. Die Wissen-
schaftlerinnen in unserem Lande haben es nämlich ver- Dass Frauen immer noch an die gläserne Decke stoßen,
dient, dass sie mehr Unterstützung bekommen. Über ist eben auch ein Beispiel von Vergeudung volkswirt-
60 Jahre nach Verabschiedung des Art. 3 im Grundge- schaftlichen Potenzials, was wir uns in Anbetracht des
setz ist es höchste Zeit, dass sich mehr bewegt und sich globalen Wettbewerbs überhaupt nicht mehr leisten kön-
der Deutsche Bundestag etwas intensiver als in der Ver- nen.
gangenheit mit diesem Thema beschäftigt, nach Stell- Im Fünften Gremienbericht wird dargelegt, dass auch
schrauben sucht und schaut, was man machen kann, in wissenschaftlichen Beratungsgremien der Frauen-
damit in den nächsten fünf Jahren große Fortschritte anteil nach wie vor zu niedrig ist. Das Bundesgremien-
erreicht werden. Deswegen hielte ich es für eine wunder- besetzungsgesetz bedarf insofern meiner Ansicht nach
bare Sache, wenn sich unser Ausschuss Anfang nächsten einer Überarbeitung, um das Ziel der Gleichstellung und
Jahres ein sehr konkretes Programm geben würde, wie der gleichwertigen Besetzung von Gremien dort, wo wir
nach entsprechenden Wegen und Möglichkeiten gesucht unmittelbar Einfluss haben, zu fördern und wirklich eine
werden kann. Wir sollten nicht erst wieder 50 Jahre war- strukturelle Veränderung zu erreichen.
ten, bis wir hier ein paar kleine Fortschritte beklatschen
können. Es ist außerordentlich zu begrüßen, dass in den im
Jahr 2008 beschlossenen forschungsorientierten Gleich-
Vielen Dank.
stellungsstandards der Deutschen Forschungsgemein-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schaft, der DFG, die Verbesserung der Chancengleich-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. heit von Frauen und Männern in der Wissenschaft
Anette Hübinger [CDU/CSU]) explizit als Anliegen formuliert ist.
17858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Sibylle Laurischk
(A) Die Einführung der Gleichstellungsstandards hat zu Prozent. Deshalb ist das hier schon fast beglückend. (C)
einer grundsätzlich neuen Situation geführt, in der die Dass nur jeder fünfte Lehrstuhl von einer Professorin
wissenschaftliche Reputation von Hochschulen und wis- besetzt ist, ist natürlich trotzdem beschämend.
senschaftlichen Einrichtungen – ebenso wie die For-
Selbst wenn wir uns in der Analyse einig sind: Bei
schungsförderung selbst – an die Bemühungen um die
den Mitteln und Instrumenten sind wir – wenn wir ein-
Beseitigung von strukturellen und personellen Nachtei-
mal ehrlich sind – alle ein bisschen ratlos. Man kann
len für Frauen geknüpft ist. Es ist also ein Qualitäts-
Gleichstellung nicht verordnen
merkmal, Frauenförderung nachzuweisen.
(Zuruf der Abg. Marianne Schieder [Schwan-
Insofern habe ich den Eindruck, dass im Wissen-
dorf] [SPD])
schaftsbereich zumindest versucht wird, tatsächlich eine
Frauenförderung auf den Weg zu bringen. Man sieht es – nein, das glaube ich nicht –, weder mit Quoten noch
ja auch an der Diskussion, die wir heute führen: Das mit Sanktionen. Hier gilt, dass das Ganze nicht nur den
Kaskadenmodell ist von Herrn Professor Neumann sehr Bund betrifft, sondern dass auch die Länder mitmachen
plastisch dargestellt worden, und selbst der Staatssekre- müssen und – das hat Herr Staatssekretär Braun gesagt –
tär hat von der Frauenquote gesprochen. An einem Tag, natürlich in erster Linie die Hochschulen.
an dem wir – zwar außerhalb des Parlaments, aber doch
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis: Die
mit einer Reihe von Parlamentarierinnen aus allen Frak-
Programme, die es gibt, sind ja sinnvoll. Das Land Ber-
tionen – eine Berliner Erklärung zur Förderung von
lin ist das einzige Bundesland, das tatsächlich ein eige-
Frauen in Führungsaufgaben verabschiedet haben, ist
nes Programm zur Förderung der Chancengleichheit in
das, denke ich, ein gutes Signal dafür, dass in der For-
Forschung und Lehre hat.
schung möglicherweise doch schon etwas weiter gedacht
wird. Dennoch bleibt viel zu tun. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Rot-Rot!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das haben wir in der Großen Koalition aufgelegt. Das
Land gibt dafür immerhin 3,5 Millionen Euro aus. Des-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: halb wird da jede vierte Professur von einer Frau wahr-
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt genommen; ansonsten ist es im Durchschnitt nur jede
hat jetzt das Wort die Kollegin Monika Grütters von der fünfte. Es geht also. Ich kann nur sagen: Nachahmung
CDU/CSU-Fraktion. ausdrücklich empfohlen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]
neten der FDP)
(B) und Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) (D)
Monika Grütters (CDU/CSU): Ob das ein Tropfen auf den heißen Stein oder, wie
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, Kollegin- Herr Braun sagt, eine Säule ist: Das Professorinnen-
nen und Kollegen! „Eine Frau, die so gut sein will wie Programm hat 200 Professuren mehr für Frauen ge-
ein Mann, hat einfach nicht genug Ehrgeiz.“ – Wer auch schaffen. Das Programm „Zeit gegen Geld“ sorgt im-
immer diese Einsicht, die ja häufig zitiert wird, zuerst merhin dafür, dass Stipendiengelder in die Kinderbe-
formuliert hat – eines ist jedenfalls klar: Die Wege der treuung gesteckt werden können. Ich glaube aber auch,
Frauen an die Spitze der Gesellschaft – auch in der Wis- dass es vor allen Dingen – wie überall – darum geht,
senschaft – sind eben oft mühsamer als die von euch, dass man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ver-
den Herren der Schöpfung. bessern muss. Der Rechtsanspruch auf einen Kinder-
gartenplatz in Berlin – hier schaffen wir 23 000 neue
(Zuruf von der FDP: Oh!) Kindergartenplätze – ist, glaube ich, in dieser Hinsicht
Es ist offensichtlich, dass dieser Befund nicht nur für sehr wichtig. Es ist auch schon gesagt worden, dass die
die Gesamtgesellschaft, sondern leider eben auch für die sensible Phase die zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr
Wissenschaftsgemeinschaft gilt. Wir haben es heute – das heißt nach der Promotion – ist. Da beginnt die Fa-
schon ein paarmal gehört: 52 Prozent der Studierenden milienbetreuung, und ab da ist es besonders schwierig.
in Deutschland sind weiblich, der Promotionsanteil liegt (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
bei 44 Prozent, der Habilitationsanteil bei 24 Prozent, Betreuungsgeld ist da nicht geeignet!)
aber nur 18 Prozent schaffen es auf einen Professorin-
nenplatz. Immerhin, das fand ich doch bemerkenswert Der Kinderbetreuungszuschlag beim BAföG war
bei dieser Studie – wir reden ja bei dem heutigen Thema richtig. Das Elterngeld spielt hier – es kommt auch Stu-
über die Zehnjahreszeiträume, so wie bei der Quotierung dierenden mit Kindern zugute – eine wichtige Rolle. Zu
von Frauen in den Aufsichtsräten –: In der Wissenschaft nennen sind weiter: der garantierte Betreuungsplatz und
ist in den letzten zehn Jahren wesentlich mehr passiert das Förderprogramm „Betrieblich unterstützte Kinderbe-
als bei den DAX-Unternehmen. Der Anteil der Professo- treuung“. Es gibt also viele Möglichkeiten. Ich finde
rinnen hat sich immerhin verdoppelt. übrigens auch, Frau Burchardt, dass man da noch viel
mehr machen muss.
(Ulla Burchardt [SPD]: Na ja!)
Wir sind uns einig: Gerade auch aufgrund der demo-
– Ich finde es zu wenig. Aber, Frau Burchardt, bei den grafischen Entwicklung können wir auf die Potenziale
DAX-Unternehmen war es ein klägliches, lächerliches der Frauen nicht verzichten. Und auch diese Erkenntnis
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17859
Monika Grütters
(A) haben wir – auch wir von der CDU; jedenfalls viele, 85 Prozent aller Internetnutzer in Deutschland haben (C)
gerade aber die Frauen – inzwischen alle: Da, wo Frei- bereits online eingekauft. 68 Prozent haben bislang
willigkeit nicht weiterführt, muss es eben doch ein biss- keine negativen Erfahrungen mit dem Internet gemacht.
chen Druck sein – manchmal vielleicht auch ein biss- Das zeigt: Immer mehr Menschen vertrauen diesem
chen mehr. Ich bin nicht immer eine Quotenfreundin und Medium. Dieses Vertrauen noch besser zu schützen, ist
schon gar nicht eine Kampfhenne; wir haben aber bei Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes der Bundesregie-
den DAX-Unternehmen deutlich gemerkt: Da geht es rung.
nur mit Druck. Sanktionen sind, finde ich, immer proble-
Wie in jedem Markt gibt es auch im Internet dubiose
matisch.
Geschäftsmodelle, mit denen Verbraucherinnen und Ver-
(Ulla Burchardt [SPD]: Es gibt positive und braucher in Kostenfallen gelockt werden sollen. Wie
negative Sanktionen!) jeder Markt braucht auch das Internet in diesem Bereich
eine Marktordnung. Wenn bestimmte Internetleistungen
Es gibt intelligentere Programme. Ich habe gerade ein beispielsweise als „gratis“ angepriesen, als unverbind-
paar genannt. liche Gewinnspiele deklariert oder als Möglichkeit zum
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wenn „Advent“ Herunterladen von Freeware getarnt werden, in Wirk-
Erwartung heißt, dann ist und bleibt dieses Thema ein lichkeit aber ein Abonnement abgeschlossen wird, ist die
sehr adventliches. Grenze zur Täuschung überschritten.
Auch wenn hier in den meisten Fällen kein wirksamer
Vielen Dank.
Vertrag besteht, zahlen dennoch viele Internetnutzer aus
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Unkenntnis oder weil sie sich teilweise durch eine etwas
der Abg. Dagmar Ziegler [SPD] und Dr. Ernst aggressive Verfolgung der vermeintlichen Zahlungsan-
Dieter Rossmann [SPD]) sprüche unter Druck gesetzt fühlen. Die Zahl der Ge-
schädigten wächst in dem Ausmaß, in dem sich der
Onlinehandel entwickelt. Nach einer aktuellen Untersu-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chung des Sozialforschungsinstituts Infas sollen bereits
Ich schließe die Aussprache. über 5 Millionen deutsche Internetnutzer in eine Abo-
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: falle getappt sein; das wäre mehr als jeder zehnte Inter-
netnutzer in Deutschland.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Derartige Vorfälle sind für die Betroffenen nicht nur
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
eine finanzielle Belastung.
rung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum bes-
(B) (D)
seren Schutz der Verbraucherinnen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Verbraucher vor Kostenfallen im elektroni- der CDU/CSU)
schen Geschäftsverkehr
Sie gefährden das Vertrauen der Verbraucher in den elek-
– Drucksache 17/7745 – tronischen Geschäftsverkehr insgesamt. Das wissen wir
Überweisungsvorschlag:
aus zahlreichen Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern.
Rechtsausschuss (f) Mit diesem Gesetzentwurf greift die Bundesregierung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und bei genau diesem Sachverhalt ein und schiebt der „Inter-
Verbraucherschutz netabzocke“ einen Riegel vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der FDP)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Ein Vertrag im Internet kommt zukünftig nur zustande,
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist wenn der Verbraucher bei der Bestellung ausdrücklich
das so beschlossen. bestätigt, dass er sich zu einer Zahlung verpflichtet. Die
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Schaltfläche für das Aufgeben der Bestellung, der Be-
nerin das Wort der Bundesministerin Leutheusser- stellbutton, muss unmissverständlich und gut lesbar auf
Schnarrenberger. die Zahlungspflicht hinweisen. Eine Schaltfläche mit der
Aufschrift „kostenpflichtig bestellen“ macht jedem die
(Beifall bei der FDP) Rechtsfolge seines Tuns klar.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU])
ministerin der Justiz:
Dies gilt immer, wenn Waren oder Dienstleistungen on-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
line bestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob
gen! Lassen Sie mich mit einigen Zahlen beginnen. Über
eine Bestellung mit dem heimischen Computer, dem
55 Millionen Bundesbürger haben regelmäßigen Zugang
Smartphone oder dem Tablet-PC aufgegeben wird.
zum Internet. Pro Tag werden Hunderte von Millionen
Suchanfragen gestellt. Das Netz ist für viele, vor allem Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir diesen Bereich
jüngere Menschen bereits jetzt alleiniges Leitmedium. des Geschäftsverkehrs im Internet ein Stück sicherer ma-
Das Internet bietet Information, Kommunikation und chen. Wir sind damit Vorreiter in Europa. Ich bin sicher:
Unterhaltung. Andere europäische Staaten werden und müssen schnell
17860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Caren Lay
Lieber Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolle- [DIE LINKE] – Stephan Thomae [FDP]: Frau
ginnen! Ich glaube, alle von uns kennen das schöne, alte Zypries hat das gemacht!)
Weihnachtslied Alle Jahre wieder. Die Bescherung, die – Sie hätten vor einem Jahr umsetzen können, wozu Sie
unzähligen Verbraucherinnen und Verbrauchern auch in jetzt endlich bereit sind, weil Ihnen nichts anderes übrig
diesem Jahr wieder zuteilgeworden ist oder noch zuteil- bleibt.
wird, bringt aber keine guten Gaben, sondern Forderun-
gen von zumeist dubiosen Inkassofirmen, die häufig mit Umfragezahlen des Infas-Instituts vom August 2011
betrügerischen Abofirmen unter einer Decke stecken. zeigen klar, was Sache ist: 8,5 Millionen Menschen sollen
Über Anzeigen auf Suchmaschinen locken unseriöse demnach in den vergangenen zwei Jahren Opfer eines In-
Unternehmen Internetnutzerinnen und -nutzer auf ihre ternetbetrugs geworden sein. 5,4 Millionen Menschen
Seiten. Viele rechnen nicht damit, dort für Dienste oder – das sind 11 Prozent aller deutschen Internetnutzer –
Software, die es im Internet im Normalfall kostenlos sind in eine Abofalle geraten. Es ist sehr bedauerlich, dass
gibt, zum Beispiel Kochrezepte, bezahlen zu müssen. In Sie erst jetzt bereit sind, das Problem zu erkennen, sich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17861
Marianne Schieder (Schwandorf)
(A) ihm anzunehmen und unseren Vorschlägen zu folgen. Das Wir haben schon vor einem Jahr gesagt – das ist der (C)
sind wir aber von Ihnen gewöhnt. Grund, warum wir jetzt tätig werden –: Wir streben eine
europäische Lösung an.
(Beifall bei der SPD – Stephan Thomae [FDP]:
Wir regieren erst seit zwei Jahren!) (Kerstin Tack [SPD]: Sie haben noch ganz an-
dere Sachen gesagt, Herr Wanderwitz!)
Wir sind bereit, den vorliegenden Gesetzentwurf zü-
gig, aber mit der nötigen Sorgfalt zu beraten, damit die- – Hören Sie einfach einmal zu. Das ist nicht zu viel ver-
sen kriminellen Machenschaften endlich der Boden ent- langt. Wir haben doch auch schön zugehört. – Wir haben
zogen werden kann. gesagt: Es hat wenig Sinn, ein europäisches Phänomen
mit nationaler Gesetzgebung allein bekämpfen zu wol-
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. len. Viele Betreiber dieser Abzockseiten haben ihren
Sitz eben nicht in Deutschland. Deswegen hätte es wenig
(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ Sinn gemacht, wenn wir ein deutsches Einzelgesetz auf
CSU]: Ihr macht jetzt mit? – Gegenruf der den Weg gebracht hätten, um dieses Phänomen zu be-
Abg. Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: kämpfen.
Das machen wir! Ihr hättet letztes Jahr zustim-
men sollen! Das wäre klug gewesen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Kerstin Tack [SPD]: Nein, das wäre
gut gewesen! Das wäre sehr gut gewesen!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Wir haben stattdessen eine europäische Regelung beför-
Kollege Marco Wanderwitz. dert. Genau diese Verbraucherrechterichtlinie hat nun
den Rat passiert, federführend vorangetrieben von der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deutschen Seite. Insofern haben wir uns überhaupt nichts
neten der FDP) vorzuwerfen; denn wenn wir nicht Gas gegeben hätten,
wäre es in Europa nicht so schnell gegangen.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ein europawei-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ter Erfolg, von Niederbayern bis Norwegen, ist
Herren! Die Ministerin hat schon skizziert, worüber wir das! – Gegenruf der Abg. Kerstin Tack [SPD]:
sprechen: über unseriöse Angebote, die getarnt im Inter- Das ist ja auch erstrebenswert!)
net auf diejenigen warten, die durchaus mit vielen seriö-
sen Angeboten in Kontakt gekommen sind. Frau Kolle- Wir sind in Europa – das hat die Ministerin schon ge-
sagt – so ziemlich die Ersten, die die Richtlinie in natio-
(B) gin Schieder, Sie haben schon darauf hingewiesen, dass (D)
es eben nicht nur schwarze Schafe gibt. Abofallen funk- nales Recht umsetzen. Jetzt haben wir den Zeitpunkt er-
tionieren deshalb so gut, weil man sie leider oft auf den reicht, an dem es Sinn macht, ein Gesetz auf den Weg zu
ersten und auch auf den zweiten Blick nicht von seriösen bringen; denn wir werden es nicht ein paar Wochen oder
Angeboten unterscheiden kann. Monate nach Verabschiedung das erste Mal korrigieren
müssen.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das kann man
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
aber grafisch hervorheben!)
hätten Sie ja gar nicht machen müssen! Das
Die Folge ist Inkasso-Stalking. Das heißt, man wird mit hätte ja gepasst!)
Forderungen überzogen, die sich schnell zu größeren – Frau Schieder, Sie wussten natürlich, wie die europäi-
Summen anhäufen. Viele zahlen unter Druck, weil sie sche Regelung genau aussehen wird, nicht wahr?
die Sorge haben, dass es noch teurer werden kann oder
weil sie vielleicht überhaupt keine Erinnerung mehr da- (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
ran haben; denn eine solche Forderung kommt meist hätten Sie auch wissen können! – Kerstin Tack
nicht eine Woche danach, sondern mit erheblicher zeitli- [SPD]: Das haben wir nicht nur gewusst! Das
cher Verzögerung. Viele scheuen den Gang zum Anwalt. haben wir aufgeschrieben!)
Zwar sind die Summen teilweise erheblich – 100 Euro – Sie haben sie formuliert. Das ist, finde ich, ein sehr
kommen da schnell zusammen –; aber trotzdem überlegt amüsanter Einwurf. Ich habe Ihren Gesetzentwurf aus
man, ob die anwaltliche Beratung nicht wahrscheinlich dem letzten Jahr noch einmal gelesen. Der sah etwas an-
genauso viel kostet. ders aus als die jetzige Regelung.
Die politischen Aktivitäten, die es in den letzten Jah- (Kerstin Tack [SPD]: Das stimmt nicht!)
ren hier im Hause im Zusammenhang mit dem Verbrau-
cherschutz im Internet gegeben hat, sind zahlreich. – Doch, es stimmt. Wir können das außerhalb der De-
batte gerne noch einmal übereinanderlegen.
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Sie
dauern aber ein bisschen lange bei Ihnen!) Wir orientieren uns, weil wir das Gesetz nicht in
Bälde wieder verändern wollen, hinsichtlich des Gesetz-
Ich will als Beispiel die unerlaubte Telefonwerbung nen- entwurfs weitestgehend an der Richtlinie. Wir werden
nen; das haben wir gesetzlich geregelt. Wir haben auch die sogenannte Schaltflächenlösung verankern und aus
die Verbraucherzentralen gemeinsam unterstützt, und ich genau diesem Grund nur das Verhältnis zu Verbrauche-
nenne Softwareprogramme als Abzockschutz. rinnen und Verbrauchern regeln. Auch daran ist im Vor-
17862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Marco Wanderwitz
(A) feld Kritik geäußert worden. Es wurde gesagt, dass man sehr viel eingekauft habe, dann könnte es problematisch (C)
das Ganze auch auf die sogenannten B2B-Verträge aus- sein, das alles auf eine Seite zu bekommen. Das ist eine
weiten könnte. Die Richtlinie sieht aber gerade den Ver- Sache, für die wir im parlamentarischen Verfahren noch
braucherschutz vor. Deshalb wollen wir auch nur im eine Lösung finden müssen. In manchen Fällen wird es
Verhältnis zu Verbrauchern tätig werden. wahrscheinlich schlicht nicht ohne Scrollen gehen.
Die rechtlichen Konsequenzen sind klar: Wer die Noch eine Botschaft zum Schluss, weil dies schon ein
neuen Gestaltungspflichten nicht beachtet, insbesondere Stück weit in direkter Verbindung zu dem heutigen Ge-
hinsichtlich der Schaltfläche, mit der man ausdrücklich setzentwurf steht: Zu der ganzen Thematik gehört nicht
bestätigt, dass man zur Kenntnis genommen hat, dass es nur seriöses Inkasso, sondern auch unseriöses Inkasso.
sich um eine kostenpflichtige Bestellung handelt – es Auch bei diesem Thema sind wir innerhalb der Koali-
geht auch darum, wie sie beschaffen ist, und um noch ein tionsfraktionen schon erheblich vorangekommen. Wir
bisschen mehr –, der hat künftig keinen Vertrag. haben das Thema identifiziert und werden uns ihm auf
Sicht widmen.
Sie haben vorhin angesprochen, Frau Kollegin
Schieder, dass Millionen Menschen in solche Fallen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
raten sind. Ich glaube, wir müssen zur Kenntnis nehmen, Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: „In
dass auch das neue Gesetz nicht dafür sorgen wird, dass Bälde“ heißt es immer!)
es künftig keine solchen Seiten mehr gibt. Wer eine Zah-
lungsaufforderung künftig bezahlt, ob im guten Glauben Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
oder aus vorauseilendem Gehorsam, kann auch künftig
Das Wort hat jetzt die Kollegin Caren Lay von der
in eine solche Falle tappen; denn dieses Gesetz wird
Fraktion Die Linke.
nicht dafür sorgen, dass es keine schwarzen Schafe mehr
gibt, die versuchen, eine Abzockfalle zu installieren. Im (Beifall bei der LINKEN)
Übrigen gilt auch nach derzeitigem Recht – das ist aus-
geurteilt –, dass in solchen Fällen kein Vertrag zustande Caren Lay (DIE LINKE):
kommt. Das ist deutsches Zivilrecht. Das steht im BGB. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das Herren! Das Internet ist aus der modernen Welt nicht
muss der Verbraucher erst einmal alles wis- mehr wegzudenken. Leider ist es auch ein Tummelplatz
sen!) für Abzocker geworden. Wer kennt nicht diese Mails,
die so vielversprechend lauten: Sie haben 500 Euro ge-
Wenn die betrügerische Absicht nachweisbar ist, wofür wonnen. – Aber wenn man nicht aufpasst, hat man am
es des subjektiven Tatbestands bedarf, haben wir es Ende eine Waschmaschine gekauft. Geködert wird mit (D)
(B)
möglicherweise auch mit einer Straftat zu tun. Dieses Spielen, Handys, Glücksspielen, Digitalkameras oder
Gesetz sorgt natürlich dafür – schon allein deshalb ist es auch angeblich kostenlosen Diensten wie Kochrezepten,
gut –, dass die Öffentlichkeit für diese Thematik sensibi- Hausaufgabenhilfen und Softwareprogrammen. In
lisiert wird; es wird aber nicht verhindern können, dass Deutschland liegt der Schaden durch diese unseriösen
Menschen in eine aufgestellte Falle tappen. Anbieter im mehrstelligen Millionenbereich. Das ist hier
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das schon mehrfach thematisiert worden.
behauptet ja auch keiner!) Während die Liste der Verfahren gegen unseriöse An-
Mit diesem Gesetzentwurf nehmen wir – das ist ein bieter immer länger wird, schießen neue Angebote wie
Kritikpunkt, der zwar nicht in diesem Haus, aber von Pilze aus dem Boden. Eine neue Website ist leicht pro-
Unternehmern geäußert wird – einen gewissen Mehrauf- grammiert, eine neue Firma schnell gegründet. So weit
wand für die Unternehmen in Kauf. Das ist ein relativ scheinen wir alle uns in diesem Hohen Hause einig zu
kleiner Aufwand. Im Regelfall ist es damit getan, den sein. Das alles ist aus meiner Sicht in den letzten Jahren
Webshop einmal umzustellen. Das halten wir für zumut- dadurch möglich gewesen, weil die Bundesregierung
bar. Gleichwohl – das muss man sagen – kostet der ge- dieses Thema viel zu lange verschlafen hat.
steigerte Verbraucherschutz die Unternehmen ein biss- Was die Bundesregierung uns heute vorlegt, ist längst
chen Geld. Gerade bei kleinen Shops wird sich das überfällig. Meine Kollegin von der SPD hat schon etwas
möglicherweise am Ende bei den Produkten niederschla- dazu gesagt, dass die Chance vertan wurde, einem SPD-
gen. Das muss man in diesem Zusammenhang zumin- Antrag zu diesem Thema zuzustimmen. Auch Die Linke
dest einmal erwähnt haben. hatte schon vor einer ganzen Weile im Zusammenhang
Ich sehe – zumindest dieses Thema möchte ich im mit dem TKG die Einführung eines Internetbuttons ge-
Zuge des parlamentarischen Verfahrens ansprechen – ein fordert.
behebbares praktisches Problem: Wir wollen, dass die (Stephan Thomae [FDP]: Das war noch ver-
Schaltfläche so aussieht, dass die gesamte Bestellung auf besserungsbedürftig!)
dem Bildschirm erkennbar ist, ohne dass man scrollen
muss, wenn man am Ende den entscheidenden Klick auf Sie haben die Chancen verpasst. Leidtragende sind auch
„Ja, ich kaufe“ macht. Das ist regelmäßig unproblema- die Verbraucherinnen und Verbraucher, die seit dieser
tisch, wenn wir uns einmal einen Internetshop mit einem Zeit sehr viel Geld verloren haben. Im Endeffekt sind
Warenkorb vorstellen, in den ich vielleicht zwei Bücher schon viel zu viele Verbraucherinnen und Verbraucher in
gelegt habe. Wenn ich aber sehr kleinteilig bzw. schlicht die Internetkostenfalle getappt. Wären Sie nicht so zö-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17863
Caren Lay
(A) gerlich gewesen, hätte das alles verhindert werden kön- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
nen. Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Haben Sie Kollegin Nicole Maisch.
gerade nicht zugehört? – Siegfried Kauder
[Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
haben wir heute schon zum dritten Mal ge- Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
hört!) und Kollegen! Das Problem, über das wir heute beraten,
Des Weiteren sind die Regelungen, die jetzt vorge- haben meine Vorrednerinnen und mein Vorredner er-
schlagen worden sind, aus unserer Sicht nicht weitrei- schöpfend dargestellt; das will ich nicht weiter auswal-
chend genug. Wir wünschen – das können wir im Laufe zen. Millionen von Menschen sind betroffen. Die be-
der Debatte weiter diskutieren – zum Beispiel wirksa- nutzten Internetseiten, die auf diesem Geschäftsfeld tätig
mere Bußgelder. Die Gewinnmöglichkeiten für unseriö- waren, sagen vielleicht auch etwas über die Hobbies der
se Internetanbieter sind riesengroß. Man hat per Internet Deutschen aus: rezepte.de, routenplaner-service.de, ge-
schnell Zugriff auf ein Riesenpublikum. Die bisherigen nealogie.de. Quer durch die Hobbies der Deutschen sind
Bußgelder sind dagegen ein Witz und müssen tatsächlich diese dubiosen Firmen tätig.
deutlich erhöht werden. Der Abzocke durch diese Abofallen möchten Sie jetzt
(Beifall bei der LINKEN) mit der sogenannten Buttonlösung einen Riegel vor-
schieben.
Weiter sagen wir als Linke: Wer von Internetabzocke
spricht, der darf auch über Inkassoangstmache nicht (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Werden wir!)
schweigen. Ich habe sehr wohl vernommen, dass auch
Das begrüßen wir ausdrücklich; wir finden das gut.
die CDU/CSU dieses Thema heute angesprochen hat.
Diese Lösung ist schon länger auf dem politischen
Ich bin gespannt, wie wir uns hier im Laufe des Gesetz-
Markt. Es hat etwas gedauert, bis sich Schwarz-Gelb
gebungsverfahrens verständigen werden. Beides gehört
diese Lösung zu eigen gemacht hat. Die Buttonlösung ist
unmittelbar zusammen; denn das Zusammenspiel von
richtig, weil sie Folgendes anerkennt: Zwar kommt, wie
Internetabzockern und unseriösen Inkassofirmen ist gän-
die Ministerin richtigerweise gesagt hat, oft überhaupt
gige Praxis.
kein Vertrag zustande, das heißt, niemand müsste zahlen;
Viele Menschen zahlen heute aus Angst selbst unbe- aber juristische Laien, also alle, die nicht Jura studiert
rechtigte Forderungen. Oft lassen Phantasiepreise, Auf- haben, wissen das oft nicht. Dieser Button ist also sinn-
schläge und Zinsen die Gesamtkosten explodieren. Eine voll, weil er auch für den juristischen Laien verständlich
(B) Schuldnerberatung hat beispielsweise von folgendem ist. (D)
Fall berichtet: Es gab eine ursprüngliche Forderung in
Höhe von 20,84 Euro. Am Ende wurden 1 200 Euro ver- Natürlich stellen wir als Opposition immer dar, was
langt. wir nicht gut finden oder was man noch zusätzlich regeln
könnte. Herr Wanderwitz hat ausgeführt, dass sich dieser
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Dann hätte sie Gesetzentwurf an dem orientiert, was durch die europäi-
mal die 20 Euro bezahlt!) sche Verbraucherrechterichtlinie vorgegeben ist. Wir
stellen uns deshalb die Frage, warum ein wesentlicher
Eine Auswertung der Verbraucherzentralen von 4 000
Teil der Informationspflichten, die in der Richtlinie zum
Verbraucherbeschwerden über Inkassofirmen hat erge-
Thema Button aufgeführt sind, nicht umgesetzt werden
ben: 99 Prozent der Verbraucherbeschwerden waren be-
soll.
rechtigt.
Es kann doch nicht sein, dass die Politik auf diese or- Über den Button werden verschiedene Informationen
ganisierte Abzocke nur alle paar Jahre mit wenigen zag- gegeben. Es wird informiert, dass Kosten entstehen und
haften Schritten antwortet. Ich finde, die Bundesregie- in welcher Höhe. Man erfährt aber nichts über die Kün-
rung hinkt den immer neuen Anbietertricks hoffnungslos digungsmodalitäten. Wenn man über einen solchen But-
hinterher. Das halte ich aus verbraucherpolitischer Sicht ton ein Abo für Klingeltöne oder anderes abschließt,
für eine Zumutung. wäre es aber sinnvoll, nicht nur zu wissen, dass dies zum
Beispiel 5 Euro pro Monat kostet, sondern es wäre auch
(Beifall bei der LINKEN) logisch, dass darüber informiert wird, wie man aus die-
sem Abo wieder herauskommt. Dies wird durch die
Wir als Linke fordern Maßnahmen, die konsequent und
Richtlinie ohnehin ab 2013 vorgeschrieben. Deshalb
vorausschauend sind. Wir werden die Bundesregierung
schlagen wir vor, dass Sie in den Beratungen zum Ge-
und die Koalition nicht an ihrer Rhetorik, sondern an der
setzentwurf die vorvertraglichen Informationspflichten,
Wirksamkeit ihrer Maßnahmen messen.
die Sie aufgenommen haben, um die Kündigungsmoda-
Vielen Dank. litäten erweitern. So viel im Detail zum Gesetzentwurf.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir kritisieren natürlich auch, dass es so lange gedau-
neten der SPD – Siegfried Kauder [Villingen- ert hat, bis dieser Gesetzentwurf vorlag. Die Button-
Schwenningen] [CDU/CSU]: Welche Vor- lösung ist, wie gesagt, schon lange auf dem politischen
schläge haben Sie denn? Gehört haben wir Markt. Millionen von Fällen, Tausende Beschwerden je-
nichts!) den Monat bei den Verbraucherzentralen waren nötig,
17864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Nicole Maisch
(A) bis Sie sich dazu entschlossen haben, eine Lösung vor- den Betrug im Internet eindämmen. Der Gesetzentwurf (C)
zuschlagen. dazu liegt heute auf dem Tisch.
Ich habe schon davon gesprochen: Die rechtliche Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
tuation ist das eine, die Realität in den Augen der juristi- Caren Lay [DIE LINKE]: Warum hat das denn
schen Laien, also der meisten Verbraucherinnen und so lange gedauert?)
Verbraucher, ist das andere. Zu einem solchen unterge-
schobenen Vertrag gehört natürlich auch das Inkasso- Worum geht es? Wir sprechen von einer Button-
unternehmen. Entscheidend ist ja nicht, welcher Vertrag lösung. Was ist das, und was wollen wir damit errei-
zustande kommt, sondern, ob der Kunde wirklich zahlt. chen?
Durch die deutliche Buttonlösung werden wir bestimmt (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
viele Verbraucherinnen und Verbraucher schützen, aber wissen wir doch schon alles!)
das Problem mit den unseriösen Inkassounternehmen ist
dadurch nicht gelöst. Es gehören immer zwei dazu: der Laut einer aktuellen Untersuchung von Infas sind bereits
eine, der den dubiosen Vertrag in irgendeiner Form an- 5,4 Millionen deutsche Internetnutzer in eine Abofalle
bahnt, und der andere, der den Verbrauchern das Geld getappt; das sind immerhin 11 Prozent aller deutschen
aus der Tasche zieht. Internetnutzer. Bei den Verbraucherzentralen gehen bun-
desweit rund 22 000 Beschwerden im Monat ein.
Im ELV-Ausschuss haben wir in dieser Woche mit
Freude zur Kenntnis genommen, dass zumindest Eck- (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]:
punkte für eine Regulierung der dubiosen Inkassounter- Habt ihr deswegen ein Jahr gewartet, um das
nehmen geplant sind. Man muss aber sagen, dass inoffi- Problem zu lösen?)
zielle Eckpunkte bei den meisten schwarzen Schafen auf
Es geht um Kochrezepte, Horoskope, Fun-Videos und
dem Markt nicht unbedingt das große Zittern auslösen.
lustige Klingeltöne, die vom Nutzer als scheinbar kos-
(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Sie werden tenlose Dienste heruntergeladen werden. Oft steht auf
unruhig!) der Seite ganz prominent „gratis“ oder „free“. Weiter un-
ten – versteckt – steht dann „kostenpflichtig“ oder viel-
Da muss man schon etwas mehr tun. Wir warten also auf
leicht auch „Nur frei für die erste von weiteren Lieferun-
einen Gesetzentwurf statt inoffizieller Eckpunkte.
gen“. Andere Seiten ködern mit Sach- oder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geldgewinnen. Da werden Handys, Spielekonsolen oder
Digitalkameras versprochen. Manch einer glaubt, der
Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Das einzige Schritt, der ihn noch vom Hauptgewinn trennt,
Tempo, in dem sich im digitalen Zeitalter die Märkte sei das Eintragen seiner persönlichen Daten in die (D)
(B)
und damit auch dubiose Geschäftspraktiken entwickeln, Maske.
stellt an uns Politiker als Regulierer höhere Anforderun-
gen bezüglich der Geschwindigkeit, mit der wir reagie- Auf die teilweise beträchtlichen Kosten wird meist
ren. Mein Eindruck hinsichtlich dieser Buttonlösung, nur versteckt im Kleingedruckten hingewiesen. Bei eini-
aber auch hinsichtlich der Maßnahmen gegen diese In- gen Anbietern muss man bis an das Ende der Seite scrol-
kassounternehmen ist, dass die Politik mit Ihnen als len bzw. blättern, um dann, versteckt zwischen zahlrei-
schwarz-gelbe Regierung vorweg bei diesem Tempo chen anderen Informationen, im Fließtext den
nicht mithalten kann. Das finde ich schade. Wir können Preishinweis zu finden. Leicht hat man, ohne es zu wol-
nicht mit der Geschwindigkeit des analogen Zeitalters len, mit einem Klick ein ganzes Abo bestellt. Auch ver-
auf verbraucherpolitische Herausforderungen der digita- sierte Internetnutzer lassen sich so überrumpeln. Darauf
len Zeit reagieren. Das ist zu langsam. Das ist die Kritik, legen es diese Firmen an. Es geht ums schnelle Geldver-
die in diesem Zusammenhang geäußert werden muss. dienen. Die Geschäftsidee ist Verschleiern, Verstecken,
Verschweigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Klar ist: Schon heute müsste der Verbraucher meist
KEN) nicht zahlen, weil kein rechtmäßiger Vertrag zustande
gekommen ist. Aber wer weiß das schon? So etwas kön-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen Juristen gut beurteilen; aber die meisten Verbraucher
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin sind nun einmal keine Juristen. Als Verbraucher fühlt
Mechthild Heil. man sich dann hilflos, wenn eine Rechnung ins Haus
flattert. Man ärgert sich vielleicht über sich selber, gibt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) am Ende aber zermürbt auf und zahlt, auch weil man den
Gang vors Gericht scheut. Doch damit, meine Damen
Mechthild Heil (CDU/CSU): und Herren, ist heute Schluss. Zukünftig gilt: Der Ver-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und trag kommt nur zustande, wenn der Kunde auf eine ge-
Kollegen! Mit der heute zu treffenden Entscheidung zur sonderte Schaltfläche, also auf einen Button, klickt. Dort
Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches lösen wir ein muss zu lesen sein: „zahlungspflichtig bestellt“. Es müs-
weiteres wichtiges Verbraucherschutzversprechen des sen Angaben zum Preis, zur Vertragslaufzeit und zu den
Koalitionsvertrages ein. CDU/CSU und FDP haben ver- Gesamtlieferkosten zu finden sein. Diese einfache und
einbart, ein verpflichtendes Bestätigungsfeld für alle klare Lösung schützt die Kunden vor Kostenfallen und
Vertragsabschlüsse im Internet zu schaffen. Wir wollen stärkt das Vertrauen der Kunden ins Internet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17865
Mechthild Heil
(A) Wir wählen für die Schaltflächenlösung einen tech- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
nikneutralen Ansatz. Sie funktioniert auf Tablet-PCs und der LINKEN und des Abg. Oliver Krischer
Smartphones genauso wie auf Spielekonsolen. Dies be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
deutet für den Handel erheblich niedrigere Umsetzungs-
kosten. Als wir das hier vor über 500 Tagen debattiert haben,
hat ein Kollege aus der CDU gesagt, man wolle das mit
Ein schwieriger Punkt im Hinblick auf Abofallen wa- Europa regeln, aber wenn das so lange dauert, dann
ren in den letzten Wochen und Monaten vor allen Din- wolle man im Herbst einen eigenen Entwurf vorlegen.
gen Smartphones. Hier gab es ein weiteres Schlupfloch.
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen]
Schon ein Klick auf ein Werbebanner konnte dazu füh-
[CDU/CSU]: Passt doch!)
ren, dass unseriöse Anbieter über den Telefonprovider
Beträge für eine fiktive Dienstleistung in Rechnung Die Rede war vom Herbst des Jahres 2010.
stellten und sie einfach vom Konto der Mobilfunknutzer
abzogen, in der Fachsprache „WAP-Billing“ genannt. (Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Sie wissen
Dieses Schlupfloch haben wir bereits vor einigen Wo- doch gar nicht, was gemeint war!)
chen im Telekommunikationsgesetz erfolgreich ge- Heute, kurz vor Weihnachten des Jahres 2011, kommen
schlossen. wir endlich zu einem Gespräch über einen völlig not-
wendigen Gesetzentwurf. Aber wir wissen ja, dass die
(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Bundesregierung immer ein wenig mehr Zeit braucht,
Jeder Smartphonenutzer kann diese Form der Abrech- als man das erwarten kann, wenn es darum geht, die Ab-
nung jetzt sperren lassen, um sicherer im Internet zu sur- zocke und die Kosten der Verbraucherinnen und Ver-
fen. braucher zu minimieren.
(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!) Die Baustellen sind groß. Ich nenne zum Beispiel die
Regelungen zur Einführung eines Rechts auf ein Giro-
Die Verbraucherzentralen tragen unsere Lösung un- konto für jedermann, die Gebühren für ein Pfändungs-
eingeschränkt mit. Wir haben in Brüssel durchgesetzt, schutzkonto, die Gebühren für das Onlinebanking, die
dass diese Buttonlösung europaweit zum Standard wird. Gebühren für das Geldabheben an Bankautomaten, die
überzogenen Dispozinsen und die Einführung von Ho-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
norarberatungen. Allüberall gibt es offene Baustellen
Nur die Freunde der Opposition meckern weiter herum – und geht es um die Abzocke von Verbraucherinnen und
auch heute. Schade, dass Sie nicht gutheißen können, Verbrauchern und um Kosten, die ihnen entstehen, ohne
(B) was wirklich gut gemacht ist. dass es gesetzlich reglementiert werden würde. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der SPD – Marco Wanderwitz [CDU/
Caren Lay [DIE LINKE]: Es hat einfach zu CSU]: Man kann nicht alles regeln!)
lange gedauert! – Marianne Schieder Die Kosten, die dadurch entstanden sind, dass so lange
[Schwandorf] [SPD]: Wir meckern nicht, wir gewartet wurde, wurden hier mehrfach angedeutet.
stellen fest! – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]:
Viel zu langsam!) Dieser Gesetzentwurf ist aber eben nur ein Teil des
Problems. Die Inkassounternehmen, die mit ihren Me-
Wir helfen den Internetnutzern, und das ist das, was thoden dazu beitragen, dass die Kosten der Verbraucher
zählt. Auf diesem Weg werden wir weitergehen. noch um ein Vielfaches steigen, sind die andere Seite
Vielen Dank. derselben Medaille. Die Inkassounternehmen verhalten
sich teilweise wie im Wilden Westen und bewegen sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – darin sind wir alle uns hier sehr einig – jenseits von
Gut und Böse.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Auch das will ich deutlich sagen: Eckpunktepapiere
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack für die reichen hier nicht aus.
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der
(Beifall bei der SPD) LINKEN)
Als es um die Honorarberatung ging, haben wir gesehen,
Kerstin Tack (SPD): wie die Bundesregierung mit einem vorgelegten Eck-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und punktepapier umgeht. Die Aussage zum Zeitplan ist:
Kollegen! Vom Grundsatz her begrüßen wir diesen Ge- Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
setzentwurf, und wir werden ihm auch zustimmen. Das (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das BMJ
können wir an dieser Stelle sagen; denn es ist ja ganz liefert!)
eindeutig, dass unser Vorschlag, den wir hier vor sage
und schreibe 525 Tagen eingebracht haben, von Ihnen Ich glaube nicht, dass es noch in dieser Wahlperiode, wie
abgelehnt worden ist. Ich finde, nach 525 Tagen kann lange sie auch noch gehen mag, zu einer Regelung für
man sehr wohl einmal sagen: Das hat aber lange gedau- Honorarberater kommt, und ich nehme Ihnen auch nicht
ert, Frau Ministerin. ab, dass aus dem Eckpunktepapier zur Reglementierung
17866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Kerstin Tack
(A) der Inkassounternehmen noch in dieser Wahlperiode Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers- (C)
eine Regelung hervorgehen wird. tem Redner dem Kollegen Markus Kurth von Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Da halte ich aber
dagegen!)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Darüber können wir uns gerne unterhalten, wenn ein Ge-
setzentwurf vorgelegt wird, sodass wir über geeignete Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehr-
Maßnahmen reden können. ten Damen und Herren! Es ist Weihnachten, die Zeit, um
Pakete zu packen. Auch Frau von der Leyen hat – schon
Ich glaube, dass Maßnahmen gegen Kostenfallen im vor einigen Monaten – ein Paket gepackt, nämlich das
Internet überfällig sind. In der Tat werden Opfer von Bildungs- und Teilhabepaket. Es zeigt sich jetzt vor
Kostenfallen sehr häufig die Menschen, die an ganz vie- Weihnachten, nach nicht einmal einem Jahr: Es ist ein
len Stellen, mehrfach, zum Opfer werden, also nicht nur Paket, das man überhaupt nicht auspacken kann.
durch Kostenfallen im Internet oder durch Inkassounter-
nehmen. Das sind ganz häufig Leute, die aufgrund ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
eigenen Situation immer wieder eines besonderen Schut-
zes bedürfen. Bei der Inanspruchnahme von Leistungen aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket zeigt sich nach den Umfra-
Deshalb ist es so wichtig, dass wir bei diesem Gesetz- gen auch des Deutschen Städte- und Gemeindebundes
entwurf nicht nur darüber reden, wie die Verbraucherin- vom Oktober dieses Jahres ein erschreckendes Bild.
nen und Verbraucher vor einer Abzocke geschützt wer- Beim Mittagessen etwa sind es ganze 27,4 Prozent der
den können, sondern auch darüber, dass für uns der Anspruchsberechtigten, die in den Genuss der Leistung
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher auch in kommen. Nun könnte man da noch sagen: Gut, es sind
anderen Bereichen vor den Interessen der Unternehmen nicht in allen Schulen und Kindertagesstätten die ent-
und der Wirtschaft steht. Hier warten wir auf Ihre Vor- sprechenden Infrastrukturen – Küchen, Essen – vorhan-
schläge, auch für all die anderen Baustellen, die ich ge- den.
rade genannt habe.
Aber schauen wir einmal auf die sogenannte Teilha-
Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind darauf bepauschale, also die 10 Euro, die monatlich für Sport-
angewiesen, dass Sie tätig werden. Also, bitte schön, le- verein, Musikschule, kulturelle Bildung und anderes
gen Sie vor! mehr zur Verfügung stehen sollen. Da ist es gerade ein-
Herzlichen Dank. mal jedes sechste Kind, das in den Genuss dieses Betra-
ges kommt. Bei der Lernförderung sieht es noch viel bit-
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
terer aus. Da sind es ganze 5 Prozent der Kinder, die
der LINKEN) diese Förderung in Anspruch nehmen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist die Situation fast zwei Jahre nach dem Urteil
Ich schließe die Aussprache. des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen. Das
muss man sich einmal vor Augen führen. Ein Jahr haben
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Sie gebraucht, um ein Gesetz zu machen. Dann folgte
wurfs auf Drucksache 17/7745 an die in der Tagesord- ein Krisengipfel dem nächsten. Am 18. April war bereits
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es der erste, am 28. Juni der nächste. Zuletzt gab es einen
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann am 2. November 2011. Jedes Mal wurden Verbesserun-
ist die Überweisung so beschlossen. gen versprochen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Ich habe auch angesichts der Zahlen des Städte- und
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Gemeindebundes einmal eine eigene Umfrage bei Rats-
Kurth, Fritz Kuhn, Kai Gehring, weiterer Abge- fraktionen und Kreistagsfraktionen gemacht. Ich habe
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE einen ganz guten Rücklauf bekommen. Es ist wirklich
GRÜNEN ein Befund, der einen nicht kaltlassen kann.
Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen Natürlich läuft nicht alles schlecht. Viele geben sich
für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, wirklich Mühe, das trotz der unzulänglichen Rahmenbe-
zielgenau und bedarfsgerecht erbringen dingungen, die Sie gesetzt haben, umzusetzen. Aber die-
ser Antrag ist notwendig; denn die Kinder können nicht
– Drucksache 17/8149 –
warten.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Eine Ursache für die schlechte Umsetzung ist wirk-
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss lich die Bürokratie. Ich zitiere einmal zwei, drei Sätze
aus den Rückmeldungen, die ich erhalten habe. Der So-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zialamtsleiter von Dortmund sagt:
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Die Stunde der Bürokraten hat geschlagen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17867
Markus Kurth
(A) Aus der Ratsfraktion Hamm bekomme ich die Rück- Vielen Dank. (C)
meldung:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Vorgaben der Bundesregierung verhindern
mehr, als sie fördern. Ein Hoch auf die Bürokratie. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Verwaltung verschlingt nach meinen Hochrech- Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die
nungen bis zu 30 Prozent der gesamten Mittel. Das Ein- Kollegin Heike Brehmer.
zige, was wirklich boomt, sind die Neueinstellungen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Sozialämtern, um das Ganze abzuwickeln.
Es gibt etliche Widersprüche und Verfahren, weil es Heike Brehmer (CDU/CSU):
unbestimmte Rechtsbegriffe gibt. Nehmen wir zum Bei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
spiel die Lernförderung, bei der überhaupt nicht richtig Kollegen! Unsere Kollegen von der Fraktion Bünd-
klar ist, zu welchem Zeitpunkt vor dem Schuljahres- nis 90/Die Grünen haben uns diesen Tagesordnungs-
wechsel man überhaupt in den Genuss der Lernförde- punkt beschert. Aber, Herr Kurth, wie sagten Sie so
rung kommt. Muss man schon kurz vor „ungenügend“ schön? Wir sollen Ihr Paket auspacken. Aber wir wollen
oder „mangelhaft“ stehen, oder reicht auch die Gefahr, Ihr Paket gar nicht auspacken.
dass man in den Bereich „ausreichend-minus“ oder (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
„mangelhaft“ kommt? Es gibt Verwaltungsstellen, die NEN]: Schwerer Fehler!)
sagen: Warten wir erst einmal ab. Wir machen die Lernför-
derung im Mai, zwei Monate vor der Zeugnisvergabe. – Es Denn, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von den
gibt einen Flickenteppich von unterschiedlichen Rechts- Grünen, eine echte Chance, wie Sie es nennen, haben
verhältnissen und einen ganz hohen bürokratischen Auf- wir Kindern und Jugendlichen gegeben, als wir von der
wand bei Antragstellern, Schulen, Vereinen und Behör- christlich-liberalen Koalition gemeinsam mit der SPD
denmitarbeitern. das Bildungspaket im Frühjahr beschlossen haben. Wir
haben rund 2,5 Millionen Kindern Teilhabe an gesell-
Sehr treffend, finde ich, hat es ein Lehrer vom Neu- schaftlichen Aktivitäten und Bildungsangeboten ermög-
köllner Albert-Schweitzer-Gymnasium ausgedrückt – das licht. Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes er-
war vorgestern im Tagesspiegel nachzulesen –, der sagte: hält nahezu jedes zweite Kind in unserem Land eine
Im Verhältnis zu den Summen, die bewilligt wer- Leistung aus dem Bildungspaket.
den, ist das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) – er meint den bürokratischen Aufwand – neten der FDP – Angelika Krüger-Leißner (D)
[SPD]: Das ist zu wenig!)
schlicht Wahnsinn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
So ist es auch. insbesondere Herr Kurth, vielleicht waren Sie mit Ihren
Gedanken bei der Ausformulierung Ihres Antrags noch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der vorletzten Legislaturperiode, als Sie die Hartz-IV-
und bei der LINKEN) Gesetze auf den Weg gebracht haben. Anders als die
Was macht diese Bundesregierung? – Sie stiehlt sich SPD haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen, als
aus der Verantwortung. Frau von der Leyen steht hier es in diesem Frühjahr darum ging, wie das Bildungs-
und verkündet und verkündet. Der Staatssekretär Ralf paket bzw. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Brauksiepe antwortet auf meine Frage am 30. November umgesetzt werden kann.
2011: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
Die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes ruf von der CDU/CSU: Da hat die arme SPD
obliegt nicht der Bundesregierung; denn Träger … alleine gestanden!)
sind die Kreise und kreisfreien Städte. Mit dem Gesetz zum Bildungs- und Teilhabepaket ha-
Er schließt: ben wir erstmals seit der Einführung der Hartz-IV-Ge-
setze eine sachbezogene, zielgerichtete Leistung auf den
Der Bund hat hierbei keine Regelungs- und Ent- Weg gebracht, die dorthin fließt, wohin sie direkt soll:
scheidungskompetenz. direkt zum Kind.
Sie stehlen sich aus der Verantwortung. Ich fordere Sie (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
auf: Beraten Sie unseren Antrag! Wir machen sehr ziel- GRÜNEN]: Sie kommt nur nicht an!)
genau und differenziert Vorschläge, was man auszahlen
und was man über die Infrastruktur abwickeln kann. Ma- Es ist erfreulich, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
chen Sie endlich einen Schritt, damit wir nicht nächstes nach ersten Anlaufschwierigkeiten inzwischen von im-
Jahr zu Weihnachten wieder sagen müssen: Das ist ein mer mehr Familien in Anspruch genommen wird. Bis
Paket, das man nicht auspacken kann. Oktober 2011 haben 44 Prozent der Anspruchsberechtig-
ten für ihre Kinder Leistungen aus dem Bildungspaket
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE beantragt. Einen Monat später ist die durchschnittliche
GRÜNEN]: Und das zu Weihnachten! Un- Antragsquote sogar auf mehr als 45 Prozent gestiegen.
glaublich!) Die Tendenz steigt. Das zeigt: Es gibt eine Bereitschaft
17868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Heike Brehmer
(A) bei den Familien, das Bildungspaket zu beantragen und nige Landkreise haben sogar jeden einzelnen Hartz-IV- (C)
zu nutzen. Haushalt angeschrieben und eine Telefonhotline einge-
richtet. Zusätzlich werden Eltern über Kindergärten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Schulen und die kommunalen Einrichtungen angespro-
Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen. Es liegt im Verantwortungsbewusstsein der Eltern,
NEN]: Gucken Sie sich die einzelnen Leistun-
ihrem Kind mit Hilfe eines Antrages die Chance auf
gen an!)
Teilhabe zu geben. Die christlich-liberale Koalition
Dass diese Bereitschaft noch mehr zunimmt, wünsche möchte die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung entlas-
ich mir für die Zukunft. sen.
Bedauerlicherweise verläuft die Antragstellung in der Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass es re-
Praxis trotz positiver Entwicklung schleppend. Das Bun- gional unterschiedlich ermäßigte Musikschulbeiträge
desministerium für Arbeit und Soziales hat diese Ent- oder freies Mittagessen gibt oder in manchen Vereinen
wicklung beobachtet und sehr schnell reagiert. sogar keine Beiträge gezahlt werden und so Kindern und
Jugendlichen eine Teilhabe ermöglicht wird.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben doch keine Entscheidungs- Es ist uns gelungen, das Bildungspaket bei voller
kompetenz! Das sagt der Staatssekretär!) Kostenerstattung durch den Bund in kommunale Zustän-
digkeit zu überführen. Was Sie in Ihrem Antrag äußern,
– Hören Sie doch einmal zu! Dann lernen Sie vielleicht liebe Kollegen, ist schlichtweg ungerechtfertigt. Schließ-
dazu. – Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr hat un- lich haben wir uns beim Bildungspaket bewusst für das
sere Ministerin Frau von der Leyen einen runden Tisch Sachleistungsprinzip entschieden. Mit der Vereinfa-
einberufen und gemeinsam mit Vertretern von Bund, chung des bürokratischen Aufwands sind wir Eltern und
Ländern und Kommunen die Umsetzung des Bildungs- Behörden auf praktischem Weg entgegengekommen.
paketes beraten. Der beim letzten runden Tisch verein- Nun ist es an ihnen, diese Chance auch zu nutzen.
barte Globalantrag geht in die richtige Richtung. Mit
ihm soll die Beantragung des Bildungspaketes für die El- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
tern einfacher gestaltet werden. Die Kommunen feilen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
derzeit daran, diesen vereinfachten Antrag nach ihren
Möglichkeiten umzusetzen. Dort, wo durch das Bil-
dungspaket zusätzlicher Aufwand entsteht, können die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Behörden mehr Personal einstellen. Der Bund stellt da- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
für 163 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Die Markus Kurth das Wort.
(B) christlich-liberale Koalition ermöglicht damit Teilhabe (D)
(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Jetzt aber kurz,
und beugt Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen Herr Kurth!)
vor.
Aus meinem Wahlkreis Harz und dem Salzlandkreis Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kann ich berichten, dass die meisten Zuschüsse zum Mit- Da viele zu Weihnachtsfeiern müssen, mache ich es
tagessen und zum Schulbedarf genutzt werden. Diese kurz. – Ich möchte Sie darauf hinweisen, Frau Brehmer,
Leistungen wurden vom Kitaalter bis zum Abitur bean- dass die Inanspruchnahmequote von 45 Prozent, die Sie
tragt. Die Nachfrage steigt. Dies beweist die wachsende genannt haben, vor allen Dingen deswegen zustande
Zahl der Anträge seit dem Sommer. kommt, weil das sogenannte Schulbasispaket, das es
schon vorher gegeben hat, also etwa Zuschüsse zu
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schulbüchern, natürlich weiterhin in Anspruch genom-
Frau Kollegin Brehmer, der Kollege Kurth möchte Ih- men wird. Wenn wir uns das differenziert anschauen,
nen eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das? Mittagessen, Teilhabepauschale, Lernförderung, dann
kommen wir auf eine wesentlich geringere Quote.
Heike Brehmer (CDU/CSU): Sie haben gesagt: Der Bund stellt noch mehr Geld für
Nein. Verwaltungskosten zur Verfügung. Ich wollte Sie wäh-
rend der Debatte fragen, ob Sie auch nur eine andere So-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
zialleistung kennen, bei der das, was ausgereicht wird,
Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
zu dem, was für die Verwaltung verwendet wird, in ei-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nem derart grotesken Missverhältnis steht, nämlich dass
überschlägig für jeden Euro, der ausgegeben wird,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 30 Cent an Verwaltungskosten entstehen.
Nein, keine Zwischenfrage.
(Anette Kramme [SPD]: Schämen Sie sich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nicht?) Zur Erwiderung Frau Brehmer.
Angelika Krüger-Leißner
(A) anschließen: Allein die bescheinigte Versetzungsgefähr- Sie wollten lokale Lösungen, und Sie haben geglaubt, (C)
dung zur Grundlage der Entscheidung zu machen, ist dass damit Bürokratie verhindert werden könnte.
viel zu kurz gedacht. Auch hier muss es Veränderungen
geben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wollen Sie sagen, dass die Kom-
munen schuld sind?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss. Ich darf Sie einmal an Ihre eigenen Worte erinnern.
Während der Hartz-IV-Verhandlungen, als Sie die Ver-
antwortung gescheut und die Verhandlungen fluchtartig
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
verlassen haben, haben Sie in Ihrem Parteirat einen Be-
Ja, vielen Dank. – Der letzte runde Tisch im Novem- schluss gefasst. Ich darf Ihnen die entsprechende Pas-
ber hat der Ministerin die Auflage erteilt, im SGB II sage zitieren. Das Zitat aus Ihrem einstimmig im Partei-
nachzujustieren. Ich denke, es ist an der Zeit, zum Bei- rat gefassten Beschluss lautet:
spiel über einen Globalantrag nachzudenken. Dessen
Bearbeitung würde Zeit sparen, er würde entbürokrati- Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen
sieren und auch die Hürden für den Antragsteller senken. bis zum gestrigen Abend wichtige Änderungen er-
Dann könnte Frau Ministerin wirklich ihr Ziel erreichen: reicht: Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von
Kinder sollen schnell an die Hilfen aus dem Bildungs- den Kommunen organisiert und nicht von den Job-
und Teilhabepaket kommen. centern, wie sich dies die Arbeitsministerin vor-
stellte.
Ich danke.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
NEN]: Aber wer setzt denn die Rahmenbedin-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gungen, Herr Kober?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Seien Sie doch nicht so nervös, Herr Kurth.
Jetzt spricht der Kollege Pascal Kober für die FDP- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Fraktion. NEN]: Sind wir nicht!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich zitiere weiter:
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dass viele Kinder ihren Anspruch auf Bildung und
NEN]: Das schlagen wir gar nicht vor! Sie ha- Teilhabe nicht wahrnehmen können, ist schlichtweg
ben unseren Antrag nicht gelesen!) falsch. Inzwischen profitieren rund 43 Prozent der Kin-
der in den Städten und Landkreisen, die in Grundsiche-
Die bestehende Regelung erlaubt es doch gerade, jedes rung leben, von diesem Angebot; im Juni waren es in
Kind individuell dort zu fördern, wo Förderbedarf be- den Landkreisen noch 29 Prozent und in den Städten nur
steht. 25 Prozent.
(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Eben nicht! (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Ja, aber das
Nur wenn sie versetzungsgefährdet sind! – ist zu wenig!)
Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben unseren Antrag nicht gele- An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es durch-
sen!) aus normal ist, wenn das Bekanntwerden einer neuen
Förderung etwas Zeit braucht, um sich zu etablieren.
– Ich habe den Antrag sehr wohl gelesen. Ich gehe schon
noch auf einige Passagen ein, Herr Kurth. Keine Angst! (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Genau!)
17874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Paul Lehrieder
(A) Sie haben es selbst angesprochen, Frau Kollegin (Pascal Kober [FDP]: Wahrscheinlich SPD-re- (C)
Krüger-Leißner: Haben wir genügend Kinder erreicht? giert!)
Sie haben natürlich recht: Wir haben sie noch nicht alle
erreicht. Die Zahl reicht bislang noch nicht aus. Hier Kein Wunder, dass sich viele Antragsteller in diesem La-
müssen wir noch etwas tun; das habe ich bereits ange- byrinth verirren und die Leistungen dann nicht bei den
sprochen. Die Zahlen beweisen aber, dass wir auf einem Kindern ankommen! Das müssen wir ändern!
guten und richtigen Weg sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Herr Kurth, Sie haben eine Umfrage gemacht. Ich DIE GRÜNEN)
habe mich auch erkundigt, und zwar bei meiner Kom- Schade, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
mune, in meinem Wahlkreis Würzburg. Hier leben 2 200 dass Sie sich im letzten Jahr im Vermittlungsausschuss
bezugsberechtigte Kinder. Seit Inkrafttreten des Bil- zurückgezogen haben
dungs- und Teilhabepakets gingen beim dortigen Job-
center 1 700 Anträge ein. Sie sehen, das Paket kommt (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
an. NEN]: Dieses Jahr!)
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und nicht mit uns gemeinsam bei der Gestaltung des Bil-
GRÜNEN]: Differenzierte Zahlen bitte! Wie dungs- und Teilhabepakets gekämpft haben. Wir hinge-
viele Kinder haben Lernförderung bekommen, gen haben viele Verbesserungen für die Kinder und Ju-
Herr Lehrieder?) gendlichen durchgesetzt. Einsatz zur richtigen Zeit und
Ich freue mich, dass bei Ihnen die Erfolgsquoten ähnlich am richtigen Ort lohnt sich also.
hoch sind. Das heißt: Sie sprechen wider besseres Wis- (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND-
sen von einer anderen Situation als der, die Sie in Ihrem NIS 90/DIE GRÜNEN]: 5 Euro Regelsatzer-
Wahlkreis tatsächlich wahrnehmen. Das muss auch ein- höhung!)
mal gesagt werden.
Wir haben im Vermittlungsausschuss auch Ideen vor-
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Ko- gestellt, wie die Leistungen diskriminierungsfrei und
alition sorgt dafür, dass bedürftige Kinder gefördert wer- unbürokratisch bei den Kindern und Jugendlichen an-
den und Chancen haben, genau wie andere Kinder auch. kommen können. Diese Vorschläge wurden von der
Wir begleiten den Erfolg des Programmes und erwarten Ministerin allerdings nicht aufgegriffen.
im Frühjahr 2012 die Ergebnisse einer in Auftrag gegebe-
nen unabhängigen Studie des Instituts für Sozialfor- In meinem Wahlkreis in Lübeck beispielsweise gab es
schung und Gesellschaftspolitik. Denn der gute Wille al- bereits vor dem Bildungs- und Teilhabepaket einen gut
(B) lein reicht hier nicht aus; das Programm muss ankommen funktionierenden Bildungsfonds für bedürftige Kinder. (D)
und angenommen werden. Und genau dafür setzen wir Dieser wird von Schulen und Kitas selbst verwaltet.
uns ein. Lehrkräfte und Erzieherinnen kennen ihre Kinder
schließlich am besten und wissen, wo Förderbedarf be-
Lieber Kollege Kurth, ich bin für Ihre konstruktiven, steht. In Hamburg gibt es übrigens ein ähnlich gutes Mo-
kritischen Anmerkungen immer sehr dankbar. Wir be- dell ohne riesigen Verwaltungsaufwand. Warum, so
achten, was Sie in Ihrem Antrag schreiben; aber wir wer- frage ich Sie, greift die Ministerin diese Vorschläge nicht
den diesen Antrag heute natürlich ablehnen. auf? Sie muss den Prozess steuern. Wer denn sonst?
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Die
Ihnen wünsche ich ein gesegnetes Weihnachtsfest und SPD-Oberbürgermeister!)
besinnliche Stunden mit Ihren Familien.
So wie es jetzt aussieht, wird Frau Ministerin von der
Herzlichen Dank. Leyen zu Weihnachten auf ihren Bildungs- und Teilha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bepaketen sitzen bleiben, und die Kinder gehen bei der
Bescherung leer aus. Ist das der Plan, um den Haushalt
der Ministerin zu schonen? Wo, liebe Kolleginnen und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kollegen der Regierungsfraktionen, bleibt Ihr Einsatz
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt für die Kinder? Von Bildungsgerechtigkeit keine Spur!
erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm
von der SPD-Fraktion. Immer noch verlässt jeder zehnte Jugendliche die
Schule ohne Abschluss.
(Beifall bei der SPD)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die meisten in
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): SPD-regierten Ländern!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Ministerin von der
sind mit der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepa- Leyen trotzdem zum Beispiel die Gelder für das so wich-
kets für bedürftige Kinder überhaupt nicht zufrieden. tige Programm „Schulverweigerung – die 2. Chance“
(Iris Gleicke [SPD]: Wohl wahr!) drastisch gekürzt. Unglaublich ist das!
Ja, es ist ein bürokratisches Monster. In manchen Städten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sind bis zu fünf unterschiedliche Behörden zuständig. der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17875
Gabriele Hiller-Ohm
(A) Wir fordern gute Bildungschancen für alle Kinder. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (C)
Auch wollen wir, dass jedes Flüchtlingskind, das bei uns ner dem Kollegen Armin Schuster von der CDU/CSU-
lebt, das Bildungs- und Teilhabepaket bekommt. Sie, Fraktion das Wort.
liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktio-
(Beifall bei der CDU/CSU)
nen, haben dies abgelehnt. Hartherziger geht es ja wohl
gar nicht mehr.
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
LINKEN) nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Laut der aktuellen McKinsey-Studie Wettbewerbs-
Ein trauriges Weihnachten für Deutschlands Kinder!
faktor Fachkräfte werden in Deutschland bis 2025
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden das än-
6,5 Millionen Arbeitskräfte benötigt, darunter etwa
dern.
2,4 Millionen Akademiker. Arbeitgebern wird in dieser
(Beifall bei der SPD) Studie empfohlen, bereits heute ihre Personalplanung
langfristiger auszurichten und eine klare, mit Zielkenn-
zahlen hinterlegte Fachkräftestrategie zu verfolgen. Die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Engpässe von morgen sind längst nicht mehr Rohstoffe
Ich schließe die Aussprache. und Absatzmärkte, sondern gut ausgebildetes Personal
wird fehlen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8149 an die in der Tagesordnung aufge- „Uns geht nicht die Arbeit aus, uns gehen im Augen-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- blick die Fachkräfte aus“, hat Bundesarbeitsministerin
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Ursula von der Leyen die Situation zutreffend zusam-
sen. mengefasst. Für den öffentlichen Dienst bedeutet das, in
den nächsten zehn Jahren 700 000 Nachwuchsstellen be-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: setzen zu müssen. Wir stehen hier zusammen mit der
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wirtschaft unter Zugzwang, aber eben auch in Konkur-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes renz zur Wirtschaft. Deshalb wollen wir mit dem von der
zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Un-
im Bund und zur Änderung weiterer dienst- terstützung der Fachkräftegewinnung im Bund die Wett-
rechtlicher Vorschriften bewerbsfähigkeit des Bundes gegenüber anderen Dienst-
herren und der Wirtschaft entscheidend stärken; denn
(B) – Drucksache 17/7142 – das ist notwendig. (D)
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Die CDU/CSU ist seit jeher die Partei des öffentli-
schusses (4. Ausschuss) chen Dienstes. Wir stehen zu den Grundwerten des Be-
rufsbeamtentums, wollen sie aber gleichwohl maßvoll
– Drucksache 17/8178 – weiterentwickeln. Deshalb ist es unser Ziel, eine lang-
fristige Strategie zur Fachkräftegewinnung im Bund um-
Berichterstattung:
zusetzen. Begonnen haben wir in der vergangenen
Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein)
Legislaturperiode mit der damals geschaffenen Dienst-
Michael Hartmann (Wackernheim)
rechtsneuordnung. Darauf folgte in dieser Legislaturpe-
Dr. Stefan Ruppert
riode das Bundesbesoldungs- und Versorgungsanpas-
Frank Tempel
sungsgesetz, in dem wir zum Beispiel die Arbeitszeiten
Dr. Konstantin von Notz
für ältere Beschäftigte flexibilisiert haben.
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Mit der heute vorliegenden Gesetzesinitiative schaf-
gemäß § 96 der Geschäftsordnung fen wir – wie in der vergangenen Woche mit der Wieder-
– Drucksachen 17/8185, 17/8178 – gewährung der Sonderzahlung – nochmals deutliche An-
reize auch im monetären Bereich für eine attraktive
Berichterstattung: Bundesverwaltung.
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Wir stärken aber auch unsere soziale Vorbildfunktion
Bettina Hagedorn
als familienfreundlicher Arbeitgeber. Künftig werden im
Florian Toncar
Bundesdienst die Zeiten der Kinderbetreuung und der
Steffen Bockhahn
Pflege von Angehörigen bei der ersten Stufenfestsetzung
Katja Dörner
wie berufliche Erfahrungszeiten angerechnet.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr gut!)
nis 90/Die Grünen vor, über den wir später namentlich
abstimmen werden. Einige Beamte auf Probe alten Rechts, zum Beispiel
in eher gefahrengeneigten Tätigkeiten, warten bereits
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sehnlichst auf die Möglichkeit einer Lebenszeitverbeam-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- tung vor dem 27. Lebensjahr. Es war überfällig, das zu
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das ermöglichen; wir machen das mit dem heute vorliegen-
so beschlossen. den Gesetz.
17876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Wir sind zu der Erkenntnis gekommen: Wir brauchen Erstens. Es ist egal, ob jemand nachts davon träumt,
derartige Aufwertungen, derartige Verbesserungen. Des- dass er gut auf diese Stelle passt. Das spielt keine Rolle.
wegen erlauben wir uns, ganz unabhängig vom Sachver- Wir werden ein reguläres Ausschreibungsverfahren
ständigenrat, etwas Gutes zu tun, was sich vielleicht erst durch den Bundesumweltminister durchführen lassen.
später bemerkbar macht. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN],
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bettina Hagedorn an die CDU/CSU gewandt: Das ist doch gar
[SPD]: Damit tun Sie nichts Gutes!) keine Behörde! Der weiß ja gar nicht Be-
scheid!)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Zweitens, Frau Höhn.
Darf auch Frau Höhn Ihnen eine Zwischenfrage stel- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
len? Das ist doch gar keine Behörde!)
(B) Es ist das Recht des Parlaments – ich hoffe, Sie stimmen (D)
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
mir diesbezüglich zu –, eigene Ideen zu haben, die die
Guten Tag, Herr Präsident! Regierung umzusetzen hat, sobald wir eine Mehrheit
dafür haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen wunderschönen guten Abend! Sie achten offen- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
kundig besonders auf den Wechsel des amtierenden Prä- Die Umweltpolitiker von CDU/CSU und FDP hatten
sidenten. – Bitte schön. gemeinsam die Idee, dass das für den Masterplan von
Herrn Röttgen eine gute Sache sein könnte. Deswegen
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden wir das umsetzen.
Herr Abgeordneter, uns liegt ein Vermerk vor, der der (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Schaffung dieser Stelle auf dubiose Art und Weise zu- Gegen dessen Willen! Super!)
grunde liegt. Hier steht: Diese neue Stelle soll den Sach-
verständigenrat für Umweltfragen nach außen vertreten. Ich glaube, dass der Bundesumweltminister die Sache
sehr konstruktiv begleiten wird.
Hierdurch soll der SRU auch in seiner Außendar-
stellung dem unmittelbaren politischen Einfluss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von Rot-Grün entwunden und dauerhaft in den
(personal-) politischen Einfluss- und Steuerungsbe- Präsident Dr. Norbert Lammert:
reich der Koalitionsfraktionen gebracht werden. Jetzt haben Sie noch eine halbe Minute fürs Finale,
(Zurufe von der SPD: Aha! – Iris Gleicke Herr Kollege.
[SPD]: Interessant!)
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
Sind Sie mit mir der Meinung, dass ein Sachverstän- Toll. Ich mache es kurz.
digenrat eigentlich unabhängig sein sollte, wie auch das
Bundesumweltministerium es definiert? Hat es Sie nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
verwundert, dass der Bundesumweltminister diese Stelle
Liebe Freunde von der Opposition, wenn man bei
nicht gefordert hat, dass er sie sogar für überflüssig hält
über 20 Einzelmaßnahmen zwei Dinge so an den Haaren
und sagt: „Wenn die Abgeordneten das unbedingt wol-
herbeizieht, dann muss die Not groß sein.
len, dann werde ich gegen meine eigene Überzeugung
diesen Beschluss umsetzen“? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17879
Armin Schuster (Weil am Rhein)
(A) Ich verstehe das ja. Die Koalition liefert im monatlichen Nun begab es sich aber zu jener Zeit, dass von der (C)
Rhythmus Attraktivitätssteigerungen für den öffent- ansonsten gar nicht so handlungsfähigen Koalition – nicht
lichen Dienst. etwa von Kaiser Augustus – die Initiative ausging, nun
doch einen Änderungsantrag einzubringen. Dieser
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Änderungsantrag wurde dann eingebracht. Er war in
GRÜNEN]: Das ist ja kurios!) großen Teilen so, wie das üblicherweise der Fall ist.
Dass Sie das ärgert, ist mir völlig klar. Ich empfehle Kleine Veränderungen wurden vorgenommen, und tech-
Ihnen: Halten Sie es mit einem bekannten Münchener nische Details wurden neu beschrieben. Aber siehe da:
Fernsehstarkoch, der in Situationen, in denen er das Schamhaft versteckt auf Seite 10 stand, dass man für die
Essen anderer Kollegen beurteilen soll und es eigentlich politischen Beamten eine ganz andere Regelung als die
gut findet, das aber nicht äußern will, sagt: „Ja, was bisherige finden müsse. Das ist der Grund, warum die
willst’n da meckern?“ SPD heute Abend dem Gesetz in der durch diesen
Antrag geänderten Fassung leider nicht mehr zustimmen
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) kann.
Das wäre eine schöne Haltung gewesen. Das gleicht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank
einer Zustimmung. Tempel [DIE LINKE])
Ich kann für meine Fraktion und für die Koalition Denn Sie wollen, dass eine kleine Gruppe hochbe-
sagen: Wir werden den öffentlichen Dienst erfolgreich zahlter Beamtinnen und Beamten mit dem goldenen
weiterentwickeln. Das ist nicht die letzte Maßnahme; Handschlag nach Hause geht. Es sind – Sie haben die
wir haben weitere in der Pipeline. Am Ende wird ein Zahl dargestellt – auf dem Papier 422 Personen. Im
attraktives Angebot für den Einstieg in die Bundesver- Ernstfall sind es in der Regel unter 100 Personen. Diesen
waltung stehen. Wir stimmen dem Antrag der Grünen 422 oder unter 100 Personen – welchen Parameter auch
natürlich nicht zu, aber begeistert unserem eigenen immer Sie wählen möchten – steht ein Beamtenapparat
Antrag. von 320 000 Personen gegenüber, wenn ich die Soldaten
Herzlichen Dank. und unsere Richter hinzunehme. Wir reden hier über die
Gruppe dieser, so sage ich, weniger als 100 Personen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die allenfalls betroffen sein könnten und die im Regelfall
zwischen 9 000 und 11 000 Euro plus verdienen – nur
Präsident Dr. Norbert Lammert: um einmal die Dimensionen klarzumachen, nachdem
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Hartmann Sie, Herr Schuster, vorhin Armut und Elend dieser
armen politischen Beamten beweint haben.
(B) für die SPD-Fraktion. (D)
(Beifall bei der SPD) Jetzt wollen Sie dafür sorgen, dass nach einem – an-
scheinend von Ihnen erwarteten – Regierungswechsel
diese Beamten, die dann unter Umständen in den einst-
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): weiligen Ruhestand geschickt werden, bis zu drei Jahre
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- versorgungserhöhend und damit zusätzliche Zahlungen
ren! Ehrlich gesagt, Herr Schuster, da wir uns kollegial von bis zu 635 Euro fürs Nichtstun erhalten.
gut verstehen: Manchmal bedauere ich Sie, dass Sie die-
sen merkwürdigen Politikzickzackkurs der Koalitions- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Drei Jahre
fraktionen im Bereich des öffentlichen Dienstrechts zu gibt es schon heute!)
vertreten haben. Manchmal ist es geradezu zu spüren, Das machen wir nicht mit. Das ist und bleibt ein gol-
wie schwer Ihnen das fällt. Aber immerhin: Sie haben in dener Handschlag.
aller Redlichkeit dargestellt, was an Großartigem, Schö-
nem und Gutem in diesem Gesetz steht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Da kann
man nicht widersprechen!) Zum einen hat das nichts, aber auch gar nichts mit
Fachkräftegewinnung zu tun. Das ist ja der Titel des an
Deshalb brauche ich das nicht zu wiederholen oder zu sich guten Gesetzes. Wir reden hier über Beamtinnen
ergänzen. Vielmehr darf ich Ihnen sagen: Wir haben und Beamte, die ab dem nächsten Jahr ausscheiden wür-
bereits bei der Einbringung des Gesetzes klar erklärt, den, und die sind, mit Verlaub gesagt, im Regelfall
dass wir ihm zustimmen möchten. weder lebensjünger, wie Sie in Ihrer Begründung anfüh-
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Nur Mut!) ren, noch neugewonnene Fachkräfte, bei denen eine
harte Konkurrenz gegenüber der gewerblichen Wirt-
Denn in der Tat brauchen wir Fachkräfte in einer Zeit schaft besteht. Nein, es geht um etwas ganz anderes: Es
des demografischen Wandels und einer größeren Kon- geht um die Privilegierung einer kleinen Gruppe. Diese
kurrenz auch im öffentlichen Dienst und müssen dafür Privilegierung ist nicht begründbar, zumal im einstweili-
gute und positive Anreizsysteme schaffen. gen Ruhestand – ich sage das wegen der Armutspredigt
(Iris Gleicke [SPD]: Bei der FDP ist das auch von Herrn Schuster vorhin – neben den Bezügen reich-
ganz nötig!) lich Zuverdienstmöglichkeiten vorhanden sind, die im
Regelfall auch weidlich genutzt werden, wie wir alle
Das ist in dem Gesetz geschehen. wissen. Das möchte ich niemandem verwehren, verden-
17880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
So werden Sie wahrscheinlich leider ablehnen; aber das (Beifall bei der LINKEN)
werden wir nicht mehr verhindern können. Sie wollen einen Versorgungsposten, einen Direkto-
renposten, mit einer B-4-Besoldung schaffen. So weit,
Vielen Dank.
so schlecht. Der Gipfel aber ist, dass Sie damit einen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten parteipolitisch angebundenen Direktorenposten schaf-
der CDU/CSU) fen wollen. Dieser Direktor soll dem Sachverständigen-
rat für Umweltfragen, kurz: SRU, vorangestellt werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Für diejenigen, die das nicht wissen: Der SRU ist ein
Gremium aus sieben Professoren, das die Politik und na-
Das Wort hat nun der Kollege Frank Tempel für die
türlich auch die Regierung in Umweltfragen beraten soll,
Fraktion Die Linke. und zwar parteipolitisch unabhängig. Das geschah zu-
(Beifall bei der LINKEN) letzt in wichtigen Fragen, wie zum Beispiel beim Atom-
ausstieg, wobei der Rat Ihnen nicht unbedingt geholfen
hat. Doch dieser Direktorenposten war, wie bereits er-
Frank Tempel (DIE LINKE):
wähnt, mit dem Rat selbst weder besprochen, noch war
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen er erwünscht.
und Herren! Es geht hier um ein wichtiges Thema, näm-
lich um eine verbesserte Fachkräftegewinnung im Bund. (Unruhe)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17883
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Aus dem Papier können wir auch erfahren, dass das (C)
Einen Augenblick, Herr Kollege. – Ich darf die Kolle- für Sie nicht einmal eine Besonderheit darstellt, dass ein
ginnen und Kollegen, die aus nachvollziehbaren Grün- solches Verfahren schon häufiger von Ihnen angewandt
den jetzt allmählich in den Plenarsaal kommen, bitten, wurde. Das heißt, es ist bei Ihnen sogar alltäglich, sich
erstens Platz zu nehmen und zweitens für einen Auf- auf diese Weise Kontrolle und Posten zu verschaffen.
merksamkeitspegel zu sorgen, der dem Beratungsgegen-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
stand angemessen ist. Erst dann setzen wir die Debatte
der SPD)
fort.
Die Linke fordert Sie auf, diese Änderung sofort zu-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
rückzunehmen. Das geht auch, indem Sie dem Antrag
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
der Grünen zustimmen, der hier noch zur Abstimmung
ten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
steht. Ich hätte mich gefreut, wenn noch etwas zu den
Ich bitte noch einmal darum, Platz zu nehmen. Es gibt politischen Beamten enthalten gewesen wäre.
doch noch genügend freie Plätze.
Die Linke hätte übrigens diesem Gesetzentwurf in
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bezug auf den Fachkräftebedarf, zu dem er richtige
NEN]: Bei der FDP werden es immer mehr! – Schritte enthält – auch wenn sie noch nicht ausreichend
Heiterkeit) sind –, sehr gerne zugestimmt. Nun werden wir uns,
wenn der Änderungsantrag der Grünen nicht durch-
Bitte schön. kommt, aber enthalten müssen.
Frank Tempel (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Danke schön. – Ich finde es gut, dass sich so viele für neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
dieses Thema interessieren. GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Stefan Ruppert [FDP]) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Ein guter Vorschlag kam übrigens gerade zu dieser Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grü-
Problematik. Wenn Geld in die Hand genommen werden nen.
soll, so finden wir das nicht schlecht. Aber mit zusätzli-
chen Referentenstellen wäre diesem Sachverständigenrat Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wesentlich mehr geholfen. NEN):
(B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (D)
neten der SPD) Damen und Herren! Der Entwurf – das wurde hier ge-
sagt – verfolgt im Grundsatz ein richtiges Anliegen. Der
Im Plenum wird ja manchmal viel geredet. Sie haben Bund muss für qualifizierte Bewerberinnen und Bewer-
sich in den letzten Tagen auch Mühe gegeben, neue Be- ber attraktiv bleiben und attraktiver werden. Das Grund-
gründungen zu finden. Aber ich möchte Sie nicht entlas- kapital unseres Staates sind vor allem die Menschen, die
sen, ohne noch einmal aus diesem FDP-Papier zu zitie- für ihn arbeiten. Der Entwurf bietet einen bunten Strauß
ren: an Verbesserungen, zumeist in Gestalt von finanziellen
Hierdurch Anreizen. Das reicht natürlich nicht. Wer Interesse hat,
für den Bund zu arbeiten, den lockt primär eben nicht
– also durch den Direktorenposten – das Geld. Wir dürfen die Interessierten jedenfalls nicht
soll der SRU auch in seiner Außendarstellung dem durch starre Hierarchien abschrecken, sondern brauchen
unmittelbaren politischen Einfluss von Rot-Grün überzeugende Behördenstrukturen, flache Hierarchien
entwunden und dauerhaft in den (personal-)politi- und durchgehende Aufstiegsmöglichkeiten.
schen Einfluss- und Steuerungsbereich der Koali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tionsfraktionen gebracht werden.
Insofern bleibt viel zu tun. Aber von Ihren eventuell
Das ist der Grund und nichts anderes. einmal vorhandenen lauteren Absichten zur Verbesse-
rung der Fachkräftegewinnung wird öffentlich – das
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
sage ich Ihnen, Herr Kollege Ruppert – wenig bleiben;
neten der SPD)
denn als ginge es Ihnen darum, selbst hier bei grundsätz-
Sie wollen ein neutrales Beratungsgremium auf Par- lich sinnhaften Vorhaben ein bisschen Mövenpick-
teilinie bringen. Das ist das Ziel, und das muss hier auch Atmosphäre zu erzeugen, nutzen Sie diesen Gesetzent-
so gesagt werden. wurf als Trojanisches Pferd für Ihre unlauteren Absich-
ten.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
In dem Papier ist übrigens noch mehr zu lesen. Darin
steht auch, dass die Schaffung zunächst keine Konse- Der Änderungsantrag der schwarz-gelben Koalition
quenzen hätte und kaum Beachtung finden würde. Das zu diesem Gesetzentwurf ist von bemerkenswerter
ist schiefgegangen, und zwar gründlich. Dreistigkeit; er ist gespickt mit sachfremden Vorstößen,
17884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in nen und Kollegen Erwin Rüddel, Bärbel Bas, Heinz
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Lanfermann, Harald Weinberg und Birgitt Bender. – Das
zeichen. – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – scheint einvernehmlich unter den Beteiligten zu sein.1)
Das ist die Opposition, SPD und Bündnis 90/Die Grü-
(B) nen. Enthält sich jemand? – Die Linke. Dann ist der Ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (D)
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Drucksache 17/6485 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie auch damit
Wir kommen zur einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
dritten Beratung
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 9 a und b:
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge- SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
setzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Ko- Menschenwürde ist nicht verhandelbar – Be-
alition gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die dingungen in griechischen Flüchtlingslagern
Grünen bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke an- sofort verbessern
genommen.
– Drucksache 17/7979 –
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Jelpke, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenrechtliche Situation für Flüchtlinge
Folgen von Kassenschließungen – Versicherte in Griechenland verbessern – Für eine solida-
und Beschäftigte schützen, Wettbewerb stär- rische Flüchtlingspolitik der EU
ken, Zusatzbeiträge abschaffen
– Drucksache 17/8139 –
– Drucksache 17/6485 – Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f)
Ausschuss für Gesundheit (f) Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Vorge-
sehen als Rednerinnen und Redner waren die Kollegin- 1) Anlage 5
17888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ulla Jelpke
(A) an den europäischen Außengrenzen, keine Solidari- lin-II-Verordnung zurückgeschoben. Das kann einfach (C)
tät bei der Flüchtlingsaufnahme, Dauerblockade bei keine humanitäre Flüchtlingspolitik sein.
der Schaffung gemeinsamer Asylrechtsstandards
(Beifall bei der LINKEN)
und populistische Debatten, die selbst die innereu-
ropäische Freizügigkeit zur Disposition stellen –
das waren die zentralen Merkmale der EU-Flücht- Vizepräsidentin Petra Pau:
lingspolitik im Jahr 2011. Diese desaströse Bilanz Kollegin Jelpke, es ist zweifellos ein wichtiges
des Jahres 2011 zeigt aus Sicht von PRO ASYL, Thema. Achten Sie bitte trotzdem auf das Signal, und
dass die Europäische Union in Fragen des Flücht- kommen Sie zum Schluss.
lings- und Menschenrechtsschutzes politisch und
moralisch versagt. Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Diese Einschätzung kann die Linke voll unterstützen. Ja, ich komme zum Schluss. – Die Linke hat einen
Wir können viele Beispiele dafür bringen. eigenen Antrag eingebracht, den wir überweisen lassen,
um weiterhin im Innenausschuss über dieses Thema dis-
Tatsächlich ist es so: Die Europäische Union müsste kutieren zu können. Denn ich denke, die aktuellen Vor-
wirklich darüber diskutieren, eine Umverteilung in kommnisse sowie die Kritik vom UNHCR und anderen
Europa vorzunehmen. Griechenland ist gegenwärtig das Flüchtlingsorganisationen müssen weiter thematisiert
Hauptzielland der Flüchtlinge; sie versuchen dann, von werden. Wir müssen uns vor allen Dingen dafür einset-
dort aus in andere EU-Staaten zu kommen. Man könnte zen, dass es eine solidarische Lösung auf europäischer
im Grunde genommen sehr schnell Abhilfe schaffen. Ebene gibt, vor allen Dingen für die Flüchtlinge, die
Dafür müsste man nicht nur – davon sprechen Sie jetzt – Schutz suchen.
300 Flüchtlinge pro Jahr aus den gesamten EU-Staaten,
Danke schön.
die kein Asylsystem haben, im Rahmen eines Resettle-
ment-Verfahrens in Deutschland aufnehmen, sondern (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
wirklich dafür sorgen, dass die Staaten je nach Höhe des neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Bruttosozialprodukts mehr Flüchtlinge aufnehmen. GRÜNEN)
Damit könnte man Griechenland sehr solidarisch unter-
stützen. Es geht hier in erster Linie um Solidarität, unter Vizepräsidentin Petra Pau:
den EU-Staaten, vor allen Dingen aber mit den schutz- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
suchenden Flüchtlingen, die von Europa insgesamt lege Josef Winkler das Wort.
alleingelassen werden.
(B) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – NEN):
Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sauerei!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Das kann einfach nicht hingenommen werden. Kollegen! Ich denke, es ist ein gutes und wichtiges
Signal, dass hier vier Fraktionen des Hauses einen
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Auch gemeinsamen interfraktionellen Antrag formuliert
der UNHCR hat in diesen Tagen einen Lagebericht haben, auch wenn die Linksfraktion nicht dabei ist;
herausgegeben. Auch er kritisiert Deutschland und sieht wenn ich es richtig verstanden habe, enthalten Sie sich
dringenden Handlungsbedarf „bei der Durchführung des bei diesem Antrag, sodass wir durch einen einstimmigen
sogenannten Dublin-Verfahrens in Deutschland, in dem Beschluss ein starkes Signal in Richtung der griechi-
entschieden wird, welches Land für die Prüfung eines schen Regierung, aber auch des griechischen Parlamen-
Asylantrages zuständig ist. So sei es notwendig, von der tes und der griechischen Öffentlichkeit senden können.
bisher geltenden Gesetzeslage abzurücken, nach der ein Es kann nicht angehen, dass wir es in einem Europa des
einstweiliger Rechtsschutz gegen die Überstellung in ein Jahres 2011 zulassen, dass solche Zustände in den
anderes Land ausdrücklich ausgeschlossen sei. Auch aus Flüchtlingslagern eines Mitgliedstaates herrschen, dass
der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebe keine humanitären Mindestbedingungen gegeben sind
sich, dass ein Zugang zum einstweiligen Rechtsschutz und kein Zugang zu einem fairen Asylverfahren einge-
vorhanden sein müsse.“ räumt wird. Das darf nicht sein, das muss sofort ein
Ende haben.
Hier muss man ganz deutlich sagen: Deutschland hat
mit verhindert, dass eine Regelung getroffen wird, nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der man im Rahmen des Dublin-Abkommens nicht in bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Länder wie beispielsweise Italien, Griechenland und
Es kommt mir selten über die Lippen, aber es ist tat-
Zypern, aber auch andere europäische Staaten, die kein
sächlich so, dass der Innenminister zum zweiten Mal
Asylsystem haben, zurückschiebt. Es wird vielmehr wei-
eine sehr richtige Entscheidung getroffen hat, indem er
ter zurückgeschoben.
die Regelung, keine Flüchtlinge nach Griechenland zu-
Ich nehme einmal das Beispiel Malta. Einerseits nah- rückzuüberstellen, um ein Jahr verlängert hat. Die Bun-
men Sie im vorletzten Jahr 50 und jetzt noch einmal 150 desregierung hat sich ausweislich der Protokolle der Ta-
Flüchtlinge aus Malta auf. Malta läuft quasi über; die gung des Rates für Justiz und Inneres sehr intensiv für
Flüchtlingszahl ist für Malta nicht zu bewältigen. Ande- die Beseitigung dieser Problematik eingesetzt, was si-
rerseits jedoch werden Flüchtlinge im Rahmen der Dub- cherlich nicht nur zur Erheiterung der anderen Beteilig-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17893
Josef Philip Winkler
(A) ten beigetragen hat. Dafür von meiner Fraktion einen Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
herzlichen Dank. Ich denke aber auch, dass es eine Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die
Selbstverständlichkeit ist, dass eine deutsche Regierung Unionsfraktion.
in dieser Frage deutlich auftritt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die ganze Systematik des europäischen Flüchtlings-
rechts – so wie es sich durch die Dublin-II-Verordnung Helmut Brandt (CDU/CSU):
darstellt –, dass wir die Flüchtlinge, die in andere Länder Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
weitergegangen sind, in die Länder rückverteilen, in die und Herren! In den vergangenen Monaten wurde im
sie zuerst eingereist sind, kann nur funktionieren – wenn Zuge von Delegationsreisen und auch durch Berichte der
man es politisch als Systematik akzeptiert –, wenn in den NGOs sowie des Hohen Flüchtlingskommissars – wir
Ländern, in die man zurückschiebt, die Bedingungen ge- haben das hier anschaulich gehört – deutlich, dass die
nauso qualitativ hochwertig sind und den menschen- Zustände in Griechenland trotz unserer Unterstützung
rechtlichen Standards entsprechen, wie das in Deutsch- und der Unterstützung der Europäischen Union nach wie
land der Fall wäre. Sonst wäre es unverantwortlich, vor chaotisch sind. Trotz der angebotenen und auch ge-
Menschen in eine Lage zu bringen, in die sie eigentlich leisteten Hilfe herrschen in den Flüchtlingslagern men-
nicht geraten dürfen. Wenn das Dublin-II-System und schenunwürdige Zustände. Die griechische Regierung ist
das europäische Asylsystem, so wie es bisher organisiert nicht in der Lage – ich sage: wohl auch nicht willens –,
ist, so bleiben sollten – wenn man das denn will –, ist es sich für eine deutliche Verbesserung der Lage der
unerlässlich, dass die griechische Regierung handelt und Flüchtlinge einzusetzen.
die Lage umgehend verbessert.
Zwar gibt es tendenziell einige Verbesserungen – so
Ich teile viele der Kritikpunkte, die Kollegin Jelpke ist in den letzten Monaten die Quote der Anerkennungen
vonseiten der Linksfraktion gegen das System vorge- von Asylbewerbern im Erstverfahren von 1 auf 12 Pro-
bracht hat. Aus grüner Sicht hat es sich in der derzeitigen zent angestiegen und die durchschnittliche Bearbei-
Krisensituation nicht bewährt. Es ist nicht in der Lage, tungszeit verkürzt worden –, aber das ist nur ein Tropfen
bei solchen Massenzuströmen, wie sie manchmal auftre- auf den heißen Stein. Damit sind die Probleme nicht ge-
ten, wenn es zum Beispiel in Nordafrika Volksaufstände löst. Insgesamt zeichnen NGOs und der Flüchtlingskom-
gibt oder wenn Flüchtlingsströme über die Türkei kom- missar sowie unsere Delegationsteilnehmer ein düsteres
men, ein faires Umverteilungsverfahren zu garantieren. Bild der dortigen Zustände. Kritisiert wird immer insbe-
Meine Fraktion sieht auch in diesem Bereich Reformbe- sondere die hier eben dargestellte menschenunwürdige
darf. Wir werden nicht locker lassen. Lebenssituation der Flüchtlinge.
(B) (D)
Eine Bereitschaft Griechenlands, diese Zustände zu
Jetzt geht es uns um das starke und gemeinsame Si- verbessern – ich wiederhole es –, ist für uns nicht er-
gnal an das griechische Volk. An und für sich wäre das kennbar. Die Vertreter Griechenlands bekunden stets den
im historischen Griechenland ein klassischer Fall für den guten Willen, die Lage in den Griff zu bekommen, beru-
Ostrakismos gewesen: die Verantwortlichen für solche fen sich aber gleichzeitig darauf, dass die hohe Flücht-
Zustände gehörten längst vor das Scherbengericht und lingszahl gemessen an der Einwohnerzahl Griechenlands
zehn Jahre in die Verbannung. Wenn Sie das nicht wol- kaum zu bewältigen sei.
len, können Sie die Lage verbessern. Das wäre aus unse-
rer Sicht die humanere Variante für alle Beteiligten. (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr richtig!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Auch wird immer sofort darauf hingewiesen, dass die
bei der CDU/CSU und der SPD) Türkei ihrer Rücknahmeverpflichtung nicht nachkommt.
Aber das sind für mich keine Argumente, die die ernst-
Wir als Fraktion finden es durchaus bedenklich, dass hafte Bereitschaft unterstreichen, das Asylverfahren zu
deutsche Beamte über die Frontex-Einsätze mittelbar an verbessern und zu beschleunigen und ein menschenwür-
der Unterbringung – wenn man das überhaupt so nennen diges Dasein für die Flüchtlinge zu schaffen. Dieses Be-
will – der Menschen in Flüchtlingslagern beteiligt sind. mühen ist schlicht nicht zu erkennen.
Das haben wir immer deutlich gemacht. Wir werden das (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
auch weiterhin kritisch durchleuchten. Wir würden uns
auch wünschen, dass die deutsche Seite in Richtung der Gegen eine ernsthafte Bereitschaft spricht in meinen
etwa 10 000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, Augen außerdem, dass Griechenland bislang immer noch
die in Griechenland zum Teil auf der Straße leben, ein nicht die EU-Mittel, die eigens für die Verbesserung der
humanitäres Signal senden und sie aufnehmen würden. Unterkünfte zur Verfügung gestellt wurden, abgerufen
Das werden wir auch im nächsten Jahr im Innenaus- hat. Aufgrund der menschenunwürdigen Zustände in den
schuss mit Nachdruck begleiten. Heute bedanke ich Flüchtlingslagern hat der vormalige Bundesinnenminis-
mich zunächst für die breite Unterstützung unseres An- ter, Thomas de Maizière, im Januar dieses Jahres ent-
liegens. schieden, dass im laufenden Jahr keine Überstellungen
stattfinden. Wir haben eben gehört – wir begrüßen das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausdrücklich –, dass Minister Friedrich diese Regelung
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der verlängert hat, bis in das Jahr 2013 hinein. Das ist eine si-
CDU/CSU) cherlich notwendige und richtige Entscheidung.
17894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Helmut Brandt
(A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Serkan Tören [FDP])
Ich sage aber auch, dass dies keine Dauerlösung sein Vizepräsidentin Petra Pau:
kann. Grundsätzlich ist Griechenland nach der Dublin-II- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Verordnung für die Durchführung der Asylverfahren zu- Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
ständig. Eine grundsätzliche Veränderung dieses Verfah- (Beifall bei der SPD)
rens – auch das mache ich deutlich – lehnen wir ab; denn
das Dublin-II-Abkommen war und ist der Garant dafür,
dass wir keinen unkontrollierten und auch für uns nicht Rüdiger Veit (SPD):
mehr zu bewältigenden Asylbewerberstrom haben. Aus Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
diesem Grund lehnen wir den vorliegenden Antrag der Wenn Sie mir vorausgesagt hätten, dass ich heute in ei-
Fraktion Die Linke ab. ner ausländerrechtlichen bzw. flüchtlingspolitischen
Frage dem Kollegen Stephan Mayer, dem Vorredner aus
Ich habe Verständnis dafür, dass Griechenlands der- der CSU, ausdrücklich für seine Ausführungen danken
zeitige finanzielle Lage vieles überlagert. Ich verstehe und sie Wort für Wort unterschreiben würde, dann hätte
auch, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen
ich das nicht unbedingt für höchst wahrscheinlich gehal-
Lage von vielen Migranten als Einfallstor genutzt wird,
ten, sondern für eher ungewöhnlich, genauso wie auch
um von dort aus nach Mittel- und Nordeuropa zu gelan-
unseren Antrag, an dessen Zustandekommen meine Kol-
gen. Dies entbindet Griechenland jedoch nicht von sei-
ner Verantwortung, die ihm aufgrund der Dublin-II-Ver- legin Daniela Kolbe maßgeblich beteiligt war, der ich
ordnung zukommt. Je weniger Griechenland bereit oder auch dafür danke.
in der Lage ist, für ein geordnetes und zügiges Asylver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
fahren zu sorgen, desto attraktiver wird der Weg über des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Griechenland für die Schleuserbanden. Für die Schleu-
serbanden ist es doch ganz einfach: Wenn die Situation Die Entschiedenheit hinsichtlich des Eintretens in der
in Griechenland so bleibt, können Länder wie Deutsch- Sache traf auch für Stephan Mayer in seiner Funktion als
land die über Griechenland zu ihnen Gelangten nicht zu- Delegationsleiter zu, als wir gemeinsam in Griechenland
rückschieben. Man muss sich doch fragen – dieser Ein- waren. Sie dürfen nicht glauben, liebe Kolleginnen und
druck drängt sich auf – ob dies nicht im Endeffekt so Kollegen, dass wir uns mit der Schilderung unserer Ein-
gewollt ist. drücke und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen
bei den Gesprächen mit griechischen Parlamentariern
Deshalb müssen wir – das ist hier von allen zu Recht oder beim Gespräch mit dem dafür zuständigen Innen- (D)
(B) gefordert worden – von der Bundesregierung verlangen
minister etwa zurückgehalten hätten. Vielmehr haben
– diese Erwartung wird ja auch erfüllt –, dass sie auf wir uns tendenziell eher sehr undiplomatisch und inner-
Griechenland weiterhin intensiv einwirkt, schnellstmög- lich noch aufgewühlt von den Eindrücken, die wir dort
lich die in unserem Antrag formulierten Dinge umzuset-
gesammelt haben, sehr kritisch mit ihnen auseinanderge-
zen.
setzt.
Hinsichtlich der Frage, wie die Mitgliedstaaten Grie-
Da ich Sozialdemokrat bin, habe ich mir im Einver-
chenland bei dieser Mammutaufgabe unterstützen kön-
nen und welche Reformen im Bereich der europäischen nehmen mit meinen Kolleginnen und Kollegen erlaubt,
Flüchtlingspolitik notwendig sind – auch das ist hier dem Innenminister von der PASOK zu sagen: Als euro-
deutlich geworden –, gibt es unterschiedliche Auffassun- päischer Sozialdemokrat muss ich mich dafür schämen,
gen. Eines steht für mich jedoch fest: Ein solch men- dass ein anderer europäischer Sozialdemokrat für solche
schenunwürdiges Dasein der Flüchtlinge, das gegen alle Zustände verantwortlich ist. – Er hat sich übrigens nicht
internationalen Standards verstößt, können wir nicht län- nur die ursprünglich zugesagten 20 Minuten, sondern
ger dulden. annähernd zwei Stunden Zeit genommen, um mit uns zu
sprechen. Aber wir haben ihn nicht sehr optimistisch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie verlassen, was die Frage angeht, ob sich nun wirklich et-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- was Grundlegendes ändert.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Zustände sind beschrieben worden, obwohl sie in
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in bilate- Wahrheit unbeschreiblich sind. Aber mit Rücksicht auf
ralen Verhandlungen weiterhin die bestehende inakzep- die Wahrung der Intimsphäre und die Sicherheitsbelange
table Situation zu thematisieren und auf eine schnelle versteht es sich wohl von selbst, dass man in der Situation
Verbesserung hinzuwirken. Außerdem muss geprüft von diesen Unterbringungsmöglichkeiten, wenn man das
werden, welche Hilfen Griechenland zur Verfügung ge- überhaupt so bezeichnen kann, und auch von den Men-
stellt werden können, um es in die Lage zu versetzen, die schen dort keine Videoaufnahmen macht, um das dann
vorhandenen Mittel abzurufen. eindrucksvoll zu dokumentieren. Sie müssen sich also
Ich will meinen Vortrag mit der Bitte abschließen, un- schon auf das übereinstimmende Urteil derjenigen verlas-
serem Antrag, dem gemeinsamen Antrag der vier Fraktio- sen – Sie können sich auch darauf verlassen –, die die De-
nen, Ihre Zustimmung zu geben. Das wäre zum jetzigen legationsreise unternommen haben. So weit, so gut.
Zeitpunkt das richtige Zeichen, auch für Griechenland.
Übereinstimmung gibt es im Grunde genommen auch
Besten Dank. mit allen übrigen Redebeiträgen. Ich will Ihnen nur sa-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17895
Rüdiger Veit
(A) gen, wo wir als Sozialdemokraten – das gilt möglicher- der Fall ist. Wir liegen dabei sowieso im Durchschnitts- (C)
weise auch für die Grünen, tendenziell auch für einige in bereich. Von daher wäre das ein sinnvoller Weg.
der Partei Die Linke und für einen Teil Ihres Antrages –
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
uns ein wenig von den anderen unterscheiden.
Frau Präsidentin, ich bin gleich am Schluss meiner
Ich möchte die mir noch verbliebene Redezeit nutzen, Rede. Gestatten Sie mir noch einen Satz bzw. einen Hin-
um Ihnen die Dimension des Problems deutlich zu ma- weis. Es muss natürlich klar sein, dass Dublin II mit die-
chen. Nach seriösen Schätzungen, die uns in Griechen- ser merkwürdigen Teilung der Verantwortung – ich er-
land, in der Türkei, aber auch von Frontex-Mitarbeitern wähne es noch einmal –, dass Griechenland sozusagen
in Piräus genannt wurden, gibt es derzeit eine Flücht- der Pförtner ist und alle in der Pförtnerloge behalten
lingsbewegung von außerhalb Europas nach Europa vor muss, egal, wie viele es sind, so nicht fortgesetzt werden
allen Dingen mit dem Ziel Zentral- und Nordeuropa in darf. Deswegen setzen wir uns nachhaltig dafür ein, dass
der Größenordnung von 400 000 bis 500 000 Menschen Dublin II auf europäischer Ebene im Sinne echter Tei-
pro Jahr. 90 Prozent, so lauten die ernstzunehmenden lung der Verantwortung novelliert und verbessert wird.
Schätzungen, kommen über Griechenland. Griechenland
hat 11 Millionen Einwohner. Ich stelle Ihnen anheim, Den Teil des Antrags der Linken, der in die gleiche
Richtung geht, begrüßen wir, aber die pauschale Ableh-
das einmal nachzurechnen: Hochgerechnet auf unsere
nung von Frontex, die auch in dem Antrag enthalten ist,
Bevölkerungszahl würde das eine unkontrollierte Zu-
findet nicht unsere Billigung. Deswegen können wir die-
wanderung in der Größenordnung von rund 3 Millionen
sem Antrag leider nicht zustimmen.
Menschen pro Jahr bedeuten. Ich erinnere nur an die
Diskussion Anfang der 90er-Jahre um die Asylbewer- Ich bedanke mich noch einmal für das einmütige Vo-
berzahlen und die Spätaussiedler, wo wir auf insgesamt tum bei allen Rednern, das jetzt in der Abstimmung hof-
900 000 Menschen gekommen sind. Das war nur zwei fentlich entsprechend deutlich wird. Ich bitte Sie ein-
Jahre lang so, dann war das wieder vorbei. Aber in Grie- dringlich im Interesse der Menschen, die unter solchen
chenland ist das seit vielen Jahren so. Bedingungen leben müssen: Helfen Sie mit. Machen Sie
die Situation publik, sagen Sie, wie die Verantwortung
In der Situation kann man nicht sagen: Griechenland verteilt ist, und helfen Sie den Menschen. Das ist unser
ist sozusagen der Pförtner des Hauses Europa. Es hat Anliegen.
zwar die Verpflichtung, die Menschen hereinzulassen,
darf sie aber nur in der Pförtnerloge unterbringen und Danke sehr.
nicht ins Haus lassen. – Das kann man sinnvollerweise (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
nicht als europäische Flüchtlingspolitik bezeichnen. Das und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) kann auch jenseits aller ökonomischen Belange, die (D)
noch dahinterstehen, nicht gut gehen. Das ist auch von Vizepräsidentin Petra Pau:
der Bevölkerung in Griechenland selber irgendwann Ich schließe die Aussprache.
nicht mehr zu tolerieren. Das führt zu politischen Ver-
werfungen, die wir alle uns nicht wünschen können. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Ich darf klipp und klar sagen: Wir als Sozialdemokra- Die Grünen auf Drucksache 17/7979 mit dem Titel
ten sind davon überzeugt, dass wir eine echte europäi- „Menschenwürde ist nicht verhandelbar – Bedingungen
sche Verantwortungsteilung brauchen. in griechischen Flüchtlingslagern sofort verbessern“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
GRÜNEN]: Sehr richtig!) Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
Dies darf nicht nur bedeuten, dass wir versuchen, das mit und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
Geld gutzumachen oder abzufedern, sondern das muss der Fraktion Die Linke angenommen.
auch heißen: Entsprechend der Wirtschaftskraft und der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Größe der Bevölkerung sollten sich alle EU-Staaten Drucksache 17/8139 an die in der Tagesordnung aufge-
dazu verpflichten, Flüchtlinge, die im Moment vorzugs- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
weise in Griechenland den europäischen Boden betreten, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
bei sich aufzunehmen. Wenn ich sage, dass sie sie bei so beschlossen.
sich aufnehmen sollen, dann heißt das automatisch – das
sollte klar sein –: Wir müssen bereit sein, die Verfahren Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
durchzuführen. Wir können nicht sagen, dass die ande- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ren die Verfahren durchführen sollen und wir diejenigen, richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
die dann übrig bleiben, verteilen. Wir müssen bereit sein, nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Frak-
die Verfahren hier in Deutschland durchzuführen. tion der SPD
Denjenigen, die Angst haben, dass sich Menschen- Bei der Vergabe von Exportkreditgarantien
massen in unsere Richtung in Bewegung setzen, sage auch menschenrechtliche Aspekte prüfen
ich: Wenn Sie das auf Bevölkerungszahlen und Wirt- – Drucksachen 17/7810, 17/7988 –
schaftskraft in der gesamten EU umrechnen, dann sehen
Sie, dass das nicht automatisch heißt, dass Deutschland Berichterstattung:
mehr Flüchtlinge aufnehmen muss, als es im Augenblick Abgeordneter Erich G. Fritz
17896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
1) Anlage 6 2) Anlage 7
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17897
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) die SPD, Dr. Bijan Djir-Sarai für die FDP, Stefan Liebich sundem Sitzfleisch, die Sie um diese Zeit noch hier sind! (C)
für die Linke und Tom Koenigs für die Fraktion Bünd- Was veranlasst den Präsidenten des Zentralverbandes
nis 90/Die Grünen.1) des Deutschen Handwerks, der fast 1 Million Betriebe
repräsentiert, sich vehement für den Beitritt der Bundes-
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
republik zum UNESCO-Übereinkommen zur Bewah-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8027, den Antrag der Fraktion Die Linke rung des immateriellen Kulturerbes einzusetzen, zu ei-
auf Drucksache 17/7547 abzulehnen. Wer stimmt für nem Abkommen, dem bereits 139 Staaten beigetreten
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – sind? Was bewegt den Präsidenten des Bäckerhand-
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den werks, dem über 300 000 Beschäftigte angehören, in
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der klug gefassten Briefen darum zu ersuchen, dass auch
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Deutschland dieses internationale Bündnis für bedrohte
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- Kulturgüter unterzeichnet? Warum erscheint der oberste
men. Vertreter des Schaustellerverbandes persönlich zu einer
Anhörung im Bundestag, um engagiert auf eine weltum-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: spannende Idee der Kulturpolitik hinzuweisen, die in an-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- deren Ländern zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist?
richts des Ausschusses für Kultur und Medien Aus welchen Gründen fordert der BHU, der Bund Hei-
(22. Ausschuss) mat und Umwelt, mit seinen über 500 000 Mitgliedern
aktives Parlaments- und Regierungshandeln im Hinblick
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang auf eine friedenschützende Weltidee, die auch unser Kul-
Börnsen (Bönstrup), Christoph Poland, Dorothee turerbe umfassen sollte?
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Sie alle und viele mehr wollen, dass nicht nur in Stein
Deutschmann, Patrick Kurth (Kyffhäuser), gemeißelte großartige Zeugnisse der Vergangenheit wie
Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter der Dom zu Köln, die Berliner Museumsinsel oder Lü-
und der Fraktion der FDP becks Altstadt geschützte Weltbewahrung erfahren. Viel-
Ratifizierung der UNESCO-Konvention mehr wollen sie auch ein Bekenntnis der Bundesrepublik
zum immateriellen Kulturerbe vorantreiben zu dem Kulturerbe unseres Landes, das die Strahlen der
Kultursonne bisher nicht erreicht haben, den Kulturmau-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt erblümchen gewissermaßen, die in fast 140 Staaten unse-
(Aachen), Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, rer Erde aber Akzeptanz und Anerkennung gefunden und
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD das UNESCO-Siegel für Schutz und Förderung erhalten (D)
(B) sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, haben. Sie wollen, dass wir uns solidarisch zeigen und
Claudia Roth (Augsburg), Ekin Deligöz, weite- auch unsere kulturellen Traditionen in das Weltkulturerbe
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- einbringen: die Märchen und Mythen unseres Landes, die
NIS 90/DIE GRÜNEN Sprachen, Sagen und Volksfeste, Bräuche und Ge-
Ratifizierung des UNESCO-Übereinkom- brauchstechniken, Tänze, Trachten, regionale Traditio-
mens zur Bewahrung des immateriellen nen, jahrhundertealte Handwerksfähigkeiten oder auch
Kulturerbes vorbereiten und unverzüglich die Kultur der Wandergesellen.
umsetzen
Sie stellen darauf ab, dass neben Epen, Erzählungen
– Drucksachen 17/6314, 17/6301, 17/8121 – und dem Volkstheater auch unser Wissen von Naturheil-
methoden und der Nahrungsmittelzubereitung als Kultur-
Berichterstattung:
leistung respektiert werden sollte. Da das traditionsreiche
Abgeordnete Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Ingwergebäck aus Kroatien und auch die französische
Ulla Schmidt (Aachen)
Küche den Status eines Weltkulturerbes erhalten haben,
Reiner Deutschmann
frage ich: Warum sollte dieser Rang nicht auch für das
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede einzigartige deutsche Schwarzbrot bzw. die 300 Brotsor-
ten gelten?
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Was unterscheidet die von der UNESCO registrierten
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Drachenbootfeste in China von der gleichfalls jahrhun-
dertealten Kirmes- und Jahrmarktkultur bei uns? Wäre
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege es nicht auch angemessen, dass wir uns für den Schutz
Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion. und die Sicherheit von Minderheitensprachen einsetzen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Sorbisch, Friesisch, Romani oder auch das Plattdeut-
sche, die sich alle auf der Roten Liste der bedrohten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Sprachen befinden?
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen mit Unser Land tut sich schwer, sich für einen umfassen-
überdurchschnittlichem Durchhaltevermögen und ge- den Kulturbegriff zu öffnen, wie er weltweit praktiziert
wird. Viele denken bei Kultur vor allen Dingen an Musik
1) Anlage 8 und Literatur. Faust und Fidelio, ja, auch Bach, Brahms
17898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Reiner Deutschmann
(A) unseren parlamentarischen Debatten in der 16. und Register der guten Praxisbeispiele, in das Projekte auf- (C)
17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wurde genommen werden können, die modellhaft die in der
deutlich, dass unsere Nachbarn durchweg positive Konvention enthaltenen Bestimmungen umsetzen. Und
Erfahrungen mit der Konvention sammeln konnten. es gibt die Liste, die das dringend erhaltungsbedürftige
immaterielle Kulturerbe aufführt, das vom Aussterben
Ich selbst stamme aus dem Siedlungsgebiet der Sor- bedroht ist. Diese Schwerpunktsetzung macht deutlich,
ben. Die Sorben in Sachsen und Brandenburg konnten
dass die UNESCO gerade auch dem bedrohten kulturel-
ihre Identität im Laufe der Geschichte nur durch die len Erbe eine Sonderrolle im Schutzgefüge der
Pflege ihrer Tradition und ihrer Sprache erhalten. Dies UNESCO beimisst. Diesen Ansatz unterstützen wir als
war und ist nicht leicht in einem Umfeld, in dem die Liberale in besonderem Sinne.
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die Hauptme-
dien und auch der größte Teil des kulturellen Angebots Die Anträge der Koalition sowie von SPD und Bünd-
an der deutschen Sprache und Kultur ausgerichtet sind. nis 90/Die Grünen liegen nicht weit auseinander. Ich
Aber gerade da zeigt sich, welche Bedeutung Kultur und begrüße, dass wir uns darin einig sind, dass die Konven-
Brauchtumspflege im Leben der Menschen haben. So ist tion alsbald ratifiziert werden muss. Über den Weg kann
die Förderung von nationalen Minderheiten eine Angele- man gewiss unterschiedlicher Meinung sein. Wir wollen
genheit, die unserer speziellen Aufmerksamkeit bedarf. die Ratifizierung möglichst unbürokratisch und effizient
Dies gilt insbesondere für das sorbische Volk, das keinen begleiten. Dazu geben wir den handelnden Akteuren den
eigenen Staat im Hintergrund hat. nötigen Spielraum, der für eine erfolgreiche Ratifizie-
rung und vor allen Dingen für die Umsetzung der Kon-
Trotzdem sollten wir unser Augenmerk in abge-
vention gebraucht wird.
schwächter Form auch auf die oftmals überraschend
unterschiedlichen regionalen Traditionen und Bräuche Ich denke, dass insbesondere den Ländern hier eine
richten. Schließlich macht gerade die Vielfalt der Regio- Schlüsselrolle zukommt. Hier ist sicherlich einige Arbeit
nen auch die Vielfalt Deutschlands aus. Als Kulturnation zu leisten. Aber die Länder haben bereits eine Machbar-
brauchen wir diese Vielfalt, um daraus Kraft zu schöp- keitsstudie in Auftrag gegeben, die seit einigen Monaten
fen, Rückhalt zu gewinnen und Ideen für Neues zu ent- vorliegt und viele Fragen der Opposition beantwortet.
wickeln. Deswegen müssen wir die Kräfte nutzen, die Im Auswärtigen Amt ist die Angelegenheit in guten
durch die Ratifizierung der Konvention in Deutschland Händen und wird dort positiv begleitet.
frei werden und wirken können.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich bin zuversichtlich, dass uns im kommenden Jahr die
Das Schutzsiegel „UNESCO“ ist ein Gütenachweis erfolgreiche Ratifizierung gelingt und alle Beteiligten (D)
(B)
ersten Ranges. Wer sich damit schmücken kann, dem ist mit den Ergebnissen zufrieden sein werden.
die besondere Aufmerksamkeit im In- und Ausland
gewiss. Laut UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa Ich danke Ihnen.
liegt jedes Jahr eine sehr hohe Anzahl an Anmeldungen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
vor. Sie denkt darüber nach, die Zahl der Neuanmeldun-
gen auf 60 pro Jahr zu begrenzen. Käme es zu einer sol- Vizepräsident Eduard Oswald:
chen Begrenzung, dann könnte Deutschland nicht ein-
Vielen Dank, Herr Kollege Deutschmann. – Jetzt für
mal jedes zweite Jahr einen Titel anmelden. Gerade auch
die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau
deswegen ist es wichtig, dass Deutschland mit der Rati-
Dr. Lukrezia Jochimsen. Bitte schön, Frau Kollegin.
fizierung nicht länger zögert. Wir sind schon durch die
Nichtratifizierung in den letzten Jahren zurückgefallen. (Beifall bei der LINKEN)
Zwischenzeitlich hat Frankreich, wie schon erwähnt, das
gastronomische Mahl, Portugal die Fado-Musik und Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Brasilien den Samba durch die Konvention schützen las- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sen. Allein Spanien steht zwölfmal auf der Liste, Brasi- Lieber, verehrter Kollege Börnsen, die Bäcker wollen es,
lien fünfmal und Frankreich neunmal. die Handwerker wollen es, die Schausteller wollen es,
Ich denke, wir sind es den Bewahrern der verschie- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
densten immateriellen Kulturgüter in Deutschland schul- Die CDU und die SPD auch!)
dig, dafür zu sorgen, dass diese Form des deutschen Kul-
turgutes unter den Schutz der Konvention fällt. Deshalb ich frage mich: Wieso wollen die Koalitionsfraktionen
ist es für uns wichtig, dass dieser Antrag heute diskutiert mit ihrem Antrag nicht, dass diese Konvention alsbald,
wird und die Reden nicht zu Protokoll gegeben werden. wenigstens im Jahre 2012, ratifiziert wird?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Sehr gut!) Das wollen wir auch, aber mit den Ländern!
Das ist weitgehend eine Länderangelegen-
Eigentlich besteht die Liste der UNESCO-Welterbe-
heit!)
konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes
aus drei Listen mit eigenen Schwerpunktsetzungen. Es Warum wollen Sie das nicht? Sie führen den Wort-
gibt die Repräsentative Liste, die die Vielfalt der imma- schwall all derer aus, die das wollen, aber das passt nicht
teriellen Kulturformen deutlich machen soll. Es gibt das zu dem Antrag, den Sie uns hier vorlegen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17901
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) Acht Jahre, nachdem die UNESCO die Konvention Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
beschlossen hat, fünf Jahre, nachdem die notwendigen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
30 Staaten sie ratifiziert haben, und nachdem mehr als 2006 haben bereits 136 Staaten das UNESCO-Überein-
139 Staaten – ich wiederhole: 139 Staaten! – beigetreten kommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes
sind, legen Sie uns einen zu nichts entschlossenen An- ratifiziert. Eine Ratifizierung von deutscher Seite ist also
trag unter dem Titel vor: „Ratifizierung … vorantrei- längst überfällig. Aber – das wurde schon angesprochen –
ben“. „Vorantreiben“ klingt gut, sagt aber gar nichts aus, ein Bekenntnis zur Beteiligung, vor allem ein so vages
zum Beispiel wann denn ratifiziert werden kann, soll, Bekenntnis, allein genügt uns nicht.
darf.
Entscheidende Verfahrensfragen werden im Antrag
Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen steht
der Koalition ausgespart.
ein festes Datum: Ende 2012. Davon enthält der CDU/
CSU-FDP-Antrag kein Wort. Er will ja auch nur „voran- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
treiben“ und meint, uns mit einem großen Wortschwall sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
klarzumachen, was alles erledigt werden muss: Man KEN)
muss werben. Man muss Interessierte und Betroffene
einladen. Man braucht Verständnis und Zustimmung. – In unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD fordern
Unsere Zustimmung haben Sie, und zwar schon seit fünf wir die Bundesregierung auf, Rahmenbedingungen zur
Jahren, als wir uns mit der Enquete-Kommission „Kultur Umsetzung festzulegen. Wir brauchen ein mit dem in der
in Deutschland“ für eine Ratifizierung ausgesprochen Schweiz vergleichbares Verfahren, das die Zivilgesell-
haben. schaft bei der Erstellung von Inventarlisten immateriel-
ler Kulturgüter für das UNESCO-Übereinkommen un-
Die Zustimmung der anderen beiden Oppositionspar- mittelbar beteiligt.
teien haben Sie auch. Also: Warum solch ein unbe-
stimmter, im Grunde nichtssagender Antrag? Hier braucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschland doch nicht das Rad neu zu erfinden. sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup]
Unter den 139 Ländern, die bereits ratifiziert haben, [CDU/CSU])
befinden sich unsere Nachbarn Schweiz und Österreich. Immaterielle Kulturgüter sind fester Bestandteil unse-
Da lässt sich gut und schnell lernen, wie man solch eine res Alltags. Kinderlieder, Märchen, das Kunsthandwerk
Konvention umsetzt, statt sie irgendwie „voranzutrei- genauso wie unsere Ess- und Trinkkultur prägen unsere
ben“. Identität.
(B) Wie lange und wie oft noch wollen Sie uns eigentlich (D)
versprechen, die Ratifizierung in Abstimmung mit den (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Ländern zu prüfen und zu prüfen und nochmals zu prü- Richtig!)
fen? Seit 2007 hören wir dieses Argument immer wieder – Immaterielle Kulturgüter lassen sich schwer eingrenzen;
ohne irgendein Ergebnis. denn sie befinden sich in ständiger Veränderung durch
Warum ist die Ratifizierung dieser Konvention so generationsbedingte, soziale und interkulturelle Ein-
wichtig und so dringend? Weil es um den Schutz und Er- flüsse. Die Debatte um die Nominierung immaterieller
halt von Traditionen und Ritualen in unserem Land geht, Güter ist in vollem Gange. Allein schon dieser gemein-
die in Vergessenheit geraten, und dies schneller als man same Suchprozess ist ein Gewinn für unsere Gesell-
denkt. Denken Sie nur an Volksfeste, Brauchtum, auch schaft; denn die Auseinandersetzung mit der Bedeutung
religiöse Rituale! immaterieller Kulturgüter stärkt das kollektive Bewusst-
sein für ihren Wert. Mittlerweile kursieren zahlreiche
Es heißt oft, die Weltkulturerbestätten seien materiel- Vorschläge, von den Kneippkuren bis hin zum Thüringer
ler Ausdruck unseres kulturellen Gedächtnisses. Das im- Kloß und dem Reinheitsgebot für das deutsche Bier. Den
materielle Kulturerbe entspricht unserem ganzen Leben Ideen sind keine Grenzen gesetzt.
in all seinen Ausdrucks-, Erinnerungs- und Genussfor-
men. Lassen Sie es uns tatsächlich jetzt schützen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fördern, statt nur die Idee dazu irgendwie weiter voran- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
zutreiben. Wenn schon die Aachener Printen auf die SPD und der LINKEN)
Liste kommen, dann plädiere ich auch sehr für die Thü-
ringer Klöße. Wir brauchen dringend verbindliche Kriterien für das
Auswahlverfahren in Deutschland. Das gesamte Spek-
Vielen herzlichen Dank. trum unseres Reichtums an immateriellen Gütern muss
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der berücksichtigt werden. Ich halte es aber für eine Denk-
SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) falle, bei der Auswahl das Kriterium „typisch deutsch“
als hauptsächlichen Maßstab anzulegen; denn Kunst und
Kultur kennen keine nationalen Grenzen. Zahllose
Vizepräsident Eduard Oswald: Werke deutschsprachiger Komponisten, Autoren und
Herzlichen Dank. Jeder hat so seine Anregungen. – Künstler sind inspiriert durch multikulturelle Einflüsse.
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ist unsere Kollegin Frau Agnes Krumwiede. Bitte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
schön, Frau Kollegin. bei der SPD und der LINKEN)
17902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Agnes Krumwiede
(A) Der Christopher Street Day oder auch Balkan-Partys (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
sind heute in Deutschland ebenso etablierte Traditions- bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN
feste wie das Münchener Oktoberfest. sowie bei Abgeordneten der FDP)
Immaterielle Kulturgüter kennzeichnen die Einzigar-
tigkeit und Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen. Ideolo- Vizepräsident Eduard Oswald:
gisch und politisch motivierte Ausgrenzungstendenzen Vielen Dank, Frau Kollegin Krumwiede. – Jetzt für
haben beim Auswahlverfahren genauso wenig verloren die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Christoph
wie rein kommerzielle Überlegungen. Kulturtraditionen Poland. Bitte schön, Kollege Poland.
aller kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bei der Auswahl gleichberechtigt berücksichtigt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christoph Poland (CDU/CSU):
sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
[CDU/CSU]) Kollegen! Ich werde hier nicht Wiederholungen vermei-
den können; denn wir haben uns mit Blick auf das im-
Auch das traditionsreiche Kulturgut der deutschen
materielle Kulturerbe wahrscheinlich auf viele gleiche
oder in Deutschland lebenden Minderheiten muss eine
Beispiele konzentriert. Ich glaube, es ist heute, kurz vor
Rolle spielen. Ein Auswahlkriterium könnte daher die Weihnachten, eine gute Zeit – es ist ja eine Zeit, in der
Schutzbedürftigkeit sein. In Österreich zum Beispiel man Brauchtum besonders pflegt –, darüber zu reden.
wurde die Sprache der Burgenland-Roma in die Vor- Vielleicht kommen die Nürnberger Lebkuchen oder der
schläge mit aufgenommen. Auch unser Kulturleben ist Thüringer Kloß zum Gänsebraten. Das ist in dieser Zeit
geprägt durch die mündlichen Überlieferungen der Ge- ja zu erwarten.
schichten und Lieder und der von Generation zu Genera-
tion weitergegebenen Instrumentalmusik der Sinti und (Beifall bei der CDU/CSU)
Roma. Diese UNESCO-Konvention ist ein Pendant zu den
Mit der Nominierung immaterieller Kulturgüter von UNESCO-Welterbestätten. Diese sind ja materiell greif-
deutscher Seite muss ein angemessener Schutz gewähr- bar. Hier geht es um immaterielles Kulturgut, das wir
leistet sein. Mittlerweile hat die UNESCO dafür auch ei- schützen wollen. Wegen der Umsetzung gab es in den
nen internationalen Fonds eingerichtet. Wie dieser ange- letzten Jahren bei uns Bedenken. Die guten Ergebnisse
messene Schutz konkret umgesetzt werden kann, dazu in Österreich, das zum Beispiel die Aufnahme des Weih-
gibt es von der Bundesregierung leider noch keine Vor- nachtsliedes „Stille Nacht“ als Kulturgut beantragt hat,
schläge. Deshalb fordern wir die Entwicklung solcher und auch die Beispiele der Schweiz haben uns über-
(B)
Konzepte. zeugt, die Ratifizierung der Konvention zum immateriel- (D)
len Kulturerbe voranzutreiben. Es hilft uns, wenn wir in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Nachbarländern gute Erfolge sehen. Die 139 Staa-
und bei der SPD) ten, die bis jetzt dem Übereinkommen beigetreten sind,
sind ein gutes Beispiel. Wir würden uns isolieren, wenn
Hier liegt auch eine der zukünftigen politischen Haupt-
wir es diesen Staaten nicht gleichtun würden.
aufgaben mit großer Tragweite. Wenn wir zum Beispiel
die mündlichen Überlieferungen der Kulturtradition von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sinti und Roma unter Schutz des UNESCO-Überein-
kommens stellen, müssen Sinti und Roma selbst auch Ihren Antrag jedoch müssen wir ablehnen, weil in ihm
angemessenen Schutz erhalten. Das bedeutet auch: Sinti übersehen wird, dass von Bundesseite bereits alle Vorbe-
reitungen getroffen sind. Wir haben Kostenermittlungen
und Roma müssen Bleiberecht erhalten in den Ländern,
vorgenommen und Abstimmungen mit den Ländern und
wo sie langjährigen Duldungsstatus haben.
der UNESCO-Kommission getroffen. Wir haben im
Wenn unsere Opern-, Konzert- und Theatertradition Haushalt 2012 des Staatsministers für Kultur 100 000
als immaterielles Kulturgut vorgeschlagen und aner- Euro zur Finanzierung der notwendigen Koordinierungs-
kannt werden sollte, dann müssen wir dafür sorgen, dass stelle eingestellt.
sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Kulturschaffende verbessern, Hört! Hört!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist doch ein Zeichen dafür, dass die Bundesregie-
sowie bei Abgeordneten der SPD) rung diese Ratifizierung will,
damit der künstlerische Beruf auch für nachfolgende Ge- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
nerationen attraktiv ist und sich die Tradition fortsetzen Das ist ein Bekenntnis dazu!)
kann.
dass wir uns zu der Verpflichtung bekennen, der
Die Ratifizierung der UNESCO-Übereinkunft ist also UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe
mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Genau endlich beizutreten.
darin liegt auch die große Chance für unsere Gesell-
schaft und für die Weiterentwicklung unserer kulturellen (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das hört sich
Vielfalt. gut an mit den 100 000 Euro!)
Danke. – Ja, das ist so.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17903
Christoph Poland
(A) Ich kann mir gut vorstellen, dass wir viele Anträge, in wir dieser Konvention beitreten, dann ist das eine ver- (C)
die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen trauensbildende Maßnahme. Sie wissen bereits, dass wir
zu werden, zu erwarten haben, zum Beispiel aus dem das Vorgehen mit den Ländern abstimmen. Die Kultus-
Handwerk. Denken Sie einfach nur einmal an die Hand- ministerkonferenz hat dem schon zugestimmt. Wir wol-
werksgesellen, die ihre Heimat verlassen haben, um len den Verlust überlieferten Kulturerbes nicht befürch-
fremde Bräuche kennenzulernen und sie in ihre alte Hei- ten müssen. In dieser Konvention sehen wir die Chance,
mat zu tragen. Gesellenwanderschaft erweitert den Hori- volkstümliche Traditionen zu pflegen und neu zu entde-
zont und bereichert den Erfahrungsschatz. cken.
Stichwort „Handwerk in seinen verschiedensten As- Kulturelle Vielfalt spiegelt sich nicht nur in Museen,
pekten“: Ich würde das nicht so eng sehen. Frau Kirchen und erhaltenswerten Stadtensembles wider. Das
Krumwiede, Sie sprechen nur vom Kunsthandwerk, nur haben wir vorhin bereits gehört; ich will das nicht wie-
von Kunst und Kultur. Das Handwerk der Böttcher ist derholen. Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir unter-
dabei, auszusterben. stützen unsere Bundesregierung mit diesem Antrag aus-
drücklich.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Richtig!) Vielen Dank. Ein schönes Weihnachtsfest!
Kaum noch einer weiß, was das ist. Ich erinnere auch an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das Netzknüpfen der Fischer und ähnliche Dinge. All
das ist schützenswert. Handwerk dieser Art sollten wir
nicht vergessen. Ein Viertel aller angemeldeten Gewerbe Vizepräsident Eduard Oswald:
entfällt nämlich auf das Handwerk. Bis dahin müssen wir schon noch ein bisschen was
schaffen. Morgen ist auch noch Plenarsitzung. – Liebe
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Ja!)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
12,2 Prozent aller Erwerbstätigen und 30,3 Prozent aller empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Auszubildenden sind im Handwerk beschäftigt. In die- Drucksache 17/8121. Der Ausschuss empfiehlt unter
sem Bereich gibt es ganz viel Traditionelles und Schüt- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
zenswertes. des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das Bä- Drucksache 17/6314 mit dem Titel „Ratifizierung der
ckerhandwerk. Wir haben heute schon von verschiede- UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe
vorantreiben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (D)
(B) nen Seiten gehört: Unser täglich Brot gib uns heute. Wir
haben in Deutschland 300 Brotsorten und mehr als 1 200 lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –
verschiedene Kleingebäcksorten. In Gesprächen mit der Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-
Bäckerinnung erfährt man, dass sie darüber nachdenkt, nen. Enthaltungen? – Linksfraktion. Die Beschlussemp-
nach der Ratifizierung dieser UNESCO-Konvention die fehlung ist angenommen.
Anerkennung des Brotes als immaterielles Kulturerbe zu Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
beantragen. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Ich möchte aus meinem zweiten Berufsleben spre- Fraktion der Sozialdemokraten und der Fraktion Bünd-
chen: Als Brauer und Mälzer bin ich relativ schnell dem nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6301 mit dem Ti-
Deutschen Institut für Reines Bier beigetreten. Die Ini- tel „Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur
tiative, die Herbert Frankenhauser und der Deutsche Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vorbereiten
Brauer-Bund im Frühjahr dieses Jahres ergriffen haben, und unverzüglich umsetzen“. Wer stimmt für diese
nämlich das deutsche Reinheitsgebot unter Schutz zu Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
stellen, kann ich nur unterstützen. Glauben Sie mir: Das nen. Gegenprobe! – Das sind die drei Oppositions-
Brauen ist ein schönes Handwerk. fraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesord-
Das Risiko einer Folklorisierung oder einer Kommer- nungspunkt 16 auf:
zialisierung des immateriellen Kulturerbes sehe ich
nicht. An meinen Beispielen erkennen Sie, dass es sich Erste Beratung des von den Abgeordneten Krista
beim immateriellen Kulturerbe um eine gelebte Kultur- Sager, Wolfgang Wieland, Kai Gehring, weiteren
tradition handelt und dass es nicht um museale Erhaltung Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
geht; das ist überhaupt nicht unsere Absicht. Wir wollen DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
auch keine rein touristische Präsentation von Brauch- setzes zur Streichung des Doktorgrades aus
tum. dem Passgesetz, dem Gesetz über Personalaus-
weise und den elektronischen Identitätsnach-
Das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriel- weis, der Personalausweisverordnung sowie
len Kulturerbes von 2003 ist ein wichtiges Bindeglied dem Aufenthaltsgesetz und der Aufenthalts-
zwischen der Welterbekonvention von 1972 und dem verordnung
Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der
Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005. Wenn – Drucksache 17/8128 –
17904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Ingo Wellenreuther
(A) gerinitiative innerhalb einer öffentlichen Anhörung im ersten Bürgerinitiativen ab April nächsten Jahres ge- (C)
Europäischen Parlament vorzustellen. Innerhalb von startet werden.
drei Monaten legt die Kommission ihr beabsichtigtes
Vorgehen und die Gründe dafür dar. Falls sie nicht be-
Gerold Reichenbach (SPD):
absichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, begründet sie dies
ebenfalls. Werfen wir erneut einen Blick auf Europa. In Zeiten,
wo die Zeitungen voll von drohenden Staatspleiten und
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesre- Diskussionen für und gegen eine Finanztransaktion-
gierung werden, wie es die EU-Verordnung über die steuer sind, stellt die Einführung einer europäischen
Bürgerinitiative verlangt, für das Institut der europäi- Bürgerinitiative eine positive Entwicklung und eine
schen Bürgerinitiative nationale Zuständigkeiten zuge- enorme Chance dar. Europa ist nicht nur in einer
wiesen und Verfahren festgelegt. Dabei handelt es sich Finanz- und Schuldenkrise, es ist auch in einer Legiti-
im Wesentlichen um folgende Regelungen: mationskrise. Die Bürger fühlen sich anonymen Finanz-
mächten und nächtlichen Gipfelrunden hilflos ausgelie-
Als national zuständige Behörde, die die Unterstüt-
fert. Es muss eine der Lehren aus der Krise sein, dass
zungsbekundungen überprüft und die Bescheinigungen
wir mehr direktdemokratische Elemente und damit mehr
über die Zahl der gültigen Bekundungen in Deutschland
direkte Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene brau-
ausstellt, wird das Bundesversicherungsamt benannt.
chen.
Außerdem wird das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik als die zuständige Behörde be- Bürgerwille und Bürgerprotest sind bereits jetzt wich-
nannt, die bescheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit tiger Initiator, um politische Entscheidungen zu korri-
den technischen und sicherheitsrelevanten Anforderun- gieren. Denken wir nur an die Massenproteste gegen die
gen der EU-Verordnung über die Bürgerinitiative ver- Dienstleistungsrichtlinie. Es gibt Themen, die viele
einbar ist. Menschen in Europa bewegen, für oder gegen die sich
Bürger länderübergreifend einsetzen. Bei den Massen-
Die EU-Verordnung sieht die Möglichkeit vor, die Zu- protesten gegen die Dienstleistungsrichtlinie sind Zehn-
lässigkeit der gesammelten Unterstützungsbekundungen tausende Menschen in Straßburg auf die Straße gegan-
stichprobenartig zu überprüfen. Davon machen wir in gen und haben gegen die schrankenlose Liberalisierung
Deutschland Gebrauch, um den Verwaltungsaufwand der Arbeitsmärkte demonstriert. Nicht zuletzt die Pro-
gering zu halten. Zudem wird die Überprüfung von Un- teste und länderübergreifenden Aktionen haben dazu ge-
terstützungsbekundungen durch einen automatisierten führt dass, das Europäische Parlament sich darauf ei-
Datenaustausch zwischen Bundesversicherungsamt und nigte, das von der Kommission vorgeschlagene und
(B) Meldebehörden erleichtert. Zu diesem Zweck wird die umstrittene Herkunftslandprinzip zu streichen, das zu (D)
Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung ergänzt. gnadenlosem Unterbietungswettbewerb geführt hätte.
Hier wurde etwas bewegt! Die Occupy-Bewegung ist ein
Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die aktuelles Beispiel dafür, wie sich Menschen über Län-
Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen dergrenzen hinweg gegen die Macht der Finanzmärkte
die EU-Verordnung sanktionieren. wehrten und für eine Regulierung kämpfen. Die europäi-
Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Instrument sche Bürgerinitiative ist ein erster wichtiger Schritt in
der europäischen Bürgerinitiative durchaus bürger- Richtung mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung. Als
freundlich ausgestaltet und dazu geeignet ist, einen Bei- zweiter wichtiger Schritt müssen aber auch die Rechte
trag für eine bessere Identifikation der Unionsbürger und Befugnisse des Europäischen Parlaments gestärkt
mit Europa und zur Verminderung des Demokratiedefi- werden – sonst geht der erste Schritt ins Leere. Das Eu-
zits in der EU zu leisten. ropäische Parlament als Vertretung der Bürger der Eu-
ropäischen Union ist zwar am Gesetzgebungsprozess
Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der euro- beteiligt, hat aber kein eigenes Initiativrecht. Das hat
päischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt wer- nur die Europäische Kommission. Wir brauchen mehr
den. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den Demokratie auf EU-Ebene.
Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden,
sind begrenzt: Die Europäische Kommission kann das Sollten sich die Regierungen Europas erneut nicht
Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurückwei- darauf verständigen können, eine wirksame Regulierung
sen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen absehen. der Finanzmärkte in Europa durchzusetzen, dann haben
Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist auch künftig die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der eu-
keine Volksabstimmung vorgesehen. ropäischen Bürgerinitiative die Möglichkeit, ein Wort
dabei mitzureden und den Europäischen Gremien
Ob die europäische Bürgerinitiative ein Erfolgsmo- „Beine zu machen“.
dell wird und die in sie gesetzten Erwartungen wird er-
füllen können, wird entscheidend davon abhängen, wie Die europäische Bürgerinitiative ist eine Möglichkeit
die Europäische Kommission mit den Begehren umge- für die Bürger, stärker an der europäischen Politik teil-
hen wird, ob sie also in einen echten Dialog mit den zuhaben und die Entscheidungen aus den Hinterzim-
Unionsbürgern eintreten wird, um die vielfach kritisierte mern der Gipfeldiplomatie herauszuholen! Insofern sind
Bürgerferne in Europa zu vermindern. Das ist jedenfalls wir gut beraten, die europäische Bürgerinitiative schnell
meine Erwartungshaltung an die Kommission, wenn die und unbürokratisch umzusetzen.
Halina Wawzyniak
(A) Daran wird – dessen sind wir uns sehr wohl bewusst – Die europäische Bürgerinitiative ermöglicht, dass (C)
auch die europäische Bürgerinitiative, die im Lissabon- sich Menschen über Grenzen hinweg zu einem wichtigen
Vertrag verankert ist, nichts grundlegend ändern. Zu Thema nicht nur verständigen, sondern zur Durchset-
groß sind gegenwärtig die Defizite in Sachen Beteili- zung ihrer Interessen auch initiativ werden. Sie können
gungsdemokratie, zu klein das Engagement politischer ihre Erwartungen und Forderungen artikulieren und
Akteure, daran etwas zu ändern. politisches Handeln unmittelbar einfordern.
Aber es wäre falsch nicht anzuerkennen, dass die Meine Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. Er ist
europäische Bürgerinitiative ein erster, kleiner Schritt nicht weitreichend genug und deshalb nicht ausrei-
hin zu mehr Beteiligungsdemokratie ist. Sie ermöglicht chend. Aber er eröffnet Möglichkeiten, die es bisher
Menschen erstmals, sich zusammenzutun und ihre Inte- nicht gab.
ressen zu artikulieren. Sie verbrieft das Recht, die Euro-
päische Kommission aufzufordern, zu einem Thema eine Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gesetzesinitiative in Gang zu bringen. Damit wird noch Uns allen ist bewusst, die EU befindet sich im Mo-
keine gute, aber eine neue und eine bessere Qualität er- ment in schwierigem Fahrwasser. Dennoch gibt es heute
reicht. Deshalb werden wir dem Gesetz zustimmen. Es einen Grund zu großer Freude. Mit dem vorliegenden
ist besser als gar nichts und es eröffnet die Möglichkeit, Gesetzentwurf setzen wir zwei Jahre nach Inkrafttreten
dass sich Bürgerinnen und Bürger grenzüberschreitend des Vertrags von Lissabon das erste staatenübergrei-
ihrer Interessen bewusst werden und zur Durchsetzung fende Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit um. Mit
dieser Interessen organisieren. der europäischen Bürgerinitiative können sich die Bür-
gerinnen und Bürger ab April 2012 direkt in die Politik
Wir wünschen uns und werden weiterhin dafür kämp- der EU einmischen, zusätzlich zu den Wahlen zum Euro-
fen, dass die Menschen in Europa mittels Volksabstim- päischen Parlament.
mungen mitregieren können. Es gibt aus unserer Sicht
keinen einzigen Bereich, bei dem Bürgerinnen und Bür- Demokratie lebt von Partizipation und bürgerschaftli-
ger nicht mitreden sollten. Sie sind der Souverän und es chem Engagement. Für mich und meine Fraktion war
ist dringend notwendig, ihnen unter Ausnutzung aller und ist die europäische Bürgerinitiative deshalb stets von
Instrumente der Demokratie diese Souveränität auch zu- herausragender Bedeutung. Ich bin sicher, die Einfluss-
zugestehen. nahme möglichst vieler Unionsbürgerinnen und -bürger
auf die politische Willensbildung wird die demokrati-
In Bezug auf die europäische Bürgerinitiative wün- sche Arbeitsweise der Europäischen Union bereichern.
schen wir uns und werden dafür kämpfen, dass auch jene Das neue Instrument bietet der EU eine einzigartige
(B) Mitbürgerinnen und Mitbürger mitmachen und unter- Chance, näher an ihre Bürgerinnen und Bürger zu rü- (D)
schreiben können, die erst 16 oder 17 Jahre alt sind oder cken, grenzüberschreitende Debatten über europäische
die in einem europäischen Land leben, ohne über die Fragen zu fördern und zum Aufbau einer europäischen
EU-Staatsbürgerschaft zu verfügen. Öffentlichkeit beizutragen.
Wir wollen und werden uns dafür einsetzen, dass die Diese Chance wollen wir Grüne nutzen. Deshalb ha-
europäische Bürgerinitiative ausgebaut und weiterent- ben wir uns hier im Bundestag gegenüber der Bundesre-
wickelt wird im Hinblick auf Transparenz in der Finan- gierung von Anfang an für ein verbindliches, nutzer-
zierung. freundliches und unbürokratisches Verfahren zur
Durchführung von EU-Bürgerinitiativen eingesetzt –
Direkte oder indirekte Finanzierung durch Firmen und weitestgehend durchgesetzt. Nur ein Beispiel: Die
muss aus unserer Sicht ausgeschlossen, stattdessen über Bundesregierung – genauer gesagt: das federführende
eine Kostenbeteiligung der Kommission geredet werden. Bundesinnenministerium – hatte ursprünglich vorgese-
Die Fristen für das Sammeln der Unterschriften müssen hen, die Kosten für die Zertifizierung der Onlinesam-
verlängert, Formulare müssen vereinfacht und von bü- melsysteme auf die Initiatorinnen und Initiatoren von
rokratischem Ballast befreit werden. Bürgerinitiativen abzuwälzen. Man stelle sich das nur
mal vor, engagierte Bürgerinnen und Bürger hätten erst
All diese Aufgaben stehen an, brauchen Mehrheiten mal mehrere Tausend Euro aufbringen müssen, um sich
und Engagement, um erledigt zu werden. Am Ende muss an einem demokratischen Prozess überhaupt beteiligen
aus unsere Sicht ein Initiativrecht für Bürgerinnen und zu können. Eine absurde Überlegung, die an Hohn nicht
Bürger stehen, das handhabbar und transparent ist und zu überbieten war. Das hatte ich Bundesinnenminister
keine Hürden aufbaut. Friedrich auch noch vor der Sommerpause mitgeteilt.
Zudem setzten sich die Europa-Union, Mehr Demokratie
Die europäische Bürgerinitiative ist kein Element di-
e. V. und Citizens for Europe vehement für eine kosten-
rekter Demokratie im Sinne von Bürgerbegehren und
lose EU-Bürgerinitiative ein – mit Erfolg: Wie wir alle
Bürgerentscheiden. Dies nicht klar und deutlich zu sa-
im vorliegenden Gesetzentwurf lesen können, ist die
gen, wäre Augenwischerei. Aber es wäre auch nicht zu
Nutzung der EU-Bürgerinitiative nun kostenlos. Gratu-
verantworten, die Gelegenheit verstreichen zu lassen,
lation, Herr Bundesinnenminister Friedrich, für diese
wenigstens einen Anfang in Richtung mehr demokrati- unabdingbare Kehrtwende.
sche Teilhabe zu machen. Zu groß ist inzwischen das Le-
gitimationsproblem der Europäischen Union gegenüber An dieser Stelle möchte ich mich auch bei meinen
ihren Bürgerinnen und Bürgern. Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament
Ute Granold
(A) gleichen. Damit soll gewährleistet werden, dass beide das Schmerzensgeld privilegiert und dem Anfangsver- (C)
Ehepartner an dem wirtschaftlichen Erfolg in der Ehe mögen zugerechnet.
gleichermaßen partizipieren. Der Zugewinnausgleich
berücksichtigt fast alle während der Ehezeit erzielten Der neue Wahlgüterstand kann sowohl vor als auch
Vermögenszuwächse mit Ausnahme von Ansprüchen, die während der Ehe vertraglich vereinbart werden. Die
der Altersvorsoge dienen und daher dem Versorgungs- Ehegatten haben des Weiteren die Möglichkeit, durch
ausgleich vorbehalten bleiben. Vertrag von den Vorschriften zur Festsetzung der Zuge-
winnausgleichsforderung abzuweichen. So können sie
Darüber hinaus sieht das deutsche Recht weitere Gü- beispielsweise die Zusammensetzung der Vermögen, die
terstände vor, die die Eheleute vertraglich vereinbaren Bewertungsregeln für die Vermögensgegenstände, die
können. Das sind im Wesentlichen die Gütergemein- Höhe der Beteiligung am jeweiligen Vermögenszuwachs
schaft, bei der alle eingebrachten und erworbenen Ver- und die Verteilung des Zugewinns abweichend regeln.
mögensgegenstände gemeinsames Vermögen der Ehe-
partner sind, sowie die Gütertrennung, die – wie der Hinsichtlich des örtlichen und persönlichen Anwen-
Name schon sagt – durch eine strikte Trennung der Ver- dungsbereiches des neuen Güterstandes gilt Folgendes:
mögensmassen der Eheleute gekennzeichnet ist, ohne Er kann zunächst immer dann gewählt werden, wenn die
dass im Falle einer Scheidung irgendein Ausgleich zwi- Eheleute beide Deutsche sind und in Frankreich leben
schen ihnen erfolgt. oder beide Franzosen sind, aber in Deutschland leben.
Ferner können alle deutsch-französischen Ehegatten
In Frankreich stellt hingegen die Errungenschaftsge- den neuen Wahlgüterstand wählen, wenn sie in Frank-
meinschaft den gesetzlichen Normalfall dar. Dabei han- reich oder Deutschland leben. Darüber hinaus steht der
delt es sich vereinfacht gesprochen um eine Mischform neue Wahlgüterstand auch allen ausländischen Ehegat-
aus der deutschen Gütertrennung und Gütergemein- ten zur Verfügung, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt
schaft. Alle in die Ehe eingebrachten Vermögensgegen- entweder in Deutschland oder in Frankreich haben.
stände bleiben dabei zunächst im Alleineigentum der Schließlich steht er grundsätzlich auch allen deutschen
Ehepartner. Im Unterschied zur Zugewinngemeinschaft Ehepaaren zur Verfügung, die in Deutschland leben und
fließen jedoch die während der Ehe erwirtschafteten keinerlei Auslandsbezug aufweisen. Insofern erfährt
Vermögensgegenstände, die sogenannten Errungen- also das deutsche materielle Familienrecht mittels eines
schaften, kraft Gesetzes in ein gemeinschaftliches Ver- völkerrechtlichen Vertrages eine nicht unerhebliche Än-
mögen der Ehepartner ein, das dann im Falle einer derung.
Scheidung zwischen ihnen hälftig aufgeteilt wird.
Prüfungsbedarf haben wir bei der negativen Publizi-
Die Unterschiede zwischen den gesetzlichen Güter- tät des Güterrechtsregisters, die im deutschen Güter-
(B) ständen in Deutschland und Frankreich sind also signi- recht eigentlich den gutgläubigen Dritten schützt und (D)
fikant. Dies führt im Scheidungsfall bei binationalen damit dem Schutz des Rechtsverkehrs dient, gesehen.
Ehen, aber auch bei Ehepartnern mit gleicher Nationa- Laut Umsetzungsgesetz kommt diese güterrechtliche
lität, die in einem anderen Staat leben, häufig zu Proble- Vorschrift im neuen Wahlgüterstand nicht zur Anwen-
men. Welches nationale Scheidungs- und Scheidungsfol- dung, und zwar auch in den Fällen, in denen zwei deut-
genrecht zur Anwendung kommt, regelt sich in diesen sche, in Deutschland lebende Ehegatten den deutsch-
Fällen nach dem jeweils anzuwendenden nationalen französischen Güterstand wählen. Der gutgläubige Er-
Kollisionsrecht. In der Praxis kommt es dabei immer werber ist also auch bei Rechtsgeschäften mit Eheleu-
wieder vor, dass für die Rechtsfolgen der Ehe das mate- ten, die im neuen Wahlgüterstand leben, aber das nicht
rielle Familienrecht eines anderen Staates gilt, das den ins Güterrechtsregister eingetragen haben, künftig nicht
Beteiligten am Rechtsverkehr unter Umständen völlig mehr geschützt. Dieser völkerrechtlich bedingte System-
unbekannt war und ist. bruch ist rechtspolitisch nicht unproblematisch. Aus un-
Mit Blick auf eben diese Fallkonstellationen und die serer Sicht wäre daher eine konsequente Anwendung der
damit verbundenen praktischen Schwierigkeiten wollen Schutzvorschrift auch im neuen Wahlgüterstand vor-
Deutschland und Frankreich nun den betroffenen Ehe- zugswürdig gewesen. Leider mussten wir jedoch feststel-
partnern die Möglichkeit geben, einen neuen Güterstand len, dass eine Anwendung der besagten Vorschrift im
zu wählen, der sowohl Elemente des deutschen als auch Rahmen des deutsch-französischen Wahlgüterstandes
des französischen Rechtssystems miteinander verbindet mit dem Staatsvertrag nicht vereinbar und insofern völ-
und unabhängig vom jeweils geltenden Kollisionsrecht kerrechtlich unzulässig wäre. Dies hat ein von uns beim
zur Anwendung kommt. Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages eingeholtes
Gutachten ergeben. Aus diesem Grund mussten wir in
Dieser neue und heute zur Abstimmung stehende den Ausschussberatungen von einer entsprechenden Än-
Wahlgüterstand orientiert sich dabei im Wesentlichen an derung des Umsetzungsgesetzes absehen.
der deutschen Zugewinngemeinschaft. Das ist keine
Selbstverständlichkeit und ganz offensichtlich Ergebnis Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetz
einer guten Verhandlungsführung der Bundesregierung. werden nunmehr die innerstaatlichen Voraussetzungen
Gleichwohl berücksichtigt der neue Wahlgüterstand für die Ratifikation des deutsch-französischen Staatsver-
auch einige französische Besonderheiten. So soll bei- trages geschaffen. Gleichzeitig regelt das Gesetz die in-
spielsweise die Trennung des Ehegattenvermögens ei- nerstaatliche Umsetzung des Abkommens. Der Staats-
nige Beschränkungen erfahren. Anders als im gesetzli- vertrag soll zunächst nur zwischen Deutschland und
chen Güterstand der Zugewinngemeinschaft wird zudem Frankreich gelten. Die Bundesregierung verbindet mit
Stephan Thomae
(A) Der Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft lichkeiten eines Ehepartners auf das in der – französi- (C)
kann von den Ehegatten durch einen Ehevertrag verein- schen – Errungenschaftsgemeinschaft gebundene Ver-
bart werden. Dieser Vertrag kann vor der Ehe oder wäh- mögen auswirken.
rend des Bestandes der Ehe geschlossen werden. Der
Güterstand kann auf drei Arten enden: erstens wenn das Mit der neuen Wahl-Zugewinngemeinschaft, die in
Ehepaar den Güterstand wechselt, zweitens wenn die ihrer Grundstruktur dem deutschen Zugewinnausgleich
Ehe rechtskräftig geschieden wird oder mit jeder ande- entspricht, sind diese Schwierigkeiten beseitigt. Dieser
ren gerichtlichen Entscheidung, die den Güterstand be- Wahlgüterstand kann nun von jedem Ehepartner in den
endet, oder drittens wenn einer der Ehegatten verstirbt. beiden Ländern anstelle des jeweiligen gesetzlichen
Güterstandes gewählt werden.
Das Abkommen vom 4. Februar 2010 sieht vor, dass
Nun gibt es in Deutschland und Frankreich nicht nur
der Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft optio-
deutsch-französische Ehen. Die Nationalitäten sind viel-
nal neben den jeweiligen nationalen Bestimmungen be-
fach. Auf diesem Gebiet jedoch europaübergreifend ein
stehen soll. Dadurch ist gewährleistet, dass nationale
einheitliches Recht zu normieren, hätte zu lange gedau-
Eigenheiten und gewachsene Rechtstraditionen nicht
ert, weil eine inhaltliche Angleichung in allen Mitglied-
beeinträchtigt werden.
staaten der Europäischen Union aufgrund von unter-
Der deutsch-französische Wahlgüterstand ist so aus- schiedlichen zum Teil in Jahrhunderten gewachsenen
gestaltet, dass er zunächst nur zwischen Deutschland Rechtstraditionen nur sehr viel langsamer vonstatten
und Frankreich Gültigkeit erlangt. Das Abkommen steht gegangen wäre. So ist zunächst eine unkomplizierte
aber auch den anderen Mitgliedstaaten der Europäi- Lösung für deutsch-französische Ehen vorhanden, und
schen Union zum Beitritt offen. die anderen Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, dem
Abkommen beizutreten oder gegebenenfalls eigene
Dies ist vor dem Hintergrund eines immer enger zu- Abkommen in dieser Richtung abzuschließen. Alles in
sammenwachsenden Europas ein Schritt in die richtige allem führt dieses Gesetz mit der Umsetzung des Abkom-
Richtung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass im mens in nationales Recht zu mehr Rechtssicherheit und
Jahr 2009 bei circa 13 Prozent der Ehen in Deutschland Rechtsklarheit. Von daher wird meine Fraktion diesem
mindestens ein Ehegatte eine ausländische Staatsange- Gesetz zustimmen.
hörigkeit besaß. Darunter waren rund 34 000 deutsch-
französische Ehepaare.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Durch das Abkommen vertiefen wir das Zusammen- Unser Bürgerliches Gesetzbuch, BGB, stammt aus
wachsen, indem wir mögliche Ansatzpunkte für Rechts- dem Jahre 1900. Seither befindet sich das Zivilrecht in
(B) streitigkeiten bei grenzüberschreitenden Ehen abbauen. einem stetigen Fortentwicklungsprozess. Und auch das (D)
Somit schaffen wir für die Menschen in Deutschland und Familienrecht hat sich erheblich weiterentwickelt. Die
Frankreich mehr Rechtssicherheit und mehr Rechtsklar- zahlreichen Änderungen und Ergänzungen im 4. Buch
heit. Wir sollten uns auf dem Erreichten jetzt nicht aus- des BGB spiegeln die gesellschaftlichen Veränderungen
ruhen, sondern daran arbeiten, dass sich auch andere auf dem Gebiet des Familienrechts wider. Die besonde-
Mitgliedstaaten dem Abkommen anschließen. ren rechtlichen Bedürfnisse binationaler Ehepaare al-
lerdings sind ein Problemkreis, der bei der bisherigen
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Weiterentwicklung des Familienrechts wenig Beachtung
fand, und dies zu Unrecht. Denn binationale Ehen sind
Im Jahre 2003, immerhin vor mehr als acht Jahren,
keine Seltenheit mehr. Fast jeder von uns hat Paare in
gab es anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertra-
seinem Bekanntenkreis, bei denen die Ehepartner eine
ges die gemeinsame deutsch-französische Erklärung, in
unterschiedliche Staatsangehörigkeit haben.
der unter der Überschrift „Harmonisierung von Recht
und Gesetz“ auch dem Wunsch Ausdruck verliehen Aus rechtlicher Perspektive bringen binationale Ehe-
wurde, das deutsche und französische Recht, insbeson- schließungen eine Reihe von rechtlichen Folgeproble-
dere das Familienrecht anzugleichen. Mit dem vorliegen- men mit sich. Diese zeigen sich schon während der Ehe,
den Gesetz zum Abkommen vom 4. Februar 2010 wird vor allem aber bei Beendigung der Ehe. Da stellen sich
diesem Wunsch weiter Rechnung getragen. In diesem Ab- Fragen wie: Welches Recht findet auf die Eheschließung
kommen haben die beiden Regierungen die Möglichkeit Anwendung? Wie sind Unterhaltsansprüche ausgestal-
eines gemeinsamen Wahlgüterstandes für binationale tet? Nach welchem Recht wird die Ehescheidung durch-
Ehen geschlossen, also erstmals einheitliches materielles geführt? Wem gehört das Vermögen? Wie wird im Falle
(Familien-)Recht für Frankreich und Deutschland. von Trennung und Scheidung das Vermögen der Ehe-
leute aufgeteilt?
Angesichts des Umstandes, dass im Jahre 2009 in
Deutschland bei 13 Prozent der Ehen mindestens ein Derzeit kennen sowohl das deutsche als auch das
Ehepartner eine ausländische Staatsangehörigkeit französische Recht drei Arten von Güterständen: Im
besaß, kommt diesem Abkommen auch die entspre- deutschen Recht gibt es die Gütertrennung, die Güterge-
chende praktische Bedeutung zu. Probleme traten nicht meinschaft und den gesetzlichen Güterstand der Zuge-
nur bei Scheidungen auf, sondern auch während der winngemeinschaft. Das französische Recht kennt die
bestehenden Ehe. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur die Gütertrennung, die Zugewinngemeinschaft und, als ge-
Finanzierung von Immobilienkrediten genannt, da es für setzlichen Güterstand, die Errungenschaftsgemein-
deutsche Kreditinstitute fraglich war, wie sich Verbind- schaft. Die Unterschiede zwischen den beiden jeweili-
Petra Crone
(A) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Daran können die Der Bundesfreiwilligendienst tut dies nicht. Es ist (C)
nur wachsen, an den Herausforderungen!) unrealistisch, anzunehmen, dass Menschen, die aus dem
Erwerbsleben ausscheiden, sich für eine halbe Stelle
Dabei sind die Anforderungen an sie – ebenso wie an die
quasi freiwillig verpflichten werden.
Träger von Freiwilligendiensten – zurzeit bereits hoch
genug, Herr Kollege. Eine Überforderung geht dann aber (Florian Bernschneider [FDP]: Wieso denn?)
zulasten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Erfolgreiche und sinnvolle Projekte müssen auch verste-
Neben dem Bundesfreiwilligendienst gibt es die Frei-
tigt werden können. Deshalb testen wir sie ja aus. Die
willigendienste aller Generationen. Viele Freiwillige
Bundesregierung hat bereits bei den Mehrgenerationen-
engagieren sich unter diesem Dach – viel zu viele, um
eine Struktur jetzt, nach nur drei Jahren Programmlauf- häusern bewiesen, dass sie diesem Gedanken nicht folgt,
zeit, wieder zu zerschlagen. und hat nur unter großem Druck ein Anschlusspro-
gramm aufgelegt.
(Beifall bei der SPD)
Es wäre richtig schade, wenn die guten Erfahrungen
Wir brauchen junge wie ältere Menschen, die motiviert der Freiwilligendienste aller Generationen nun nicht
sind, sich je nach persönlichem Zeitbudget zu engagie- weiter aufgegriffen würden.
ren. Diese Möglichkeit haben die Freiwilligendienste
aller Generationen eröffnet, und damit bieten sie eine (Florian Bernschneider [FDP]: Werden sie ja!)
entscheidende Voraussetzung für ehrenamtliches Enga-
gement. Eine zentrale Anlaufstelle ist hierbei meines Erachtens
unerlässlich. Dort würden auch weiterhin gute Projekte
(Beifall bei der SPD) zusammenfinden, würde sich über Schwierigkeiten aus-
Der Bundesfreiwilligendienst leistet das nicht. Er ver- getauscht und würden formale Dinge geregelt.
langt mindestens 20 Stunden in der Woche für eine
All dies fällt nun ohne Not weg. Die Freiwilligen sol-
ehrenamtliche Tätigkeit, und zwar verpflichtend.
len sich künftig an die Mehrgenerationenhäuser halten.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Eine freiwillige Prinzipiell halte ich das für eine gute Idee. Doch erstens
Tätigkeit!) sind die Mehrgenerationenhäuser mit den vielen Aufga-
ben, die ihnen jetzt in der neuen Modellphase abverlangt
Alle Erfahrungen vor Ort zeigen: Das ist nicht realis-
werden, eh schon überfordert, und zweitens trifft viele
tisch, das ist eine deutlich zu hohe Stundenzahl. Das ist
gegenüber der Mindestdauer von 7 Stunden bei den Frei- Mehrgenerationenhäuser das gleiche Schicksal wie die
(B) willigendiensten aller Generationen deutlich zu hoch Freiwilligendienste aller Generationen: Die Förderung (D)
gegriffen. bricht spätestens nach drei Jahren weg. Stellen werden
gestrichen und Häuser werden komplett geschlossen. In
(Beifall bei der SPD) Zukunft werden sowieso nur noch 450 Häuser in der
Liebe Kollegen und Kolleginnen, 64 Prozent aller gesamten Bundesrepublik gefördert. Insbesondere in
Teilnehmer bei den Freiwilligendiensten aller Generatio- finanzschwachen Kommunen und Kreisen werden die
nen sind über 50 Jahre alt. passgenauen Angebote zur Beratung, Qualifizierung,
Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist doch ein aufrechterhalten werden können. Schlimmstenfalls ist
gutes Zeichen!) dann, liebe Kollegen und Kolleginnen, eine ganze
Das erklärte das Bundesministerium für Familie, Senio- Region ohne Ansprechpartner. Dabei ist besonders die
ren, Frauen und Jugend zuletzt in einer Pressemitteilung lokale Komponente ein entscheidendes Kriterium für die
über den Erfolg dieses Projekts. Das zeigt das enorme Ansprache potenzieller Freiwilliger und für das Gelin-
Potenzial, das insbesondere Ältere mit ihren Erfahrun- gen von passgenauem Ehrenamt.
gen und ihrem Wissen einbringen. Sie wollen dies Wir erwarten, Herr Staatssekretär – Sie sind ja auch
berechtigterweise in verlässlichen Strukturen tun. Men-
noch da, wie schön –, von der Bundesregierung ein
schen jenseits der 65 Jahre stehen heute noch lange nicht
schlüssiges Konzept für die Weiterführung von geregel-
am Ende ihres aktiven Lebens. Alt sein ist nicht gleich-
tem und niederschwelligem Freiwilligendienst für Men-
bedeutend mit Gebrechen und Hilfsbedürftigkeit. Ältere
Menschen wollen sich auf vielfältige Weise engagieren schen aller Altersgruppen.
und an der Gesellschaft teilhaben. (Beifall bei der SPD)
Ein Modell zu stoppen, das genau diese Potenziale
Wir erwarten einen Freiwilligendienst, der – das ist ganz
nutzt und für die Gesellschaft erreichbar macht, ist mir
wichtig – arbeitsmarktneutral ist sowie die Freiwilligen
– ganz besonders im Hinblick auf den demografischen
Wandel – völlig unverständlich. pädagogisch betreut und fachlich anleitet. Das ist für
eine in die Zukunft gerichtete Politik unerlässlich.
(Beifall bei der SPD)
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes
Im Gegenteil: Wir müssen mehr Geld in die Hand neh- Weihnachtsfest.
men und gezielt Menschen im Übergang zwischen
Berufsleben und Ruhestand ansprechen. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17915
(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Deutschland hier gut aufgestellt. Herzlichen Dank an (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Crone. – Der alle, die sich engagieren!
nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Markus Grübel. Bitte schön, Kollege Grübel.
(Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich aber, Frau Crone, kurz auf Ihre Kri-
tik zu sprechen kommen. Ebenso möchte ich voraus-
eilend auf die von Frau Dittrich von den Linken kom-
Markus Grübel (CDU/CSU): mende Kritik eingehen. Sie, Frau Dittrich, üben häufig
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kritik an Freiwilligendienst und Ehrenamt. Sie behaup-
Kollegen! 2011 war, wie gesagt, das Europäische Jahr ten, das alles sei unprofessionell und nehme Arbeits-
der Freiwilligentätigkeit. Das Thema Freiwilligendienste plätze weg. Frau Crone, Sie haben die Arbeitsplatzneu-
wurde nicht nur vom Bund, von den Ländern und den tralität kritisch hinterfragt. Ich glaube, Sie beide sind
Kommunen, sondern vor allem auch von der Zivilgesell- hier völlig im Irrtum. Die Freiwilligen und Ehrenamt-
schaft aufgegriffen. Die Diakonie hat das Thema freiwil- lichen tun das, was sie können. Bei den Jüngeren ist der
liges Engagement zum Jahresschwerpunkt gemacht. Das Dienst in erster Linie ein Lerndienst. Oft ist der Freiwil-
Jahr 2011 war ein sehr gutes Jahr für die Freiwilligentä- ligendienst der Grund, sich für einen sozialen Beruf zu
tigkeit. Daran kann auch die Aussage der SPD zum Aus- entscheiden: Man macht einen Freiwilligendienst, zum
laufen der Projektförderung bei den Freiwilligendiensten Beispiel in der Altenpflege, und möchte anschließend
aller Generationen nichts ändern. den Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – lernen. So fördert der Freiwilligendienst die Hauptamtli-
Petra Crone [SPD]: Ich habe es ja hervorgeho- chen in dem Berufsfeld, in den sozialen Berufen, und
ben!) schadet ihnen nicht. Angesichts des Bedarfs zum Bei-
spiel in der Altenpflege denke ich, dass der Freiwilligen-
Wir haben im Jahr 2011, wie gesagt, den Bundesfrei- dienst gut und wichtig ist.
willigendienst neu eingeführt, und er ist ein großer
Erfolg geworden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Freiwilligendienste fördern die soziale Kompetenz.
55 Prozent der Bundesfreiwilligendienstleistenden sind
Knapp 30 000 Menschen allen Alters engagieren sich in Männer; das ist ein sehr gutes Zeichen. Ich denke, die
diesem neuen Dienst. 20 Prozent davon sind über soziale Kompetenz, die dort vermittelt wird, tut in jedem
27 Jahre alt. Es handelt sich also um einen Freiwilligen- Beruf gut; ein gutes Herz wird in jedem Beruf gebraucht.
(B) dienst aller Generationen. Die 20-Stunden-Regelung ist Gerade von den älteren Freiwilligen werden die Lebens- (D)
bewusst eingeführt worden. Wir kennen aus dem Frei- erfahrung und die Berufserfahrung in den Dienst einge-
willigen-Survey die Zahlen, mit wie vielen Stunden sich bracht, zum Segen unserer Gesellschaft.
Menschen ehrenamtlich engagieren. Bei über 15 Stun-
den in der Woche gibt es fast niemanden mehr, der sich Sehr geehrte Damen und Herren, der Leitspruch des
ehrenamtlich engagiert. Wir wollten das Ehrenamt nicht neuen Bundesfreiwilligendienstes lautet: „Nichts erfüllt
verstaatlichen, indem wir es auch in den Bundesfreiwil- mehr, als gebraucht zu werden.“ Das Angebot hat die
ligendienst eingliedern. Menschen in Deutschland erreicht, die jüngeren und die
älteren, auch über die Mehrgenerationenhäuser, in denen
Die Kindergeldfrage, die am Anfang offen war, ist der Freiwilligendienst ein zentrales Thema ist.
jetzt auch geklärt. Herr Kollege Koch, Sie haben gewet-
tet und sogar eine Flasche Wein eingesetzt, dass wir das Die politischen Rahmenbedingungen waren noch nie
nicht hinkriegen. Ich werde – das ist noch besser – drei so gut wie heute: Rund 300 Millionen Euro, so viel wie
Flaschen Wein dagegensetzen. Vielleicht werden wir sie noch nie zuvor, stehen zur Verfügung. Herzlichen Dank
gemeinsam trinken und uns gemeinsam über diesen an Herrn Toncar und Herrn Mattfeldt, unsere Haushälter
Erfolg freuen. Die Regelung der Kindergeldfrage ist im im Familienbereich. Ich weiß, wie schwer es einem
Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Die Kinder- Haushälter fällt, große Geldbeträge nicht für die Schul-
geldstellen zahlen nun aus. dentilgung oder die Haushaltskonsolidierung einzuset-
zen, sondern für andere Zwecke, in diesem Fall für die
Neben den knapp 30 000 Menschen, die sich im Bun- Freiwilligendienste. Herzlichen Dank!
desfreiwilligendienst engagieren, engagieren sich 42 000
junge Menschen in den klassischen Jugendfreiwilligen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diensten: im Freiwilligen Sozialen Jahr, dem Freiwilli-
Ich fasse zusammen: Die Entwicklung bei den Frei-
gen Ökologischen Jahr oder in internationalen Freiwilli-
willigendiensten aller Generationen ist sehr gut. Die
gendiensten. Insgesamt gibt es also 72 000 Menschen in
christlich-liberale Koalition kann stolz auf das Erreichte
Deutschland, die dieses Jahr einen Freiwilligendienst
sein. Wir können vor allem auf das großartige freiwillige
leisten. Das ist ein sehr erfreuliches Ergebnis,
Engagement der Menschen in Deutschland stolz sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jetzt höre ich auf. Mit meiner restlichen Redezeit ver-
und es ist ein gutes Zeugnis für die positive Einstellung längere ich die Nachtruhe von uns allen. Kollege
in unserem Land sowie für den Geist, der in unserem Bernschneider, Kollege Geis und Kollegin Haßelmann
Land weht. Zusammen mit dem breiten Ehrenamt ist haben Ihre Reden zu Protokoll gegeben und tun so etwas
17916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
Markus Grübel
(A) für unseren Schlaf oder eventuell für die Möglichkeit, Wer legt denn eigentlich fest, dass Vorlesen in einem (C)
nachher noch zusammenzusitzen. Kindergarten eine zusätzliche Tätigkeit ist und keine
qualifizierte Hilfstätigkeit? Was passiert denn beim Vor-
Vielen Dank. lesen? Die Kinder sitzen vertrauensvoll um die Erziehe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rin und kuscheln sich aneinander. Die Erzieherin merkt,
welches Kind einen Satz nicht versteht. Sie kann auf das
Kind eingehen, sie kann die Szene im Rollenspiel nach-
Vizepräsident Eduard Oswald: spielen lassen, sie kann die Bilder nachmalen lassen,
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Es sind 48 Sekun- oder sie kann die Szenen gemeinsam mit den Kindern
den, auf die Sie verzichtet haben. beim Kneten nachspielen. Wenn sie dann möglicher-
(Heiterkeit) weise in der Diskussion über die Geschichte des Buches
etwas von den Sorgen und Nöten des Kindes erfährt,
Nächste Rednerin ist unsere Kollegin Heidrun Dittrich dann hat sie die Möglichkeit, ein Elterngespräch zu füh-
für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin. ren. All das soll keine qualifizierte Arbeit, sondern nur
zusätzliche Arbeit sein? Als Linke bin ich dagegen, so-
(Beifall bei der LINKEN) ziale Arbeit so abzuqualifizieren.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Florian
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Bernschneider [FDP]: Da klatscht noch nicht
und Herren! Heute steht der Antrag der SPD mit dem Ti- einmal Ihre eigene Partei! Zu Recht!)
tel „Freiwilligendienste aller Generationen verstetigen – Jede fachliche Tätigkeit kann, wenn sie erst einmal
Engagement ohne Altersgrenzen stärken“ zur Debatte. wegrationalisiert ist, in Einzelteile zerlegt und als unqua-
Mein Vorredner, Herr Grübel, hat es schon richtig ge- lifizierte, als zusätzliche Tätigkeit definiert werden. Das
ahnt, als er gesagt hat, dass ich daran etwas zu kritisieren heißt, offensichtlich bestimmt die Haushaltslage der
habe. Ich möchte auch sagen, an welchen Punkten. Bundesregierung, wann eine gesellschaftliche Arbeit
Die Linke sieht, wie von Ihnen angesprochen, die Ar- notwendig ist und bezahlt werden soll. Von 1991 bis
beitsmarktneutralität gefährdet. Sie sieht auch die Ge- 2006 wurden 2 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen
fahr, dass sich durch den Bundesfreiwilligendienst und Dienst weggespart; das geht aus der Veröffentlichung
den Freiwilligendienst aller Generationen ein neuer Nied- „Genug gespart!“ von Verdi aus dem Jahr 2008 hervor.
riglohnsektor verstetigen könnte; das wünscht sich jede Wer außer der Bundesregierung hat früher die Ar-
Fraktion hier im Bundestag, bis auf die Linke. beitsmarktneutralität begründet? Die Bundesagentur für
(B)
Die Linke sieht zudem eine große Gefahr in der Über- Arbeit. Früher hieß es gemäß dem Bundessozialhilfege- (D)
schreitung der Regelaltersgrenze: Das Engagement soll setz, eine Tätigkeit könne nur ausgeführt werden, wenn
bis zum 70. Lebensjahr möglich sein. Ich will das be- sie sonst nicht in diesem Umfang ausgeübt werden
gründen, erst einmal mit einem Beispiel dafür, wie man könne und wenn sie gemeinnützig ist; denn erst dann
überhaupt im hohen Alter zu solch einer Stelle im Frei- könne sie als „zusätzlich“ anerkannt werden. Genau an
willigendienst kommt: Nehmen wir an, Sie sind 67 Jahre diesem Punkt wird es nun gefährlich, weshalb ich gesagt
alt. Da kommt es öfter vor, dass Sie zum Arzt gehen. Der habe, dass wir einen neuen Niedriglohnsektor befürch-
Arzt schlägt Ihnen vor: Wenn Sie schon drei Kinder er- ten. Die Bundesagentur für Arbeit hat laut Süddeutscher
zogen haben, könnten Sie doch zum Vorlesen in den Zeitung vom 2. Dezember erklärt, dass sie auf die Merk-
Kindergarten gehen. – Beim Freiwilligendienst aller Ge- male der Zusätzlichkeit und der Gemeinnützigkeit ver-
nerationen gibt es eine Aufwandsentschädigung von 50 zichten möchte. Das bedeutet doch, dass wir jederzeit,
bis 150 Euro. staatlich subventioniert, einen Arbeitsplatz fördern kön-
nen, dessen Bezahlung unter dem Hartz-IV-Satz liegt.
Beim Freiwilligendienst der Bundeswehr gibt es mehr Das darf nicht sein. Besteuern Sie die Reichen! Sorgen
Geld: Wenn Sie nach Afghanistan gehen, dann kommen Sie für mehr Staatseinnahmen! Einen anderen Weg gibt
Sie aus Hartz IV heraus, aber möglicherweise nicht mehr es nicht.
zurück.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zurufe bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) Ein Freiwilligendienst aller Generationen, in dem sich
noch 70-Jährige engagieren können, sieht doch schon
Deshalb rate ich davon ab. Dort gibt es 1 200 Euro. Beim vor, dass die Regelaltersgrenze von 67 Jahren überschrit-
BFD gibt es 500 Euro, beim Freiwilligen Sozialen Jahr ten werden kann. Die Bundesregierung könnte doch auf
330 Euro, mit den Zuschüssen für die Unterkunft 400 Euro. die Idee kommen, zu sagen: Wenn die Menschen bis
70 Jahre freiwillig tätig sein können, dann können sie
Wenn Sie, wie im geschilderten Fall, als Rentnerin in auch bis 70 Jahre arbeiten. Damit untergraben Sie sozu-
der Grundsicherung sind, weil Sie selber zu wenig Rente sagen die feste Regelaltersgrenze.
haben – gut 450 Euro –, dann können Sie mit den
150 Euro Aufwandsentschädigung nicht über die Grund-
sicherung hinauskommen. Frau H. aus meinem Wahl- Vizepräsident Eduard Oswald:
kreis hat diese Tätigkeit abgelehnt. Sie möchte lieber Frau Kollegin, Sie wissen, was die Lichter vor Ihnen
selbstbestimmt über ihre Zeit verfügen. bedeuten?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17917
Peter Wichtel
(A) Geschäftsmodells oder die Ausdehnung des Anwen- füllt hat und der Entwurf des Vierzehnten Gesetzes zur (C)
dungsbereichs auch auf kleinere Flughäfen und Flug- Änderung des Luftverkehrsgesetzes unsere Unterstüt-
plätze mit weniger als 5 Millionen Fluggastbewegungen zung findet.
jährlich wären deutlich über die eigentlichen Anforde-
rungen der EU-Richtlinie hinausgegangen. Daniela Ludwig (CDU/CSU):
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet dagegen Mit der Verabschiedung der 14. Änderung des Luft-
eine angemessene und nachvollziehbare Regelung be- verkehrsgesetzes wird bald ein wichtiger Meilenstein in
züglich der Entgelte und deren Festsetzung. Er veran- der nationalen Umsetzung der EU-Entgeltrichtlinie ge-
kert die allgemeinen Grundsätze der Entgelterhebung nommen. Genauer gesagt werden wir damit die Richt-
wie Transparenz und Diskriminierungsfreiheit und ge- linie 2009/2012/EG des Europäischen Parlaments und
währt Flughäfen mit mehr als 5 Millionen jährlichen des Rates vom 11. März 2009 über Flughafenentgelte
Fluggastbewegungen einige Sonderbestimmungen. So umsetzen.
wird die Durchführung eines obligatorischen Konsul-
tationsverfahrens zwischen Flughafenunternehmern und So wie auch viele beteiligte Verbände und Adressaten
-nutzern eingeführt. Zudem werden die für die bezüglich sehe ich in dem vorliegenden Entwurf zunächst einen
der Genehmigung der Entgeltordnung zuständigen Lan- guten Ansatz, der die verschiedenen Interessen der Ak-
desbehörden verpflichtet, zu prüfen, ob eine Orientie- teure des Luftverkehrs in sich vereint, und kann damit
rung an einer effizienten Leistungserstellung erkennbar das Bundesverkehrsministerium nur loben; denn bei der
ist. Bei einvernehmlicher Regelung der Entgelte zwi- Entwurfserarbeitung hat man sich offensichtlich darum
schen Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunter- bemüht, eine gute Lösung für alle zu finden. Es hat lange
nehmen kann die Genehmigungsbehörde jedoch von der gedauert, aber aufgrund der Komplexität des Gesetzes-
Prüfung der Effizienzorientierung absehen. textes mussten viele Hürden genommen werden.
Auch über die Thematik der Flughafenentgelte hi- Da die Entscheidungen in und aus Brüssel immer
naus beinhaltet der vorliegende Entwurf überaus wert- größere Bedeutung und Einflussnahme in Bezug auf die
volle Änderungen des Luftverkehrsgesetzes. So werden Entscheidungen in den EU-Mitgliedstaaten haben, wird
erstmalig Regelungen bezüglich ziviler unbemannter der vor Jahren begonnene Dialog zwischen den Beteilig-
Luftfahrtsysteme, sogenannter Drohnen, festgeschrie- ten im Luftverkehr über die angemessene Ausgestaltung
ben. Die Geräte, die mittlerweile auch in der zivilen Nut- nun auch in Deutschland zu einem Ende gebracht. Auch
zung, beispielsweise zur Umwelt- oder Verkehrsüberwa- die deutsche Luftverkehrsindustrie findet, so ihre ge-
chung oder zum Schutz von Pipelines, immer größere meinsame Stellungnahme, ihre Interessen ausreichend
Bedeutung erlangt haben, werden als neue Kategorien berücksichtigt und sieht dem Gesetz zuversichtlich ent-
(B) gegen. (D)
von Luftfahrzeugen eingeführt.
Des Weiteren wird auch die Verbraucherschutzbe- Heute wollen wir den Regierungsentwurf in das par-
stimmung aus der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des lamentarische Verfahren einbringen und in die Aus-
Europäischen Parlamentes und des Rates vom 24. Sep- schüsse überweisen. Wir alle wissen, dass dies bedeutet,
tember 2008 über gemeinsame Vorschriften für die dass an der einen oder anderen Stelle oder vielleicht
Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemein- auch an einigen Stellen Veränderungen im Gesetzent-
schaft mit der vorliegenden Änderung des Luftverkehrs- wurf vorgenommen werden. Daher freue ich mich auf
gesetzes umgesetzt. Ziel ist es, allen Flugpassagieren eine anregende Diskussion, die sicherlich zu einem gu-
transparente Preise und einen diskriminierungsfreien ten Ergebnis führt.
Zugang zu den Flugpreisen zu gewähren.
In unserer Verantwortung liegt es nun, zu prüfen, in-
Zuletzt wird mit der Änderung von § 20 LuftVG klar- wieweit der Gesetzentwurf der Bundesregierung unter
gestellt, dass Flüge zum Absetzen von Fallschirmsprin- anderem die gemeinsamen Regeln zur Festlegung von
gern – wie Luftsportgeräte auch – generell von der Be- Flughafenentgelten für Flughäfen mit jährlich mehr als
triebsgenehmigung nach § 20 Abs. 1 befreit sind, 5 Millionen Fluggastbewegungen ausgestaltet und for-
unabhängig davon, ob es sich um Flüge gewerblicher muliert hat. Denn ebendiese Flughafenentgelte sind seit
Art oder im Rahmen einer Vereinstätigkeit handelt. Jahren Inhalt von zahlreichen Diskussionen. Zum einen
sind sie wichtig für die Flughäfen; sie sind aber auch
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass wichtig für diejenigen, die die Flughäfen nutzen. Sie
die Bundesregierung einen angemessenen und ausba- werden erhoben für die Nutzung der Einrichtungen und
lancierten Gesetzentwurf vorgelegt hat, der eine wirk- Dienstleistungen, die ausschließlich von Flughafenbe-
same Umsetzung der EU-Flughafenentgelt-Richtlinie in treibern bereitgestellt werden und mit Landung, Start,
deutsches Recht darstellt. Die CDU/CSU-Fraktion im Beleuchtung und Abstellen von Flugzeugen sowie mit
Deutschen Bundestag wird sich in den nun angestoße- der Abfertigung von Fluggästen und Fracht in Zusam-
nen parlamentarischen Beratungen verantwortungsbe- menhang stehen.
wusst und ergebnisoffen mit der Vorlage auseinander-
setzen und, sollte ein entsprechender Bedarf bestehen, Die EU hat dazu eine Richtlinie erlassen, die sicher-
notwendige Korrekturen anregen. Dennoch betone ich stellen soll, dass diese Flughafenentgelte einheitlich in
an dieser Stelle gerne, dass die Bundesregierung die transparenter und nichtdiskriminierender Weise erho-
Zielsetzung der notwendigen Ausgestaltung des bisheri- ben werden. Dies gilt es in deutsches Recht einzupassen.
gen Genehmigungsverfahrens für Flughafenentgelte er- Deshalb sollen unter anderem regelmäßige Gespräche
Kirsten Lühmann
(A) Die Fluggesellschaften wiederum stehen ebenfalls leistungen während des Buchungsvorgangs auch als sol- (C)
unter enormen Druck. Das nachlassende Wirtschafts- che kenntlich zu machen, etwas, das in der Vergangenheit
wachstum macht ihnen zu schaffen. Außerdem beklagen sicherlich nicht immer gewährleistet war, wie der eine
sie sich zu Recht über die unsinnige Luftverkehrsabgabe oder andere von uns vielleicht bereits selbst erfahren hat
in Deutschland. Hier ist ein fairer Ausgleich zu schaffen. oder – besser gesagt – erfahren musste.
Wir begrüßen es daher, dass der vom Bundeskabinett be-
schlossene Gesetzentwurf grundsätzlich der EU-Richt- Alles in allem begrüßen wir als FDP-Bundestags-
linie über Flughafenentgelte folgt und somit klare Stan- fraktion die angestrebten Änderungen ausdrücklich. Sie
dards im Sinne einer Fortentwicklung des deutschen stellen einen sorgfältig abgewogenen Interessenaus-
Luftverkehrs setzt. gleich aller Beteiligten dar, sowohl im Bereich der Re-
gulierung als auch im Bereich des Verbraucherschutzes.
Patrick Döring (FDP):
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf zur Ände- Herbert Behrens (DIE LINKE):
rung des Luftverkehrsgesetzes setzt die Bundesregierung Es ist gerade vier Wochen her, dass 10 000 Bürgerin-
vorrangig eine Richtlinie des Europäischen Parlaments nen und Bürger in Berlin auf die Straße gingen. Sie pro-
und des Rates um, die bei den Flughafenentgelten für testierten gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Berlin-
mehr Effizienz und Kostenwahrheit sorgen soll. Ein Vor- Brandenburg gegen die Flugroutenplanung. Sie forder-
haben, das wir als FDP-Bundestagsfraktion ausdrück- ten: Gesundheit geht vor Wirtschaftlichkeit!
lich unterstützen.
Wir haben es in der Hand, die Interessen der Betrof-
Bekanntlich ist die wesentliche Aufgabe eines Flug- fenen aufzunehmen und zum Durchbruch zu verhelfen.
hafens die Abfertigung von Luftfahrzeugen, angefangen Dazu haben wir heute die Gelegenheit bei der Änderung
von der Landung bis hin zum erneuten Start. Hierfür ste- des Luftverkehrsgesetzes. Wir haben es in der Hand,
hen den Flughäfen allerdings nur begrenzte Kapazitäten Bürgerinnen und Bürger an Flughäfen davor zu schüt-
zur Verfügung, die wiederum nicht beliebig und teil- zen, dass sie unter einem Lärmteppich schlafen müssen.
weise nur gegen massive Widerstände erweitert werden
können, wie wir derzeit in Frankfurt am Main oder auch Die Regierungsfraktionen legen einen Gesetzentwurf
in Berlin beobachten können. Bei Großflughäfen, die da- vor, mit dem eine Richtlinie des Europäischen Parla-
rüber hinaus häufig über eine enorme Marktmacht ver- mentes und des Rates umgesetzt wird. Die Linke geht mit
fügen und somit als ein natürliches Monopol bezeichnet ihrem Gesetzentwurf an einem entscheidenden Punkt
werden können, bedarf es besonderer Anforderungen an weiter. Wir wollen erreichen, dass Menschen unter den
die Regulierung. Flugrouten und an den Flughäfen künftig besser
(B) geschützt werden. Wir verlangen, dass bei der Abwick- (D)
Dieses greift sowohl die Richtlinie als auch der uns lung des Luftverkehrs der nächtliche Lärmschutz Vor-
vorliegende Gesetzentwurf auf. Besonderer Wert wird rang hat vor wirtschaftlichen Belangen.
dabei auf die Informationspflicht und die transparente
und diskriminierungsfreie Berechnung der Gebühren Unser Vorschlag für die Gesetzesänderung greift die
gelegt. Hierzu sollen zwischen dem Betreiber und den Bundesratsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz vom
Nutzern des Flughafens regelmäßige Konsultationen April dieses Jahres auf. Mit dieser Initiative sollte eine
stattfinden. Das ist aus meiner Sicht ein unverzichtbares große Schwachstelle im geltenden Luftverkehrsgesetz
Element für einen fairen und freien Wettbewerb. Schließ- ausgebessert werden. Im Gesetz heißt es: „Die Luft-
lich kann Mobilität in einer Systempartnerschaft wie fahrtbehörden und die für die Flugsicherung zuständige
dem Luftverkehr nur dann effizient stattfinden, wenn Stelle haben auf den Schutz der Bevölkerung vor unzu-
beide Partner ein gemeinsames Interesse an einem mög- mutbaren Fluglärm hinzuwirken.“
lichst reibungslosen und konfliktfreien Betriebsablauf
haben. Die im Gesetzestext verankerte Differenzierung Hinwirken! Die Anwohnerinnen und Anwohner an
der Entgelte nach Lärmschutzaspekten und Schadstoff- den Flughäfen in Frankfurt, München und Berlin wissen
emissionen rückt darüber hinaus auch Umwelt- und An- nur zu gut, was das heißt. Die wirtschaftlichen Interes-
wohnerinteressen vermehrt in den Fokus. sen der Flughafenbetreiber werden regelmäßig höher
bewertet, höher als die Gesundheit der Bürgerinnen und
Ein weiterer Aspekt, der maßgeblich zur Effizienzstei- Bürger.
gerung und damit auch günstigeren Entgelten führen
soll, sind Leistungsvereinbarungen über die Qualität der Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflug-
Dienstleistungen. Sie berücksichtigen in einem hohem häfen verlangt eine Freigabe der Nacht für den Flug-
Maße die besondere Beziehung zwischen den Flughafen- betrieb. Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und
unternehmen und ihren Nutzern. Gemeinsam können FDP nimmt das willfährig auf: „Neben einer Kapazi-
und sollen alle Beteiligten maßgeschneiderte Lösungen tätsentwicklung der Flughäfen werden wir insbesondere
für ihre Bedürfnisse entwickeln. Ein Ansatz, von dem am internationale wettbewerbsfähige Betriebszeiten sicher-
Ende alle profitieren werden. stellen.“ – Eine Horrorvorstellung für alle, die in der
Nähe von Flughäfen leben.
Ein zweiter wichtiger Punkt, der mit dem uns vorlie-
genden Gesetzentwurf umgesetzt werden soll, sind neue Mit unserem Gesetzentwurf machen wir uns auf den
Verbraucherschutzbestimmungen. Dabei geht es im We- Weg hin zu einem umfassenderen Schutz der Interessen
sentlichen darum, den Kunden kostenpflichtige Zusatz- der Menschen vor dem gnadenlosen Diktat ökonomi-
Hans-Werner Kammer
(A) ist so überflüssig wie der gesamte Antrag. Das praktizie- weiteren Entwicklungsmaßnahmen für den Hafen vorzu- (C)
ren wir doch schon seit Jahren täglich! Dieser Antrag nehmen: Dazu gehörten insbesondere die Neuerschlie-
zeigt jedem, der es wissen will, dass die SPD sich nicht ßung des ehemaligen Krupp-Hüttengeländes zum heuti-
nach rechts oder links bewegt, sondern mit voller Kraft gen Logport sowie der Ausbau der Hafeninfrastruktur,
die Vergangenheit ansteuert. Diese Menschen dürfen wie beispielsweise die Erweiterung von notwendigen Ei-
unser Land nicht regieren. senbahnanschlussstrecken oder die Verfüllung von ehe-
maligen Hafenarmen zwecks Landgewinnung für mo-
derne Roll-on-roll-off-Anlagen.
Johannes Pflug (SPD):
Eigentlich denkt man ja eher an Hamburg, Rotter- Damals war es eine bedeutende Zäsur, sich von dem
dam, Boston oder Schanghai, wenn das Stichwort Hafen alten Montandenken, bei dem sich alles nur um Kohle
fällt – und weniger an Chicago, Lüttich oder Duisburg. und Stahl drehte, zu verabschieden. Ganz wesentlich
Und doch ist es so, dass es Zeiten gab – etwa Mitte der war dabei der unternehmerische Ansatz, sich auf die
70er-Jahre – in denen der Duisburger Hafen einen grö- Logistik und Verkehrswirtschaft zu konzentrieren. So
ßeren Umschlag als der Hamburger Hafen hatte. Noch konnte man ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb
heute ist der Duisburger Hafen der weltweit größte Bin- schaffen. Durch die Kapitalerhöhung 1988 half der
nenhafen, der sich selbst in der Wirtschaftskrise positiv Bund der Stadt Duisburg und der ganzen Region Rhein-
weiterentwickelt hat. Rund 350 Unternehmen sind im Ruhr und erfüllte so das Prinzip der Mitgestaltung durch
Hafen ansässig, insgesamt sind 40 600 Arbeitsplätze die öffentliche Hand – und zwar in sehr erfolgreicher
von ihm abhängig. Die Logistikdrehscheibe Duisburg ist Art und Weise! Hiervon ist die jetzige Regierung meilen-
heute ein wesentlicher Motor für Wohlstand und Arbeits- weit entfernt.
plätze in Duisburg, Nordrhein-Westfalen und auch für Die zahlreichen notwendigen Erweiterungen sowie
Deutschland. die Modernisierungsmaßnahmen, die der Hafen seit sei-
Der Grundstein für die moderne Entwicklung des Ha- ner Inbetriebnahme erfuhr, waren nur möglich, weil der
fens wurde mit der Gründung der Duisburg-Ruhrorter Hafen im Besitz der öffentlichen Hand war. Private An-
Hafen Aktiengesellschaft bereits 1926 gelegt, als die leger hätten sich damals niemals gefunden, um Geld in
Stadt Duisburg ein Drittel des Stammkapitals und der den Hafen und seine Anlagen zu investieren. Die Parole
damalige Staat Preußen zwei Drittel des Stammkapitals „Privat vor Staat“ ist zu diesen Zeiten als maßlose Pro-
übernahmen. Noch heute ist der Bund mit einem Drittel vokation oder hanebüchener Unsinn verstanden wor-
an der Duisburger Hafen AG beteiligt, dies sind circa den: Niemand – weder Stadt, Land noch Bund – hätte
15,4 Millionen Euro – der Wert dieses sogenannten Bun- auch nur im Traum daran gedacht, seine Anteile zu ver-
kaufen.
(B) des-Drittel wird jedoch auf rund 50 Millionen Euro ge- (D)
schätzt. Es ist ein Unding, dass nun die schwarz-gelbe Die Geschichte des Duisburger Hafens und die der
Bundesregierung ihre Anteile als Tafelsilber verschleu- duisport-Gruppe ist eine einmalige Erfolgsgeschichte.
dern möchte! Die Folgen eines Verkaufs auf die Be- Der Hafen boomt und ist – trotz Wirtschafts- und Fi-
schäftigten und die Entwicklung des Hafens sind nicht nanzkrise – in den schwarzen Zahlen. Es gibt keinen ver-
abzuschätzen – außerdem verzichtet der Bund völlig nünftigen Grund, die Bundesanteile zu verkaufen. 6 Mil-
ohne Not auf die wachsenden Gewinne des Hafens. Dies liarden Euro sinnlose Steuersenkungen kann man nicht
soll mir mal einer erklären. durch Kleckerbeträge wie den Verkaufserlös von 15 Mil-
Als 1993 das Krupp-Hüttenwerk in Duisburg-Rhein- lionen Euro finanzieren! Hinzu kommt, dass der Verkauf
hausen geschlossen wurde und über 6 000 Arbeitsplätze für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Hafens
auf dem Spiel standen, war es der Duisburger Hafen, der und für die Stadt Duisburg fatale – nicht absehbare – Fol-
den Duisburger Bürgerinnen und Bürgern neue Hoff- gen haben kann.
nung bot: Auf dem Gelände des ehemaligen Krupp- Ich fordere die Bundesregierung dringend auf, von
Stahlwerkes entstand mit 2 300 Arbeitsplätzen ein Zen- dem Verkaufsgedanken Abstand zu nehmen und eine ver-
trum für Logistikunternehmen unter dem Namen Log- lässliche Entwicklung des Hafens sicherzustellen.
port. Die Stadt Duisburg hatte bereits in den 70er- und
80er-Jahren durch Modernisierungen in der Stahlindus-
Torsten Staffeldt (FDP):
trie und im Bergbau Zigtausende von Arbeitsplätzen ver-
loren – geprägt von der Monostruktur aus Kohle-, Stahl- Der Hafen Duisburg ist der größte Binnenhafen Eu-
und Bergbauindustrie stand der Stadt ein schwerer ropas und dadurch auch unbestritten der bedeutendste
Strukturwandel bevor. Im Hafen sahen die Duisburger Binnenhafen Deutschlands. Mit einem Güterumschlag
nun einen Lichtblick für eine hoffnungsvolle Entwick- von 114 Millionen Tonnen werden hier mehr als ein
lung der Stadt, der das Geld für dringend notwendige Drittel aller in deutschen Binnenhäfen anfallenden Gü-
Umstrukturierungsmaßnahmen fehlte. ter umgeschlagen.
Ich kenne niemanden, der diese Tatsache infrage
Auf der Ruhrgebietskonferenz im Februar 1988
stellt. Deshalb muss die Bundesregierung auch nicht ge-
wurde die Kapitalerhöhung der Duisburger Hafen AG
sondert aufgefordert werden, dieses anzuerkennen. Sie
von 30 auf 90 Millionen D-Mark durch die Anteilseigner
tut dieses bereits.
Stadt Duisburg, das Land Nordrhein-Westfalen und den
Bund beschlossen. Mit der Kapitalaufstockung war die Aber der Kern des Antrags geht ja in eine andere
Hafengesellschaft nun in der Lage, die notwendigen Richtung. Sie fordern, dass der Bund für immer und
Ulla Lötzer
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, tuwe-Linie zugesagt hat, zeichnet sich aktuell ein voll- (C)
wir werden Ihrem Antrag zustimmen. Wenn Ihr Antrag ständig anderes Bild ab. Die niederländischen Partner
hier mehr ist als eine Pflichtübung parteipolitischer haben ihren Teil der Betuwe-Linie bis zur Grenze bei
Profilierung, dann sollten ihm auch Taten in NRW fol- Emmerich bereits letztes Jahr fertigstellt. Auf deutscher
gen. Im Januar werden auf Initiative der Linken im Seite ist bis heute nicht einmal die Bundesfinanzierung
NRW-Landtag die Ergebnisse einer Anhörung zum Duis- des vereinbarten dreigleisigen Ausbaus inklusive des
burger Hafen ausgewertet. In Duisburg und auch in dringend nötigen Lärmschutzes sichergestellt. 9 der
Düsseldorf können die Mehrheiten der Oppositionspar- 11 Milliarden Euro, die in den nächsten Jahren in die
teien in diesem Hause die vernunftwidrigen Privatisie- Schieneninfrastruktur investiert werden, fließen in den
rungspläne von Schwarz-Gelb durchkreuzen. Sie können Norden, Süden und Osten, aber kaum etwas nach Nord-
kluge Entscheidungen treffen, die das öffentliche Eigen- rhein-Westfalen.
tum am Duisburger Hafen sichern und eine Kooperation
von Land und Kommunen an Rhein und Ruhr fördern. Zusammenfassend fordern wir die Bundesregierung
auf, ihre internen Kommunikationsprobleme im Bezug
auf den Verkauf der Hafenanteile zu klären und dabei
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht die Zukunft des Wirtschaftstandortes NRW aus den
Die grüne Bundestagsfraktion sieht den geplanten Augen zu verlieren. Die Bundesregierung kann eigent-
Verkauf der Anteile des Bundes an der Betriebsgesell- lich kein Interesse daran haben, dass die Anteile in pri-
schaft des Duisburger Hafens durchaus kritisch. Der vate Hand kommen. Wir wollen auch nicht, dass es zu
Hafen, der zu jeweils einem Drittel im Eigentum von einem europaweiten Bieterwettstreit kommt. Auf keinen
Bund, Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Duis- Fall wollen wir, dass die Anteile an einen Hedgefonds
burg ist, stellt einen diskriminierungsfreien Zugang zur oder andere veräußert werden. Angesichts der bisher
Hafeninfrastruktur und die gebotene Wettbewerbsneu- sehr erfolgreichen und zuverlässigen öffentlichen Part-
tralität sicher. Bundesstraßen, Autobahnen und Schiff- nerschaft sehen wir im Prinzip keine Notwendigkeit, die
fahrtskanäle werden ja auch nicht privatisiert. Bundesanteile am Duisburger Hafen zum jetzigen Zeit-
Wie so oft ist auch hier, bei der geplanten Veräuße- punkt zu veräußern.
rung der Bundesanteile an der Duisburger Hafen AG,
die Position der Bundesregierung unklar: Herr Vizepräsident Eduard Oswald:
Ramsauer steht dem Verkauf des Duisburger Hafens mit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
„allergrößter Skepsis“ gegenüber und hält diesen sogar Drucksache 17/8140 an die in der Tagesordnung aufge-
für eine „Verschleuderung von Bundesvermögen“. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
Gleichzeitig hat sein Kabinettskollege, Finanzminister verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. (D)
(B) Schäuble, den Verkauf der Bundesanteile bereits fest im
Bundeshaushalt 2012 eingeplant. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Eine klare Linie sieht anders aus. Am 22. Juli dieses Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Jahres antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Anfrage der grünen Bundestagsfraktion, dass ein „Bun- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
desinteresse an der Beteiligung schon seit langem nicht ten Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald,
mehr gegeben ist“. Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Tatsächlich könnte das Interesse des Bundes an einer
leistungsfähigen Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von
Amsterdam und Rotterdam nicht größer sein. Denn al- DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlän-
leine der Wirtschaftsstandort NRW erwirtschaftet mehr gern
als ein Fünftel des deutschen Bruttoinlandsproduktes.
Die Bundesregierung gibt mit dem Verkauf die Möglich- – Drucksachen 17/7486, 17/8045 –
keit aus der Hand, die Zukunft des weltweit größten Bin- Berichterstattung:
nenhafens am wichtigsten Wirtschaftsstandort Deutsch- Abgeordneter Ottmar Schreiner
lands weiterhin erfolgreich mitzugestalten, und das nur,
weil sie ihre Sichtweise unnötig auf die deutschen Nord- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
seehäfen verengt. Diese sind jedoch für das Einzugsge- Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
biet des Duisburger Hafens eher uninteressant. Zum ginnen und Kollegen wurden beim Präsidium angege-
Vergleich: Der Straßentransport eines Frachtcontainers ben.
200 Kilometer ins Hafenhinterland weist dieselbe Ener-
giebilanz auf wie der weltweite Transport desselben Frank Heinrich (CDU/CSU):
Containers per Frachtschiff von Schanghai bis nach
Rotterdam. Wann immer wir über die Rente sprechen, reden wir
nicht zuerst über Geld, sondern vor allem über individu-
Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch bei der Finan- elle Lebensleistungen. Menschen haben in ihrem Leben
zierung der dringend nötigen Schienengüterverkehrsan- etwas aufgebaut, sie haben gewirkt und gearbeitet. Men-
bindung zum Duisburger Hafen ab. Obwohl die Bundes- schen haben mit ihren Beiträgen die Renten der vorher-
regierung per schriftlicher Vereinbarung bereits 2002 gehenden Generationen gesichert. Gerade die Men-
die Finanzierung des deutschen Anschlusses an die Be- schen in DDR-Betrieben haben unter ungünstigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17927
Frank Heinrich
(A) politischen und ökonomischen Verhältnissen einen groß- heit und Verantwortung handeln. Der Staat setzt die (C)
artigen Beitrag für die Gesellschaft geleistet. Rahmenbedingungen und unterstützt denjenigen, der
seine Freiheit nicht ausführen kann. Anders als die
Daher ist es eine Frage der Rentengerechtigkeit, ja Linke, die jede Verantwortung an den Staat delegiert,
der Anerkennung der Lebensleistung, dass Konten von mahnt uns unser Menschenbild, den Menschen auch die
Rentnerinnen und Rentnern sauber und korrekt geklärt schmerzhaften Folgen ihrer Verantwortung zuzumuten.
werden können. Menschen verdienen Gerechtigkeit. Eine Verschiebung von Stichtagen und Fristen auf den
Um hier Ungerechtigkeiten zu vermeiden und jedem Sanktnimmerleinstag zeigt, dass die Linke dem einzel-
Versicherten Gelegenheit zu geben, seine Konten zu klä- nen Menschen diese Mündigkeit nicht zutraut.
ren sowie alle seine rentenanwartschaftsbegründenden Wir kennen das doch im Kleinen, sei es in der Fami-
Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte vollständig zu lie, an der Uni oder auch in Betrieben: Fristen sorgen
erfassen, beschloss der Bundestag im Oktober 2006, die für Klarheit, Verschiebungen produzieren neue Unklar-
zum Jahresende 2006 auslaufende Aufbewahrungs- heiten. Und ist nicht das das Ziel unserer Rentenpolitik:
pflicht um fünf Jahre zu verlängern. Die CDU/CSU hat Klärungen für Menschen möglich zu machen, und damit
diesen Beschluss unterstützt und mehrheitlich mit be- einen Beitrag zur Gerechtigkeit zu leisten, und zwar ei-
schlossen. ner Gesamtgerechtigkeit: der Versicherten, der Betriebe
Diese verlängerte Aufbewahrungsfrist für Lohnunter- und der Gemeinschaft der Versicherten sowie der Ren-
lagen aus DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In tenversicherungsträger und der Haushaltsverantwortli-
ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, diese Auf- chen in Bund und Ländern, die auch zu einem festen
bewahrungsfrist erneut um fünf Jahre zu verlängern, Punkt wissen müssen, mit welchen finanziellen Belas-
und zwar über den 31. Dezember 2011 hinaus bis zum tungen sie zu rechnen haben?
31. Dezember 2016.
So lässt sich zusammenfassend festhalten: Menschen
Dieser Antrag entspricht scheinbar dem Anliegen der brauchen eine gerechte Anerkennung ihrer Lebensleis-
Rentengerechtigkeit. Leider ist dies nur vordergründig tung. Sie sollen eine richtig berechnete Rente erhalten,
der Fall. Denn eine beliebig und wiederholt verlängerte auch und gerade die Menschen aus der ehemaligen
Frist löst kein Problem, sondern verschiebt es willkür- DDR. Darum haben wir die Frist im Jahr 2006 verlän-
lich nach hinten hinaus. Wir müssen konstatieren: Trotz gert. Diese Zeit war genügend lang bemessen. Eine wei-
einer Verlängerung im Jahr 2006 haben viele Bürgerin- tere Verlängerung der Frist hingegen schafft unverhält-
nen und Bürger keine Kontenklärung beantragt. Eine nismäßige Kosten und Aufwand und ist daher nicht
weitere Verlängerung wird dieses Problem nicht lösen. sachgemäß.
(B) Auch wird die Verantwortung für die Kontenklärung (D)
hier unverhältnismäßig stark von den Versicherten auf Ottmar Schreiner (SPD):
die Betriebe abgeschoben. Es sind die Arbeitgeber, auf Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner
die die zusätzlichen Lagerkosten und der zusätzliche Sitzung am 30. November 2011 mit den Stimmen der
Verwaltungsaufwand zukommt. Die Betriebe haben rund Fraktionen CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der
20 Jahre lang im Interesse der Versicherten und der Oppositionsfraktionen dem Deutschen Bundestag die
Deutschen Rentenversicherung die Lohnunterlagen auf- Ablehnung des vorliegenden Antrags empfohlen. Der
bewahrt, und das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu Antrag fordert eine Verlängerung der Aufbewahrungs-
speichernden Daten. frist um weitere fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember
2016.
Es ist auch zu bemerken, dass viele dieser DDR-Be-
triebe mittlerweile nicht mehr existieren. Das bedeutet, Generell müssen Lohnunterlagen vom Arbeitgeber
dass ihre Rechtsnachfolger oder auch private Firmen für eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden.
sich um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen Hiervon abweichend sind nach geltendem Recht gemäß
kümmern. Diese werden durch eine Verlängerung der § 28 f Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991
Fristen unverhältnismäßig stark belastet. im Beitrittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindes-
tens bis zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzu-
Leider müssen wir auch feststellen, dass die Versäum- bewahren. Damit sollte für alle Betroffenen die Möglich-
nisse bei der Kontoklärung hauptsächlich darauf zu- keit geschaffen werden, ihre Versichertenkonten zu
rückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer Mitwir- klären.
kungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mitwirken
der Versicherten selbst ist die Beschaffung von fehlen- Sowohl die CDU/CSU-Fraktion als auch die Fraktion
den Unterlagen durch den Rentenversicherungsträger der FDP sind der Meinung, dass die Aufbewahrungszeit
kaum möglich. Es geht hier also um eigene Verantwor- zur Klärung der Rentenkonten bisher ausreiche. Alles
tung und Selbstständigkeit der Versicherten. Weitere liege in der Eigenverantwortung der Betroffe-
nen; mehr könne der Gesetzgeber nicht tun. Schließlich
Damit sind wir inhaltlich nicht nur bei der Frage könne man die Arbeitgeber nicht weiterhin unverhältnis-
nach Rente und Rentenklärung. Wir sind bei der Frage mäßig belasten.
nach dem Menschenbild und dem Staatsverständnis.
Hier unterscheiden sich die Ansätze der Linken und der Dass noch immer etwa 286 000 allein bei der Deut-
CDU/CSU grundsätzlich. Für uns steht das mündige schen Rentenversicherung Bund geführten Versiche-
Subjekt im Mittelpunkt der Politik. Dieses kann in Frei- rungskonten nicht vollständig geklärt sind, stört die Re-
Ottmar Schreiner
(A) gierungsfraktionen nicht. Das entspricht einem Anteil vor dem Hintergrund der damit verbundenen Erwar- (C)
von rund 12 Prozent der Versicherungskonten mit Be- tungshaltungen nicht zu rechtfertigen.
schäftigungszeiten in der ehemaligen DDR und ist aus
Sicht der SPD-Fraktion nicht zu vernachlässigen. Die Für abhängig Beschäftigte in der DDR dienen diese
Betroffenen verlören auf diese Weise nicht unerhebliche Lohnunterlagen zur Klärung ihres Rentenversiche-
Teile ihrer Rentenanwartschaften. Versicherungsrecht- rungskontos. Es wurden alle nötigen, notwendigen und
lich relevante und rentenrelevante Daten drohen somit darüber hinausgehenden Maßnahmen ergriffen, um den
verlorenzugehen. Es ist zutiefst beschämend, wie die Personenkreis der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
CDU/CSU mit ehemaligen DDR-Bürgern umgeht. Das zu informieren:
tut sie nicht nur in diesem Fall, sondern das gilt auch für Die Betroffenen wurden in den vergangenen 20 Jah-
den rentenpolitischen Umgang mit ehemaligen DDR- ren mehrfach persönlich angeschrieben. Sämtliche
Flüchtlingen. Die „FDP in Liquidation“ verhält sich da Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten im Beitrittsgebiet
nicht anders und folgt stillschweigend dem größeren sind in den Jahren 2005 bis 2007 aufgerufen worden, ei-
Partner. nen Antrag auf Kontenklärung zu stellen. Im Jahr 2006
wurden alle Betroffenen auf die Notwendigkeit einer
Im Rahmen der Beratungen zum Vierten SGB-IV-Än- Kontenklärung früherer DDR-Zeiten hingewiesen.
derungsgesetz hat meine Fraktion einen Änderungs-
antrag eingebracht, der unter anderem eben diese Ver- Sie wurden darüber hinaus über Pressemitteilungen
längerung der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in den gängigen Medien von den Rentenversicherungs-
in DDR-Betrieben zum Gegenstand hatte. Wir waren im trägern für die Problematik sensibilisiert, die nötigen
Gegensatz zur Linksfraktion der Meinung, dass dies mit Anträge vor Fristablauf einzureichen.
dem Vierten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze hätte erreicht Im Zuge der jährlichen automatischen Versendung
werden können, weil die Aufbewahrungsfrist Regelungs- der Renteninformationen erfolgte ebenfalls ein deutli-
bestandteil des SGB IV ist. cher Hinweis auf die Notwendigkeit einer vollständigen
Kontenklärung.
Die Koalitionsparteien haben unseren diesbezügli- Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch
chen Antrag in der Ausschusssitzung am 30. November nachgekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem
2011 und am darauf folgenden Tag im Plenum des Deut- Jahr die Deutsche Rentenversicherung Bund noch ein-
schen Bundestages abgelehnt. Auch die Bundesregie- mal auf den Fristablauf öffentlich hingewiesen.
rung hat sich in dieser Sache trotz entsprechender
Stellungnahmen von Sachverständigen, die für eine Ver- Falls es dennoch einzelne Betroffene gibt – zum Bei-
(B) längerung plädierten, als beratungsresistent erwiesen. spiel „beruflich Verfolgte“, die den Nachweis verfol- (D)
gungsbedingter Mindereinnahmen nicht durch Rückgriff
In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird auf ihr geklärtes Rentenversicherungskonto führen kön-
die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf nen –, so gibt es bewährte Verfahren, um diesen Men-
vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den schen zu helfen. So sieht zum Beispiel § 25 BerRehaG
31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016 für Fälle, in denen Unterlagen nicht vorhanden oder
verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache richtig und nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antrag-
wird daher von meiner Fraktion unterstützt. stellers verlorengegangen sind, Beweiserleichterungen
ausdrücklich vor. In solchen Fällen ist es ausreichend,
Sebastian Blumenthal (FDP): wenn der Betroffene seine Angaben zur Verfolgteneigen-
schaft und zur Verfolgungszeit glaubhaft machen kann.
Nach der Beratung im Ausschuss sind wir als FDP-
Fraktion weiterhin überzeugt, dass es keinen nachvoll- Insofern sehen wir als FDP-Fraktion keinen Grund
ziehbaren Grund gibt, die im Zuge der deutschen Einheit für eine erneute Fristverlängerung. Schon die Verlänge-
beschlossene Sonderregelung für die Aufbewahrung von rung der Frist im Jahre 2006 war für uns nur schwerlich
Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der DDR nachzuvollziehen – vor allem vor dem Hintergrund, dass
erneut zu verlängern. die Arbeitgeber bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der
abgewickelten DDR-Staatsunternehmen die Lohnunter-
Es muss den Rentenversicherungsträgern möglich lagen mit erheblichen Kosten aufbewahren müssen.
sein, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu über- Wir bleiben somit bei unserem ablehnenden Votum.
prüfen – insbesondere um die Absicherung der Arbeit- Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage – sei es im Kreis
nehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen. Ihrer Familie oder im Freundeskreis – und ein frohes
und gesundes neues Jahr 2012.
Grundsätzlich ist dafür ein Zeitraum von fünf Jahren
vorgesehen. Um den besonderen Umständen Rechnung
zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
haben, wurde dieser Zeitraum für Beschäftigte in der Eingangs möchte ich auf unsere Debatte vom 10. No-
DDR zunächst um zweimal fünf Jahre verlängert, dann vember zurückkommen. Die Rednerinnen und Redner
erneut um fünf Jahre – also auf insgesamt 20 (statt fünf) ausnahmslos aller Fraktionen betonten, wie wichtig die
Jahre. Eine erneute Verlängerung um fünf Jahre auf Lohnunterlagen für eine exakte Rentenberechnung sind.
dann insgesamt 25 Jahre ist völlig unangemessen und Doch da hörten die Gemeinsamkeiten schon auf. Meine
Judith Skudelny
(A) Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltver- anerkannten Verbänden auch die Anerkennung von Stif- (C)
bände nach geltendem deutschen Recht auf drittschüt- tungen als Klageberechtigte.
zende, und auf Europarecht basierende, Normen be-
Diese Änderungen bzw. Ergänzungen folgen weder
schränkt. Dies ist nach dem genannten EuGH-Urteil
aus dem EuGH-Urteil, noch sind sie sonst europarecht-
europarechtswidrig. Es bedarf somit einer Anpassung
lich vorgegeben. Sie würden dazu führen, dass die Ge-
des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorga-
nehmigungsdauer für Projekte noch weiter zunimmt und
ben.
außerdem die Kosten für diese weiter steigen. Darüber
Hieraus ergibt sich Handlungsbedarf für den deut- hinaus helfen sie auch nicht dem Umweltschutz.
schen Gesetzgeber. Denn die Grundsätze der EuGH-
Entscheidung gelten bereits jetzt unmittelbar für alle Dadurch würde Deutschland ein erheblicher Wettbe-
laufenden und zukünftigen gerichtlichen Verfahren. werbsnachteil entstehen. Wir als Liberale wollen, dass
Vorhaben auch weiterhin in Deutschland verwirklicht
Des Weiteren hat sich das EuGH-Urteil nur zur Rüge- werden. Wir wollen Arbeitsplätze in Deutschland halten
fähigkeit von umweltbezogenen Vorschriften des EU- und auch neue schaffen. Dazu benötigen wir Vorhaben-
Rechts geäußert. In Bezug auf rein nationale Umwelt- träger, die auch weiterhin in den Standort Deutschland
vorschriften besteht daher auch nach dem EuGH-Urteil investieren. Was wir nicht brauchen, sind Gesetzent-
Rechtsunsicherheit bezüglich des Umfangs der Rüge- würfe wie die der Grünen, die den Wirtschaftsstandort
pflicht. Deutschland und damit Arbeitsplätze gefährden.
Die Koalitionsfraktionen haben daher bereits gehan- Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mit-
delt und einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den wirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die He-
Weg gebracht. Dieser befindet sich derzeit noch in der rausforderungen beispielsweise der Energiewende wol-
Ressortabstimmung und wird voraussichtlich im Früh- len wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen,
jahr nächsten Jahres in den Bundestag eingebracht wer- sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemög-
den. lichkeiten haben sich als ausreichend und angemessen
Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen gibt als erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGH hinausge-
Grund für den Änderungsbedarf auch eine solche An- hende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist nicht er-
passungsnotwendigkeit an die europarechtlichen Vorga- forderlich und führte außerdem zu einer Blockade zahl-
ben an. In Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung ent- reicher dringend notwendiger Projekte.
fällt daher in § 2 Abs. 1 und Abs. 5 die Beschränkung auf Dabei geht es nicht nur um Vorhaben wie Automobil-
die Schutznormlehre, indem die Worte „Rechte Einzel- fabriken, Stahlwerke oder Kohlekraftwerke, sondern
ner begründen“ gestrichen werden. auch um den dringend notwendigen Ausbau der Strom- (D)
(B)
Im Weiteren und in seinen Forderungen geht der Ge- netze und Speicherkraftwerke. Wenn man wie die Grü-
setzentwurf jedoch deutlich über die mit dem EuGH-Ur- nen mit Nachdruck den Ausstieg aus der Atomkraft und
teil vorgegebenen Anpassungsnotwendigkeiten hinaus. die Energiewende gefordert hat, dann muss man jetzt
Diese weitergehenden Forderungen halten wir für unbe- auch ehrlich zu den Bürgern und konsequent im Han-
gründet und lehnen den Gesetzentwurf der Fraktion der deln sein.
Grünen daher ab. Ein Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz, das, wie von den
Denn als liberale Partei wollen wir in Deutschland Grünen gefordert, die Klagemöglichkeiten noch weiter
Vorhaben verwirklichen und nicht ausbremsen. Schon ausdehnt, blockiert den dringend notwendigen Netzaus-
jetzt dauern Genehmigungsverfahren in Deutschland zu bau und damit die Energiewende und den Wirtschafts-
lange. Durch die in dem Gesetzentwurf der Grünen ge- standort Deutschland. Man kann nicht auf der einen
forderten Änderungen würden die Klagemöglichkeiten Seite sagen, wir wollen keine Atomkraftwerke, und auf
deutlich ausgeweitet. der anderen Seite den Ausbau der Trassen, den wir für
den Anschluss und die Leitung des Stroms aus erneuer-
Gestrichen wird – über das Urteil des EuGH hinaus- baren Energien brauchen, blockieren.
gehend –, dass die dem Umweltschutz dienenden Vor-
schriften „für die Entscheidung von Bedeutung sein Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demo-
können“. Dieser Vorschlag geht deutlich über den Um- kratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen
setzungsbedarf, der sich aus der EuGH-Entscheidung Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben
ergibt, hinaus. wie den Netzausbau und den Bau von Speicherkraftwer-
ken auf der anderen Seite zu gewährleisten. Das beste-
Ebenso ohne Veranlassung durch das EuGH-Urteil hende Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz leistet hierzu einen
wird der bisherige § 4 „Fehler bei der Anwendung von wichtigen Beitrag und ist im Folgenden an die europa-
Verfahrensvorschriften“ geändert, indem der Begriff rechtlichen Vorgaben anzupassen. Der Gesetzentwurf
„wesentliche Verfahrensvorschriften“ in Satz 1 einge- der Grünen wird diesen Anforderungen jedoch nicht ge-
fügt wird und in Satz 2 erläutert wird, welches diese recht.
„wesentlichen Verfahrensvorschriften“ sind. Die dort
genannten Ziffern 1 und 2 sind jedoch mit der geltenden Sabine Stüber (DIE LINKE):
Fassung identisch.
Ich weiß nicht, was Ihnen zuerst einfällt, wenn Sie
Außerdem fordert der Gesetzentwurf, ebenfalls über beispielsweise an Gorleben, an Stuttgart 21 oder an den
die europarechtlichen Forderungen hinaus, neben den Großflughafen Berlin-Schönefeld denken? Die Reihe
Dorothea Steiner
(A) gesetzes auch im deutschen Umweltrecht hohe Stan- Auswärtiger Ausschuss (C)
dards zu setzen. Wir Grüne vermissten schon damals, Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung
dass den Verbänden adäquate Beteiligungsrechte einge- Ausschuss für die Angelegenheiten der
räumt werden. Wir Grüne haben auch schon damals das Europäischen Union
Gleiche gefordert wie heute; der Europäische Gerichts-
hof hat uns recht gegeben. Sie hätten sich viel Ärger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
ersparen können, wenn Sie auf uns gehört und eine Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
umfassende Umsetzung des EU-Rechtes im Sinne der ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit vorangetrieben
hätten. Erika Steinbach (CDU/CSU):
Der Einsatz für Menschenrechte ist weltweit erforder-
Sie wollten sich damals nicht von uns überzeugen las-
lich und muss mit konsequenter Beständigkeit betrieben
sen, was uns nicht überrascht. Aber wären Sie doch der
werden. Die Einhaltung der Menschenrechte ist ethi-
Empfehlung des Sachverständigenrats für Umweltfra-
sches Fundament für die demokratische, wirtschaftliche
gen, des offiziellen Regierungsberatungsgremiums,
und kulturelle Entwicklung eines jeden Landes. Das in-
gefolgt! Der schrieb damals an den Umweltausschuss:
tensive Bemühen für die Anerkennung und Wahrung der
Der SRU hält den vorliegenden Gesetzentwurf in einem
Menschenrechte ist ein Teil der wertegeleiteten Außen-
entscheidenden Punkt für sachlich unbefriedigend und
politik der CDU/CSU. Die drei Staaten des Südkauka-
europarechtlich fragwürdig, nämlich hinsichtlich der
sus, denen wir uns in dieser Debatte zuwenden, sind
Beschränkung der Verbandsklage darauf, die Verletzung
selbstverständlich in diese grundlegenden Aussagen
individueller Rechte geltend machen zu können.
einbezogen.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs bestätigte
nun fünf Jahre später diese Einschätzung des Sachver- Die Bundesregierung thematisiert die Menschen-
ständigenrates für Umweltfragen vollkommen. Das war rechtslage in bilateralen Gesprächen mit allen drei Süd-
mal wieder ein Beweis für die unschätzbare Kompetenz kaukasusstaaten regelmäßig und erinnert an internatio-
des SRU. Dass einige Kolleginnen und Kollegen Pro- nale Verpflichtungen. Flankiert werden diese Bemüh-
bleme haben, den guten fachlichen Rat des SRU anzu- ungen durch die Unterstützung im Rahmen der Entwick-
nehmen, haben insbesondere die Koalitionsfraktionen in lungszusammenarbeit im Schwerpunktprogramm „De-
den letzten Tagen wieder in peinlichster Art und Weise mokratie, Kommunalentwicklung und Rechtsstaat“
bewiesen. durch die Rechts- und Justizberatung in den drei Süd-
kaukasusstaaten.
Aber vergessen wir die Fehler der Vergangenheit!
Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgen- (D)
(B) Lassen Sie uns gemeinsam endlich eine europa- und völ-
kerrechtlich konforme Anpassung des deutschen den staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren haben
Umweltrechts vornehmen! Genau dem dient unser Armenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungen
Gesetzentwurf. Wir hoffen, dass Sie sich einen Ruck durchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und
geben und diesen Entwurf konstruktiv mit uns in den wirtschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren.
Ausschüssen beraten, damit wir möglichst schnell zu Kriege und Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen
einer Verabschiedung des Gesetzes kommen. Spätestens zählten dazu. Im Mai 2009 gründeten die 27 Mitglied-
im Mai 2012, zum ersten Jahrestag des „Trianel“- staaten der Europäischen Union mit sechs Ländern Ost-
Urteils, sollte eine entsprechende Gesetzesänderung in europas und des Südkaukasus die „Östliche Partner-
Kraft getreten sein. Das sind wir den Bürgerinnen und schaft“ im Rahmen der Europäischen Nachbarschafts-
Bürgern, die sich für die Rechte der Umwelt engagiert politik. Unter ihnen sind Armenien, Aserbaidschan, und
einsetzen, schuldig. Georgien.
Mit dem Projekt der Östlichen Partnerschaft wird das
Vizepräsident Eduard Oswald: Hauptziel verfolgt, die EU und die Partnerländer unter
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- dem Dach der europäischen Nachbarschaftspolitik poli-
wurfs auf Drucksache 17/7888 an die in der Tagesord- tisch und wirtschaftlich einander anzunähern. Beziehun-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es gen sollen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissen-
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die schaft und Kultur intensiviert werden. Es geht auch
Überweisung so beschlossen. darum, Kontakte zwischen den Menschen in der EU und
den Partnerländern zu fördern. Das ist für die Länder,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: denen keine Beitrittsperspektive in die EU eröffnet wird,
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin ein wichtiges Projekt. Denn hier entsteht durch Aus-
Werner, Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, wei- tausch eine Annäherung an europäische Werte. Dabei
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE spielen die Menschenrechte eine wesentliche Rolle. Der
Anstoß politischer Reformen in diesen Ländern, die
Menschenrechte und Demokratie in den Staa- dringend notwendig sind, rangiert weit vor wirtschaftli-
ten des Südkaukasus fördern cher Zusammenarbeit zum Beispiel im Bereich der Ener-
– Drucksache 17/7645 – giewirtschaft. Die EU ist der wichtigste Handelspartner
Überweisungsvorschlag:
für die drei Südkaukasusstaaten. Das steht dem Engage-
Ausschuss für Menschenrechte und ment der EU im Bereich der Menschenrechte in der Re-
Humanitäre Hilfe (f) gion nicht entgegen, sondern befördert es.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17935
Erika Steinbach
(A) Der Aktionsplan, der im Rahmen der Europäischen die Verantwortlichen teilweise noch zur Rechenschaft (C)
Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschan im Jahr 2006 gezogen werden müssen.
vereinbart wurde, enthält wichtige Reformforderungen
in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürgerrechte Dabei sind die weitere Entwicklung der Demokratie
und demokratische Standards. Dringend notwendig sind in allen drei Ländern sowie die Förderung der Zivilge-
Reformen – das ist besonders hervorzuheben; denn trotz sellschaft mit ihren spezifischen Institutionen sowie die
der nunmehr zehnjährigen Mitgliedschaft der drei Süd- Einhaltung der Menschenrechte die Richtschnur unserer
kaukasusstaaten im Europarat und den damit verbunde- Kooperation.
nen menschenrechtlichen Verpflichtungen, bestehen
große Defizite bei der Umsetzung der Menschenrechte. Ich begrüße, dass Sie sich mit Ihrem Antrag für die in-
So ist Angaben von Menschenrechtsgruppen zufolge von haftierten kritischen Journalisten, die Kriegsdienstver-
einer Vielzahl politischer Gefangener in Aserbaidschan weigerer und für Menschenrechtsverteidiger und -vertei-
auszugehen. Der Sonderberichterstatter des Europara- digerinnen einsetzen. Und ich stimme Ihnen zu, wenn Sie
tes für politische Gefangene, der Abgeordnete Christoph mit Ihrem Antrag fordern, dass den WSK-Rechten der
Strässer, erhielt bislang kein Einreisevisum, um prüfen gleiche Stellenwert eingeräumt wird wie den bürgerli-
zu können, inwieweit die Standards der Europäischen chen und den politischen Rechten. Menschenrechte, das
Menschenrechtskonvention eingehalten werden. Inter- wird immer wieder deutlich, können nur in ihrer Ge-
nationale Organisationen und Oppositionelle werfen samtheit verwirklicht werden. Sie sind immer unteilbar
der Regierung Aserbaidschans Einschränkungen bür- und aufeinander bezogen.
gerlicher Grundrechte vor. Presse- und Meinungsfrei- Diese Interdependenz hat die SPD in allen ihren An-
heit sind ebenso wie Versammlungsfreiheit stark einge- trägen, sei es zu Wasser- und Sanitärversorgung, sei es
schränkt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und zu den WSK-Rechten, sei es zu den Guiding Principles
die Freiheit der Medien sind auch in Armenien stark ein- oder den OECD-Leitsätzen, immer wieder beschrieben.
geschränkt. Kritische Journalisten werden in ihrer Ar- Es ist daher selbstverständlich, dass die wirtschaftli-
beit behindert. Eine fehlende Unabhängigkeit der Justiz chen, kulturellen und sozialen Menschenrechte genauso
ist auch für Armenien zu beanstanden. gefördert werden müssen wie die bürgerlichen und die
In Georgien sind die Demokratieversprechen noch politischen.
nicht eingelöst. Deutschland stellte in den vergangenen
Konkret auf die Länder des Südkaukasus bezogen be-
sieben Jahren Mittel in Höhe von rund 3 Millionen Euro
deutet das, dass Armut und Korruption genauso be-
für den Aufbau einer rechtsstaatlichen und unabhängi-
kämpft werden müssen, wie Meinungs- und Pressefrei-
gen Justiz zur Verfügung. Die Chancen Georgiens, auf
heit garantiert sein muss, dass freier Zugang zu Bildung
(B) dem Weg der Reformen im Bereich der Menschenrechte (D)
und beruflicher Entwicklung Männern wie Frauen glei-
voranzukommen, erhöhen sich wesentlich durch die eu-
chermaßen offenstehen muss, ebenso wie gesellschaftli-
ropäische Politik der „Östlichen Partnerschaft“ und die
che Partizipation. Und damit eng verbunden: Es muss
im Sommer 2010 aufgenommenen Verhandlungen über
ein Diskriminierungsverbot und ein Verbot für Kinder-
ein Assoziierungsabkommen. Die Menschenrechte und
arbeit ohne Einschränkungen gelten. Gesundheitsfür-
die Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern
sorge und soziale Absicherung sind auszubauen, damit
Deutschland und die Europäische Union bereits vielfäl-
die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
tig. Den vorliegenden Antrag lehnen wir ab, da er in be-
gestützt wird.
kannter Tradition der Verfasser ein unrealistisches Bild
zeichnet und unterstellt, dass dem nicht so sei. Aber die Entscheidungshoheit über den Weg dorthin
sollte dem jeweiligen Land obliegen. Marktwirtschaftli-
Ullrich Meßmer (SPD): che Prinzipien und die Durchsetzung von Menschen-
Die Europäische Union bezieht die Länder des Süd- rechten müssen dabei kein Widerspruch sein. Soziale
kaukasus – Armenien, Georgien und Aserbaidschan – Marktwirtschaft mit funktionierenden Arbeitnehmer-
seit 2004 in ihre Nachbarschaftspolitik ein. Bei allen rechten und starken Gewerkschaften kann im Gegenteil
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen sogar helfen, die Durchsetzung von Menschenrechten zu
Europas gilt es vor allem, die Lage der Menschen in die- befördern. Eine funktionierende Wirtschaft wird bei ver-
ser Region in den Fokus zu nehmen. Die Forderung nünftigen Löhnen und umfassender Beschäftigung ein
nach einer Förderung von Menschenrechten und Demo- Land zu Wohlstand zu führen. Staatseinnahmen – wenn
kratie in den Staaten des Südkaukasus ist daher aus- sie zum Wohle der Bevölkerung eingesetzt werden – stei-
drücklich zu begrüßen. gern in der Regel auch die Lebensqualität. Von guter
Ausbildung und Gesundheitsvorsorge wiederum profi-
Alle drei Staaten haben – jeweils spezifisch – nach ih- tiert erneut auch die Wirtschaft. Hier bedingen sich der
rer Unabhängigkeit eine Reihe innenpolitischer, wirt- Erfolg der Wirtschaft und erfolgreiche gesellschaftliche
schaftlicher und sozialer Entwicklungen und Konflikte Entwicklung gegenseitig.
durchlaufen, ja sogar Kriege erlebt. Eine vollständige
Stabilität ist noch nicht erreicht, und wir tun gut daran, Diese Gegenseitigkeit darf nicht zulasten der Arbeit-
diese Länder im Rahmen der Nachbarschaftspolitik wei- nehmer und der Familien gehen, aber wirtschaftliche
ter auf ihrem Weg zu begleiten, auch weil die Folgen der Prosperität widerspricht eben auch nicht per se einer in
Kriege, in erster Linie die Menschenrechtsverletzungen menschenrechtlicher und demokratischer Hinsicht guten
durch Flucht und Vertreibung, noch aufgearbeitet und Entwicklung. Demokratie und Menschenrechte sind
Ullrich Meßmer
(A) eben auch untrennbar mit dem Begriff der Freiheit ver- gezielt diskreditiert. So hat das staatliche Fernsehen (C)
bunden. mehrfach Facebook-Nutzer als geisteskrank dargestellt.
Wir lehnen es ab, Festlegungen auf eine bestimmte Neben diesen besorgniserregenden Entwicklungen
Form der Gesellschaft oder Wirtschaft zu betreiben. Un- muss ich hier noch einen mehr als unschönen Sachver-
ser Maßstab ist die Einhaltung der wirtschaftlichen, so- halt ansprechen, der die Parlamentarische Versamm-
zialen und kulturellen Rechte in den Unternehmen und lung des Europarates betrifft. Aserbaidschan ist 2001
Staaten. dem Europarat beigetreten. Mit diesem Schritt ist der
Beitritt zur europäischen Menschenrechtskonvention
Lassen Sie uns vielmehr die Länder des Südkaukasus verbunden – dazu hat sich Aserbaidschan selbst ver-
begleiten und die Gesellschaften der jeweiligen Länder pflichtet. Es ist mir daher mehr als unverständlich,
auf ihrem spezifischen, eigenen Weg zu Demokratie und wieso Aserbaidschan den von der Parlamentarischen
Menschenrechten unterstützen. Unser Fokus muss dabei Versammlung beauftragten Sonderberichterstatter für
auf den Menschen und der Zivilgesellschaft liegen; ihre politische Gefangene, Christoph Strässer, der seit März
Interessen und ihre Rechte gilt es im Rahmen der Nach- 2009 benannt ist, trotz mehrmaliger Aufforderungen
barschaftsbeziehungen zu befördern – oder falls not- kein Visum erteilt hat. Die Vorenthaltung eines Visums
wendig: einzufordern. für den Berichterstatter Christoph Strässer ist nicht
akzeptabel. Doch damit nicht genug. Aserbaidschan ver-
Marina Schuster (FDP): sucht sogar noch, Herrn Strässer persönlich zu diskredi-
Am 26. Mai 2012 findet in Baku das Finale des Euro- tieren. Dieses Vorgehen kann und will ich nicht hinneh-
vision Song Contest statt. Das ist ein Anlass, bei dem men und akzeptieren. Und das sage ich auch ganz klar:
sich Besucher, Reporter und die Öffentlichkeit sicher tie- Egal wer der Berichterstatter für welches Mandat auch
fer mit dem Land auseinandersetzen werden. Die parla- immer wäre oder ist, von welchem Land oder welcher
mentarische Versammlung des Europarates, bei der ich Fraktion, es gehört zu den elementaren Grundregeln des
mit großem Herzblut dabei bin, hat in der Junisitzung ei- Europarates, den benannten Berichterstattern Zugang
nen wichtigen Bericht von meinem sehr geschätzten Kol- zu ermöglichen. Es geht darum, sich vor Ort ein eigenes
legen Dick Marty angenommen. Er hat dabei den Be- Bild für den Europarat und uns alle machen zu können,
richt, Dok. 12634, vorgestellt mit dem Titel „The inwieweit die Standards der Europäischen Menschen-
progress of the Assembly’s monitoring procedure“ und rechtskonvention eingehalten werden. Deswegen war es
dabei eine Reihe von Staaten untersucht, nämlich zehn richtig, dass der Ausschuss für Menschenrechte und hu-
Staaten, die dem Monitoring unterliegen und vier, die manitäre Hilfe des Deutschen Bundestags am 9. Novem-
ber 2011 eine gemeinsame Erklärung, Ausschussdruck-
(B) dem sogenannten Postmonitoring unterliegen. sache 17(17)116, verabschiedet hat. Dies war ein (D)
Dabei stellt sein Memorandum unter Punkt 22 fest, deutliches und wichtiges Signal an Baku. Aserbaidschan
dass bei den Wahlen in Aserbaidschan im November muss sich vorbehaltlos an seinen Verpflichtungen im Eu-
2010 eine Reihe von Unzulänglichkeiten aufgetreten ist, roparat messen lassen. Dass sich die Fraktion Die Linke
nicht nur am Wahltag selbst. Die notwendigen Voraus- hierbei enthalten hat, ist absolut nicht nachvollziehbar.
setzungen für kompetitive Wahlen waren nicht gegeben. Wer sich wie die Linke dieser Forderung nicht
Es gab unter anderem keine ausbalancierte Medien- anschließt, disqualifiziert sich außen- und menschen-
berichterstattung und eine Reihe von Hürden bei der rechtspolitisch.
Registrierung von Parteien oder bei der Ermöglichung
eines freien Wahlkampfs. Überdies führt der Bericht aus, Aber nicht nur die Situation innerhalb Aserbaid-
dass es bei den fundamentalen Menschenrechten, insbe- schans bereitet mir Sorge. Die Stabilität der gesamten
sondere bei der freien Meinungsäußerung und der Ver- Region muss verbessert werden. Gerade der Konflikt um
sammlungsfreiheit „outstanding concerns“, also sehr das Gebiet Nagorny-Karabach und das damit verbun-
große Besorgnis, gibt. Dies wird auch von Amnesty dene angespannte Verhältnis zu Armenien haben
International bestätigt: Journalisten und zivilgesell- unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Region im
schaftliche Aktivisten werden Schikanen ausgesetzt. Südkaukasus. Alle Beteiligten sind unbedingt aufgefor-
Nicht nur die Versammlungsfreiheit wird von den aser- dert, an konstruktiven Lösungen zu arbeiten und diese
baidschanischen Behörden massiv eingeschränkt. auch vorbehaltlos anzugehen. Der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen verurteilte 1993 in mehreren Resolu-
Die konstante Zunahme von Repressionen gegenüber tionen die Besetzung der mit Bergkarabach benachbar-
Andersdenkenden – im Inland wie im Ausland – ist ten Regionen Aserbaidschans und forderte den Rückzug
besonders auffällig. Ausweislich des Berichts von Am- der Besetzungstruppen. Schon unmittelbar nach Aus-
nesty International „The Spring That Never Blossomed – bruch der Kämpfe bemühte sich die OSZE in der soge-
Freedoms suppressed in Azerbaijan“ wurde die Mei- nannten Minsk-Gruppe um Vermittlung. Im Rahmen der
nungsfreiheit seit 2009 noch weiter eingeschränkt. Wirt- Europäischen Nachbarschaftspolitik, insbesondere der
schaftlicher Wohlstand und relative Stabilität täuschen Östlichen Partnerschaft, werden sich Deutschland wie
nicht darüber hinweg, dass die Regierung in Baku die seine Partner in der Europäischen Union weiterhin für
Zügel weiter anzieht. Zunehmend richtet sich die Verfol- eine konstruktive und nachhaltige Lösung des Konflikts
gung auch gegen Meinungsäußerungen im Internet, so einsetzen. Hierbei müssen sich aber Armenien und Aser-
der Bericht von Amnesty. Blogger, die zu Protesten auf- baidschan ihrer übergeordneten Verantwortung für die
rufen, werden verhaftet und Internetnutzer insgesamt gesamte Region bewusst sein.
Katrin Werner (DIE LINKE): Selbstverständlich ist uns die politische Menschen-
Die Europäische Union verhandelt gegenwärtig mit rechtssituation in den Südkaukasusländern nicht egal.
den Staaten des Südkaukasus über den Abschluss von Es grenzt aber schon an Realitätsverweigerung, dass
Assoziierungsabkommen für umfassenden Freihandel. nahezu ausschließlich Aserbaidschan mit einer zum Teil
Die Linke interessiert sich dafür, wie sich die bisherige maßlos überzogenen Kritik an den Pranger gestellt
Nachbarschaftspolitik der EU auf die Menschenrechts- wird. Ich will dies am Bespiel der sogenannten politi-
situation in den Südkaukasusländern ausgewirkt hat. Es schen Gefangenen verdeutlichen. Dem Human Rights
muss geprüft werden, ob die Politik der Bundesregie- Centre in Tbilisi zufolge gibt es in Georgien 50 bis
rung und der EU überhaupt der Förderung von Demo- 60 Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert
kratie zugutekommt oder ob damit vor allem eigene Inte- sind. In Armenien sitzen laut Amnesty International der-
ressen verfolgt werden. zeit allein 73 Wehrpflichtige, die den Kriegsdienst aus
Gewissensgründen ablehnen, unter erschwerten Bedin-
Die EU-Nachbarschaftspolitik im Südkaukasus trägt gungen in Haft. In Aserbaidschan sind derzeit zwischen
in erheblichem Maß dazu bei, dass die Entwicklung von 8 und 17 Oppositionelle inhaftiert. Diese Größenunter-
Katrin Werner
(A) schiede sind schon beachtlich. Dennoch sagt die Linke: Selbstbestimmungsrecht lässt sich auch im Rahmen ei- (C)
Jede und jeder Oppositionelle in Haft ist eine bzw. einer ner innerstaatlichen Autonomie verwirklichen. Ebenso
zu viel. Alle haben ein Recht auf faire Gerichtsverfahren können Gebietsaustausche im gegenseitigen Einverneh-
und müssen gegebenenfalls freigelassen werden. men durchgeführt werden. Dies bedeutet konkret, dass
Armenien die Besetzung von Staatsgebieten Aserbai-
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist in allen drei dschans beenden muss. Die Flüchtlinge und Binnenver-
Ländern nicht frei von politischer Bevormundung durch triebenen auf beiden Seiten haben ein Recht darauf, in
staatliche Stellen. Armenien hat in diesem Bereich in ihre früheren Wohnorte zurückzukehren.
den letzten Jahren aber Verbesserungen erzielt. Aus die-
sem Grund möchte ich mit Nachdruck an die armenische Die Linke fordert die Bundesregierung auf, in der
Regierung appellieren, auch das Einreiseverbot gegen Minsker Gruppe der OSZE aktiv mitzuarbeiten und sich
den bekannten Journalisten André Widmer aufzuheben, stärker für die friedliche Konfliktbeilegung zu engagie-
der kritisch über die Situation in den armenisch besetz- ren. Dies wäre für die Situation der Menschen und die
ten Gebieten in Aserbaidschan berichtet hat. Demokratieentwicklung in den Südkaukasusländern
weitaus wichtiger als neue Freihandelsabkommen, von
Bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
denen nur europäische Großkonzerne und die politi-
Rechten nimmt Aserbaidschan den Spitzenplatz ein. Bei
schen Eliten profitieren.
der Religionsfreiheit und den Rechten von Minderheiten
kann das Land auf eine lange historische Tradition der
gesellschaftlichen Toleranz zurückblicken, von der auch Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE
manche EU-Staaten lernen könnten. Zudem hat der GRÜNEN):
Staat mittels einer aktiven Umverteilungspolitik und Europa und besonders auch Deutschland widmen der
massiver staatlicher Infrastrukturinvestitionen die vor- Region Südkaukasus zu wenig Aufmerksamkeit. Der
mals hohe Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit Kaukasus wird im Allgemeinen nur als Transitstrecke
nachhaltig abgebaut. Die grundsätzliche Entwicklungs- für Pipelines wahrgenommen. Oder er gerät in die
richtung stimmt, auch wenn noch finanzielle Spielräume Schlagzeilen, wenn es richtig kracht, wie bei der kriege-
für die Steigerung der Masseneinkommen und für stär- rischen Auseinandersetzung zwischen Georgien und
keren sozialen Ausgleich bestehen. Die erzielten Erfolge Russland im August 2008. Deshalb freue ich mich, dass
sollten allerdings gewürdigt werden, dies gehört aus un- die Linken einen Antrag zu den Menschenrechten im
serer Sicht zu einer ehrlichen Menschenrechtsbilanz Südkaukasus vorgelegt haben. Auch wir Grünen be-
dazu. schäftigen uns intensiv mit den Staaten im Südkaukasus.
Ich selbst bereiste in den letzten beiden Jahren alle drei
In Georgien und Armenien ist die soziale Situation Länder und führte ausführliche Gespräche sowohl mit
(B) dagegen sehr angespannt und von dauerhafter Massen- offiziellen Vertreterinnen und Vertretern als auch mit (D)
armut geprägt. Den dahinterliegenden Zusammenhang Nichtregierungsorganisationen.
kennen wir auch aus dem eigenen Land: Durch unge-
hemmten Marktradikalismus werden Menschen ihrer so- Zunächst zur Außenpolitik. Bereits im Mai 2009 ha-
zialen Rechte beraubt und materiellen Existenznöten ben die Mitgliedstaaten der EU im Rahmen der Europäi-
ausgesetzt. Wenn der Staat hingegen wirtschaftlich in- schen Nachbarschaftspolitik, ENP, das an die regiona-
terveniert, können soziale Rechte gesichert oder vielfach len Bedingungen angepasste Programm der Östlichen
erst durchgesetzt werden. Partnerschaft, ÖP, aufgelegt. Das übergeordnete Ziel
dieser Partnerschaft lautet, durch die Förderung von
Die Entwicklung von Menschenrechten und Demo- Marktwirtschaft und Demokratie die östlichen Nachbar-
kratie erfordert ein stabiles gesellschaftliches Umfeld staaten der EU nachhaltig zu stabilisieren. Mithilfe der
und geeignete politische Rahmenbedingungen. Ein jetzt aufgelegten Neuausrichtung sollen mittels einer
großes Hindernis sind hierbei die territorialen und zwi- stärkeren Konditionalisierung von EU-Hilfen demokra-
schenstaatlichen Konflikte im Südkaukasus. Insbeson- tische Reformprozesse gestärkt werden. Bei Nichteinhal-
dere der Konflikt zwischen Armenien und Aserbai- tung von Menschenrechts- und Demokratiestandards
dschan um Berg-Karabach droht in jüngster Zeit wieder sollen EU-Finanzhilfen gekürzt werden und möglicher-
aufzuflammen. Verletzungen des Waffenstillstands an weise auch Sanktionen greifen. Das heißt umgekehrt,
der sogenannten Kontaktlinie sind eher die Regel als die dass die Umsetzung der Reformschritte durch die Part-
Ausnahme. Im Frühjahr 2011 wurde der erst neunjäh- nerländer durch eine zielgerichtete Erhöhung der EU-
rige Fariz Badalov von einem mutmaßlichen Scharf- Unterstützung belohnt wird.
schützen getötet, und vor wenigen Tagen verloren erneut
zwei junge Soldaten ihr Leben. „Die Menschen in den Partnerstaaten müssen direkt
vom politischen Wandel in ihrem Land profitieren“, so
Die Linke fordert einen absoluten Gewaltverzicht und antwortete die Bundesregierung in unserer Kleinen An-
die friedliche Lösung des Konflikts. Der Konflikt muss frage zur Neuausrichtung der Europäischen Nachbar-
auf Basis des Völkerrechts gemäß den Beschlüssen der schaftspolitik. Wir fordern daher die Stärkung der Zu-
UNO und den Vereinbarungen der Minsker Gruppe der sammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.
OSZE gelöst werden. Die Linke hat einseitige Sezessio-
nen stets abgelehnt und verteidigt die Prinzipien der ter- Ich beginne mit Georgien. Ich stimme den Kollegin-
ritorialen Integrität und staatlichen Souveränität. Zwi- nen und Kollegen der Linksfraktion in einem Punkt zu:
schen dem Selbstbestimmungsrecht und der territorialen Die Menschenrechtslage in Georgien hat sich in den
Integrität besteht kein zwangsläufiger Widerspruch. Das letzten Jahren leider verschlechtert. Wir bewerten die
Michael Frieser
(A) Die Behauptung, die Teilnehmerzahlen seien infolge im ländlichen Raum unterscheiden. Tatsächlich leben (C)
von Sparmaßnahmen gesunken, ist falsch. Die Zahl der mehr als 50 Prozent der Migranten bei uns im länd-
Teilnehmer ist zwar in der Tat leicht rückgängig. Das ist lichen Raum. Dort unterliegt die Durchführung von
aber auf gesunkene Neuzuwandererzahlen zurückzufüh- Integrationskursen besonderen Herausforderungen:
ren. Zudem ist die Zahl der bereits länger in Deutsch- Oftmals sind die Herkunftsländer so divers, dass nur
land lebenden Migranten mit eigenem Teilnahmeinte- schwer gemeinsame Gruppen zustande kommen. Auch
resse gesunken, da die Kurse bereits seit einigen Jahren ist der Einzugsbereich für die Kursteilnehmer größer,
laufen. Darüber hinaus wird das Angebot an Kursen was zu längeren Anfahrtswegen führt. Oft scheitert das
inzwischen bedarfsgerechter ausgebaut, erkennbar zum Zustandekommen eines Integrationskurses aber auch an
Beispiel an den Frauen- und Elternintegrationskursen. mangelnder Kooperation zwischen den Kursträgern,
Lassen Sie mich festhalten: Jeder Teilnahmeberechtigte etwa wenn die Mindestteilnehmerzahl nicht erreicht ist.
kann heute damit rechnen, innerhalb von circa vier Wo- Unter diesen Bedingungen müssen die Integrationskurse
chen nach Antragstellung seinen Kurs zu beginnen. aber von den Trägern auch noch wirtschaftlich angebo-
ten werden. Daran zeigt sich erneut, dass sich die For-
Lassen Sie mich nun auf die einzelnen vermeintlichen derung nach einer erheblich steigenden Mindestvergü-
Missstände, die im Antrag aufgeführt werden, eingehen: tung der Kursleiter nur mit enormem finanziellem
Bei den Integrationskursen der Bundesregierung wird Aufwand erfüllen ließe.
nicht gespart – und das trotz der angespannten Haus-
haltslage. Im Gegenteil: Die Mittel für die Kurse werden Allerdings wird auch in Zukunft ein bundesweites,
im kommenden Jahr sogar noch einmal erhöht, und flächendeckendes Angebot an Integrationskursen auf-
zwar um weitere 6 Millionen Euro auf insgesamt grund sinkender Nachfrage oder des demografischen
224 Millionen Euro. Wandels nicht im vollen Umfang aufrechtzuerhalten
Auch die Mindestvergütung der Lehrkräfte wird zu sein. Hier verspielt der vorliegende Antrag die Chance,
Unrecht angegriffen. Zwar lässt sich nach Aussage des auf andere Lehrmethoden, wie zum Beispiel den Einsatz
BAMF kein Zusammenhang zwischen der Entlohnung von E-Learning und digitale Medien, einzugehen.
und der Qualität der Kurse feststellen. Ich halte dennoch Was den Besuch von Teilzeit-Integrationskursen an-
eine angemessene Entlohnung der Kursleiter für wichtig geht, liegt der Antrag erneut falsch: Teilzeitkurse mit
und selbstverständlich. Hier ist aber die Bundesregie- mindestens 15 Wochenstunden können nämlich ohne
rung der falsche Ansprechpartner: Für die Bezahlung Einschränkungen durchgeführt werden. Lediglich bei
der Lehrkräfte sind allein die zugelassenen Kursträger einer Unterschreitung dieser Mindestwochenstunden-
verantwortlich. Derzeit gibt es über 1 400 Integrations- zahlen ist eine Genehmigung durch das Bundesamt
kursträger. Deshalb fällt die Bezahlung der Kursleiter erforderlich. Im Jahr 2011 wurden dennoch bisher über (D)
(B)
entsprechend unterschiedlich aus. Der überwiegende 150 solcher Kurse genehmigt, bei denen den Teilneh-
Teil der Kursträger wirtschaftet effizient und verantwor- mern aus persönlichen Gründen (zum Beispiel wegen
tungsvoll mit den Geldern, die zur Durchführung der entgegenstehender Arbeitsverhältnisse) die Teilnahme
Integrationskurse zur Verfügung stehen, und bezahlt an einem Kurs mit höherer Wochenstundenzahl nicht
seine Lehrkräfte adäquat. Kursträger, die ihren Lehr- möglich war.
kräften Dumpinglöhne von unter 18 Euro pro Unter-
richtsstunde bezahlen, erhalten vom BAMF nur noch Lassen Sie mich zuletzt noch auf die Kinderbetreuung
Zulassungen für ein Jahr. Dies waren im Jahr 2010 aber eingehen: Die integrationskursbegleitende Kinderbe-
nur 40 Träger. treuung ist derzeit zwar nur für Spätaussiedler aus-
drücklich geregelt. Da es aber der Regierung wie dem
Ein weiterer Kritikpunkt ist auch, dass die bisherigen BAMF ein besonderes wichtiges Anliegen ist, den
Erhöhungen des Budgets für Integrationskurse inner- Eltern, vor allem den Müttern, bei Bedarf durch eine
halb der Träger verbleiben und nicht weitergegeben Kinderbetreuung die Kursteilnahme zu ermöglichen, hat
werden. Hier musste das BAMF in der Tat in der Vergan- das Bundesamt ein entsprechendes Angebot mit Eltern-,
genheit leider wiederholt feststellen, dass Erhöhungen Frauen- und Alphabetisierungskursen eingerichtet. Seit
nicht von allen Kursträgern an ihre Lehrkräfte weiter- April 2010 finanziert das Bundesamt Betreuungsmaß-
gegeben worden sind. nahmen, soweit in einer Maßnahme mindestens drei
Unabhängig davon ist das Abhalten von Integrations- berechtigte Kinder, das heißt Kinder von Spätaussied-
kursen auch nicht als Hauptberuf bzw. einziger Job der lern oder von Teilnehmern an Eltern-, Frauen- und
Lehrkräfte angedacht gewesen. Dies zeigen auch die Alphabetisierungskursen vorhanden sind. Es ist vorge-
Daten zu den Kursleitern: Lediglich circa ein Drittel sehen, eine entsprechende Regelung in die Neufassung
sind in diesem Gebiet hauptberuflich tätig. Ein weiteres der Integrationskursverordnung explizit aufzunehmen.
Drittel sieht in dieser Tätigkeit einen Nebenverdienst; Aber eine über dieses Angebot hinausgehende Kinder-
für das letzte Drittel stellt diese Tätigkeit lediglich eine betreuung wird es in näherer Zukunft nicht geben, da
Übergangsbeschäftigung dar. Es erscheint somit nicht dies dem Beschluss des Haushaltsausschusses wider-
unbillig, die Kursleiter analog zu anderen Volkshoch- spräche und auch wegen der generellen Zuständigkeit
schul-Kursleitern zu betrachten, die ebenfalls nicht ein- der Länder und Kommunen nicht vorgesehen ist.
zig und allein von ihren Kurshonoraren leben.
Ich möchte ausdrücklich feststellen: Es ist falsch, wie
Hier spielt aber noch ein anderer Punkt mit hinein: die Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen,
Wir müssen zwischen Integrationskursen in Städten und hier von den Grünen allein auf die von der Bundesregie-
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass in 15 Euro pro Stunde zahlen, solange Mindest-Qualitäts- (C)
dem Antrag auch jegliche Kritik daran fehlt, dass anforderungen an den Unterricht erfüllt werden. In neo-
Sprachanforderungen im Aufenthaltsrecht zunehmend liberaler Manier wollen die Grünen – wie auch die Bun-
als Droh- und Sanktionsmittel eingesetzt werden – etwa desregierung – aus vermeintlich vergaberechtlichen
durch die seit dem 1. Juli 2011 geltende Neuregelung des Gründen keinem privatrechtlichen Kursträger eine kon-
§ 8 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz. Danach darf eine länger- krete Vergütung vorschreiben. Dabei sind nach § 20
fristige Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn Abs. 5 der Integrationskursverordnung Auflagen zur
zuvor ausreichende Sprachkenntnisse nachgewiesen Vergütung der Lehrkräfte ausdrücklich vorgesehen. Die
wurden. Die Grünen sind auch nicht grundsätzlich ge- Linke ist gegen diese grüne Dumpinglohnpolitik!
gen Zwangs- und Sanktionsmittel zur Durchsetzung des
Spracherwerbs. Verpflichtende Sprachkurse wurden Einig werden wir uns mit den Grünen wohl auch nicht
schließlich mit dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz über die neuen Kontrollen der Anwesenheit, die infolge
erst eingeführt, und die Grünen halten seitdem im Be- eines Beitrages des ARD-Magazins „Report Mainz“
reich der Integration an der populistischen Ideologie vom 25. Juli 2011 eingeführt wurden. Wir fordern deren
des angeblichen Förderns und Forderns fest. Dabei hat unbedingte Rücknahme. In dem Beitrag hat der Kollege
sich diese nur scheinbar ausgewogene Formel längst als Joseph Winkler von den Grünen sich für schärfere Kon-
Rechtfertigung einer vor allem repressiven Politik ent- trollen ausgesprochen. Doch das Problem ist nicht der
puppt. irrige Weg einer perfekten Kontrolle, sondern eher ein
neues Abrechnungssystem für die Integrationskurse, wie
Keine Spur von Selbstkritik ist auch bezogen auf die 15 Integrationskursträger zu Recht in einem offenen
unzureichenden Finanzmittel in Sicht, die seit der Ein- Brief an das BAMF Ende November kritisierten. Nach
führung der Integrationskurse unter anderem von der ihrer Ansicht droht einer Reihe von Kursträgern der bü-
Aktion Butterbrot und dem DaZ-Netzwerk kritisiert wur- rokratische Tod, da sie seit August verpflichtet sind, zu-
den. Diese wandten sich von Anfang an gemeinsam ge- sätzlich zu den üblichen Anwesenheitslisten neue Listen
gen die prekären Arbeitsbedingungen: Private Sprach- zu führen, auf denen die Teilnehmenden mit ihrer Unter-
kursträger steigern ihren Profit am leichtesten durch schrift bezeugen, dass sie pünktlich zum Unterricht ge-
eine Reduzierung der Honorare. Diese reichen dann für kommen sind und dass sie bis zum Ende geblieben sind.
ein menschenwürdiges und existenzsicherndes Einkom- Kommen sie mehr als 30 Minuten zu spät, so muss das
men häufig nicht aus. Viele Lehrkräfte im Integrations- vermerkt werden. Dies ist ein weiterer Baustein, Inte-
kursbereich sind auf ergänzende Sozialleistungen grationskurse zu einem Teil einer Integration per Zwang
angewiesen. Sie erhalten kein Urlaubs- und kein Kran- und mit Sanktionsandrohungen zu machen. Das Angebot
kengeld, fürs Alter müssten sie selbst vorsorgen, wofür sollte dagegen quantitativ und qualitativ so ausgestaltet
(B) aber das Geld fehlt. Notwendig wäre deshalb nach Auf- werden, dass infolge seiner Attraktivität eine Teilnahme (D)
fassung von Betroffenen, Gewerkschaften und Verbän- gesichert ist. Dass es den Grünen nicht um weit mehr als
den – aber auch der Linken – ein Mindesthonorar in Kontrolle, Überwachung und Sanktionen geht, ist wirk-
Höhe von 30 Euro pro Unterrichtseinheit, statt der der- lich traurig.
zeit gezahlten etwa 18 Euro.
Die Linke schlägt zur Verbesserung des Angebots und
Das von den Grünen angestrebte Stundenhonorar in damit der Steigerung der Attraktivität und der damit ver-
Höhe von 24 Euro ist viel zu gering. Selbst ein Honorar bundenen Teilnahme an den Kursen zumindest folgende
in Höhe von 30 Euro würde lediglich eine Bezahlung Punkte vor: Die Integrationskurse müssen so ausgestal-
hochqualifizierter Lehrkräfte mit Zusatzausbildung ver- tet werden, dass sie auf das Tempo und die Fähigkeiten
gleichbar der Eingangsentlohnung im Schulbereich er- der Teilnehmenden mehr Rücksicht nehmen. Dazu
möglichen. Die berechtigten Interessen der Lehrkräfte bedarf es auch einer besseren Eingangseinstufung und
an einer existenzsichernden und fairen Entlohnung ihrer Setzung eines individuellen Ziels, abhängig von den ent-
Arbeit dürfen auch nicht gegen das Ziel eines erweiter- sprechenden Eingangsvoraussetzungen. Eine unabding-
ten Zugangs zu Integrationskursen ausgespielt werden, bare Minimalforderung muss die Rücknahme der Kür-
wie es die Grünen in der Begründung tun. Es kann nicht zungen von 2010 sein, um wieder mehr Teilzeitangebote
sein, dass unter dem Vorwand eines vermeintlichen machen zu können. Insbesondere Erziehende und Er-
Sparzwanges ein Ausgleich zwischen berechtigten For- werbstätige, aber auch Lernschwache können diese be-
derungen der Dozentinnen und Dozenten im Integra- kanntermaßen besser wahrnehmen. Auch die Gewähr-
tionskursbereich und der Erweiterung des berechtigten leistung der Kinderbetreuung ist ein Muss. Genau dafür
Teilnehmendenkreises gesucht wird, der den Lehrkräften bedarf es aber einer Aufstockung des Etats für die Inte-
weiterhin Dumpinglöhne und Armut trotz arbeitsauf- grationskurse um mindestens 75 Millionen Euro. Doch
wändiger Lehrtätigkeit aufzwingt. Dass dies offenkundig diese finanzielle Forderung der Linken fand im Bundes-
für die Grünen ein geringeres Problem zu sein scheint, tag zuletzt leider keine Mehrheit; auch nicht bei den
wird an einer anderen Stelle deutlich. Denn sie fordern Grünen. Die Linke macht sich Gedanken über ein
nicht etwa ein Mindesthonorar, sondern lediglich, dass grundlegend anders gestaltetes Integrationskurssystem,
Sprachkursträgern, die weniger als 24 Euro pro Stunde das ohne Zwangsmaßnahmen und Drohungen auskommt
zahlen, keine langjährige Zulassung erteilt werden soll. und das natürlich auch den engagierten Lehrkräften si-
Dies entspricht der derzeit geltenden, völlig unzurei- chere, am besten sozialversicherungspflichtige Beschäf-
chenden Praxis. Dieses – und damit auch das grüne – tigungsverhältnisse anbieten muss. Denn Integration
Modell lässt es zu, dass Träger sogar Honorare unter gibt es nicht zum Nulltarif. Statt Banken und Konzernen
(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Menschen auf der Welt ernähren zu können. Außerdem (C)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss bedarf es züchterischer Fortschritte, um Pflanzen an
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- sich ändernde Umweltbedingungen, insbesondere an
che 17/8179, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die den Klimawandel, anzupassen.
Grünen auf Drucksache 17/7639 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Auch im Weinbau ist der Erhalt von Sorten ein wich-
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Ge- tiges Ziel. Auf der roten Liste des BLE sind neun Rebsor-
genprobe! – Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – ten als gefährdet aufgeführt. Beim Schutz gefährdeter
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange- Rebsorten ist zu beachten, dass die Weinproduktion
nommen. strengen gesetzlichen Regelungen unterworfen ist. Im
Unterschied zum Obst- und Gemüseanbau dürfen im
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Weinbau nur gesondert zugelassene Rebsorten gepflanzt
werden. Im Antrag der Fraktion Die Linke wird von der
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Bundesregierung gefordert, Erhaltungssorten zu defi-
Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann,
nieren und für eine bundesweite Anbaufreigabe zu sor-
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
gen. Dies ist insofern nicht umsetzbar, weil die Zulas-
der Fraktion DIE LINKE
sung von Rebsorten – und sei es als Erhaltungssorte – in
Rettung einheimischer Rebsorten durch Er- die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Länder legen
haltungsanbau fest, welche Rebsorten in ihren jeweiligen Anbaugebie-
ten zugelassen werden. Dies ist sinnvoll, weil die Länder
– Drucksache 17/7845 – bei der Zulassung am besten die Identität und die spezi-
Überweisungsvorschlag: fischen Gegebenheiten ihrer Anbaugebiete berücksichti-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft gen können. Aus meiner Sicht wäre es wünschenswert,
und Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und wenn die Länder Flexibilität schaffen, auch im Erwerbs-
Reaktorsicherheit anbau bedrohte Rebsorten kultivieren zu können. Dies
Ausschuss für Tourismus trägt zum Erhalt der Sorten bei und eröffnet dem einen
oder anderen Winzer die Möglichkeit, eine Marktnische
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
zu besetzen. Der Erhalt bedrohter Sorten sollte nicht al-
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
lein Aufgabe von Züchtern und Forschungsinstituten
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
sein.
Alois Gerig (CDU/CSU): Eine weitere Forderung im Antrag der Fraktion Die
(B) Die von der Fraktion Die Linke auf Drucksache Linke ist, die Erhaltungszucht weitgehend von Gebühren (D)
17/7845 unterbreiteten Vorschläge zur Rettung einhei- beim Bundessortenamt zu befreien. Dem steht entgegen,
mischer Rebsorten sind zwar gut gemeint, aber letztlich dass das Bundessortenamt gehalten ist, möglichst kos-
nicht praktikabel. Die CDU/CSU kann diesem Antrag tendeckend zu arbeiten – dies hat der Bundesrechnungs-
nicht zustimmen. hof bereits angemahnt.
Es ist nicht zu bestreiten, dass der Antrag ein wichti- Auch die Forderung, den Erhaltungsanbau über die
ges Thema aufgreift. Im Weinbau wie auch in anderen allgemeine Strukturförderung im Weinbau zu fördern, ist
Kulturen müssen wir uns um den Erhalt unserer Nutz- nicht nachvollziehbar. Im Rahmen der Gemeinschafts-
pflanzen kümmern. In der Landwirtschaft konzentriert aufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“, GAK, ist es
sich der Pflanzenbau häufig auf bestimmte Sorten – bei- schon jetzt möglich, Landwirte zu unterstützen, die
spielsweise auf besonders ertragreiche oder gut ver- durch den Anbau gefährdeter heimischer Nutzpflanzen
marktungsfähige Sorten. So kommt es, dass einige Sor- zum Erhalt genetischer Ressourcen beitragen. Grund-
ten in Vergessenheit geraten und vom Aussterben sätzlich kann auch der Anbau bedrohter Rebsorten ge-
bedroht sind. Das Bundesamt für Landwirtschaft und fördert werden. Nach der roten Liste des BLE sind die
Ernährung, BLE, führt eine rote Liste, in der über meisten als gefährdet angesehenen Rebsorten durch die
900 Sorten als gefährdet eingestuft werden. Das Julius- GAK förderfähig. Voraussetzung ist allerdings, dass dies
Kühn-Institut, JKI, schätzt, dass von den 300 Rebsorten, die zuständigen Länderbehörden befürworten.
die in der Vergangenheit im deutschsprachigen Raum
heimisch waren, heute noch 15 bis 20 klassifiziert sind. Die Erhaltung genetischer Ressourcen im Rahmen
der GAK-Förderung ist ein wichtiger Baustein der
Natürlich ist es wichtig, dass sich die pflanzliche Er- Agrobiodiversitätsstrategie der Bundesregierung. Ziel
zeugung in der Landwirtschaft an den Märkten ausrich- der Strategie ist, die genetischen Ressourcen unserer
tet. Dies bedeutet nicht, dass wir bedrohte Nutzpflanzen- Nutzpflanzen für die Landwirtschaft wirksam zu schüt-
sorten ihrem Schicksal überlassen sollten. Alle Sorten zen und nachhaltig nutzbar zu machen. Auch der Wein-
sind grundsätzlich schützenwert, weil sie ein Kulturgut bau profitiert von der Strategie: Rebengenetische Res-
darstellen und gleichzeitig auch Teil der biologischen sourcen werden systematisch erfasst und in der
Vielfalt sind. Darüber hinaus gilt es, genetische Res- Deutschen Genbank „Reben“ veröffentlicht. Diese Da-
sourcen zu bewahren, die für die Züchtung neuer Sorten tenbank, die beim Institut für Rebenzüchtung des JKI in
unerlässlich sind. Züchtungsfortschritte sind auch in Zu- Siebeldingen eingerichtet wurde, dokumentiert nicht nur
kunft notwendig, um die Leistungsfähigkeit der Land- die Sortenviefalt im Weinbau, sie liefert auch für die
wirtschaft zu steigern und die wachsende Anzahl von Züchtung neuer Rebsorten wertvolle Informationen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17947
Alois Gerig
(A) Aufbauend auf der Agrobiodiversitätsstrategie, wur- Diese Aufgabe ist schwierig und zeitaufwendig, und ihr (C)
den vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirt- steht selten ein wirtschaftlicher Nutzen gegenüber. Da-
schaft und Verbraucherschutz Fachprogramme entwi- her brauchen wir Instrumente, die Anbauhemmnisse ab-
ckelt, mit denen Maßnahmen zum dauerhaften Erhalt bauen und Mehraufwand ausgleichen, damit auf den Be-
unserer Nutzpflanzen koordiniert und maßgebliche Ak- trieben auch die alten Sorten erhalten werden. Dies ist
teure miteinander vernetzt werden. Die Erhaltung unse- richtig, doch auch sie gibt es schon. Ein Blick in die
rer Nutzpflanzen kann die Bundesregierung nicht allein Richtlinien der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur
leisten. Bei der lohnenswerten Aufgabe, unsere vielfälti- und Küstenschutz“, GAK, verrät, dass die Länder
gen genetischen Ressourcen an kommende Generatio- durchaus die Möglichkeit haben, den Erhaltungsanbau
nen weiterzugeben, sind Bund und Länder, Wissenschaft, im Rahmen ihrer Länderprogramme zu fördern und Ko-
Züchter und Landwirtschaft gleichermaßen gefordert. finanzierungsmittel zu beanspruchen. In der Praxis wird
diese Möglichkeit mit Ausnahme von Brandenburg je-
doch nicht in Anspruch genommen. Auch wenn ich dem
Gustav Herzog (SPD):
brandenburgischen Weinbau nicht zu nahetreten
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke möchte, eine Hauptrolle spielt er nicht in den deutschen
zur Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhaltungs- Weinlanden.
anbau mit der Drucksache 17/7845. Der Antrag widmet
sich zentral der Erhaltung unserer alten Rebsorten und Es gibt auch schon eine sogenannte rote Liste für ge-
damit der Basis unserer Weinbaukultur. Das ist zunächst fährdete Arten, auch dort stehen schon mehrere Rebsor-
einmal eine ganz gute und richtige Sache. Wein wurde ten und es können weitere ergänzt werden. Wir müssen
zwar schon von den Kelten angebaut und getrunken, also keine neuen Instrumente schaffen, sondern uns die
doch den eigentlichen Durchbruch für unsere ältesten Frage stellen: Warum werden bestehende nicht genutzt,
Anbaugebiete gab wohl der römische Kaiser Probus. Er und wie bauen wir die Hemmnisse ab? Das ist die
hat unter anderem der Region Mosel erlaubt, Reben zu Marschrichtung, die wir in den kommenden Ausschuss-
besitzen und Wein zu erzeugen, worauf ich als Rhein- beratungen einhalten sollten, denn ich bin sicher, es ist
land-Pfälzer besonders gerne hinweise. Das war im allen Fraktionen dieses Hauses daran gelegen, hier in
dritten Jahrhundert nach Christus, und seither ist eine der Sache weiterzukommen und etwas für die Zukunft
Menge geschehen, worauf unsere heutige Weinbaukul- des deutschen Weinbaus zu tun.
tur, unsere Kulturlandschaft und unsere Weine basieren.
Über 100 000 Hektar werden in Deutschland mit fast Dr. Erik Schweickert (FDP):
140 anerkannten Rebsorten bebaut. Das ist schon ein Wir haben hier einen Antrag vorliegen, dessen Titel
(B) reicher Fundus. Doch angesichts der weltweit geschätz- sicherlich ein ehrenwertes Ziel formuliert. Denn auch (D)
ten fast 10 000 Sorten und der Tatsache, dass über ich sehe es als ein wichtiges Anliegen an, historische
80 Prozent der deutschen Anbaufläche mit gerade mal Rebsorten zu erhalten. Die Frage ist nur, was dieser
zehn Sorten angebaut werden, wird schnell klar: Wir Antrag denn nun tatsächlich fordert. So sehr ich hinter
müssen etwas tun, um die Vielfalt unseres Kulturgutes zu diesem Ziel stehe, so sehr muss deutlich gemacht wer-
schützen. Wir müssen uns auch um die Sorten kümmern, den, dass dieser Antrag seinem Ziel nicht gerecht wird.
die unwirtschaftlich sind und deswegen kaum angebaut
werden. Zum Einen: Es wird eine Liste für einheimische
autochthone Rebsorten des deutschsprachigen Kultur-
Die größte Anzahl Rebsorten führt ein Nischendasein raums gefordert. Wir leben heute im Informationszeit-
in alten Weingärten, Klosteranlagen oder gar unent- alter, und da ist es richtig, dass wir keine Liste haben,
deckt in guten Händen von Weinliebhabern. Für den aber eine offizielle Datenbank haben, die Deutsche Gen-
kommerziellen Anbau spielen solche Sorten keinerlei bank Reben. Diese Datenbank verfolgt das Ziel, geneti-
Rolle und daher schwindet ihre Anzahl in zunehmendem sche Ressourcen von Reben langfristig zu sichern und
Tempo und mit ihr die Genreserve, die wir brauchen, um sie für verschiedene Zwecke wie Forschung, Züchtung
zukünftigen Züchtungsanforderungen möglicherweise und weinbauliche Zwecke nutzbar zu machen.
gerecht werden zu können. Alte Sorten müssen wir dau-
erhaft nutzbar erhalten, und dazu brauchen wir einen Bereits vor einem Jahr, am 9. Juli 2010, hat die dama-
Erhaltungsanbau und eine nationale Genbank. Das ist lige Staatssekretärin Julia Klöckner die Deutsche Gen-
zwar eine der Kernforderungen des Antrags und ist auch bank Reben freigeschaltet. Das dürfte eigentlich auch
richtig. Warum können wir diesen Antrag dennoch nicht den Kollegen der Fraktion Die Linke nicht verborgen
unterstützen? Wir haben seit 2010 eine Deutsche Gen- geblieben sein. Wenn man sich diese Gendatenbank
bank Rebe, die über 2 000 Einträge unter dem Suchbe- anschaut, die seitens des Julius-Kühn-Institut, JKI, pro-
griff „Vitis vinifera L.“ auflistet, fast 500 davon aus grammiert worden ist, umfasst diese bereits einen
Deutschland. Ein Netzwerk aus sieben rebenerhaltenden Bestand von 3 900 Rebsorten und Akzessionen. In einem
Einrichtungen kümmert sich darum, dass Reben und vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
Sorteneigenschaften nicht verloren gehen. und Verbraucherschutz, BMELV, geförderten Projekt
werden auch die rebengenetischen Ressourcen in alten
Unverzichtbar sind aber auch der Erhaltungsanbau Weinbergen erfasst und dokumentiert. Aus diesen Grün-
auf den Betrieben, der nicht nur die Genreserve erhält, den ist die Einführung einer Liste völlig obsolet. Zum
sondern auch die Anbaueigenschaften und Anpassungs- anderen wird mit dem Antrag der Eindruck erweckt,
fähigkeiten an sich ändernde Umweltbedingungen. dass es für Züchter bundesweit große Probleme gäbe,
Harald Ebner
(A) sind, begrüßen wir die im Antrag enthaltene Aufforde- zu schützen. Erst vor kurzem haben wir im Bundestag (C)
rung an die Bundesregierung, bei der EU-Kommission die Pflanzenschutz-Novelle beschlossen, um unter ande-
die Ergänzung der EU-Erhaltungsrichtlinie für alte rem zu gewährleisten, dass alles unternommen wird, da-
Rebsorten einzufordern. mit Pflanzenschutzmittel sicher und verantwortungsvoll
eingesetzt werden.
Wir dürfen bei der Rettung alter Sorten keine Zeit
mehr verlieren, sonst werden klingende Namen wie Tau- Zuweilen habe ich den Eindruck, dass das Gefahren-
berschwarz, Blaue Seidentraube und Putzscheere bald potenzial von Pflanzenschutzmitteln bewusst genutzt
nur noch in der historischen Erinnerung existieren. Von wird, um Ängste zu schüren und um die konventionelle
der Hälfte der alten Sorten, die im Rahmen des Erhe- Landwirtschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Ein
bungsprojektes gefunden wurde, existieren nur fünf oder Beispiel hierfür ist die aktuelle Diskussion um den
noch weniger Exemplare. Der Antrag „Rettung einhei- Pflanzenschutzwirkstoff Glyphosat. Seitens von Earth
mischer Rebsorten durch Erhaltungsanbau“ greift die- Open Source wird behauptet, das Herbizid Glyphosat sei
ses wichtige Problem auf und enthält viele wichtige An- frucht- und entwicklungsschädigend. Die NGO verweist
satzpunkte und Forderungen, die meine Fraktion im auf Studien, nach denen angeblich Fehlbildungen bei
Wesentlichen teilt. Wir werden daher zustimmen, obwohl Tierembryonen durch Glyphosat verursacht werden.
wir bei einzelnen Punkten Änderungsbedarf sehen. So Umweltverbände und Bündnis 90/Die Grünen nehmen
ist zum Beispiel die Grenze von fünf Hektar Anbaufläche die Vorwürfe offensichtlich dankbar auf, um die Zulas-
für die Klassifizierung als Erhaltungssorte viel zu hoch; sung des Wirkstoffs, der in wichtigen Pflanzenschutzmit-
0,1 bis 0,5 Hektar reichen vollkommen aus. teln enthalten ist, grundsätzlich infrage zu stellen.
Neben politischem Handeln können wir alle auch als Die CDU/CSU lehnt Schnellschüsse ab. Wir befür-
Privatmenschen direkt etwas für den Erhalt der biologi- worten, dass über die Zulassung und über die Anwen-
schen Vielfalt beim Wein tun. Es gibt einige Projekte und dungsbestimmungen von Pflanzenschutzmitteln auf soli-
Winzer, die sich der Rettung historischer Rebsorten wid- der wissenschaftlicher Grundlage entschieden wird.
men und unsere Unterstützung verdienen. Diese kann Das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, hat an der
auch darin bestehen, Wein aus alten Rebsorten gezielt Aussagekraft der von Earth Open Source angeführten
nachzufragen nach dem Motto „Erhalten durch Genie- Studien starke Zweifel: Die behaupteten Missbildungen
ßen“. an Kaninchen hätten sich bei qualitativ besseren Studien
nicht bestätigt, die angeführten Versuche an Frosch- und
Vizepräsident Eduard Oswald: Hühnerembryonen ließen keine definitiven Rückschlüsse
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf auf gesundheitliche Risiken für den Menschen zu. Das
BfR sieht keine überzeugenden Hinweise, dass Glypho-
(B) Drucksache 17/7845 an die in der Tagesordnung aufge- (D)
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- sat entwicklungstoxische Wirkungen aufweist.
verstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist Auch die Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis,
die Überweisung so beschlossen. dass der Wirkstoff Glyphosat keine für den Menschen
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: entwicklungsschädigenden Eigenschaften besitzt. Un-
terstützt wird diese Einschätzung von der EU, den zu-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald ständigen Behörden in den EU-Mitgliedstaaten und in
Ebner, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer den USA sowie der Weltgesundheitsorganisation. In der
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen führt die
DIE GRÜNEN Bundesregierung aus: „Weder aus den zahlreichen Tier-
versuchen mit dem Wirkstoff (es sind allein sechs Lang-
Vorsorgeprinzip anwenden – Zulassung des
zeitstudien mit Glyphosat an Ratten bekannt) noch aus
Pestizidwirkstoffs Glyphosat aussetzen und den Erfahrungen am Menschen auf Basis des jahrzehn-
Neubewertung vornehmen telangen Einsatzes glyphosathaltiger Herbizide oder
– Drucksache 17/7982 – aus epidemiologischen Studien ergeben sich Hinweise
Überweisungsvorschlag: auf genotoxische oder kanzerogene Risiken von Glypho-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft sat beim Menschen.“
und Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Aufgrund der eindeutigen Aussagen von anerkannt
Reaktorsicherheit kompetenten Stellen hat die CDU/CSU keine Bedenken,
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen- dass zugelassene Pflanzenschutzmittel mit dem Wirkstoff
arbeit und Entwicklung Glyphosat weiterhin in der Landwirtschaft im Rahmen
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die der Anwendungsbestimmungen eingesetzt werden. Die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- im Antrag der Grünen erhobene Forderung, die Zulas-
ginnen und Kollegen wurden beim Präsidium angege- sung von Glyphosat auszusetzen und eine Neubewertung
ben. des Wirkstoffs vorzunehmen, wird nicht unterstützt.
Die EU, die für die Zulassung von Pflanzen-
Alois Gerig (CDU/CSU): schutzwirkstoffen zuständig ist, wird unter Beteiligung
Pflanzenschutzmittel sind keine gewöhnlichen Ge- des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebens-
brauchsgüter: Bei Zulassung und Anwendung ist größte mittelsicherheit bis 2015 eine Neubewertung von Gly-
Sorgfalt geboten, um Menschen und Umwelt vor Risiken phosat vornehmen. Dabei wird der Wirkstoff einer um-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17951
Alois Gerig
(A) fassenden Prüfung unterzogen. Derzeit liegen aber keine Kulturpflanzen – der Acker wird damit „geräumt“. Gly- (C)
gesicherten Erkenntnisse vor, die eine Aussetzung der phosat wird aber auch noch kurz vor der Ernte genutzt.
Zulassung rechtfertigen würden. Nach dem Stand der
Die Abtötung aller Grünpflanzen ermöglicht eine
Wissenschaft ist vielmehr davon auszugehen, dass bei
schnellere Trocknung, erleichtert die Ernte oder be-
bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung
schleunigt die Reife. Auch lassen sich mit Glyphosat
von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln keine ne-
Flächen wie Autobahnrandstreifen und Wege freihalten
gativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesund-
oder aber Beete vor dem Anlegen neuer Kulturen ab-
heit von Mensch und Tier eintreten.
spritzen – daher finden sich zahlreiche Glyphosatpro-
Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sprechen dukte in Baumärkten und Gartencentern. Es wird
auch die Erfahrungen aus der Praxis dafür, Glyphosat zusammen mit gentechnisch veränderten Pflanzen ange-
nicht vom Markt zu nehmen. Die Anwendung von gly- wendet, die mit einer Resistenz gegen Glyphosat ausge-
phosathaltigen Pflanzenschutzmitteln hat sich zur Un- stattet sind – und dies macht den Löwenanteil unter den
krautbekämpfung im Pflanzenbau sehr bewährt. Ein angebauten GVO-Pflanzen aus. Durch die wachsenden
Verzicht auf Glyphosat würde zu einem vermehrten Ein- Anbauflächen von genveränderter Soja vor allem in den
satz anderer Pflanzenschutzmittel sowie zu einer intensi- USA sind die eingesetzten Mengen von Glyphosat stark
veren Bodenbearbeitung führen. Landwirte in Deutsch- gestiegen. Die Produkte werden nach Europa importiert,
land sind seit vielen Jahren mit glyphosathaltigen um sie hier an Tiere zu verfüttern, die uns wiederum mit
Pflanzenschutzmitteln vertraut und nutzen diese – wie Milch- und Fleischprodukten versorgen. Dabei ist nicht
andere Mittel im Übrigen auch – in verantwortungs- auszuschließen, dass insbesondere Zusatzstoffe wie
voller Weise. Mir liegen keine Hinweise vor, dass hier- POE-Tallowamine, die als Benetzungsmittel dienen,
zulande die Anwendung glyphosathaltiger Pflanzen- auch in tierische Produkte und damit in unsere Nah-
schutzmittel in der Landwirtschaft zu unerwünschten rungskette übergehen.
Nebenwirkungen führt. Im Gegenteil: Glyphosat macht Auch in Deutschland wird Roundup immer mehr im
eine ökologisch sinnvolle, nichtwendende Bodenbear- Getreide- und Obstanbau sowie in Hausgärten einge-
beitung häufig erst möglich! setzt. Jährlich werden hierzulande 4 000 Tonnen Gly-
phosat verspritzt. Zudem drohen auch bei uns Zulassun-
Mit Blick nach Nord- und Südamerika bestehen Be- gen für Glyphosat-resistente GVO-Pflanzen – und damit
fürchtungen, dass durch den Anbau von herbizidtoleran- weiter zunehmender Glyphosateinsatz. Vorsorgemaß-
ten Sojapflanzen glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel nahmen für Verbraucherinnen und Verbraucher gibt es
in großen Mengen ausgebracht werden und sich da- bisher nicht. Umweltschützer fordern inzwischen ein
durch überhöhte Glyphosatrückstände in importierten Screening von Futter- und Lebensmitteln auf Rückstände (D)
(B) Sojafuttermitteln ergeben könnten. Aus meiner Sicht ist
von Glyphosat sowie auf das Beimittel Tallowamin und
es sinnvoll, Futtermittelimporte verstärkten Kontrollen das Abbauprodukt AMPA.
zu unterziehen. Ich begrüße es, dass in dem von Bund
und Ländern festgelegten „Kontrollprogramm Futter- Zugrunde liegt diesem breiten Einsatz die Einschät-
mittel für die Jahre 2012 bis 2016“ Glyphosat als ein zung, dass Glyphosat gesundheitlich und ökologisch un-
vorrangig zu kontrollierender Wirkstoff benannt wird bedenklich sei. An dieser Einschätzung gibt es aber in-
und Importeure von Futtermitteln in Kontrollen einbezo- zwischen Zweifel. Neue Studien geben Hinweise auf
gen werden. In der Vergangenheit wurden bei importier- erbgutschädigende Wirkungen von Glyphosat. In Versu-
ten Futtermitteln keine Überschreitungen der Rück- chen sind Geburtsfehler, Missbildungen und Krebs-
standshöchstgehalte festgestellt. erkrankungen festgestellt worden. Zudem deutet vieles
auf einen Zusammenhang zwischen Glyphosateinsatz
Ich bin überzeugt, dass bei sachgerechter Anwendung und erhöhter Krankheitsanfälligkeit von Pflanzen und
von Glyphosat kein Anlass zur Sorge besteht. Insbeson- verminderter Nährstoffaufnahme und Bodenfruchtbar-
dere sehe ich keinen Grund, Verbraucher und Landwirte keit hin.
zu verunsichern. Stattdessen gilt es zu betonen: Über die
Dem Vorsorgeprinzip folgend, halten wir Sozialde-
Zulassung von Pflanzenschutzwirkstoffen wird weiterhin
mokratinnen und Sozialdemokraten eine Neubewertung
auf Grundlage strenger wissenschaftlicher Maßstäbe
von Glyphosat für dringend erforderlich. Die Zulassung
entschieden, damit der Verbraucher-, Tier- und Umwelt-
muss überprüft und allen Hinweisen auf Risiken für Ge-
schutz gewährleistet ist. Gute Wirkstoffe sind unver-
sundheit und Umwelt muss nachgegangen werden. Wir
zichtbar, denn nur so kann der Pflanzenschutz zu hohen
hoffen auf eine konstruktive Diskussion in den zuständi-
Erträgen und damit zu einer guten Versorgung mit be-
gen Ausschüssen, die der großen Verantwortung ent-
zahlbaren und gesunden Lebensmitteln beitragen. spricht, die der Gesetzgeber hier trägt. Aus unserer
Sicht kann am Ende der ernsthaften Auseinandersetzung
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): mit diesem Thema nur die gemeinsame Forderung nach
Die Einhaltung des Vorsorgeprinzips hat für uns So- einer Neubewertung stehen.
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten Priorität. Bei
Glyphosat handelt es sich um das weltweit am häufigs- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
ten eingesetzte Unkrautvernichtungsmittel. Es wird dort Dieser Antrag ist ein weiteres Beispiel für grüne
eingesetzt, wo keine Pflanze überleben soll, zum Beispiel Klientelpolitik, die sich naturwissenschaftlicher Fach-
zur Vorbereitung von Ackerflächen für die Aussaat von lichkeit verweigert und Vorurteile gegenüber moderner
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17957
Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die
entschuldigt bis Frage der Abgeordneten Caren Marks (SPD) (148. Sit-
Abgeordnete(r) einschließlich zung, Drucksache 17/8101, Frage 8):
Wann legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag
einen Gesetzentwurf zur Unterstützung der Maßnahmen für
Aigner, Ilse CDU/CSU 15.12.2011 eine künstliche Befruchtung vor, damit die im Haushalt 2012
vorgesehenen 7 Millionen Euro freigegeben werden, und wel-
Bätzing-Lichtenthäler, SPD 15.12.2011 che Personen sollen anspruchsberechtigt sein?
Sabine
Das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Dörflinger, Thomas CDU/CSU 15.12.2011 Frauen und Jugend prüft derzeit intensiv verschiedene
Modelle zur Ausgestaltung einer Förderrichtlinie, die
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 15.12.2011 eine bessere finanzielle Unterstützung ungewollt kinder-
Land), Axel E. loser Paare durch Bund und Länder beinhalten wird. Da-
bei orientieren wir uns am Anspruchskreis des § 27 a des
Freitag, Dagmar SPD 15.12.2011 Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Die Länder haben be-
reits jetzt die Möglichkeit, Regelungen zu treffen, die
Friedhoff, Paul K. FDP 15.12.2011 über die dort beschriebene Personengruppe hinausgehen.
Hempelmann, Rolf SPD 15.12.2011 Wichtig ist uns dabei, dass die bessere finanzielle Un-
terstützung in ein effektives Gesamtkonzept zum Thema
Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 15.12.2011 Kinderwunsch eingebettet wird.
DIE GRÜNEN – Dazu zählt eine bessere Aufklärung über Ursachen
und Folgen der ungewollten Kinderlosigkeit, und
Höferlin, Manuel FDP 15.12.2011
– dazu zählt die Frage der Verbesserung der psychoso-
Höger, Inge DIE LINKE 15.12.2011 zialen Beratung,
(B) Knoerig, Axel CDU/CSU 15.12.2011 – dazu zählt aber auch, dass wir die geltenden Adop- (D)
tionsregelungen überprüfen,
Kolbe, Manfred CDU/CSU 15.12.2011 – und uns verstärkt Maßnahmen zur besseren Verein-
barkeit von Familiengründung und Studium bzw. Fa-
Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 15.12.2011
miliengründung und Ausbildung zuwenden wollen.
Dr. Lauterbach, Karl SPD 15.12.2011 Unser Ziel ist es, das Thema ungewollte Kinderlosig-
keit zu enttabuisieren und betroffenen Paaren wirksame
Lay, Caren DIE LINKE 15.12.2011 Unterstützungsangebote an die Hand zu geben.
Lindner, Christian FDP 15.12.2011 Zudem kann die Unterstützung kinderloser Paare mit
dem Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen
Mücke, Jan FDP 15.12.2011 in der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV-Versor-
gungsstrukturgesetz, verbessert werden, das der Deutsche
Müller-Sönksen, FDP 15.12.2011 Bundestag am 1. Dezember 2011 beschlossen hat. Danach
Burkhardt kann die Krankenkasse in ihrer Satzung zusätzliche Leis-
tungen im Bereich der künstlichen Befruchtung vorsehen.
Nešković, Wolfgang DIE LINKE 15.12.2011
(A) Die Rente mit 67 allein wird den vielfältigen Anfor- Die Anhebung der Regelaltersgrenze ist deshalb nur (C)
derungen an eine sozialverträgliche Alterssicherung vertretbar, wenn durch fließende Übergänge in den Ruhe-
nicht gerecht, sondern bedeutet unter den jetzigen Be- stand die unterschiedlichen Erwerbsbiografien berück-
dingungen für viele eine Rentenkürzung durch die Hin- sichtigt und gleichzeitig flankierende Maßnahmen in den
tertür. Insofern teilen wir die in den Entschließungs- Bereichen des Arbeitsschutzes, der betrieblichen Ge-
anträgen ausgeführten Einschätzungen und sprechen uns sundheitsförderung sowie in den arbeits- und sozialversi-
gegen eine vorbehaltlose Umsetzung der Rente mit 67 ab cherungsrechtlichen Regelungen ergriffen werden, um
2012 aus. Darüber hinaus kommen wir aber zu anderen längere Beschäftigungen zu ermöglichen und damit Ar-
Schlussfolgerungen und Forderungen. Die ersatzlose mut im Alter zu vermeiden.
Rücknahme der Rente mit 67 ist für uns kein gangbarer Wir brauchen ein ganzes Bündel an Maßnahmen und
Weg, und die Koppelung der Einführung an die Beschäf- Reformen, um den Menschen und deren Erwerbsmög-
tigungsquote von Älteren reicht nicht aus. Deshalb wer- lichkeiten gerecht werden zu können. Wir wollen Mög-
den wir den beiden Entschließungsanträgen nicht zu- lichkeiten schaffen, dass diejenigen, die gute Arbeitsbe-
stimmen, uns aber enthalten. dingungen haben und gesund sind, auch länger arbeiten
Nach der jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung können. Den anderen müssen aber Wege offen stehen,
früher in Rente zu gehen. Die Arbeitsbelastung ist indi-
wird die durchschnittliche Lebenserwartung bis zum
viduell und auch entlang der verschiedenen Branchen
Jahr 2030 um weitere drei Jahre steigen. Die steigende
und Berufsgruppen sehr unterschiedlich. Deshalb muss
Lebenserwartung und die sinkende Geburtenrate werden
eine solidarische Rentenversicherung die individuelle
dazu führen, dass sich das Verhältnis der Alten zu den
Leistungsfähigkeit und gesundheitliche Belastbarkeit be-
Jungen in den nächsten Jahrzehnten stark erhöht. Das rücksichtigen.
stellt die Gesellschaft und die Rentenversicherung vor
große Herausforderungen. Es braucht daher Reformen, Das Erreichen einer abschlagsfreien Rente kann nicht
die dafür sorgen, dass unser Alterssicherungssystem unterschiedslos für alle ausgestaltet werden. Im Rahmen
auch unter den sich verändernden Bedingungen nachhal- eines Gesamtkonzepts kann die Einführung der Rente
tig funktioniert. Längeres Arbeiten muss die Verschie- mit 67 einen Baustein für einen Teil der Gesellschaft
denheit der Lebens- und Erwerbsbiografien berücksich- darstellen. Wir setzen uns aber auch dafür ein, dass die
tigen und ebenso die unterschiedlichen Belastungen in Regelaltersgrenze für die abschlagsfreie Erwerbsminde-
der Arbeitswelt. Eine Rentenreform muss sicherstellen, rungsrente wieder herabgesetzt wird. Aber auch wer
dass bei der Rente die Verschiedenheit der Lebens- und nicht als erwerbsgemindert anerkannt ist, soll als lang-
Erwerbsbiografien besser als bisher berücksichtigt wer- jährige Beitragszahlerin und langjähriger Beitragszahler
(B) den, denn es macht einen Unterschied, ob jemand lange vorzeitig in Rente gehen können. In Zukunft sollen Be- (D)
Zeit am Bau, in der Altenpflege oder Universitätslehre schäftigte nach 45 Versicherungsjahren unabhängig vom
tätig war und ob jemand mit 15 Jahren oder erst mit Alter eine Rente ohne Abschläge beziehen können. Wir
30 Jahren in das Berufsleben eingestiegen ist. wollen auch die Möglichkeiten der Teilrente insbesondere
für Geringverdienende verbessern und eine Garantierente
Dem Wandel der Erwerbsarbeit mit prekären und aty- einführen, die für langjährige Beitragszahlerinnen und
pischen Beschäftigungsverhältnissen muss ebenso Rech- Beitragszahler und bei unterbrochenen Erwerbsbiogra-
nung getragen werden, damit niemand im Alter ein fien eine Rente oberhalb der Grundsicherung sicher-
Leben in Armut fürchten muss. Eine Reform des Alters- stellt. Auch die Weiterentwicklung zu einer Bürgerversi-
sicherungssystems muss auch den speziellen Bedarfen cherung ist eine wichtige Stellgröße für die Finanzierung
von Frauen gerecht werden. Gleichzeitig muss darauf der Rentenversicherung in der Zukunft.
geachtet werden, dass keine Generation einseitig belastet
Darüber hinaus ist es notwendig, dass die Menschen
wird, nicht die heutigen und zukünftigen Beitragszahler
möglichst ausreichende eigene Ansprüche aufbauen. Ge-
und Beitragszahlerinnen, nicht die aktuellen und zukünf- rade atypische Beschäftigte, Frauen und Soloselbststän-
tigen Rentenbezieher und Rentenbezieherinnen. dige leiden nicht nur unter ihren unsicheren Jobs, son-
Die vorliegenden Daten weisen darauf hin, dass die dern auch unter ihrer lückenhaften Absicherung. Soziale
Anhebung der Regelaltersgrenze für einen nennenswer- Absicherung darf nicht mehr nur ein Privileg des „Nor-
ten Anteil von älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehme- malarbeitsverhältnisses“ sein. Der Niedriglohnsektor
rinnen bereits ab 2012 ein erhöhtes Risiko für Einkom- muss verringert werden, insbesondere durch die Einfüh-
rung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns.
menseinbußen und Altersrenten mit Rentenabschlägen
Prekäre und atypische Beschäftigungsverhältnisse sind
mit sich bringt. Dies wiegt umso schwerer, als dass we-
einzudämmen.
sentliche gesetzliche Regelungen, die einen Rentenein-
tritt ermöglichen, der dem individuellen Leistungsver- Vor allem gilt es, Arbeit, Arbeitsinhalte und Arbeits-
mögen und den jeweiligen Arbeitsmarktgegebenheiten zeiten alters- und alternsgerecht zu gestalten und insbe-
gerecht wird, von der damaligen großen Koalition nicht sondere psychische Belastungen und Stress am Arbeits-
geschaffen bzw. sogar verschlechtert wurden. Die Ein- platz beim Arbeitsschutz zu verankern, damit ältere
führung der Rente mit 67 ohne flankierende Reformen Beschäftigte die Chance erhalten, länger zu arbeiten. Be-
und Maßnahmen wird damit für Teile der Gesellschaft triebliche Gesundheitsförderung, ein langfristig angeleg-
zur Rentenkürzung. Die diesbezüglichen Sorgen und tes Personalmanagement und eine passgenaue Arbeits-
Ängste der Menschen sind berechtigt. platzgestaltung sind dafür wichtige Eckpunkte. Um die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17959
(A) Beschäftigten länger in den Arbeitsprozess einbinden zu terichtermodell kann die Abschaffung nicht auffangen. (C)
können, müssen die Unternehmen die Arbeit für ältere Die bereits jetzt nach § 278 ZPO vorgesehene Gütever-
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen der geänderten handlung erweist sich in den allermeisten Fällen als
Leistungsfähigkeit anpassen. Eine Gesellschaft, die die bloße Durchgangsstation zur streitigen Verhandlung. Sie
Herausforderung der Alterung bewältigen muss und die ist nicht im Ansatz mit einer Mediation zu vergleichen,
von der Bevölkerung eine längere Lebensarbeitszeit als in der der Richter gerade nicht als Streitentscheider, son-
in den letzten zwanzig Jahren erwartet, darf den erhöh- dern als Moderator tätig wird.
ten Verschleiß von Beschäftigten nicht weiterhin in Kauf
nehmen. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesländer einen Weg
finden, die heutige Entscheidung zugunsten der Bürge-
rinnen und Bürger zu korrigieren.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO Anlage 5
der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Jörg Zu Protokoll gegebene Reden
van Essen und Gudrun Kopp (alle FDP) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Beratung des Antrags: Folgen von Kassen-
zur Förderung der Mediation und anderer Ver- schließungen – Versicherte und Beschäftigte
fahren der außergerichtlichen Konfliktbeile- schützen, Wettbewerb stärken, Zusatzbeiträge
gung (Tagesordnungspunkt 5) abschaffen (Tagesordnungspunkt 10)
Mit der heutigen Verabschiedung des „Gesetzes zur
Förderung der Mediation und anderer Verfahren der au- Erwin Rüddel (CDU/CSU): Beim vorliegenden An-
ßergerichtlichen Konfliktbeilegung“ wird die gerichtli- trag der SPD-Fraktion haben wir es wieder einmal mit
che Mediation abgeschafft. Dies fördert nicht die Media- dem Versuch zu tun, unser Gesundheitswesen ohne Not
tion, sondern wird sie im Ergebnis schwächen. ins Gerede zu bringen und die Menschen im Land zu
verunsichern.
Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
weicht leider erheblich von dem im ersten Entwurf fest- Das ist ja leider auch das Markenzeichen der Erklä-
gehaltenen Ziel – dem Nebeneinander von außergericht- rungen und Interviews, mit denen der Kollege
licher und gerichtsinterner Mediation – ab. Aus unserer Lauterbach uns sozusagen im Wochenrhythmus beglückt
Sicht sind beide in gleichem Maße zur Streitbeilegung und damit die gesetzlich Krankenversicherten in Angst
(B) geeignet und notwendig. Dennoch wird nunmehr allein und Schrecken versetzt. Wie sieht die Wirklichkeit aus? (D)
die außergerichtliche, vornehmlich durch Anwälte erfol-
gende Mediation geregelt und die gerichtsinterne Media- Mit ihren Reformen hat die bürgerlich-liberale Koali-
tion abgeschafft. tion unser Gesundheitssystem dauerhaft auf ein solides
Fundament gestellt und für eine nachhaltige Finanzie-
Die gerichtsinterne Mediation ist in vielen Bundes- rung gesorgt. Wir haben ein zu erwartendes Defizit von
ländern seit vielen Jahren fester Bestandteil einer moder- bis zu 11 Milliarden Euro in einen Überschuss verwan-
nen und bürgernahen Justiz geworden. Sie führt auch ge- delt! Der Gesundheitsfonds verfügt heute über eine mil-
rade in umfangreichen und komplizierten Verfahren zu liardenschwere Reserve. Die Krankenkassen werden da-
raschen und nachhaltigen Lösungen. her in absehbarer Zukunft keinerlei Zusatzbeiträge von
ihren Versicherten verlangen müssen, und das gilt auch
Insbesondere die von einem Richtermediator geleitete
für Zeiten einer etwaigen konjunkturellen Eintrübung.
Mediation ist in den letzten Jahren ein Erfolgsmodell ge-
Mit dem GKV-Finanzierungsgesetz und dem Gesetz zur
wesen. Nachweislich wird von den Parteien die fachli-
Neuordnung des Arzneimittelmarktes haben wir er-
che Qualifikation, die Unabhängigkeit und vor allem
reicht, dass keine höheren Eigenleistungen und keine
Unparteilichkeit der Richter als Mediatoren besonders
Abstriche vom Leistungskatalog erforderlich wurden.
geschätzt. Gerichtsinterne und außergerichtliche Media-
Das unterscheidet gerade unsere Reformen von früheren
tion sind einander ergänzende Konfliktlösungsverfahren.
Reformen im Gesundheitswesen!
Dies wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nicht
nur von Richtern und Parteien selbst, sondern gerade Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetz-
auch von den in die Verfahren eingebundenen Rechtsan- lich verankert. Wir sorgen mit dem Infektionsschutz-
wälten bestätigt. Auch die Justizministerkonferenz hat gesetz für eine durchgreifende Verbesserung der Kran-
sich am 9. November 2011 ausdrücklich für eine gesetz- kenhaushygiene. Und wir haben soeben mit dem
liche Verankerung der gerichtlichen Mediation bei Bei- Versorgungsstrukturgesetz die Grundlagen für eine dau-
behalt der Methodenvielfalt ausgesprochen. erhaft gute, wohnortnahe und flächendeckende Versor-
Im Laufe der Jahre haben sich viele Richter – teils auf gung der Menschen mit medizinischen Leistungen ge-
eigene Kosten – fortgebildet, um im Sinne der Parteien schaffen. Aufgrund der soliden finanziellen Basis der
eine optimale Mediation anbieten zu können. GKV und der damit gegebenen Planungssicherheit für
alle Beteiligten haben wir überhaupt den Gestaltungs-
Mit dem jetzt zu beschließenden Gesetz wird diese spielraum für dieses Versorgungsgesetz gewonnen, das
Expertise nutzlos, da es eine gerichtsinterne Mediation endlich die Bedürfnisse der Patienten in den Mittelpunkt
nicht mehr geben wird. Das an ihrer Stelle normierte Gü- stellt und nicht nur Kostendämpfung.
17960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Mit unserem Versorgungsgesetz werden im Übrigen nem entsprechenden Gesetzentwurf würden dafür Geld- (C)
die Versicherten im Fall von Kasseninsolvenzen und bußen von bis zu 25 000 Euro für Mediziner vorgesehen,
Kassenschließungen gezielt geschützt. Hierzu gehören die Kassenpatienten zu lange auf einen Behandlungster-
die Wahrung des Versicherungsschutzes beim Wechsel min warten ließen. Auch ein Entzug der Zulassung von
der Versicherung, die Leistungsgewährung sowie – als bis zu zwei Jahren sei geplant. Quelle dieser Meldung:
Sanktion bei grober Pflichtverletzung – die Möglichkeit Kollege Lauterbach. Er wird dann weiter mit dem Vor-
der Amtsenthebung von Vorstandsmitgliedern. Damit schlag zitiert, den Kassen das Recht einzuräumen, durch
wird etwaigen künftigen Versuchen, ältere und kranke fingierte Testanrufe in den Praxen zu überprüfen, ob Pri-
Versicherte auf skandalöse Weise abzuwimmeln, konse- vatpatienten schneller an einen Termin kämen. Auf die-
quent ein Riegel vorgeschoben. sen Gesetzentwurf warten wir allerdings bis heute.
Deshalb wird es sich künftig jede Kasse dreimal über- Anfang September erklärte Kollege Lauterbach in der
legen, ob sie sich ihren eindeutigen gesetzlichen Ver- Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, es sei falsch, mit
pflichtungen entziehen will. Wer dagegen verstößt, wird Strafen gegen zu lange Wartezeiten für Kassenpatienten
zur Räson gebracht. Denn die gesetzlich Versicherten vorzugehen. Wörtlich: „Niemand wird dem jeweiligen
brauchen Vertrauen und haben einen Anspruch auf Si- Arzt nachweisen können, dass er tatsächlich noch einen
cherheit. Termin frei gehabt hätte.“ Das macht uns nun ratlos. Es
drängt sich nur eine Schlussfolgerung auf: Seriös ist das
Unsere erfolgreiche Gesundheitspolitik werden wir alles nicht. Und seriös ist leider auch das nicht, was die
im kommenden Jahr mit einem Patientenrechtegesetz SPD soeben auf ihrem Parteitag beschlossen hat. Die
abrunden, das die Patientinnen und Patienten weiter stär- wievielte Variante Ihrer sogenannten Bürgerversiche-
ken und sie in das Zentrum unseres Gesundheitswesens rung war das nun eigentlich? Welche Version folgt als
stellen wird, also auf den Platz, der ihnen zusteht. nächstes? Das Problem ist offenkundig: Ihre Rechnung
Zugleich werden wir die Patientenrechte übersichtlich geht nicht auf. Deshalb ist auch die bislang letzte Vari-
und verständlich zusammenfassen, und zwar so – das ante Ihres Konzepts nicht besser geworden als ihre Vor-
füge ich ausdrücklich hinzu –, dass das notwendige Ver- gängerinnen. Sie zielen unverändert auf die Vernichtung
trauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht zer- des bewährten dualen Versicherungssystems. Sie haben
stört wird. etwas gegen Wahlfreiheit und Selbstbestimmung im Ge-
sundheitswesen. Dabei wissen Sie ganz genau, dass
Die Menschen in Deutschland wissen, dass sie sich durch die Privatpatienten die Versorgung der Kassen-
auf ein Gesundheitswesen verlassen können, das zu patienten in hohem Maß quersubventioniert wird. Ohne
Recht als eines der besten der Welt gilt und das im diese Mittel könnten viele Praxen gar nicht existieren.
(B) Krankheitsfall allen Bürgerinnen und Bürgern unabhän- Ja, ich weiß, Sie zaubern die fehlenden Milliarden aus (D)
gig von Einkommen, Alter, Geschlecht, Herkunft oder dem Hut und versprechen den Ärzten einen warmen Re-
Vorerkrankung die medizinische Behandlung zusichert, gen durch eine neue Gebührenordnung. Und woher
die notwendig ist. kommt das Geld? Sie sagen, es komme vor allem vom
Arbeitgeberbeitrag auf die Lohnsumme. Das ist eine
Gestatten Sie mir jetzt einige Bemerkungen zu mei-
Maßnahme, die Arbeitsplätze vernichtet und die den Ab-
nen Vorrednern. Im Januar forderte Kollege Lauterbach
bau von Beschäftigung geradezu belohnt!
mit Blick auf den absehbaren Überschuss im Gesund-
heitsfonds eine sofortige Senkung der Kassenbeiträge. Diese neue Gesundheitssteuer wird auch nicht da-
Es sei ein „Skandal“ und eine Verschwendung von Bei- durch besser, dass ausgerechnet die Arbeitgeber zusätz-
tragsmitteln, dass die Kassen eingeladen würden, „nicht lich belastet werden, die besonders viele hochqualifi-
zu sparen“. Erfahrungsgemäß werde „das Geld im Nu zierte Mitarbeiter beschäftigen. Eine groteske Idee mit
verschwunden“ sein, wenn man jetzt nicht sofort die Blick auf den Hightechstandort Deutschland und die vie-
Beiträge senke. Seltsamerweise sagte er dann aber An- len klugen Köpfe, die wir in Zukunft benötigen. Fährt
fang September zum gleichen Thema im Südwestrund- der Zug einmal in die falsche Richtung, sind alle Statio-
funk, er halte es für falsch, die Beiträge zu senken. Man nen falsch. Mit den Modellen der Opposition werden wir
müsse stattdessen an die Zusatzbeiträge heran. Apropos die Probleme des demografischen Wandels und der Alte-
Zusatzbeiträge: Das Kölner Institut für Gesundheitsöko- rung der Gesellschaft ganz bestimmt nicht lösen. Sollen
nomie prophezeite Anfang März, bereits Ende dieses noch mehr Betriebe und Arbeitsplätze ins Ausland ge-
Jahres werde der Zusatzbeitrag im Schnitt bei 9 Euro, im hen?
kommenden Jahr bei 21 Euro pro Monat liegen. Für
2013 gehe man von 33 Euro aus. Aber Kollege Wir müssen weg von der reinen Umlagefinanzierung
Lauterbach hat das noch getoppt: „Zusatzbeitrag wird unseres Gesundheitswesens. Wir müssen eine weitere
auf bis zu 70 Euro steigen“, hieß es Mitte Mai in den Belastung des Faktors Arbeit mit der Folge des Abbaus
Medien. „Ich gehe davon aus, dass der Zusatzbeitrag in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung vermei-
den nächsten fünf Jahren auf 50 bis 70 Euro pro Monat den. Unsere Politik ist auch gerechter, als den Sozialaus-
steigen wird“, so wörtlich in einem Interview. Fakt ist: gleich fast ausschließlich auf dem Rücken der abhängig
Der Zusatzbeitrag liegt bei 0 Euro. Beschäftigten und ihrer Arbeitgeber stattfinden zu las-
sen. Denn die Zusatzbeiträge werden aus Steuermitteln
Bereits im Februar hat unter anderem die Süddeutsche sozial abgefedert, und das bedeutet: Durch die Steuer-
Zeitung berichtet, die SPD wolle Ärzte empfindlich be- finanzierung leistet jeder nach seiner Leistungsfähigkeit
strafen, die Privatpatienten bevorzugt behandelten. In ei- seinen Beitrag, auch mit zusätzlichen Einkünften aus
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17961
(A) Unternehmensgewinnen und Kapitalerträgen und auch Ein halbes Jahr und ein aufgeblasenes Gesetzge- (C)
mit Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungs- bungsverfahren später hat sich an den Ursachen der Pro-
grenze und mit den Einkünften von Privatversicherten. bleme nichts geändert. Zum 1. Januar 2012 wird die
Auf diese Weise werden wir die Kostensteigerungen der nächste Krankenkasse geschlossen. Gerüchte über wei-
Zukunft auffangen, wobei die Entkopplung von Arbeits- tere Wackelkandidaten machen wöchentlich die Runde.
kosten und steigenden Gesundheitskosten zugleich
Daran werden auch die im Versorgungsstrukturgesetz
Wachstum und Beschäftigung fördern wird.
geänderten Paragrafen zur Leistungsgewährung beim
Das ist unser Weg, um in Zukunft der demografischen Versicherungswechsel und einer Amtsenthebung von
Herausforderung und den steigenden Kosten in einer al- Vorstandsmitgliedern bei grober Pflichtverletzung nichts
ternden Gesellschaft zu begegnen. Sie sind fixiert auf ändern.
das Modell der Einheitsversicherung. In Großbritannien
Dabei liegen die Ursachen klar auf der Hand.
können Sie besichtigen, was medizinischer Sozialismus
im Gesundheitswesen angerichtet hat, nämlich schlechte Es gibt nach wie vor Anreize, Versicherte nach ihren
Leistungen für alle und bessere Leistungen nur für die, gesundheitlichen Risiken zu beurteilen und auszuwäh-
die aus eigener Tasche zahlen können. Das nenne ich len. Und der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen
Zweiklassenmedizin, und die wollen wir in Deutschland ist nicht auf Qualität und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet,
nicht. sondern auf die Vermeidung von Zusatzbeiträgen. Ihre
Kopfpauschale treibt die Kassen in einen ruinösen Preis-
Wir haben ein Gesundheitswesen, das im internatio- wettbewerb.
nalen Maßstab vorbildlich ist. Wir wollen es erhalten
und zukunftsfest machen – und wir werden alles daran Ja, der Gesundheitsfonds hat derzeit hohe Einnahmen
setzen, um zu verhindern, dass es durch eine lebens- zu verzeichnen. Was Sie aber immer vergessen, zu er-
fremde Ideologie ruiniert wird. wähnen, ist, wie viel von dem Geld der Versicherten und
Arbeitgeber, die mit ihren Beiträgen für diese hohen Ein-
Bärbel Bas (SPD): Uns allen sind die Schließung nahmen sorgen, tatsächlich bei den Krankenkassen an-
der City BKK und die Folgen für Versicherte und Be- kommt.
schäftigte noch gut in Erinnerung. In der Folge dieser Offenbar muss ich Ihnen wirklich erklären, dass sich
Schließung lieferten sich die gesetzlichen Krankenkas- die Zuweisungen an die Kassen nach dem Morbiditäts-
sen im Juni einen skandalösen Wettbewerb darum, wie geschehen und den durchschnittlichen Leistungsausga-
man Versicherte der City BKK von einem Eintritt in die ben richten. Das ganze heißt Morbiditätsorientierter Ri-
eigene Kasse abhalten kann. sikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA genannt.
(B) Dieser Umgang der Krankenversicherungen mit den (D)
Das bedeutet ganz konkret, dass zwar mehr Geld im
Versicherten der City BKK hat das Vertrauen in die Soli- Gesundheitsfonds ist, aber damit nicht automatisch die
darität innerhalb des Gesundheitssystems erschüttert, Zuweisungen an die Kassen steigen. Das Geld kommt
und deshalb konnten wir nicht einfach zur Tagesordnung nicht da an, wo es benötigt wird. Aber genau hier hätten
übergehen. Sie handeln können.
Aus diesem Grund hat die SPD-Fraktion den heute zu Sie hatten die Gelegenheit, den Verteilungsmechanis-
beratenden Antrag in den Bundestag eingebracht. Der mus – also den sogenannten Morbi-RSA – zu ändern.
Antrag mag zwar vom Juli 2011 sein, die Ursachen und Hier hätte eine Anweisung an das Bundesversicherungs-
Folgen der Kassenschließungen sind aus unserer Sicht amt ausgereicht.
aber noch lange nicht gelöst und vor allem aktuell, da
zum Jahreswechsel erneut eine Kassenschließung bevor- Jedes Jahr im Herbst wird dort die Verordnung über
steht. den RSA des Folgejahrs beschlossen. Vorschläge gab es
genug. Sie sahen aber wieder einmal keinen Handlungs-
Ziel einer verantwortungsvollen Politik aber muss es bedarf. Frei nach dem Motto: Augen zu und durch.
sein, weder Versicherte noch Beschäftigte mit den Fol-
gen der Kassenschließungen alleine zu lassen. Durch ihr Nichthandeln verschärfen Sie aber bei vie-
len Krankenkassen den finanziellen Druck.
Es sollte vielmehr Aufgabe dieser Regierung sein,
Versicherte und Beschäftigte vor Kassenschließungen zu Schlimmer noch, mit Ihrer Interpretation, es gebe kei-
bewahren. nerlei Handlungsbedarf, stehen Sie weitgehend alleine
da. So hat der von Ihnen einberufene Wissenschaftliche
Was aber machen die Bundesregierung und ihr Ge- Beirat bereits mehrfach die Praxis des Bundesversiche-
sundheitsminister? Sie machen genau das Gegenteil. Sie rungsamtes kritisiert, dass unvollständige Versicherten-
behandeln Symptome statt Ursachen und sind nicht in episoden etwa bei Neumitgliedern, Kassenwechslern
der Lage, Versicherte vor Kassenschließungen und -in- und Verstorbenen unterschiedlich behandelt werden.
solvenzen zu schützen. Hier sind Sie ausdrücklich zum Handeln aufgefordert
worden, aber Sie tun nichts!
Dabei hatte der Bundesgesundheitsminister in den
ersten Tagen seiner Amtszeit noch verkündet, die Regeln Ja, ich weiß, das ist etwas für gesundheitspolitische
und Vorgaben für Kassenschließungen zu überprüfen. Feinschmecker, aber hinter diesen scheinbar rein techni-
Sie versprachen den Versicherten Besserung und den schen Veränderungen stecken erhebliche finanzielle Ver-
klammen Kassen Abhilfe. teilungswirkungen, die sehr wohl mit der Zielgenauig-
17962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) keit der Zuweisungen für die Kassen zu tun haben. Sie zu ersetzen. Der Morbiditätsorientierte Risikostruktur- (C)
sollten sich deshalb der Tragweite ihres Nichtstuns be- ausgleich ist weiterzuentwickeln und zielgenauer auszu-
wusst sein. gestalten. Lücken im Versicherungsschutz oder im Leis-
tungsbezug sind zu schließen. Die arbeitsrechtliche
Über den Risikostrukturausgleich werden Milliarden
Gleichbehandlung der Beschäftigten ist zu gewährleis-
verteilt und auch umverteilt. Würden Sie es wirklich
ten.
ernst meinen, den klammen Kassen zu helfen und Verun-
sicherungen bei den Versicherten zu verhindern, dann Das Verhalten dieser Bundesregierung bei Kassen-
gäbe es durchaus Handlungsbedarf beim Morbi-RSA. schließungen passt nahtlos ins Gesamtbild ihrer Gesund-
heitspolitik. Dort, wo Sie entscheiden könnten, ducken
Sie handeln aber nicht, Herr Minister, und deshalb
Sie sich weg, wiegeln ab oder verschieben die Probleme
wird es zu weiteren Kassenschließungen kommen. Unter
auf das Jahr 2013, dem Jahr, in dem Ihr gesundheitspoli-
Ihrer Aufsicht, Herr Bahr, schließt das Bundesversiche-
tischer Blindflug endlich durch die Wählerinnen und
rungsamt am 1. Januar bereits die zweite Krankenkasse –
Wähler ein Ende finden wird.
und das, obwohl es den § 172 im SGB V gibt. Der ist
überschrieben mit „Vermeidung der Schließung oder In-
solvenz von Krankenkassen“. Hier werden die Auf- Heinz Lanfermann (FDP): Wir diskutieren heute
sichtsbehörden ausdrücklich dazu ermächtigt, zur Ver- über einen Antrag der SPD mit dem Datum 6. Juli 2011,
meidung der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der in den meisten Punkten völlig überholt ist. Was auf-
einer Kasse Vorschläge für eine Fusion zu machen und grund der Erfahrungen bei der Schließung der City-BKK
diese auch durchzusetzen. zu regeln war, stand zu diesem Zeitpunkt – 6. Juli –
bereits im Referentenentwurf des Versorgungsstruktur-
An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob das gesetzes und ist in der letzten Sitzungswoche hier als
Bundesversicherungsamt Fusionen der City BKK oder Gesetz verabschiedet worden.
der BKK für Heilberufe mit anderen Krankenkassen
wirklich ernsthaft in Betracht gezogen hat. Was den Risikostrukturausgleich angeht, kommen sie
auch zu spät. Wir haben uns an die Empfehlungen der
Hat das Bundesgesundheitsministerium gegenüber
sachverständigen Experten gehalten und werden jetzt
dem Bundesversicherungsamt überhaupt darauf hinge-
keine Änderungen vornehmen. Es gibt also keinen
wiesen, dass nicht nur der Grundsatz „Schließung vor
Grund, warum wir heute hier noch einmal darüber reden
Fusion“, sondern insbesondere „Fusion vor Schließung“
sollten. Viel interessanter und aktueller, liebe Kollegin-
steht?
nen und Kollegen von der SPD, ist doch Ihre sogenannte
Kassenschließungen scheinen in Ihren Augen das Bürgerversicherung, die Sie auf Ihrem Parteitag vor eini-
(B) kleinere Übel zu sein und Priorität zu haben. gen Tagen beschlossen haben. Zwar haben Sie, nachdem (D)
Sie uns fast zehn Jahre lang angekündigt haben, es müss-
Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die Ver- ten auch Zins- und Mieteinnahmen mit Beiträgen zur
sicherten oder die Beschäftigten der Krankenkassen das Krankenversicherung belegt werden, endlich von diesem
auch so sehen. ungerechten und bürokratischen Unsinn Abstand ge-
Werfen wir einmal einen Blick auf die Situation der nommen, aber nach wie vor gilt: Die Bürgerversiche-
Beschäftigten. Ihnen scheint auch hier nicht bewusst zu rung der SPD ist und bleibt ein Abzockemodell. Sie
sein, dass die konkreten Auswirkungen einer Schließung wollen die Beitragsbemessungsgrenze beim Arbeitge-
auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter je nach Be- berbeitrag aufheben. Ein solcher Lohnsummenbeitrag
schäftigungsgruppe sowie je nach Kassenart sehr unter- vernichtet Arbeitsplätze, und zwar die meisten beim
schiedlich sind. Rückgrat der deutschen Wirtschaft, nämlich den mittel-
ständischen Betrieben mit vielen Facharbeitern und
Die erste Kassenschließung der City BKK hat die Re- hochqualifiziertem Personal.
gelungslücken hier deutlich aufgezeigt. Für einen Teil
der Beschäftigten gibt es weder einen gesetzlichen oder Sie wollen das in Deutschland bewährte duale Kran-
tariflichen Kündigungsschutz noch Sonderkündigungs- kenversicherungssystem aufgeben. Sie führen einen
schutzrechte, zum Beispiel bei Schwangeren, oder gar Kreuzzug gegen 9 Millionen privat versicherte Bürger,
Sozialpläne, während es diese Regelungen für andere einen Kreuzzug vor allem gegen Selbstständige und Be-
Kassenarten jedoch gibt. amte. Sie wollen es diesen Menschen in Zukunft verbie-
ten, sich privat zu versichern, und wollen sie alle in ihre
Auch hier handeln Sie nicht. Sie übernehmen keine sogenannte Bürgerversicherung zwingen. Neuversiche-
Verantwortung für die Beschäftigen. Sie tun nichts, um rungen wären nur noch in dieser Einheitsversicherung
die unterschiedliche Behandlung der Angestellten bei möglich. Die Private Krankenversicherung soll faktisch
Kassenschließungen zu lösen. abgeschafft werden. Dadurch steigen die Versicherungs-
Für die Beschäftigten müssen bei Schließungen die prämien für Bestandskunden in den PKV-Tarifen. Für
gleichen Regeln gelten. Gesetzliche oder tarifliche Kün- viele Versicherte, gerade für Beamte des mittleren
digungsschutzregelungen dürfen nicht durch das SGB V Dienstes, wären solche Prämienerhöhungen untragbar.
außer Kraft gesetzt werden.
Geradezu wie ein Täuschungsmanöver wirkt dann
Deshalb sind die zentralen Forderungen unseres An- Ihre Forderung nach der Angleichung der Arzthonorare
trages auch heute noch aktuell. Die Zusatzbeiträge sind für Kassen- und Privatpatienten. Damit wollen Sie die
abzuschaffen und durch eine paritätische Finanzierung Ärzteschaft umschmeicheln, allerdings ohne genau zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17963
(A) definieren, wie Sie das denn genau regeln wollen. Nur Unser Ansatz ist ein anderer: Die Kassen sollen nicht (C)
Herr Lauterbach ist da in seiner Äußerung etwas offener pleitegehen können, sondern im Zweifel fusionieren,
und suggeriert eine Anhebung der GKV-Honorare auf denn die Linke sieht – in großer Übereinstimmung übri-
PKV-Niveau Sie wissen genau, dass das illusorisch ist. gens mit dem Bundesverfassungsgericht – in Kranken-
Die dafür benannten Mehrkosten von 3 Milliarden Euro kassen einen Teil des Sozialstaats. So war das auch jahr-
sind viel zu niedrig angesetzt. Tatsächlich wäre es ein zehntelang geregelt, und diese Regelung war gut. Wir
Vielfaches davon im zweistelligen Milliardenbereich. sind gegen den ruinösen Wettbewerb, den Ulla Schmidt
Das Ergebnis wären natürlich erhebliche Beitragserhö- und die Herren Rösler und Bahr den Kassen aufgezwun-
hungen für alle Versicherten. gen haben.
Die Bürgerversicherung ist eben unausgegoren und Dieser Wettbewerb dreht sich derzeit nur um eine
unterfinanziert. Zur Gegenfinanzierung Ihrer Ideen Frage: Wie kann eine Kasse um alles in der Welt Zusatz-
macht die SPD keine Angaben. Am Ende stehen Kosten- beiträge vermeiden? Die Kasse hat dazu nur eine Mög-
explosionen und damit letztlich erhebliche Einschrän- lichkeit: Sie streicht erst alle freiwilligen Leistungen zu-
kungen in der Gesundheitsversorgung aller Bürger. sammen und bewilligt dann möglichst wenig Anträge
der Versicherten.
Für die größte Verwirrung hat die SPD aber bei den
Apothekern gesorgt. Die Vertreter der Sozialdemokratie Und wenn das nicht klappt, wird dann die Kasse ge-
treten auf Apothekertagen freundlich auf und bekunden schlossen, und die Versicherten müssen sich eine neue
ihre Unterstützung für die inhabergeführte Apotheke. Kasse suchen; die Beschäftigten landen auf der Straße.
Wenige Wochen später beschließen sie auf ihrem Partei- Dieser Wettbewerb ist ein Leistungsvermeidungs-
tag das Gegenteil; indem sie sich für neue Strukturen auf wettbewerb. Er schadet den Patientinnen und Patienten.
den Vertriebswegen aussprechen. Das konnte jeder wirk- Er schadet übrigens auch den Beschäftigten bei den
lich nur als Plädoyer für die Zulassung von Apotheken- Krankenkassen. Denn hier werden ohne Not Arbeits-
ketten verstehen. Als sich das dann herumgesprochen plätze gefährdet, die zuvor sicher waren, Arbeitsplätze
hat, brach auf der Spielerbank der sozialdemokratischen von Menschen, die keinerlei Schuld an der Kassenpleite
Gesundheitsmannschaft das reine Chaos aus. Nun wollte und die erst recht keine Schuld an den marktradikalen
es keiner gewesen sind. Frau Reimann sagte gegenüber Gesetzen der Bundesregierung haben.
der Presse: „Wir sind gegen Apothekerketten“. Der be-
kennende Kettenfreund Lauterbach ließ über sein Büro Natürlich gibt es auch Misswirtschaft in den Kassen.
mitteilen, dass er damit nichts zu tun habe. Und die Kol- Das muss Folgen haben für die, die die Verantwortung
legin Volkmer hatte zwar wohl die Brisanz gesehen, dafür tragen. Aber genau das verhindert die Bundesre-
gierung an anderer Stelle. So listet der Bundesrech-
(B) schaffte es aber aus Formgründen nicht, auf dem Partei- (D)
tag noch einen Änderungsantrag einzubringen. Alles in nungshof alljährlich Fälle von Verschwendung auf. Hier
allem war das ein trauriges Bild. Und so verwundert es geht es um überhöhte Mietverträge und Vorstandsgehäl-
denn auch nicht, dass die SPD-Fraktion es nicht ge- ter. Der Bundesrechnungshof fordert die Bundesregie-
schafft hat oder wohl auch gar nicht schaffen wollte, statt rung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der ihm er-
des überholten Antrags vom 6. Juli heute am 15. Dezem- möglicht, diese Verschwendungen zu unterbinden. Aber
ber einen aktuellen Antrag vorzulegen. genau das lehnt die Bundesregierung ab, wie sie mir in
einer Antwort auf eine schriftliche Frage bestätigte. Und
Harald Weinberg (DIE LINKE): Die SPD will, dass
das ist skandalös!
Krankenversicherte und Beschäftigte nicht unter Pleiten Auch die neuesten Vorschläge zur Praxisgebühr in
von Krankenkassen leiden sollen. Auch die Koalition Form eines Eintrittsgeldes in die Arztpraxis reihen sich
will das mit ihrem letzten Gesetz erreichen. Deswegen hier ein. Da wird überlegt, wie man mit der Praxisgebühr
fordern beide Regeln für den Fall, dass eine Kasse plei- eine sogenannte Steuerungswirkung erzielen kann. Eine
tegeht. So weit, so gut. blumige Umschreibung. Im Klartext bedeutet das: Die
kranken Versicherten sollen sich dreimal überlegen, ob
Nur, bis vor wenigen Jahren gab es dieses Problem
sie sich den Arztbesuch leisten können. Denn nur wenn
gar nicht. Die SPD hat gemeinsam mit der Union dieses
sie nicht zum Arzt gehen, weil die Praxisgebühr sie da-
Problem der Kasseninsolvenzen mit den Reformen von
ran hindert, obwohl sie gerne würden oder müssten,
2007 und 2010 erst geschaffen. Nur deshalb mussten
dann hat die Praxisgebühr eine Steuerungswirkung. Das
und müssen sich die Versicherten bei City BKK und
ist soziale Selektion! Das ist eine Ausgrenzung der ärms-
BKK für Heilberufe eine neue Krankenkasse suchen.
ten Versicherten, obwohl genug Geld da ist. Die Praxis-
Und es gab diese unschönen Szenen mit Schlangen vor
gebühr gehört ersatzlos gestrichen!
den Geschäftsstellen und abgewiesenen Versicherten.
Mit dem derzeitigen Überschuss von rund 6 Milliar-
Für die SPD – genau wie für die schwarz-gelbe Seite den Euro und den Finanzreserven von rund 16 Milliar-
hier im Haus – sind Krankenkassen in erster Linie nor- den Euro könnte man die Einnahmeausfälle ohne Pro-
male Unternehmen, die pleitegehen sollen, wenn die Bi- bleme über Jahre finanzieren.
lanzen nicht stimmen, egal ob die Ursache tatsächlich
schlechtes Management und Verschwendung ist oder ob Und wenn Sie, liebe Bundesregierung, dieses Geld
schlichtweg viele alte und kranke oder schwangere Ver- nicht anrühren und die Abschaffung der Praxisgebühr
sicherte in einer Kasse die Bilanz in die roten Zahlen gegenfinanzieren wollen, warum erhöhen Sie dann nicht
drücken. die Beitragsbemessungsgrenze? Das würde Einnahmen
17964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) bringen und wäre gerecht! Dann würden Gutverdiener, bau großer regionaler Gesundheitsverbünde fast immer (C)
wie zum Beispiel wir Parlamentarier, ein wenig mehr der Fall.
Solidarität leisten müssen. Das würde uns nicht wehtun,
aber der Lidl-Verkäuferin und dem Leiharbeiter die Pra- Wenn Kassen im Wettbewerb scheitern und deshalb
xisgebühr ersparen. geschlossen werden, ist das nicht per se ein Problem, vo-
rausgesetzt, ihre Versicherten erhalten problemlos Kran-
kenversicherungsschutz in einer anderen Kasse und die
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer Rechte der Beschäftigten werden beachtet, vorausgesetzt
Realsatire mag, dem sei ein nachträglicher Blick in das aber auch, dass das Schicksal einer Kasse nur von der Ge-
im letzten Jahr verabschiedete GKV-Finanzierungsge- sundheitseffizienz abhängig ist, die sie bietet – und nicht
setz empfohlen. In dem hieß es damals wörtlich: „Der vom Alter, Geschlecht oder Wohnort ihrer Versicherten.
einkommensunabhängige Zusatzbeitrag wirkt als trans- Für solch einen auf die Qualität und Wirtschaftlichkeit
parentes Preissignal. Er verleiht den gesetzlichen Kran- der Gesundheitsversorgung ausgerichteten Wettbewerb
kenkassen Spielräume, um gute Verträge zu gestalten braucht es unter anderem die Beitragssatzautonomie der
und regionalen Besonderheiten gerecht werden zu kön- Kassen, einen leistungsfähigen Risikostrukturausgleich
nen.“ Daran, dass diese Koalition ihre selbstgesteckten und die faire Beteiligung aller an der Finanzierung des
Ziele nicht erreicht, haben wir uns ja fast schon gewöhnt. Systems. Zur Schaffung einer solchen leistungsfähigen
Aber dass sie genau das Gegenteil von dem bewirkt, was und solidarischen Wettbewerbsordnung ist diese Bundes-
sie angeblich erreichen will, ist doch bemerkenswert. regierung offensichtlich weder bereit noch in der Lage.
Von mehr Transparenz durch den Zusatzbeitrag kann
keine Rede sein. Denn dieser sagt über die Qualität und
die Wirtschaftlichkeit einer Krankenkasse nichts aus. Ob Anlage 6
sie ihn erheben muss, ist vor allem von der Zufälligkeit
des Wohnorts ihrer Versicherten abhängig. Wenn diese Zu Protokoll gegebene Reden
mehrheitlich in überversorgten und damit besonders teu- zur Beratung: Beschlussempfehlung und Be-
ren Regionen leben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, richt zu dem Antrag: Bei der Vergabe von Ex-
dass die Kasse eine zusätzliche Kopfprämie verlangen portkreditgarantien auch menschenrechtliche
muss. Damit vergrault sie aber ausgerechnet ihre gesun- Aspekte prüfen (Tagesordnungspunkt 12)
den und mobilen Mitglieder. Dann setzt eine Abwärts-
spirale ein – und wohin die führt, haben wir in diesem
Jahr am Beispiel der Pleite der City BKK gesehen. Erich G. Fritz (CDU/CSU): Mit diesem Antrag set-
zen wir eine lange Debatte fort, in deren Folge das Prüf-
Solche Wettbewerbsverzerrungen ließen sich verhin- instrumentarium für Exportkreditgarantien immer aus- (D)
(B)
dern, wenn die Bundesregierung gewillt wäre, etwas ge- gefeilter und treffsicherer gemacht worden ist. Große
gen Überversorgung zu unternehmen. Doch das ist sie Debatten über aus unterschiedlichen Aspekten frag-
nicht. Stattdessen hat sie das Vorhaben, zur Steuerung des würdige Vorhaben, für deren Belieferung deutsche Ex-
ärztlichen Niederlassungsverhaltens Honorarzuschläge porteure Garantien beantragt haben, haben auch die Auf-
in unter- und Honorarabschläge in überversorgten Regio- merksamkeit von Bundestag und Öffentlichkeit
nen einzuführen, wieder gestrichen. Die gewaltigen Ver- geschärft. Über einzelne Maßnahmen sind sogar mehr-
sorgungsungleichgewichte in Deutschland werden von jährige Diskussionen geführt worden, sodass sich eine
ihr stillschweigend akzeptiert. Dazu passt auch, dass der hochentwickelte Form von Expertise bei Nichtregie-
Bundesgesundheitsminister das Expertengutachten, das rungsorganisationen entwickelt hat, die sowohl die Ge-
diesen Zusammenhang beleuchtet, erst nach Monaten schwindigkeit der öffentlichen Debatte wie auch den
und nach massivem öffentlichem Druck herausgerückt Rechtfertigungszwang auf die Garantiegewährer erhöht
hat. und damit die Transparenz verbessert hat.
Die Krankenkassen reagieren auf ihre Weise rational In Deutschland wird seit Jahren bei den vom Wert her
auf dieses Politikversagen. Sie sparen, um bloß keine nicht herausragenden Garantiewünschen ein Screening
Zusatzbeiträge nehmen zu müssen. So ist aus dem leb- angewendet, das sich außerordentlich bewährt hat und
haften Beitragswettbewerb zwischen den Kassen ein auch im Ablauf so gestaltet ist, dass es nicht zu einem
Wettbewerb um die Nichterhebung von Zusatzbeiträgen bürokratischen Monstrum geworden ist. Es war
geworden. Damit findet in der gesetzlichen Krankenver- Deutschland, das seit den 90er-Jahren daran gearbeitet
sicherung faktisch kein Preiswettbewerb mehr statt. hat, dass die Bedingungen für Exportkreditgarantien
Doch dabei bleibt es nicht. Denn mit der Eindämmung innerhalb der Gemeinschaft der Industrieländer OECD
des Preiswettbewerbs wird der Qualitätswettbewerb zwi- allmählich angeglichen wurden. Zunächst ging es um
schen den Kassen gleich mit abgeräumt. Da alle Kassen wettbewerbsfördernde statt wettbewerbsstörender Ge-
ihren Haushalt auf Kante nähen müssen, herrscht das bührensysteme – also um die Frage eines Level Playing
Spardiktat. Viele Verträge zur Integrierten Versorgung Field für deutsche Unternehmen im Vergleich zu Kon-
wurden gekündigt. kurrenten zum Beispiel in Frankreich und den USA.
Dann kamen immer mehr Ansprüche dazu, die sich aus
Vor allem aber fehlt es an den Anreizen, in solche den Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung
neuen Versorgungsformen zu investieren, die sich finan- und der besonderen Verantwortung der Industrieländer
ziell erst nach einer Anlaufphase rechnen. Das ist aber für eine zukunftsfähige Entwicklung der Welt, die Scho-
bei Investitionen in die Prävention oder auch beim Auf- nung von Ressourcen und die Wahrung menschlicher
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17965
(A) Würde ergab. So hat nicht nur die Bundesrepublik heute Bundesregierung Menschenrechten im Rahmen der Au- (C)
ein Instrumentarium, das im Interministeriellen Aus- ßenwirtschaftsförderung große Beachtung schenkt. Aber
schuss bei Entscheidungen ein Einvernehmen von niemand hat bisher die große Matrix erfunden, die allge-
BMWi, BMF, AA und BMZ erfordert, sodass die in dem meingültig, unzweifelhaft und unabhängig von nationa-
SPD-Antrag geforderten Aspekte regelmäßig im IMA len, europäischen und vielen anderen Gesichtspunkten
Entscheidungsgrundlage sind. ein Menschenrechtskriterium als Ausschlusskriterium
eingebaut hätte. Ich bin der Meinung, und ich nehme an
Im Jahre 2003 haben sich dann die Mitgliedstaaten genauso alle anderen Kollegen hier, dass die Vollstre-
der OECD erstmals auf Common Approaches geeinigt. ckung der Todesstrafe eine massive Menschenrechtsver-
Das war ein erster wichtiger Schritt. Schon 2007, das ist letzung ist, trotzdem habe ich auch von den Oppositions-
für eine solche internationale Organisation sehr bemer- parteien noch nicht den Antrag gesehen, generell die
kenswert, wurden sie bereits ein erstes Mal weiter entwi- wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Staaten einzustel-
ckelt, und seit 2009 werden sie bereits wieder neu über- len, in denen es noch die Todesstrafe gibt. Es muss also
arbeitet, und die Bundesregierung hat sich daran auch bei Ihnen noch weitere, offensichtlich relativie-
konstruktiv beteiligt und ist an einem Abschluss interes- rende Aspekte in der Abwägung geben. Dann sollte man
siert. Ich nehme an, dass die Kollegen der SPD-Fraktion, der Ehrlichkeit halber aber auch in Anträgen nicht so
die diesen Antrag eingebracht haben, mit den gleichen tun, als sei es anders machbar.
NGO-Vertretern gesprochen haben, die auch mir ihre
Vorstellungen vorgetragen haben. Dabei wurde auch der Menschenrechtliche Aspekte finden bereits heute bei
Vorwurf erhoben, dass die Bundesregierung sowohl bei der Übernahme von Exportkreditgarantien durch OECD-
den Verhandlungen wie auch in der damals beabsichtig- Staaten besondere Berücksichtigung. Ich finde es auch
ten Stellungnahme Anfang Dezember 2011 eine Weiter- einen gewaltigen Fortschritt, dass gerade die Diskussion
entwicklung blockieren wolle. Dem bin ich mit Freuden unter den OECD-Mitgliedstaaten dazu geführt hat, dass
nachgegangen und habe sowohl bei der OECD anläss- der Austausch und die Kooperation zwischen den Behör-
lich der Sitzung des Wirtschaftsausschusses der Parla- den und den Exportkreditversicherern sehr intensiv ge-
mentarischen Versammlung des Europarates in Paris wie worden ist. Die Bundesregierung setzt sich für eine ex-
bei Gesprächen mit Vertretern der Bundesregierung er- plizite Erwähnung von Menschenrechten sowohl in der
fahren, dass das Gegenteil der Fall ist. Zwar gibt es in Präambel als auch in den Zielen des Common Approach
den Verhandlungen wie immer auch Konfliktfelder, weil ein. Der aktuelle Textentwurf sieht unter anderem einen
naturgemäß die Interessen der Mitgliedstaaten unter- Bezug zu den ILO-Kernarbeitsnormen vor. Wer die De-
schiedlich sind. Das Ziel sind aber eine Verbesserung der batten der 80er- und 90er-Jahre noch in Erinnerung hat,
Standards und ein zügiger Abschluss der Verhandlungen. der kann nur erstaunt feststellen, wie weit die in
(B) Da können wir ganz optimistisch sein. Ich nehme an, Deutschland und in Europa geführten Debatten mittler- (D)
dass bei den zwischenzeitlich in Paris mehrfach stattge- weile den Rahmen ausgeweitet haben. Das sollten wir
fundenen Konsultationen der Nichtregierungsorganisa- alle gemeinsam begrüßen und die Bundesregierung da-
tionen sich auch bei deren Vertretern das Bild gewandelt bei unterstützen, auf diese Weise nachhaltige Wettbe-
hat. Ich erwarte nicht, dass nun plötzliches Lob für die werbsbedingungen weltweit durchzusetzen.
Bundesregierung in dieser Sache durch die NGOs und
die Opposition verbreitet wird, aber es könnte schon eine Ein typisches Beispiel dafür, wie intensiv die Kon-
kleine Anerkennung der Bemühungen der Regierung ge- trollfunktion solcher Regeln funktioniert, ist die Aus-
ben. einandersetzung um Lieferungen für den Ilisu-Stau-
damm in der Türkei, wo sowohl menschenrechtliche
Es ist natürlich eine übliche, der Fraktionsstrategie Aspekte, Fragen der Umsiedlung und Entschädigung,
geschuldete Unterstellung, bisher würde in deutschen des kulturellen Erbes und des Umgangs mit nationalen
Entscheidungen für Garantien Menschenrechte als Krite- Minderheiten eine große Rolle spielten. Die dann begon-
rium nicht einbezogen. Die Verfahren sind aber wie im nenen Verhandlungen haben die Standards für das Pro-
praktischen Leben immer davon geprägt, dass eine Viel- jekt immer weiter angehoben, auch wenn sie nicht zu un-
zahl unterschiedlicher Interessen, Werte und Gesichts- serer Zufriedenheit abgeschlossen werden konnten. Als
punkte berücksichtigt und abgewogen werden müssen. dann klar war, dass die erwarteten Standards nicht zu er-
Keine Bundesregierung wird vor diesem Dilemma gefeit reichen waren, haben sich die Kreditversicherer Öster-
sein. Wir sollten als Bundestag nicht so tun, als ob wir, reichs, der Schweiz und Deutschlands gemeinsam aus
sollten wir entscheiden müssen, nicht in der gleichen den Projekten zurückgezogen.
Lage wären. Die Regierung kann diese Abwägungen
viel rationaler treffen als es im Parlament in der öffentli- Wenn wir unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“
chen, Gesichtspunkten der Konkurrenz ausgesetzten De- heute auch von ILO-Normen und Menschenrechten ne-
batten getan werden könnte. Es ist deshalb nicht unsin- ben den Umweltaspekten und der wirtschaftlichen Be-
nig, auch hier genau die Trennungslinie zwischen deutung von Handelsgeschäften reden und eine Stan-
Legislative und Exekutive zu berücksichtigen und zu darddiskussion führen, so muss es immer eine sein, in
wahren und die Einzelentscheidungen über Hermesde- der der Bundestag durch Debatten und allgemeine Ge-
ckungen wie im Bundeshaushaltsgesetz vorgesehen der setze Ansprüche erhebt und dann die Bundesregierung
Regierung zuzuordnen. diese Gesetze durchführen und in Verwaltungshandeln um-
setzen muss. Dabei wird gewährleistet, dass bei einzel-
Nach meinen Erfahrungen kann ich Ihnen von insge- fallbezogenen Risikoprüfungen relevante Menschen-
samt sechs Bundeskabinetten sagen, dass die deutsche rechtsauswirkungen in Betracht gezogen werden.
17966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Durchgeführt wird die Risikoprüfung zunächst durch die ternationalen Regelungen der OECD für die Übernahme (C)
Nachhaltigkeitsabteilung des beauftragten Mandatarkon- von Exportkreditgarantien gebunden sind. Die Bundes-
sortiums Euler Hermes/PWC. Die konkrete Deckungs- regierung misst den Bemühungen zur Einbindung der
entscheidung wird im Interministeriellen Ausschuss, Nicht-OECD-Staaten in die Disziplin für die staatlich
IMA, im Einvernehmen von BMWi, BMF, AA und unterstützen Exportkredite größte Bedeutung bei.
BMZ getroffen. Im Rahmen der Überarbeitung der
OECD-Umweltleitlinien setzt sich die Bundesregierung Ich kann im Rahmen dieser Debatte nicht auf alle As-
für eine stärkere Bedeutung der Menschenrechte ein. Die pekte des SPD-Antrages eingehen, möchte nur, weil es
im Interministeriellen Ausschuss für Exportkreditgaran- ausdrücklich angesprochen ist, erwähnen, dass die Bun-
tien vertretenen Ressorts BMWi, BMZ, AA und BMF desregierung auch dem Gesichtspunkt der Abstimmung
haben eine ausgewogene deutsche Verhandlungsposition unterschiedlicher internationaler Regelwerke eine be-
zur Überarbeitung der Common Approaches entwickelt. sondere Aufmerksamkeit widmet. Es macht keinen Sinn,
Diese wird den menschenrechtspolitischen Zielen der an vielen Stellen Regeln zu entwickeln, immer mehr
Bundesregierung, den gestiegenen internationalen Ver- Konventionen und Vereinbarungen zu treffen, wenn sie
pflichtungen als auch den Informations- und Einfluss- nachher in der Praxis keine Wirkung entfalten, weil sie
möglichkeiten der Exporteure und Banken gerecht. nicht kompatibel sind oder sogar zu ständigen Zielkon-
flikten führen, klare Entscheidungen also eher behindern
Die Forderungen aus dem Antrag der SPD-Fraktion und erschweren als transparenter zu machen und zu er-
wurden hierbei bereits weitestgehend berücksichtigt. Die leichtern.
Fraktion müsste auch hier der Regierung eigentlich
Dank sagen. Deshalb hat die Bundesregierung bei den Verhandlun-
gen in der OECD natürlich darauf geachtet, dass der
Die Bundesregierung setzt sich für eine stärkere An- Textentwurf Bezug auf die Guiding Principles on Busi-
wendung der IFC-Performance-Standards ein. Die von ness and Human Rights des UN-Sonderbeauftragten für
den IFC-Performance-Standards umfassten Regelungen, Menschenrechte und transnationale Unternehmen
Arbeits- und Sozialbedingungen, setzen allerdings vo- nimmt, also die Ruggie-Position unterstützt.
raus, dass der Exporteur wesentlichen Einfluss auf das
Projekt im Ausland hat. Dies ist bei Projektfinanzierun- Sie sehen also, dass der Antrag mehr in die Abteilung
gen und vergleichbaren Transaktionen der Fall. Daher Oppositionskampf gehört als in die Klasse Weiterent-
soll in diesem Bereich eine Anwendung befürwortet wicklung guten Regierens in Deutschland und global.
werden, für das übliche hermesgedeckte Geschäft, bei Die Bundesregierung und die Koalitionsmehrheit im
denen der Einfluss der Exporteure begrenzt ist, das aber Bundestag muss zur Weiterentwicklung von Standards
(B) weder praktikabel noch sinnvoll ist. unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der deutschen (D)
Wirtschaft und der Arbeitsplätze nicht ermuntert wer-
Im Bereich der Hermesdeckungen gibt es bereits eine den. Wie achten allerdings auf gleiche Wettbewerbs-
sehr weitgehende Information an den Deutschen Bun- chancen und legen deshalb größten Wert darauf, dass,
destag, die den Ansprüchen auf Geschäftsgeheimnisse wie das der Generaldirektor der OECD, Angel Guerra,
gerecht wird und trotzdem jederzeit bei großen Projekten aktiv unterstützt, auch die neuen großen Wettbewerber
eine Nachfrage und die nötige Kontrolle möglich macht. Deutschlands auf den Weltmärkten nachvollziehen und
Der Haushaltsausschuss wird darüber regelmäßig unter- nicht auf Dauer Wertedumping die Preise bestimmt.
richtet, und somit kann jeder Kollege sich, wenn er es
denn will, ein Bild machen, die Fraktionen insgesamt Weil wir sicher sind, dass das Anliegen der SPD-
ohnehin. Fraktion bei der Bundesregierung in guten Händen ist,
können wir den Antrag der SPD-Fraktion wie vom fe-
Was nun die wirtschaftliche Handhabbarkeit von Re- derführenden Ausschuss vorgeschlagen ablehnen.
geln angeht, so sollte man folgende Punkte mindestens
mit bedenken: Ich gebe hier den von mir völlig geteilten
Standpunkt der Bundesregierung wieder. Es ist zu be- Christoph Strässer (SPD): Unser derzeitiger
rücksichtigen, dass bei der Übernahme von Export- Außenminister hat es vor längerer Zeit angesprochen, es
kreditgarantien Vertragspartner der Bundesrepublik steht im 9. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung,
Deutschland deutsche Exporteure bzw. die das Export- und man kann es in dem Strategiepapier „Menschen-
geschäft finanzierenden Kreditinstitute sind und nicht rechte in der deutschen Entwicklungspolitik“ des BMZ
das ausländische Unternehmen. Die Informations- und nachlesen. Der Einsatz für Menschenrechte ist – ich
Einflussmöglichkeiten des Exporteurs auf das Projekt zitiere Herrn Dr. Westerwelle – „eine wichtige Quer-
und den ausländischen Besteller sind häufig – etwa auf- schnittsaufgabe, die sich durch alle Politikfelder zieht“.
grund eines oft kleinen Lieferanteils am Gesamtprojekt – Es gebe, so seine weiteren Ausführungen, heute keine
nur sehr gering. Bei Exportgeschäften beliefern Expor- menschenrechtsfreien Politikbereiche mehr. Und in dem
teure einen ausländischen Besteller mit einem Export- Strategiepapier des BMZ heißt es dazu konkret: „Men-
gut, sind aber nachfolgend nicht in den Betrieb des Be- schenrechte sind Leitprinzip deutscher Entwicklungs-
stellers eingebunden. Insofern ist eine handhabbare und politik. Sie sind Maßgeblich für die Ziele, Programme
auch für die Exporteure darstellbare menschenrechtliche und Vorgehensweise der deutschen Entwicklungspolitik
Prüfung der Exportgeschäfte wichtig. Des Weiteren be- in der Zusammenarbeit mit Partnerländern und auf inter-
reitet es der Bundesregierung zunehmend Sorge, dass nationaler Ebene.“ Diesen Ansatz, dass es grundsätzlich
die wichtigsten Schwellenländer bisher nicht an die in- keine deutsche Politik im Innen- sowie im Außenbereich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17967
(A) geben darf, die den Menschenrechtsstandards widerspre- In diesem Jahr hat die dritte Überprüfung der soge- (C)
chen, möchten wir ausdrücklich unterstützen. nannten Common Approaches der OECD begonnen und
steht wohl kurz vor dem Abschluss. Nach der Erarbei-
Da sich die Einhaltung der Menschenrechte laut tung der der neuen Richtlinien der OECD, in denen zum
Herrn Westerwelle auf alle Politikbereiche bezieht, ersten Mal der Schutz der Menschenrechte mit einem
betrifft das natürlich auch unsere Außenwirtschaftsför- eigenen Kapitel prominent vertreten ist, und der
derung. Dabei dient die deutsche Außenwirtschaftsför- Annahme des sogenannten Ruggie-Berichts über die
derung natürlich auch der Förderung der einheimischen menschenrechtliche Verantwortung multinational tätiger
Wirtschaft und der Sicherung von Arbeitsplätzen. Des- Unternehmen im Menschenrechtsrat der Vereinten
halb ist es auch nicht verwunderlich, dass für die meisten Nationen handelt es sich hierbei um die dritte große
Menschen in diesem ökonomischen Zusammenhang die Säule der Implementierung menschenrechtlicher Stan-
Menschenrechte kaum oder gar nicht wichtig sind. Diese dards im Bereich der internationalen Ökonomie. Wir for-
Einstellung ist – ich verweise erneut auf die oben zitier- dern deshalb gerade jetzt, da die Common Approaches
ten Dokumente der Bundesregierung – eine Fehlein- der OECD einer dritten Revision unterzogen werden,
schätzung, die im Ernstfall zu gravierenden Verstößen
menschenrechtliche Prüfkriterien mit in sie zu integrie-
gegen elementare Grund- und Menschenrechte führen
ren. Denn bisher sind in diesen Richtlinien, die als Emp-
kann. Denn Staaten nehmen faktisch gerade durch die
fehlungen der OECD für Exportkreditgeschäfte dienen,
Förderung von Exporten und die Absicherung von Aus-
lediglich Umwelt- und Sozialaspekte enthalten. Diese
landsinvestitionen direkten und indirekten Einfluss auf
sind ebenfalls von fundamentaler Bedeutung. Aber um
die Achtung, die Gewährleistung und den Schutz von
Menschenrechten in anderen Ländern. Dies trifft sowohl unserem Anliegen, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte
im positiven Sinne zu, etwa durch die Förderung von und Demokratie in der Welt stärken zu wollen, gerecht
Entwicklung durch Direktinvestitionen deutscher Unter- werden zu können, sollten wir diese an das mächtigste
nehmen. Ebenso können aber Projekte negative soziale Mittel binden, das es gibt, nämlich die Geldgeschäfte.
oder ökologische Konsequenzen im Zielland haben. Denn nur so betreibt man eine effektive, menschen-
Kommt es im Zuge derartiger Projekte zu Verstößen rechtsorientierte und vor allem glaubwürdige Außen-
gegen die Menschenrechte, so muss die Unterstützung politik im Interesse aller Beteiligten, auch unserer deut-
durch die Außenwirtschaftsförderung als Beihilfe des schen Unternehmen.
deutschen Staates zu solchen Menschenrechtsverletzun-
Gerade mit unseren Bürgschaften und Kreditgarantien
gen gewertet werden. Insofern betont auch der Sonder-
sind wir in der Lage, direkt und indirekt auf die Ach-
beauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Natio-
tung, den Schutz und die Gewährleistung der Menschen-
nen, VN, für Wirtschaft und Menschenrechte, John
(B) Ruggie, die Bedeutung von Exportkreditagenturen für rechte im Zielland einzuwirken. Und das sollte wirklich (D)
unsere Aufgabe sein. Zum Ersten, weil sich auch die
die Wahrung der Menschenrechte. Er fordert die Regie-
Bundesregierung dazu verpflichtet hat, die Menschen-
rungen auf, sicherzustellen, dass sie auch bei der Ver-
gabe von Exportkrediten ihre menschenrechtlichen Ver- rechte als Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen
pflichtungen achten – und er hat Recht damit. zu verankern. Und zum Zweiten und umso wichtiger:
Wer behauptet, demokratische Standards weltweit vo-
Die Bundesregierung entscheidet hierbei Jährlich rantreiben und demokratische Bestrebungen der Men-
über eine Vergabe von Exportgarantien von bis zu schen in anderen Ländern unterstützen zu wollen, muss
25 Milliarden Euro. Diese Gewährleistung darf auf kei- das zumindest auch in seinem Geschäftsgebaren bewei-
nen Fall, auch nicht indirekt, zur Begünstigung von sen und vormachen. Alles andere ist unglaubwürdig und
Menschenrechtsverletzungen führen. Wollen wir unse- läuft einer demokratischen, rechtstaatlichen, den Men-
ren selbst gesetzten Zielen in der Außenpolitik gerecht schenrechten entsprechenden Politik zuwider. Denn die
werden, die ja nach allen Verlautbarungen wertegebun- Wirtschaft kann eben nicht die Voraussetzungen schaf-
den sein soll, so müssen wir uns deshalb zum Ersten an fen, die sie zum Wirtschaften braucht. Das wusste bereits
die gegebenen Menschenrechtstandards auch und gerade Montesquieu, der deshalb schon im 18. Jahrhundert in
bei der Vergabe von Exportgarantien halten und zum seinem wegweisendem Werk Vom Geist der Gesetze
Zweiten daran arbeiten, diese Standards so weiterzuent- festhielt: „Die Freiheit des Handels ist nicht etwa eine
wickeln, dass sie auch tatsächlich nicht dazu beitragen, den Kaufleuten eingeräumte Erlaubnis, zu machen, was
gegen die Würde der Menschen in den jeweiligen Län- sie wollen. Das würde vielmehr die Knechtschaft des
dern zu verstoßen. In diesem Sinne kritisieren zivil- Handels bedeuten. Was den Handelsmann behindert,
gesellschaftliche Organisationen sowie Menschenrechts- behindert deshalb noch nicht den Handel.“
expertinnen und – experten seit längerem, dass in der
staatlichen Außenwirtschaftsförderung, namentlich bei In genau in diesem Geiste bitten wir um Zustimmung
der Vergabe von Hermesbürgschaften, Investitionsgaran- zu eigentlich selbstverständlichen Forderungen wie der
tien und ungebundenen Finanzkrediten, keine umfas- Integration von Menschenrechtsstandards und der ILO-
sende Prüfung der Auswirkungen der geförderten oder Kernarbeitsnormen in die Common Approaches und
gesicherten Projekte auf die Menschenrechtssituation in nach mehr Corporate Social Responsibility für die inter-
den Zielländern stattfindet. Dazu können menschen- nationale Wirtschaft. Eine solche Strategie wird sich am
rechtliche Risikoanalysen dienen, die sicherstellen, dass Ende des Tages nicht als ein betriebswirtschaftlicher
Projekte von Unternehmen keine negativen Auswirkun- Kostenfaktor, sondern als positiver Standortfaktor für
gen auf die Menschenrechtssituation haben. unsere Unternehmen erweisen.
17968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Die SPD-Frak- was passiert, wenn sie nach Gewährung der Kreditversi- (C)
tion fordert in ihrem Antrag, menschenrechtliche As- cherung doch gegen Menschenrechte verstoßen.
pekte stärker in den OECD-Umweltleitlinien, aber auch
in der gelebten Praxis zu verankern. Menschenrechtliche Sofern geförderte Projekte Menschenrechtsverletzun-
Aspekte finden allerdings bereits heute bei der Über- gen nach sich ziehen, müssen die Betroffenen die Mög-
nahme von Exportkreditgarantien durch OECD-Staaten lichkeiten haben, dagegen auch zu klagen. Wer durch
Berücksichtigung. Dies erfolgt zum einen über die anzu- deutsche Unternehmen oder ihre Subunternehmen und
wendenden Prüfstandards, die die wesentlichen hier re- Zulieferer geschädigt wurde, muss Zugang zum Rechts-
levanten Menschenrechte abdecken, zum Beispiel im schutz in Deutschland bekommen, auch wenn er oder sie
Hinblick auf Umsiedlungen, Schutz des Kulturerbes, kein deutscher Staatsbürger ist. Menschenrechtsverlet-
Schutz der indigenen Bevölkerung. Zum anderen wer- zungen müssen zu Schadensersatzverpflichtungen ge-
den schon bislang in einer einzelfallbezogenen Risiko- genüber den Geschädigten und gegenüber dem Staat
prüfung relevante Menschenrechtsauswirkungen in Be- führen, der die Exportkreditgarantien gegeben hat und
tracht gezogen. getäuscht wurde. All das fehlt leider in ihrem Antrag.
Eine wichtige Sofortmaßnahme zum Schutz von
Im Rahmen der Überarbeitung der OECD-Umweltleit- Menschenrechten wäre das Verbot von Hermeskrediten
linien setzt sich die Bundesregierung für eine stärkere für Rüstungsgeschäfte. 2010 wurden allein sieben Rüs-
Bedeutung der Menschenrechte ein. Die im Interministeri- tungsgeschäfte in Höhe von 32 Millionen Euro darüber
ellen Ausschuss für Exportkreditgarantien vertretenen abgesichert. Gestern war im Bundestag auf Einladung
Ressorts haben eine ausgewogene deutsche Verhandlungs- der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le-
position zur Überarbeitung der Common Approaches ent- bensqualität“ Frau Professor Nussbaum aus Chicago hier
wickelt. Diese wird den menschenrechtspolitischen Zielen im Bundestag, um ihr Konzept der zentralen menschli-
der Koalition, den gestiegenen internationalen Verpflich- chen Fähigkeiten vorzustellen. Dieses Konzept ist
tungen als auch den Informations- und Einflussmöglich- Grundlage vieler Arbeiten der UN zu Fragen der Men-
keiten der Exporteure und Banken gerecht. schenrechte. Dazu gehören das Recht auf Leben, die Fä-
Die Forderungen aus dem Antrag der SPD-Fraktion higkeit, „ein menschliches Leben normaler Dauer bis
werden hierbei bereits weitestgehend berücksichtigt. zum Ende zu leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht
Ebenso hat sich die Beteiligung des Bundestages im bis- zu sterben, bevor dieses Leben so eingeschränkt ist, dass
herigen Umfang bei Entscheidungen über die Außen- es nicht mehr lebenswert ist“. Recht hat sie. Hermes-
wirtschaftsförderung bewährt. Um das Instrument hand- bürgschaften für Rüstungsexporte verletzen massiv das
habbar zu halten, wäre es praktisch kaum möglich, alle Recht auf Leben Tausender von Menschen. Sie versto-
(B) Anträge auf Hermesdeckungen dem Bundestag vorzule- ßen auch gegen das Recht auf Gesundheit oder Bildung (D)
gen. Es bedarf auch zukünftig einer klaren Trennung von und viele andere mehr. Denn selbst wenn die Waffen
Befugnissen der Exekutive und der Legislative. Dem nicht zum Einsatz kommen, gehen sie oft in arme Län-
Antrag der SPD-Fraktion kann daher meine Fraktion der, denen dadurch das Geld für andere wichtige Ausga-
nicht zustimmen. ben wie Gesundheit und Bildung fehlt. Deshalb muss
endlich Schluss sein mit staatlichen Exportbürgschaften
für solche Geschäfte.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die universelle Geltung
der Menschenrechte darf vor den Unternehmenstoren
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit dem
nicht Halt machen. Da ist es ein Skandal, wenn 75 Pro-
zent aller Hermesdeckungen Geschäfte mit Menschen- 14. November wird in Paris über die Neufassung der
rechtsverletzungen absichern. Ja, es ist unbedingt OECD-Common-Approaches verhandelt. Die Überar-
notwendig, die Einhaltung der Menschenrechte zur Be- beitung ist die Chance, einen stärkeren Menschenrechts-
dingung für Exportkreditgarantien zu machen. Ihre For- bezug in der Außenwirtschaftsförderung zu verankern.
derungen, Kolleginnen und Kollegen der SPD, gehen da- Gerade die Bundesregierung, die sich ja stets ihres ganz-
bei aber leider nicht weit genug. Ob Empfehlungen der heitlichen Menschenrechtsansatzes rühmt, könnte hier
OECD oder die Richtlinienvorschläge von John Ruggie, viel bewegen. Tut sie aber nicht. Denn was uns aus dem
alle kranken daran, dass sie keinen verbindlichen Cha- bisherigen Überarbeitungsprozess zugetragen wird, geht
rakter haben. Ohne Verbindlichkeit und wirksame Sank- in die falsche Richtung: Die Bundesregierung tritt in
tionsmechanismen werden Erklärungen für die Einhal- puncto Menschenrechte als Bremserin auf. Das nehmen
tung der Menschenrechte zu bloßen Absichtserklärungen wir nicht hin.
oder gar Feigenblättern für die Öffentlichkeit. Wir wissen bislang nicht, wo genau die Bundesregie-
rung den Änderungsbedarf bei den Common Approa-
Sie nehmen in ihrem Antrag Bezug auf die Perfor- ches sieht bzw. wie sie den Menschenrechten zu mehr
mance Standards. Darin sind auch die ILO-Kernarbeits- Wirksamkeit verhelfen will. In den aktuellen Konsulta-
normen enthalten. Leider hat die Bundesregierung die tionsprozess waren wir Parlamentarierinnen nicht einbe-
ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker zogen. Damit hat die Bundesregierung – und hier richte
immer noch nicht ratifiziert, weder unter Schwarz-Gelb ich mich insbesondere an das Bundeswirtschaftsministe-
noch unter Rot-Grün, übrigens ebenso wenig wie die rium – an Glaubwürdigkeit verloren.
Konvention zum Schutz der Wanderarbeiter. Das muss
dringend geändert werden, wenn Menschenrechte ge- Einen systematischen Menschenrechtsbezug bei der
schützt werden sollen. Sie bleiben die Antwort schuldig, Vergabe der deutschen Exportkreditgarantien gibt es bis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17969
(A) her nicht. Es ist mehr als bedauernswert, dass Menschen- ditvergabe endlich überprüfbar und justiziabel werden. (C)
rechte in der Außenwirtschaftspolitik der meisten Und dafür wird es höchste Zeit.
OECD-Staaten eine eher marginale Rolle spielen. Dabei
sind wir doch durch die staatlichen Bürgschaften und
Kreditgarantien in der Lage, direkt und indirekt auf die Anlage 7
Achtung, den Schutz und die Gewährleistung der Men-
schenrechte im Zielland einzuwirken. Für die Vergabe Zu Protokoll gegebene Reden
von Exportgarantien brauchen wir daher ein systemati- zur Beratung des Antrags: Begleitgesetzgebung
sches menschenrechtliches Screening der Situation im zum Vertrag von Lissabon konsequent anwen-
Zielland. den – Mitwirkungsrechte des Bundestages in
Angelegenheiten der Europäischen Union weiter
Bereits im Juli 2010 fragten wir die Bundesregierung
stärken (Zusatztagesordnungspunkte 7 und 8)
in einer Kleinen Anfrage, Drucksache 17/2693, inwie-
weit Menschenrechtsaspekte bei der Vergabe von Her-
mesbürgschaften, Investitionsgarantien und ungebunde- Jürgen Hardt (CDU/CSU): Vor zwei Jahren ist der
nen Finanzkrediten geprüft werden. Auf unsere Frage Lissabon-Vertrag in Kraft getreten. Die Begleitgesetzge-
nach den Prüfkriterien im Menschenrechtsbereich ant- bung zum Vertrag hat die Mitwirkungsrechte des Bun-
wortete die Bundesregierung, dass diese durch die Refe- destages und im Übrigen auch des Bundesrates deutlich
renzstandards der Weltbank Safeguard Policies bzw. die ausgeweitet. Der Evaluierungsbericht der Bundestags-
IFC Performance Standards abgedeckt seien. Das reicht verwaltung vom Juni 2011 zieht eine grundsätzlich posi-
aber nicht aus! Wir meinen, und da stimmen wir der For- tive Bilanz der Umsetzung des Mitwirkungsrechts.
derung des SPD-Antrages zu, dass die Prüfkriterien in Aus Sicht eines Mitgliedes des Ausschusses für die
den Common Approaches selbst verankert werden müs- Angelegenheiten der Europäischen Union kann ich dies
sen. bestätigen. Europapolitische Themen nehmen in den
Im Juni dieses Jahres fragten wir die Bundesregierung Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auch hier
erneut in einer Kleinen Anfrage, Drucksache 17/6374, im Plenum breiteren Raum ein denn je zuvor. Wir wer-
ob vor unternehmerischen Tätigkeiten und Investitionen den jeweils auf Kanzler-, Minister- oder Staatssekretärs-
im Ausland nicht eine menschenrechtliche Risikoana- ebene über wichtige Entscheidungen unterrichtet, so-
lyse sinnvoll wäre, insbesondere bei der Vergabe von wohl vorher als auch nachher. Der Bundestag hat
Exportkrediten und Hermesbürgschaften. Die Antwort mehrfach in Entschließungen den Rahmen für Verhand-
war genauso dürftig wie inhaltslos: „Bei der Übernahme lungen der Bundesregierung vorgegeben. Und es ist
auch nichts Irritierendes, dass die Opposition immer
(B) von Exportkreditgarantien prüft die Bundesregierung die wieder einmal beklagt, nicht umfassend und rechtzeitig
(D)
Umwelt- und sozialen Auswirkungen von Auslandspro-
jekten auf der Grundlage der OECD-Common-Approa- informiert worden zu sein. Es ist auch nicht verwunder-
ches.“ Das ist zwar richtig, bietet aber nur dann einen lich, dass es über die Einzelfälle durchaus unterschiedli-
wirksamen menschenrechtlichen Schutz, wenn in den che Rechtsauffassungen geben kann. Es ist auch zuge-
Common Approaches wirksame Menschenrechtskrite- standen, dass die Opposition mit dem einen oder anderen
rien verankert sind. Einwurf nicht völlig unrecht hat. Aber: Die Regierung
kommt ihrer Pflicht nach.
Die Menschenrechtsorientierung der Bundesregie-
rung ist zu dürftig, das reicht nicht aus. Referenz für die Der heute von den Fraktionen der CDU/CSU und der
Leitsätze der deutschen Außenwirtschaftsförderung FDP vorgelegte Entschließungsantrag wird in den Aus-
müssen die Menschenrechtskonventionen sein. Wir schüssen Grundlage für die Diskussion über den Stand
brauchen mehr menschenrechtliche Expertise in den Ex- und die Weiterentwicklung der Mitwirkungsrechte des
portkreditagenturen. Wir brauchen ein geeignetes Instru- Deutschen Bundestages in der Europapolitik sein. Ange-
mentarium zur Umsetzung der menschenrechtlichen sichts der jüngsten Entwicklungen und der notwendigen
Sorgfaltspflichten. Sinnvoll wäre es, dabei auf das lang- Beteiligung des Parlaments bei der Umsetzung der Be-
jährige Fachwissen von Nichtregierungsorganisationen schlüsse des Gipfels vom vergangenen Freitag wird an
wie Amnesty International, Urgewald, Gegenströmung verschiedenen Stellen eine Präzisierung sinnvoll sein.
oder Germanwatch, die sich für eine stärkere soziale und Die Koalitionsfraktionen laden die Fraktionen der Oppo-
menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen sition ein, an der Erarbeitung des endgültigen Beschlus-
einsetzen, zurückzugreifen. ses mitzuwirken. Ideal wäre es aus unserer Sicht, wenn
es für die Weiterentwicklung der Mitwirkungsrechte des
Der Antrag der SPD ist gut und kommt zur rechten Deutschen Bundestages eine breite Mehrheit des Hohen
Zeit – gerade während wir hier über die Common Ap- Hauses gäbe.
proaches debattieren, wird in Paris darüber verhandelt.
Tagtäglich erleben wir, dass Entscheidungen auf euro-
Wir werden dem Antrag daher zustimmen. In einem päischer Ebene das Leben der Menschen in unserem
Punkt aber gehen wir noch weiter, als es die SPD mit ih-
Lande direkt beeinflussen und bestimmen – heute mehr
rem Antrag fordert: Wir fordern die Bundesregierung
denn je.
auf, ein Gesetz über die Vergabe von Hermesbürgschaf-
ten vorzulegen, in dem menschenrechtliche Prüfkriterien Zwei Dinge sind für die Bürger dabei essenziell: ers-
verankert sind. Denn nur auf diese Weise können die tens, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen und
Menschenrechtskriterien bei dieser Form der Exportkre- Entscheidungen auf europäischer Ebene stark genug und
17970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) frei ist, europäische und deutsche Interessen kraftvoll zu Sinne lassen Sie uns gemeinsam an diesem wichtigen (C)
vertreten. Sie kann deshalb nicht mit detailverliebt for- Thema arbeiten.
mulierten Beschlüssen des Bundestages in Verhandlun-
gen gehen. Sie muss Handlungsfreiheit und Verhand- Alois Karl (CDU/CSU): Wenn wir uns heute auf
lungsspielraum haben, damit sie im Sinne des deutschen Antrag unserer Koalitionsfraktionen mit der Begleit-
Volkes und aller Europäer das Beste erreicht. gesetzgebung zum Vertrag von Lissabon befassen, dann
Zweitens muss aber die demokratische Legitimation sind wir uns von vornherein alle in diesem hohen Haus
von Entscheidungen auf europäischer Ebene gewährleis- über manches einig: Einigkeit besteht gewiss darüber,
tet sein. Dort, wo die Kolleginnen und Kollegen im Eu- dass wir mit den Begleitgesetzen zum Lissabon-Vertrag
ropäischen Parlament aufgrund der Ausgestaltung der deutlich mehr Mitwirkungsrechte unseres Parlaments,
des Deutschen Bundestages, erreicht haben. Einig sind
europäischen Verträge diese demokratische Kontroll-
wir uns gewiss auch darüber, dass wir mit dem Erreich-
funktion nicht oder nicht alleine wahrnehmen, sind die
ten nicht am Ende des Weges angelangt sind. Diese
nationalen Parlamente gefordert. Dies gilt für die Mit-
Übereinstimmung ergibt sich hoffentlich nicht nur
wirkung der Bundesregierung bei der europäischen Ge-
wegen des bald einkehrenden vorweihnachtlichen Frie-
setzgebung im Rat, bei der Primärgesetzgebung und na-
dens, sondern gerade daraus, dass wir selbstbewusste
türlich, so finde ich, auch bei intergouvernementalen
Parlamentarier sind. Wir wollen – und auch darüber
Vereinbarungen, an denen Deutschland beteiligt ist. Alle
stimmen wir gewiss überein – dass wir als Parlamenta-
Überlegungen früherer Jahre und auch heute bewegen
rier möglichst frühzeitig, möglichst umfassend, dazu
sich in diesem Spannungsfeld zwischen notwendiger
dauerhaft und fortlaufend über die Entwicklungen in
Verhandlungsfreiheit einerseits und demokratischer Le- Europa informiert werden.
gitimierung andererseits. Der Präsident des Bundesver-
fassungsgerichts, Professor Andreas Voßkuhle, hat es Unser Informationsrecht betrifft nicht nur Vorlagen
wie folgt formuliert: Es gehe darum, den Ausgleich zu im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verträgen
finden zwischen der Mitwirkung des Parlaments und der unter den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, es
Notwendigkeit, effektiv zu verhandeln. greift nicht nur beim Abschluss von Gesetzgebungsver-
fahren. Wir wollen auch, dass sich unsere Informations-
Der vorliegende Entschließungsantrag beinhaltet im rechte auf informelle Treffen der Minister, der Staats-
Kern die Aussage, dass wir den Kreis der Anwendungs- und Regierungschefs erstrecken. Wir wissen genau, dass
felder von Art. 23 Grundgesetz – das ist der Artikel über die Verhandlungen über die Zukunft Europas sehr häufig
die parlamentarische Mitwirkung in Angelegenheiten nicht in Gremien gefasst werden, die alle 27 Mitglied-
der EU – auch angewendet wissen wollen auf Fälle, in staaten abdecken. Häufig geben Gremien den Ausschlag,
(B) denen zwar formal kein Mitwirkungsrecht existiert, in (D)
die weniger als diese 27 Staaten umfassen. Konkret spre-
denen aber die zu regelnden Angelegenheiten aufs che ich zum Beispiel die Euro-Gruppe an. Die hier zu-
Engste mit der Fortentwicklung der Europäischen Union sammengefassten 17 Staaten fassen tagtäglich weitrei-
verbunden sind, sodass also im politischen Sinne ein un- chende Beschlüsse. Diese wirken für lange Zeiträume
mittelbarer Zusammenhang zwischen der Institution Eu- und greifen tief in unsere Wirtschaftspolitik, unsere
ropäische Union und dem zu regelnden Gegenstand be- Finanz- und Steuerpolitik ein. Aus diesem Grund ist es
steht. für uns unabdingbar, dass wir in unserem Antrag konse-
quenterweise fordern, dass diesbezüglich das Gesetz
Diese Frage wird gerade im Zusammenhang mit der über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
vorgesehenen Gestaltung des Vertrages zur Fiskalunion Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
eine besondere Bedeutung erlangen. Denn die Fiskal- schen Union, EUZBBG, auch dann Anwendung findet,
union ist angelegt mit dem Ziel, eines Tages Bestandteil bei intergovernmentaler Zusammenarbeit oder dann,
der regulären EU-Verträge zu werden. So hat es Bundes- wenn Politikbereiche befasst sind, denen nicht alle
kanzlerin Merkel ja gestern auch in ihrer Regierungser- 27 EU-Mitgliedstaaten angehören. Ich spreche explizit
klärung nochmals betont. Die Regierung sollte wissen, den § 5 Abs. 4 EUZBBG an. Dieser verlangt von der
dass wir als Parlament den wirklich wegweisenden Be- Bundesregierung lediglich, dass die zuständigen Aus-
schluss vom vergangenen Freitag als gewichtige Weiter- schüsse des Bundestages mündlich informiert werden.
entwicklung – ja, ich sage: als Vertiefung – der Europäi- Wir sind der Auffassung, dass sich gerade hier etwas
schen Union ansehen. Die Umsetzung der Beschlüsse ändern muss, dass gerade hier Korrekturbedarf besteht.
sollte im Bundestag also entsprechend ebenso behandelt Die im § 5 EUZBBG genannten Dokumente, Berichte
werden wie die eigentlichen EU-Angelegenheiten nach oder Mitteilungen müssten auch auf die Euro-Gruppe
Art. 23 des Grundgesetzes. Anwendung finden.
Wenn wir nun den Entschließungsantrag in den Aus- Dies vorausgeschickt, erkennen wir aber durchaus,
schüssen beraten, werden wir noch weitere Klarheit über dass die jetzige Evaluierung der Begleitgesetze zum Lis-
den rechtlichen und politischen Charakter dieses nun zu sabon-Vertrag, neben dem EUZBBG auch das Gesetz
schließenden Vertrages über die Fiskalunion bekommen. über die Integrationsverantwortung von Bundestag und
Es wird dann zu entscheiden sein, wie wir damit umge- Bundesrat – IntVG, dass dieser Evaluationsbericht vom
hen und ob wir das Mitwirkungsgesetz vielleicht sogar Juni diesen Jahres zu durchaus positiven Ergebnissen
ändern müssen. Für die CDU/CSU-Fraktion möchte ich kommt. Für den Teil des Integrationsverantwortungsge-
hier Offenheit in der Diskussion signalisieren. In diesem setzes ist das problemlos, „die Vorgaben in allen Anwen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17971
(A) dungsfällen seien erfüllt worden“ schreibt der Bericht. gezeigt hat, dass das Zusammenspiel zwischen Unter- (C)
Die Beurteilung des EUZBBG ist zwar nicht ganz so richtungsplichten der Bundesregierung und den Beteili-
euphorisch, nicht ausschließlich positiv. Dennoch stellt gungsrechten des Parlamentes sehr klug austariert sind
sich auch gerade hier die Frage nach der optimistischen und sich sehr gut bewährt haben. Durch die Begleitge-
oder pessimistischen Sicht der Dinge. Ist das Glas nun setze sind die Rechte der legislativen Gewalt, des Bun-
halb voll oder ist das Glas halb leer? destages, und die der exekutiven Gewalt, der Bundesre-
gierung, außerordentlich fein und klug ausgewogen. Mit
Wenn Sie bedenken, dass der Evaluationsbericht der den genannten Begleitgesetzen hat sich der Bundestag
die Jahre 2009 bis 2011, also 2 Jahre umfasst, dass er starke Waffen in die Hand gegeben. Gerade die frühzei-
29 298 EU-Dokumente unter die Lupe genommen hat, tige Unterrichtung des Parlamentes, die Möglichkeit,
dann ist es nicht ungewöhnlich, dass sich vereinzelte frühzeitig Stellungnahmen abzugeben und sie zur
Kritikpunkte ergeben. Für einen akribischen Bericht- Grundlage für die Verhandlungen der Bundesregierung
erstatter über fast 30 000 Dokumente ist es doch gar zu machen, auch die Pflicht zur Einlegung eines Parla-
nicht anders möglich, als dass er nicht auch den einen mentsvorbehaltes, all dies repräsentiert das Selbstbe-
oder anderen Ansatzpunkt für Kritik findet. Ein Revisor wusstsein des Parlaments. Diese Begleitgesetze sind
wäre ja geradezu fehl am Platz, wenn er bei 30 000 Prü- eine deutliche Fortentwicklung hin zu mehr Parlaments-
fungen nicht auch die eine oder andere Beanstandung rechten, hin zu mehr Beteiligung, hin zu mehr Einfluss-
fände. Der betreffende Revisor würde da ja gerade sei- nahme und damit hin zu mehr Demokratie. Diese
nen eigenen Arbeitsplatz selbst wegrationalisieren. Das Begleitgesetze haben sich bewährt. Der Evaluations-
kann man von einem Beamten nicht erwarten. bericht hat das bestätigt. Auch dies ist ein Grund zur
Wichtig ist aber, dass wir das Große und Ganze nicht Freude. Das war nicht immer so im deutschen Parlament.
aus den Augen verlieren. Wichtig ist doch, dass wir die Wenn Sie bei Konrad Adenauer in dessen Memoiren
Mainpoints erkennen. Wichtig ist, dass wir die Kunst der nachlesen, dann schreibt er: „Die Bundesregierung ver-
Unterscheidung immer noch haben und zwar zwischen handelt mit bestem Wissen und Gewissen mit ausländi-
dem, was „wichtig und dem, was peripher ist“. Wichtig schen Staaten … Die Bundesregierung legt das Ergebnis
für mich ist, dass neben dem Integrationsverantwor- dem Parlament vor, das Parlament kann die gefassten
tungsgesetz auch die Unterrichtung über die gemein- Beschlüsse und Vereinbarungen akzeptieren oder sie
same Außen- und Sicherheitspolitik, die Unterrichtung ablehnen. Im Ablehnungsfall genießt die Regierung das
über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungs- Vertrauen des Parlaments nicht mehr, sie hat daraufhin
politik sich bewährt haben. Im Evaluationsbericht wird zurückzutreten.“
dies alles durchaus positiv bewertet. Gerade dies finde Wie haben sich die Dinge doch positiv verändert: Die
ich außerordentlich bemerkenswert. Selbst bei großer frühzeitige Parlamentsbeteiligung, die Informations- (D)
(B)
Eilbedürftigkeit, so drückt es der Evaluationsbericht aus, rechte, die Möglichkeiten der Stellungnahme oder der
wurden Unterrichtungspflichten in vollem Umfang Parlamentsvorbehalt, all dies hat die verfassungsrecht-
gewahrt. Ich nenne nur ein einziges Beispiel. Der Antrag liche Entwicklung dramatisch geändert – und zwar ver-
Irlands auf finanzielle Unterstützung aus dem Europäi- bessert.
schen Rettungsschirm, ESFS, musste ohne lange Vorbe-
reitung im Euro-Raum beraten werden. Ich selbst bin Wir wissen allerdings, dass die Parlamentsbeteiligung
Mitglied auch im Haushaltsausschuss – und ich kann nicht statisch, nicht festgeschrieben ist. Außer den zehn
Ihnen sagen, dies war eine dramatisch knappe Kiste. Geboten ist nichts dauerhaft! Die Parlamentsbeteiligung
Trotzdem waren wir völlig ausreichend informiert. ist ein sich entwickelnder Prozess. Dieser Prozess ist im
Gange und längst nicht abgeschlossen. Panta rhei! Auch
Peinlich wirkt in diesem Zusammenhang geradezu die heutig geltenden gesetzlichen Bestimmungen sind
der jetzige Antrag der Linken. Der spricht davon, dass nicht abschließend, sie sind nicht statisch. Wenn es um
die Rechte des Bundestages gerade beim Thema Irland die Anwendung des Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes
„systematisch umgangen worden seien“. Im Fall Irland, geht, nämlich darum, dass „der Bundestag in den Ange-
so führen die Linken aus, sei wegen der „angeblichen legenheiten der Europäischen Union mitwirkt“, dann
Eilbedürftigkeit“ keine ausreichende Zeit für sorgfältige sind wir uns einig darüber, dass zu den Angelegenheiten
parlamentarische Befassung gewesen. Gerade das der Europäischen Union natürlich auch das intergovern-
Gegenteil ist der Fall. Ihr Antrag ist diesbezüglich an mentale Handeln der Mitgliedstaaten gehört. Auch § 3
Scheinheiligkeit nicht zu überbieten. Sie haben als Linke Abs. 1 des EUZBBG, der sich mit den „Vorhaben der
und als einzige Fraktion im Bundestag der Hilfeleistung Europäischen Union“ befasst, ist in sich nicht abge-
für Irland von vornherein und auch grundsätzlich wider- schlossen. Er ist für Erweiterungen zugänglich. Die Auf-
sprochen. Auf Eilbedürftigkeit oder sonstig vorgescho- zählungen dort haben nur deklaratorischen Charakter.
bene Gründe ist es Ihnen damals nie angekommen. Tat- Dies ergibt sich schon daraus, dass der Gesetzestext
sache ist, dass sie unseren europäischen Partnern von lediglich 14 einzelne Beispiele explizit aufzählt, was
vornherein nicht helfen wollten. Sie wollten den Iren in „Vorhaben der Europäischen Union“ sind.
ihrer Notlage gerade nicht zur Hilfe kommen. Heute so
zu tun, als wäre nicht ausreichend Zeit zur Beratung Auch über die Beteiligungsrechte hinsichtlich der Sit-
gewesen, das ist ja an Scheinheiligkeit nicht mehr zu zungen der Euro-Gruppe – sie sind im § 5 Abs. 4 des
überbieten. Wer sich so verhält, der sollte hier ganz ruhig EUZBBG ausgeführt – besteht Einigkeit darüber, dass
sein und den Mund halten! Für die Regierungsfraktionen auch diese Unterrichtungen nicht bloß mündlich, son-
kann ich feststellen, dass gerade an diesem Beispiel sich dern wie bei allen anderen schriftlich zu erfolgen haben.
17972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Dies steht auch problemlos im Einklang mit der jetzigen starkes Signal für die Beteiligung des Deutschen Bun- (C)
Verfassungsrechtsprechung. Gerade in den letzten Ent- destages zu senden.
scheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom
30. Juni 2009 und vom 7. September 2011 lässt sich dies Im Juni wurde vereinbart, gemeinsam über Verbesse-
problemlos ableiten. Das Bundesverfassungsgericht hat rungen des EUZBBG und seiner Anwendung zu spre-
darin die Rolle des Parlamentes deutlich gestärkt. Bei chen und Vorschläge zu erarbeiten. Die Lektüre Ihres
den Entscheidungen wird festgehalten, dass die Entfal- Antrages zeigt, dass wir uns sicher auf die wesentlichen
tung der demokratischen Willensbildung wesentliche Elemente einer Überarbeitung des EUZBBG und eine
Gestaltungsräume bei fortschreitender Integration zu Verbesserung der Anwendung des Gesetzes hätten ver-
erhalten sind. Das Gericht stellt klar, dass der parlamen- ständigen können. Es ist mir unbegreiflich, warum Ihnen
tarische Einfluss sehr groß sein muss gerade dann, wenn der Wille und die Souveränität fehlen, dieses wichtige
es um die Art und Weise der Verwendung von Bundes- Thema mit allen Fraktionen zu beraten und zu regeln.
Wir haben mehrfach das Angebot gemacht, das ohne Be-
finanzmittel für die europäische Solidarität geht. Der
gründung und trotz mehrfacher Nachfrage auf Ableh-
Bundestag – so führt das Gericht aus – ist „nicht nur
nung stieß. Hier wurde nicht nur eine Chance vertan,
über die Grundentscheidung zu beteiligen, sondern ist
sondern das ist auch ein ganz, ganz schlechter Stil.
fortlaufend und dauerhaft zu beteiligen“. Der Bundestag
und seine Gremien sind gerade über Vorlagen und Die Beteiligung des Deutschen Bundestages ist ein
Beschlüsse auch in der Euro-Gruppe zu informieren. Als Kernthema bei der Debatte über die Entwicklung der Eu-
Annex möchte ich hier einfügen, dass Differenzen über ropäischen Union. Dies gilt für die Diskussionen anläss-
die Beteiligung des Bundestages hier in diesen parla- lich der aktuellen Krise und auch generell für die An-
mentarischen Gremien ausgetragen werden sollen. Poli- wendung des Europarechts, die Gestaltung Europas und
tische Entscheidungen sollten noch immer hier gefällt die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Es be-
werden, nicht in Karlsruhe, nicht beim Bundesverfas- stehen gute und in ihrem Regelungsumfang auch ausrei-
sungsgericht. chende Grundlagen für die Beteiligung des Deutschen
Bundestages an den Angelegenheiten der Europäischen
Ich kritisiere die augenblicklichen Anträge der Grü- Union. Art. 12 des Vertrags über die Europäische Union
nen in einem Organstreitverfahren beim Bundesverfas- stärkt seinem Wortlaut nach unmissverständlich die na-
sungsgericht. Ich halte das für falsch. Das Parlament tionalen Parlamente und weist ihnen bei der Gestaltung
muss selbstbewusster auftreten. Das Verfassungsgericht des Europarechts eine herausragende Rolle zu. Die sich
ist nicht Obergesetzgeber. aus dieser Rolle ergebenen Aufgaben wollen und müs-
sen wir im Deutschen Bundestag nicht nur sehr ernst
Abschließend kann festgehalten werden, dass die
(B) Beteiligungsrechte durch die Begleitgesetze zum Lissa- nehmen, sondern auch umfassend wahrnehmen. (D)
bon-Vertrag außerordentlich gestärkt worden sind. Der Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum
Evaluationsbericht kommt zu insgesamt außerordentlich Vertrag von Lissabon und nach der Überarbeitung der
positiven Einschätzungen. Natürlich ist „nichts so gut …, gesetzlichen Grundlagen für die Beteiligung des Bun-
als dass es nicht auch noch verbessert werden könnte“. destages haben wir hervorragende und im Übrigen ge-
Hierzu gehören unstreitig unsere heutigen Anträge. Sie meinsam erarbeitete Grundlagen für die Zusammenar-
führen auf eine Ausdehnung der Beteiligungsrechte des beit zwischen Bundesregierung und Bundestag in der
Parlaments hin – und das ist gut so. Ich füge noch hinzu, Europapolitik. Durch die veränderte Rechtslage wurden
dass die Unterrichtungen auch in deutscher Sprache er- neue Maßstäbe im Hinblick auf die Mitwirkungsrechte
folgen müssen, dass die Vorlagen bei uns auch nicht nur des Bundestages in den Angelegenheiten der Europäi-
rechtzeitig, sondern auch auf gut Deutsch ankommen schen Union gesetzt. Das Integrationsverantwortungs-
müssen. In diesem Hause ist möglicherweise der Satz gesetz und das Gesetz über die Zusammenarbeit von
„In Europa wird wieder deutsch gesprochen“ von man- Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele-
chem missverstanden worden. Er wird nicht von jedem genheiten der Europäischen Union bilden die Grund-
akzeptiert. Wir sind uns aber doch einig darüber, dass lagen für das ausgewogenes Verhältnis von Gestal-
wir uns bei unseren Beratungen mit den englischen Fas- tungsspielraum der Bundesregierung einerseits und den
sungen aus Brüssel oder sonst woher nicht zufriedenge- Beteiligungsrechten des Bundestages andererseits.
ben können. Auch das widerspricht unserem Selbstbe-
wusstsein als Parlament, wir sind eben der Deutsche Der am 17. Juni 2011 von der Bundestagsverwaltung
Bundestag. vorgelegte Evaluierungsbericht zeigt deutlich, an wel-
chen Stellen die Bundesregierung ihren Beteiligungs-
pflichten nachgekommen ist und wo Verbesserungsbe-
Dr. Eva Högl (SPD): Zunächst möchte ich Ihnen darf besteht. Der Bericht kommt zum Schluss, dass sich
nicht vorenthalten, dass ich von dem Vorgehen der Ko- die Gesetze gut zwei Jahre nach ihrem Inkrafttreten im
alitionsfraktion schwer enttäuscht bin und es mir völlig Wesentlichen bewährt haben und konstatiert rechtstech-
unverständlich ist, wie dieses wichtige Thema in der nischen Verbesserungsbedarf nur an wenigen Stellen,
letzten Sitzungswoche zu diesem Zeitpunkt überra- dem jedoch durch die Anpassung einiger Formulierung
schend auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Damit abgeholfen werden kann. Deutlicher Verbesserungsbe-
wird eine Chance vertan, dieses wichtige Thema zur darf besteht jedoch bei der Anwendung dieser Gesetze.
Kernzeit zu debattieren. Außerdem wurde die Chance Der Bundesregierung fehlt es bis heute an dem entschei-
vertan, gemeinsam fraktions- und parteiübergreifend ein denden politischen Willen, den Bundestag frühestmög-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17973
(A) lich und fortlaufend zu informieren, so wie es das Gesetz Art. 23 Grundgesetz zu klassifizieren ist. Daher ist drin- (C)
vorschreibt. Immer wieder sehen sich Parlamentarier gend eine Klarstellung erforderlich, die der Bundes-
und Parlamentarierinnen in der Pflicht, die Bundesregie- regierung keinen Interpretationsspielraum lässt. Inter-
rung an die Einhaltung ihrer Unterrichtungsgrundsätze gouvernementales Handeln rechtfertigt nicht, dass die
zu erinnern. Der Bundesregierung mangelt es an Eigen- Bundesregierung die parlamentarischen Beteiligungs-
initiative und vor allem an der notwendigen Einsicht, rechte außer Kraft setzt oder mutwillig ignoriert.
dass die Beteiligung des Parlaments nicht nur demokra-
tiefördernd, sondern auch impulsgebend für die Europa- Ich möchte noch einmal an die im Vorfeld des jüngs-
politik ist. Die beim Bundesverfassungsgericht anhängi- ten Gipfels stattgefundene Debatte über die Vertragsän-
gen Organklagen sind der beste Beweis für die derungen erinnern. Die Parlamentarier und Parlamenta-
unzureichende Beteiligung des Bundestages in der Pra- rierinnen des Ausschusses für die Angelegenheiten der
xis. Fest steht, dass eine ordnungsgemäße und rechtzei- Europäischen Union haben die Erklärung von Bundes-
tige Beteiligung des Bundestages im Vorfeld den Gang minister Westerwelle als unfassbare Provokation emp-
nach Karlsruhe entbehrlich gemacht hätte. Es ist zu er- funden, dass das Papier des Auswärtigen Amts zu den
warten, dass es mal wieder das Bundesverfassungsge- Vertragsänderungen schon in Brüssel diskutiert wurde,
richt sein wird, das Frau Merkel an die besondere Be- ohne dass zuvor eine förmliche Zuleitung des Papiers an
deutung des Parlaments in unserer demokratischen die Abgeordneten stattgefunden hat. Eine Brüskierung
Grundordnung erinnern muss. des Parlaments! Diese Fallbeispiele zeigen, dass wir im
EUZBBG unmissverständlich klarstellen müssen, dass
Aus konkretem Anlass möchte ich auf einen weite- solche Vorschläge, Papiere und Überlegungen dem
ren Punkt aufmerksam machen, der für uns Parlamenta- Deutschen Bundestag frühzeitig und ordnungsgemäß zu-
rier und Parlamentarierinnen besonders wichtig ist und geleitet werden und er darüber offiziell in Kenntnis ge-
der auch Gegenstand des vorliegenden Antrags der Ko- setzt wird. Als unmittelbar demokratisch gewählte
alitionsfraktion geworden ist. Das ist die Einbeziehung Volksvertreter und Volksvertreterinnen sind wir es leid,
intergouvernementalen Handelns in die Informations- ständig um einen gesetzesgemäßen Informationsfluss
und Beteiligungspflicht der Bundesregierung. Mit Be- bitten zu müssen und notfalls durch die Hilfe der Kolle-
dauern stellen wir fest, dass bei den Vereinbarungen der gen und Kolleginnen anderer Parlamente an die Doku-
Europäischen Räte sowohl die nationalen Parlamente als mente zu gelangen.
auch das Europäische Parlament zunehmend in den Hin-
tergrund gedrängt werden. Es entspricht weder unseren Von besonderer Wichtigkeit für uns alle sind auch die
Vorstellungen von demokratischer Legitimation noch Informationen über die Beratungen der Euro-Gruppe,
den verbindlichen Vorgaben des Vertrags von Lissabon, die ebenfalls in dem vorliegenden Antrag thematisiert
werden. Auch diese mündliche Unterrichtungspflicht
(B) dass wir uns auf dem Weg zu einem Europa der Regie- (D)
rungen befinden. Dies ist eine gezielte und bewusste Ab- muss durch Zuleitung der relevanten Beratungsunterla-
kehr vom Gemeinschaftsrecht. Die Folge ist, dass die gen und Dokumente erweitert werden. Darüber hinaus
europäischen Institutionen bewusst geschwächt und die möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen weiteren
gemeinschaftlichen Verfahren außer Kraft gesetzt wer- wichtigen Punkt lenken: die Umsetzung von Richtlinien.
den, eine Tendenz, die wir mit aller Deutlichkeit ableh- Da sich die Bundesregierung der Einsicht verweigert,
nen. dass auch eine fehlerhafte bzw. von der Europäischen
Kommission kritisierte Umsetzung von Richtlinien eine
Der letzte Europäische Rat am 9. Dezember stellt dies Unterrichtungspflicht des Bundestages durch die Bun-
sehr anschaulich unter Beweis. Im Gegensatz zu den desregierung auslöst, brauchen wir hier eine Klar-
Vereinbarungen vor 20 Jahren in Maastricht, als Groß- stellung. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass die Bun-
britannien bei der Sozialpolitik keine weitergehenden desregierung sich auf den Standpunkt stellt, eine
Vereinbarungen mittragen wollte, konnte damals immer- Unterrichtungspflicht bestehe nur bei Nichtumsetzung
hin über ein Protokoll und ein Abkommen zur Sozial- einer Richtlinie, nicht aber bei fehlerhafter Umsetzung.
politik gewährleistet werden, dass die weitergehenden Meiner Ansicht nach geht es hier nicht um eine fehlende
Vereinbarungen der anderen Mitgliedstaaten im Rahmen Richtlinienumsetzung, sondern um das Fehlen eines kla-
des Gemeinschaftsrechts formuliert wurden. Auf dem ren politischen Willens, den Bundestag einzubeziehen.
Gipfel des Europäischen Rates vor wenigen Tagen Wenn es an dem politischen Willen, eine fehlerhafte
wurde dieser Erfolg für die Integration in die Europäi- Umsetzung als eine teilweise Nichtumsetzung anzuse-
sche Union nicht erzielt und es scheint, als habe die Bun- hen, mangelt, dann ändern wir eben die Formulierung
desregierung dieses Ziel mit zu wenig Nachdruck ver- des § 4 Nr. 4 EUZBBG. Für den Bundestag ist es not-
folgt. wendig, bei Vertragsverletzungsverfahren das Mahn-
schreiben der Europäischen Kommission zu erhalten.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass intergou-
vernementales Handeln nicht auch ein Fortschritt für die Ausdrücklich loben möchte ich, dass in Ihrem Antrag
Europäische Union sein kann. Die Erfolge intergouver- eine förmliche Zuleitung in englischer Sprachfassung
nementalen Handelns sind historisch durch die Einfüh- enthalten ist. Auch sind wir damit einverstanden, dass es
rung des Euro und des Schengen-Abkommens belegt die Einflussnahme und die Beratungen des Bundestages
worden. Allerdings brauchen wir eine dringende Klar- erleichtern würde, wenn wir möglichst frühzeitig rele-
stellung, dass intergouvernementales Handeln, das als vante Unterlagen bekommen und schon einmal einen
Weiterentwicklung der Europäischen Union dient, als Blick in die englischen Fassungen werfen könnten –
Angelegenheit der Europäischen Union im Sinne von ohne dass dies ein Verzicht auf die deutsche Fassung be-
17974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) deutet. Genauso wie Sie sehe ich außerdem Verbesse- destagsverwaltung, der dem Bundestag seit dem (C)
rungsbedarf bei den Berichten der Bundesregierung, der Sommer vorliegt. An dieser Stelle möchte ich den Ver-
umfassenden Bewertung insbesondere im Hinblick auf antwortlichen meinen Dank aussprechen für die sehr
die Prüfung der Subsidiarität und der Verhältnismäßig- fundierte und umfangreiche Zusammenstellung in dem
keit, die für uns als Bundestag von besonderer Bedeu- Bericht. Zusammen mit dem EU-Ausschuss leistet die
tung sind, sowie bei der Frühwarnung, den Drahtberich- Bundestagsverwaltung auch im parlamentarischen All-
ten, der Einbeziehung unserer Stellungnahmen in die tag in der Beschaffung, Priorisierung, Bewertung und
Verhandlungen sowie bei dem Verlauf und dem Ab- Verteilung der Dokumente mit EU-Bezug sehr gute Ar-
schluss der Verhandlungen im Rat. beit. Der Monitoringbericht kommt zu dem wesentlichen
Ergebnis, dass die Zusammenarbeit zwischen Bundes-
Alles in allem ist erheblicher Handlungsbedarf bei der regierung und Parlament in europäischen Fragen im
Verbesserung der Information und Beteiligung des Bun- Wesentlichen gut funktioniert. Im Bereich des IntVG
destages durch die Bundesregierung gegeben. Wir for- sind die Vorgaben in allen bisherigen Anwendungsfällen
dern eine Beachtung der Rechte des Bundestages und ich erfüllt worden. Eine Novellierung des Gesetzes muss
appelliere an die Bundesregierung, dies nicht als lästige deswegen nicht erfolgen. Im Anwendungsbereich des
Pflicht zu sehen, sondern als große Chance zu verstehen, EUZBBG hat sich ebenfalls eine weitgehend reibungs-
mit der umfassenden und rechtzeitigen Beteiligung des lose Praxis der förmlichen Zuleitung und Unterrichtung
Bundestages die Europapolitik auf eine breite Basis zu etabliert. Allerdings weichen einige Punkte von diesem
stellen und das Parlament zu stärken. Die lobenden positiven Befund ab. Diese Problemfälle hat die Koali-
Worte, die der hier vorliegende Antrag für die „reibungs- tion im vorliegenden Antrag thematisiert.
lose Praxis der Unterrichtung“ der Bundesregierung fin-
det, entsprechen nicht der Realität. Wir müssen uns als Die Frage ist nun, wie man mit diesen Fällen im
Parlament ernst nehmen. Die vornehmste Aufgabe des EUZBBG weiter verfährt. Hier muss man einerseits un-
Parlaments ist die Kontrolle der Regierung, und der Zu- terscheiden zwischen den gesetzlichen Vorgaben, die das
gang zu Informationen ist die erste und wichtigste Vo- Parlament gegenüber der Bundesregierung in einem Ent-
raussetzung für die Ausübung dieser Kontrolle. Die Tat- schließungsantrag noch einmal klarstellen sollte. Das ha-
sache, dass unser Bundestagspräsident das immer wieder ben wir im vorliegenden Antrag auch schon getan. Da-
anmahnen muss, sollte auch der Bundesregierung zu runter fallen beispielsweise Punkte wie die teils sehr
denken geben. Leider ist heute die Chance vertan wor- unterschiedliche inhaltliche Qualität und Ergiebigkeit
den, ein starkes Signal für mehr und bessere Beteiligung der Berichtsbögen der Bundesregierung oder auch die
des Bundestages zu senden. Ich betone noch einmal, nicht immer zufriedenstellende Unterrichtung des Bun-
dass ich mich gefreut hätte – und dass es den Bundestag destages über den Erfolg seiner Stellungnahmen. Ande-
(B) ausgezeichnet hätte –, wenn wir dies zu einer anderen rerseits gibt es auch solche Regelungen im EUZBBG, (D)
Zeit und auf Grundlage gemeinsamer Vorstellungen dis- bei denen bestehende Unklarheiten in der Auslegung des
kutiert hätten. Das hätte uns gestärkt, und das wäre unse- Gesetzes einfach zu groß sind. Zu nennen ist hier zum
rer Rolle und unseren Aufgaben gerecht geworden. Beispiel die Auslegung des § 5 Abs. 4 EUZBBG, in der
es um die Berichte aus der Euro-Gruppe geht. Die Bun-
Dr. Stefan Ruppert (FDP): Die Zusammenarbeit desregierung muss dem Bundestag auch die entspre-
von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in eu- chenden Dokumente aus den Sitzungen der Euro-Gruppe
ropäischen Angelegenheiten ist eine immer wichtiger weiterleiten, da sich die mündliche Unterrichtungs-
werdende Frage. Die Antwort auf diese Frage lautet pflicht nur auf Informationen über die Sitzung bezieht.
grundsätzlich, dass das Gleichgewicht zwischen Exeku- Daneben müssen wir auch auf die neuen zwischenstaatli-
tive und Legislative in der europäischen Politik gewahrt chen Vereinbarungen auf EU-Ebene reagieren und das
werden muss. Dies gilt vor allem in einer Zeit, in der EUZBBG entsprechend anpassen. Wichtig ist in diesem
sich die Europäische Union selbst stark wandelt. Die ge- Zusammenhang beispielsweise eine Erweiterung des
wohnte Tendenz der verstärkten Integration und Supra- Vorhabenkatalogs nach § 3 Abs. 1 EUZBBG. Dieser Ka-
nationalisierung wird zunehmend aufgebrochen. Zwi- talog ist zwar grundsätzlich nicht abschließend. Aller-
schenstaatliche Vereinbarungen – das haben nicht nur dings sollten hier im Sinne von Rechtsklarheit einige
der Rettungsschirm, sondern auch die jüngsten Gipfelbe- Entwicklungen gerade im intergouvernementalen Be-
schlüsse gezeigt – gewinnen immer stärker an Bedeu- reich stärker berücksichtigt werden. In der Summe spre-
tung. Aufgrund dieser Entwicklung ist es wichtig, dass chen wir Liberalen uns deshalb dafür aus, das EUZBBG
wir die Begleitgesetze, die die Zusammenarbeit von in einigen wenigen Punkten zu ändern. Wir laden auch
Exekutive und Legislative in EU-Fragen regeln, konti- die Oppositionsfraktionen zum gemeinsamen Dialog in
nuierlich evaluieren und anpassen. Denn eines ist klar: dieser Frage ein.
Der notwendige Spielraum für die Bundesregierung in
Angelegenheiten der Europäischen Union darf nicht so Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum vor-
groß werden, dass das Parlament in seinen grundsätzli- liegenden Antrag der Fraktion Die Linke. Ich sehe es
chen Mitwirkungs- und Kontrollrechten beschnitten grundsätzlich positiv, dass sich wichtige Punkte unseres
wird. Dies würde dem Demokratieprinzip widerspre- Antrags auch in ihrem Vorschlag widerspiegeln. Das
chen. zeigt mir, dass in den weiteren Beratungen in den Aus-
schüssen die Grundlage für einen gemeinsamen inter-
Der eigentliche Anknüpfungspunkt für die heutige fraktionellen Antrag besteht. Ein Zustandekommen
Debatte ist der sogenannte Monitoringbericht der Bun- würde ich sehr begrüßen, da die Mitwirkungs- und Kon-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17975
(A) trollrechte des Parlaments als Querschnittsaufgabe alle Märkte“. Und das griechische Drama geht ja weiter: Nun (C)
Fraktionen gleichermaßen betreffen. Zwei kritische An- soll auch noch der vereinbarte Termin von Neuwahlen
merkungen zum Antrag der Fraktion Die Linke möchte am 19. Februar 2012 verschoben werden, weil dies „die
ich dennoch machen. Erstens deute ich die Formulierun- Märkte beunruhigen könne“.
gen in ihrem Antrag so, als müsste die Bundesregierung
vor jeglichem Handeln auf europäischer Ebene verbind- Und auch die jüngsten Gipfelergebnisse der Bildung
lich und vollständig durch den Bundestag festgelegt wer- einer „Fiskalunion“ sind unter dem Demokratieaspekt
den. Eine solche Herangehensweise scheint in der Praxis höchst fragwürdig, und man wird sehen, ob sie vor dem
schwer umsetzbar. Ein gewisser Verhandlungsspielraum Bundesverfassungsgericht oder den demokratischen Er-
muss für die Bundesregierung in Angelegenheiten der rungenschaften anderer EU-Mitgliedsländer Bestand ha-
EU bestehen bleiben. Sonst wären Verhandlungen zwi- ben werden.
schen den Mitgliedstaaten wohl nur sehr schwer erfolg- Unter diesen Bedingungen sind die Beteiligungs-
reich abzuschließen. Wichtig ist jedoch, dass der Bun- rechte des Bundestages eben auch eine Errungenschaft,
destag umfassend und frühestmöglich über neue die den Interessen der Finanzindustrie nicht geopfert
Entwicklungen auf europäischer Ebene informiert wird. werden darf.
Nur so kann er mit einer Stellungnahme die grundle-
gende Richtung des Handelns der Bundesregierung fest- Der Bundestag ist jedoch bis heute nicht fähig, die eu-
legen. ropäische Politik der Regierung zu kontrollieren. Das
liegt aber weniger an dem Begleitgesetz oder der Regie-
Zweitens erwähnen Sie in Ihrem Antrag, dass direkt- rung, sondern am fehlenden politischen Willen der Ko-
demokratische Elemente wichtig zur Behebung des De- alition, aber auch der SPD und Grünen. Ihnen fehlt der
mokratiedefizits der EU sind. Dem stimme ich grund- politische Wille, diese Rechte wirklich umfänglich in
sätzlich zu. Wir sind mit der Einigung auf die Anspruch zu nehmen. Nicht die Regierung hält sich ein
europäische Bürgerinitiative in dieser Frage auch schon Parlament, sondern das Parlament bestimmt und kontrol-
einen Schritt weitergekommen. Ich glaube dennoch, dass liert die Regierung.
es gerade die nationalen Parlamente sind, die einen
wichtigen Beitrag zur Legitimität des europäischen Inte- Und mit diesem Antrag bezeugt die Koalition, dass
grationsprozesses leisten können und leisten müssen. sie nicht auf die Einhaltung der Rechte des Bundestages
besteht. Es grenzt ja schon an Realsatire, dass Sie in Ih-
Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir mit der heuti- rem Antrag von einer „weiteren Stärkung“ der Rechte
gen Debatte einen Prozess anstoßen können, an dessen des Parlaments schreiben. Man sollte sich das vor Augen
Ende die Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Bundes- führen: Wir erleben die massivste Entdemokratisierung
(B) tages in europäischen Angelegenheiten noch weiter ge- in der Geschichte der Europäischen Union, und den Ko- (D)
stärkt werden. Ich freue mich ebenso auf den weiteren alitionsfraktionen fällt nicht mehr ein, als die völlige
Dialog mit allen Fraktionen in dieser Frage. Missachtung der Rechte des Parlaments schönzureden.
Die Europapolitik der Bundeskanzlerin in der EU-
Andrej Hunko (DIE LINKE): Wir diskutieren heute Krise hat den Bundestag geradezu vorgeführt:
über die Mitwirkungsrechte des Bundestages in EU-An-
gelegenheiten, konkret über die Begleitgesetzgebung Mit dem großen Druck der Krise drückt Frau Merkel
zum Vertrag von Lissabon. Und da muss man daran erin- erst die angebliche Griechenlandhilfe, die in Wirklich-
nern, dass die in diesen Begleitgesetzen verankerten keit eine Bankenhilfe ist, durch – und präsentiert sie als
Mitwirkungsrechte erst nach Klagen vor dem Bundes- einmalige Ausnahme.
verfassungsgericht, an der wir als Linksfraktion einen Dann wird eine Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF,
großen Anteil hatten, ermöglicht wurden. eingerichtet, die aber ganz bestimmt nur eine temporäre
Wir reden also über die Frage der Demokratie in Eu- Konstruktion für die Euro-Krise darstellen solle. Und
ropa, und da sieht es gegenwärtig alles andere als gut wieder folgt die Parlamentsmehrheit brav.
aus: Darf ich daran erinnern, welcher Aufschrei quer Dann wird mit dem ESM eine ständige Institution ne-
durch die EU-Eliten ging, als ein griechischer Minister- ben der EU geschaffen. Diesen Vorgang hat der ehema-
präsident auf die Idee kam, seine Bevölkerung über eine lige belgische Premierminister und heutige Liberale im
weitreichende Entscheidung per Referendum abstimmen Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, zutreffend als
zu lassen? Papandreou wurde umgehend zum Rapport „Merkels Putsch gegen die EU“ bezeichnet.
bestellt und musste wenige Tage später zurücktreten.
Jetzt ist ein Banker Regierungschef, und Rechtspopulis- Da diese vom Bundestag so nicht geforderte Institu-
ten sitzen in der Regierung. tion nicht Teil der EU ist, kann die Bundesregierung be-
haupten und bis jetzt darauf bestehen, dass die Parla-
Ich kann hier nur Jürgen Habermas zustimmen, der mentsrechte nach dem Begleitgesetz nicht anwendbar
den Vorgang wie folgt beschreibt: „Die Hauptdarsteller seien. Denn diese Begleitgesetze beschränken sich auf
auf der Bühne der EU- und Euro-Krise, die seit 2008 an die EU – das gilt auch für die zukünftigen Entscheidun-
den Drähten der Finanzindustrie zappeln, plustern sich gen.
empört gegen einen Mitspieler auf, der es wagt, den
Schleier über dem Marionettencharakter ihrer Muskel- Ich gebe Ihnen dafür auch ein einfaches Beispiel,
spiele zu lüften.“ Der „zynische Sinn dieses griechischen liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, CSU und
Dramas“ enthülle „weniger Demokratie ist besser für die FDP: Gemäß Ihrem Antrag vom Februar fordert der
17976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Bundestag die Bundesregierung auf, dass der ESM alle higkeit, demokratischer Legitimation und Transparenz (C)
Maßnahmen nur einstimmig auslösen darf. Letztes Wo- einhergehen.“
chenende hat die Bundeskanzlerin nun das Gegenteil
durchgesetzt. Hatte sie dazu ein politisches Mandat des Wenn dieser Antrag angenommen wird, ist das eine
Bundestages, oder hat sie ihn vorher über die Gründe in- symbolische Kapitulation des Deutschen Bundestags vor
formiert, weshalb sie von seiner Forderung abgewichen der Exekutive.
ist? Oder wenigstens im Nachhinein? Ich fordere daher alle Kolleginnen und Kollegen auf:
Nehmen Sie Ihre Arbeit als Abgeordnete und Vertretung
Nein, das hat sie nicht – und sie sieht sich dazu auch
der Bevölkerung und der legislativen Gewalt ernst.
nicht verpflichtet!
Übernehmen Sie Verantwortung für eine demokratische
Dieses Parlament begleitet tatsächlich die angebliche Europäische Union, für die Rechte dieses Parlaments
Euro-Rettung – der Ort der politischen Willensbildung und nicht zuletzt für die Identität unserer Verfassung, die
liegt allerdings im Kanzleramt hinter verschlossenen Tü- sowohl die Demokratie als auch den Sozialstaat garan-
ren. Der Wille der Bundeskanzlerin wird in diesem Haus tiert!
erst nach der Verhandlung mit den anderen Regierungen Abschließend möchte ich noch einen Gedanken mit
und nach der Verkündung in der Presse nachvollzogen. Ihnen teilen, der vielleicht auch andere Parlamentarier
So hatte die Bundesregierung dem EU-Ausschuss vor interessieren könnte. Die absolute Konzentration der
dem entsprechenden Gipfel auch jede Information zum Exekutiven im ESM wie auch in der neuen Fiskalunion
Euro-Plus-Pakt verweigert. schließt die Parlamente von wichtigen Entscheidungen
aus, genau wie von den Entscheidungen im Europäi-
Das Problem wird insbesondere bei der jetzt geplan- schen Rat.
ten, sogenannten „Fiskalunion“ deutlich, die wiederum
außerhalb der Verträge eingerichtet werden soll. Dabei Vielleicht sollten wir daher die Bundesregierung für
wird nicht nur der Deutsche Bundestag, sondern auch die bevorstehende „Wahl“ auffordern, einen Kandidaten
das Europäische Parlament entmachtet, während die für den Präsidenten des Europäischen Rates vorzuschla-
Exekutiven – demokratisch nicht legitimiert und kontrol- gen, der die Rolle der Parlamente stärkt. Wie wäre es
liert – die Arbeits-, Sozial- und Haushaltspolitik steuern zum Beispiel mit dem nächsten Präsidenten des Europäi-
wollen. Doch was uns als gemeinsame Wirtschafts- und schen Parlaments?
Finanzpolitik verkauft werden soll, ist im Wesentlichen Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine mei-
eine Sanktionsunion – gerichtet gegen die Verlierer des ner letzten Reden hier im Bundestag hatte ich mit den
Euro. Worten abgeschlossen: Europa wird sozial sein, oder es
(B) (D)
wird nicht sein. Heute sage ich zum Abschluss: Europa
Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Krisenpolitik
wird demokratisch sein, oder es wird nicht sein.
zur Rettung des Euro beizutragen. Tatsächlich scheint
ihr Hauptinteresse aber darin zu liegen, die deutsche Do-
minanz in Europa weiter auszubauen. Was wir erleben, Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Et-
ist eine Übertragung der Schuldenbremse, der unsozia- was verwundert war ich doch, dass die Koalition dann
len Agenda 2010, der ganzen deutschen Austeritätslogik doch heute diesen Antrag vorlegt. Aber um es gleich
auf ganz Europa. Geopfert wird dabei das, was an De- vorweg zu sagen: Ich freue mich, dass es in den Reihen
mokratie noch übrig geblieben ist. der Koalition in der Frage der Mitwirkungsrechte des
Bundestages offenbar einen Paradigmenwechsel gibt.
Die Fiskalunion soll die politische und wirtschaftliche Auch wenn es bei Ihnen lange gedauert hat und sie im
Architektur Europas verändern – für die Lösung der Verfahren verpasst haben, von Anfang an einen inter-
Euro-Krise tut sie absolut nichts. So sind nur zwei Tage fraktionellen Weg zu suchen.
nach dem letzten und angeblich erfolgreichen Gipfel die
Zinsen für Italiens Anleihen auf ein Rekordhoch gestie- Der Bundestag muss sich entscheiden: Gestehen wir
gen. der Bundesregierung die Möglichkeit zu, das Parlament
in Angelegenheiten der Europäischen Union zu umge-
Das Problem dieser deutschen Transformation der EU hen? Oder pochen wir auf unser Recht, ohne Ausnahme
ist nicht die Gefahr einer Transferunion, wie sie manche in allen Angelegenheiten der Europäischen Union betei-
im Bundestag befürchten. Das Problem ist die Transition ligt zu werden? Die Koalition scheint sich offenbar jetzt
der parlamentarischen Demokratien in eine autoritäre für die zweite Möglichkeit zu entscheiden. Das begrüßen
Eurokratie, die nicht nur die parlamentarische Haus- wir. Wir haben nicht erst seit dieser Krise für stärkere
haltssouveränität aufhebt, sondern auch unsere Verfas- Mitwirkungsrechte des Bundestages gekämpft. Es freut
sungsidentität als Demokratie und Sozialstaat bedroht! mich, dass sie mit ihrem Antrag dieses Anliegen unter-
stützen wollen.
Dies verstößt so ziemlich gegen alle Prinzipien, die
das Bundesverfassungsgericht in seiner jahrelangen Warum aber heute und warum so spät? Der Monito-
Rechtsentwicklung formuliert hat. Das widerspricht üb- ringbericht liegt ja schon eine Weile vor. Warum nicht
rigens auch dem jüngsten CDU-Parteitagsbeschluss zu vor ein paar Wochen, als ihr Antrag schon einmal auf der
Europa, der unter anderem verkündet: „Jede Übertra- Tagesordnung stand und wieder abgesetzt wurde? Das
gung von zusätzlichen Kompetenzen an die Europäische war vor der mündlichen Verhandlung unserer Klage ge-
Union muss deshalb mit einem Mehr an Handlungsfä- gen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17977
(A) richt. Wollten Sie Ihrer Regierung nicht in den Rücken ja, dann muss die Bundesregierung umgehend eigeniniti- (C)
fallen? Und warum warten Sie jetzt nicht auf das Urteil ativ, frühestmöglich, fortlaufend und umfassend unter-
des Gerichts? Ist das vorauseilender Gehorsam? Verlas- richten und dürfen nicht – wie in der Vergangenheit – die
sen Sie jetzt das sinkende Schiff der falschen Rechtsauf- Parlamentsrechte mit Füßen treten.
fassung der Bundesregierung? Sei es drum: Wichtig und
richtig ist, dass Sie unsere Auffassung in diesen Fragen Zweitens. Eine Angelegenheit der EU entscheidet
teilen. sich nicht an der Frage, ob es sich um Gemeinschafts-
recht, eine intergouvernementale Vereinbarung oder ei-
Meine zweite Frage: Warum ein Antrag? Warum kein nen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Der Maßstab ist
Gesetzentwurf? Die im Antrag genannten Beispiele zei- das Grundgesetz. Erklären Sie den Bürgerinnen und
gen doch ganz klar: Die Bundesregierung versucht das Bürgern mal, warum es sich beim Euro-Rettungsschirm
EUZBBG in Fragen des Euro und der Euro-Rettung in nicht um eine Angelegenheit der EU handeln sollte? Für
ihrem Sinne auszulegen. Sie versucht, den Bundestag den ESM schaffen wir gerade eine gesetzliche Grund-
auch dort außen vor zu lassen, wo der aktuelle Gesetzes- lage in den europäischen Verträgen, in seinen Verfahren
text entsprechende Interpretationsspielräume lässt oder spielen EU-Organe wie die Europäische Kommission
sie bewusst mit Fehlinterpretationen arbeitet. Appelle oder die Europäische Zentralbank eine Schlüsselrolle,
sind gut, reichen aber nicht aus. Was wir brauchen ist ein mit dem ESM wollen wir Stabilität in der Euro-Zone
Änderungsgesetz. Wir müssen das EUZBBG an einigen schaffen. Wenn es hier nicht um eine Angelegenheit der
Stellen klarstellen und an anderen Stellen ändern und er- Europäische Union handelt, wo dann?
gänzen. Wir sind gerne bereit, in der Frage der Mitwir-
kungsrechte des Bundestages mitzuarbeiten und eine ge- Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen:
meinsame Lösung zu finden. Die Bereitschaft, das Laut § 10 des EUZBBG soll die Bundesregierung vor
EUZBBG zu ändern, muss aber die Grundlage dieser Initiativen zur Aufnahme von Verhandlungen zur Ände-
Zusammenarbeit sein. Wir wollen also nicht nur „be- rungen der vertraglichen Grundlage der EU Einverneh-
stehende Unklarheiten in der Auslegung des Gesetzes men mit dem Bundestag herstellen. Das ist beim ESM,
beseitigen“, sondern für Klarheit im Gesetz selbst sor- also bei der Ergänzung des Art. 136 des Vertrages über
gen. Das muss deutlich in Ihren Antrag rein. Kollege die Arbeitsweise der Europäischen Union, nicht passiert.
Ruppert, der diesen Antrag für die FDP mitgeschrieben Einvernehmen wurde erst hergestellt, als ein konkreter,
hat, wird heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgestimmter Vorschlag auf dem Tisch lag. Das hat mit
deutlicher: Ein Novellierung des EUZBBG sei nötig. Beteiligung des Bundestages wenig zu tun. Wir wollen
Schreiben Sie es nicht in der FAZ, schreiben Sie es in Ih- am Anfang des Prozesses unsere Vorstellung der Regie-
ren Antrag. rung mit auf den Weg geben und nicht erst am Ende vor
(B) der Wahl stehen: Friss oder stirb. (D)
Ich möchte aber auch zu den inhaltlichen Fragen und
zum Monitoringbericht selbst ein paar Dinge sagen. Der Zum Neuen fiskalpolitischen Pakt von letzter Woche
Monitoringbericht liegt uns seit April vor. Die Koali- ist bereits alles gesagt. Klar ist: Vertragsänderungen sind
tionsfraktionen müssen sich schon die Frage gefallen damit nicht vom Tisch. Sie stehen weiter auf der Tages-
lassen, warum sie erst jetzt auf diesen Bericht reagieren ordnung. Für Vertragsänderungen brauchen wir ein
und den Prozess im EU-Ausschuss immer wieder blo- demokratisches, transparentes und bürgerfreundliches
ckiert haben. Der Bericht stellt fest, dass zwei Jahre nach Verfahren, wir brauchen einen europäischen Konvent.
Inkrafttreten des EUZBB und des IntVG beide Gesetze Zusammen mit den Grünen im Europaparlament werden
gut und angemessen sind, aber in Punkten klargestellt wir im Februar einen solchen Dialog mit Vertreterinnen
und an neue Entwicklungen angepasst werden müssen. und Vertretern der Zivilgesellschaft proben und zeigen,
Diese Einschätzung teilen wir. Umso kritischer sehen wie richtige Mitwirkung und Beteiligung geht.
wir aber, dass der Bundesregierung noch immer der poli-
tische Wille fehlt, den Bundestag eigeninitiativ, frühest-
möglich, fortlaufend und umfassend zu unterrichten. Das Anlage 8
gilt insbesondere für die Einbindung dieses Hauses bei
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelegenheiten der Europäischen Union, die auf inter-
gouvernementaler Ebene geregelt werden. zur Beratung: Beschlussempfehlung und Be-
Ein Beispiel ist der Europäische Stabilisierungsme- richt zu dem Antrag: Widerruf der gemäß § 8
chanismus ESM. Die Bundesregierung ist hier der Mei- des Parlamentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zu-
nung, dass der ESM nicht unter das EUZBBG fällt. Die stimmungen zu den Anträgen der Bundesregie-
hanebüchene Begründung: Der Euro-Rettungsschirm sei rung vom 28. Januar 2011 und 23. März 2011 –
keine Angelegenheit der Europäischen Union, da es sich Bundeswehr aus Afghanistan abziehen (Tages-
um einen völkerrechtlichen Vertrag handele. Zu dieser ordnungspunkt 14)
Frage habe ich schon viel gesagt, und das Bundesverfas-
sungsgericht wird in Kürze dazu Stellung beziehen. Nur Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Ich weiß nicht, ob ei-
zwei Punkte: Erstens. Die Liste der Vorhaben im nige von Ihnen die Politiksatire „Der Krieg des Charlie
EUZBBG ist nicht abschließend. Sie ist bewusst offen Wilson“ mit Tom Hanks in der Hauptrolle gesehen ha-
für neue Entwicklungen. Entscheidend ist – und das ben, in dem es um den Krieg zwischen Mudschaheddin
müssen wir klarstellen –, ob es sich um eine Angelegen- und Russen in den 80er-Jahren in Afghanistan geht. In
heit der Europäischen Union handelt oder nicht. Wenn dem Film – der auf einer wahren Geschichte beruht – ge-
17978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) lingt es dem texanischen Kongressabgeordneten Charlie Gleiches gilt für die medizinische Grundversorgung: (C)
Wilson, das Budget für Operationen in Afghanistan von Sie ist – trotz aller Mängel – erstmals für ein Großteil
5 Millionen US-Dollar auf schließlich 500 Millionen der Bevölkerung zugänglich. Sogar im Bereich der Si-
US-Dollar zu verhundertfachen. Nach der Niederlage cherheit gibt es Fortschritte: Auch wenn es immer noch
der Russen versucht Wilson, 1 Million für den Aufbau in einige Regionen gibt, in denen die Sicherheitslage fragil
Afghanistan bewilligt zu bekommen. Das Geld wird ihm ist, so gingen die sogenannten sicherheitsrelevanten
vom Kongress jedoch verweigert. Die Begründung: Nie- Zwischenfälle im Zeitraum Juni bis Oktober 2011 im
mand interessiere sich für Schulen in dem fernen Land. Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 20 Prozent
Das Film endet mit einem Zitat von Charlie Wilson: zurück. Dieser Rückgang ist insofern besonders bemer-
„These things happened. They were glorious and they kenswert, da die internationalen und afghanischen Si-
changed the world … and then we messed up the end cherheitskräfte mit einer Stärke von insgesamt rund
game.“ Frei übersetzt: „Solche Dinge passieren. Sie wa- 440 000 Mann einen Höchststand erreichten. Sie operie-
ren großartig und haben die Welt verändert. Und dann ren weiter in der Fläche, und rein statistisch wäre daher
haben wir am Ende, als es darauf ankam, versagt.“ eine Zunahme von gewaltsamen Zwischenfällen zu er-
warten gewesen. Die über die Jahre zu beobachtende
Nun könnte man sagen: Hollywood ist eine Sache, die Korrelation zwischen Truppenaufwuchs und einem An-
Realität in Afghanistan eine ganz andere. Warum erzähle stieg der Zwischenfälle ist damit durchbrochen. Auch
ich das also? Zwar glaube ich nicht, dass die internatio- das sollten die Antragsteller von der Fraktion Die Linke
nale Staatengemeinschaft so blauäugig ist, diesen Fehler zur Kenntnis nehmen – denn im ihrem Antrag behaupten
zu wiederholen, das „Endspiel“ also komplett in den sie das Gegenteil.
Sand zu setzen. Auf der Bonn-II-Konferenz vor zehn Ta-
gen haben sich die Geber zu einem weiteren zivilen Auch die rege und engagierte afghanische Zivilgesell-
Engagement im Rahmen der Transformationsdekade schaft macht mir Mut. Zwei ihrer Vertreter haben im
Rahmen der jüngsten Bonn-Konferenz eine Vision der
von 2015 bis 2024 bekannt, Verpflichtungen, die in den
afghanischen Zivilgesellschaft für die Zukunft ihres
kommenden zwei Jahren konkretisiert werden müssen.
Landes präsentiert. Dabei standen vor allem der Aufbau
Dieses Zeichen war aus meiner Sicht absolut notwendig,
einer Infrastruktur für Transport, Energie, Trinkwasser
denn die Menschen in Afghanistan haben Sorge, dass die
und Bewässerung im Fokus, um dadurch eine Basis für
Taliban den Truppenabzug 2014 abwarten, um erneut langfristige Einkommens- und Beschäftigungsmöglich-
nach der Macht zu greifen. keiten in Landwirtschaft, Handel und Bewirtschaftung
Dennoch treibt mich die Sorge um, dass der eine oder der bisher weitgehend ungenutzten Bodenschätze zu er-
andere die Meinung vertreten könnte, dass 2014 der öffnen. Denn Afghanistan muss es schaffen, in der
(B)
Hauptteil der Arbeit getan sei und der Rest der Arbeit schwierigen Phase der Transition Wertschöpfung im ei- (D)
nunmehr von einigen Gutmenschen aus der NGO-Com- genen Land und dadurch Steueraufkommen zu generie-
munity übernommen werden kann. Dies wäre ein großer ren. Die Gehaltskosten der Sicherheitskräfte, Lehrer und
Verwaltungsmitarbeiter übersteigen zurzeit die Steuer-
Fehler! Wir dürfen uns nichts vormachen: 2014 markiert
einnahmen Afghanistans um ein Vielfaches. Daher muss
den Beginn des vielleicht sogar noch mühsameren Ab-
Afghanistan vor allem seine bedeutenden Rohstoffe zu-
schnitts unseres Afghanistan-Engagements: Friedenssi-
künftig besser nutzen. Dies bietet erhebliches Potenzial
cherung und nachhaltiger Wiederaufbau werden mehr
und soll Afghanistan langfristig unabhängiger von inter-
denn je im Vordergrund stehen, um eine tragfähige wirt- nationalen Geberzuwendungen machen. Die afghani-
schaftliche Entwicklung zu erreichen. Denn erst eine ei- schen Rohstoffvorkommen werden bisher aber kaum ge-
genständige wirtschaftliche Entwicklung wird der afgha- nutzt, weil Investoren vor der Bedrohungslage und
nischen Regierung die Anerkennung in der Bevölkerung mangelnden Rechtssicherheit in Afghanistan zurück-
schaffen, ohne die politische Stabilität unmöglich sein schrecken. Auch das gehört zu den Wahrheiten, wenn
wird. wir über Afghanistan diskutieren und sollte von den Kol-
Wie also fällt die Zwischenbilanz aus? Wir neigen in leginnen und Kollegen der Linken zur Kenntnis genom-
men werden. Denn: Die erheblichen wirtschaftlichen
Deutschland gerne dazu, Schwarz-Weiß-Bilder zu zeich-
und sozialen Fortschritte in Afghanistan seit 2001 sind
nen. Das ist gerade bei einem so schwierigen Thema wie
nur durch internationale Unterstützung und Sicherheits-
Afghanistan äußerst problematisch. Wenn wir uns die Si-
kräfte möglich geworden.
cherheitslage und das Erreichte im zivilen Bereich an-
schauen, so ist das Glas durchaus halb voll! Und darüber In diesem Zusammenhang müssen wir aber auch un-
sprechen wir zu wenig. Auf der Habenseite steht der ser Engagement und der internationalen Gemeinschaft
Ausbau der Bildungseinrichtungen für beide Geschlech- auf den Prüfstand stellen. Die Experten sind sich in einer
ter und alle Altersgruppen. Dies stellt eine absolut not- Frage einig: Die internationale Hilfe für Afghanistan
wendige Investition in die Zukunft Afghanistans dar. muss unter dem Stichwort „aid effectiveness“ besser ge-
Während der Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 nutzt werden, um die befürchteten wirtschaftlichen Aus-
wurde Frauen jede Bildung vorenthalten, Schulbildung wirkungen der Transition abzufedern. Besonders wirk-
konnte nur im Geheimen stattfinden. Zehn Jahre später sam wäre eine Steigerung der lokalen Wertschöpfung
stellen Mädchen heute rund ein Drittel der insgesamt der internationalen Transfers. Nach Schätzungen der
8 Millionen Schülerinnen und Schüler. Dies ist ein nicht Weltbank kommen weniger als 20 Prozent der von den
zu unterschätzender Erfolg. Gebern direkt umgesetzten Unterstützung im Sicher-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17979
(A) heitsbereich der afghanischen Volkswirtschaft zugute. Was würde denn passieren, wenn wir dem Antrag der (C)
Daher müssen wir unsere Unterstützung zielgerichteter Linkspartei stattgeben? Wir würden die bisher erreichten
einsetzen und die Entwicklung, dass die Ausgaben Fortschritte preisgeben, wir würden Elend, Hunger,
schneller als die Einnahmen wachsen, durchbrechen. Machtmissbrauch und Willkür wieder die Türe öffnen
und den Wunsch nach Frieden und Freiheit vor Ort mit
In dieser entscheidenden Phase den unverzüglichen den Füßen treten. Deutschland ist seiner Verantwortung
Abzug der Bundeswehr zu fordern, ist nicht nur naiv, vorbildlich gerecht geworden, nicht zuletzt bei der Af-
sondern vor allem verantwortungslos, da dadurch alles ghanistankonferenz am 5. Dezember 2011. Wir stehen
bisher Erreichte infrage gestellt wird. Die Übergabe der bis 2014 mit unseren Truppen der Demokratisierung zur
Verantwortung für die eigene Sicherheit kann nur dann Seite, weil wir an ein chancen- und zukunftsreiches Af-
erfolgen, wenn die afghanischen Sicherheitskräfte in der ghanistan für kommende Generationen glauben. Doch
Lage sind, ein sicheres Umfeld für die Menschen dieses auch darüber hinaus lassen wir das Land nicht im Stich,
Landes zu gewährleisten. So weit sind sie aber noch sondern wir haben unsere langfristige Unterstützung zu-
nicht. Daher würde ein sofortiger Abzug Menschenleben gesagt. Deutschland ist vor dem Hintergrund seiner
gefährden und nicht retten, wie der Antrag zynisch sug- Geschichte, aber auch mit dem gelebten Anspruch, Vor-
geriert. Wenn es im Antrag heißt, dass jeder weitere Tag reiter für Frieden und Stabilität zu sein, bei der Bevölke-
Krieg in Afghanistan Menschenleben und Gesundheit rung hoch anerkannt.
kostet, dann zeigt das ziemlich deutlich die krude Sicht-
weise der Linken auf die Realität, nämlich dass eben je- Die Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten wird
ner Einsatz auch vielen Menschen das Leben gerettet dort ebenso dankbar angenommen wie die der zivilen
hat. Und wenn die Vertreter der Linken den NGO-Ver- Kräfte. Die Menschen wissen, dass sie auf uns zählen
tretern beim zivilgesellschaftlichen Forum, das der Bon- können und dass Deutschland zu seiner Verantwortung
ner Afghanistan-Konferenz vorgeschaltet war, zugehört steht. Das alles blendet die Linke aus, wenn sie auf dem
hätten, dann wüssten sie, dass deren größte Sorge ist, Rücken von Frieden und Freiheit Politik gegen Humani-
was kommt, wenn 2014 die internationalen Truppen aus tät und Chancengleichheit macht, nur weil es ihr innen-
Afghanistan abziehen. Insofern bin ich fast schon er- politisch zur Besänftigung der eigenen Klientel geboten
leichtert, dass alle Fraktionen im Bundestag außer den scheint.
Linken diese zynische und realitätsferne Sichtweise auf
Afghanistan ablehnen und gegen den Antrag stimmen. Gerade jetzt vor Weihnachten darf die Politik nicht
mit Ängsten spielen. Wir dürfen bei der afghanischen
Bevölkerung keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie
Florian Hahn (CDU/CSU): Der Antrag der Links- auf uns und unsere Truppen zählen kann. Parallel dürfen
partei zeigt nicht nur, wie verbohrt die Genossinnen und wir bei den Familien und Freunden unserer Soldatinnen (D)
(B)
Genossen ihren parteipolitischen Zielsetzungen nachja- und Soldaten nicht den Eindruck erwecken, diese ge-
gen, sondern gleichzeitig offenbart er auch den in ihren fährliche Mission wäre gar überflüssig. Der Antrag der
Reihen eingetretenen Verlust von Realitätssinn und ein Linkspartei streut all denen Sand in die Augen, die in
mangelndes, vielleicht sogar nicht einmal mehr vorhan- großer Sorge um ihre Männer und Frauen, Brüder und
denes Verantwortungsbewusstsein für unser Land. Keine Schwestern oder Kinder im Einsatz sind. Die Linkspartei
Sekunde denken Sie offenbar an die Folgen ihres Han- diskreditiert damit die großen Leistungen, die unsere
delns, wenn Sie so einen Antrag stellen. Es ist allgemein Soldatinnen und Soldaten vor Ort erbringen und auf die
bekannt, dass die Abgeordneten der Linkspartei den Ab- sie stolz sein können. Wir im Hohen Haus wollen und
zug aus Afghanistan wie ein Mantra vor sich hertragen. werden das weiter anerkennen. Wir werden mit den uns
Dies ist nicht neu. Dass Ihre Fraktion dabei aber jede anvertrauten Menschen und ihren Sorgen verantwor-
langfristige Folgenbetrachtung außen vor lässt, ist abso- tungsvoll umgehen und klarmachen, dass wir hinter ih-
lut fahrlässig. Ihr Handeln schadet einem Land, seinen nen stehen. Diesen Anspruch der Koalition verbinde ich
Menschen und den internationalen Verbündeten. Die Be- mit dem Dank an alle, die in Afghanistan ihren Dienst
gründung Ihres Antrags ist keine Sachverhaltsdarstel- tun, und wünsche ihnen und ihren Familien alles Gute,
lung, sondern eine Aneinanderreihung von Textbaustei- ein frohes Weihnachtsfest und Gottes Segen für das neue
nen aus Ihrem Parteiprogramm. Ihr Antrag wird damit in Jahr.
keiner Weise der realen Situation in Afghanistan gerecht.
Ich war seit 2009 zweimal selbst vor Ort, um mir ein Lars Klingbeil (SPD): Lassen Sie mich ein paar per-
Bild von der Lage machen zu können. Ich treffe meine sönliche Worte sagen, bevor ich auf den Antrag der Lin-
Entscheidungen nämlich gerne nach Faktenlage, nicht ken eingehe. In der letzten Woche war ich in Afghanis-
nach parteipolitischem Wunschdenken. Ich habe gese- tan. Ich habe dort die Soldatinnen und Soldaten aus
hen, dass wir in Afghanistan in den letzten zehn Jahren meinem Wahlkreis besucht. Was die Frauen und Männer
viele wichtige Erfolge erzielen konnten. Auf diesen Er- dort jeden Tag leisten, verdient unseren höchsten Re-
folg können wir in der internationalen Gemeinschaft spekt. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Es ist
stolz sein. Und ich gebe natürlich dazu, dass vieles noch die Aufgabe von uns Abgeordneten, dafür zu sorgen,
im Argen liegt. Aber genau deswegen dürfen wir jetzt dass unsere Bevölkerung versteht, was die Soldatinnen
nicht überstürzt aus Afghanistan abziehen. All unsere und Soldaten in Afghanistan machen. Bei meinem Be-
Erfolge, all unsere Investitionen, als unsere Bemühun- such war ich beeindruckt von der hohen Motivation und
gen wären verloren und das Land dem Untergang, sprich von der Selbstverständlichkeit, mit der unsere Soldatin-
der Machtübernahme der Taliban, ausgeliefert. nen und Soldaten dort ihren Dienst leisten. Diesem gro-
17980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) ßen persönlichen Einsatz gebührt unsere vollste Aner- sen, die Menschen in Afghanistan einfach vom einen auf (C)
kennung. den anderen Tag im Stich lassen. Das kann doch nicht
Ihr Ernst sein, meine lieben Kollegen und Kolleginnen
Der Antrag der Linken ist populistisch. Wir können von der Linken.
die Bundeswehr nicht von heute auf morgen aus Afgha-
nistan abziehen. Wir haben der afghanischen Bevölke- Wollen Sie wirklich die Erfolge der letzten Jahre zu-
rung unser Wort gegeben, und wir haben Verpflichtun- nichtemachen? Wollen Sie, dass Chaos ausbricht wegen
gen gegenüber unseren internationalen Partnern. Aber dieser Kurzschlusshandlung?
was viel wichtiger ist und was der Fortschrittsbericht
Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es in kei-
Afghanistan bestätigt, ist, dass der Trend der Verschlech-
nem Fall um einen direkten Abzug aller Soldatinnen und
terung der Sicherheitslage in Afghanistan durchbrochen
Soldaten gehen darf. Das ist keine ernsthafte Option.
ist. Von einer stabilen Lage kann sicherlich trotzdem
Denn ein sofortiger Abzug wäre sehr unklug.
noch nicht die Rede sein, aber die Entwicklung des letz-
ten Jahres gibt Hoffnung. Von allen Seiten wurde mir bestätigt, dass ein kopflo-
ser Abzug unserer Soldaten unsere bisherigen Erfolge
Zusammen mit unseren Partnern haben wir uns das vernichten würde und für viele Menschen vor Ort eine
Ziel gesetzt, dass von Afghanistan nie wieder eine Ge- Katastrophe wäre.
fahr für die Welt ausgehen darf. Die Afghanen müssen
wieder selbst entscheiden können, wie sie ihre Gesell- Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt – und
schaft und ihren Staat gestalten wollen. Wenn wir heute auch in Zukunft geben wird –, trägt die aktuelle Strategie
die Truppen abziehen würden, bestünde die realistische zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation im
Gefahr, dass die Taliban das Land wieder übernehmen. Land bei.
Dies würde zum einen für die afghanische Bevölkerung
Wir sehen: Insgesamt hat sich seit 2001 etwas Positi-
eine Rückkehr in mittelalterliche Verhältnisse bedeuten;
ves in Afghanistan getan. Daher stehen wir jetzt vor der
zum anderen würde der internationale Terrorismus wie-
guten Aussicht auf den Abzug der militärischen Hilfe.
der einen sicheren Ausgangspunkt finden.
Ungeduld zahlt sich jedoch nicht aus.
Es ist unser Ziel, zusammen mit unseren Partnern den Zum ersten Mal nach zehn Jahren Einsatz lässt die Si-
Militäreinsatz im Jahr 2014 zu beenden. Mit dieser Pla- cherheitslage einen schrittweisen Abzug der internatio-
nung signalisieren wir dem afghanischen Volk: Wir las- nalen Truppen zu. Damit beginnen wir direkt 2012 und
sen euch nicht allein! Aber wir werden auch nicht für werden diese Entwicklung bis 2014 fortsetzen.
immer hier sein. Es ist also an der Zeit, dass ihr Verant-
wortung übernehmt. Deutschland steht jetzt und auch in Zukunft an der
(B) Seite der afghanischen Bevölkerung. (D)
Dies funktioniert bisher recht gut. Schrittweise haben
die afghanischen Sicherheitskräfte in einem Drittel des Vergangenes Wochenende nahm ich in Bonn am Zi-
Landes die Sicherheitsverantwortung übernommen. Nun vilgesellschaftlichen Forum Afghanistan teil. So konnte
gilt es diese Entwicklung zu stabilisieren und nachhaltig, ich zwei Tage vor der Außenministerkonferenz auf dem
zusammen mit dem afghanischen Volk und unseren Part- Petersberg mit Vertreterinnen und Vertretern der afgha-
nern, zu gestalten. nischen Zivilgesellschaft diskutieren. Zum großen Teil
leidenschaftlich stellten sie mir ihre Vorschläge zur Zu-
Auch wenn wir nun langsam beginnen, den Abzug zu kunft Afghanistans vor.
planen, dürfen wir eins nie vergessen: Priorität muss im-
mer die Ausrüstung und die Ausbildung unserer Solda- In einem intensiven landesweiten Abstimmungs- und
tinnen und Soldaten haben. Daher möchte ich hier auch Beratungsprozess hatten vorher zahlreiche NGO und
noch einmal auf die Hubschraubersituation im Norden Vertreter der Zivilgesellschaft eigene politische Vor-
Afghanistans eingehen. Bisher standen uns unsere ame- schläge erarbeitet. Ich bin dankbar dafür, dass es mög-
rikanischen Freunde hilfreich zur Seite, wenn es um den lich war, dass sie diese Empfehlungen in Bonn präsentie-
Transport oder die Evakuierung durch Hubschrauber ren konnten.
ging. Der Abzug eines Teils der amerikanischen Truppe In diesem Bereich steht uns noch viel Arbeit bevor,
stellt diese Unterstützung aber nun infrage. Das Verteidi- die wir mit den Afghanen zusammen angehen müssen
gungsministerium muss daher nun dringend alle nötigen und werden. Wir müssen weiter erklären, wie wir die Zi-
Schritte unternehmen, damit im Notfall die Evakuierung vilgesellschaft von morgen in Afghanistan konkret un-
unser Soldatinnen und Soldaten gewährleistet ist. terstützen können!
Allein auf dem Gebiet der Frauenrechte gibt es bereits
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Zum zweiten Mal an enorme Erfolge, die mit einem Schlag vernichtet wür-
diesem Tag diskutieren wir über Afghanistan, über die den, wenn wir unsere Truppen sofort sämtlich abziehen
Zukunft des Landes und über die vorgeschlagenen würden. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Handlungsmöglichkeiten. In dem vorliegenden Antrag
der Linken wird vorgeschlagen, Soldatinnen und Solda- Das ist nur ein Beispiel von vielen. In Afghanistan
ten sofort aus Afghanistan abzuziehen. Das würde be- entwickelt sich gerade eine kraftvolle Zivilgesellschaft.
deuten: Wenn wir heute diesem Antrag zustimmen, zie- Dies wurde mir auch auf der Afghanistan-Konferenz in
hen morgen deutsche Soldaten aus Afghanistan ab. Bonn bestätigt. Jetzt muss Afghanistan selbst aktiv wer-
Schon morgen würden wir alles stehen und liegen las- den. Zusagen der internationalen Gemeinschaft müssen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17981
(A) daher mit verstärkten Forderungen nach Bekämpfung Die andauernde Präsenz ausländischer Truppen ist (C)
von Drogenhandel und Korruption sowie nach Stärkung mehr und mehr Teil des Problems und weniger die Lö-
der Menschenrechte verbunden werden. sung. Darauf verweisen auch Teile der afghanischen Zi-
vilgesellschaft. Auf die Verletzungen von humanitärem
Ich möchte noch einmal versichern, dass sich und Kriegsvölkerrecht wurde schon verwiesen.
Deutschland auch nach dem Abzug der militärischen
Hilfe weiter am zivilen Wiederaufbau Afghanistans be- Der Afghanistan-Krieg ist der längste deutsche
teiligen wird. Kriegseinsatz. Er hat sich von seinem Ursprung, der Re-
aktion auf die Terroranschläge von 9/11, längst gelöst,
Bei den Entscheidungen über die Zukunft des deut- und die immer wieder vorgegebenen Ziele lassen sich
schen militärischen Engagements in Afghanistan geht es nicht mehr erreichen.
nicht um Tage, sondern es geht um wichtige Weichen-
Wir wissen auch, dass durch den Abzug der Bundes-
stellungen für die Zukunft. Entscheidend ist die Frage, wehr allein kein friedliches Afghanistan entsteht. Aber
wie das Afghanistan von morgen aussehen kann. wir sind uns sicher: Ohne ihn endet der Krieg nie.
Statt hier mit wüsten Abzugsplänen um uns zu wer- Natürlich muss so ein Abzug geordnet und verant-
fen, sollten wir daher lieber erklären, wie wir die Zivil- wortungsbewusst erfolgen, aber er darf auch nicht mit
gesellschaft von morgen in Afghanistan konkret unter- unerfüllbaren Kriterien bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
stützen können. Die Zivilgesellschaft ist die Zukunft verschoben werden. Genau das steht nach den Anträgen
Afghanistans. der Bundesregierung zu befürchten. Wenn Verteidi-
gungsminister de Maizière in der Debatte heute Vormit-
Stefan Liebich (DIE LINKE): Die Bundeswehr ist tag betont, dass der Abzug nur in dem Maße erfolgen
eine Parlamentsarmee. So kontrovers unsere Debatten zu kann, wie die Soldaten nicht gefährdet werden, halte ich
Auslandseinsätzen auch sind – der intensive öffentliche dem entgegen, dass die Soldatinnen und Soldaten in
Diskurs über den Einsatz der Bundeswehr in diesem Par- Deutschland am sichersten wären.
lament ist eine demokratische Errungenschaft. Übrigens Natürlich muss das zivile Engagement in Afghanistan
ist dies auch eine Errungenschaft, die es unter kompli- weitergehen und sogar verstärkt werden. Aber die Bun-
zierteren Bedingungen des Agierens in Bündnissen oder deswehr sollte dabei keine Rolle mehr spielen. Einige
im Rahmen der Gemeinsamen Außenpolitik der Euro- andere Staaten sind schon gegangen, andere planen den
päischen Union zu erhalten gilt, selbst wenn andere Län- Abzug. Dem kann auch Deutschland Rechnung tragen.
der diese Tradition des Parlamentsvorbehalts nicht ken- Die Bundeswehrtruppen sollten in diesem Prozess nicht
nen. die letzten sein. Unser Rückholantrag ist daher die fried- (D)
(B)
liche Alternative zur Mandatsverlängerung der Bundes-
Der Bundestag hat sich hierfür 2005 ein Instrument regierung.
geschaffen: das Gesetz über die parlamentarische Betei-
ligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffne- Der BundeswehrVerband und der von Herrn Robbe
ter Streitkräfte im Ausland. Das Parlamentsbeteiligungs- moderierte Runde Tisch haben uns zu Weihnachtsgrüßen
gesetz enthält einen § 8. Dort heißt es: „Der Bundestag an die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan eingela-
kann die Zustimmung zu einem Einsatz bewaffneter den. Viele von ihnen stellen sich gerade in diesen Tagen
Streitkräfte widerrufen.“ Das Rückholrecht des Parla- die Sinnfrage über das, was sie dort in unserem Auftrag
mentes ist ein politisch schwerwiegendes und zentrales tun. Mein Wunsch wäre daher: Feiert Weihnachten da-
Recht des Parlaments und begrenzt die Handlungsmög- heim! Dem soll unser Rückholantrag dienen.
lichkeit der Regierung. Wenn sich die Regierung in einer
Sackgasse befindet, dann kann das Parlament für eine Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch
Umkehr sorgen. dieses Jahr werde ich der Beteiligung Deutschlands am
Einsatz in Afghanistan zustimmen, auch wenn, wie jedes
Darum geht es uns heute. Unsere Fraktion möchte Jahr, ich damit anders abstimme als die Mehrheit meiner
dieses parlamentarische Recht nun erstmalig in An- Fraktion. Denn der Einsatz in Afghanistan war 2001
spruch nehmen, um einen Beitrag zum Frieden zu leisten richtig, und er ist heute richtig, und zwar aus vier Grün-
und um unsere Soldatinnen und Soldaten nach einem den:
viel zu langen Einsatz wieder nach Hause zu holen.
1. Wer eine multilaterale Außenpolitik will, kann sich
Heute morgen wurde schon mit Blick auf das lau- einem Einsatz mit UN- und NATO-Mandat nicht entzie-
fende und von der Regierung zur Verlängerung vorge- hen. Deutschland ist ein aktives und verantwortungsvol-
schlagene Mandat für den Afghanistan-Einsatz inhaltlich les Mitglied der VN, der NATO und der EU und darf
argumentiert. Außenminister Westerwelle sagte, die sich nicht isolieren.
Fortsetzung des Krieges sei nötig für die Kinder in Af-
2. Kein Land darf Hinterland und sicherer Hafen für
ghanistan, aber auch für unsere eigene Sicherheit hier in
internationale Terroristen sein. Insofern und nur insofern
Deutschland. Wir bestreiten das. Die Strategie der US-
geht es in Afghanistan auch um unsere Sicherheit.
Armee der Bekämpfung von Aufständen verbunden mit
gezielten Tötungen führt nicht zu mehr Sicherheit oder 3. Die Afghanen waren Opfer eines unerträglichen
zu besseren Voraussetzungen für die Übergabe in Ver- Terrorregimes und haben um unsere Hilfe nach 30 Jah-
antwortung. Im Gegenteil! ren Krieg und Bürgerkrieg gebeten. Gerade die Zivilge-
17982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Der Gesetzentwurf der Grünen schadet nicht nur der perspektiven der Nachwuchswissenschaftler habe ich (C)
hohen Reputation unserer akademischen Abschlüsse, bereits erwähnt. Es ist aber nicht zu vergessen, dass die
sondern er beschädigt auch die Ehre unserer Wissen- Hauptzuständigkeit für die Qualitätssicherung der Pro-
schaftlerinnen und Wissenschaftler. Für uns Wissen- motion bei den Hochschulen liegt.
schaftler ist das Streben nach Wissen Anreiz und nicht
die Steigerung gesellschaftlicher Reputation. Die hohe Lassen Sie mich am Ende der Rede auf Österreich bli-
gesellschaftliche Reputation des Doktortitels ist faktisch cken. Hier kann man nicht nur den Doktorgrad in ein
Nebenwirkung der hohen wissenschaftlichen Reputation amtliches Dokument eintragen lassen, sondern auch aka-
unserer Abschlüsse. In Deutschland steht der Doktortitel demische Titel wie Magister oder Dipl.-Ing. Keiner
eben nicht nur für wissenschaftliche Qualifikation, son- käme hier auf die Idee, diese Titel zu diskreditieren.
dern auch für eine ausgezeichnete Allgemeinbildung. Vielmehr sind unsere Landsleute in Österreich stolz auf
Dies zeigt die richtige Verankerung unserer Wissen- weiterführende Bildung. Wir sollten auch stolz auf die
schaftler in der Gesellschaft. gute Reputation unserer akademischen Grade sein und
nicht der Phrase der Grünen folgen, die uns eine gesell-
Der akademische Doktorgrad ist ob der hohen Quali- schaftliche Überhöhung der Doktorgrades unterstellen.
tätsanforderung eben nicht nur akademisches Merkmal, Dies ist unredlich, unrichtig und beschädigt die akade-
sondern auch ehrenvolle Kennzeichnung einer Person. mische Kultur in der Bildungsrepublik Deutschland.
Eine Doktorprüfung ist immer verbunden mit einem Ri-
gorosum oder Disputation. Hierbei muss der Doktorand
eben auch fachfremde Kenntnis darlegen. Das ist auch Gabriele Fograscher (SPD): Wir beraten heute in
Grund für die hohe Reputation dieses Titels. erster Lesung einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen, der zum Ziel hat, den Doktorgrad aus allen Per-
Die überwältigende Mehrheit der Doktoranden in sonaldokumenten zu streichen. Wir halten dieses Vorha-
Deutschland promoviert aus akademischen Gründen und ben für richtig; denn nach der Rechtsprechung des Bun-
nicht aus Statuserwägungen. Eine große Gruppe wird desgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ist
durch den Gesetzentwurf für die Verfehlungen Einzelner der Doktortitel ein akademischer Grad und kein Na-
in Haftung genommen. Aber auch die kleine Gruppe der menszusatz oder Namensbestandteil. Er ist auch der ein-
Doktoranden, die angeblich lediglich aus Statusgründen zige akademische Titel, der in den Personalausweis oder
promoviert, wird sich von einer Streichung des Doktor- Reisepass eingetragen werden kann. Diese Regelung
grades aus dem Personalausweis und dem Reisepass gibt es sonst nur in Österreich und Tschechien. In allen
nicht von der Promotion abbringen lassen. Die Strei- anderen Ländern der Welt ist diese Regelung unüblich.
chung des Doktorgrades greift somit viel zu kurz, um zu
(B) einem Mentalitätswandel in dieser kleinen Gruppe bei- Das Anliegen, den Doktortitel aus dem Personalaus- (D)
zutragen, und versucht, der überwältigenden Mehrheit weis, dem Reisepass und anderen Dokumenten zu strei-
der Doktoranden, die aus wissenschaftlichen oder beruf- chen, ist nicht neu. In der vergangenen Legislaturperiode
lichen Erwägungen heraus promovieren, das Recht zu hatte die Große Koalition im Zusammenhang mit der
nehmen, ihren Titel so wie bisher freiwillig eintragen zu Einführung biometrischer Daten in Pass und Reisedoku-
lassen und sich für ihre jahrelange Mühe zu belohnen. mente eine entsprechende Regelung in einem Gesetzent-
Die im Zuge der Plagiatsfälle zutagegetretenen Pro- wurf mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Än-
bleme bei der Qualitätssicherung der Promotion werden derung des Passgesetzes und weiterer Vorschriften“
durch die vorgeschlagene Gesetzesänderung nicht ein- (Bundestagsdrucksache 16/4138) eingebracht. Darin
mal ansatzweise gelöst. Vielmehr wird die junge Gene- hieß es: „Zum anderen sind die Pass-, Personalausweis-
ration von Doktoranden bewusst schlechter gestellt. Es und Meldebehörden dadurch zu entlasten, dass die Ein-
ist ein Zeichen von Aktionismus und ein reiner Schau- tragung eines Doktorgrades sowie Ordens- und Künst-
fensterantrag und verdient damit abgelehnt zu werden. lernamens in den Pass und in den Personalausweis sowie
in die jeweiligen Register, einschließlich des Melde-
Vielmehr sind – wie in der Begründung des Gesetz- registers, abgeschafft werden.“
entwurfs (auf Seite 8) richtigerweise bemerkt wird – tief-
greifendere Veränderungen im Wissenschaftsbereich Diese Regelung ist auf Wunsch des Bundesrates aus
notwendig. Seit den Plagiatsfällen haben die Wissen- dem Gesetzentwurf herausgenommen worden. Im In-
schaftsorganisationen und die Politik sehr viel zur nenausschuss des Bundesrates hatten Bayern und Thü-
Qualitätssicherung der Promotion unternommen, insbe- ringen beantragt, den Doktortitel weiterhin in die Perso-
sondere: Positionspapier des Wissenschaftsrats vom naldokumente eintragen zu lassen. Dieser Antrag ist mit
11. November 2011, in Rekordzeit vorgelegt, zu den der Mehrheit der Länder abgelehnt worden. Im Plenum
Kerninhalten verweise ich auf dieses Papier, die Anhö- des Bundesrates haben sich die Länder dann allerdings
rung im Ausschuss für BuF zur Qualität wissenschaftli- doch für die Beibehaltung der Eintragung des Doktor-
cher Arbeiten vom 29. November 2011, zu den Ergeb- grades in die Personaldokumente ausgesprochen. Die-
nissen verweise ich auf die Protokolle, wobei sem Anliegen ist der Deutsche Bundestag gefolgt. Aus
ausdrücklich die hier vorgeschlagene Maßnahme nicht „Rücksicht auf die deutschsprachige Kulturtradition“, so
benannt wird, weitere Maßnahmen des BMBF und der heißt es in der Beschlussempfehlung des Innenausschus-
Allianz der Wissenschaftsorganisationen wie den Om- ses des Bundestages (Bundestagsdrucksache 16/5445),
budsmann der DFG. Den geplanten Antrag der CDU/ wurde entschieden, die jahrzehntelange Praxis beizube-
CSU-Bundestagsfraktion zur Verbesserung der Karriere- halten.
17984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) Von jahrzehntelanger Tradition kann aber nicht die gangenheit immer wieder „nicht als Nachweis wissen- (C)
Rede sein; denn es ist erst seit 1988 möglich, den Dok- schaftlicher Qualifikation“ erlangt wird, sondern von
tortitel als einzigen akademischen Grad in die Doku- den Inhabern des akademischen Grades genutzt wird,
mente eintragen zu lassen. Wäre der damalige Innen- ihre gesellschaftliche Reputation zu verbessern. Was
minister Schäuble und die CDU/CSU bei ihrer Haltung, bitte hat diese These mit dem Personenstandsrecht und
die im Gesetzentwurf formuliert wurde, geblieben, den damit verbundenen Verfahrensfragen zu tun? Wenn
müssten wir heute nicht erneut über dieses Thema disku- Sie eine gesellschaftliche Debatte über die Rolle und die
tieren. Bedeutung akademischer Abschlüsse führen wollen,
dann sollten Sie diese Debatte mit und in der Gesell-
Für die Behörden bedeutet die derzeitige Regelung ei-
schaft führen und nicht durch irgendwelche Fragen zum
nen hohen bürokratischen Aufwand, vor allem bei der
Passgesetz.
Anerkennung ausländischer Promotionen.
Die Eintragung widerspricht auch internationalen Ge- Dass Sie – wenn Sie schon die Verwendung von Dok-
pflogenheiten. Derartige Eintragungen sind weder Stan- tortiteln im gesellschaftlichen Kontext austreten – natür-
dard für maschinenlesbare Reisedokumente noch ent- lich das Wort „Plagiat“ einbringen, überrascht dann auch
spricht es den Vorgaben für eine einheitliche Gestaltung nicht mehr, und dass das Thema „Plagiate“ fast eine
der Pässe innerhalb der Europäischen Union. halbe Seite Ihres Antrages in Anspruch nimmt, entlarvt
Sie. Die Frage, was mit Leuten passiert, die unrechtmä-
Der Doktortitel führt auch zu Verwirrungen im Reise- ßig einen akademischen Titel führen oder diesen rechts-
verkehr und bei Grenzkontrollen. Oftmals werden die widrig erwerben, ist im Strafgesetzbuch geregelt. Mit
Buchstaben „DR“ für die Anfangsbuchstaben des Fami- dem Personenstandsrecht hat dies nichts zu tun. Überlas-
liennamens gehalten. sen Sie die Verfolgung von Urkundenfälschern und
Schummlern der Justiz.
Das alles sind gute Argumente für die Streichung des
Doktortitels aus dem Pass. Wir als SPD-Bundestagsfrak- Glauben Sie ernsthaft, dass die Leute, auf die Sie hier
tion werden dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die anspielen, ihren Personalausweis vorlegen, wenn Sie ih-
Grünen zustimmen. ren Titel zu Markte tragen? Nein, das kann nicht Ihr
Ernst sein. Hier geht es um die Frage, ob Persönlich-
Manuel Höferlin (FDP): Der Antrag der Grünen keitsrechte gewahrt bleiben, ob Informationen nützlich
greift eine Frage auf, die bereits vor vier Jahren disku- sind zur Feststellung der Identität einer Person, und da-
tiert wurde, nämlich die, ob ein Doktorgrad in ein Aus- rum, wie wir Verfahren gestalten, die möglichst effizient
weisdokument gehören sollte – eine Frage, die durchaus und unbürokratisch sind. Sehr geehrte Damen und Her-
(B) kritische Würdigung verdient. Doch halte ich die ren, den Antrag der Grünen lehne ich ab. Der Doktor- (D)
Gründe, mit denen die Grünen hier versuchen, ihrem grad ist eine zusätzliche Information, die bei der Fest-
Antrag Gewicht zu verleihen, für falsch. stellung der Identität einer Person hilfreich ist – nicht
mehr und nicht weniger. Ihn ohne Not aus Ausweisdoku-
So schreiben Sie von einer Verknüpfung des Doktor- menten zu tilgen, halte ich aus diesem Grund für falsch –
grades mit dem Nachnamen, obwohl dieser nicht Be- erst recht, wenn die Begründung so aussieht, wie bei Ih-
standteil des Namens sei. So weit, so gut. Auch mir sind nen. Sie wären gut beraten, diesen Antrag zurückzuzie-
die einschlägigen Gerichtsurteile dazu bekannt. Doktor- hen.
titel und Name haben nichts miteinander zu tun.
Doch gerade in diesem Licht erscheint mir Ihre Pro- Nicole Gohlke (DIE LINKE): So wie die Klimafor-
blematisierung, liebe Kolleginnen und Kollegen der scher die verschiedenen Schichten des arktischen Eises
Grünen, völlig widersinnig. Wieso soll der Doktorgrad untersuchen und darin die Zusammensetzung der Luft
das Risiko der Verwechselungsgefahr oder einer falschen aus verschiedenen Zeitaltern analysieren, so lassen sich
Identifizierung erhöhen? Der Doktorgrad als zusätzliche auch im deutschen Wissenschaftssystem Spuren seiner
Information in offiziellen Dokumenten reduziert doch ge-
jahrhundertealten Geschichte finden. Trotz vielfältiger
nau dieses Risiko. Ihre Aussage ist widersprüchlich,
Reformbemühungen hat das Beharrungsvermögen der
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Und
Akademia doch erstaunliche Reliquien aus grauer Vor-
dann schreiben Sie als Erläuterung zu dieser Behauptung
zeit konserviert. Dazu gehört etwa die Verbeamtung von
– ich zitiere –: „Die Praxis der Eintragung […] sorgt für
Hochschullehrerinnen und -lehrern, denen Verfassungs-
Verwirrung, wenn zum Beispiel die Buchstaben ,Dr.‘ für
gerichte trotz ihres ständig schrumpfenden Anteils am
die Anfangsbuchstaben des Familiennamens gehalten
Gesamtsystem nach wie vor zuschreiben, alleinige Trä-
werden“. Das ist grober Unfug, den Sie da zusammen-
ger der Wissenschaftsfreiheit zu sein. Auch das Organi-
schreiben. Oder können Sie diese Hypothese etwa mit
sationsprinzip „Lehrstuhl“ samt abhängiger Schar von
Beispielen unterlegen? Ich habe den Eindruck, Sie ver-
suchen hier einen Sachverhalt zu konstruieren. Das Assistentinnen und Assistenten, die auf befristeten Stel-
Ganze wirkt für mich wie der Witz mit dem Kollegen len bis in ihre 50er-Lebensjahre hinein als „Nachwuchs“
„Übertrag“. bezeichnet werden, kann nicht als zeitgemäß gelten. Und
zur historischen Überlieferung gehört auch der Status
Aber damit ist leider noch nicht das Ende Ihrer Aus- von Privatdozenten und -dozentinnen, die schon lange
führungen erreicht. So problematisieren Sie in Ihrem nicht mehr von Hörergeldern leben, oder die „Vorle-
Antrag, dass der Doktorgrad angeblich in jüngster Ver- sung“ als Lehrveranstaltungsform.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17985
(A) Heute befassen wir uns hier mit einem weiteren Re- kommen ist. Und der Stolz auf seinen eigenen Beitrag (C)
likt: der Eintragungsfähigkeit des Doktorgrades in ge- zum Wissensbestand sei jedem Promovierten gegönnt.
kürzter Form in die Personaldokumente. Der Doktor ist Denn diese Leistung ist kein Selbstzweck. Sie dient ei-
– anders als landläufig angenommen – kein Namensbe- ner Wissenschaft, die im Dialog mit der Gesellschaft
standteil. Niemand hat ein Recht darauf, mit diesem steht. Dazu gehört auch der Wechsel aus anderen Berufs-
Qualifikationsgrad angeredet zu werden, genau so wenig feldern an die Hochschule und wieder zurück. Wir wis-
wie Magistras und Magister oder Diplomierte, wie staat- sen, dass nicht alle Promovierenden in der Wissenschaft
lich geprüfte Fachkräfte und Meister. Auch Professorin- bleiben wollen und können. Aber gerade dieser Aus-
nen und Professoren haben dieses Recht nicht, denn da- tausch gebietet den gegenseitigen Respekt für unter-
bei handelt es sich um eine Amtsbezeichnung. schiedlichste Qualifikationswege und eine Begegnung
Akademische Grade und Amtsbezeichnungen sind ei- mit außerakademisch Qualifizierten auf Augenhöhe.
gentlich nur für das jeweilige Berufsumfeld von Inte-
resse. Auch für die Eintragung in Personaldokumente Die Streichung der Eintragungsfähigkeit des Doktor-
sind akademische Grade nicht vorgesehen – bis auf die grades in Pässen und Ausweisen ist überfällig. Uns allen
Ausnahme des Doktors. Aber auch dabei werden nicht sollte jedoch auch bewusst sein, dass dies nur ein kleiner
alle gleich behandelt. Im Ausland erworbene Grade, und eher unbedeutender Schritt ist, um die Promotion
etwa der PhD, sind in der Regel nicht eintragungsfähig. von ihrer für die wissenschaftliche Qualität nicht immer
förderlichen Eigenschaft als Statussymbol zu befreien.
Sucht man nach Erklärungen für das hartnäckige Die Öffnung hierarchischer und geschlossener universi-
Überleben dieses Ausnahmeprivilegs, wird man schnell tärer Strukturen gehört dabei zu den schwierigeren, aber
fündig. Der „Dr.“ ist ein Reputationsheber. Er wertet notwendigen Aufgaben, um die Promotion auf ihre ei-
seine Trägerin, seinen Träger gesellschaftlich auf. Das gentliche Aufgabe zu fokussieren: der transparente und
schlägt sich in Karrierechancen, im Ansehen und nicht hochqualitative Nachweis wissenschaftlicher Kompe-
zuletzt im Gehalt nieder. Eine viel zitierte Studie der tenz.
Personalberatung Kienbaum sieht ein Plus für Promo-
vierte von mindestens 8 000 Euro gegenüber Menschen Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
mit einem Universitätsabschluss. Deutschland ist es möglich, den akademischen Doktor-
Es ist vor diesem Hintergrund unverständlich, warum grad auf Wunsch in den Pass oder Personalausweis ein-
sich konservative Bundesländer 2007 gegen die vom da- tragen zu lassen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
maligen Innenminister Schäuble vorgeschlagene Ab- schlagen wir vor, sich nun endlich von dieser Praxis zu
schaffung der zusätzlichen rechtlichen Privilegien für verabschieden. Sie ist nämlich eine überflüssige, auf-
wendige und überholte Konvention, die nur zu unnöti-
(B) Promovierte gewehrt haben und mit diesem Widerstand (D)
auch noch erfolgreich waren. Denn eine Promotion – die gen Missverständnissen führt. Der Doktor ist weder ein
Medizin sei hier außen vor – beweist im Idealfall vor al- Titel noch ein Namensbestandteil. Er ist schlicht der
lem, dass der oder die Betreffende sich im akademischen Nachweis einer besonderen wissenschaftlichen Qualifi-
Umfeld bewährt hat. Dazu gehört, eigenständig eine kation. In einem Personaldokument hat der Doktor ge-
komplexe Fragestellung zu bearbeiten, die Ergebnisse nauso wenig zu suchen wie andere Qualifikationsbe-
darzustellen und sich idealerweise auch in der Lehre be- zeichnungen, sei es der Professor, Master oder Meister,
tätigt zu haben. Eine Promotion ist die Voraussetzung für die schließlich auch nicht eingetragen werden. Mit der
die Berufungsfähigkeit auf eine Professur und damit der Eintragungspraxis steht Deutschland international weit-
höchste akademische Grad. gehend isoliert da – wenn man mal von Österreich ab-
sieht, wo man offenkundig auch gerne an längst über-
Über Qualitäten in anderen Berufsfeldern außerhalb flüssigen Konventionen festhält. Mit der Identifizierung
der Wissenschaft ist damit jedoch nichts gesagt. Über so- einer Person hat der Doktorgrad nichts zu tun. Beim
ziale Kompetenzen erst recht nichts. Wir erleben sogar Grenzübertritt kann der Doktor aber zu Missverständnis-
den Effekt, dass in Zeiten schwacher Arbeitsmärkte für sen führen, weil er manchmal für einen Teil des Namens
Hochschulabsolventinnen und -absolventen die Zahlen gehalten wird.
von Promovierenden ansteigen und das Verfassen einer
Dissertation als Überbrückungsmaßnahme und zur eige- Darauf hat das Bundesinnenministerium schon 2007
nen Weiterbildung genutzt wird. Es gibt keinen sachli- hingewiesen, bei dem Vorstoß zur Abschaffung der Ein-
chen Grund, diesen auf den akademischen Raum zuge- tragungspraxis. Es ist bedauerlich, dass der damalige
schnittenen Qualifikationsgrad gegenüber anderen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sich mit die-
außerakademischen Qualifizierungsgraden rechtlich zu sem Beitrag zum Bürokratieabbau nicht durchsetzen
bevorzugen. Denn die Schattenseiten der Titelhuberei konnte. Denn es handelt sich in der Tat um einen Mehr-
auf die Qualität der zugrunde liegenden Arbeiten – Titel- aufwand für die zuständigen Behörden, auf den man sehr
kauf, Plagiate, Ghostwriting – sind nicht zu übersehen. gut verzichten könnte. Noch aufwendiger und schwieri-
ger wird die Sache dadurch, dass die Gleichwertigkeit
Um nicht falsch verstanden zu werden: Fast alle Dis- ausländischer Abschlüsse mit dem deutschen Doktor von
sertationen vermehren unser Wissen und bereichern die den Kultus- und Wissenschaftsministerien nicht mehr ge-
Debatte. Das Niveau heutiger Promotionsschriften ist im prüft wird. Nun müssen sich also Behörden, die für Pässe
Schnitt sehr hoch. Jede wissenschaftliche Leistung ist und Personalpapiere zuständig sind, damit herumschla-
von der Gesellschaft zu würdigen, erst recht, wenn sie gen, wenn jemand einen ausländischen Abschluss in ei-
unter häufig widrigen Arbeitsbedingungen zustande ge- nem deutschen Personaldokument als Doktor eingetragen
17986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) haben möchte. Hier kann die Regierungskoalition also aktive Bürgergesellschaft werden wir diese Herausforde- (C)
mal zeigen, wie ernst es ihr mit dem Bürokratieabbau ist. rungen nicht bewältigen können. Vor diesem Hinter-
grund stimme ich mit einigen der Ausführungen zum
Im Zusammenhang mit der Diskussion über eine bürgerschaftlichen Engagement im Antrag der SPD voll-
Reihe prominenter Plagiatsfälle gab und gibt es auch aus kommen überein.
der Wissenschaft verstärkt die Forderung, den akademi-
schen Doktorgrad von unangemessenen gesellschaftli- Zweifellos gibt es viele rüstige Rentner, die längst
chen Überhöhungen zu befreien und ihn auf seinen nicht am Ende ihres aktiven Lebens stehen. Nachdem
Kerngehalt zurückzuführen, nämlich den Nachweis zur der Druck des Berufes von ihnen abgefallen ist, haben
Befähigung, einen eigenständigen originären Beitrag sie die Zeit, das zu tun, was sie sich schon immer vorge-
zum Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis leis- nommen hatten. Richtig ist auch, dass unsere Gesell-
ten zu können. schaft auf die Erfahrung und die Kompetenz dieser älte-
ren Generation nicht verzichten kann. Deshalb sind alle
Als wissenschaftspolitische Sprecherin hat es mich
Überlegungen zu begrüßen, die Anreize für ältere Men-
erleichtert und erfreut, dass der Wissenschaftsbereich
schen schaffen, sich für das Gemeinwesen zu engagieren
sich erfolgreich gegen alle Versuche zur Wehr gesetzt
und einzusetzen.
hat, wissenschaftliches Fehlverhalten zu bagatellisieren
und als Kavaliersdelikt abzutun. Dabei geht es auch da- Es gibt aber auch die andere Seite des Alters. Es gibt
rum, den hervorragenden Ruf deutscher Promotionen zu heute viele alte Menschen, die verlassen sind, für die
verteidigen. Es gibt eine ganze Reihe von Vorschlägen keine Familie sorgt, die keine Freunde haben, die ohne
und Ansätzen, wie die Qualitätssicherung im Bereich Anschluss sind. Tagaus, tagein leben diese Einzelgänger
wissenschaftlichen Arbeitens verbessert werden kann. allein und ausgegrenzt in ihrer Wohnung in irgendeinem
Im zuständigen Ausschuss haben wir uns damit gründ- Hochhaus. Johannes Paul II. zählte dieses Problem
lich unter anderem in einem Fachgespräch befasst. Es ist bereits zur Jahrtausendwende in seinem Apostolischen
allerdings deutlich geworden, dass es in Deutschland of- Schreiben „Novo Millenio Ineunte“ zu den drängenden
fenkundig Anreize und Versuchungen gibt, den Doktor- Herausforderungen für die Industriegesellschaften, in
grad nicht als Nachweis wissenschaftlicher Qualifikation denen die Zahl der Singles ständig wächst. Natürlich
zu erlangen, sondern zur Steigerung der persönlichen ge- helfen die karitativen Organisationen und die kirchlichen
sellschaftlichen Reputation. Gemeinden mit ihren Seniorentreffs. Auch die Mehr-
Im Fachgespräch zur „Qualität wissenschaftlicher Ar- generationenhäuser erfüllen eine wichtige Funktion.
beiten“ sprach Professor Hornbostel vom Institut für Wichtig ist aber auch eine kreative Kommunalpolitik,
Forschungsinformation und Qualitätssicherung von ei- um diese Menschen aus ihrem Schneckenhaus heraus-
(B) nem „bürgerlichen Adelstitel“, und die Expertin Profes- zuholen und sie für einen Dienst am Gemeinwesen zu (D)
sor Debora Weber-Wulff von der Hochschule für Tech- begeistern.
nik und Wissenschaft forderte, die Verwendung von Die Bundesregierung hat die Herausforderungen
wissenschaftlichen Graden im zivilen Lebens ganz abzu- des demografischen Wandels längst erkannt und ent-
schaffen. Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, Pro- sprechende Maßnahmen ergriffen. Dazu zählt die
fessor Karl Ulrich Mayer, wies auf einem Symposium Rente mit 67, die Förderung der Mehrgenerationenhäu-
der DFG darauf hin, dass es abgeschafft gehöre, dass der ser und die Aussetzung der Wehrpflicht.
Doktor wie ein Bestandteil des bürgerlichen Namens be-
handelt wird. Es ist ein Verdienst dieser Bundesregierung, die
schwierige Aufgabe der Aussetzung der Wehrpflicht und
Die Eintragung des Doktors in die Personaldoku- des Zivildienstes zügig und ohne größere Probleme
mente leistet dem Missverständnis Vorschub, dass es gelöst zu haben. Für diese erfolgreiche Arbeit gebührt
sich dabei um eine Art ehrenvolle Kennzeichnung der der Bundesministerin und den Verantwortlichen im Bun-
Person handelt statt um einen Qualifikationsnachweis. desfamilienministerium Dank und Anerkennung!
Auch dies ist ein Grund, die Eintragungspraxis zu been-
den. Mit der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes
wurde ein neues Kapitel bei der Förderung von bürger-
schaftlichem Engagement aufgeschlagen. Mit 350 Mil-
Anlage 10 lionen Euro stellt der Bund heute so viel Geld wie noch
nie zuvor für bürgerschaftliches Engagement bereit. Die
Zu Protokoll gegebene Reden Fördermittel für die bereits vorhandenen Freiwilligen-
zur Beratung des Antrags: Freiwilligendienste dienste FSJ und FÖJ wurden verdoppelt. Hinzu kommen
aller Generationen verstetigen – Engagement weitere Förderprogramme wie das Folgeprogramm für
ohne Altersgrenzen stärken (Tagesordnungs- die Mehrgenerationenhäuser. Der Bundesfreiwilligen-
punkt 19) dienst steht allen Menschen egal welchen Geschlechts
und welchen Alters offen und kann in viel mehr Einrich-
tungen absolviert werden, als das im Zivildienst möglich
Norbert Geis (CDU/CSU): Wir gehen davon aus, war.
dass im Jahre 2050 in Deutschland jeder dritte Mensch
über 60 Jahre alt sein wird. Dieser Wandel in der Bevöl- Innerhalb des gesamten bürgerschaftlichen Engage-
kerungsstruktur stellt unsere Gesellschaft vor zahlreiche ments muss es eine klare Trennung zwischen Ehrenamt
Herausforderungen. Ohne intakte Familien und eine und Freiwilligendienst geben. Das klassische Ehrenamt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17987
(A) wird nicht erst seit gestern millionenfach und unentgelt- rung ist. Vielmehr ist das Verantwortungsbewusstsein (C)
lich ausgeübt. Die im Antrag geforderten „niederschwel- der Bürgerinnen und Bürger für die Gesellschaft und
ligen Angebote“ gibt es schon längst. Gerade ältere ihre Mitmenschen das ausschlaggebende Element.
Menschen bevorzugen oft Formen des Engagements, bei
denen sie keine vertraglichen Verpflichtungen eingehen Beim Bundesfreiwilligendienst hat die Bundesregie-
müssen. rung auf dieses Verantwortungsbewusstsein der Bürge-
rinnen und Bürger vertraut und recht behalten.
Jede Bundesfreiwilligendienststelle wird monatlich
mit bis zu 550 Euro gefördert. In Sonderfällen sogar mit Die SPD fordert in ihrem Antrag, man solle den Bun-
600 Euro. Über ihre jeweiligen Trägereinrichtungen desfreiwilligendienst nur noch Menschen unter 27 Jah-
bekommen die Bundesfreiwilligen ein monatliches ren anbieten. Ältere sollten sich nur noch im Rahmen
Taschengeld von bis zu 330 Euro. Zudem sind sie sozial- des FDaG engagieren dürfen. Dieser Vorschlag geht an
versichert und bis zum Alter von 25 Jahren kindergeld- den Bedürfnissen der Freiwilligen und der Trägerorgani-
berechtigt. Der Dienst muss in Vollzeit, also mit 40 Stun- sationen vorbei. Von den insgesamt 25 000 Bundesfrei-
den pro Woche, absolviert werden. Ab 27 Jahren können willigen sind heute, also gerade einmal sechs Monate
die Freiwilligen auch in Teilzeit mit mindestens 20 Wo- nach der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes,
chenstunden arbeiten. weit über 5 000 älter als 27 Jahre. Das zeigt, dass die
Regelungen des Bundesfreiwilligendienstes sehr wohl
Diese Schwelle zwischen Ehrenamt und Freiwilligen- die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Men-
dienst hat sich in der Praxis bewährt. Eine Vermischung schen abdecken.
der unterschiedlichen Formen bürgerschaftlichen Engage-
ments könnte negative Effekte auf das in Deutschland Ganz bewusst wurde beim Bundesfreiwilligendienst
millionenfach ausgeübte klassische Ehrenamt haben, auf eine möglichst unbürokratische und wenig zentralis-
indem unerfüllbare Ansprüche geweckt werden. tische Ausgestaltung geachtet. Anstatt den Trägern und
den Freiwilligen vorzuschreiben, ab welchem Alter wel-
Der FDaG bewegt sich zwischen dem Ehrenamt und cher Dienst zu absolvieren ist, steht der Bundesfreiwilli-
den anderen Freiwilligendiensten. Mit einer Mindestzahl gendienst allen Menschen offen, egal wie alt sie sind.
von acht bis zwölf Wochenstunden müssen die Freiwilli- Der starke Zulauf bestätigt, dass dieses weitgefasste
gen in diesem Dienstformat deutlich weniger arbeiten. Angebot richtig ist.
Deshalb erhalten die Freiwilligen kein Taschengeld,
haben allerdings einen Anspruch auf eine Haftpflicht- Der FDaG kann aufgrund des geringeren Zeitaufwan-
und Unfallversicherung über den Träger, eine fachliche des eine sinnvolle Ergänzung zum Bundesfreiwilligen-
Begleitung und kostenlose Qualifizierung. dienst darstellen. Die Verankerung des FDaG im SGB VII
(B) und im Kindergeldrecht bleibt daher erhalten. Die (D)
Die mittlerweile knapp 7 000 Freiwilligen und
450 Mehrgenerationenhäuser, die nun im Rahmen des
1 200 Einsatzstellen des FDaG zeigen, dass mit diesem
Folgeprogramms für weitere drei Jahre vom Bund geför-
Modellprogramm eine erfolgreiche Entwicklung in
dert werden, bieten gute Anknüpfungspunkte, um Frei-
Gang gesetzt werden konnte. Zu einer Dauerförderung
willigendienstlern ebenso wie Ehrenamtlichen entspre-
ohne entsprechende gesetzliche Grundlage ist der Bund
chende Angebote machen zu können. Schon heute
jedoch nicht berechtigt. Das FDaG-Programm läuft nun
weisen rund 20 Prozent der FDaG-Stellen Verknüpfun-
planmäßig zum 31. Dezember 2011 aus.
gen zu Mehrgenerationenhäusern auf.
Damit komme ich an den Punkt, an dem ich mit dem
Antrag der SPD nicht mehr übereinstimme. Der Antrag Mit dem Bundesfreiwilligendienst, FSJ, FÖJ, den
kritisiert „ungeregelte Rahmenbedingungen“ beim Bun- internationalen Freiwilligendiensten und dem FDaG gibt
desfreiwilligendienst, die große Unsicherheit verursa- es heute eine Vielzahl von staatlich geförderten Formen
chen würden. Auch könnten die Erwartungen an den des bürgerschaftlichen Engagements. Durch die massive
Bundesfreiwilligendienst nicht erfüllt werden. Das ist Aufstockung der Bundesförderung wurden diese Engage-
falsch. mentformen stark aufgewertet. Was man nun auf keinen
Fall tun sollte, ist, die einzelnen Dienste gegeneinander
Die SPD geht in ihrem Antrag von einem völlig veral- auszuspielen. Genau das passiert aber in dem Antrag der
teten Sachstand aus. Die Regelungen beim Bundesfrei- SPD. Der FDaG wird gegen den Bundesfreiwilligen-
willigendienst sind längst klar. Sonst gäbe es heute nicht dienst ausgespielt. Stattdessen sollte vor dem Hinter-
über 25 000 unterschriebene Verträge. Täglich kommen grund der angespannten Haushaltslage genau geprüft
Hunderte neuer Verträge hinzu. Wir können davon aus- werden, in welcher Form der FDaG in das weitreichende
gehen, dass wir sogar früher als geplant die Zielmarke System der Bundesförderung integriert werden kann. So
von 35 000 Bundesfreiwilligen erreichen werden. Hinzu kann der Bundesfreiwilligendienst sinnvoll ergänzt wer-
kommen die vorhandenen 35 000 Freiwilligen im FSJ den, und die Freiwilligen können selbst entscheiden,
und FÖJ. welches Dienstformat zu ihnen passt.
Diesen bald 70 000 Freiwilligen sind wir zu großem
Dank verpflichtet. Ebenso gilt unser Dank den Millionen Florian Bernschneider (FDP): Der vorliegende
Menschen, die sich außerhalb der staatlich geförderten Antrag der SPD-Fraktion beschreibt zwar recht zutref-
Freiwilligendienste selbstständig ehrenamtlich engagie- fend die Herausforderungen einer Gesellschaft des lan-
ren. Es wäre vermessen, anzunehmen, dass der Antrieb gen Lebens – er zieht aber wie so oft die falschen
für bürgerschaftliches Engagement die staatliche Förde- Schlussfolgerungen für die Freiwilligendienste. Es ist
17988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011
(A) zwar richtig, die „Zeit der gewonnenen Jahre“ sowohl sich ganz einfach fragen, ob ein Engagement in Form ei- (C)
für die lebensälteren Menschen als auch für unsere Ge- nes geregelten Dienstes noch sinnvoll ist. Auch die
sellschaft nutzbar zu machen. Falsch ist aber, jede er- Wohlfahrtsverbände sagen uns immer wieder, dass wir
denkliche Form von bürgerschaftlichem Engagement in eine klare Grenze zwischen Freiwilligendienst und Eh-
ein eigenes Dienstformat zu stecken. renamt brauchen. Denn eine unnötige Formalisierung
des Ehrenamtes in Form von Diensten zerstört am Ende
Der FDaG war ein Anlauf, Menschen unterschiedli- mehr Engagement als sie schafft.
chen Lebensalters im Engagement zusammenzubringen.
Entstanden sind der FDaG und das Vorläuferprogramm Sie dagegen, meine sehr geehrten Damen und Herren
GüF zu einer Zeit, in der generationenübergreifende von der SPD, scheinen das Heil des bürgerschaftlichen
Engagementkonzepte noch in den Kinderschuhen steck- Engagements in immer spezielleren Dienstformaten zu
ten. Der demografische Wandel war damals gerade erst suchen. Und es ist ja auch schön, wenn 44 Prozent der
im Begriff, sich seinen Weg in das Bewusstsein von Dienstleistenden im FDaG zum ersten Mal ein Engage-
Politik und Gesellschaft zu bahnen. Heute aber haben ment leisten. Aber es darf doch die Frage erlaubt sein,
wir diese Konzepte: Die Mehrgenerationenhäuser sind was zuerst da war: der Dienst oder die Bereitschaft zum
zu einer zentralen Anlaufstelle für intergenerationale Engagement? Und ich gehe jede Wette mit Ihnen ein: In
Engagement- und Hilfeangebote geworden. Der neue der übergroßen Mehrzahl ist es die Bereitschaft zum En-
Bundesfreiwilligendienst eröffnet Menschen jeden Al- gagement. Am Anfang der Geschichte steht immer der
ters die Möglichkeit zu einem Freiwilligendienst – egal Mensch, der für sich beschließt, sich zu engagieren.
ob 18 oder 78. Darum ist es nur folgerichtig, den FDaG Diese Bereitschaft ist unabdingbar – für bürgerschaftli-
in diesen deutlich breiter angelegten Strukturen aufge- ches Engagement braucht es Herzlichkeit und die Über-
hen zu lassen. Denn bei allen positiven Ansätzen, die der zeugung, das Richtige für sich und die Mitmenschen zu
FDaG verfolgt hat, bleibt doch eines klar – und Sie ha- tun. Erst danach stellt sich die Frage nach dem geeigne-
ben es in Ihrem Antrag ja selbst formuliert –: Die Zivil- ten Rahmen. Und das heißt im Klartext: Wenn die Be-
gesellschaft hat es auch in mittlerweile x Projektjahren reitschaft zum Engagement da ist, dann hätten sich die
nicht geschafft, den FDaG der breiten Bevölkerung be- 44 Prozent auch ohne den FDaG engagiert, so einfach ist
kannt zu machen. Der BFD dagegen ist heute schon in das.
aller Munde, und das gerade einmal fünf Monate nach
dem Start. Wenn Sie für den mangelnden Bekanntheits- Wir müssen den Bürgern die Möglichkeit zu einem
grad des FDaG aber die Projektförderung verantwortlich formalisierten Engagement dort geben, wo es angemes-
machen, darf ich Sie auf Folgendes hinweisen: Wenn ich sen ist, aber gleichzeitig genügend Raum für non-forma-
mich nicht täusche, haben Sie in der großen Koalition les Engagement belassen. Das ist das liberale Verständ-
(B) den FDaG doch selbst beschlossen. Zu dieser Zeit wäre nis der Bürgergesellschaft, das sich im Übrigen auch in (D)
Ihre große Chance gewesen, endlich nachhaltig in Ihre unserem Freiwilligendienstkonzept widerspiegelt und
vielbeschworenen „ermöglichenden Infrastrukturen“ zu das wir auch in Zukunft weiterverfolgen werden.
investieren. Dazu hätte zum Beispiel gehört, das Koope-
rationsverbot in diesem Bereich anzugehen und den
Kommunen zu ermöglichen, das heißt, sie in die finan- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zielle Lage zu versetzen, dauerhafte Infrastrukturen zu Das Ende des Programms der Freiwilligendienste aller
schaffen. Stattdessen haben Sie nur erneut ein Projekt Generationen ist symptomatisch für eine Politik der
geschaffen, von dem Sie schon damals genau wussten, Bundesregierung, die wenig Zukunftsweisendes für die
dass es aufgrund der eingeschränkten Förderkompetenz Förderung bürgerschaftlich engagierter Menschen vor-
des Bundes nur zeitlich befristet sein konnte. Also wer- weisen kann. Trotz des großen Erfolgs des Programms
fen Sie uns keine Projektruinen vor, Sie haben sie selbst – die Zahl der erstmalig Engagierten liegt bei 44 Pro-
geschaffen. zent; mehr als 7 000 Freiwillige haben während der drei
Jahre einen Freiwilligendienst aller Generationen geleis-
Sie feiern den FDaG in Ihrem Antrag weiterhin als tet – ist die Bundesregierung nicht bereit, das Programm
niedrigschwelliges und passgenaues Angebot und for- in angemessener Form fortzuführen. Der Bundesfreiwil-
dern die Verstetigung der Förderung. Damit fördern Sie ligendienst und die Mehrgenerationenhäuser sind doch
aber genau jene Doppelstrukturen, die Sie bei der Ein- nicht dazu geeignet, die Besonderheiten des Freiwilli-
führung des Bundesfreiwilligendienstes durchaus zu- gendienstes aller Generationen fortzuführen. Ich will Ih-
recht kritisiert haben – aus diesem Grund haben wir uns nen gerne kurz erläutern, warum.
ja auch dazu entschlossen, den BFD für Erwachsene je-
den Alters zu öffnen und kein zweites „Bundes-FSJ“ zu Die überwiegende Mehrheit der Menschen im Frei-
schaffen. Sie aber wollen scheinbar genau das, wenn Sie willigendienst aller Generationen engagiert sich zwi-
in Ihrem Antrag fordern, das Freiwilligendienstangebot schen 8 und 16 Stunden. Eine Fortführung im Bundes-
für Erwachsene über 27 Jahre aus dem Bundesfreiwilli- freiwilligendienst, der mindestens 20 Wochenstunden
gendienst abzuschaffen. Hier zeigt sich mal wieder die verlangt, ist unrealistisch und entspricht nicht den Be-
Doppelzüngigkeit Ihrer Argumentation. Dabei hat sich dürfnissen derer, die sich engagieren. Ebenso wenig
gerade der BFD für über 27-Jährige mit einer Unter- kann man davon ausgehen, dass Mehrgenerationenhäu-
grenze von 20 Wochenstunden voll und ganz bewährt. ser ein zusätzliches Angebot bereitstellen können; sie
Eine weitere Absenkung der Stundengrenze ist hier völ- haben häufig andere Schwerpunkte und sind räumlich
lig unsinnig. Ab einer gewissen Stundenzahl muss man woanders angesiedelt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Dezember 2011 17989
(A) Gerade die zeitliche und örtliche Flexibilität, die vilgesellschaftliche Organisationen noch engagementbe- (C)
Möglichkeit der Qualifizierung, die besondere Betreu- reite Menschen davon wirklich profitieren.
ungsleistung und direkte Ansprache machen den Frei-
willigendienst aller Generationen attraktiv. Besonders Mir ist unverständlich, wie die Bundesregierung an-
engagementfernere Menschen und Ältere fühlten sich gesichts des Programmendes den Erfolg des Freiwilli-
vom Freiwilligendienst aller Generationen angespro- gendienstes aller Generationen feiert, wie vergangene
chen. 64 Prozent der Freiwilligen sind älter als 50 Jahre. Woche in Erfurt. Mir ist ebenso unverständlich, warum
Mehrgenerationenhäuser dagegen sind häufig aus- die Bundesregierung in öffentlichkeitswirksamen Kon-
schließlich in ihrem Stadtteil präsent und können weni- gressen und Konferenzen über Altersbilder sich bemüht
ger aktive Ansprache und individuelle Begleitung leis- zeigt, ältere Menschen zu integrieren und zu aktivieren
ten; und an einen Bundesfreiwilligendienst ist der und gleichzeitig Chancen, Ältere erfolgreich an Engage-
Einzelne noch stärker gebunden. ment heranzuführen, nicht ergreift.
Der Freiwilligendienst aller Generationen war ein Wir finden den Antrag der SPD absolut unterstützens-
Programm, das endlich weniger homogen war, sondern wert! Wir finden es richtig, eine passgenauere Unterstüt-
heterogen auch Nischen zulässt und besetzt hat. Im An- zung für ältere bürgerschaftlich engagierte Menschen zu
schluss an bereits bestehende lokale Projekte konnten fordern und das Trägerprinzip vor die staatliche Organi-
viele Organisationen das Programm für sich nutzen. Mo- sation von Freiwilligendiensten zu stellen.
bile Teams leisteten direkte Beratung vor Ort, die sehr
Wir schließen uns der Forderung nach der Vorlage ei-
wirkungsvoll war. Dadurch hatte das Programm beson-
nes Freiwilligendienstestatusgesetzes ausdrücklich an.
dere Multiplikatorwirkung, und es entwickelte sich En-
Die vielen verschiedenen Freiwilligendienste und -pro-
gagementbewusstsein und -kultur, so die zahlreichen
gramme brauchen eine gemeinsame Basis. Seit die Bun-
Rückmeldungen aus der Praxis.
desregierung 2009 in ihrem Koalitionsvertrag ein Frei-
Wenn der Freiwilligendienst aller Generationen endet willigendienstestatusgesetz angekündigt hat, warten wir
bzw. der Bundesfreiwilligendienst durch sehr starre Pro- auf dessen Vorlage. Aber auch hier wurde wie in vielen
gramme fortgeführt werden soll, dann können weder zi- anderen Politikfeldern nicht geliefert.
(B) (D)
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ISSN 0722-7980