Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
19. Sitzung
Inhalt:
Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- weiterer Abgeordneter und der Fraktion
neten Günter Gloser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 A DIE LINKE: Zukunftsprogramm für
2 Millionen Arbeitsplätze
Wahl des Abgeordneten Johannes Röring (Drucksache 17/470) . . . . . . . . . . . . . . . . 1580 A
zum stellvertretenden Mitglied der Parla-
mentarischen Versammlung des Europa- Rainer Brüderle, Bundesminister
rates und der Versammlung der WEU . . . . 1579 B BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1580 B
Wahl der Abgeordneten Dorothee Bär zum Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 1582 A
stellvertretenden Mitglied des Stiftungsrates
der Kulturstiftung des Bundes . . . . . . . . . . 1579 B Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 1583 D
Wahl der Abgeordneten Lucia Puttrich in Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 1585 C
den Beirat der Schlichtungsstelle für den Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . 1586 C
öffentlichen Personenverkehr . . . . . . . . . . . 1579 B
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
Wahl des Abgeordneten Torsten Staffeldt als DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1588 B
Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 C
Christian Lindner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 A
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . 1592 C
Tagesordnungspunkt 4:
Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1595 A
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bun- Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 1596 C
desregierung
(Drucksache 17/500) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 1597 D
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1699 D
Dr. Barbara Höll, Jutta Krellmann, Klaus
Ernst, weiteren Abgeordneten und der Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1700 A
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 1701 A
des Progressionsvorbehalts für Kurz-
arbeitergeld Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1702 A
(Drucksache 17/255) . . . . . . . . . . . . . . . . 1677 D
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . 1677 D Tagesordnungspunkt 13:
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1679 B Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Her-
born), Brigitte Pothmer, Kai Gehring, wei-
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1680 B
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 1681 C NIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Jugendlichen
bessere Ausbildungschancen geben – Dual-
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Plus unverzüglich umsetzen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1683 A (Drucksache 17/541) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1703 A
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 1684 A Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1703 B
Tagesordnungspunkt 11: Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 1704 A
a) Erste Beratung des von der Fraktion der Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1705 B
SPD eingebrachten Entwurfs eines … Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1706 D
Gesetzes zur Änderung des Umsatz-
steuergesetzes Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 1708 B
(Drucksache 17/520) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 A Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 1709 A
b) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Umsatzsteuerermäßigung
für Hotellerie zurücknehmen Tagesordnungspunkt 14:
(Drucksache 17/447) . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 B Antrag der Fraktion der SPD: Mehr Chan-
Sabine Bätzing (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 B cengleichheit für Jugendliche – Ferienjobs
nicht als regelmäßiges Einkommen anrech-
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 1687 A nen
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1688 B (Drucksache 17/524) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1710 A
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 1733 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1722 A
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1733 D
Tagesordnungspunkt 16:
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1734 D
Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Wiedereinführung der För- Anlage 1
derung von Atomexporten stoppen – Keine
Hermes-Bürgschaft für Angra 3 in Brasi- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1735 A
lien
(Drucksache 17/540) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1723 B
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1723 C Anlage 2
(A) (C)
Redetext
19. Sitzung
Präsident Dr. Norbert Lammert: Als Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kol-
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. legen Torsten Staffeldt vor. – Auch dazu gibt es offen-
sichtlich Einvernehmen. Dann ist damit der Kollege
Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Torsten Staffeldt zum Schriftführer bestellt.
begrüße Sie herzlich.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
Der Kollege Günter Gloser hat gestern seinen a) Unterrichtung durch die Bundesregierung
60. Geburtstag gefeiert. Dazu möchte ich ihm im Namen
des Hauses herzlich alle guten Wünsche übermitteln. Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesre-
gierung
(Beifall)
– Drucksache 17/500 –
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten kön- Überweisungsvorschlag:
(B) nen, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen zu Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) (D)
Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
schlägt vor, anstelle der Kollegin Beatrix Philipp den Verbraucherschutz
Kollegen Johannes Röring zum stellvertretenden Mit- Ausschuss für Arbeit und Soziales
glied der Parlamentarischen Versammlung des Euro- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
parates und der Versammlung der WEU zu wählen. Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sein. Dann ist der Kollege Röring damit gewählt. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt ferner vor, als Nach- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
folgerin des Kollegen Hartmut Koschyk die Kollegin Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Dorothee Bär zum stellvertretenden Mitglied des Stif- Haushaltsausschuss
tungsrats der Kulturstiftung des Bundes zu wählen.
Darf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – Das b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
ist augenscheinlich der Fall. Dann ist auch die Kollegin Jahresgutachten 2009/10 des Sachverständi-
Bär damit gewählt. genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung
Die nächste Nachbesetzung betrifft den Beirat der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenver- – Drucksache 17/44 –
kehr. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll die Überweisungsvorschlag:
Kollegin Lucia Puttrich Nachfolgerin der Kollegin Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Julia Klöckner werden. – Auch hierzu kann ich keine Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ernsthaften Einwände erkennen und stelle damit wie- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
derum das Einvernehmen zur Wahl der Kollegin Puttrich Ausschuss für Gesundheit
fest. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Schließlich hat die Kollegin Sibylle Laurischk bedau- Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
erlicherweise ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. –
Ich bin durch den offenkundigen Eindruck, dass Sie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
meine Enttäuschung teilen, mindestens ein wenig getrös- Duin, Hubertus Heil (Peine), Doris Barnett, wei-
tet. terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
1580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Geringe Belastung bei Steuern und Wachstumspoten- Die internationale Staatengemeinschaft muss ein kräf-
zial: Dauerhaftes Wachstum erreichen wir nur mit nied- tiges Signal an die Finanzmärkte aussenden. Die Staaten
rigen Steuern. Den ersten Schritt haben wir mit dem sind mehr als ein großer Bankensicherungsverein. Sie
Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht; er ist auch müssen die Leitplanken für die Märkte neu gestalten. Es
bitter nötig. Der private Konsum bleibt in diesem Jahr geht um die Rückkehr zu Maß und Mitte. Deutschland
schwach. Die Vorzieheffekte aufgrund der Abwrackprä- tritt seit längerem für strengere Regeln ein. Auf dem
mie sorgen für eine spürbare Delle. Ein zweiter Schritt Gipfel in Pittsburgh wurden erste Schritte beschlossen.
wird folgen. Wir werden das Steuersystem mit einem Jetzt geht es um die Konkretisierung. Durch die aktuel-
Stufentarif einfacher und gerechter machen, wir werden len Äußerungen von Präsident Obama hat die Diskus-
die Belastung spürbar senken. Dazu bekennt sich die sion über die internationale Finanzarchitektur eine zu-
Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht erneut. sätzliche Dynamik bekommen. Ich will sie im Detail
(B) nicht bewerten, aber das Signal ist wichtig. In Amerika (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hat man erkannt, dass wir strengere Regeln brauchen.
der CDU/CSU) Für Deutschland ist klar: Die G 20 sind für die Regulie-
Genauso bekennt sie sich zu einem ehrgeizigen Konsoli- rungsfragen der richtige Rahmen. Im Kern müssen alle
dierungspfad ab dem Jahr 2011. Beides gehört zusam- Maßnahmen auf eine Reduzierung des Moral Hazard,
men. wie die Ökonomen es nennen, hinauslaufen. Wenn je-
mand im Finanzsektor weiß, dass der Staat eingreift,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn etwas schiefläuft, dann wird er sich selten ordent-
der CDU/CSU) lich verhalten.
Deutschlands Schuldenbremse ist ehrgeiziger als der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
europäische Stabilitätspakt, und das ist richtig. Deutsch-
land muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Wir sind Wir brauchen spürbare Maßnahmen, die jedem am Fi-
die größte Wirtschaftsnation der EU. An uns hängt viel, nanzmarkt klarmachen: Der Staat kann auch anders. Der
auf uns wird besonders geachtet, wir haben eine Vorbild- Finanzsektor muss sich angemessen an den Kosten der
funktion für die wirtschaftliche Stabilität in Europa, und Krisenbewältigung beteiligen. Die Einschätzung meines
wir werden ihr gerecht werden. Einige Eurostaaten zei- Kollegen Schäuble hierzu teile ich uneingeschränkt.
gen gefährliche Schwächen. Das kann fatale Auswirkun- Auch seine Überlegung zur Managervergütung geht in die
gen auf alle Staaten der Eurozone haben. Es gibt keine richtige Richtung. Wir brauchen eine neue Verantwor-
flexiblen Wechselkurse im Euroraum mehr. Zu starke tungskultur in der Finanzbranche. Man kann bessere
Ungleichgewichte zwischen den Staaten können zu er- Eigenkapitalregeln einführen. Man kann Zweckgesell-
heblichen volkswirtschaftlichen Spannungen führen. Ein schaften stärker regulieren. Man kann die Aufsicht ver-
Bail-out, eine Gemeinschaftslösung für nationale Schief- bessern. Das tun wir auch. All das sind richtige Maßnah-
lagen, sollte es nicht geben. Jedes Land muss zunächst men. Kern aber bleiben die Marktteilnehmer selbst. Ihnen
selbst seine Hausaufgaben machen. Die Mitgliedstaaten muss bewusst gemacht werden: Ihr haftet am Ende für
stehen jeder für sich in der Verantwortung. Die kann ih- euer Risiko und nicht der Steuerzahler.
nen niemand abnehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, das Ziel dieser Bundesre-
Bei den Schieflagen in einigen Euroländern ist es gierung ist es, die soziale Marktwirtschaft wieder in ge-
wichtig, dass angesichts der Krise die Wirtschafts- und ordnete Bahnen zu lenken. Die Zusammenhänge von Ri-
Finanzpolitik in Europa besser koordiniert werden müs- siko und Haftung, von Eigenverantwortung und
1582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Der Jahreswirtschaftsbericht gibt die Richtung für die Herr Brüderle, ich kann es Ihnen nicht ersparen:
marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands vor. Ich Diese Bundesregierung und auch Sie scheinen in dieser
hoffe auf Ihre Unterstützung. Phase den Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Sie haben
keine Konzepte und keine Ideen. Wenn Sie doch einmal
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ideen haben, dann gehen sie in die falsche Richtung.
Wollen wir das einmal miteinander durchgehen. Es ist
Präsident Dr. Norbert Lammert: richtig, dass wir im letzten Jahr durch die Weltfinanz-
Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPD- und Weltwirtschaftskrise den tiefsten wirtschaftlichen
Fraktion. Einbruch hatten; er lag bei minus 5 Prozent. Dass
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutschland am Arbeitsmarkt und in der Binnennach-
frage bis dato robuster als andere durch diese Krise ge-
kommen ist, das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern
Hubertus Heil (Peine) (SPD): hat etwas damit zu tun, dass die damalige Bundesregie-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rung, namentlich die Minister Steinbrück, Steinmeier
ren! Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der und Scholz, in der Krise das Richtige vorgeschlagen und
Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft beinhaltet durchgesetzt hat, bei der Bankenrettung, bei den Kon-
der Jahreswirtschaftsbericht drei Punkte: junkturpaketen und bei der verlängerten Kurzarbeit.
Es geht darum, deutlich zu machen, welche wirt- (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner
schafts- und finanzpolitischen Ziele eine Regierung hat. [Berlin] [FDP]: Diese Regierung ist aber abge-
Es geht um die geplanten Maßnahmen in der Wirt- wählt worden, vor allem die SPD!)
schafts- und Finanzpolitik. – Es ist richtig: Diese Regierung ist abgewählt worden.
Nicht zuletzt ist der Wirtschaftsminister, also Sie, Aber ihre Maßnahmen wirken noch. Allerdings verlas-
(B) sen Sie diesen Wachstumspfad. (D)
Herr Brüderle, aufgerufen, mit dem Jahreswirtschaftsbe-
richt eine Stellungnahme zum Jahresgutachten des Sach- Herr Brüderle, Sie kritisieren etwas, was wir mit Frau
verständigenrates abzugeben. Wer Ihre Rede gerade Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam beschlossen ha-
gehört hat, hat festgestellt: Sie haben kein Wort zu dem ben, nämlich die Umweltprämie. Dazu will ich Ihnen
gesagt, was die Sachverständigen Schwarz-Gelb ins sagen: Natürlich ist es ein unkonventionelles Instrument
Stammbuch geschrieben haben. Das ist kein Wunder; gewesen; aber es hat schnell gewirkt. Es hat die Binnen-
denn das, was Sie da veranstalten, ist aus Sicht der Sach- nachfrage stabilisiert, einen Einbruch verhindert, und es
verständigen ziemlich peinlich. hat Tausende von Arbeitsplätzen bei Automobilzuliefe-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rern und ähnlichen Unternehmen, auch in meiner Hei-
DIE GRÜNEN) matregion, gesichert.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten eine (Beifall bei der SPD)
Überschrift gewählt, die erstaunlich ist. An Ihre Adresse Das jetzt madig zu machen, ist ziemlich billig. Sie profi-
gewandt, formuliert er die Warnung, die Zukunft nicht zu tieren doch von diesen Maßnahmen.
verspielen. Wir können es auch konkreter machen. Der
Sachverständigenrat sagt: Wenn in diesem Jahr nicht die (Joachim Poß [SPD]: Was sagt die CDU
richtigen Entscheidungen getroffen werden, dann droht dazu?)
Deutschland dauerhaft eine Wachstumsschwäche zulas- In der jetzigen Situation werden die Wachstumszah-
ten von Wohlstand und Beschäftigung. Der Sachverstän- len durch eine leicht anspringende Exportkonjunktur
digenrat sagt auch, dass das, was Schwarz-Gelb mit dem erfreulicherweise zwar etwas besser. Aber, Herr
Koalitionsvertrag und dem sogenannten Wachstumsbe- Brüderle, ob Sie 1,4 oder 1,5 Prozent oder, wie einige In-
schleunigungsgesetz, das nichts anderes als ein Klientel- stitute prognostizieren, 2 Prozent erzielen,
bedienungsgesetz ist – ich komme gleich dazu –, in die
Wege leitet, nicht angetan ist, Wachstum wirklich zu ge- (Joachim Poß [SPD]: Was sagt Frau Merkel ei-
nerieren. gentlich dazu?)
Auch das von Ihnen angestrebte Betreuungsgeld wird all das reicht nicht aus, um den Einbruch, der durch die
vom Sachverständigenrat als wirtschaftspolitisch und Nichtauslastung der Kapazitäten unserer Wirtschaft
gesellschaftspolitisch kontraproduktiv angesehen. Nicht droht, tatsächlich auszugleichen. Deshalb wird die Ar-
zuletzt warnen alle Mitglieder des Sachverständigenrates beitslosigkeit dieses Jahr steigen. Deshalb wäre es gebo-
vor dem, was Sie in der Steuerpolitik vorhaben, nämlich ten, dass diese Bundesregierung sagt, was dagegen zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1583
Hubertus Heil (Peine)
(A) tun ist. Stattdessen tun Sie nichts, um zum Beispiel die Steuerliche Förderung von Forschung und Entwick- (C)
Binnennachfrage zu stärken. Im Gegenteil, Sie verunsi- lung, wie es in Ihrem Koalitionsvertrag steht, ist ein
chern die Menschen, schönes Schlagwort. Aber wo ist Ihr Konzept? Sie könn-
ten doch mit Tax Credits dafür sorgen, dass kleine und
(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) mittlere Unternehmen tatsächlich mehr in Forschung
indem Sie verschweigen, an welchen Stellen Sie nach und Entwicklung investieren.
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kürzen wol-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
len. Das führt zu Kaufzurückhaltung. Die Menschen
wissen doch: Das dicke Ende kommt noch. Hinzu kommt eines: Die Steuergeschenke, die Sie für
wenige machen – Stichwort: Mövenpick –, und das, was
Legen Sie Ihre Pläne, Herr Schäuble, wo Sie zuschla-
Sie darüber hinaus noch planen, wird Löcher in die öf-
gen wollen, auf den Tisch. Wollen Sie angesichts der
fentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommu-
steigenden Zahl von Arbeitslosen den Beitrag zur Ar-
nen reißen und die Investitionskraft der öffentlichen
beitslosenversicherung erhöhen? Wollen Sie im Bereich
Hand beschädigen; dabei brauchen wir sie 2011 nach
der Familienleistungen kürzen, wie Frau Homburger es
wie vor. Frau Roth, die Oberbürgermeisterin von Frank-
schon vorgeschlagen hat?
furt, CDU-Mitglied, weist Sie darauf hin, dass Sie den
(Birgit Homburger [FDP]: Stimmt doch über- Ruin der Kommunen vorbereiten, nichts anderes. Das
haupt nicht!) hat auch wirtschaftliche Folgen.
Wollen Sie bei den Infrastrukturinvestitionen kürzen? Sie reden davon, dass mehr in Bildung investiert wer-
Sie sagen nicht, wo Sie sparen wollen. Das ist unehrlich den sollte. Wie sollen denn Bund, Länder und Kommu-
und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, weil es die nen mehr in Bildung investieren, wenn Sie solche Lö-
Menschen in diesem Land verunsichert. cher reißen?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Zahlen verbessern sich leicht; darüber kann man Und dann redet Ihr Herr Lindner davon – er wird ja
sich freuen. Aber es reicht halt noch nicht aus. Wir haben gleich auch noch reden –, der Staat sei ein teurer
keinen selbsttragenden Aufschwung. Deshalb ist Politik Schwächling.
gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und
die richtigen Initiativen zu ergreifen. Wo ist denn Ihr (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind
Konzept – Herr zu Guttenberg, kurzzeitig Bundeswirt- ein Schwächling!)
(B) schaftsminister, hat es angekündigt, aber es ist bis heute (D)
Dazu kann ich an dieser Stelle nur sagen: Wer unseren
von Ihnen, Herr Brüderle, nicht erarbeitet worden – für demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der gebraucht
eine moderne und ökologische Industriepolitik? Wo sind wird, um den Rahmen für die soziale Marktwirtschaft zu
Ihre Ansätze für eine moderne Dienstleistungspolitik von setzen und durch eine aktive Wirtschaftspolitik einen
Menschen für Menschen, mit Arbeitsangeboten, von de- Beitrag für Wachstum zu leisten, der jetzt gefragt ist,
nen Menschen auch leben können? Wo ist Ihr Konzept mehr in Bildung zu investieren, um einen nachhaltigen
für eine wirkliche Stärkung des Mittelstandes? Sie reden Wachstumspfad einzuschlagen, erst krankenhausreif re-
viel über Mittelstandspolitik, tun aber nichts für die klei- det bzw. krankenhausreif durch eine entsprechende Steu-
nen und mittleren Unternehmen. Es gibt zum Beispiel erpolitik macht und sich dann als Sanitäter anbietet, der
keine Ansätze und Anregungen, was in dieser Krise zu amputiert, der verfolgt ein Konzept, das vorne und hin-
tun ist, damit die Maschinenbauindustrie in Baden- ten nicht stimmt. Sie werden scheitern, wenn Sie so wei-
Württemberg, die im Moment notleidend ist, die richtigen termachen. Kehren Sie um!
Impulse bekommt. Warum werden keine Vorstellungen
entwickelt, wie das produzierende Gewerbe etwa durch Herzlichen Dank.
verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten oder eine Inno- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
vationsprämie dabei unterstützt werden kann, in dieser DIE GRÜNEN)
Phase beispielsweise seinen Maschinenpark zu moderni-
sieren?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Birgit Homburger [FDP]: Haben wir doch ge- Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer ist nun der nächste
macht!) Redner für die CDU/CSU.
– Ja, aber Sie können in diesem Bereich mehr tun. Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
reden – – neten der FDP)
(Birgit Homburger [FDP]: Sie haben es abge-
schafft!) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
– Brüllen Sie nicht, Frau Homburger. Das steht Ihnen Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
nicht. der Tat, Deutschland ist bisher besser durch die Krise ge-
kommen als befürchtet: Das Wirtschaftswachstum ist,
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wenn auch so stark wie noch nie, statt um 6 Prozent nur
NEN]: Chauvi!) um 5 Prozent zurückgegangen.
1584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Sahra Wagenknecht
(A) den Ausbau des öffentlichen Dienstes und die Erhöhung Es war kein Fehlstart, sondern ein organisierter und in (C)
der öffentlichen Investitionen? Die Bundesrepublik be- einer gut harmonierenden Koalition gelungener Auftakt
findet sich in all diesen Bereichen inzwischen in einer für vier Jahre.
peinlichen Schlusslichtposition in Gesamteuropa. Wenn
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die jahrelange Enteignung der Beschäftigten Kaufkraft
der CDU/CSU)
und Konsum nach unten gedrückt hat, ist es dann wirk-
lich eine so fernliegende Idee, all die barbarischen Ge- – So einfach bekommt man Beifall von Schwarz-Gelb.
setze zurückzunehmen, die genau diesen Lohnraub er-
möglicht haben, ganz vorn die Liberalisierung der (Heiterkeit des Abg. Dr. Frank-Walter
Leiharbeit und natürlich auch den mit Hartz IV verbun- Steinmeier [SPD])
denen Zwang zur Annahme auch noch der letzten Hun- Wenn Sie den Text lesen und die Ziele kennen, die ein
gerlohnjobs? Jahreswirtschaftsbericht normalerweise aufweisen muss
– er muss sie aufgrund gesetzlicher Grundlage haben;
Die FDP möchte immer so gern Subventionen ab-
Herr Heil hat darauf hingewiesen –, dann sehen Sie, dass
bauen. Ich sage Ihnen: Eine Subvention können Sie
dieser Bericht das nicht leistet. Er soll einen Überblick
wirklich abbauen, das ist die Subventionierung der Bil-
über Ihre Vorhaben in der Wirtschafts- und Steuerpolitik
ligjobs in diesem Land. Das kostet den Steuerzahler in-
geben, er soll widerspruchsfrei sein, und er soll klären,
zwischen fast 10 Milliarden Euro im Jahr.
wie Sie die verschiedenen Ziele, zum Beispiel Wirt-
(Beifall bei der LINKEN) schaftswachstum und Haushaltskonsolidierung, gleich-
zeitig erreichen wollen.
Ich sage Ihnen: Schaffen Sie einen Mindestlohn von
10 Euro die Stunde, und Sie werden den größten Teil (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)
dieser 10 Milliarden Euro einsparen können! Das ist ein Ich sage Ihnen nach aufmerksamer Lektüre dieses Be-
konstruktiver Sparvorschlag. richtes: Er klärt keine der Fragen, die schon letzte Woche
(Beifall bei der LINKEN) bei den Haushaltsberatungen offengeblieben sind. Viel-
mehr wirft er zusätzliche Widersprüche und Fragen auf.
Aber wahrscheinlich wird das bei Ihnen wieder auf taube
Ohren stoßen. Es ist nicht geklärt, wie Sie die Ziele Wachstum und
Konsolidierung im Jahr 2011 erreichen wollen. Wenn
Der wirtschaftspolitische Kurs, den diese Bundesre- Sie schon keine mittelfristige Finanzplanung zustande
gierung fährt, ist ein Crashkurs – man kann das nicht an- bringen, dann hätte ich zumindest jetzt erwartet, dass,
ders nennen –, der früher oder später in die nächste damit Vertrauen auf den Märkten entsteht, im Jahres-
(B) große Krise hineinführen wird. Ich kann Ihnen ankündi- wirtschaftsbericht steht, wie dies gehen soll. Aber, Herr (D)
gen: Die Linke wird diesem Kurs weiterhin schärfsten Brüderle, das haben Sie vermieden. Wir haben von Ih-
Widerstand entgegensetzen. nen allgemeine Lyrik über Konsolidierung gehört, aber
Sie haben nicht die Frage beantwortet, wie die einzelnen
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
[Berlin] [FDP]: Da haben wir Angst!) Posten, die im nächsten Jahr fehlen werden, zu finanzie-
ren sind: 11 Milliarden Euro brauchen wir wahrschein-
lich für die Bundesagentur für Arbeit. 10 Milliarden
Präsident Dr. Norbert Lammert: Euro müssen Sie wegen der Schuldenbremse einsparen.
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Um 19 Milliarden Euro wollen die gelben Helden die
Bündnis 90/Die Grünen. Steuern zusätzlich senken. Insgesamt 10 bis 35 Milliar-
den Euro kann die Gesundheitsprämie aus dem Hause
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rösler kosten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Jörg van Essen [FDP]: Die Gesundheitsprä-
Schauen Sie sich einmal die Gestaltung des Titelblatts mie ist aus dem Hause Schmidt!)
des Jahreswirtschaftsberichts an.
Das sind rund 60 Milliarden Euro, zu denen in diesem
(Der Redner hält ein Schriftstück hoch – Jahreswirtschaftsbericht nichts anderes steht als Wachs-
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist das Libe- tum, Wachstum, Wachstum. Das ist die einzige Botschaft
rale Sparbuch?) dieser Koalition, die hier in diesem Haus und in der Öf-
fentlichkeit bisher gehört wurde. Ich kann nur sagen:
Das ist eine Botschaft für sich: Am Start sind nur Gelbe
Diese Koalition benutzt den Begriff Wachstum wie eine
und Blaue, Rote sowieso nicht. Einen Weißen sehe ich
Droge. Sie verfolgen in voller Dröhnung dieses Pro-
noch. Schwarze, die solche Läufe immer gewinnen, sehe
gramm und verlieren den Blick für die Wirklichkeit.
ich auch nicht. Man hat auf eines Wert gelegt – das ist
Denn 1 Prozent Wachstum bringt 5 bis 6 Milliarden Euro
entscheidend und durchzieht den ganzen Text –: Man
will deutlich machen, dass das kein Fehlstart ist. Die Ka- mehr Staatseinnahmen, aber nicht 60 Milliarden. Dazu
meraden kommen recht gleichmäßig aus den Startblö- bräuchten Sie 10 Prozent Wachstum; die haben Sie nicht.
cken heraus. Die Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lautet also: sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Können Sie einmal Weil es sich oft so verhält, dass Sie das, was wir sa-
zur Sache kommen?) gen, nach einem halben Jahr oder einem Jahr auch sagen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1589
Fritz Kuhn
(A) will ich Ihnen einmal ernsthaft erklären, warum wir auf richt mühsam aufbauen, beziehen sich ausschließlich auf (C)
dieser Wachstumsfrage insistieren; es gibt einen einfa- den Export. Sie tun systematisch zu wenig für den Bin-
chen Grund dafür, dass wir von Wachstumsfetischismus nenmarkt, weil Sie sich der Frage, wie man die Massen-
bei Ihnen reden. Auch wir Grüne wissen, dass es mit kaufkraft, die Kaufkraft der kleinen Leute, stärken kann,
Wachstum einfacher ist, einen Staatshaushalt aufzustel- systematisch verweigern.
len; das ist klar. Aber wir wissen auch, dass man sich die
(Beifall der Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]
Frage stellen muss, was eigentlich wächst, ob es ein
und Ulla Lötzer [DIE LINKE])
Wachstum ist, das uns reicher macht, oder ein Wachs-
tum, das uns ärmer macht. Sie haben – das kann man nicht anders sagen – eine
ideologische Scheuklappe beim Mindestlohn, und da,
Ich will zwei Beispiele nennen. Wenn wir 20 neue
wo Sie entlasten, entlasten Sie in sozialer Schieflage.
große Kohlekraftwerke bauen – sie sind ja im Bau oder
Das sehen wir beim Kindergeld: Die Kinder in Familien,
in Planung –, dann wird unser Land ärmer, weil wir
die von Arbeitslosengeld II leben – mindestens 1 Million
durch den CO2-Ausstoß und durch die Beschränkung,
Kinder in Deutschland –, bekommen nichts. Jetzt ist für
die das für die erneuerbaren Energien praktisch bedeutet,
zwei Monate dennoch etwas überwiesen worden. Das ist
eine ökologische Verschuldung eingehen. Also wird un-
oberpeinlich! Der, der am Computer den Knopf gedrückt
ser Land dadurch nicht wirklich reicher, sondern ärmer.
hat, konnte sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass
Es bringt zwar Wachstum in Ihrem Sinne, aber vermehrt
in Deutschland jemand auf die Idee kommt, den Reichen
unsere Wohlfahrt nicht, sondern schwächt sie sogar.
viel, den Mittleren mittel und den Armen gar nichts zu
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben. Und jetzt kommt Frau von der Leyen und sagt:
sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir leben in einem Rechtsstaat. Das muss zurückgezahlt
werden. – Man muss einmal die Bürokratiekosten dieser
Zweites Beispiel. Wenn wir in jedes Kinderzimmer Rückholaktion mit dem vergleichen, was sie bringt.
einen Fernseher stellen würden, dann würde das Wachs- Vielleicht wäre es eine kluge Entscheidung, das Geld
tum bringen. Dennoch würde mit diesem Wachstum eine diesen Familien zu lassen.
soziale Verschuldung verbunden sein, weil klar ist, dass
die sozialen Folgekosten, die wir mit so etwas anrichten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bewältigt werden müssen. Es gibt also Wachstum, das sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
die Wohlfahrt der Gesellschaft überhaupt nicht mehrt, KEN)
obwohl es in einem quantitativen Sinne die Staatsein- Übrigens: Wie die Bundesregierung bzw. Herr
nahmen und das Bruttosozialprodukt vergrößert. Brüderle die Entwicklung des Binnenmarktes einschätzt,
Der Punkt, auf dem wir insistieren, lautet ganz ein- kann man anhand der Zahlen schon nachlesen: Preisbe-
(B) (D)
fach: Es kommt darauf an, in welchen Bereichen der reinigt wird der private Konsum in diesem Jahr um
Staat zusätzliche Wachstumsanreize setzt, ob das Berei- 0,5 Prozent sinken – so seine Prognose –, und die Spar-
che sind, die unser Land wirklich stärker und auch nach- quote wird um 0,2 Prozent steigen. Das ist das, was wir
haltig reicher machen, oder ob das nicht der Fall ist. immer vorausgesagt haben: Eine Belebung des Binnen-
marktes bringt die Nummer, die die FDP mit dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wachstumsbeschleunigungsgesetz durchgezogen hat
sowie bei Abgeordneten der SPD) – Senkung der Mehrwertsteuer für die Hotels –, nicht.
Darüber müssen wir diskutieren. Selbst der Wirtschaftsminister ist an dieser Stelle skep-
tisch. Ich rate, nicht nur skeptisch zu sein, sondern diese
Sie werden sehen, dass eine der Folgen der Finanz- Politik einmal zu überprüfen.
marktkrise eine weltweite intensive Diskussion über
diese Frage sein wird: Was tut unseren Gesellschaften (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und unserer Welt und unserer Natur und unserem Klima sowie bei Abgeordneten der SPD)
eigentlich gut, und was zerstört sie? Der wichtigste Punkt, wo wir eine offenere Sprache
Der blinde Wachstumsbegriff, den Sie, Herr Brüderle, pflegen müssen, Herr Wirtschaftsminister, ist die Frage
im Jahreswirtschaftsbericht zugrunde legen, beantwor- Bankenfinanzierung/Kreditklemme. Die Bankenkrise
tet diese Frage nicht. Wenn Sie dieser Frage nachgehen ist in Deutschland nicht gemeistert; da lügen Sie sich et-
würden, müssten Sie sich entscheiden: Wo wollen wir was in die Tasche. Die Experten sagen, dass in den
zusätzliche Investitionen? Wo wollen wir auf die Bremse Bilanzen der Banken – auch der Landesbanken – noch
treten? Wollen wir – wie die Grünen es vorschlagen – bis zu 100 Milliarden Euro an faulen Papieren, an Risi-
die Schwerpunkte der Politik bei sozialer Gerechtigkeit, ken liegen. Deswegen können wir nicht sagen: Eine Kre-
bei Bildung und bei Klimaschutz setzen? Dagegen sagen ditklemme ist nicht in Sicht, und das, was bei der Ver-
Sie: Ich bin hier der Wirtschaftsminister; ich will, dass gabe von Krediten an Schwierigkeiten bleibt, wird der
alles wächst, ganz egal, ob es nützt oder schädlich ist. – Kreditmediator schon richten.
Das ist der Unterschied zwischen uns, über den wir in Wir haben an der Art und Weise, wie Sie die Banken
dieser Legislaturperiode viel zu streiten haben. gerettet haben, Verschiedenes kritisiert. Die Kernlinie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unserer Kritik war, dass Sie die Banken viel zu sehr nach
dem Freiwilligkeitsprinzip haben agieren lassen. Das be-
Sie tun zu wenig für den Binnenmarkt. Die Wachs- trifft das Bad-Bank-Gesetz, aber auch, dass Sie keinen
tumshoffnungen, die Sie in diesem Jahreswirtschaftsbe- verbindlichen Stresstest für alle Banken angesetzt haben.
1590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Fritz Kuhn
(A) Das hat dazu geführt, dass nicht aufgedeckt wird, was an die Revitalisierung des Alten beschritten. Großartige (C)
Risiken noch in den Büchern schlummert, dass das alles Botschaft!
nicht so geht, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
warnen Sie vor der Vorstellung, man könne durchatmen,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
die Bankenkrise sei ausgestanden; denn wir wissen
nicht, was noch auf uns zukommt. Deswegen kann ich Ich finde, dass wir einmal ideologiefrei über diesen
der Tendenz des Jahreswirtschaftsberichts an dieser Punkt reden sollten.
Stelle nicht zustimmen.
Herr Minister, Sie schreiben sehr allgemein von ei-
Die Gemeinden – ich komme nicht darum herum, nem Entflechtungsgesetz als scharfes Instrument gegen
diesen Punkt anzusprechen; eine systematische Darstel- marktbeherrschende Konzentration, das Sie im Rahmen
lung dessen fehlt im Jahreswirtschaftsbericht – waren des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf
gerade in einer Krise und einer aufkeimenden Konjunk- den Weg bringen wollen. Ich will Ihnen sagen: Da haben
tur immer Konjunkturmotoren. Es ist einer der größten Sie uns, Bündnis 90/Die Grünen, auf Ihrer Seite. Es ist
wirtschaftspolitischen Fehler, dass Sie den Gemeinden die originäre Aufgabe einer vernünftigen Wirtschaftspo-
in dem Moment, wo sie investieren sollten, durch das litik, bei ihrer Rahmensetzung darauf zu achten, dass
Wachstumsbeschleunigungsgesetz und durch das, was Konzentrations- und Monopolprozesse unterbunden
Sie sonst noch vorhaben, die finanziellen Mittel entzie- werden, weil die ganze Ideologie und Praxis der freien
hen. Marktwirtschaft sonst nicht funktionieren können. Da
sind wir auf Ihrer Seite; aber Sie müssen wissen, dass
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir Sie mit Fragen konfrontieren werden. Wir machen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- daraus keine gemütliche Postdiskussion.
KEN)
Wir werden die Frage stellen, ob Sie im Energiesektor
Das ist wirtschaftspolitisch völlig verkehrt. Wir werden einen Wettbewerb ohne Konzentration für gewährleistet
nicht müde, dies deutlich und klar darzustellen. halten oder nicht.
Sie drücken sich an einer Frage völlig vorbei, die die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Bevölkerung immer noch sehr umtreibt: Wer bezahlt ei- des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/CSU])
gentlich die Kosten der Finanzmarktkrise? Ihre Antwort Wir sagen: Er ist nicht gewährleistet; vier große Energie-
„Steuersenkung“ ist keine Antwort auf die Frage: Wer versorger beherrschen 80 Prozent des Marktes. Sie müs-
bezahlt die Kosten der Krise? Ich höre von Frau Merkel, sen mit einem solchen Gesetz darauf reagieren.
von der Bundesregierung immer nur internationale Vor-
(B) schläge, die dann auf der G-20-Ebene wieder verläppert Wir werden fragen: Gilt das auch für Banken? Was ist (D)
werden, aber nichts Konkretes zu der Frage, was Sie in mit der Deutschen Bank? Hat sie schon solch eine Stel-
Deutschland vorhaben. Ich höre keinen Vorschlag, dieje- lung, dass Sie sagen: Es muss mit der weiteren Konzen-
nigen, die riskant spekuliert haben, zur Kasse zu bitten. tration Schluss sein, weil sonst die berühmte Gleichung
„too big to fail“ virulent wird? Herr Minister, hier haben
Wir sagen Ihnen: Ohne Veränderungen auf der Ein- Sie unsere Unterstützung; aber freuen Sie sich nicht zu
nahmeseite unserer Haushalte, ohne eine neue Diskus- früh: Hier darf nicht nur gegackert werden, hier müssen
sion über den Spitzensteuersatz und über die Frage, ob Sie legen, und zwar sichtbar und überprüfbar. Wir wer-
wir eine Vermögensabgabe nach dem Lastenausgleichs- den Sie dabei begleiten.
prinzip brauchen – die Lasten können jetzt nicht mehr
von allen getragen werden –, werden wir die vielen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schwierigen Finanzfragen, die vor uns liegen, nicht be- Ich komme zum Schluss. Wir setzen uns fundamental
wältigen können. Sie diskutieren über Irrealo-Konzepte. von dieser einen Zielsetzung des quantitativen Wachs-
Die einheitliche Gesundheitsprämie ist doch nichts ande- tums ab, die Sie hier verfolgen. Wir wollen, dass die Po-
res als ein Irrealo-Konzept, das Sie unter den bestehen- litik ökologische und soziale Verschuldung als Maßstäbe
den Finanzbedingungen niemals durchbekommen kön- mit berücksichtigt, mit dem Ziel, diese zu vermeiden,
nen. weil uns das, auch was Technologien angeht, stärker
macht. Wir müssen nicht nur schauen, was wir wachsen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lassen, sondern wir müssen heute auch schauen, wie wir
und bei der SPD) systematisch Folgekosten reduzieren können. Das ist das
Da kann ich nur sagen: Verblendung der größten Art. Beste für unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand und un-
sere Arbeitsplätze.
Herr Minister, im Bericht steht etwas von „Ideolo-
Ich danke Ihnen.
giefreiheit“ der Energiepolitik. Ich bin wirklich sehr da-
für; aber mir konnte bisher keiner begründen, wieso Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mit der Maßgabe, das Zeitalter der erneuerbaren Ener- sowie bei Abgeordneten der SPD)
gien zu beschreiten, die Atomkraftwerke und die Kohle-
kraftwerke als „Brückentechnologie“ hochleben lassen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das ist ein einmaliger Vorgang in der Innovationsge- Der Kollege Christian Lindner erhält nun das Wort für
schichte der Industriegesellschaften – Sie sollten den die FDP-Fraktion.
Schumpeter vielleicht noch einmal gründlicher lesen, als
Sie es getan haben –: Die Brücke ins Neue wird durch (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1591
(A) Christian Lindner (FDP): Herr Heil, Sie haben eben gesagt, wir hätten Steuerge- (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser schenke im Sinn.
Jahreswirtschaftsbericht ist keine Maßnahmensamm-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gruß an Herrn
lung, er ist keine volkswirtschaftliche Zahlensammlung,
Finck!)
sondern er ist ein Orientierungspunkt der neuen Wirt-
schaftspolitik. Er beschreibt die Wiederaufnahme ord- Allein das Vokabular entlarvt Ihre Denke. Es ist nämlich
nungspolitischer Traditionen in Deutschland. nicht so, dass der Staat die Bürger finanziert, sondern die
(Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne- Bürger finanzieren bitte schön den Staat.
ten der SPD) (Beifall bei der FDP)
Ich will das deutlich machen, indem ich zwei Dimen- Sie haben sich mit der Kritik an unserem Wachstumsbe-
sionen beschreibe: schleunigungsgesetz – das betrifft die Grünen und die
Erstens. Wir stärken den Staat als Ordnungskraft Linke genauso – von den Alltagssorgen der Menschen
des Wirtschaftsgeschehens, indem wir beispielsweise abgekoppelt.
auf punktuelle Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In den Hotels! –
wie etwa die Abwrackprämie, verzichten. Weiterer Zuruf von der SPD: Wo leben Sie
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kritisieren Sie denn?)
etwa die Regierung?) Durch die kalte Progression und durch die Inflation ha-
Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirt- ben die Beschäftigten in Deutschland in den letzten zehn
schaftsgeschehens auch durch das neue Entflechtungsin- Jahren reale Einkommensverluste hinnehmen müssen.
strument. Wer dagegen ist, der macht sich zum Anwalt (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was tun Sie da-
dominanter privater Konzerne, die Macht über Verbrau- gegen?)
cher und Wettbewerber ausüben wollen.
Was tun wir? Wir sorgen für eine Entlastung der Fa-
(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD) milien in Deutschland im Umfang von 4,6 Milliarden
Wir stärken den Staat als Ordnungskraft des Wirt- Euro. Das stärkt die Binnennachfrage und ist im Übrigen
schaftsgeschehens schließlich auch dadurch, dass wir auch ein Gebot der Gerechtigkeit.
wieder eine starke Finanzmarktaufsicht schaffen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Zuruf von der SPD: Ja, ja!) der CDU/CSU)
(B) Es war nicht die FDP in Deutschland, die die Banken- Diese Entlastungspolitik ist aber nicht nur fair, sie ist (D)
aufsicht zersplittert hat, sondern das waren Sozialdemo- darüber hinaus auch Ausdruck unseres ordnungspoliti-
kraten und Grüne unter dem Bundesfinanzminister Hans schen Verständnisses. Hier unterscheiden wir uns von
Eichel. Ihnen. Wir gehen davon aus, dass das Wissen über die
Zukunft dieser Gesellschaft in ihr selbst verstreut und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht im Büro von Herrn Heil zentral vorhanden ist.
der CDU/CSU)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)
Es war nicht die FDP in Deutschland, die sich gegen
eine internationale Finanzmarktregulierung gewandt hat, Die Mittelständler, die Unternehmen, die Bürgerinnen
und Bürger haben sehr viel stärker ein Gefühl dafür, was
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zukunftsfähig ist und was nicht.
NEN]: Hört! Hört!)
Deshalb sorgen wir mit unserer Entlastungspolitik da-
sondern es war der Sozialdemokrat Tony Blair, der sich für – im Übrigen in Verbindung mit einer steuerlichen
Hand in Hand mit dem neokonservativen George Bush Förderung von Forschungs- und Entwicklungsinvesti-
gegen die notwendige Regulierung gewandt hat. Hier tionen –, dass das Kapital, die finanziellen Möglichkei-
werden wir als Koalition einen neuen Ansatz wagen. ten, die „fiskalische Feuerkraft“, wie es der Philosoph
(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- Peter Sloterdijk genannt hat, auch dezentral bei den
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So verlieren Sie noch Menschen zur Verfügung stehen. So schafft man Innova-
mehr Prozente! Sie sind schon bei 9 Prozent! tionen, nicht durch Ihre zentralistisch-planwirtschaftli-
Bald sind Sie bei 7 Prozent! – Hubertus Heil che Politik.
[Peine] [SPD]: Sie kommen unter 5 Prozent!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
– Sie können sich ja melden, Herr Heil, aber rufen Sie der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Ah!)
jetzt nicht unqualifiziert dazwischen!
– Sie sagen jetzt „Ah!“ und stöhnen herum. Sie haben
(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- hier und heute nichts von Ihren eigenen Vorstellungen
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können ja nicht dargelegt; aber wir kennen sie ja durch Ihren „Deutsch-
mehr Niveau haben als Sie!) land-Plan“. Was war das denn? Das war ein Sammelsu-
rium.
Die zweite Dimension, die ich beschreiben will, be-
trifft die neue Balance zwischen dem Staat einerseits und (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein Konzept! –
dem privaten Sektor andererseits. Zuruf von der SPD: Eine klare Linie!)
1592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Christian Lindner
(A) Herr Steinmeier hat mit seinen Beamten am grünen (Beifall bei der FDP) (C)
Tisch überlegt, was vielleicht eine Zukunftsbranche sein
Unsere Politik, die auf Wachstum und Arbeit setzt, ist
könnte, die dann bitte schön mit Subventionen beatmet
ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Zu ihr gibt es
werden sollte.
keine Alternative.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch! Sie
Ich danke Ihnen.
haben das noch nicht einmal gelesen!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
So macht man keine Politik, und das ist Ihnen vom Sach- der CDU/CSU)
verständigenrat damals zu Recht auseinandergenommen
worden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lieber Kollege Lindner, das war Ihre erste Rede im
der CDU/CSU) Deutschen Bundestag. Ich gebe zu, dass ich nicht darauf
gekommen wäre, wenn man mir das nicht ausdrücklich
Jetzt will ich noch einen Satz zu den Grünen sagen,
mitgeteilt hätte. Meine besondere Gratulation und alles
und zwar zu Herrn Kuhn, weil ich es als eine Anmaßung
Gute für die weitere parlamentarische Arbeit!
empfunden habe, wie Sie hier gesprochen haben, Herr
Kuhn. (Beifall)
(Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich setze das Einverständnis der FDP-Fraktion vo-
NEN] unterhält sich mit der Abg. Renate raus, dass wir die Debatte bei möglichst wenig störender
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fortsetzung der Gratulationscour fortsetzen können.
– Herr Kuhn, ich spreche mit Ihnen, aber offensichtlich Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
haben Sie intern andere Gespräche zu führen. Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
NEN]: Wir reden über Sie!)
Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Sie haben hier von einem Wachstumsfetischismus ge-
sprochen. Das finde ich interessant. Dies ist eine uralte Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Wir
Debatte, die der Club of Rome schon in den 70er-Jahren diskutieren den Jahreswirtschaftsbericht 2010 auf dem
eröffnet hat. Wir wissen heute: Die Grenzen des Wachs- Hochpunkt einer Krise und können dennoch feststellen,
tums, von denen Sie ja auch auf Ihrer Vorstandsklausur dass im Jahr 2009 die Arbeitslosigkeit in Deutschland
(B) gesprochen haben, hat der menschliche Geist durch Spit- im Durchschnitt niedriger war, als es vor vier Jahren (D)
zentechnologien und Spitzendienstleistungen immer ohne Krise in diesem Land der Fall war. Selbst wenn der
überwunden. Anstieg, der im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert
wird, stattfindet, werden wir in einer besseren Lage sein
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- als 2005, als noch keine Krise in Sicht war.
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich denke, das ist darauf zurückzuführen, dass in der
Aber was ist das für eine Gesellschaft, über die Sie Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in den vergange-
sprechen? Der Status quo, den Sie verteidigen, ist die nen Jahren die Weichen richtig gestellt worden sind. Das
kärglichste Zukunftsvision, die man haben kann. war Politik für die Menschen in Deutschland. Diese
kluge und zielführende Politik wollen wir auch weiter-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führen.
NEN]: Nein! Das wollen wir gar nicht! Wir
wollen Modernisierung! Wir wollen Innova- (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
tion! Mehr als Sie!) [Peine] [SPD]: Schade, dass Sie es nicht ma-
chen!)
Wir wollen Wachstum.
Wir haben in der Finanzmarktkrise gesehen, dass die
(Beifall bei der FDP) Staaten in der Weltgemeinschaft die letzten Vertrauens-
geber waren, um fehlendes Vertrauen in den Märkten zu
Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir wollen Wachstum,
ersetzen.
weil in einer prosperierenden Gesellschaft die Men-
schen, die sich einen sozialen Aufstieg erarbeiten wol- (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
len, sehr viel leichter zu dem Ziel kommen, ihre Lebens- [SPD])
bedingungen zu verbessern.
– Ich freue mich über den Beifall, Herr Heil. –
(Garrelt Duin [SPD]: Professor Binse! –
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die FDP
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
klatscht ja nicht!)
NEN]: Sie haben ja kein Wort verstanden!)
Ich gebe allerdings zu bedenken, dass wir vor zwei Auf-
Die statische Gesellschaft, auf die Sie hinauswollen,
gaben stehen. Wenn die nächste Krise kommt,
kann sozialen Aufstieg nur in einem harten Verdrän-
gungs- und Verteilungswettbewerb organisieren. Das (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wollen wir ausdrücklich nicht. Das ist immer noch dieselbe Krise!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1593
Dr. Michael Meister
(A) werden wir darauf achten müssen, dass die Staaten noch (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Nein!) (C)
in der Lage sind, als Vertrauensgeber Krisenhilfe zu leis-
Für uns gibt es keinen Widerspruch zwischen Bürgern
ten.
und Staat. Wir sind der Meinung, dass der Bürger in die-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch richtig!) sem Land handlungsfähig sein muss,
Ich will zwei Dinge anmahnen. Zunächst einmal müs- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)
sen wir darauf achten, dass wir unsere eigene Hand- indem wir ihm Freiheit durch Bürokratieabbau und auch
lungsfähigkeit bewahren. Das bedeutet Haushaltskonso- finanzielle Handlungsfreiheit gewähren und ihm Chan-
lidierung, die Hebung von Innovationspotenzialen und cen eröffnen, dass er in diesem Land Arbeit hat. Deshalb
Strukturveränderungen. Das müssen wir auch bei ande- haben wir das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verab-
ren Staaten anmahnen, weil wir Krisenprävention nicht schiedet
alleine betreiben können.
(Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine]
Wir werden des Weiteren dafür sorgen müssen, dass [SPD])
die Initiative von Präsident Obama genutzt wird, um in-
ternational zu Absprachen für eine bessere Regulierung und andere Entlastungsmaßnahmen mit einem Gesamt-
der Finanzmärkte zu kommen. volumen in Höhe von 24 Milliarden Euro beschlossen,
die den Bürgern in diesem Land an erweiterter finanziel-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ler Handlungsmöglichkeit für 2010 zur Verfügung ste-
der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen hen. Das ist die richtige Politik für die Menschen in die-
Sie das Minister Brüderle!) sem Land.
– Ich glaube, dass in der Koalition eine große Einigkeit (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
darüber besteht, dass Regulierung notwendig ist, dass sie [Peine] [SPD]: Können Sie das mit den Hotels
besser ausgestaltet werden muss als in der Vergangenheit noch mal erklären, Herr Meister?)
und dass wir den Willen haben, das auch international zu
vereinbaren und umzusetzen. Ich hoffe und wünsche, Das ist keine Politik gegen die Kommunen. Ich will
dass auch andere Länder nicht nur diskutieren, sondern erwähnen, der Bundesfinanzminister hat in der Schluss-
die Absprachen jeweils in nationales Recht umsetzen. runde der Haushaltsdebatte sehr wohl darauf hingewie-
Basel II war ein Negativbeispiel. Damals gab es Abspra- sen, dass wir die Not der Gemeinden erkannt haben
chen, die nicht umgesetzt wurden. Das darf nicht wieder (Widerspruch bei der SPD)
geschehen.
und dass wir zeitnah beginnen werden, an dieser Stelle
(B) (Beifall bei der CDU/CSU) den Kommunen Handlungsfähigkeit zurückzugeben. (D)
Die Wachstumsprognose für 2010 ist einerseits er- Das heißt, wir spielen hier die Interessen der Beteiligten
freulich, weil sie von einem Plus von 1,4 Prozent aus- nicht gegeneinander aus,
geht. Andererseits muss man sehen, dass es einen statis- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch!)
tischen Überhang aus 2009 gibt. Wir haben nach wie vor
positive Wirkungen aus den staatlichen Konjunkturpro- sondern wir versuchen in kluger Weise, Bürger und
grammen und durch die Auswirkungen der internationa- staatliche Verwaltungsebenen für die Zukunft hand-
len Konjunkturmaßnahmen zu verzeichnen. Das heißt, lungsfähig zu machen.
der Aufschwung ist nach wie vor nicht selbsttragend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir alles tun müssen, Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum ver-
um Insolvenzen zu vermeiden und dadurch Beschäfti- schweigen Sie die Hotelregelung?)
gung zu sichern.
Ich komme zu dem Kollegen Kuhn, der das Thema
Dazu hat diese Koalition bereits etwas geleistet. Wir Wachstum angesprochen hat. Wachstum ist wahrlich
haben die Sanierungsklausel im Steuerrecht entschärft. nicht alles. Aber ohne Wachstum werden wir aus dieser
Wir haben die Zinsschranke für den Mittelstand im Steu- Krise nicht herauskommen.
errecht entschärft, und wir haben dafür gesorgt, dass Un-
ternehmen nicht durch ertragsunabhängige Steuerbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
standteile belastet werden. All diese Maßnahmen stehen Ihre Aussage ist richtig. Wir dürfen uns nicht nur auf
im Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Damit sollen In- Wachstum konzentrieren. Wir dürfen aber auch keine
solvenzen vermieden und Arbeitsplätze in Deutschland Reden gegen Wachstum halten, und wir dürfen keine Po-
erhalten werden. Das war leider Gottes mit den Sozial- litik gegen Wachstum machen, sondern wir müssen
demokraten nicht möglich. Sie haben aus rein ideologi- Wachstum in ein Gesamtkonzept stellen.
schen Gründen Arbeitsplätze und Unternehmen aufs
Spiel gesetzt. Diese Politik haben wir beendet. Ich (Beifall bei der CDU/CSU)
glaube daher, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind. Ich greife Ihr Beispiel von den Kohlekraftwerken
(Beifall bei der CDU/CSU) gerne auf. Der Neubau von Kohlekraftwerken mit gerin-
geren Emissionen in Deutschland ist, wenn sie als Ersatz
Herr Heil, Sie haben hier einen vollkommen falschen an die Stelle von alten Kraftwerken treten, sowohl hin-
Widerspruch aufgebaut. Sie haben nämlich versucht, die sichtlich der Innovation als auch hinsichtlich der Ökolo-
Bürger gegen den Staat zu stellen. gie eine Dividende für unser Land. Deshalb sollten wir
1594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
– Richtig, er ist nicht der Urheber dieses Satzes. – Das Das Zitat geht weiter; das ist der entscheidende Satz:
mag sein. Aber das Problem ist, dass Herr Brüderle uns Wenn sie schon glaubt, zusätzliche Mittel zur Ver-
im Unklaren darüber lässt, was die anderen 50 Prozent fügung zu haben, dann sollten diese besser für Zu-
für die Bundesrepublik Deutschland eigentlich sein sol- kunftsinvestitionen eingesetzt werden, anstatt sie
len, mit denen wir das Ganze voranbringen sowie Stabi- beispielsweise in Form von Betreuungsgeld und
lität und Wachstum erreichen wollen. Steuernachlässen für Hotelbetriebe zu verwenden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hier ist nicht Oppositionspolitik zitiert worden, son-
DIE GRÜNEN) dern dies steht im Sachverständigengutachten.
Die Menschen in Deutschland, die Arbeitnehmerin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nen und Arbeitnehmer, und nicht zuletzt die Unterneh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
men haben – so will ich es formulieren – großes Glück
gehabt, dass im Jahr 2008 und im Wesentlichen im Jahr Darauf haben Sie keine entsprechende Antwort gegeben.
2009 andere regiert haben als Sie, dass Peer Steinbrück, (Christian Lindner [FDP]: Hat denn der Sach-
Olaf Scholz und andere Sozialdemokraten im Kabinett verständigenrat zum SPD-Plan etwas gesagt?
dafür gesorgt haben, dass es einen klaren Plan gab, aus Zitieren Sie das mal!)
dem hervorging, wie mit dieser Krise umzugehen ist,
dass man Weitsicht bewiesen hat und dass die richtigen Ich bin ganz sicher, dass wir ein paar Elemente in die
Instrumente in der Großen Koalition auf den Weg ge- Diskussion einbringen müssen; einige davon sind hier
bracht worden sind. schon genannt worden, im Übrigen gerade von Herrn
Meister, der das Thema Verbriefungsgesetz angespro-
Sie machen nun zweierlei: Erstens. Sie werfen gezielt
chen hat. Ich bin mir sicher, dass wir in sehr konstruktive
Geld aus dem Fenster, und zwar für Einzelne und We-
Gespräche darüber einsteigen können, weil dies ein
nige, auch noch Geld, das Sie eigentlich gar nicht haben.
Thema ist, das in der Tat dringend einer vernünftigen
(Beifall bei der SPD) Lösung zugeführt werden muss.
Zweitens kündigen Sie nur an, dass man eine strenge Aber wir brauchen zunächst den Grundsatz – das be-
Haushaltskonsolidierung brauche. Sie lassen vermis- trifft nicht nur das Ressort von Herrn Brüderle, sondern
1596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Garrelt Duin
(A) in gleicher Weise das von Herrn Schäuble und auch von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
Frau Aigner, wenn man es genau sieht –, dass kein
Hier geht es doch darum, die Menschen in Arbeit zu hal-
Markt, kein Produkt und kein Akteur auf diesem Markt
ten. Natürlich wissen die Betriebe, dass das ein teures In-
in Zukunft unreguliert und unbeaufsichtigt bleiben darf.
strument ist, aber es geht doch darum, die Fachkräfte in
Wir brauchen dort verschärfte Regeln. Von Ihnen, Herr
den Betrieben zu halten. Sie können nicht einerseits den
Brüderle, Herr Schäuble, aber auch Frau Bundeskanzle-
Fachkräftemangel, der auf uns zukommt, beklagen und
rin, erwarte ich mehr Energie, um das umzusetzen, was
andererseits eine Beschränkung auf nur 18 Monate ein-
in Pittsburgh beim G-20-Gipfel verabredet und als Ziel
führen.
beschrieben worden ist. Wir benötigen eine internatio-
nale Finanztransaktionssteuer. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Wir brauchen eine längere Perspektive für die Menschen
in den Betrieben, damit sie in Arbeit bleiben und damit
Für die Erreichung dieses Ziels muss von Ihrer Seite sie mit dem Einkommen, das sie zur Verfügung haben,
mehr Kraft aufgewendet werden, und auch wenn diese den Konsum ankurbeln.
Steuer international zunächst nicht durchzusetzen ist, so
muss doch dieses Ziel bestehen bleiben. Dann muss man Herzlichen Dank.
auf der europäischen Ebene anstreben, etwas zustande (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz
zu bringen. Ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn auch dies Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
in den nächsten Monaten nicht zu erreichen ist, dann
muss es eine nationale Börsenumsatzsteuer geben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Lötzer, Frak-
tion Die Linke.
Dies jedenfalls raten wir Ihnen eindeutig, und unsere Be-
reitschaft, das umzusetzen, ist vorhanden. (Beifall bei der LINKEN)
Im Übrigen, Herr Brüderle, brauchen wir eine viel
stärkere europäische Koordinierung. Es reicht nicht Ulla Lötzer (DIE LINKE):
aus, nur auf die Geldpolitik auf der europäischen Ebene Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr
zu blicken und auf die dortige Rolle der EZB und des Lindner, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Um-
ECOFIN zu verweisen. Vielmehr brauchen wir eine verteilung mittels Steuersenkung zugunsten von Vermö-
engere Abstimmung und eine engere Koordinierung genden und Konzernen sei etwas Neues, dann ist das
auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das heißt verlogen; es ist auch verlogen, zu sagen, damit werde die
(B) zum Beispiel, dass man den Vorschlag des Ratspräsiden- Binnennachfrage gestärkt. Wir wissen, dass diese Politik (D)
ten, von Herrn Zapatero, ernst nimmt und noch einmal in den letzten Jahrzehnten die Armut verschärft hat, die
darüber nachdenkt, ob es nicht richtig ist, 1 Prozent zu Binnennachfrage ruiniert hat, zu Spekulationen auf den
investieren und noch einmal öffentliche Investitionen Finanzmärkten geführt hat und damit die Krise mit ver-
auszulösen, damit Menschen gut durch diese Krise kom- ursacht hat. Sonst gar nichts.
men und in Arbeit bleiben oder Arbeit finden können. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich zu dem Punkt „privat versus Staat“
Ich kann aus Zeitgründen nicht mehr auf das einge- kommen. Herr Brüderle, Sie schreiben in Ihrem Jahres-
hen, was wir im Bereich der Bildung benötigten. Das, wirtschaftsbericht, eine der Herausforderungen sei die
was Sie vorschlagen, ist viel zu wenig. Wir bräuchten Stabilisierung der Konjunktur. Umso erstaunlicher
eine viel größere Anstrengung. Ich nenne einmal die finde ich allerdings, dass Sie im gleichen Atemzug an-
Zahl von rund 10 Milliarden Euro, die allein der Bund kündigen, dass Sie die staatlichen Konjunkturpro-
jährlich investieren müsste, um im Bereich der Bildung gramme kürzen bzw. nicht mehr weiterführen wollen. Im
voranzukommen. Jahr 2009 wurden Ausgaben in Höhe von 33 Mil-
liarden Euro geplant und fast vollständig realisiert. Das
Abschließend will ich jedoch auf einen Punkt aus Ih- war uns zu wenig; es hat aber trotzdem Beschäftigung
rer Rede zu sprechen kommen. Sie haben über die Kurz- gesichert, und zwar die von Handwerkern, die von kom-
arbeit gesprochen und zu Recht beschrieben, dass dies munalen Aufträgen abhängig sind, und die von Bauar-
ein wirksames Instrument war, um Menschen in Arbeit beitern. Besonders erfolgreich war das Gebäudesanie-
zu halten. Sie haben aber darüber hinaus einfach nur da- rungsprogramm, das dann aufgestockt wurde.
von gesprochen, dass es ein teures Instrument und eine
Diese Mittel waren nicht nur konjunkturell wichtig;
Subvention sei. Dieser Sprachgebrauch entlarvt Sie;
seit langem liegt Deutschland im europäischen Vergleich
denn ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die in
bei öffentlichen Investitionen zurück. 40 Milliarden Euro
den großen Betrieben, um die es dabei in erster Linie
mehr müssten alleine Bund, Länder und Kommunen
geht, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwun-
jährlich investieren, um nur im europäischen Durch-
gen sind, kurz zu arbeiten, sich als Subventionsempfän-
schnitt zu liegen, geschweige denn um Spitzenwerte er-
ger empfinden. Sie wissen genau, mit welcher psycholo-
zielen zu können.
gischen Wirkung das Wort Subvention in Deutschland
gebraucht wird. Das ist aus meiner Sicht im Zusammen- Die Bürgerinnen und Bürger merken Ihr Verständnis
hang mit der Kurzarbeit vollkommen unzulässig. von Staat in dieser Hinsicht überall: fehlende oder marode
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1597
Ulla Lötzer
(A) Schulen und Kindergärten, Verkehrssysteme, die die Luft Wachstum und Innovationen fördern wollen. Nach der (C)
verpesten, ungedämmte Gebäude, die viele CO2-Schäden Verfassung sollen wir die Industrie aber nicht reizen;
verursachen, und vieles andere mehr. Jetzt kürzen Sie die vielmehr heißt es dort: Eigentum verpflichtet. Verpflich-
Mittel bereits auf 28 Milliarden Euro und nehmen mit Ih- tet ist somit die Politik, die Rahmenbedingungen so zu
rem Steuersenkungsprogramm den Kommunen die not- setzen, dass auch die Industrie dem Gemeinwohl dient
wendigen Mittel für die Investitionen weg. Das ist unserer und nicht nur den Profiten einiger weniger.
Auffassung nach ein Skandal, Herr Brüderle.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Wir fordern eine aktive Industriepolitik, die den not-
Wolfgang Tiefensee [SPD] und Fritz Kuhn
wendigen ökologischen Umbau mit sozialen Fragen wie
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Beschäftigungssicherung verbindet. Wir wollen, dass
Wir fordern die Aufstockung, nicht die Kürzung. Wir aus dem Deutschlandfonds dafür 25 Milliarden Euro in
wollen ein Zukunftsprogramm von 50 Milliarden Euro die Hand genommen werden. Bevor Herr Lindner wie-
für öffentliche Investitionen von Bund, Ländern und der „SED“ und „Planwirtschaft“ schreit: In Frankreich
Kommunen. Wir brauchen sie, um die Daseinsvorsorge wird so vorgegangen. In Brasilien wird erfolgreich Indus-
zu erhalten, wir brauchen sie, um den ökologischen Um- triepolitik betrieben, indem Mittel als staatliche Beteili-
bau, zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, einzulei- gung vergeben werden, verbunden mit Auflagen für öko-
ten, und wir brauchen sie für den Ausbau regenerativer logischen Umbau und mit demokratischer Kontrolle. –
Energien. Wir brauchen sie darüber hinaus zur Stabilisie- Ihr Deutschlandfonds schafft weder Rahmenbedingun-
rung der Konjunktur, um Arbeitsplätze zu sichern. Der gen für den ökologischen Umbau, noch ist er demokra-
Chef des Internationalen Währungsfonds, Strauss-Kahn, tisch kontrolliert. Es ist ein Schattenhaushalt, über den
hat kürzlich gewarnt, dass eine zweite Rezession drohe, allein Staatssekretäre und Minister verfügen.
wenn die Industrieländer ihre Konjunkturprogramme zu
Wir wollen Alternativen zu Ihrer Exportorientierung,
früh beendeten. Lassen Sie sich das doch endlich eine
die am Ende ist. Wir bieten Ihnen eine Alternative, die
Warnung sein, und folgen Sie unseren Ratschlägen!
Wirtschaftsdemokratisierung mit ökologischer Erneue-
(Beifall bei der LINKEN) rung, sozialen Dienstleistungen und öffentlicher Da-
seinsvorsorge verbindet. Das schüfe Kraft für Neues,
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf nicht aber Ihre Fortschreibung der Umverteilungspolitik.
das öffentliche Personal zu sprechen kommen. Auch da
ist Deutschland Schlusslicht, auch da haben Sie keine Danke.
Kraft, Zukunft zu gestalten, wie es so schön verheißt. (Beifall bei der LINKEN)
(B) Soziale Dienstleistungen sind Gradmesser für Beschäf- (D)
tigung und Wohlstand. Sie entscheiden über Lebensqua-
lität. Allein 400 000 zusätzliche Beschäftigte fehlen in Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Ganztagsbetreuung, sagt das DIW. Studien zur Al- Der Kollege Dr. Georg Nüßlein ist der nächste Redner
tenpflege besagen, dass dort demnächst 500 000 Arbeits- für die CDU/CSU-Fraktion.
plätze benötigt werden. Deshalb ist die Schaffung von (Beifall bei der CDU/CSU)
1 Million Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst ein wei-
terer Schwerpunkt unseres Programms.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist
selbstverständlich, dass eine so wichtige Landtagswahl
Dritter Schwerpunkt. Die Arbeitslosigkeit ist vor al-
wie die in NRW ihre Schatten vorauswirft; man hat es
lem in den exportabhängigen Industrieregionen, zum
insbesondere bei den Reden der Opposition gespürt. Ich
Beispiel in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württem-
bin der Auffassung, dass dieser Jahreswirtschaftsbericht
berg, gestiegen, und Kurzarbeit – das sagen auch Sie –
die besondere Chance geboten hat, in dieser Debatte he-
schützt nicht ewig vor Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig
rauszukehren, dass es eine historische Gemeinschafts-
leistet sich der Exportweltmeister Deutschland eine völ-
leistung der Politik und insbesondere der Bundespolitik
lig überaltete Industrie. Unter dem Druck kurzfristiger
war, das zu erreichen, was wir hier geschafft haben. Es
Renditeorientierung sind langfristige Ziele wie ökologi-
wäre gut gewesen, wenn Sie das einmal angesprochen
sche Erneuerung und Innovation der Industrie auf den
hätten.
Hund gekommen. Aus einem Gutachten für das Um-
weltministerium der letzten Regierung geht hervor, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
der Investitionsanteil der Industrie von 25 Prozent im Garrelt Duin [SPD]: Die Große Koalition,
Jahr 1970 auf 18 Prozent gefallen ist und sich somit richtig! Sie hätten zuhören müssen! Genau das
ebenfalls unter dem OECD-Durchschnitt befindet. Drin- haben wir gesagt! – Hubertus Heil [Peine]
gend erforderlich ist, die Sicherung von Arbeitsplätzen [SPD]: Danke für das Lob!)
mit dem notwendigen ökologischen Umbau der Indus-
trie zu verbinden. Wahlkampfgetöse gehört zwar dazu – ich mache das
auch gerne –; dennoch wäre es besser gewesen, wenn
(Beifall bei der LINKEN) Sie hier ein bisschen leiser getreten hätten.
Sie haben hier viel von Anreizen, Steuernachlässen Es geht hier darum, den Bürgerinnen und Bürgern
und anderen Maßnahmen gesprochen, mit denen Sie Vertrauen zu vermitteln. Das ist uns bisher sowohl auf
1598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Wolfgang Tiefensee
(A) Ich will durchexerzieren, was sich im Jahreswirt- würdiger Lohn und damit ein menschenwürdiges Leben (C)
schaftsbericht und in Ihren Vorhaben findet. Der erste gehören.
Punkt ist, dass Sie die Steuern senken und gleichzeitig
den Haushalt konsolidieren wollen. Sie werden im vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
liegenden Jahreswirtschaftsbericht der Forderung nicht der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
gerecht, diese Quadratur des Kreises aufzulösen GRÜNEN)
Wenn Sie das nicht gewährleisten, dann wird es nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nur weniger Kaufkraft geben und der Staat wesentlich
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mehr Steuergelder aufbringen müssen – dies ist übri-
und zu beweisen, was Sie dem Sachverständigengutach- gens, wenn Sie so wollen, eine Subvention –, sondern
ten entgegenzusetzen haben. Von einem neutralen Gut- dann brauchen Sie sich nicht zu wundern – auch dies ist
achten kann man, da es um eine der größten Volkswirt- wieder ein ostspezifisches Problem –, dass die Men-
schaften der Welt geht, erwarten, dass man, Herr schen von Ost nach West gehen und die Facharbeiter
Brüderle, nicht nur sagt: „Wir wollen eine Schippe dort fehlen, wo wir sie dringend brauchen, um die Indus-
drauflegen“ oder: „Wir haben den richtigen Kompass“; trie aufzubauen.
vielleicht schauen Sie auch mal auf den Kompass. Es (Beifall bei der SPD)
geht vielmehr auch darum, dass man deutlich macht, wa-
rum durch Steuersenkungen und weitere Verschul- Jetzt stehen marktgerecht ausgestaltete Vermitt-
dung Wachstum entstehen soll. Diese Begründung sind lungsgutscheine auf der Tagesordnung. Auch soll Bür-
Sie uns schuldig geblieben. gerarbeit ausprobiert werden. Wenn Sie schon den Pfad
der Großen Koalition und letztlich den der rot-grünen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Regierung fortsetzen – man liest es im Jahreswirtschafts-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bericht und im Haushaltsentwurf 2010 –, dann doch bitte
Daraus folgt, dass Sie die Kommunen arm machen. auch in diesem Bereich. Warum muss Bürgerarbeit aus-
Ich hatte zwischen Weihnachten und Silvester 2008 das probiert werden? Warum wollen wir den Menschen zum
große Vergnügen, ein Konjunkturprogramm zur Gebäu- Beispiel im Osten, aber auch in anderen strukturschwa-
desanierung und ein Konjunkturprogramm im Verkehrs- chen Gebieten sagen: „Wir experimentieren erst noch
bereich auszuarbeiten. Wenn Sie den Kommunen das ein bisschen; das, was funktioniert, werfen wir weg“?
Geld wegnehmen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, Verlassen Sie diesen Pfad! Er ist falsch.
dass nicht weiter investiert wird. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Summa summarum: Herr Brüderle, Herr Lindner, (D)
(B) der LINKEN) überdenken Sie Ihr Grundverständnis von Staat und
Das ist der völlig falsche Weg. Aus diesem Grund sage Wirtschaft; denn Sie verlassen einen guten Pfad und ge-
ich: Verlassen Sie diesen Pfad! hen in die Irre. Lassen Sie uns in der Zukunft darüber
diskutieren. Es ist keine theoretische Debatte. Das Wohl
Zur Arbeitsmarktpolitik. Hier schlagen Sie einen Irr- und Wehe von Tausenden Menschen einer der stärksten
weg ein. Auf der einen Seite, Herr Nüßlein, wird ab und Industrienationen Europas und damit eine globale Ent-
zu gelobt, dass die Geltungsdauer der Regelung zum wicklung hängen an der Frage, ob Sie diesen Irrweg ver-
Kurzarbeitarbeitergeld verlängert worden ist. In der lassen.
Regel wird dann von „man“ gesprochen; man nennt
nicht Ross und Reiter, nicht diejenigen, die das geschafft Vielen Dank.
haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Olaf Scholz!)
Aber es geht nicht nur um das Kurzarbeitergeld, son- Präsident Dr. Norbert Lammert:
dern, Herr Brüderle, auch um den Kommunalkombi, der Nun erhält der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber das
zum Beispiel im Osten unserer Republik viel bewirkt Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
hat. Tausende Langzeitarbeitslose sind in Arbeit gekom-
men. Warum beenden Sie dieses Programm? Herr Vaatz, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
warum beenden es der Ministerpräsident, der Finanz- neten der FDP)
und der Wirtschaftsminister im Freistaat Sachsen? Men-
schen, die in Arbeit sind, werden herausgedrängt. Das ist Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
der falsche Pfad. Verlassen Sie ihn! Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
(Beifall bei der SPD) gen! Herr Tiefensee, Sie haben uns aufgefordert, über
das Verhältnis von Wirtschaft und Staat nachzudenken.
Das Gleiche gilt für die Mindestlöhne. Es ist mehr- Herr Tiefensee, wir glauben nicht, dass der Staat die
fach angesprochen worden: Wir brauchen einen gesetzli- Aufgabe hat, Chancen für Zukünfte vorherzubestimmen.
chen Mindestlohn, aber nicht aus ideologischen Grün- Vielmehr glauben wir, dass die Wirtschaft aus eigener
den, Herr Brüderle, sondern aus dem einfachen Grund Verantwortung Zukunft schaffen muss, dass der Staat da-
– Herr Lindner, ich freue mich, dass Sie wieder da sind –, bei helfen und unterstützen kann, dass wir auf die Initia-
dass zu einer menschenwürdigen Arbeit ein menschen- tive des Einzelnen vertrauen, dass wir die Freiräume
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1601
Dr. Heinz Riesenhuber
(A) schaffen müssen, dass der Einzelne vorangehen und auf- das Signal an den Mittelstand von den Unternehmen ver- (C)
bauen kann, nicht aber, dass der Staat eng gestrickte Pro- standen wird: Macht die Forschung nicht kleiner! Stellt
gramme auflegt, bei denen gesagt wird, was der Einzelne auch in der Krise junge Wissenschaftler ein! – Wir haben
tun soll. es 1994 und vorher schon 1979 erlebt, dass, wenn die
Wirtschaft in der Krise nicht einstellt, anschließend die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zahlen junger Studenten zurückgehen, die Ingenieure,
Wir haben vom Sachverständigenrat und anschlie- Chemiker oder Physiker werden wollen.
ßend auch im Jahreswirtschaftsbericht drei zentrale He-
Das aufzuholen, braucht dann Jahre. Deshalb halte
rausforderungen benannt bekommen: erstens, die Wirt-
ich es für prima, dass Herr Hambrecht für die chemische
schaft zu stabilisieren. Hier greift der Staat in Krisen ein,
Industrie erklärt hat: Wir werden durchhalten. Wir wer-
und er hilft. Aber – so haben es Herr Brüderle und
den auch in der Krise einstellen. – Das brauchen wir:
Michael Meister gesagt – der Staat muss auch schauen,
Staat und Wirtschaft als Partner. Das ist die Stärke. Das
wie schnell er sich zurückziehen kann, damit es nicht
ist die Voraussetzung für eine vernünftige Strategie.
kontraproduktiv wird; denn er weist nicht die Zukunft.
Die Zukunft kann der Staat nicht erfinden. Er muss Frei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
raum schaffen, damit Zukunft von denen geschaffen
werden kann, die in Wissenschaft und Wirtschaft die Ar- Zur Hightech-Strategie: Herr Kuhn verlangt ein
beit zu tun haben. Wachstum mit menschlichem Gesicht. Jawohl! Im Jah-
reswirtschaftsbericht heißt es, dass sich die Förderung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Schlüsseltechnologien der Hightech-Strategie zuneh-
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber bei der Bil- mend an gesellschaftlichen Zielen wie Gesundheit, Si-
dung soll er sich engagieren!) cherheit, Alter, Kommunikation und Mobilität orientie-
Zweitens, Haushalte zu konsolidieren. Darüber haben ren wird. Es ist genau diese Strategie aus einem Guss,
wir mit Wolfgang Schäuble in der vergangenen Woche die dem Einzelnen Freiheit und die Chance gibt, seine
diskutiert. Rolle zu finden und erfolgreich zu sein, für sich selbst
und für uns alle.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo?)
Es gibt einige Bereiche, in denen wir noch viel tun
Drittens, Wachstumsspielräume zu erweitern. Dies müssen. Manches ist in dem vorzüglichen Bericht mit
wird hier definiert. Es wird gesagt, wo dies erfolgen soll: eleganter Beiläufigkeit erwähnt. Wenn es in einer einzi-
in Bildung, in Forschung und in Innovation. Die Kolle- gen Zeile unter Punkt 69 des Anhangs heißt, dass wir die
gin Nadine Müller wird nachher über Bildung sprechen, klinische Forschung stärken wollen,
einen der zentralen strategischen Bereiche.
(B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber wie?) (D)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Da sind wir mal gespannt!) dann ist das hochinteressant. Dahinter steht die Tatsache,
dass zwar in den Haushalten der Länder 3 Milliarden
Forschung und Innovation sind die Felder, auf denen Zu- Euro für klinische Forschung und die Unterstützung der
kunft entsteht. Die Frage, ob Kreativität möglich ist, ist Universitätskliniken zur Verfügung stehen, aber der Wis-
zuerst eine Frage an die Wissenschaftler und an die Un- senschaftsrat mahnt seit Jahren an, dass davon vielerorts
ternehmer. Wir fahren Bürokratie nicht nur zurück, um weniger als 10 Prozent in die Forschung eingehen. Die-
Kosten zu senken, sondern auch, um Freiheiten zu schaf- ses Problem zu beheben, wird eine faszinierende Auf-
fen, um die Möglichkeit zu Neuem zu eröffnen. gabe für die Bundesregierung im Zusammenspiel mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vielen sein.
In einer schwierigen Zeit werden wir dabei durchaus Es ist wichtig, dass wir bei der steuerlichen For-
helfen. Bei der Forschung für den Mittelstand haben schungsförderung weiterkommen. Im Jahreswirt-
wir mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittel- schaftsbericht heißt es – er baut auf dem Gutachten des
stand in der Krise gewaltige Summen draufgelegt; in Sachverständigenrats auf –:
diesem Jahr sind es 450 Millionen Euro zusätzlich zu Die Bundesregierung strebt an, mit einer steuerli-
den bisherigen 313 Millionen Euro. Was ist der Sinn? chen Förderung von Forschung und Entwicklung
Dass auch unter dem Druck der Krise die mittelständi- zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für
schen Unternehmen, die Quelle für viele Innovationen kleine und mittlere Unternehmen auszulösen.
sind, imstande sind, ihre Forschung durchzuhalten und
Zukunft zu schaffen. Damit sie sich nicht nur mit Kri- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist das Kon-
senmanagement befassen, legen wir so viel Geld drauf. zept dafür?)
Eine der interessanten Herausforderungen, lieber Herr Das ist eine prachtvolle Bundesregierung.
Brüderle, wird sein, wie wir in der nächsten Runde die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass hier nichts ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
bricht und dass die Förderung auf hohem Niveau fortge- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht schna-
setzt wird, damit wir einen Übergang bekommen, der in cken! Machen!)
eine gute Zukunft hineinträgt.
Wenn sie etwas anstrebt, dann wird sie es auch errei-
Bei diesem Zentralen Innovationsprogramm wird der chen. Wir werden alle helfen, dass dies gelingen kann.
Übergang wichtig sein, und es wird wichtig sein, dass Ich weiß, dass das unter dem Druck der Situation der
1602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Nicht miesmachen, sondern mitmachen! In diesem Fall Mit dem Teilzeitelterngeld macht Ministerin Kristina
lohnt es sich wirklich. Köhler weitere wichtige Schritte zu mehr Flexibilität.
Das alles sind überfällige Maßnahmen. Wenn wir jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht tätig werden, verliert entweder der Arbeitsmarkt
neten der FDP) die jungen Paare, oder die jungen Paare verlieren die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1605
Nadine Müller (St. Wendel)
(A) Lust am Kinderkriegen. Beides können wir uns auf Überweisungsvorschlag: (C)
Dauer nicht leisten – im Interesse der jungen Paare, aber Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
auch in unserem eigenen Interesse. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Die christlich-liberale Koalition tut alles, um hier zu hel- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
fen. Es wäre schön, wenn sich auch der Sachverständi- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
genrat in seinem nächsten Gutachten mit dieser Thema- Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem
tik eingehend befassen würde. Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das
Insgesamt gilt: Wir sind in vielen Bereichen auf ei- Wort.
nem guten Weg. Vieles wurde begonnen, Probleme wur-
(Beifall bei der LINKEN)
den erkannt. Für die Vermeidung des Fachkräftemangels
trägt nicht nur die Politik Verantwortung. Auch die Wirt-
schaft muss hier einen deutlichen Beitrag leisten. Klaus Ernst (DIE LINKE):
Schließlich geht es um ihren Fachkräftebedarf und ihr Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Potenzial an gut ausgebildeten Mitarbeitern. Herren! Wieder einmal debattieren wir im Deutschen
Bundestag über die Leiharbeit. Anlass ist dieses Mal die
Bund, Länder, Wirtschaft und Gesellschaft müssen
Firma Schlecker.
gemeinsam die wichtigen Zukunftsaufgaben angehen.
Die CDU/CSU-Fraktion will das gerne tun. Packen wir (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
es deshalb gemeinsam an! Ganz schlechte Presse für Sie heute!)
Danke schön. Warum? Bei der Firma Schlecker wird den Verkäuferin-
(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/ nen gekündigt; dann wird ihnen angeboten, bei den
CSU]: Hervorragend! Ausgzeichnet!) neuen XL-Märkten als Leiharbeiterinnen wieder anzu-
fangen. Etwa 4 300 Leute sind betroffen. Ihnen wird ge-
sagt, sie könnten dort für die Hälfte des Lohnes arbeiten,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld, bei weniger Ur-
Kollegin Müller, dies war Ihre erste Rede im Deut- laubstagen. Bereits 1 000 der kleinen Filialen der Firma
schen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und viele Schlecker wurden geschlossen. Das Problem dabei ist:
gute Wünsche für die weitere Arbeit! All das, was die Firma Schlecker hier macht, ist voll-
(Beifall) kommen legal.
(B) (D)
Ich schließe die Aussprache zu diesem Thema. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
ist das Schlimme!)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/500, 17/44, 17/521 und 17/470 an Für die betroffenen Schlecker-Beschäftigten heißt
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- das: Inzwischen werden Stundenlöhne von nur
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der 6,50 Euro bezahlt. Der Tariflohn wäre 12,70 Euro. Die
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Leiharbeitsfirma Meniar, für die die Arbeitnehmer letzt-
endlich arbeiten müssen, hat einen Tarifvertrag mit der
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeit-
auf: arbeit, CGZP, abgeschlossen.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Was sind die Folgen für die Beschäftigten? Inzwi-
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, schen dürfte es sich herumgesprochen haben; der Stern
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE hat in seiner Ausgabe vom letzten Donnerstag in einer
LINKE sehr deutlichen Sprache vom „Geschäftsmodell Ausbeu-
Lohndumping verhindern – Leiharbeit strikt tung“ gesprochen. Die Menschen leben in Angst vor
begrenzen Kündigung, werden gezwungen, unbezahlte Überstun-
den zu machen, schuften bis zu 60 Stunden in der Woche
– Drucksache 17/426 – für einen Hungerlohn usw.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Hier liegt die Situation vor, dass die Menschen bei der
Rechtsausschuss Leiharbeitsfirma dieselbe Arbeit machen wie Festange-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stellte, aber nur die Hälfte des Lohns verdienen. Das ist
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate ein absolut unakzeptabler Zustand.
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin
(Beifall bei der LINKEN)
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Er hat mit modernen Arbeitsbedingungen nichts zu tun.
Nachdem Sie von den Grünen und der SPD bei diesem
Zeitarbeitsbranche regulieren – Missbrauch
Thema inzwischen eine andere Position einnehmen,
bekämpfen
würde ich mich im Übrigen freuen, wenn Sie darüber
– Drucksache 17/551 – nachdenken könnten, was Sie damals eigentlich ange-
1606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Klaus Ernst
(A) stellt haben, als Sie die Leiharbeitsregelungen gelo- Bei der Schmitz Cargobull AG in Altenberge kamen (C)
ckert haben. auf 440 Beschäftigte mit einer Festanstellung in der
Spitze bis zu 600 Leiharbeitskräfte. Nach Protesten der
Der Punkt ist: Immer mehr Arbeitnehmer in Leih- IG Metall und der Belegschaft ist die Quote nun auf
arbeitsfirmen sind Aufstocker, so auch bei der Firma etwa 30 Prozent abgesenkt worden.
Schlecker. Sie werden zum Teil aus Steuergeldern be-
zahlt, während Herr Schlecker, der Eigentümer dieses Ich könnte diese Liste beliebig lange fortsetzen. Wer
Unternehmens mit einem geschätzten Vermögen von bei dieser Situation und bei dieser Realität noch sagt, es
2,4 Milliarden Euro, weniger Lohnausgaben hat. Wir handele sich bei der Leiharbeit um ein Einzelproblem,
finanzieren mit Steuergeldern die billigen Löhne und der verkennt die Realität und der will das Problem ver-
den Reichtum von Anton Schlecker. Das ist zurzeit der schleiern. Das ist die Realität.
Zustand.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann
[DIE LINKE]: Unerhört!) Der Sinn der Leiharbeit ist inzwischen nicht mehr,
Auftragsspitzen abzudecken, der Sinn ist auch nicht
Was macht die Bundesregierung? Noch im November mehr, wegen Krankheit oder aus anderen Gründen kurz-
hat sie auf Anfrage von Sabine Zimmermann erklärt: fristig Personal auszugleichen, sondern der Sinn der
Leiharbeit ist ganz einfach erstens eine Lohnsenkung
Die Bundesregierung ist kein Forschungsinstitut,
für die Beschäftigten und zweitens eine Disziplinierung
dessen Aufgabe es wäre, solchen Einzelfällen nach-
der Arbeitnehmer, die nicht in Leiharbeit beschäftigt,
zugehen.
sondern im selben Unternehmen wie die Leiharbeiter
Keine zwei Monate später sehen wir jetzt, dass Frau von fest angestellt sind.
der Leyen – leider ist sie nicht da – inzwischen dieses sehr
Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können,
wichtige Thema aufgreift. In der Sendung Anne Will hat
aber was glauben Sie eigentlich, wie es wirkt, wenn zwei
sie am 10. Januar 2010 gesagt – ich zitiere wörtlich –:
Leute nebeneinander dieselben Tätigkeiten ausüben, wo-
Bei Schlecker gucken wir sehr genau hin, ob da bei der eine 30 oder 40 Prozent weniger Lohn erhält?
Missbrauch betrieben wird oder ob Gesetze umgan- Das ist offensichtlich das, was der eine oder andere hier
gen werden. Wenn das der Fall ist, werden wir diese unter Motivation versteht. Glauben Sie denn wirklich,
Schlupflöcher schließen. dass unter solchen Bedingungen tatsächlich eine Beleg-
schaft vorhanden ist, die sich bemüht und richtig moti-
Man solle die Leiharbeit insgesamt doch bitteschön nicht viert den Betrieb voranbringt? Ich denke, das glauben
(B) verteufeln, das wäre ja offensichtlich sozusagen nur ein Sie selber nicht. (D)
Ausreißer.
Wir haben das Problem – das ist ein anderer Gesichts-
Ich kann nur sagen: Schlecker ist kein Einzelfall. punkt bei der Leiharbeit –, dass dadurch auch das
Wenn man so tut, als wäre dies ein Einzelfall, dann will Beschäftigungsrisiko weg von den eigentlichen Arbeit-
man die Leiharbeit offensichtlich generell nicht regeln, gebern hin zu den Beschäftigten verlagert wird. Der
sondern dann will man das nur auf einen Einzelfall Gewinn wird oft auch als Risikozuschlag bezeichnet.
schieben. Das werden wir nicht zulassen. Ich sage Ihnen: Wenn nicht mehr der Arbeitgeber, son-
dern letztendlich die Beschäftigten das Risiko tragen,
(Beifall bei der LINKEN)
weil sie sofort entlassen werden, wenn irgendetwas
Ich möchte einige Beispiele aus der Realität der Bun- kracht, dann ist letztlich auch der Gewinn des Unterneh-
desrepublik Deutschland aufzeigen: mens infrage gestellt. Wenn der Gewinn der Risikozu-
schlag ist, das Risiko aber die Arbeitnehmer tragen, dann
Bei dem Unternehmen BMW in Leipzig arbeiten rund müssten sie letztendlich auch den Gewinn erhalten. So
30 Prozent der Beschäftigten als Leiharbeitnehmer. Das einfach ist die Lage.
hat im Übrigen überhaupt nichts mehr mit Auftragsspit-
zen zu tun, wie oft argumentiert wird. Es müsste sich ja (Beifall bei der LINKEN)
schon um eine Hochebene handeln, wenn 30 Prozent der
Arbeitnehmer Leiharbeiter sind. Auftragsspitzen in Meine Damen und Herren, ich brauche Ihnen die Da-
Höhe von 30 Prozent sind keine Spitzen mehr. ten nicht weiter aufzuzählen und nenne nur einige
Punkte: Zwischen 1997 und 2007 betrug die Zunahme
Bei dem Siemens-Schaltwerk in Berlin waren von bei der Leiharbeit 235 Prozent, zwischen 2003 und 2009
2 200 Beschäftigten 600 Leiharbeitnehmer. kam über eine halbe Million Beschäftigte in der Zeitar-
beitsbranche neu hinzu usw. Ich glaube, wenn man hier
Die Braunschweiger Zeitung beschäftigt Leiharbeit- noch von Einzelproblemen redet, dann verkennt man die
nehmer, wobei diese Angestellte der eigens dafür Realität wirklich.
gegründeten Druck- und Verlags-Service GmbH sind.
Deren einziger Kunde ist die Braunschweiger Zeitung. Wie konnte es dazu eigentlich kommen? Warum ha-
Der Lohnunterschied zu den Festangestellten beträgt ben wir das Problem? Unter Rot-Grün wurde die Leih-
1 000 bis 1 500 Euro im Monat. Die Leute dort haben arbeit 2002 im Ersten Gesetz für moderne Dienstleistun-
weniger Urlaubstage, sie erhalten weniger Zuschläge, sie gen am Arbeitsmarkt in einer Weise dereguliert und
haben keine Freischicht usw. hoffähig gemacht, dass man sich heute nicht wundern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1607
Klaus Ernst
(A) muss, dass diese Leiharbeit auch in der Form praktiziert Mich wundert, dass euch das immer erst in der Opposi- (C)
wird, wie sie praktiziert wird. tion einfällt statt dann, wenn ihr regiert und es ändert
könntet, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Ge-
Was ist passiert? Das Befristungsverbot bei der Leih-
nossinnen und Genossen.
arbeit ist aufgehoben worden. Das Synchronisationsver-
bot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Danach (Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme
darf ein Leiharbeiter nur genau so lange eingestellt wer- [SPD]: Schauen Sie doch mal auf die Be-
den, wie er verliehen wird. Das Wiedereinstellungsver- schlüsse des Parteitages! – Gegenruf der Abg.
bot bei der Leiharbeit ist aufgehoben worden. Die Be- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ihr
schränkung der Überlassungsdauer auf zwei Jahre ist habt das Gesetz gemacht!)
aufgehoben worden. Es gab ursprünglich eine Begren-
Deshalb fordern wir Linken – Sie können beweisen,
zung der Überlassungshöchstdauer bei Leiharbeit auf
dass Sie es mit der Regelung der Leiharbeit ernst mei-
drei Monate, die inzwischen aufgehoben worden ist. Da-
nen; denn wir haben einen entsprechenden Antrag in den
für hat man im Gesetz den Gleichstellungsgrundsatz
Deutschen Bundestag eingebracht –: Erstens darf der
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, Equal Pay, veran-
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht un-
kert, der aber durch Tarifverträge ausgehebelt werden
terlaufen werden, auch nicht durch Tarifverträge. Es war
kann. Im Ergebnis haben wir die Billigtarifverträge der
Ihr großer Fehler, dass Sie das ins Gesetz aufgenommen
Christlichen Gewerkschaften.
haben.
Diejenigen, die dieses Gesetz damals gemacht haben,
Zweitens müssen Leiharbeitnehmer wie in Frankreich
hätten wissen müssen, dass dies passieren wird.
besser gestellt werden als die normalen Arbeitnehmer,
(Beifall bei der LINKEN) weil sie besonders flexibel sein müssen.
Erstens haben die Gewerkschaften damals davor ge- (Beifall bei der LINKEN)
warnt, das Gesetz so zu verabschieden.
Deshalb fordern wir eine Zulage in Höhe von 10 Prozent
(Anette Kramme [SPD]: Das stimmt doch gar des Bruttolohns für Leiharbeitnehmer in den Betrieben.
nicht! Die haben mit am Verhandlungstisch
(Beifall bei der LINKEN)
gesessen!)
Die Überlassungshöchstdauer muss wieder auf drei
Auch Rot-Grün ist gewarnt worden.
Monate begrenzt werden, und vor allen Dingen brauchen
(Widerspruch des Abg. Fritz Kuhn [BÜND- wir wieder mehr Mitbestimmungsrechte für die Be-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) triebsräte.
(B) (D)
– Ich kann Ihnen gerne vorlesen, Herr Kuhn, auch das, (Beifall bei der LINKEN)
was Sie bzw. Ihre Fraktion damals gesagt hat.
Wer weiß besser, ob reguläre Arbeitsverhältnisse zu-
Zweitens wollten Sie mit diesem Gesetz bewusst dazu gunsten von Leiharbeit beendet werden sollen, als die
beitragen, dass die Löhne gesenkt werden. Aus den Pro- Betriebsräte? Sie können beurteilen, ob Leiharbeitneh-
tokollen geht hervor, dass durchaus zur Debatte stand, mer dazu benutzt werden, die Zahl der Stammbeschäf-
Tarifverträge abzuschließen, die unter dem Niveau des tigten abzubauen.
Equal-Pay-Grundsatzes lagen. Das war die damalige Si-
Sie haben Gelegenheit, unserem Antrag zuzustim-
tuation.
men. Dann werden wir die Ernsthaftigkeit Ihrer gegen-
Heute sagt die SPD, sie wolle alles anders machen. wärtigen Debatte überprüfen können.
Ich will aber festhalten, dass auch Klaus Brandner,
Danke für die Aufmerksamkeit.
Hubertus Heil, Elke Ferner, Olaf Scholz und Anette
Kramme damals dieser Liberalisierung der Leiharbeit (Beifall bei der LINKEN)
zugestimmt haben. Ich halte das für eine Sauerei.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Anette Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kramme ist also schuld!) Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
Klaus Brandner hat am 15. November 2002 im Bun-
destag gesagt:
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
Mit den neuen Bestimmungen holen wir die Leihar- Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
beit insgesamt aus der Schmuddelecke. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
macht nach meiner Auffassung Sinn, dass wir uns an
Auf dem SPD-Parteitag am 13. November 2009 hinge-
dieser Stelle mit einigen Fakten der Zeitarbeit auseinan-
gen hat Herr Gabriel gesagt – ich zitiere –:
dersetzen, um kein Zerrbild entstehen zu lassen. Zu den
Was wir aber falsch gemacht haben, ist Folgendes: Fakten gehört: Die Zeitarbeit baut Brücken für den Ein-
Wir haben das Scheunentor für Scheintarifverträge stieg oder die Rückkehr in sozialversicherungspflichtige
mit Scheingewerkschaften so aufgemacht, dass für Beschäftigung, gerade auch für Menschen, die sonst nur
viele Leih- und Zeitarbeit der Regelfall geworden geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Fakt ist
ist und dass sie mit Armutslöhnen zu leben haben, weiter: Die Zeitarbeit sorgt für die Flexibilität, die die
liebe Genossinnen und Genossen. Unternehmen heute dringend brauchen, um marktge-
1608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
An uns liegt es jetzt, die Weichen richtig zu stellen, Wir sprechen also über eine Lohndifferenz von rund
Missbrauch zu verhindern und die Rechte von Arbeit- 1 400 Euro. 2006 erhielten 20 Prozent der in regulären
nehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken. Ich hoffe Beschäftigungsverhältnissen Beschäftigten einen Niedrig-
sehr, dass uns dies hier gemeinsam gelingen wird. Ich lohn. Bei den Leiharbeitern waren es schon damals
halte es für gut, dass auch die CDU/CSU und an der 67 Prozent.
Spitze die neue Arbeitsministerin von der Leyen Hand- Wie konnte es dazu kommen? Durch Schaffung du-
lungsbedarf sieht und Änderungen angekündigt hat. bioser Gewerkschaften wie der Tarifgemeinschaft
Diese Einsicht von CDU/CSU hätte ich mir allerdings Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-
schon während der gemeinsamen rot-schwarzen Regie- serviceagenturen wurde die Arbeitnehmerseite systema-
rungszeit gewünscht. tisch geschwächt. Diese Scheingewerkschaften haben
(Beifall bei der SPD) arbeitgeberfreundliche Tariflöhne zulasten der Beschäf-
tigten ausgehandelt. Es ist ein gutes Zeichen, dass das
Vieles wäre uns und vor allem den betroffenen Men- Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg der Tarifge-
schen erspart geblieben. Herr Brauksiepe, prüfen alleine meinschaft Christlicher Gewerkschaften jetzt die Tarif-
wird hier nicht weiterhelfen. Taten müssen folgen. fähigkeit abgesprochen hat.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, die Fraktionen der Linken Gut wäre es, wenn derartige Arbeitnehmernichtvertre-
(B) und der Grünen haben mit ihren Anträgen einen guten tungen grundsätzlich verschwinden würden. (D)
Aufschlag gemacht. Wir werden im Februar ebenfalls
unsere Forderungen zur Arbeitnehmerüberlassung vor- Wir können hier im Bundestag unseren Beitrag dazu
legen. Es ist bedauerlich, dass es uns mit den bisherigen leisten, und zwar durch einen flächendeckenden gesetz-
Reformen nicht gelungen ist, die Leiharbeit endgültig lichen Mindestlohn.
aus der Schmuddelecke herauszuholen. 2003 waren wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gemeinsam mit den Grünen und mit den Gewerkschaften der LINKEN)
auf einem guten Weg. Herr Ernst, wir haben die Refor-
men gemeinsam in engem Schulterschluss mit den Ge- Gerade in der Leiharbeit ließe sich so Lohndumping
werkschaften durchgeführt. Darauf möchte ich aus- wirksam bekämpfen. In ihrem Antrag bekennen sich die
drücklich an dieser Stelle hinweisen. Grünen zum Tarifvertrag, den der DGB abgeschlossen
hat: 7,31 Euro für den Westen und 6,36 Euro für den
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Osten. Ich bin überrascht, dass die zentrale Forderung ei-
Die rot-grüne Bundesregierung hat dafür gesorgt, nes Mindestlohns in dem Antrag der Linksfraktion hin-
dass für die Leiharbeitsbranche endlich Regeln geschaf- gegen überhaupt nicht auftaucht.
fen wurden. Bis zum Beginn der weltweiten Wirtschafts- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
und Finanzmarktkrise hat die Leiharbeit in Deutschland ist doch albern! Wir haben genug Anträge vor-
mit dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit zu senken. gelegt, die Sie abgelehnt haben! – Klaus Ernst
Viele Leiharbeiter stehen aber heute in der Krise als [DIE LINKE]: Ist Ihnen entgangen, dass wir
Erste wieder auf der Straße. Über 250 000 Leiharbeiter 10 Euro fordern?)
wurden in sehr kurzer Zeit entlassen. Leider ist es den
Tarifparteien nicht gelungen, das hohe Arbeitsplatzrisiko Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen
durch gute und faire Löhne auszugleichen oder über- einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens
haupt Lohngerechtigkeit in der Branche herzustellen. 7,50 Euro. Meine Damen und Herren von den Mindest-
Das ist ärgerlich; denn die rot-grüne Bundesregierung lohnverweigererfraktionen CDU/CSU und FDP, die heu-
hat 2003 ausdrücklich eine grundsätzliche Gleichstel- tige Antragsberatung wäre völlig überflüssig, wenn Sie
lung von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern sich unserer Position zum Mindestlohn angeschlossen
mit den Festangestellten in den Betrieben im Arbeitneh- hätten.
merüberlassungsgesetz festgeschrieben.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: „Wenn ich“ und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) „hätte ich“!)
1612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Gabriele Hiller-Ohm
(A) Fakt ist: Sehr viele Zeitarbeiter können trotz einer Man muss feststellen – ich habe von einer Erfolgsge- (C)
Vollzeitarbeit nicht von ihrem Lohn oder Gehalt leben schichte gesprochen –: Die Zeitarbeit ist ein wichtiges
und sind auf aufstockende Sozialleistungen angewiesen. Instrument auf dem Arbeitsmarkt. Zeitarbeit schafft in
Über 0,5 Milliarden Euro musste der Staat für zu nied- einem herausragenden Maße neue sozialversicherungs-
rige Leiharbeiterlöhne zuschießen. Das ist für diese Be- pflichtige Beschäftigung, und zwar mehr als jedes an-
schäftigten zutiefst demütigend und auch volkswirt- dere arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Instru-
schaftlich der falsche Weg. ment. Ich frage mich, Herr Ernst, wie man auf die Idee
kommt, diese erfolgreiche Maßnahme, dieses erfolgrei-
(Beifall bei der SPD) che Instrument strikt eingrenzen zu wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus dem Nach den Reformen von 2003 hat sich die Anzahl
schönen Schleswig-Holstein. der Zeitarbeitsplätze in den folgenden Jahren mehr als
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) verdoppelt – ich sehe das als Erfolg –: In der Spitze ha-
ben mehr als 800 000 Menschen eine Beschäftigung
Hier haben die SPD-Bundestagsabgeordneten schon im über die Zeitarbeit gefunden. Besonders wichtig: 60 Pro-
Frühjahr 2008 gemeinsam mit der IG-Metall ein umfas- zent, zeitweise 70 Prozent der Zeitarbeiter waren zuvor
sendes Positionspapier zur Leiharbeit verabschiedet. nicht regulär beschäftigt. Das zeigt die Stärke der Zeitar-
Leider fehlte uns bisher der richtige Partner, um die nöti- beitsunternehmen quasi als Scout; sie sind bahnbrechend
gen Gesetzeskorrekturen umzusetzen. Wichtige Forde- für arbeitslose Berufsrückkehrer, Berufseinsteiger, Per-
rungen sind: Stopp von Lohndumping durch einen ge- sonen aus der stillen Arbeitsmarktreserve. Das alles steht
setzlichen Mindestlohn; gleicher Lohn für gleiche im elften AÜG-Bericht. Durch die Zeitarbeitsunterneh-
Arbeit, weg mit dem Tarifvorbehalt; gleiche Rechte für men wird eine Integrationsleistung erreicht, von der die
Leiharbeiter und Stammpersonal, übrigens auch bei der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg nur träumen kann.
Weiterbildung; Synchronisationsverbot und Höchstquote
für Leiharbeiter in den Belegschaften; Begrenzung der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Verleihzeiten; Verbot von konzerninternen Verleihun- der CDU/CSU)
gen; Stärkung der Betriebsräte. Herr Kollege Ernst, ja, es gibt in Einzelfällen den Ver-
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Lauter gute such, das Instrument der Zeitarbeit zu missbrauchen.
Vorschläge!) Das beobachten wir sehr genau. Wir werden diesen
Missbrauch ohne Wenn und Aber erfolgreich bekämp-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass der fen.
öffentliche Druck jetzt auch die CDU/CSU zum Handeln
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) veranlassen wird und dass es uns im weiteren Beratungs- (D)
verfahren gelingt, gemeinsam eine gute Lösung für die der CDU/CSU)
Probleme der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in Da sind wir uns mit unserem Koalitionspartner absolut
Deutschland zu finden. einig. Davon auszugehen, Zeitarbeit an sich sei Miss-
Danke schön. brauch, wie Sie und auch die Grünen es in ihrem Antrag
tun, halten wir aber für vollkommen verfehlt. Die große
(Beifall bei der SPD) Zahl der Zeitarbeitsverhältnisse läuft vollkommen kor-
rekt und in geordneten Bahnen ab. Für jeden, der das
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wissen will, ist das alles mit der Darstellung im elften
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak- AÜG-Bericht sehr transparent. Frauen sind eben nicht
tion. überproportional betroffen; vielmehr wird nur etwa ein
Viertel der Arbeitsplätze in der Zeitarbeit von Frauen be-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) setzt. Ausländer werden eben nicht ausgebeutet; viel-
mehr sind nur gerade einmal 13 Prozent der Zeitarbeiter
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ausländer. Die Zeitarbeitsquoten liegen mit 2,5 Prozent
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die – zugegeben, das ist eine Verdoppelung gegenüber 2004;
heutige Debatte gibt Anlass, über die aktuelle Situation aber das hat Rot-Grün mit seiner Reform damals wohl so
der Zeitarbeit in Deutschland einmal grundlegend angestrebt – in einem Rahmen, der absolut akzeptabel
nachzudenken. Ich will zunächst einmal festhalten: Die ist. Das kann man doch bei einer Gesamtabwägung wohl
Reform der Leiharbeit mit dem Ersten Gesetz für mo- kaum anders sagen. Deswegen rate ich uns, hier nicht in
derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist eine Erfolgs- Aktionismus auszubrechen.
geschichte, mit der deren Väter und Mütter, so auch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Mutter Hiller-Ohm heute, nichts mehr zu tun haben wol-
der CDU/CSU)
len. Das steht auf einem anderen Blatt. Das geht weiter
bei den Grünen. Die Überschrift ihres Antrags „Zeit- Nun zum Fall Schlecker: Das Ministerium prüft hier
arbeitsbranche regulieren – Missbrauch bekämpfen“ ist auf Anregung der Koalitionsfraktionen den Sachverhalt,
ein Indiz dafür, dass auch sie die Rolle rückwärts üben und es schaut auch, ob es noch andere Fälle von Miss-
wollen. Weiter geht es auch bei den Linken. „Lohndum- brauch gibt und was man dagegen tun kann. Ohne dem
ping verhindern – Leiharbeit strikt begrenzen“, so die Ergebnis dieser Prüfung jetzt vorzugreifen, kann man
Überschrift ihres Antrages. Aber von Ihnen, Herr Ernst, schon einmal – Herr Ernst, Sie wollen es ja immer genau
haben wir sowieso nichts anderes erwartet. wissen – zwei Dinge festhalten:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1613
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Es gibt keine flächendeckende Flucht in die konzern- Leiharbeitsfirma nicht klappt. Das klappt bei den christ- (C)
interne Zeitarbeit. Das lässt sich auch aus dem AÜG-Be- lichen Gewerkschaften nicht, und auch bei den DGB-
richt herauslesen. Wenn es sie doch gäbe, so wäre es für Gewerkschaften – das gebe ich selbstkritisch zu – ist die
die Tarifpartner, die daran ja ein nachhaltiges Interesse Verhandlungsmacht nicht sehr groß. Deshalb meine
haben müssten, ein Leichtes, durch einen entsprechen- zweite Frage: Wie wollen Sie das ausgleichen, wenn es
den Zuschnitt des Anwendungsbereiches des Tarifvertra- tarifautonomisch überhaupt nicht funktioniert?
ges Konzernbereiche von Zeitarbeit auszuschließen und
damit die Abweichung vom Grundsatz des Equal Pay (Beifall bei der LINKEN)
bzw. des Equal Treatment unmöglich zu machen. Wenn
es die Tarifpartner nicht hinbekommen, kann der Gesetz- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
geber das gegebenenfalls tun. Damit wäre das Problem Danke schön. – Ich habe mich natürlich wie Sie auch,
der konzerninternen Leiharbeit gelöst. Herr Kollege Ernst, gefragt, was Rot-Grün damals bei
dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-
Ich sage auch sehr deutlich – das ist ein zweiter Fall
beitsmarkt überhaupt bewogen hat, zum einen von Equal
von Missbrauch, den ich zu erkennen glaube –: Da, wo
Treatment zu sprechen, zugleich aber zu erlauben, dass
über die Nachwirkung ausgelaufener Tarifverträge
von tarifvertraglichen Vereinbarungen abgewichen wer-
ein Problem entsteht, insbesondere von Haustarifverträ-
den kann.
gen, lässt sich durch eine gesetzliche Klarstellung leicht
Missbrauch abstellen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nach unten!)
Wie gesagt, wir werden sehen, was die Analyse des Ich glaube, dass ich die Intention der Kollegen von Rot-
Ministeriums am Ende ergibt, und werden unsere Politik Grün richtig interpretiere, wenn ich es so darstelle, dass
daran entsprechend ausrichten. es insbesondere bei kurzfristiger Zeitarbeit und bei häu-
(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich fig wechselnden Einsätzen für das Entleihunternehmen
zu einer Zwischenfrage) schwer und mit sehr viel Bürokratie verbunden ist, nach-
zuhalten, welche Tarifbedingungen am jeweiligen Ein-
Ich möchte noch auf einen dritten Punkt eingehen, satzort tatsächlich zu beachten sind.
aber zuvor möchte der Kollege eine Zwischenfrage stel-
len, Herr Präsident. (Zuruf von der LINKEN: Eine Verrenkung!)
– Nein, das ist keine Verrenkung. Ich interpretiere das so
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und meine mich zu erinnern, dass das damals in der De-
Also, Herr Kolb hat Ihnen quasi schon das Wort er- batte hier in diesem Hause sogar so vorgetragen worden
(B) teilt. – Bitte schön. ist, Herr Kollege Ernst. (D)
Wenn das so ist – ich glaube, man muss das so sehen –,
Klaus Ernst (DIE LINKE): dann gibt es auch gute Gründe, bei kurzfristigen Einsät-
Danke für die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage, zen so vorzugehen.
Herr Dr. Kolb.
Ergänzend zu dem, was der Staatssekretär vorhin ge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das verlängert sagt hat, möchte ich auch noch auf Folgendes hinweisen:
meine Redezeit!) Neben diesem kurzfristigen Geschäft – häufig wech-
– Mache ich gerne. Sie wissen ja, ich höre Ihnen gerne selnde Einsatzorte – gibt es auch ein langfristig angeleg-
zu. tes Projektgeschäft der Zeitarbeitsunternehmen. Man
kann und muss auch feststellen dürfen, dass bei diesen
Sie sagen, überwiegend laufe im Bereich der Zeitar- Projektgeschäften in der Regel auch sehr ordentlich be-
beit alles korrekt. Jetzt wissen wir aber aus der Praxis, zahlt wird. Da werden nämlich hochqualifizierte Arbeit-
dass die Löhne tatsächlich unterschiedlich sind, obwohl nehmer, Ingenieure und andere Spezialisten im Bereich
Leute die gleiche Tätigkeit machen. Auch bei Facharbei- der Technik, an entsprechende Einsatzorte vermittelt.
tern ist es nicht so, dass sie automatisch alle das Gleiche Hier gibt es das von Ihnen angesprochene Problem
verdienen. Wenn einer neu im Betrieb ist, bringt er in der schon einmal nicht.
Regel noch nicht die volle Leistung und verdient so-
wieso weniger. Das wäre aber richtig, weil er nicht – wie Mit anderen Worten: Bei einer Gesamtabwägung der
ein Leiharbeiter – die gleiche Leistung erbringt. Nun Umstände halte ich es für verantwortbar, so zu handeln,
meine konkrete Frage: Halten Sie es wirklich für korrekt wie es die Kollegen von Rot-Grün damals getan haben,
und für motivierend für die Belegschaften, wenn akzep- nämlich zu sagen, es dürfe eine Abweichung vom
tiert wird, dass für gleiche Arbeit unterschiedliche Grundsatz des Equal Treatment auf der Basis eines Tarif-
Löhne gezahlt werden? vertrages geben.
Dann haben Sie auf die Tarifverträge hingewiesen. Ihre zweite Frage war die nach der Tarifmächtigkeit.
Ich weiß, Sie kennen die Realität; Sie selbst haben ja ein Wir haben das auch im Ausschuss schon diskutiert. Ich
Unternehmen. In der Realität ist es aber doch so, dass rate dringend dazu, die entsprechende Entscheidung ab-
das Zustandekommen von Tarifverträgen davon abhängt, zuwarten. Zwei Entscheidungen befinden sich zwar
ob eine Organisationsmacht vorhanden ist und sich die schon auf dem Rechtsweg, aber eine letztinstanzliche
Arbeitnehmer überhaupt gewerkschaftlich organisieren Entscheidung steht noch aus. Man kann sie erahnen;
können. Sie wissen doch ganz genau, dass das in einer aber in einem Rechtsstaat gehört es sich, abzuwarten, bis
1614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Beate Müller-Gemmeke
(A) Klebeeffekt ist ein Mythos. Bitte nehmen Sie dies end- Wirtschaft und die Beschäftigten wird, wir wollen, dass (C)
lich zur Kenntnis. die Menschen angemessen bezahlt und würdig behandelt
werden, und wir wollen, dass mit dem nächsten Konjunk-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
turaufschwung nicht mehr die Zeitarbeit, sondern reguläre
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Beschäftigungsverhältnisse die höchsten Wachstumszah-
Die Zeitarbeit ist also kein arbeitsmarktpolitischer Se- len aufweisen. Die Substitution von Stammbelegschaf-
gen. Im Gegenteil, sie führt dazu, dass der Aufbau regu- ten muss endlich ein Ende haben. Zeitarbeit muss wieder
lärer Beschäftigungsverhältnisse ins Stocken gerät. Dies zu dem werden, was sie ursprünglich war: ein Instru-
hat der letzte Aufschwung gezeigt. ment zum Abfedern von Auftragsspitzen, nicht mehr
und nicht weniger.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das gibt die Sta-
tistik aber nicht her!) Wir fordern die Regierungsfraktionen auf, die Zeitar-
beit so schnell wie möglich zu regulieren. Gerade in der
Sie ist aber der Preis für die Flexibilität, die für die Un-
Krise hat sich gezeigt, dass aus dem sogenannten Klebe-
ternehmen geschaffen wird. Ich denke, alle politischen
effekt ein Schleudersitz in die Arbeitslosigkeit wurde.
Parteien, sogar die Gewerkschaften, sind bereit, diesen
Preis für eine ökonomische Flexibilität zu zahlen. Jeden- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das stimmt
falls habe ich weder von der Fraktion Die Linke noch einfach nicht, Frau Kollegin!)
von den Gewerkschaften die Forderung gehört, dass die
Zeitarbeit gänzlich abgeschafft werden soll. Nach der Krise wird die Zeitarbeit einen neuen Auf-
schwung erleben – anstelle von regulären sozialversi-
Was wir in unserem Antrag fordern, ist eine sinnvolle cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
Regulierung, damit die Zeitarbeit nicht zum Beispiel für
niedrige Löhne missbraucht wird; die Zeitarbeitsbeschäf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorlauf zu regu-
tigten müssen Lohneinbußen zwischen 35 und 45 Prozent lären Beschäftigungsverhältnissen!)
hinnehmen. Dazu müssen sie nur einmal in die Laumann-
Ich frage Sie von den Regierungsfraktionen: Wollen Sie
Studie hineinschauen. Deshalb fordern wir, dass der
das wirklich? Wenn nein, dann müssen Sie handeln.
Tarifvorbehalt gestrichen wird. Der Gleichbehandlungs-
grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ muss ohne Vielen Dank.
Wenn und Aber gelten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD –
sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Sie regierten,
(B) Als Ausgleich für die hohen Flexibilitätsanforderun- wollten Sie es genau so haben!) (D)
gen fordern wir die Einführung einer Prämie in Höhe
von 10 Prozent des Bruttolohns. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir Das Wort hat nun Kollegin Gitta Connemann für die
auch! Das steht in unserem Antrag!) CDU/CSU-Fraktion.
Jutta Krellmann
(A) Leiharbeit? Im Grunde langt es doch, wenn man die Be- beitsmarkt. Das ist ein weiterer Punkt auf unserer (C)
fristungen anwendet. Es gibt die Möglichkeit, Men- Agenda.
schen befristet in Betrieben einzustellen. Es ist nicht not-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wendig, dass Betriebe von außen Leiharbeitnehmer
neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
einstellen. Im Grunde geht es doch nur darum – das
Die sollen weiterbeschäftigt werden!)
bleibt am Ende nur übrig –, die Löhne und die Entgelte
zu reduzieren, indem man billigere Kräfte einstellt, in- Ebenso steht eine Regelung zur Verhinderung des
dem man ihnen nicht das gleiche Lohnniveau bietet nach Missbrauchs auf unserer Agenda. Das hat übrigens nicht
dem Motto: Gleiches Geld für gleiche Arbeit. nur die Bundesregierung angekündigt. Ich sage an dieser
Stelle sehr deutlich: Die christlich-liberale Koalition hat
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist entlar- durch ihre Sprecher sofort reagiert. Ich sehe Karl
vend für Ihre Denkweise, Frau Kollegin!) Schiewerling und Dr. Heinrich Kolb. Sie haben sehr
deutlich für uns alle gesagt: Wir werden den Missbrauch
Gitta Connemann (CDU/CSU): stoppen. Dazu stehen wir als Koalition,
Frau Kollegin, Sie reihen hier ein Klischee an das an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
dere. Aber das macht es nicht richtiger. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – aber nicht so, wie die Linken oder Bündnis 90/Die Grü-
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ist aber kein Argu- nen sich das wünschen. Meine Damen und Herren von
ment!) der Opposition, die Erfüllung Ihrer Forderungen würde
Zum einen ist der Einsatz von Leiharbeitern für ein das Ende der Zeitarbeit in Deutschland bedeuten.
Entleihunternehmen nicht günstiger als der Einsatz von Sie fordern eine Flexibilitätsprämie wie in Frank-
Festbeschäftigten; denn ein Entleihunternehmen muss zu reich. Haben Sie sich die dortigen Verhältnisse einmal
dem entsprechenden Lohn für den Beschäftigten immer angesehen? Französische Zeitarbeitsunternehmen sind
noch eine entsprechende Pauschale an das Zeitarbeits- eben keine Arbeitgeber, sondern reine Vermittlungs-
unternehmen zahlen. Das ist Punkt eins. agenturen. Ein Arbeitnehmer ist dort nur für die Dauer
des Einsatzes beim Kunden beschäftigt, im Übrigen sehr
(Anette Kramme [SPD]: Das rentiert sich im-
kurzzeitig, im Schnitt 9,5 Tage. Danach ist er arbeitslos
mer noch, wenn man sich die Löhne der Zeit-
und muss sich selbst wieder um einen neuen Einsatz be-
arbeitnehmer anguckt! – Klaus Ernst [DIE
mühen. Diese Flexibilitätsprämie in Frankreich ist also
LINKE]: Bei halbem Lohn rentiert es sich
eine reine Kompensation für das Fehlen eines Dauerar-
schon!)
(B) beitsverhältnisses. Das wünschen Sie sich für Deutsch- (D)
Punkt zwei: Die von Ihnen angesprochene Flexibilität land? Da sage ich im Namen unserer Fraktion sehr klar:
betrifft nur die Flexibilität in dem Arbeitsverhältnis. Da niemals.
ist über Zeitarbeitskonten usw. tatsächlich viel gesche- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
hen. Darum geht es aber nicht. Wir brauchen ein Mittel, neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
damit Betriebe zum Beispiel auf Arbeitsspitzen ebenso Sie haben keine Ahnung von der Realität!)
flexibel reagieren können wie zum Beispiel auf den
Wegfall von Aufträgen. In Deutschland sind Leiharbeitnehmer bei den Zeitar-
beitsunternehmen sozialversicherungspflichtig ange-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Befristung!) stellt. Sie werden auch in verleihfreien Zeiten bezahlt.
Dazu ist die Befristung kein gutes Instrument; Sie haben alle Arbeitnehmerrechte wie zum Beispiel
Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum nicht?) bezahlten Urlaub, Kündigungsschutz etc.
denn die Befristung – so, wie die befristeten Arbeitsver- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Vor allem Kündi-
träge in der Regel ausgestaltet sind – sieht vor, dass eine gungsschutz! Betrogen und beschissen werden
Kündigung vor dem Ende der Befristung nicht möglich die!)
ist. Das heißt, man ist an die Befristungsdauer gebunden. Nur der Arbeitsort wechselt häufiger. Bei uns herrschen
Das geschieht aus gutem Grund, übrigens auch zum
keine französischen Verhältnisse, und das ist gut so.
Schutz des Beschäftigten, verhindert aber den flexiblen
Einsatz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bei drei Monaten
Dauer bei der Leiharbeit?) Denn wir brauchen die Zeitarbeit als vollwertigen Ar-
beitgeber und als unverzichtbaren Beschäftigungsmotor,
Das Dritte ist: Eine Befristung ist möglich. Eine be- auch in der Krise.
fristete Weiterbeschäftigung sieht das derzeitige Arbeits-
recht allerdings nicht vor. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Frau Connemann, Leiharbeit ist wohl
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Der Klebeeffekt!) ein Paradies?)
Deshalb wollen wir als christlich-liberale Koalition das Betriebe können kurzfristig auf die gesunkene Auftrags-
Ersteinstellungsgebot aufheben. Das ist gut für den Ar- lage reagieren und bei einer Konjunkturerholung die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1619
Gitta Connemann
(A) Produktion schnell anpassen. Damit stärkt die Zeitarbeit Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
auch in der Krise die Wettbewerbsfähigkeit. So werden Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
übrigens auch Stammarbeitsplätze im Einsatzbetrieb men.
gesichert.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wie viele Spen- Gitta Connemann (CDU/CSU):
den bekommen Sie von denen?) Für jeden Mitarbeiter müsste vor jedem Einsatz im
Einzelnen geklärt werden, welche Bedingungen gelten.
Meine Damen und Herren von der Linken und den Grü- Das hätte eine Marktbereinigung zulasten des Arbeits-
nen, ich weiß, das wollen Sie nicht hören. Denn Sie be- marktes, zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
gründen Ihre Anträge mit der gegenteiligen Behauptung, nehmer und zugunsten von Arbeitslosigkeit zur Folge.
Stammbeschäftigte würden durch Leiharbeit verdrängt. Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Das ist ein gängiges Argument. Doch Sie bleiben den
Nachweis schuldig. Vielen Dank.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bei Schlecker ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
es doch so!) neten der FDP)
Sie können diesen Nachweis auch nicht führen; denn
die Statistik zeigt vollkommen andere Zahlen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Ottmar Schreiner für die
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SPD-Fraktion.
NEN]: Reden Sie einmal mit Arbeitsminister
Laumann aus Nordrhein-Westfalen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Demnach liegt die Zeitarbeitsquote in Deutschland bei
– ich betone das – nur 2,6 Prozent.
Ottmar Schreiner (SPD):
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! – Klaus Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Ernst [DIE LINKE]: 2,6 Prozent zu viel!) ist schon ziemlich heftig, was von der christlich-libera-
len – ich dachte immer, es sei eine christdemokratisch-li-
Bei diesen 2,6 Prozent ist die Verweildauer nur kurz. Sie
berale – Koalition gesagt wird. Ich fühle mich als Christ
liegt unter drei Monaten.
ausgegrenzt, wenn Sie hier von einer christlich-liberalen
(B) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Da geht es auch Koalition reden. Frau Connemann, das geht ein bisschen (D)
mit Befristung!) weit.
Nur jeder zehnte Leiharbeitnehmer hat eine Verweil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
dauer von einem Jahr oder mehr, so zeigt es der aktuelle LINKEN)
Bericht der Bundesregierung Wie dem auch sei, zunächst einmal möchte ich ein
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP], an Abg. Klaus paar Bemerkungen zu dem machen, was der Vertreter
Ernst [DIE LINKE] gewandt: Den Sie sich der Bundesregierung, Herr Brauksiepe, hier gesagt hat.
durchlesen sollten, Herr Ernst! Ich weiß, De- Sie haben zum einen gesagt, Sie seien im Prüfvorgang,
tailkenntnis macht politikunfähig, aber so ist Sie würden prüfen, ob es bei Schlecker mit rechten Din-
es!) gen zugeht oder ob Rechtsverstöße zu beobachten sind.
Diese Prüfung haben die zuständigen Fachleute bei der
und bestätigt damit übrigens auch die Feststellung des Bundesagentur für Arbeit längst abgeschlossen.
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der
Bundesagentur für Arbeit. Ich zitiere: (Anette Kramme [SPD]: Ja, genau!)
Für die häufig formulierte Begründung, dass Entlei- Ich zitiere hier aus dem Handelsblatt vom 11. Januar
her systematisch reguläre Arbeitskräfte durch Leih- 2010. Dort heißt es folgendermaßen:
arbeiter ersetzen, liefern die Auswertungen keine Schlecker hat offenbar Stammbelegschaft entlas-
empirische Evidenz. … Langfristige Einsätze – und sen, um sie dann in einer eigens gegründeten Zeit-
nur sie sind geeignet, reguläres Personal zu erset- arbeitsfirma zu niedrigeren Löhnen wieder einzu-
zen – gibt es nur selten. stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Was ist denn das anderes, Frau Connemann, als der
neten der FDP) Austausch von relativ ordentlich bezahlten Stammbeleg-
Ihnen fehlen die Argumente für Ihre Anträge. Sie schaften durch Billigstlöhner?
wollen eine Branche regulieren, die übrigens mittelstän- (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehen Sie
disch geprägt ist. Dem bürokratischen Aufwand, der üb- sich doch die Zahlen an!)
rigens mit der Einhaltung des Gleichbehandlungs-
grundsatzes verbunden wäre, die Sie einfordern, sind Das ist doch exakt das, was wir Ihnen hier vorhalten,
diese mittelständischen Unternehmen nicht gewachsen. worüber zu diskutieren ist.
1620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Ottmar Schreiner
(A) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie dabei die vielen anderen, die im Bereich der 400-Euro- (C)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Jobs, der zeitlichen Befristung usw. usf. ähnlich niedrige
GRÜNEN) Stundenlöhne haben. Insoweit müsste das Blickfeld der
Bundesregierung in dieser Frage deutlich erweitert wer-
Weiter heißt es im Handelsblatt vom 11. Januar von
den.
der Sprecherin der Nürnberger Behörde:
Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verbietet so Des Weiteren haben Sie auf die Brückenwirkung, den
etwas nicht. Hier sind politische Entscheidungen Klebeeffekt der Leiharbeit hingewiesen. Frau
nötig. Connemann hat eben das Nürnberger Institut für Ar-
beitsmarkt- und Berufsforschung zitiert mit der Schät-
Das ist exakt die Position der Bundesagentur für Arbeit. zung, dass etwa 15 Prozent der Leiharbeiter übernom-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der men werden. Das heißt im Umkehrschluss: 85 Prozent
LINKEN) der Leiharbeiter werden nicht übernommen. Was ist das
für ein äußerst bescheidener Klebeeffekt, für den man
Die Bundesregierung kann sich auch zu Tode prüfen, bis Arbeitsformen in Kauf nimmt, die inzwischen flächen-
das Ergebnis so ist, wie sie es haben will. deckend mit Lohndumping zu tun haben!
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
Sagen Sie doch mal etwas zur Frankfurter KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Rundschau!) NEN – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Herr
– Ich sage auch etwas zur Frankfurter Rundschau und, Schreiner, jetzt einmal zur SPD!)
wenn Sie wollen, auch zu den anderen Vorgängen. Wer – Wir werden in Kürze einen Antrag einbringen, der klar
auch immer diese Form von Lohndumping betreibt, ist zum Ausdruck bringen wird, dass wir auf dem Grund-
zu kritisieren – ob das die Frankfurter Rundschau ist, ob satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ beharren wer-
das Schlecker ist oder wer auch immer das sein mag. den, liebe Frau Kollegin.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Herr Brauksiepe, Sie haben zum Zweiten das Beispiel
gebracht, ein Langzeitarbeitsloser, der drei Jahre arbeits- Sie sind doch Christdemokratin. Dann müssten Sie
los gewesen ist, freue sich, wenn ihm ein Bruttostunden- mir einmal erklären, was christlich sein soll an einer Po-
(B) lohn von 9,60 Euro gezahlt wird. 9,60 Euro ist der litik, die tatenlos hinnimmt, dass Millionen von Arbeit- (D)
Grenzwert in Richtung Niedriglohnsektor. Das ist ein nehmerinnen und Arbeitnehmern in ihrer Würde tief ver-
außerordentlich beschönigendes Beispiel. Es hat mit den letzt werden, weil sie mit Hungerlöhnen nach Hause
Realitäten des deutschen Arbeitsmarktes leider über- geschickt werden, von denen sie nicht leben können.
haupt nichts zu tun. Was ist daran christdemokratisch? Das müssen Sie mir
einmal erklären.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
NEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich
L. Kolb [FDP]: Was ist an Ihrer Politik sozial-
Ich nenne Ihnen ein paar andere Zahlen: Nach einer demokratisch? – Gitta Connemann [CDU/
Untersuchung des Instituts für Arbeit und Qualifikation CSU]: Fangen Sie bei Ihren eigenen Betrieben
hat Deutschland mit einem Anteil von 23 Prozent an der an, lieber Herr Schreiner!)
Gesamtbeschäftigung inzwischen nach den Vereinigten
Staaten von Amerika den zweitgrößten Niedriglohnsek- – Die Liberalen sind ein hoffnungsloser Fall, Herr Kolb;
tor aller vergleichbaren Industrieländer. Die Amerikaner die wollen wir jetzt nicht weiter in die Diskussion einbe-
liegen bei 25 Prozent, die Franzosen bei 11 Prozent, die ziehen.
Dänen bei 7 Prozent. Wir haben nicht den geringsten
Grund, stolz darauf zu sein, dass wir inzwischen Vize- Ich will Ihnen ein paar Zahlen zur Leiharbeit vortra-
weltmeister in Sachen Niedriglöhne sind, lieber Kollege gen. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass Leih-
Brauksiepe. Das Gegenteil ist der Fall. arbeitnehmer gegenüber Stammarbeitnehmern, die die
gleiche Tätigkeit ausführen, im Durchschnitt 30 Prozent
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weniger verdienen. Wir wissen aus Untersuchungen der
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE jüngsten Zeit, dass jeder achte Leiharbeitnehmer trotz
GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da- Vollzeitarbeit Aufstocker ist, also von zusätzlichen Leis-
für ist die rot-grüne Koalition verantwortlich, tungen nach Hartz IV abhängig ist.
Herr Schreiner! Sie wollten das!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was Sie alles
Wie bereits gesagt, sind die 9,60 Euro exakt die Ober- wissen! Es genügt nicht, zu wissen – Sie müs-
grenze des Niedriglohnsektors. Millionen von Arbeit- sen etwas tun! Was tun Sie im Hinblick auf die
nehmerinnen und Arbeitnehmern befinden sich trotz Zustände bei der Frankfurter Rundschau?)
Vollzeitarbeit im Armutslohnsektor, verdienen also we-
niger als 7,50 Euro brutto. Noch nicht eingerechnet sind – Herr Kolb, Sie haben im Moment Sendepause.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1621
Ottmar Schreiner
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Nochmals: Ich werde versuchen, der Sache mit der (C)
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Frankfurter Rundschau auf den Grund zu gehen.
NEN)
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Wir wissen aus Untersuchungen, dass im Jahr 2008 der Das steht doch seit Monaten überall in der
Bund, das heißt, der Steuerzahler, die Löhne der Leihar- Presse!)
beitsfirmen mit rund 500 Millionen Euro bezuschussen
– Ja gut, das mag sein. – Ich habe einleitend gesagt:
musste, damit überhaupt ein Einkommen in Höhe von
„Wer auch immer diese Form von Lohndumping be-
Hartz IV herausgekommen ist. Das ist doch ein Skandal
ohne Ende! Es kann doch nicht sein, dass Betriebe unter- treibt, ist zu kritisieren“. Das muss abgestellt werden.
stützt werden, deren Geschäftsidee darauf beruht, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Steuerzahler für sie die Löhne zahlt. der LINKEN)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat denn die Die Aussage ist völlig klar. Was mehr wollen Sie hören?
Möglichkeit dazu geschaffen?)
Im Übrigen ist der Niedriglohnsektor nicht von Rot-
Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun, Grün erfunden worden; in Deutschland gab es auch vor
Herr Kollege Kolb. 1998 einen Niedriglohnsektor.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] Richtig ist aber der Hinweis, dass durch gesetzliche
[CDU/CSU]: Alles rot-grüne Gesetzgebung, Maßnahmen nach 1998, insbesondere nach 2002, der
Herr Schreiner! – Abg. Dr. Heinrich L. Kolb Niedriglohnsektor in Deutschland zusätzlich an Fahrt
[FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage) gewonnen hat.
– Das sieht nach einer Zwischenfrage aus, Herr Präsi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihre Schuld! Un-
dent. ter Ihrer Verantwortung!)
– Was soll das heißen? Entschuldigung! Mir ist derjenige
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lieber, der Fehlentwicklungen einräumt und sie abzustel-
Ja. Ich genehmige sie. Bitte schön. len versucht, als jemand, der blind mit dem Kopf durch
die Wand will; das wäre blinder Dogmatismus, den Sie
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): offenkundig auch nicht wollen.
(B) Herr Kollege Schreiner, was Sie vorgetragen haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
war ein bisschen zu viel. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ich habe ein paar Fragen an Sie: Erstens. Seit wann GRÜNEN)
gehören Sie dem Deutschen Bundestag an? Zweitens. Seien Sie doch froh, dass diese Entwicklungen erkannt
Würden Sie bestätigen, dass die Notwendigkeit, einen werden, die – ich vermute, ohne Absicht – jetzt eingetre-
Niedriglohnsektor einzuführen, zu Zeiten der rot-grünen ten sind.
Koalition hier im Deutschen Bundestag erkannt und um-
gesetzt wurde? Niemand konnte übrigens voraussagen, dass die sich
christlich nennenden Gewerkschaften in diesem Aus-
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das bestreitet maß Lohndumping betreiben und damit die Abwärtsspi-
keiner!) rale in Gang setzen würden.
Drittens. Würden Sie bestätigen, dass auch die Mög- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
lichkeit zur Aufstockung Gegenstand und Ergebnis rot- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
grüner Politik ist? Ich weiß: Sie hatten mit alledem GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das
nichts zu tun; Sie waren einer dieser Exoten. Ich lasse es ist doch bei VW auch betrieben worden!)
trotzdem nicht zu, dass Sie heute hier in den Ganges stei-
gen und sich sozusagen von aller Schuld freiwaschen Sie müssen mir als Experten noch erklären, was an die-
wollen. Sie sagen: Ich weiß, ich weiß. Ich sage Ihnen: Es sen Gewerkschaften christlich ist.
genügt nicht, zu wissen; man muss auch tun. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Glauben
Ich frage Sie viertens. Was werden Sie konkret tun, Sie, Sie sind christlich? Was ist das für eine
damit sich die beschriebenen Verhältnisse bei der Frank- Arroganz!)
furter Rundschau in Zukunft ändern?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Herr Kollege, Sie haben eine Zwischenfrage, nicht
Zwischenrufe zu beantworten.
Ottmar Schreiner (SPD):
Ich weiß nicht, wie ernst man diese Zwischenfrage
Ottmar Schreiner (SPD):
nehmen sollte.
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sagt:
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sehr Das sind überhaupt keine Gewerkschaften, weil es ihnen
ernst!) an Tarifmacht fehlt. Es ist anzunehmen, dass das Bun-
1622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Ottmar Schreiner
(A) desarbeitsgericht den Vorgang möglicherweise in ähnli- Frau Kollegin Connemann, niemand will, wie Sie es (C)
cher Form bewertet. Dann bricht der ganze Laden an unterstellt haben, „die Zeitarbeit zu Tode regulieren“.
dieser Ecke zusammen; dieser Art von Gefälligkeitsver- Das hat kein Mensch behauptet; das findet sich in kei-
einbarungen und Scheintarifverträgen wäre zunächst nem der Anträge.
einmal die Grundlage entzogen. Das wäre in der Tat eine
außerordentlich wünschenswerte Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn Sie schon über die Gründe diskutieren, müssen Man kann doch nicht im Ernst von „zu Tode regulieren“
Sie diese Entwicklungslinien mit einbeziehen, um den sprechen, wenn wir europäische Standards auch in
Sachverhalt, über den wir reden, zu verstehen. Der ent- Deutschland anwenden wollen. In anderen europäischen
scheidende Punkt ist nicht: Wer hat wo was verursacht? Ländern funktioniert die Leiharbeit, auch aus Sicht der
Der entscheidende Punkt ist, ob die Mehrheit dieses Beschäftigten, wesentlich besser, als es in Deutschland
Hauses bereit ist, dafür zu sorgen, dass wir in Deutsch- der Fall ist.
land Verhältnisse haben, wie sie in anderen europäischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ländern gang und gäbe sind. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem GRÜNEN)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich Ich möchte zum Schluss sagen – der Präsident ist sehr
L. Kolb [FDP]: Sie hatten elf Jahre Zeit! – streng hinsichtlich der Einhaltung der Redezeit –, dass
Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] nimmt wie- sich inzwischen über die Hälfte der Beschäftigten unter
der Platz) 30 in prekären Arbeitsverhältnissen befindet: Leihar-
– Herr Kolb, bleiben Sie ruhig stehen! Dann habe ich ein beit, zeitlich befristete Verträge, missbräuchlicher Ein-
bisschen mehr Redezeit. satz von Praktikanten. Weniger als die Hälfte der unter
30-Jährigen ist in regulärer, dauerhafter Beschäftigung.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr hingenommen
SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Präsi- werden kann. Wenn sich ein 30-jähriger junger Mann
dent gab mir ein Zeichen!) oder eine 28-jährige junge Frau in einem zeitlich befris-
– Herr Präsident, der Herr will noch stehen. teten Beschäftigungsverhältnis befindet, dann kann sich
dieser Mann oder diese Frau eben nicht verantwortlich
für ein Kind entscheiden, weil er oder sie nicht weiß, ob
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: das Kind in zwei Jahren noch anständig gekleidet und er-
Herr Kolb hat eine Zwischenfrage gestellt; aber jetzt nährt werden kann. Das heißt, wir haben es in der Breite
sind Sie ständig mit Zwischenrufen beschäftigt. Darauf mit einer eindeutigen Überflexibilisierung zulasten der (D)
(B) wollte ich nur hinweisen.
Sicherheit der Beschäftigten in Deutschland zu tun.
Die SPD ist an der Neuen Westfälischen in Bielefeld Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
beteiligt. Ich darf eine Zwischenbemerkung machen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Beteiligt!) Die Reihenfolge der Kurzinterventionen ist nicht fest-
– Auch wenn sie nur daran beteiligt ist. Die Pauschalis- gelegt. Wenn es zwei Kurzinterventionen auf eine Rede
ten sollen dort Arbeitnehmer werden – allerdings in ei- gibt, dann können sie doch wohl hintereinander erfolgen,
ner Leiharbeitsfirma. sodass der Redner auf beide antworten kann.
(B) Die SPD ist an der Oberhessischen Presse in Marburg (D)
Ute Kumpf (SPD):
beteiligt. Dieses Blatt beschäftigt drei Redakteure über
Genau. – Sie erhalten dann auch noch eine Antwort
die Leiharbeitsfirma Browa.
von dem Kollegen Ottmar Schreiner.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, so was!)
Ich möchte Sie gerne hinsichtlich des Vorgangs bei
Die SPD ist an der Sächsischen Zeitung beteiligt. Die- der Frankfurter Rundschau aufklären.
ses Blatt beschäftigt Leiharbeiter über die SZ Sachsen Auch Ihnen müsste die Situation in der Medienland-
GmbH. schaft bekannt sein: Das sind ziemliche Haifischbecken.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sieht nicht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach!)
gut aus, Herr Schreiner!)
– Hören Sie bitte erst einmal zu. – Bei der Frankfurter
Davon wissen Sie tatsächlich nichts? Rundschau – daran sind wir beteiligt – besteht folgender
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Doch! Das Sachverhalt: Es gab die Pauschalisten, die nur ein Zei-
wissen wir!) lengeld erhalten haben. Diese Pauschalisten haben von
sich aus das Interesse bekundet, durch eine Zeitarbeits-
Das wollen Sie mir erzählen? Wie wollen Sie darauf rea- firma übernommen zu werden, weil sie – vielleicht ken-
gieren? Meinen Sie nicht, mehr Sein als Schein wäre nen Sie solche Verläufe – aus ihren sehr prekären Ar-
gut? Nur: Sie haben das heute nicht unter Beweis ge- beitsverhältnissen in eine einigermaßen geordnete Form
stellt. des Zeitarbeitsverhältnisses überführt werden wollten.
Im Übrigen möchte ich einem beliebten Argument in (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Auf einmal
Ihrer Rede ebenfalls entgegentreten. Sie sind auf das ist Zeitarbeit geordnet!)
Thema Aufstockung eingegangen. Die Aufstockung in
Deutschland ist aber kein Problem aufgrund der Lohn- So ist der Sachverhalt.
höhe, sondern aufgrund der Arbeitszeit. Genauso bekannt ist unsere Position, dass Zeitarbeit
(Anette Kramme [SPD]: Ja, das ist klar: Wenn nicht verwerflich ist. Das haben wir auch nie bestritten.
man Minijobs befördert, wie Sie, dann ist das (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
ein Problem aufgrund der Arbeitszeit!)
– Moment, klatschen Sie nicht vorher! – Ich kenne sehr
Wenn Sie sich die Daten ansehen, dann werden Sie fest- wohl die Situation in meinem eigenen Wahlkreis, dass
stellen, dass nur 28 000 in Vollzeit beschäftigte Arbeit- man für Auftragsspitzen und besondere Situationen auf
1624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Ute Kumpf
(A) Zeitarbeit zurückgreift, und weiß, dass dies auch manche Gabriele Molitor (FDP): (C)
Gewerkschaften und Betriebsräte wollen, damit die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben
Stammbelegschaft geschützt wird. Zeitarbeit kann aber Sie mir als neues Mitglied dieses Hohen Hauses einige
nicht als generelle Lösung dienen und muss tariflichen Worte zu dieser Debatte. Ich bin recht erstaunt darüber,
Regelungen unterworfen werden. Das hat mein Kollege welchen Berg uns Vertreter der Vorgängerregierung hin-
Ottmar Schreiner zur Genüge ausgeführt. terlassen haben. Wir wollen uns dessen annehmen. Wir
haben auch gesagt, dass wir die missbräuchliche Praxis
Ich will noch etwas zu dem Beispiel Frankfurter
in der Leiharbeit angehen wollen.
Rundschau sagen, weil Sie immer wieder darauf gepocht
haben. Sachverhalt ist der, dass die Abwicklung auf ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
genen Wunsch der Pauschalisten erfolgt ist. der CDU/CSU)
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau wie Im Dezember 2009 wurden 3,3 Millionen Arbeits-
auf eigenen Wunsch der Schlecker-Mitarbei- lose gezählt. Heute Morgen sind die aktuellen Zahlen
ter, oder was? – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: der Bundesagentur veröffentlicht worden. Danach sind
Nach dem Motto „Wenn einem das Wasser bis 3,6 Millionen Menschen ohne Arbeit. Wenn wir diese
zum Halse steht, darf man den Kopf nicht hän- Menschen fragen, ob es ihnen lieber ist, bei einer Zeit-
gen lassen“!) arbeitsfirma tätig zu sein, als keine Arbeit zu haben, liegt
die Antwort doch klar auf der Hand: Zeitarbeit ist besser
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: als null Arbeit.
Kollege Schreiner, bitte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ottmar Schreiner (SPD): Die FDP hat schon immer die Position vertreten, dass
Auch ich möchte kurz zur Aufklärung der Frau Kolle- Zeitarbeit eine wichtige Rolle am Arbeitsmarkt spielt.
gin Connemann beitragen, weil sie meine Aussage eben Ich habe der Debatte eben entnommen, dass diese Praxis
hinterfragt hat. Jeder achte Vollzeitbeschäftigte in der offensichtlich auch bei den SPD-nahen Zeitungen geübt
Leiharbeit bezieht ergänzende staatliche Leistungen, wird.
weil das Einkommen so niedrig ist, dass es unterhalb der
Hartz-IV-Grenze liegt. Das haben Sie infrage gestellt Reguläre Zeitarbeit heißt im Normalfall, dass Arbeit-
und mit völlig anderen Zahlen operiert. Ich frage mich, nehmer Verträge mit Zeitarbeitsfirmen abschließen.
welcher Quelle Sie Ihre Zahlen entnehmen. Ich offen-
(B) bare Ihnen jetzt die Quelle meiner Zahl und zitiere kurz Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
aus dem Bericht „Leiharbeit in Deutschland. Fünf Jahre Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
nach der Deregulierung“ des DGB-Bundesvorstands. Kollegin Pothmer von den Grünen?
Darin heißt es:
Das niedrige Lohnniveau in Verbindung mit weite- Gabriele Molitor (FDP):
ren missbräuchlichen Praktiken hat dazu geführt, Ja, gerne.
dass inzwischen jeder achte Beschäftigte in der Leih-
arbeit (12,6 Prozent) trotz Vollzeittätigkeit (94 Pro- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zent waren in Vollzeit beschäftigt) auf ergänzende
Frau Molitor, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
staatliche Transferleistungen angewiesen ist. Damit
men, dass keiner der hier vorliegenden Anträge zum Ziel
sind Beschäftigte in der Leiharbeit fünfmal so häufig
hat, die Zeitarbeit abzuschaffen, sondern zum Ziel hat,
auf ergänzende Unterstützung angewiesen wie Be-
die Zeitarbeit
schäftigte anderer Branchen. Allein für die Unter-
stützung der Leiharbeiter müssen staatliche Stellen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unmöglich zu
rund 500 Millionen Euro pro Jahr aus Steuermitteln machen!)
aufwenden.
zu regulieren, damit sie nicht dazu genutzt wird, regu-
Ich hoffe, der notwendigen Aufklärung Genüge getan läre Arbeitsplätze zu ersetzen?
zu haben. Wir können die Zahlen im Rahmen der Fach-
diskussion im Ausschuss abgleichen. Es kann kein Pro- Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
blem sein, sich der Wahrheit zu nähern, wenn der gute in angrenzenden, vergleichbaren europäischen Ländern
Wille da ist. das Volumen der Zeitarbeit deutlich höher ist als in
Deutschland und die Regelungen für die Zeitarbeit dort
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) ungefähr dem entsprechen, was im Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen niedergelegt ist?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wollen Sie also
Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Molitor für die noch mehr Zeitarbeit?)
FDP-Fraktion.
Verbesserte Regelungen für die Zeitarbeit sind mithin
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kein Instrument, um Zeitarbeit zu reduzieren, sondern
der CDU/CSU) ein Instrument, um die Zeitarbeit vernünftig zu regulie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1625
Brigitte Pothmer
(A) ren und sie auch auszuweiten, weil sie dann aus der Schafes dürfen wir jedoch nicht die gesamte Branche in (C)
Schmuddelecke herauskommt, Frau Molitor. Misskredit bringen.
(Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NIS 90/DIE GRÜNEN]) der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Eine ganze Herde zu schlachten, kommt nicht
Gabriele Molitor (FDP): infrage!)
Zunächst einmal will ich deutlich sagen: Zeitarbeit Das Problem ist die missbräuchliche Nutzung des Instru-
steht für mich nicht in der Schmuddelecke. ments Zeitarbeit. Diesen Missbrauch – das haben wir ge-
sagt – gilt es zu verhindern. Das wollen wir angehen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Was nutzt uns denn ein ausgefeiltes Arbeitsrecht,
Es gibt sehr wohl Zeitarbeitsunternehmen, die reguläre wenn es in letzter Konsequenz Arbeitsplätze vernichtet?
Beschäftigung anbieten. In dem, was Sie in Ihren Anträ-
gen fordern, sehe ich schlicht und ergreifend die Gefahr, (Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist doch
dass durch vorschnelle Regulierung auf lange Sicht Zeit- Quatsch!)
arbeitsplätze abgeschafft werden. Mit Interesse habe ich gelesen, dass die SPD nach ihrer
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klausurtagung verkündet hat, die Interessen von Arbeit-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darum geht es nehmern stärker zu vertreten. Wir, die FDP, wollen nicht
denen im Kern!) nur die Interessen von Arbeitnehmern, sondern auch die
Interessen von arbeitslosen Menschen vertreten.
Dem treten wir entgegen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU)
NEN]: Das ist in Frankreich und den Nieder-
landen nicht der Fall!) Denn wir wissen, dass etwa 60 Prozent der Zeitarbeiter
vorher keine Beschäftigung hatten.
– Frau Kollegin, da sind die Dinge anders geregelt. Das
Beispiel Frankreich ist eben schon angeführt worden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genauso ist
Dort ist die Zeitarbeit auftragsbezogen geregelt. Die es!)
Mitarbeiter werden von einer Agentur vermittelt und Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wir müssen zwei
werden nach Beendigung des Auftrags entlassen. Die Themen voneinander trennen, die in der Diskussion im-
Beschäftigung endet zu diesem Zeitpunkt. mer wieder gerne in einen Topf geworfen werden, näm-
(B) lich Missbrauch der Zeitarbeit und Mindestlöhne. Auch (D)
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
in Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
GRÜNEN]: Das ist doch in Deutschland nicht
der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen, ist diese
anders!)
Vermischung vorgenommen worden. Das wird der Sache
– Die Zeitarbeitnehmer in Deutschland bekommen aber nicht gerecht.
dann, wenn die Beschäftigung endet, weiter ihren Lohn, (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
weil sie weiterhin bei der Zeitarbeitsfirma beschäftigt
sind. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Lassen Sie uns die Diskussion über Mindestlöhne füh-
ren, wenn sie spruchreif ist. Alles zu seiner Zeit. Das ha-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ben wir im Koalitionsvertrag auch so festgehalten.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das musste mal
klargestellt werden!) (Beifall bei der FDP)
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich das Instru- Gerade in wirtschaftlich turbulenten Zeiten ermög-
ment der Zeitarbeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt be- licht die Zeitarbeit den Unternehmen, sich an die jewei-
währt hat. Wir merken jetzt: Besonders zu Beginn eines lige Auftragslage flexibel anzupassen. Mir ist lieber, ein
wirtschaftlichen Aufschwungs und nach einer Krise, wie Unternehmen bleibt bestehen und kann weiterhin Arbeit
wir sie auch in Deutschland hatten, hat die Zeitarbeit anbieten, als dass es in die Insolvenz geht.
positiven Einfluss auf die Entwicklungen am Arbeits- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
markt. Wenn zurzeit Arbeitsplätze entstehen, dann vor-
rangig in der Zeitarbeit. Zusätzlicher Personalbedarf kann schnell gedeckt
werden. Mittlerweile sind 760 000 Zeitarbeitnehmer vor
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE allem in mittleren und größeren Betrieben eingesetzt.
GRÜNEN]: Finden Sie das wirklich gut?) Wir sprechen hier von Menschen, die wieder eine Arbeit
Das zarte Pflänzchen der Erholung am Arbeitsmarkt dür- aufgenommen haben. Das ist allemal besser, als arbeits-
fen wir nicht durch übereilte Regelungen erdrücken. los zu sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir Liberale machen eine Politik für Arbeitslose und
der CDU/CSU) Beschäftigte. Die Leih- oder Zeitarbeit darf nicht ge-
schwächt werden. Weil die Zeitarbeit nach unserer Auf-
Natürlich hat der Fall Schlecker die Kritiker von Zeit- fassung auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen
arbeit auf den Plan gerufen. Wegen eines schwarzen wird, treten wir Missbräuchen entschieden entgegen.
1626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Gabriele Molitor
(A) Vielen Dank. Es läuft etwas komplett schief, wenn jeder achte Leih- (C)
arbeitnehmer trotz Vollzeittätigkeit auf eine ergänzende
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) staatliche Unterstützung angewiesen ist. Für einen Leih-
arbeiter ist es unmöglich, einen Kredit oder eine Woh-
Vizepräsidentin Petra Pau: nung zu erhalten, weil er keine stabile Beschäftigung vor-
Das Wort hat der Kollege Juratovic für die SPD-Frak- weisen kann. In der Krise konnten durch die Kurzarbeit
tion. zwar viele Beschäftigte vor einer Kündigung bewahrt
werden. Die Leiharbeiter haben jedoch – weitgehend un-
(Beifall bei der SPD) bemerkt – ihre Arbeit verloren. Die OECD spricht im Zu-
sammenhang mit der Leiharbeit von einer Zweiklassen-
Josip Juratovic (SPD): gesellschaft auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Leiharbeit ist bei uns eine Form prekärer Beschäftigung.
und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor meiner Die Leiharbeit sorgt dafür, dass in Deutschland zahlreiche
Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 habe ich Kinder in Armut aufwachsen. Kolleginnen und Kollegen
22 Jahre im Werk eines deutschen Automobilherstellers von der Regierungskoalition, es ist nicht gerade glaub-
gearbeitet. Ich habe in diesen Jahren und auch nach mei- würdig, dass sich die ehemalige Familienministerin und
ner Wahl in den Deutschen Bundestag mitverfolgt, wie jetzige Arbeitsministerin ernsthaft Sorgen um Kinderar-
die Leiharbeit Einzug in das Werk hielt. In den vergan- mut macht und eine der Hauptursachen der Kinderarmut
genen Jahren musste ich leider feststellen, dass vielerorts ignoriert.
reguläre Beschäftigungsverhältnisse durch Leiharbeit er- Wir Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition
setzt wurden. Das war nicht beabsichtigt, als die vehement Änderungen bei der Leiharbeit angemahnt.
rot-grüne Bundesregierung das Arbeitnehmerüberlas- Die Union hat aber den offensichtlichen Handlungsbe-
sungsgesetz änderte. Geplant war vielmehr, mit dem In- darf bestritten und bestreitet ihn noch immer. Es geht
strument der Leiharbeit den Bedarf an Arbeitskräften in uns nicht darum, die Leiharbeit komplett abzuschaffen.
Spitzenzeiten abzudecken. In der damaligen Zeit dach-
ten viele Unternehmen über eine Auslagerung der Pro- Wir wollen weiterhin die positiven Effekte der Leih-
duktion in das osteuropäische Ausland nach. Wie viele arbeit nutzen, denn mit der Leiharbeit können kurzfris-
andere Arbeiter hatten auch wir davor Angst. Für uns be- tige Auftragsspitzen in Unternehmen bewältigt werden,
deutete die Reform des Arbeitsnehmerüberlassungsge- und sie kann als Übergang in eine reguläre Beschäfti-
setzes unter Rot-Grün, dass unsere Arbeitsplätze an den gung dienen. Aber wir müssen Tarifflucht und Lohn-
deutschen Standorten gesichert werden und Langzeitar- dumping in der Leiharbeit einen Riegel vorschieben.
(B) beitslose einen leichteren Zugang zum ersten Arbeits- (Beifall bei der SPD – Gitta Connemann (D)
markt bekommen. Ich bin mir sicher, dass mit der Leih-
arbeit einige Arbeitgeber davon abgehalten wurden, ihre [CDU/CSU]: Da sind wir dabei!)
Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern. Es muss klar sein: Wer dieselbe Arbeit verrichtet und un-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine interessante ter denselben Bedingungen arbeitet, der bekommt auch
Rede!) denselben Lohn.
Deswegen wurden damals Änderungen bei der Leihar- Ich begrüße die Anträge von Linken und Grünen,
beit von allen Beteiligten unterstützt: von der Politik, denn sie zeigen, dass beide Parteien Handlungsbedarf
den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. bei der Leiharbeit sehen. Leider bieten die Anträge aber
zum Teil widersprüchliche und nicht vollständig durch-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Außer von dachte Lösungen an, so zum Beispiel in Bezug auf die
Ottmar Schreiner!) Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Das wol-
len zwar beide; auch wir wollen dies. Doch eine Forde-
Wir mussten jedoch in den vergangenen Jahren fest-
rung von 10 Prozent Flexiprämie nur für Leiharbeiter ist
stellen, dass die Leiharbeit von Unternehmen für andere
eigentlich ein Widerspruch zur Forderung „Gleicher
Zwecke missbraucht wurde. Schlecker nutzte die Leihar-
Lohn für gleiche Arbeit“. Flexibilisierung ist in allen Be-
beit, um Lohndumping zu betreiben; das ist kein Einzel-
trieben bei der Gesamtbelegschaft gerade jetzt in Krisen-
fall. In vielen Unternehmen wird die Leiharbeit dafür
zeiten hoch im Kurs. Viel wichtiger wäre es, dass die
missbraucht, die Lohnstückkosten zu senken. Ein Unter-
Leiharbeit schnellstmöglich in den Geltungsbereich des
nehmen, das dabei nicht mitmacht, verliert oft den An-
Arbeitnehmerentsendegesetzes aufgenommen wird, da-
schluss an die Konkurrenz. Die Praxis wird von Pseudo-
mit der Mindestlohn für diese Branche gewährleistet
gewerkschaften unterstützt, die sich heuchlerisch auch
wird.
noch als christlich bezeichnen. Wir reden immer wieder
über Ethik in der Wirtschaft. So wie Leiharbeit aktuell Des Weiteren fordert die Linke, dass die Betriebsräte
stattfindet, entspricht das jedoch keinen ethischen Maß- in einem Entleihbetrieb im Rahmen des Betriebsverfas-
stäben. Es ist unethisch, wenn Unternehmen ihre Mitar- sungsgesetzes ein zwingendes Mitspracherecht hinsicht-
beiter in zwei Kasten einteilen: in die Stammbelegschaft lich des Einsatzes der Leiharbeiter bekommen. Meines
und die Leiharbeiter. Es ist unethisch, wenn Leiharbeiter Erachtens ist dies bereits jetzt über die Anwendung ver-
in manchen Fällen nur 50 Prozent des Lohnes erhalten, schiedener Paragrafen des Betriebsverfassungsgesetzes
den ihre Kollegen der Stammbelegschaft für dieselbe weitgehend möglich. Viel wichtiger wäre für mich eine
Tätigkeit bekommen. Ausweitung des § 14 des Arbeitnehmerüberlassungsge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1627
Josip Juratovic
(A) setzes, damit der Entleihbetrieb Übersicht über die Be- Nun hat Kollege Schreiner gefragt: Was ist christlich? (C)
dingungen der Arbeitnehmer in dem Verleihunterneh- Um dies zu beantworten, müsste ich jetzt einen theologi-
men bekommt, ohne dass sich Arbeitnehmervertreter schen Vortrag halten; das will ich nicht tun. Aber ich
wegen Verletzung des Betriebsgeheimnisses strafbar ma- kann eines sagen: Unchristlich ist mit Sicherheit, mit
chen. Dies kann man über § 80 Abs. 1 Satz 1 des Be- dem Finger auf eine christlich-liberale Regierung zu zei-
triebsverfassungsgesetzes abdecken, weil danach der gen, die seit wenigen Wochen im Amt ist, und sie dafür
Betriebsrat über die Einhaltung gesetzlicher Regelungen verantwortlich zu machen, dass all die Probleme, die in
wacht. diesem Land aufgrund rot-grüner Gesetzgebung beste-
hen, noch nicht beseitigt sind.
Der Forderung der Grünen, die Anzahl aller Mitarbei-
ter in einem Betrieb innerhalb eines bestimmten Zeit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
raums für die Anzahl der Betriebsräte zugrunde zu le- Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben sich
gen, stimme ich zu. Aber ich bezweifle, dass bei doch verweigert!)
Betriebsratswahlen das Wahlrecht eines Leiharbeiters ab
dem ersten Tag gerecht gegenüber den Kandidaten und Nun zur eigentlichen Problemstellung. Gerade die
der Stammbelegschaft ist. Rede des Kollegen Juratovic, für deren ersten Teil ich
mich vor allem bedanken möchte, hat sehr sachlich und
Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen bei der nüchtern gezeigt, was die Absicht der Gesetzgebung war.
Leiharbeit Änderungen mit Augenmaß. Deswegen wer- Die Absicht war, einerseits Leiharbeit vereinfacht zur
den wir Sozialdemokraten im Februar einen Antrag ein- Anwendung zu bringen und andererseits für eine bessere
bringen, der die positiven Effekte der Leiharbeit weiter- soziale Absicherung der Beschäftigten zu sorgen. Gleich-
hin gewährleistet und den Missbrauch beseitigt. zeitig sollte die Leiharbeit eine arbeitsmarktpolitische
Funktion übernehmen, indem vor allem Arbeitslose
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. über Leiharbeit in dauerhafte Beschäftigung auf dem ers-
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb ten Arbeitsmarkt vermittelt werden sollten. Das war die
[FDP]: Das war eine gute Rede, Herr Absicht der Gesetzgebung.
Juratovic!) Jetzt, über fünf Jahre später, kann man positiv fest-
stellen: Zeitarbeit ist ein wichtiges integratives arbeits-
Vizepräsidentin Petra Pau: marktpolitisches Instrument. Sie ermöglicht vielen Men-
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unions- schen, deren formale Qualifikationen nicht ausreichend
fraktion. sind und die sonst kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt
hätten, Arbeit zu finden. Zwei von drei Zeitarbeitern wa-
(Beifall bei der CDU/CSU) ren zuvor arbeitslos, und jeder Zehnte hatte zuvor über- (D)
(B)
haupt noch nie einen Arbeitsplatz. Nun kann man über
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): die Frage, was diese Zahlen bedeuten und was es mit
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- dem sogenannten Klebeeffekt, also dem Umstand, dass
gen! Ich empfinde es als sehr erstaunlich, wie die Kolle- jemand aus der Leiharbeit in eine unbefristete Beschäfti-
ginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und aus der gung übernommen wird, auf sich hat, trefflich diskutieren.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier zum Thema Zeit- Ich finde – ob man die Zahlen hin- oder herschiebt –, wir
arbeit aufgetreten sind. Vielleicht muss man zum sollten über jeden glücklich sein, der die Chance hat, aus
Schluss der Debatte Folgendes noch einmal für alle fest- der Arbeitslosigkeit herauszukommen, um wieder mit
halten, bevor es in Vergessenheit gerät: Die rechtlichen eigener Hände Arbeit Geld zu verdienen.
Grundlagen für die Leiharbeit, die wir heute in Deutsch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karl
land haben, und die Tatsache, dass Leiharbeit in den letz-
Schiewerling [CDU/CSU]: Und das ist christ-
ten Jahren in Deutschland salonfähig geworden ist, ent-
lich!)
springen rot-grüner Gesetzgebung.
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja! Das bestreitet – Und das ist christlich, Herr Kollege Schiewerling. In
ja keiner!) der Tat. –
Mit dem Job-Aktiv-Gesetz und den sogenannten (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Hartz-Gesetzen wurde der Startschuss zu einer weiteren GRÜNEN]: Auch für 5,60 Euro?)
Deregulierung der Leiharbeit gegeben. Aber genauso gilt, dass die Fehlentwicklungen bei
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: der Inanspruchnahme von Zeitarbeit einer Korrektur be-
Schwarz-gelbe Verbote! – Dr. Heinrich L. dürfen. Das prominente Beispiel Schlecker ist schon
Kolb [FDP]: Von morgens bis abends mea mehrmals erwähnt worden. Es sind einige mehr oder
culpa!) minder wenig rühmliche Genossinnen und Genossen
von Schlecker benannt worden. Dass man die eigenen
Alle Verwerfungen, über die wir diskutieren, sind Pro- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sämtlich entlässt und
bleme, die auf der Grundlage dieser gesetzlichen Rege- sie postwendend über eine Zeitarbeitsfirma zu einem ge-
lungen von Rot-Grün entstanden sind. Das muss man ringeren Lohn wieder einstellt, ist in der Tat unanstän-
festhalten. dig, und das ist ein Missbrauch von Zeitarbeit.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der FDP)
1628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Von wem ist Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es klar
die anerkannt? Von der Deutschen Börse?) und deutlich zu sagen: Wir wollen gute Zeitarbeit. Wir
wollen Missbrauch und Fehlentwicklungen verhindern.
Meines Erachtens schneiden sich solche Unternehmen Dafür benötigen wir offensichtlich zusätzliche Regelun-
ins eigene Fleisch. Deshalb bin ich unserer neuen Bun- gen. Ich vertraue darauf, dass uns unsere Bundesarbeits-
desarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen dankbar, ministerin – ich verweise auf die klare Ansage, die sie
dass sie wenige Tage nach ihrem Amtsantritt unmissver- gemacht hat – demnächst einen praktikablen Vorschlag
ständlich erklärt hat, dass sie künftig genau hinschauen vorlegt, wie wir dafür sorgen können, dass Zeitarbeit in
wird, wo Missbrauch geschieht, Deutschland eine Zukunft hat und dass Missbrauch und
Fehlentwicklungen unterbunden werden.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das wird aber
schön!) Vielen Dank.
und dass sie willens ist, diese Schlupflöcher, die einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Missbrauch von Zeitarbeit ermöglichen, zu schließen.
Deshalb bin ich zuversichtlich, dass diese Koalition das Vizepräsidentin Petra Pau:
Notwendige tun wird, um wieder Ordnung auf dem Zeit- Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die
arbeitsmarkt herzustellen. Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
neten der FDP) Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie sagen
jetzt, was gemacht wird!)
(B) Die Oppositionsfraktionen, die hier Anträge gestellt (D)
haben, brauchen sich nicht zu belobigen. Es ist doch of-
fenkundig: Auf die klare Ansage von Ursula von der Ulrich Lange (CDU/CSU):
Leyen haben sich die Oppositionsfraktionen bemüht, Der Letzte kann natürlich immer noch etwas dazu sa-
schnell einen Antrag zu pinseln. gen. – Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Die Causa Schlecker hat ein mediales Trommel-
(Zuruf von der SPD: Welche klare Ansage?) feuer gegen die Zeitarbeitsbranche hervorgerufen, wie
ich meine, zu Recht. Das sage ich als Christsozialer, da-
Ich darf einen höflichen Hinweis geben: Die Opposition
mit sich alle eingebunden fühlen, Herr Schreiner. Mit
müsste eigentlich die Regierung antreiben, aber sie sollte
uns, der christlich-liberalen Koalition, wird es ein „Ge-
nicht der Regierung hinterherlaufen.
schäftsmodell Ausbeutung“, wie der Stern vergangene
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN – Woche schrieb, nicht geben.
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist doch lä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
cherlich! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ist denn
schon Fasching?) Was ist bei Schlecker passiert? Schlecker hat faktisch
unternehmensintern verliehen. Das klassische Dreieck
– Entschuldigung, kaum hatte sich Frau von der Leyen der Zeitarbeit „Zeitarbeitnehmer, Zeitarbeitgeber und
geäußert, habt ihr von den Linken und den Grünen ange- Zeitarbeitskunde“ ist nicht beachtet worden. Das ist
fangen, Anträge zu schreiben. Das kann jeder machen. keine Zeitarbeit in dem Sinne, wie wir echte Zeitarbeit
Nach der Vorlage von Frau von der Leyen einen Antrag verstanden wissen wollen.
zu schreiben, ist keine Oppositionsarbeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wo sind denn neten der FDP)
die Taten von Frau von der Leyen?)
Meine Damen und Herren der Fraktionen der Grünen
Ich will ein weiteres Wort sagen. Leiharbeit sollte den und der SPD, immer wieder hat man in dieser Debatte
Unternehmen mehr Flexibilität ermöglichen, aber sie gedacht: Wir können es langsam nicht mehr hören. Lei-
sollte kein Instrument zu Lohndumping und unfairem der müssen Sie sich noch einmal anhören, wie ich darauf
Wettbewerb sein. hinweise: Die schrankenlose Zulassung von Leih- und
Zeitarbeit ist in Ihrer und nicht in unserer Regierungszeit
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE beschlossen worden.
GRÜNEN]: Wie wollen Sie es denn jetzt ma-
chen?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1629
Ulrich Lange
(A) Herr Kollege Schreiner, Sie können hier noch so laut Ich appelliere aber auch an die Zeitarbeitsbranche: (C)
reden – auch ich versuche es gerade –, Sie sitzen mit Schwarze Schafe haben sie in Verruf gebracht. Unsere
dem, was Sie hier machen, in der Populismusfalle. Vorstellung von Zeitarbeit ist es nicht, dass Stammbeleg-
schaft ersetzt wird. Das will ich hier auch in aller Deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lichkeit sagen.
Wenn Sie jetzt die Zeitarbeit anprangern, müssen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sich vorhalten lassen, dass diese zeitarbeitsrechtlichen neten der FDP)
Regelungen von Ihrer Koalition stammen. Ihre Koalition
hat auch die Möglichkeit geschaffen, das Equal Pay aus- Ich bin froh – wir alle begrüßen es –, dass unsere neue
zuhöhlen. Diese Möglichkeit haben doch nicht wir ge- Bundesarbeitsministerin angekündigt hat, dass, wenn es
schaffen. zu keiner tariflichen Lösung kommt, dem Missbrauch
von Zeitarbeit mit einem konkreten Gesetzentwurf ent-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gegengetreten wird.
neten der FDP)
Wir müssen jetzt die Schlupflöcher stopfen, die Sie
Urheber dieses neuen Arbeitnehmerüberlassungs- während der rot-grünen Koalition eröffnet haben. Das ist
gesetzes war nicht die heutige Koalition. Es ist aber be- doch die Tatsache.
zeichnend, dass es einer christlich-liberalen Koalition
bedarf, um jetzt gegen Schlupflöcher vorzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute
Kumpf [SPD]: Hatten wir zwischendrin nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine Große Koalition?)
Dass der Stern jetzt das Ende der Ära der Liberalisierung – Na ja, da waren Sie doch auch dabei.
im Arbeitsrecht fordert, ist eine Tragik für die Sozial-
demokratie. Das müssen Sie sich angesichts dessen, was (Zurufe von der SPD)
in den letzten Jahren mit Ihrer Politik passiert ist, doch Wir können doch an dem im Koalitionsvertrag enthalte-
ganz besonders zu Herzen nehmen. nen Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhältnisse“,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wie wir sie im Teilzeit- und Befristungsgesetz vorfinden,
der FDP) anknüpfen. Da machen wir das doch. Setzen und ver-
trauen wir auf die Stärke der Tarifparteien! Das möchten
Meine Damen und Herren von den Grünen, man kann doch auch Sie. Stärken Sie Ihre Gewerkschaften! Halten
sich irren; aber Motivirrtum ist unbeachtlich. Sie müssen wir aber zugleich an Tariföffnungsklauseln fest! Fördern
sich vorher überlegen, was Sie tun, und nicht erst in der wir die Tarifautonomie! Sie ist die Grundlage der sozia-
(B) Opposition. len Marktwirtschaft. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Bericht der Bundesregierung über die Anwen- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op-
dung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zeigt, dass position, Mindestlöhne sind kein Allheilmittel und bie-
Zeitarbeit Brücken zur Arbeit baut für Menschen, die ten erst recht keine Arbeitsplatzgarantie.
sonst schlechte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt
hätten; wir haben die Zahlen vorhin schon mehrfach ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hört. Zeitarbeit schafft Perspektiven; Der in unseren Augen bessere Weg ist die Allgemeinver-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!) bindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Schreiben
wir die differenzierte Rechtsprechung zum Verbot sitten-
das zeigt der Bericht ganz deutlich. Wir sind fest ent- widriger Löhne gesetzlich fest, um Lohndumping zu
schlossen, Missbrauch in der Zeitarbeitsbranche zu be- verhindern und soziale Verwerfungen zu vermeiden.
kämpfen. Wir reichen nicht die Hand für systematische
Tarifflucht, die zu sozialer Schieflage führt. Aber ich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Idee!)
sage es mit gleicher Deutlichkeit: Wir sind nicht für eine Meine sehr geehrten Damen und Herren, machen wir
Änderung des Betriebsverfassungsrechtes, wie von uns die Mühe zur differenzierten Betrachtung. Geben
Linken und Grünen jetzt gefordert wird. wir guter und seriöser Zeitarbeit den erforderlichen ge-
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der setzlichen Rahmen in einem gesicherten Tarifgefüge.
FDP: Wir auch nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Diese Maßnahme würde eine Hürde für die Entstehung neten der FDP)
von Arbeitsplätzen darstellen. Sie führte letztlich dazu, Dies führt zu motivierten Arbeitnehmerinnen und Ar-
dass Zeitarbeit in den Betrieben gar nicht mehr möglich beitnehmern. Dies bietet einer Vielzahl von Arbeitslosen
wäre. Das wollen wir nicht. eine Perspektive und ein Sprungbrett in eine Dauerbe-
schäftigung. Den schwarzen Schafen und Schlupflöcher-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
suchern, die die Senkung von Personalkosten und den
Es muss auch weiterhin möglich bleiben, flexibel einzu- flexiblen Einsatz von Arbeitskräften falsch verstehen,
stellen, ohne Einigungsstellen anzurufen. Einigungsstel- die kein Gefühl für Verantwortung, Betriebstreue, Zu-
len kosten Zeit und Geld. Sie tragen zu dem, was wir mit verlässigkeit und hohen persönlichen Einsatz von Ar-
Zeitarbeit erreichen wollen, nichts bei. beitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, sagen wir
1630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Ulrich Lange
(A) aber genauso klar: Wir stellen uns vor die Arbeitnehme- Tagesordnungspunkt 23 b: (C)
rinnen und Arbeitnehmer. Missbrauch jedoch werden
wir nicht akzeptieren, Missbrauch werden wir nicht dul- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
den. Wir werden handeln. ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/473 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 13 ist mit den Stim-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-
hält sich? – Die Sammelübersicht 8 ist einstimmig ange- Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
nommen. die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1631
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Tagesordnungspunkt 23 g: Tagesordnungspunkt 23 l: (C)
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 14 zu Petitionen Sammelübersicht 19 zu Petitionen
– Drucksache 17/479 – – Drucksache 17/484 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 14 ist mit den Stim- hält sich? – Die Sammelübersicht 19 ist mit den Stim-
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 l auf. Wir
Tagesordnungspunkt 23 h: kommen zu zwölf Gremienwahlen, die wir mittels
Handzeichen durchführen werden.
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 6 a:
Tagesordnungspunkt 23 i: Tagesordnungspunkt 6 b:
Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
(B) und Massenorganisationen der DDR“ (D)
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/529 –
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
– Drucksache 17/481 – der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Linke auf Drucksache 17/529 ab. Wer stimmt für diesen
hält sich? – Die Sammelübersicht 16 ist mit den Stim- Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- sich? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und Tagesordnungspunkt 6 c:
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Stiftungsrat der „Stiftung Caesar“ (Centre of
Tagesordnungspunkt 23 j: Advanced European Studies and Research)
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/530 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktion
Sammelübersicht 17 zu Petitionen der CDU/CSU auf Drucksache 17/530 ab. Wer ist für
– Drucksache 17/482 – diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig ange-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- nommen.
hält sich? – Die Sammelübersicht 17 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d:
Tagesordnungspunkt 23 k:
Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedens-
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- forschung (DSF)“
ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 17/531 –
Sammelübersicht 18 zu Petitionen Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
– Drucksache 17/483 – der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf
Drucksache 17/531 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvor-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
hält sich? – Die Sammelübersicht 18 ist angenommen. Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
1632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Fraktion Die CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 17/538
Linke auf Drucksache 17/533 vor. Wer stimmt für diesen vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer
Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvor-
sich? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. schlag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 l:
Tagesordnungspunkt 6 g:
Stiftungsrat der „Stiftung Berliner Schloss –
Parlamentarischer Beirat der „Stiftung für Humboldtforum“
das sorbische Volk“
– Drucksache 17/539 –
– Drucksache 17/534 –
Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
(B) Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/539 vor. (D)
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/534 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da- gegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist ein-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist ein- stimmig angenommen.
stimmig angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Tagesordnungspunkt 6 h: Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die er-
der FDP
mordeten Juden Europas“
Anhaltender Handlungsbedarf bei der Aufar-
– Drucksache 17/535 – beitung von Stasi-Verstrickungen
Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Fraktion Die Linke Bernhard Kaster für die Unionsfraktion.
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/535 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvor- (Beifall bei der CDU/CSU)
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tagesordnungspunkt 6 i: Am 15. Januar 1990 erstürmten die Menschen die Stasi-
Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbiblio- Zentrale in der Normannenstraße, und im Dezember
thek gemäß § 6 Absatz 1 Nummer 1 des Geset- 1991 beschloss der Deutsche Bundestag das Stasi-Unter-
lagen-Gesetz. Die Bundestagskolleginnen und -kollegen
zes über die Deutsche Nationalbibliothek
von damals, die Bürgerinnen und Bürger und vor allem
– Drucksache 17/536 – die Opfer der menschenverachtenden Stasi-Machen-
schaften konnten mit Sicherheit nicht ahnen, dass
Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der 15 Jahre, geschweige denn 20 Jahre nach dem Fall der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 17/536 vor. Mauer das Thema der Stasi-Verstrickungen auch in un-
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da- seren Parlamenten noch so aktuell ist: in Brandenburg,
gegen? – Wer enthält sich? – Dieser Wahlvorschlag ist im Deutschen Bundestag und hier auch noch in der heu-
einstimmig angenommen. tigen Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1633
Bernhard Kaster
(A) Damals konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, Das Bundesverfassungsgericht hat es auf den Punkt ge- (C)
dass 20 Jahre nach dem Fall der Mauer im Brandenburger bracht. Zu diesen Überprüfungsverfahren sagt das Bun-
Landtag ehemalige Stasi-Zuträger gleich in Fraktions- desverfassungsgericht:
stärke vertreten sind.
Das Überprüfungsverfahren beruht auf der Prä-
(Reiner Deutschmann [FDP]: Unglaublich!) misse, dass die frühere Tätigkeit eines Abgeordne-
ten für den Staatssicherheitsdienst diesem die Legi-
Genauso wenig war sicherlich vorstellbar, dass noch in timität nehme, Abgeordneter des Deutschen
dieser Wahlperiode ein Abgeordneter der Linksfraktion Bundestages zu sein.
auf der Internetseite des Deutschen Bundestages lako-
nisch „ließ mich 1983 als IM des MfS verpflichten“ ver- Das muss auch für die Zukunft gelten.
merkt und auf seiner eigenen Homepage die Tätigkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für die Stasi in einer chronologischen Harmlosigkeit dar-
stellt, als wäre es die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass nach wie vor
dringender Handlungsbedarf besteht. Wir alle haben die
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- größte Bewunderung und den größten Respekt vor allem
NEN]: Wenn er nichts geschrieben hätte, hät- vor dem Mut der Menschen, die diesen unmenschlichen
ten Sie auch gemeckert!) Machtapparat vor 20 Jahren zerstört und die friedliche
Revolution herbeigeführt haben.
Dies kann so nicht sein, dies muss uns, verehrte Kol-
leginnen und Kollegen, aufrütteln. Es muss noch einmal (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
klar ausgesprochen werden, was es denn heißt, sich frei- Brigitte Zypries [SPD] und Wolfgang Wieland
willig bei der DDR-Geheimpolizei verpflichten zu las- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
sen. Was war denn das, eine Tätigkeit beim MfS? Mein tiefer Respekt gilt auch den Opfern, die drangsa-
Es geht hier um Verbrechen an jungen Menschen. Es liert, eingesperrt und ihrer persönlichen und beruflichen
waren die Bespitzelung von und der Verrat an Nachbarn, Perspektive beraubt worden sind – mit Wirkungen bis
Freunden, Arbeitskollegen. Was eine IM-Tätigkeit be- heute.
deutet, kann man in den mit Zweidrittelmehrheit be- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
schlossenen Bundestagsdrucksachen zu den Überprü- Schlimm genug!)
fungsverfahren zu Heinrich Fink oder Christa Luft oder
Roland Claus oder Gregor Gysi nachlesen. Hier wurden Es wäre fatal, wenn auch nur der Eindruck entstehen
junge Menschen, Jugendliche mit existenzvernichtenden könnte, dass mit einer auslaufenden Frist ein Schluss-
strich gezogen würde.
(B) Folgen ans Messer geliefert. Berufliche und persönliche (D)
Perspektiven wurden völlig zerstört. Das Widerlichste (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
daran ist: Es wurde Vertrauen missbraucht, Vertrauen Dazu darf es nicht kommen!)
von Menschen in ihren angeblichen Freund oder Nach-
barn, Vertrauen von Jugendlichen in ihren Jugend- Die aktuellen Ereignisse zeigen: Heute, im Jahre 2010,
klubleiter, Vertrauen in seelsorgerische Gespräche oder darf es nicht um Befristungen und Abschluss gehen, son-
Vertrauen von Mandanten in ihren Anwalt. Vertrauen in dern es muss um Entfristung und Öffnung gehen. Wir
unsere parlamentarische Demokratie, in die Vertrauens- müssen das schlimmste Kapitel des SED-Unrechtsre-
würdigkeit der Abgeordneten zu schaffen, war auch ein gimes weiter aufklären. Jeglicher Verharmlosung müs-
Motiv für das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Überprü- sen wir entschieden entgegentreten.
fungsverfahren nach dem Abgeordnetengesetz. Vielen Dank.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Genau richtig gehandelt damals!) neten der FDP und des Abg. Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Bei den Abstimmungen über das Stasi-Unterlagen-
Gesetz im Jahre 1991 oder bei der Verlängerung der
Fristen im Jahre 2006 war sich dieses Parlament mit Vizepräsidentin Petra Pau:
Ausnahme der SED-Nachfolger PDS und Linke darin ei- Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für
nig, dass diese Gesetze und Verfahren einen Beitrag zur die SPD-Fraktion.
Selbstreinigung des Parlamentes leisten müssen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
GRÜNEN und des Abg. Dr. h. c. Wolfgang Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich ist
Thierse [SPD]) auch die DDR-Vergangenheit eine Vergangenheit, die
nicht vergeht. Seit 20 Jahren beschäftigen wir uns mit
Es kann nicht sein, dass Menschen, die das eigene diesem belastenden Erbe. Ich weiß nicht, die wievielte
Volk auf hinterhältigste Weise bespitzelt und verraten Debatte das zu diesem Thema ist, an der ich mich betei-
haben, heute Abgeordnete sind. lige, die wievielte Überprüfung ich beantragt habe.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich gehörte zu denen, die vor knapp 20 Jahren in der
der FDP) Volkskammer für die Öffnung der Akten eingetreten
1634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Vizepräsidentin Petra Pau: schwer getroffen. Kennen Sie den Beschluss unserer (C)
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für die Frak- Partei aus dem Jahre 1991? Wer für ein Amt kandidiert,
tion Die Linke. muss offenlegen, ob es Stasi-Zusammenarbeit gab und
welcher Art sie war. Thomas Nord zum Beispiel hat dies
(Beifall bei der LINKEN) seit Jahren so gehalten: Er führt die Tatsache in seinem
Flyer auf, den er in einer Auflage von 30 000 Exempla-
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): ren hat drucken lassen. Jeder, der ihn gewählt hat, wusste
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bescheid. Thomas Nord wurde übrigens direkt gewählt;
Herr Kollege Kaster, Sie haben hier wörtlich gesagt, aber das nur nebenbei.
Gregor Gysi habe junge Menschen ans Messer geliefert.
(Beifall bei der LINKEN)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hat er nicht
Im Fall von Gerd-Rüdiger Hoffmann wussten die
gesagt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
Wähler nicht Bescheid und die Partei Die Linke und die
DIE GRÜNEN]: Ach!)
Fraktion im Landtag auch nicht. Gerd-Rüdiger Hoffmann
Ich fordere Sie auf, diesen ungeheuren Vorwurf zurück- wurde aus der Fraktion ausgeschlossen.
zunehmen.
Wenn die Wahrheit jahrelang verschwiegen wird, hat
(Beifall bei der LINKEN) das meiner Meinung nach nichts mit Überprüfungsrege-
lungen zu tun, sondern mit Ängsten und mit der Verbrei-
Das ist nicht die Art und Weise, wie wir in einem Parla- tung von Ängsten. Wenn wir Offenheit wollen – und die
ment miteinander umgehen sollten. Das ist ungeheuer- wollen wir –, müssen wir uns mit der Vergangenheit dif-
lich. Das können Sie nicht beweisen. Das nehmen Sie ferenziert auseinandersetzen.
bitte im Namen der politischen Kultur zurück.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist aber etwas ganz anderes als die Diskussion, die
Zuerst habe ich heute gedacht, ich lese nicht richtig. Sie führen, und Ihr Vorstoß heute. Was wird heute hier
Wann läuft die Regelung des im Jahre 2006 novellierten gefordert? Die Überprüfung von Mitarbeitern im öffent-
Stasi-Unterlagen-Gesetzes aus, führende Beamte und lichen Dienst bis 2016 fortzusetzen,
Angestellte im öffentlichen Dienst, kommunale Wahlbe-
amte, ehrenamtliche Richter, Sportfunktionäre, Inten- (Zuruf von der FDP: Mindestens!)
danten usw. usw. auf eine eventuelle Stasi-Vergangenheit
mit der Option auf eine weitere Verlängerung. Das wä-
zu überprüfen? Ende Januar 2010? In einem halben
ren dann 25 Jahre Überprüfung oder noch länger.
(B) Jahr? Ende 2010? Weit gefehlt. Sie läuft 2011 aus, also (D)
in 23 Monaten. Deswegen müssen wir uns heute in einer Ich frage Sie: Soll es nie eine Verjährung für Stasi-
Aktuellen Stunde mit diesem Thema befassen. Ich muss Verstrickungen geben?
Ihnen ehrlich sagen: Das nenne ich eine Phantom-
debatte, eine Gespensterdebatte. (Zuruf von der FDP: Am besten wäre das so!)
(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Börnsen Zum Rechtsstaat gehört der Rechtsgedanke der Verjäh-
[Bönstrup] [CDU/CSU]: So etwas ist nicht rung, im Strafrecht wie im Zivilrecht.
zum Lachen! Das ist eine Verhöhnung der Op- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
fer! – Zuruf von der FDP: Pfui!) FDP: Mord verjährt nicht!)
In Wirklichkeit geht es Ihnen doch gar nicht um eine Ge- Die Zeit spielt bei Fragen der Schuld eine entscheidende
setzesnovellierung; denn Sie haben ja keinen Antrag Rolle. Selbst die Tatbestände der gefährlichen Körper-
oder sonst etwas eingebracht; Sie hantieren nur mit ein verletzung oder der schweren Freiheitsberaubung ver-
paar Zeitungsmitteilungen. Es geht Ihnen um etwas ganz jähren nach zehn Jahren. Bei schwerer Vergewaltigung
anderes: Es geht Ihnen um eine Debatte über Branden- ist die Tat ebenfalls nach zehn Jahren verjährt, und das
burg, wo die SPD mit der Linken regiert, was Ihnen darf bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht
nicht gefällt, und es geht Ihnen um uns, Die Linke, ins- einmal geprüft oder ermittelt werden. Auch dort gibt es
gesamt. immer Betroffene, die diese Verjährung nicht verstehen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Der Rechtsstaat hat sie dennoch beschlossen.
FDP: Das stimmt!) Wissen Sie von der FDP eigentlich, was Burkhard
Dann sagen Sie das doch endlich! Dann führen wir eine Hirsch 1991 gesagt hat, nachdem beschlossen worden
Debatte über die Linke und über Brandenburg, aber war, dass 15 Jahre lang überprüft werden soll? Ich
nicht eine Debatte über die Änderung eines Gesetzes, die zitiere:
erst in 23 Monaten auf der Tagesordnung steht. Das ist Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer
kein Thema für eine Aktuelle Stunde. Rechtstradition widerspricht, einem Täter über ei-
(Zuruf von der FDP: Das ist leider immer nen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzu-
aktuell!) halten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz
habe, dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbar-
Wir können gern über die Brandenburger Fälle von mungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sa-
Stasi-Verstrickungen reden. Diese Fälle haben uns Linke gen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1637
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuch- Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des (C)
tung der Vergangenheit endet … Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt
blieben, sondern einbezogen wurden.
Das war vor 19 Jahren, und das war die Stimme eines
hochangesehenen FDP-Abgeordneten. Dem ist nichts Dass ich das noch erleben durfte! Eine Rehabilitie-
hinzuzufügen. rung der Globkes und Oberländers nach dem Vorbild der
(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: „Bonner Ultras“ – so hieß es früher immer bei Ihnen –
Auch er irrt sich manchmal!) ist nun auf einmal beispielhaft. Das kommt nicht von
uns, nicht von Hubertus Knabe, sondern von Ihrem
Jetzt kommt unser Credo als Linke, das wir – das wird Koalitionspartner; aber Sie haben danach nicht halb so
ja immer gefordert – wie ein Mantra vor uns her tragen laut aufgeschrien, wie Sie eben aufgeschrien haben. Das
sollen: Ja, wir sind für die Aufarbeitung der DDR-Ver- ist wirklich unglaublich.
gangenheit, und zwar je vertiefter und differenzierter,
desto besser; aber wir sagen Nein zu weiteren Überprü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
fungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir haben bei der CDU/CSU und der FDP)
schon die Verlängerung der Überprüfungsfristen über Aufgestöhnt haben andere, zum Beispiel Richard
2006 hinaus abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der Schröder. Er fragte verstört: „Versöhnung mit wem?“
Verhältnismäßigkeit verletzt sehen. Für eine Verlänge- Zitat:
rung bis 2016 oder über 2016 hinaus gilt das erst recht.
Dass ein Riss durch die ostdeutsche Gesellschaft
Ich danke Ihnen. gehe, halte ich für eine überdramatisierende Be-
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN) schreibung. Nach einer Revolution gibt es unver-
meidlich Verlierer, nämlich die Privilegierten der
Diktatur. Die Position, die sie nur in einer Diktatur
Vizepräsidentin Petra Pau:
haben konnten, konnten sie eben deshalb danach
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die nicht mehr haben: SED-Bezirkschef, Politbüromit-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. glied. Solche „Verlierer“ gibt es besonders viele in
der Ost-Linken. … Und natürlich stilisieren sie alle
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich als Opfer. Aber auf mein Mitleid warten sie
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und vergeblich. Sie werden auch gar nicht darauf rech-
Herren! Frau Kollegin Jochimsen, die Gysi-Debatte hat- nen.
ten wir hier vor einem halben Jahr. Es bleibt unverges-
sen, wie er hier einzog. Deswegen will ich gar nicht da- Richard Schröder lag so richtig wie fast immer. An ei-
(B)
rauf eingehen. ner Stelle muss man ihn korrigieren: Nicht alle SED-Be- (D)
zirkschefs fielen tief; manche fielen gar nicht. Heinz
Aber zum Stichwort „ans Messer liefern“: Vor kur- Vietze blieb gleich auf seinem alten Arbeitsplatz im
zem hat Herr Gysi vor laufender Fernsehkamera Ihren Kreml sitzen und war bis zur Wahl die graue Eminenz in
Bundesgeschäftsführer ans Messer geliefert. Brandenburg; jetzt leitet er als Vorstandsvorsitzender
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des Ihre Rosa-Luxemburg-Stiftung. Selbst wenn ich wollte
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ – das muss ich Ihnen sagen –, fiele mir gar kein Naziver-
CSU, der SPD und der FDP – Widerspruch bei gleich ein.
der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Selbst Ihr Parteivorsitzender Bisky fühlte sich an stali- bei der CDU/CSU und der FDP)
nistische Zeiten erinnert. Jetzt sagen Sie hier stolz: Alle haben doch vorher of-
Ich rede gerne zu Brandenburg. Ich habe diese Aktu- fengelegt; Herr Nord, die Fraktionsvorsitzende Kaiser,
elle Stunde – wir haben sie nicht beantragt – so verstan- der Innenpolitiker Scharfenberg usw. haben gesagt, dass
den, dass wir auch zu aktuellen Dingen reden. sie bei der Stasi waren. Das ist es doch: Sehenden Auges
hat man dieses Bündnis geschlossen. Der Fehler von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Platzeck war – das muss man so hart sagen –, dass er den
bei der CDU/CSU und der FDP) Schlussstrich vor der Aufarbeitung ziehen wollte. Das
Matthias Platzeck hat – das hätte er lieber nicht tun klappt nie, das klappt nirgendwo, das ist krachend schief-
sollen – die Bildung der rot-roten Regierung als eine gegangen.
Geste der Versöhnung überhöht und behauptete damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
werde „ein ungesunder Riss“ geheilt, der sich „auch bei der CDU/CSU und der FDP)
nach 20 Jahren … wieder zunehmend“ durch die ost-
deutsche Gesellschaft ziehe. Dann kam der Naziver- Wir freuen uns, dass Brandenburg mit Ulrike Poppe nun-
gleich; auch den erspare ich Ihnen nicht. Platzeck wört- mehr endlich eine Stasi-Landesbeauftragte hat. Wir
lich: freuen uns, dass nun eine Enquete-Kommission diese
Merkwürdigkeiten vom Anfang der 90er-Jahre enthüllen
Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutsch- will.
land nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten
Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur Ich komme noch einmal auf Heinz Vietze zurück. Er
unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige hat den schönen Satz gesagt:
1638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Wolfgang Wieland
(A) Ich habe keine Berichte für die Stasi geschrieben. Diese Einsicht – das ist die bittere Wahrheit – haben (C)
Sie wurden für mich geschrieben. Sie von der Linkspartei bis heute vermissen lassen.
Da hat er etwas Wahres gesagt: Die Stasi war Ihr Auf- Vielen Dank.
tragnehmer, Schild und Schwert Ihrer Partei. Das müs-
sen Sie endlich klären. Stattdessen geht Ihre designierte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Parteivorsitzende Gesine Lötzsch zur Initiativgemein- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
schaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Ange- Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Peinlich für die
höriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der Sozis! – Zurufe von der LINKEN)
DDR. Das tut sie nicht etwa, um denen die Meinung zu
sagen, Vizepräsidentin Petra Pau:
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Andrea
Woher wissen Sie das denn?) Voßhoff das Wort.
Brigitte Zypries
(A) haben einige meiner Vorredner schon betont – vor allem auf eine bessere Einsicht hat. Das ist im Übrigen auch (C)
für die Opfer der Diktatur bis heute sehr wichtig. eine Erfahrung der alten Bundesrepublik. Dort waren
Kurt Georg Kiesinger, Walter Scheel oder Karl Carstens
Mit der Gründung der Gauck-Behörde wurden die in- gute Demokraten, obwohl sie früher Mitglieder der
stitutionellen Voraussetzungen für die Aufarbeitung der NSDAP gewesen waren.
Stasi-Vergangenheit geschaffen. Mehr als 2,6 Millionen
Bürgerinnen und Bürger haben seither Einsicht in ihre Aber die Lehre aus der westdeutschen Geschichte ist
Akten beantragt. Das zeigt, wie sehr die Menschen in auch, dass dort die Schatten der Vergangenheit zu lange
Ost und in West mit der Aufarbeitung ihrer Vergangen- verdrängt worden sind. Das ist heute anders, und das
heit beschäftigt sind. Es ist seit Jahren kein Rückgang zu muss auch so bleiben. Jeder muss sich auch künftig um-
verzeichnen. Im letzten Jahr gab es über 100 000 Anfra- fassend über seine Stasi-Vergangenheit informieren
gen zur persönlichen Akteneinsicht. können. Deshalb wird die SPD dafür eintreten, dass die
Gültigkeitsdauer des Gesetzes über die Stasi-Unterlagen
Dabei geht es im Wesentlichen um persönliches Fehl- verlängert wird und dass die Birthler-Behörde bestehen
verhalten, um moralische Schuld. Gerade diejenigen, die bleibt.
im wiedervereinigten Deutschland in demokratisch ge-
wählten Organen Verantwortung übernehmen wollen, Es wäre schön, wenn wir auch die Robert-Havemann-
müssen sich meines Erachtens dieser Frage nach ihrer Gesellschaft künftig mit einer institutionellen Förderung
Vergangenheit stellen. Denn die Menschen, die bei der bedenken und von der Projektförderung wegkommen
Wahl über die künftigen Abgeordneten entscheiden, ha- könnten, um diesen Anteil der Erinnerung an die DDR
ben ein Recht darauf, über die moralische Integrität der und der Aufarbeitung dieser Zeit auch noch bewältigen
künftigen Volksvertreter vollständig informiert zu sein. zu können.
Es ist gewiss nicht einfach, sich selbstkritisch mit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Es geht auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
keineswegs nur um die Stasi. Eine Stütze der Diktatur
waren auch die vielen Funktionäre der Blockparteien. Vizepräsidentin Petra Pau:
Politische Überheblichkeit ist deshalb völlig fehl am Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Kurth das
Platz. Wort.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Arnold
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vaatz [CDU/CSU])
Sich der eigenen Vergangenheit kritisch zu stellen, ist
(B) eine große persönliche Herausforderung für jeden, der Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): (D)
davon betroffen ist. Aber gerade von den Menschen, die Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
im demokratischen Deutschland mitgestalten wollen, Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, das, was bisher vor-
kann man dieses Maß an Auseinandersetzung mit der ei- getragen wurde, war doch sehr abstrakt. Aber wir alle
genen Biografie erwarten. Die Bürger verstehen das wissen: Das Leben ist konkret, und das Wirken der Stasi
auch, und sie respektieren es. Denn wie anders ist es zu war konkret. Auch die Wirkung der Stasi bis heute bleibt
erklären, dass Abgeordnete gewählt werden, obwohl sie konkret:
ihre Stasi-Vergangenheit offengelegt haben?
Renate Adolph, Die Linke, Landtag Brandenburg,
Das zeigt, dass ein offener Umgang mit der eigenen enttarnt Ende 2009; Gerlinde Stobrawa, Die Linke, IM
Vergangenheit durchaus auch positiv wahrgenommen „Marisa“, enttarnt Ende 2009; Gerd-Rüdiger Hoffmann,
wird. Ich denke etwa an die ehemalige DDR-Sprinterin Die Linke, Landtag Brandenburg, IM „Schwalbe“, ent-
Gesine Tettenborn. Sie hat sich gerade in dieser Woche tarnt Ende 2009.
große Hochachtung erworben, weil sie ihren Weltrekord
Brandenburg ist das eine. Sind neue Daten aufge-
von 1984 aus der Bestenliste hat streichen lassen. Sie
taucht? – Nein. Ende 2008: Volker Külow, Die Linke,
hatte diesen Rekord damals mit Doping erzielt. Sie sagt
Sächsischer Landtag, IM „Ostap“. Mitte 2006: Ina
heute dazu: Ich will nicht lügen.
Leukefeld, thüringischer Landtag, IM „Sonja“ für die
Unter diese Maxime sollten auch alle Abgeordneten politische Kriminalpolizei. Frank Kuschel – ein beson-
in den Parlamenten des Bundes und der Länder ihre Ar- ders schwerer Fall –, IM „Fritz Kaiser“, sitzt bis heute
beit stellen. Deshalb fordere ich alle Kolleginnen und im thüringischen Landtag.
Kollegen auf: Scheuen Sie sich nicht, der Wahrheit ins
Das sind nur einige wenige konkrete Fälle, von denen
Auge zu sehen! Sorgen Sie selber für Klarheit, und set-
wir sicher wissen. Es gibt aber zum jetzigen Zeitpunkt
zen Sie sich mit den Fehlern der Vergangenheit ehrlich
noch mehr Fälle, von denen wir noch gar nichts wissen.
auseinander!
Es gibt leider auch Fälle, von denen wir wissen, über die
Mir ist noch etwas anderes wichtig. Das betrifft vor wir aber nichts sagen dürfen – leider.
allem die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich aus
(Zuruf von der FDP: Pfui! – Zurufe von der
Westdeutschland stammen. Ich meine, für Überheblich- LINKEN)
keit bei uns ist kein Platz. Wir sollten stattdessen aner-
kennen, dass sich Menschen ändern können, dass man – Sie haben es doch vorhin bewiesen. Wir haben ja eben
aus seinen Fehlern lernen kann und dass jeder das Recht von IM „Notar“ und von ähnlichen Dingen gehört.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1641
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) (Karin Binder [DIE LINKE]: Es wird nicht Erstens. Die politische Hygiene ist immer Grundlage (C)
wahrer, wenn Sie es wiederholen!) des demokratischen Zusammenlebens und der demokra-
tischen Zusammenarbeit. Wer einst seine engsten Be-
Das Perfide an diesem System ist doch: Es sind alles kannten ausspioniert hat und dies auch 20 Jahre nach der
Beispiele dafür, wie ehemalige Stasi-Spitzel oder -Mitar- Wende verheimlicht, gehört der in die öffentliche Ver-
beiter über all die Jahre seit der Wende ihre Tätigkeit waltung oder in die Parlamente?
bewusst verschwiegen haben. Sie haben sich dem einen
Staatsapparat angedient und haben dann, wenn man so Zweitens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemü-
möchte, im nächsten Staatsapparat nahtlos weiter hungen nicht nachlassen, weil wir erst jetzt die techni-
Karriere machen wollen. Das ist der eigentliche Skandal: schen Möglichkeiten haben
weiterhin Karriere machen. Das ist ein Schlag in das Ge- (Zuruf von der LINKEN)
sicht der Opfer.
– Ihre Wortergreifungsstrategien hatte ich schon ange-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sprochen –, die vielen Aktenschnipsel zusammenzuset-
zen. Bisher gibt es Puzzler, die jeden Tag versuchen, die
Wer glaubte, einen Schlussstrich unter die Aufarbei-
Akten wiederherzustellen, ohne zu wissen, welches Bild
tung des DDR-Unrechts ziehen zu können, sieht sich ge-
am Ende herauskommen soll. Nun wird durch das
rade durch die Vorfälle in Brandenburg getäuscht. Es ist
Fraunhofer-Institut ein System entwickelt, das die Ak-
nicht möglich. Großer Dank an die Birthler-Behörde, die
tenschnipsel automatisch zusammensetzt. Sie wissen si-
hier – manchmal mit Gegenwind – engagiert arbeitet,
cherlich oder haben sogar eine bessere Ahnung als ich,
und Dank auch an diejenigen, die sich immer wieder
wessen Akten in den letzten Stunden der DDR bzw. der
politisch für die Aufarbeitung einsetzen. Bei uns war es
Wende zuerst vernichtet wurden.
Herr Lanfermann, der immer wieder forderte: Wir brau-
chen einen Stasi-Unterlagenbeauftragten in Branden- Drittens. Wir dürfen mit den Aufarbeitungsbemühun-
burg. – Er wurde dafür auch zurechtgewiesen. Es hieß, gen nicht nachlassen, weil wir es insbesondere den Op-
man brauche so etwas nicht mehr. Erst als Herr Platzeck fern schuldig sind. Mir geht es dabei um folgende Opfer:
gar keine andere Wahl mehr hatte, hat er sich zu einem Die Stasi hat eine perfide Methode angewendet. Sie hat
solchen Schritt entschließen können. Das war viel zu irgendwann die Betreffenden nicht mehr in den Knast
spät, wie wir nun wissen; denn sonst wären manche Ko- gesteckt, sondern durch ganz andere Maßnahmen mund-
alitionen erst gar nicht zustande gekommen. tot gemacht. Wer denkt denn an diejenigen, die kein Abi-
tur machen durften?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie bei
(B) Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
Der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck
spricht davon, dass Zeit für eine Versöhnung sei. Was Wer denkt denn an diejenigen, die nicht studieren durf-
heißt denn Versöhnung? Das heißt, zwei gehen aufeinan- ten? Wer denkt denn an diejenigen, die einfache Tätig-
der zu. Kann man denn von Versöhnung sprechen, wenn keiten bzw. Berufe ausüben mussten und nach der
einer die ganze Zeit verheimlicht, was er gemacht hat, Wende arbeitslos wurden? Das ist das Verschulden der-
und erst durch einen Dritten enttarnt wird? Kann man jenigen, die gespitzelt haben.
denn dann von Versöhnung in dem Sinne sprechen, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zwei aufeinander zugehen? Ich glaube, für eine Versöh-
nung muss zuallererst das ganze Ausmaß des Unrechts Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Viertens.
aufgedeckt und aufgearbeitet werden. Vor allem muss Wir brauchen eine weitere Aufarbeitung, um urteilsfähig
die Wahrheit ans Licht gebracht werden. zu bleiben; das ist das Wichtigste. Aufarbeitung betrei-
ben wir auch wegen der Erinnerung und der Sühne. Aber
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wir müssen urteilsfähig bleiben. Urteilsfähigkeit heißt,
des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ aus der Geschichte zu lernen. Urteilsfähigkeit heißt, die
DIE GRÜNEN]) Erkenntnisse für die Zukunft zu gebrauchen. Urteilsfä-
higkeit heißt, nichts zu vertuschen. Urteilsfähigkeit
Solange sich die Täter des Stasi-Unrechtssystems dem heißt, dass auch die nachwachsenden Generationen aus
nicht stellen und sich nicht ehrlich damit auseinanderset- diesem Unrecht lernen und richtige Entscheidungen tref-
zen, sondern heimlich weiterhin in hohen – zum Teil fen können, auch in Abwesenheit von Zeitzeugen.
staatlichen – Ämtern fungieren, ist eine Versöhnung sehr
schwierig. Zum Teil ist sogar das Gegenteil von Versöh- Herzlichen Dank.
nung der Fall. Es ist Hohn und Spott für die Opfer und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
unsere demokratische Gesellschaft, wenn sich ehemalige
Stasi-Offiziere regelmäßig unter die Teilnehmer von
Veranstaltungen mischen und die Wortergreifungsstrate- Vizepräsidentin Petra Pau:
gien extremistischer Parteien nutzen. Solange das pas- Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, ein
siert, brauchen wir eine Aufarbeitung. Hinweis: Es gab offensichtlich das eine oder andere
Missverständnis in der Auslegung der Geschäftsord-
Wir brauchen Aufarbeitungsbemühungen aus folgen- nung. Aus mehreren Fraktionen wurde das Bedürfnis
den Gründen, über die zumindest unter den Demokraten nach Fragen bzw. Stellungnahmen signalisiert. Wir sind
hier im Parlament Konsens herrschen muss: aber in der Aktuellen Stunde und haben uns selbst die
1642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die Das Zweite. Wenn wir auf Brandenburg schauen, ist
SPD-Fraktion. Folgendes Tatsache: Wir hatten es – das klang bei
Wolfgang Thierse bereits an – zunächst mit einer Am-
(Beifall bei der SPD) pelkoalition und schließlich mit einer Großen Koalition
zu tun, die diese Schritte einvernehmlich gegangen ist.
Wolfgang Tiefensee (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses
und Kollegen! Liebe junge Gäste! In der Aktuellen Thema eignet sich nicht, um mit Schaum vor dem Mund
Stunde zum anhaltenden Handlungsbedarf bei der Auf- so zu tun, als hätte man eine weiße Weste. Mir persön-
arbeitung von Stasi-Verstrickungen haben Sie, sehr ver- lich hat man in meinem Leben vor 1989 viele Steine in
ehrte Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Ko- den Weg gelegt; aber ich werde sie, um einen biblischen
alition, vernommen, Vergleich aufzugreifen, nun nicht als Erster werfen und
so tun, als hätte ich keine Schuld. Wichtig ist, meine sehr
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: verehrten Damen und Herren von der schwarz-gelben
Der christlich-liberalen Koalition!) Koalition: Lassen Sie ab davon, so zu tun, als wären Sie
dass wir als SPD sowohl für eine Fristverlängerung als die einzigen Gralshüter in dieser Angelegenheit! Auch
auch für den Fortbestand der Birthler-Behörde stehen. wir stehen dazu, dass wir in dieser Richtung Aufarbei-
tung brauchen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Und für die rot-rote
Koalition in Brandenburg!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Jetzt könnte man sich fragen, warum eigentlich diese Worum geht es jetzt? Es geht letztlich darum, dass wir
Aktuelle Stunde stattfindet. die Geschichte aufarbeiten, weil es nicht zuletzt für die
jungen Leute wichtig ist, zu erkennen, dass die Diktatur
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: eine Diktatur des Alltags gewesen ist, eine Diktatur, die (D)
(B) Brandenburg ist nicht weit!) sowohl aus Stasi und Partei als auch aus den vielen be-
Mich beschleicht das Gefühl, dass mit dieser Aktuellen standen hat, die mitgelaufen sind.
Stunde und mit deren Überschrift eine Subbotschaft ver- Ich will in Richtung der Linken, wenn ich Ihnen die-
mittelt werden soll, nämlich die, dass die christlich-libe- sen Ratschlag geben darf, nachdrücklich sagen: Nutzen
rale Koalition aus Damen und Herren bestehe, die sich Sie jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass diese
dieses Themas mit dem erhobenen Zeigefinger, sozusa- DDR nicht nur ein Unrechtsstaat gewesen ist, sondern
gen mit der weißen Weste, annehmen und es okkupieren dass Mauer, Schießbefehl und Stasi die Geschäftsgrund-
könnten, während auf der anderen Seite diejenigen stün- lage der DDR gewesen sind, nicht aber eine irgendwie
den, die Belehrung benötigten. nebensächliche Fehlentwicklung! Tun Sie alles dafür,
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Das dass nicht verniedlicht und verharmlost wird!
stimmt doch gar nicht!)
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das
Ich will ganz deutlich sagen: Die SPD-Fraktion braucht tun wir doch nicht!)
in der Tradition von Schwante vom 7. Oktober 1989
keine Belehrung, wie wir mit Stasi und Unrecht in der Tun wir auf der anderen Seite alles dafür, um diffe-
DDR umgehen. renziert zu sagen: Die DDR bestand aus Menschen, die
ihr Leben gelebt haben und die durch die Stasi nicht des-
(Beifall bei der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] avouiert wurden.
[CDU/CSU]: Siehe Brandenburg!)
Es geht also um eine differenzierte Aufarbeitung. An-
Jetzt stellt sich die Frage: Spielt nicht etwa Branden- gesichts der Tatsache, dass der ehemalige, bis zum Jahre
burg die Hauptrolle? Wenn es so ist, dann hätte man das 2008 stellvertretende Ministerpräsident von Branden-
ja anders vermerken können. Hierzu als Erstes: Lieber, burg, Herr Junghanns, noch im Juli 1989 sagte: „Was die
verehrter Kollege Kurth, Sie haben auf die Fakten und Mauer betrifft, so lassen wir uns deren Schutzfunktion
auf das Konkrete hinweisen wollen. Wieso unterläuft Ih- nicht ausreden“, und dass die Biografie des Ministerprä-
nen der Fehler, hier nicht deutlich zu sagen, dass Minis- sidenten des Freistaates Sachsen stückweise ans Tages-
terpräsident Platzeck das Stasi-Unterlagen-Gesetz und licht kommt, sie gedeutet und umgedeutet wird,
die Einrichtung der Beauftragten nicht etwa im Zusam-
menhang mit der Koalitionsbildung in Angriff genom- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es aber
men hat, sondern bereits weit zuvor, dass es sein Vor- platt! – Zuruf von der LINKEN: „CDU“ muss
schlag ist, der einstimmig angenommen wurde, die von man dazusagen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1643
Wolfgang Tiefensee
(A) sollten wir alles dafür tun, sehr differenziert mit dieser (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja, (C)
Angelegenheit, vor allen Dingen aber mit den Menschen Aufklärung!)
umzugehen, die in einem Rechtsstaat das Recht haben,
dass die Diktatur nach rechtsstaatlichen und nach Deswegen ist es notwendig, dass weiterhin alles dafür
menschlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet wird. Das getan wird, dass die perfiden Verbrechen, die von der
ist die Bundesrepublik Deutschland, die wir gewollt ha- Stasi begangen wurden, weiter aufgearbeitet werden.
ben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Es gibt nun einmal im Bundesland Brandenburg große
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Unzulänglichkeiten. Es gab seit 1991 keine Überprüfung
GRÜNEN) eines Landtagsabgeordneten auf eine informelle Mitar-
beit bei der Stasi. Das Land Brandenburg hat als erstes
Vizepräsidentin Petra Pau: Bundesland der neuen Länder schon 1995 die Regelüber-
prüfung im öffentlichen Dienst eingestellt. Erst jetzt,
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
20 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist auf den starken
Unionsfraktion.
Druck der CDU im Brandenburgischen Landtag hin
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Zuruf von der LINKEN: Oh!)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- eine Stasi-Unterlagenbeauftragte berufen worden. Das
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Vorfälle in Branden- ist eine himmelschreiende Unzulänglichkeit, meine sehr
burg in den letzten Wochen und Monaten, aber auch die verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linkspar-
heutige Debatte – das sage ich ganz offen – zeigen, dass tei.
es weiteren Aufklärungs- und Handlungsbedarf bei der
Aufarbeitung von Stasi-Verstrickungen gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: So viel
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zum Thema Wahrhaftigkeit! – Weiterer Zuruf
neten der FDP) von der LINKEN: Zehn Jahre habt ihr nichts
Herr Kollege Tiefensee, ich möchte dem Eindruck, den gemacht!)
Sie zu erwecken versuchen, entgegentreten, nämlich An Zynismus und Sarkasmus nicht mehr zu übertreffen
dass die christlich-liberale Koalition das Schwarzer- ist es meines Erachtens, dass Finanzminister Markov,
Peter-Spiel betreibt und wir hier mit dem erhobenen Zei- der der Linkspartei angehört, angeordnet hat, dass die
gefinger stehen. Ich möchte dies in aller Deutlichkeit Mitgliedsjahre bei der Stasi bei der Berechnung von
(B) von uns weisen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Dienstjubiläen angerechnet werden. Das ist eine Verhöh- (D)
nach wie vor in den nächsten Jahren und in den nächsten nung der Zigtausend Stasi-Opfer, die verleumdet wur-
Jahrzehnten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein den, die gefoltert wurden und von denen viele ums Le-
wird, alles dafür zu tun, dass dieses krasse und men- ben kamen.
schenunwürdige Unrechtsregime, das 40 Jahre in der
DDR geherrscht hat, aufgearbeitet wird. Man darf kei- (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen
nen Schlussstrich ziehen. [Bönstrup] [CDU/CSU])
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das Deswegen ist es richtig, dass der Spiegel von dieser Wo-
sagt doch niemand! Kein Mensch sagt: che „Das organisierte Vergessen“ titelt und Frau Birthler
Schlussstrich!) vom „Kartell des Schweigens“ spricht.
Ich möchte durchaus zugestehen, dass es ehrenwerte Die Stasi kann auch in diesem Zusammenhang nicht
SPD-Politiker gab, die sich dieser Bemühungen in den isoliert betrachtet werden. Die Stasi wurde in der ehema-
letzten 20 Jahren angenommen haben. Ich möchte aber ligen DDR als das „Schild und Schwert der Partei“ be-
genauso in aller Deutlichkeit hier zum Ausdruck brin- zeichnet. Die Stasi hat nun einmal das totalitäre und dik-
gen, dass ich den Versuch des brandenburgischen Minis- tatorische Herrschaftssystem der DDR gestützt und
terpräsidenten Platzeck, jetzt von einer großen Versöh- gesichert. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Ich halte es
nungskampagne zu sprechen, für reichlich naiv und für außerordentlich bedenklich, dass es in stärkerem
kurzsichtig halte. Maße Versuche gibt, dieses Unrechtsregime zu beschö-
nigen und zu verharmlosen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Von wem
Versöhnung kann nur individuell erfolgen. denn? Doch nicht von uns!)
Ich halte es für sehr bemerkenswert und bedenklich, Die DDR war ein unterwandertes Land. In den 40 Jah-
dass es selbst 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im- ren, in denen es die DDR gab, arbeiteten insgesamt über
mer noch Montagsdemonstrationen bedarf, in denen 600 000 DDR-Bürger informell für die Stasi. Selbst im
„Stasi raus!“-Rufe skandiert werden, um deutlich zu ma- Dezember 1988 waren nach offiziellen Statistiken noch
chen, dass hier noch vieles aufgeklärt werden muss. Um 174 000 Bürgerinnen und Bürger der DDR Informelle
eines klarzumachen: Versöhnung kann und wird immer Mitarbeiter der Stasi.
nur individuell sein, Versöhnung kann aber auch nur auf
Wahrhaftigkeit beruhen. Versöhnung kann nur auf Auf- (Karin Binder [DIE LINKE]: Und da waren
klärung aufbauen. keine von der CDU dabei?)
1644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Sabine Bätzing
(A) über die Aufhebung der Umsatzsteuerermäßigung bei Betrügereien gefährden die Glaubwürdigkeit des gesam- (C)
Hotels zu folgen. ten EU-Emissionshandels.
Vielen Dank. Großbritannien und Frankreich wählten den ersten
(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans möglichen Weg. Die Niederlande und Spanien wählten
Michelbach [CDU/CSU]: Über die SPD-Me- einen anderen Weg. Auch wir halten das sogenannte Re-
dienbeteiligung haben Sie nicht gesprochen!) verse-Charge-Verfahren für die Emissionsrechte als So-
fortmaßnahme für den besseren Weg, den wir nun auch
gehen werden. Damit schieben wir nicht nur den be-
Vizepräsidentin Petra Pau: fürchteten Einnahmeausfällen bei den Finanzämtern ei-
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die nen Riegel vor, sondern bannen auch die Gefahr des
FDP-Fraktion. Reputations- und Vertrauensverlustes im gesamten CO2-
(Beifall bei der FDP) Markt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Daniel Volk (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Langfristig sollten wir aber auch hier die Umstellung
Frau Kollegin Bätzing, es ist schon sonderbar, wie Sie von der Soll- auf die Ist-Besteuerung prüfen; denn die
hier irgendwelche Konstruktionen darlegen. Wenn wir Ist-Besteuerung würde dem Umsatzbetrug die Grund-
uns die veröffentlichten Spenden der SPD genauer an- lage komplett entziehen.
schauen und daraus konstruieren, was Sie jeweils in Ge- Ein weiteres großes Thema ist die Neuregelung der
setzesform umgewandelt haben, kämen auch wir auf gewerbesteuerlichen Hinzurechnung von Finanzierungs-
eine sehr lange Liste. aufwendungen für Finanzdienstleistungsunternehmen,
(Widerspruch bei der SPD – Kerstin Andreae also zum Beispiel Leasingunternehmen. Neben den Kre-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorsicht!) ditinstituten leisten nämlich auch die Leasingunterneh-
men einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Fi-
Aber diese schäbige Art der Auseinandersetzung ma- nanzierungssituation in Deutschland, insbesondere der
chen wir bestimmt nicht mit. des Mittelstandes. Diese Leasingunternehmen wurden
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bisher gegenüber anderen Finanzunternehmen steuerlich
benachteiligt, und ich sage: bewusst benachteiligt.
Wir haben heute das Gesetz zur Umsetzung steuerli-
cher EU-Vorgaben zu beraten, ein Gesetz, das das deut- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Leo
Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
(B) sche Steuerrecht EU-freundlicher machen wird. Das (D)
werden auch die Bürgerinnen und Bürger spüren. Als Diese Benachteiligung beenden wir.
Beispiel sei die Vereinfachung der Altersvorsorge ge-
nannt; denn wir werden die Gewährung der Altersvor- (Joachim Poß [SPD]: Das ist auch Lobbyis-
sorgezulage unabhängig vom Wohnsitz der jeweiligen mus!)
Person garantieren.
Wir entschärfen damit in der Krise eine Ungleichheit ge-
Mit dem Gesetz werden wir auch einen drohenden rade in der Mittelstandsfinanzierung und lösen gleichzei-
Umsatzsteuerbetrug beim CO2-Emissionshandel be- tig eine Investitionsbremse, was den vielen mittelständi-
kämpfen. Scheingeschäfte mit Klimazertifikaten haben schen Unternehmen in Deutschland helfen wird.
in mehreren europäischen Ländern Steuerverluste von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
knapp 5 Milliarden Euro verursacht. Allein in Bayern
untersucht die Münchner Steuerfahndung dubiose Trans- Durch eine verstärkte Investitionstätigkeit vor Ort wer-
aktionen in dreistelliger Millionenhöhe. Bislang waren den gerade auch die Kommunen profitieren.
vor allem Großbritannien, Frankreich, Dänemark, die
Niederlande und Spanien betroffen. Vielleicht ist das (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
auch die Erklärung dafür, Frau Bätzing, dass Sie am Lassen Sie mich klar sagen: Mit dem Ende dieser Be-
28. Dezember die von Ihnen zitierte Auskunft bekom- nachteiligung ergibt sich eine Gleichstellung, keine Pri-
men haben; denn es droht jetzt nach Deutschland zu vilegierung.
wandern.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Sabine Bätzing [SPD]: Einverstanden!) Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr!
Der Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten gilt als Das ist Aufsicht light!)
effizientes Mittel im Kampf gegen den Klimawandel. Diese Zuspitzung aus der linken Hälfte dieses Hauses ist
Doch wie die europäische Polizeibehörde Europol mit- ein unverhältnismäßiger Angriff auf die vielen Leasing-
teilte, könnten in einigen Staaten bis zu 90 Prozent des unternehmen in unserem Land, die auch in schwierigen
Handelsvolumens auf Betrug zurückgehen. Durch das Zeiten einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierungssi-
Grundkonzept für den Steuerbetrug durch sogenannte cherheit in Deutschland geleistet haben.
Karussellgeschäfte wird die spezifische Regelung des in-
nergemeinschaftlichen Erwerbs genutzt. Deshalb reagie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
ren wir jetzt mit konkreten Änderungen im Steuersys- Sabine Bätzing [SPD]: Das stimmt einfach
tem; denn diese milliardenschweren kriminellen nicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1649
Dr. Daniel Volk
(A) Wir erleichtern mit unserer Politik die Finanzierungs- Frau Bätzing, ich glaube, dass Sie einem großen (C)
bedingungen für den Mittelstand; denn bei der FDP hat Missverständnis erliegen: Eine Umsatzsteuerverpflich-
der Mittelstand nicht nur in Sonntagsreden seinen Platz. tung heißt nicht automatisch, dass die Preise um
19 Prozent steigen.
(Joachim Poß [SPD]: Das werden wir in der
Anhörung klarstellen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Im Zentrum unserer Politik stehen die vielen kleinen
mittelständischen Unternehmen in unserem Land. Des- Im Wettbewerb sinken die Preise nämlich. Das ist der
halb machen wir eine mittelstandsfreundliche Politik. entscheidende Punkt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Sabine Bätzing [SPD]: Reden Sie einmal mit
denen, die da beschäftigt sind! – Kerstin
Wir haben für die vielen mittelständischen Unterneh- Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
men, die keine großen Steuerbüros haben, eine weitere ist die FDP! Deswegen sinken gerade die
Erleichterung geschaffen. Wir beseitigen die negativen Preise für Übernachtungen in Hotels!)
Auswirkungen der Regelung der Funktionsverlagerung
auf den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutsch- Hören Sie auf, ein Klima der Angst zu schüren, indem
land. Wir haben bewusst keine Pflicht für den Unterneh- Sie sagen, dass wir uns Briefe in Zukunft nicht mehr
mer vorgeschrieben, sondern wir lassen jedem einzelnen leisten können. Wir sind hier in einem Bereich, in dem
Unternehmen ein Wahlrecht, sodass jeder Unternehmer von der Regulierungsbehörde genehmigte Entgelte fest-
selbst entscheiden kann, welche Bewertung für ihn am gesetzt werden, und die gelten.
unbürokratischsten und sinnvollsten ist.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: So ein Blöd-
Damit erreichen wir, dass die Besteuerung von soge- sinn!)
nannten Funktionsverlagerungen den internationalen
Standards entspricht und nicht zulasten deutscher Ar- Festzuhalten bleibt: Wir marktwirtschaftlichen Ord-
beitsplätze geht. Im Zukunftsbereich Forschung und nungspolitiker sind zurück in der Regierungsverantwor-
Entwicklung erleichtern wir damit zusätzliche Investitio- tung. Wir schieben dem Steuerbetrug einen Riegel vor.
nen in Deutschland und schaffen günstigere Rahmenbe- Wir beenden steuerliche Ungleichheiten und sorgen so
dingungen für die Entstehung neuer, zukunftssicherer für mehr Wachstumsimpulse. Wir schaffen mehr Wettbe-
Arbeitsplätze in unserem Land. werb, von dem die Verbraucher insgesamt profitieren,
sowohl durch niedrigere Preise als auch durch ein viel-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fältigeres Angebot an Dienstleistungen.
(B) (D)
Eine weitere Frage, über die wir heute zu diskutieren Ich danke.
haben, ist die Umsatzsteuerregelung im Postsektor.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: FDP im Sinkflug!)
Der Markt für Postdienstleistungen hat in den letzten
Jahren seine Rolle als Wachstumsmotor bestätigt. Für
die Verbraucher hat der dynamische Wettbewerb zu qua- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
litativ hochwertigen Dienstleistungen mit stabilen Prei- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
sen geführt. Gleichwohl wird der Wettbewerb zwischen für die Fraktion Die Linke.
der Deutschen Post AG und anderen Postdienstleistern
nach wie vor durch eine unterschiedliche umsatzsteuerli- (Beifall bei der LINKEN)
che Behandlung beeinträchtigt.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Zahlen die
anderen Anbieter Tariflöhne?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schwarz-Gelb macht im neuen Jahr genau da
Zu Beginn des Jahres 2008 konnte im Postsektor weiter, wo sie im alten Jahr aufgehört haben: Sie vertei-
ein vielseits erwarteter Meilenstein erreicht werden: len weiter Steuergeschenke für große Konzerne, und das
Nach fast 500-jähriger Bestandskraft wurde das Ganze unter falscher Flagge.
staatliche Monopol für die Beförderung von Brie-
fen zugunsten einer zeitgemäßen Wettbewerbslö- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Geschenke kann nur
sung aufgegeben und der Markt vollständig geöff- der machen, der auch Eigentümer ist!)
net. Der Weg zu neuen Geschäftsmodellen, zu mehr Man muss allerdings sagen, dass das Einfallstor für
Wachstum und Innovation ist seitdem frei. diese rasante und einfache Umsetzung des Vorhabens die
Das ist nicht von mir, SPD für Sie geöffnet hat. Gemeinsam setzten Sie – lei-
der – die Unternehmensteuerreform 2008 durch. Das hat
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber trotzdem mindestens 10 Milliarden Euro Mindereinnahmen verur-
gut!) sacht. Damit ist das ein Geschenk an die Konzerne.
sondern das schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem ak- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg
tuellen Tätigkeitsbericht. [CDU/CSU]: Quatsch ist das!)
1650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Nicolette Kressl (SPD): bisher allein für die Deutsche Post AG. Mit dem vorlie- (C)
Sehr geehrter Herr Kolbe, ist Ihnen bewusst, dass es genden Gesetzentwurf wollen wir die Steuerbefreiung
nach diesem Zeitpunkt vor einem Jahr eine EuGH-Ent- entsprechend dem Art. 132 Abs. 1 a der Mehrwertsteuer-
scheidung gegeben hat, die, wie Frau Kollegin Bätzing Systemrichtlinie unter Berücksichtigung, Frau Kressl,
ausgeführt hat, inzwischen von Wirtschaftskanzleien, der Auslegung des EuGH-Urteils vom 23. April 2009
zum Beispiel von Freshfields, ausgelegt worden ist? ausgestalten. Nunmehr sollen nur noch Post-Universal-
Diese Auslegungen besagen deutlich: Nach der EuGH- dienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit sein, mit
Entscheidung muss der AGB-Bereich von der Umsatz- denen durch einen oder mehrere öffentliche oder private
steuer befreit werden. Müssten wir uns eigentlich nicht Unternehmer eine Grundversorgung der Bevölkerung si-
einig sein, dass wir diese neuen Auslegungen, die nach chergestellt wird. Den Nutzern muss ein Universaldienst
dem alten Gesetzentwurf entstanden sind, im neuen Ge- zur Verfügung stehen, der ständig allen Nutzern flächen-
setzentwurf berücksichtigen müssen? deckend postalische Dienstleistungen in einer bestimm-
ten Qualität zum tragbaren Preis bietet. Damit wird die
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ist die Gesetz- längst fällige Wettbewerbsgleichheit hergestellt.
gebung oder eine Kanzlei entscheidend? Das
Posthorn lässt grüßen!) Künftig sind noch folgende Post-Universaldienstleis-
tungen von der Umsatzsteuer befreit: die Beförderung
Manfred Kolbe (CDU/CSU): von Briefsendungen einschließlich der Versendung von
adressierten Büchern, Katalogen usw. bis 2 000 Gramm,
Frau Kressl, die EuGH-Entscheidung ist ergangen.
die Beförderung von adressierten Paketen bis 10 Kilo-
Ihre Kollegin Bätzing hat, wenn ich es noch richtig im
gramm sowie Einschreibe- und Wertsendungen. Künftig
Ohr habe, gesagt, dass in der EuGH-Entscheidung ge-
sind nicht mehr von der Umsatzsteuer befreit: Paketsen-
rade hierzu keine klare Aussage getroffen wurde. Somit
hat sich die Situation nicht grundlegend verändert. Vor dungen mit einem Gewicht von 10 bis 20 Kilogramm,
einem Jahr wurde über die Frage diskutiert; darüber wird adressierte Bücher, Kataloge, Zeitungen und Zeitschrif-
auch jetzt in der Anhörung zu diskutieren sein. ten mit einem Gewicht von mehr als 2 Kilogramm, Ex-
presszustellungen und Nicht-Nachnahmesendungen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Man (Iris Gleicke [SPD]: Die Entbürokratisierung
ändert seine Meinung immer so, wie man es schreitet voran! Können wir das noch auswen-
braucht! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: dig lernen?)
Nicht dass Sie demnächst die Christel von der
– Ja, das ist interessant.
Post sind, Frau Kollegin!)
(B) (D)
Ich komme zu einer anderen Vorrednerin, Frau Höll, Nicht unter die Befreiung fallen nach dem Gesetzent-
die von Steuergeschenken an Unternehmen und von der wurf auch Leistungen, deren Bedingungen zwischen den
Zerschlagung der Post gesprochen hat. Das ist wirklich Vertragsparteien individuell vereinbart werden – inso-
abartig. Das will keiner. Gerade diejenigen, die wie ich weit besteht Übereinstimmung – und die aufgrund von
einen Flächenwahlkreis vertreten, wissen die Leistungen allgemeinen Geschäftsbedingungen zu abweichenden
der Deutschen Post zu schätzen. Auch das will ich hier Qualitätsbedingungen oder günstigeren Preisen erbracht
sagen. werden. Das ist der eigentlich strittige Punkt in diesem
Gesetzgebungsverfahren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Durch den Regierungsentwurf wurde hier eine Vor-
Ich habe aber keine Probleme, wenn die Post zweimal gabe gesetzt. In der Anhörung werden wir auch andere
am Tag kommt. Ich habe auch keine Probleme damit, Meinungen hören. Dazu dient ja auch die Anhörung am
dass es heute mehrere Zeitungen, nicht nur eine Zeitung 9. Februar 2010.
gibt, obwohl das mehr Journalisten kostet,
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Anhörung wird an diesem Punkt sicherlich interes-
und dass es heute mehrere Gaststätten gibt, nicht nur die sant werden. Danach werden wir eine fundierte Ent-
HO, wo man immer nur schwer einen Platz bekam. scheidung fällen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist eine grundlegende Frage, in der wir uns unter- Insgesamt hält meine Fraktion den Gesetzentwurf,
scheiden. Die Deutschen haben in den letzten 20 Jahren den die Bundesregierung hier vorgelegt hat, für vernünf-
klar zum Ausdruck gebracht, was sie wollen. tig. Beide Seiten sind nicht ganz zufrieden und haben
noch den einen oder anderen Wunsch. Dies spricht für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen guten Kompromiss und einen guten Einstieg in die
Beratungen.
Ich komme jetzt wieder zur Umsatzsteuerbefreiung.
Nach dem geltenden § 4 Nr. 11 b UStG sind die unmit- Danke.
telbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutschen
Post AG von der Umsatzsteuer befreit. Dies galt also (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
1654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort. Was ein Universaldienst ist, ist bei uns im Postgesetz
und in der Post-Universaldienstleistungsverordnung
(Beifall bei der SPD) festgelegt. Ich kann mir überhaupt nicht erklären, warum
es hier plötzlich die von Herrn Kolbe so eindrucksvoll
Klaus Barthel (SPD): aufgelisteten Universaldienstleistungen wie Nachnah-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mesendungen und Pakete mit einem Gewicht von 10 bis
Meine Damen und Herren! Ich muss auch noch einmal 20 Kilogramm und Eilsendungen geben soll, die bei uns
auf die Post eingehen, weil sich das geradezu anbietet, per Gesetz als Universaldienstleistung definiert sind,
um noch einmal deutlich zu machen, was diese Koalition aber nicht von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen,
unter der Überschrift „Gleicher Wettbewerb und Libera- während es andere Universaldienstleistungen gibt, die
lisierung“ meint und wie sie versucht, die Wettbewerbs- von der Mehrwertsteuer befreit sein sollen.
regeln so umzudeuten, dass die Lasten auf jeden Fall die Abgesehen von dem bürokratischen Humbug – es
Verbraucher und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- muss sich noch zeigen, wie Sie steuerrechtlich unter-
mer tragen müssen. scheiden wollen, ob in einem Postauto Universaldienst-
Der EuGH hat deutlich gemacht, dass die Mehrwert- leistungen wie Pakete transportiert werden oder Kata-
steuerbefreiung für alle Unternehmen, die öffentliche loge, die schwerer als 2 Kilo sind –
Postdienste erbringen, nicht nur rechtmäßig, sondern (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zwingend ist. Insofern gibt es hier nur einen relativ ge- NEN]: Er muss dann zweimal fahren!)
ringen Spielraum zur Auslegung. Das Kriterium für die
Steuerbefreiung ist die Erbringung eines Universaldiens- ist es überhaupt Unfug, eine solche Unterscheidung zu
tes. treffen. Die europäische Postdienste-Richtlinie besagt
eindeutig, dass es Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten
FDP und Teile der Union behaupten immer, dass dann
ist, den Universaldienst zu definieren.
gleicher Wettbewerb herrscht, wenn man die Mehrwert-
steuerpflicht im Bereich der Post für alle einführt oder (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nichts ande-
abschafft. Das ist Humbug, und das ist auch die Auffas- res machen wir! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das
sung des EuGH und der EU-Kommission; denn man tun wir!)
kann nur Gleiches gleich behandeln, und man muss Un-
gleiches ungleich behandeln. Sie rechnen bei Ihrem Vorhaben mit Mehreinnahmen
(B) von 350 Millionen bis 500 Millionen Euro. Die span- (D)
(Beifall bei der SPD) nende Frage ist, wer diese 500 Millionen Euro bezahlt.
Ein Unternehmen, das im Auftrag der Politik gemäß Es ist völlig klar: Das ist eine Verbrauchsteuer, und als
der Verfassung Leistungen erbringt, also im öffentlichen solche ist sie von den Verbrauchern zu zahlen. Wer sind
Auftrag – man sollte vielleicht ab und zu einmal in die in diesem Fall die Verbraucher? Das sind all diejenigen,
Verfassung hineinschauen; ich empfehle die Lektüre von die Postdienstleistungen in Anspruch nehmen müssen,
Art. 87 f Grundgesetz, in dem es um das flächende- die nicht vorsteuerabzugsberechtigt sind. Das sind neben
ckende Angebot von Postdienstleistungen geht –, ist Banken und Versicherungen, die andere Wege finden,
doch anders zu behandeln als jemand, der sich die Rosi- die Kosten auf ihre Kunden abzuwälzen – das können
nen heraussucht, womit sich möglichst viel Geld verdie- wir auf unseren Kontoauszügen sehen, wenn wir sie uns
nen lässt, während ihm alles andere egal ist, weil man noch zuschicken lassen –, im Wesentlichen die Wohl-
dafür ja die Deutsche Post AG hat, die das dann erledigt. fahrtsverbände, die Kirchen, die Deutsche Rentenversi-
cherung, die Krankenkassen, die Kommunen und die öf-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der fentlichen Verwaltungen. Sie bezahlen die 350 Millionen
LINKEN) bis 500 Millionen Euro, und sie werden sich sehr dafür
In Zukunft soll natürlich jeder, der für sich die Ver- bedanken, dass wir jetzt auch noch über die Umsatz-
pflichtung übernimmt, Universaldienstleistungen zu er- steuer eine sozial ungerechte Umverteilung vornehmen,
bringen, auch dieses Privileg – in Anführungszeichen – indem wir die Umsatzsteuerentlastung von den Kirchen
der Steuerbefreiung in Anspruch nehmen können, wäh- und Sozialverbänden zu den Hotels verlagern. Das ist
rend dies für alle anderen nicht gilt. Daran lässt sich Umverteilung à la Schwarz-Gelb; das muss man ganz
auch überhaupt nicht deuteln. Selbst die Kommission, deutlich sagen.
die uns deswegen ja verklagt hatte, sagt inzwischen – ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
darf zitieren –: Wie aus dem entsprechenden Abschnitt der LINKEN)
hervorgeht, erfolgt nach Auffassung der Kommission
aus dem Urteil in der Rechtssache TNT, dass der Anbie- Wer dann sagt, das werde der Wettbewerb regeln, das
ter von Universaldienstleistungen wegen der besonderen könne gar nicht ganz auf die Kunden abgewälzt werden,
rechtlichen Grundlage, aus der sich die besonderen Ver- der muss wissen, dass im Postwesen 80 Prozent der Kos-
pflichtungen für einen solchen Anbieter ergeben, zur ten Personalkosten sind. Insofern gibt es so gut wie
Mehrwertsteuerbefreiung berechtigt ist. – Klarer kann keine Abwälzungsmöglichkeiten. Das heißt, wenn es
man das doch nicht sagen. Hier gibt es keinen Millimeter nicht die Verbraucher bezahlen, dann bezahlen es die
Auslegungsspielraum. Beschäftigten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1655
Klaus Barthel
(A) Wie wir heute gehört haben, ist der Postmindestlohn Der Kollege Volk hat ebenfalls einen sehr wichtigen (C)
leider nicht rechtskräftig. Das bedeutet also ganz klar, Hinweis gegeben: Selbst wenn wir bestimmte Leistun-
was die Unternehmen schon angekündigt haben: Wenn gen, die jetzt im Postbereich angeboten werden, aus der
die bestehende Mehrwertsteuerregelung entfällt, dann Mehrwertsteuerbefreiung herausnehmen, führt das nicht
tragen die Beschäftigten die Kosten in Form von Ar- notgedrungen dazu, dass in diesen Fällen die Preise stei-
beitsplatzverlust oder von niedrigeren Einkommen. gen. In dem Bereich kommt es vielmehr zu vermehrter
Konkurrenz. Wir werden dann das Gleiche wie beim Te-
Auch das ist offensichtlich schwarz-gelbe Politik. So
lekommunikationsmarkt erleben. Dazu ein Hinweis: Die
etwas kann man nicht machen, und schon gar nicht mit
Liberalisierung im Telekommunikationsmarkt hat dazu
der Begründung, das habe etwas mit fairem Wettbewerb
geführt, dass wir 1998 für ein zweiminütiges Fernge-
oder mit europäischen Regelungen zu tun. Ich empfehle,
spräch noch 1,45 DM – das wären gut 73 Cent – bezah-
die entsprechenden Texte zu lesen.
len mussten und heute dasselbe Gespräch zum Preis von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 3 Cent führen können. Das ist ein erheblicher Vorteil für
der LINKEN) alle Verbraucher in diesem Land.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist Liberali-
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege sierung!)
Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion.
Das belegt, dass das Herausnehmen von Leistungen aus
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Mehrwertsteuerbefreiung nicht zu Preissteigerungen
führen muss.
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Das Thema Mitarbeiterbeteiligung halte ich für be-
Danke schön. – Verehrte Frau Präsidentin! Meine Da- sonders wichtig. Was Ihre Kritik angeht, Herr Gambke:
men und Herren! Ich hatte mich eigentlich auf das Ich finde es durchaus berechtigt, die Einbeziehung der
Thema Mitarbeiterbeteiligung konzentrieren wollen. Entgeltumwandlung in die steuerliche Begünstigung
Aber nach der vorangegangenen Debatte möchte ich mir zum Aufbau einer Mitarbeiterkapitalbeteiligung zu hin-
noch einige andere Bemerkungen erlauben. terfragen. Ich glaube aber, dass dies ein notwendiger
Eine Vorbemerkung betrifft die Post-Universaldienst- Schritt ist, um die Maßnahme Mitarbeiterkapitalbeteili-
leistungen. Hier sind zwei wichtige Stichworte genannt gung attraktiv zu gestalten und um voranzukommen. Es
worden. Das war zum einen der Hinweis auf das Stich- ist eine enorm wichtige Maßnahme, die auch die Große
wort „Grundversorgung“. Koalition mit in die Wege geleitet hat. Ich zitiere an die-
(B) ser Stelle sehr gern Ihren früheren Arbeitsminister Olaf (D)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Scholz, der gesagt hat, das sei ein Startschuss für eine
Dazu haben Sie, Frau Bätzing, ausgeführt, dafür könne Neuentwicklung in Deutschland und ein neues Kapitel,
unter Umständen maßgeblich sein, was in den AGBs der das mehr Gerechtigkeit schaffe und die Akzeptanz der
Unternehmen dazu festgelegt würde. Das kann meiner sozialen Marktwirtschaft stärke.
Einschätzung nach nicht maßgeblich sein. Denn die All- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gemeinen Geschäftsbedingungen werden von den Unter-
nehmen selbst festgelegt, sodass man im Grunde alles Diese Einschätzung halte ich für absolut richtig. Deswe-
Mögliche hineinschreiben kann. Das kann also nie ein gen sollten wir alles dafür tun, dass wir mit dem Projekt
sachlich vernünftiges Abgrenzungskriterium zur Bestim- Mitarbeiterkapitalbeteiligung Erfolg haben. Auch wenn
mung des objektiven Begriffs „Grundversorgung“ sein. noch weitere sinnvolle Vorschläge dazu gemacht wer-
den – –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Joachim Poß [SPD]: Gegen Mitarbeiterkapitalbe-
Im Übrigen wäre ich auch zurückhaltend in der Ein- teiligung hat doch keiner etwas gesagt!)
schätzung der genannten Rechtsanwaltskanzlei. Ich habe
vielfältig mit ihr zu tun gehabt. Sie hat in meinem beruf- – Ja, aber zum Thema Entgeltumwandlung. Deswegen
lichen Vorleben auch die Unternehmung Porsche bei der war es mir wichtig, darauf einzugehen. Es ist schön, dass
versuchten Übernahme von VW beraten. Sie an dieser Stelle deutlich signalisieren, diesen Weg
mit uns zu gehen.
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
(Joachim Poß [SPD]: Bitte keine Unterstellun-
Die Beratung ist nicht besonders glücklich verlaufen. gen!)
Das Vorhaben ist auch mehrfach gerichtlich gescheitert.
Ich würde mich also nicht unbedingt allein auf solche – Um Gottes Willen! Das war keine, Herr Poß. Sie hät-
anwaltlichen Urteile stützen wollen. ten sorgfältig zuhören müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Joachim Poß [SPD]: Nicht Feindbilder oder
neten der FDP – Sabine Bätzing [SPD]: Dann Pappkameraden aufbauen – auch nicht in der
warten wir die Anhörung ab!) ersten Rede!)
Im Übrigen hat Herr Staatssekretär Koschyk treffend
– Dazu warten wir die Anhörung ab.
darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mitarbeiterkapi-
(Sabine Bätzing [SPD]: Genau!) talbeteiligung zunächst um einen relativ geringen För-
1656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Bisher war es so geregelt, dass sie ausschließlich im Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Bereich der Finanzierung tätig sein durften. Wenn diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
Unternehmen nur einen zusätzlichen Service anboten, sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können
waren sie im Grunde genommen von den gewerbesteuer- wir so verfahren.
lichen Hinzurechnungen ausgeschlossen. Das war ein- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
deutig nicht sachgerecht. das Wort die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fraktion.
Das haben wir jetzt korrigiert. Ich bin überzeugt, dass (Beifall bei der SPD)
wir das Richtige gemacht haben.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich
komme schnell zum Ende. Ich bin das hier noch nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
gewohnt. Ich bitte um Entschuldigung. Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen An-
trag der SPD-Fraktion zum Kinderschutz. „Kinderschutz
Es ist deshalb so wichtig, dass wir etwas für die Lea- wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz opti-
singunternehmen tun, da sie Finanzgeschäfte für die mieren – Förderung und frühe Hilfen für Eltern und Kin-
Wirtschaft, besonders für den Mittelstand, in Deutsch- der stärken“ lautet der Titel. Es ist nicht das erste Mal,
land machen. dass wir im Bundestag über den Schutz von Kindern de-
battieren. Zuletzt war das 2009 der Fall. Oft gaben
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)
schreckliche Fälle Anlass zur Debatte. Wir glaubten
Viele Mittelständler wickeln ihre Finanzierung über dann, ganz schnell reagieren zu müssen. Die letzte Re-
Leasing von Produktionsmitteln, von Fahrzeugen und gierung, die Regierung der Großen Koalition, hatte noch
anderem ab. Es macht keinen Sinn, sich über eine Kre- einen Gesetzentwurf zum Kinderschutz vorgelegt. Die-
ditklemme im Mittelstand und in der Wirtschaft zu un- ser wurde aber nach einigen Verhandlungen und trotz
terhalten, wenn man sich nicht auf der anderen Seite ent- Verbesserungen nicht nur von uns, der SPD, sondern
schieden für gute Bedingungen hinsichtlich der auch von der Fachwelt bzw. den Fachverbänden abge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1657
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) lehnt, und das aus gutem Grund; denn Kinderschutz schauen, damit er zielgerichteter Hilfen zur Förderung (C)
braucht Besonnenheit, Fachwissen, Fachkenntnisse und der Erziehungskompetenz in den Mittelpunkt stellt.
Sachverstand und keine Schnellschüsse.
Wir haben eine weitere Schwachstelle entdeckt. Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten besteht darin, dass gefährdete Eltern und deren Kinder
der LINKEN) häufig Ortswechsel vornehmen und umziehen. Damit es
besser klappt und die Hilfe wirklich nahtlos und ohne
Obwohl wir versucht haben, noch etwas zu ändern, und
Lücke übergeht, müssen wir Wert darauf legen, dass die
viel Arbeit hineingesteckt haben – ich war daran betei-
Zuständigkeitswechsel reibungslos funktionieren. Wir
ligt –, finde ich unsere Ablehnung gut; denn wir dürfen
werden nicht fordern, dass man ein entsprechendes Ver-
nicht unter tagesaktuellem Druck handeln. Das wird we-
fahren genau festschreibt. Meines Erachtens werden die
der den Kindern noch unserer Arbeit gerecht. Wir müs-
Fachleute wissen, wie es auszugestalten ist. Wir müssen
sen zudem die Fachwelt, die sich täglich mit dem Thema
jedoch darauf achten, dass diese Schwachstelle ausge-
befasst, einbeziehen. Wir dürfen nicht von oben nach un-
merzt wird.
ten verordnen. Vielmehr muss der Weg von unten nach
oben gehen. Das ist die richtige Vorgehensweise. (Beifall bei der SPD)
Ich möchte deutlich herausstellen, dass ein Grund, Wichtig ist – das ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz
warum wir das Ganze abgelehnt haben, war, dass die Ba- seit 1991 in Westdeutschland festgeschrieben; ich werde
lance zwischen Prävention und Intervention im Gesetz- nicht müde, es zu sagen –, dass alle am Wohlergehen des
entwurf – im Gegensatz zu unserem jetzigen Antrag – Kindes Beteiligten zusammenarbeiten. Diese Koopera-
nicht gegeben war. Es gab kein ausgewogenes Verhält- tion ist gesetzlich verankert. Wir wollen, dass alle Be-
nis. Nun stellt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen rufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, die ihre Berufs-
Prävention und Intervention die Grundlage unseres An- gruppe betreffende Gesetzgebung noch einmal daraufhin
trags dar. überprüfen, an welchen Stellen die Kooperation so wie
(Beifall bei der SPD) im Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtend festge-
schrieben werden kann. Das ist im Sinne einer guten Ko-
Ich möchte grundsätzlich betonen: Der größte Teil der operation und schnellen Hilfe wichtig, damit sich keine
Eltern erzieht seine Kinder gut Berufsgruppe und niemand sonst davonstehlen und sa-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gen kann, das interessiere ihn nicht. Dazu gibt es gute
FDP) Beispiele über das Nationale Zentrum Frühe Hilfen, das
festgestellt hat, wo es klappt, zum Beispiel in Rheinland-
und gibt sich redlich Mühe. Fehler darf man machen. Pfalz mit dem Projekt „Guter Start ins Kinderleben“, in
(B) Schließlich sind wir alle Menschen. Manchmal brauchen dessen Rahmen man die Kooperation beispielhaft um- (D)
Eltern Hilfen, obwohl sie alles gut machen. Die Eltern setzt.
wollen Hilfen ohne Diskriminierung annehmen können.
Insbesondere Eltern mit hoher Gefährdung – dazu gehö- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Oder in Bayern!)
ren zum Beispiel Eltern mit Suchtproblematik – muss – Ja, auch in Bayern. Das wollte ich gerade sagen; ich
Hilfe gewährt werden. Aber im Notfall müssen auch komme ja aus Bayern. Dort gibt es die KoKis, die Koor-
Maßnahmen der Intervention greifen. Deshalb enthält dinierenden Kinderschutzstellen. Ich nenne nur einige
unser Antrag ein Bündel an Maßnahmen, die ergriffen gute Beispiele; es gibt im Bundesgebiet viele davon.
werden sollen.
Ganz wesentlich ist Folgendes: Kinderschutz ist na-
Bereits 2005, mit der letzten Reform, dem Kinder- türlich Aufgabe aller am Leben von Kindern Beteiligten,
und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, haben wir aller mit Kindern Lebenden, zuallererst Aufgabe der El-
den § 8 a SGB VIII, den sogenannten Kinderschutzpara- tern; an sie gerichtet habe ich schon Dank gesagt. Aber
grafen, verändert. Wir haben eingeführt, dass schnellere auch Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern und Lehre-
Meldungen erfolgen: Dazu braucht es aber auch Fach- rinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugend-
kräfte, die tatsächlich mit einem solchen Fall umgehen ämter danke ich hier noch einmal ausdrücklich; denn sie
können. Auswirkungen dessen sind bisher nicht analy- stehen immer vor der Alternative, zu schnell oder zu spät
siert worden; zumindest liegt dem Parlament nicht vor, zu intervenieren, und laufen somit ständig Gefahr, von
dass eine Auswertung stattgefunden hat. Es ist keine diesen Mühlsteinen zerrieben zu werden. Diesbezüglich
Schwachstellenanalyse vorgenommen worden, und nach richtige Entscheidungen erfordern eine hohe Qualifika-
wie vor besteht beim Kinderschutz ein Mangel an Zah- tion; auch darauf müssen wir achten.
len und Statistik. Wir wollen die Umsetzung des § 8 a
überprüfen und feststellen, inwieweit Handlungsbedarf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gegeben ist. der CDU/CSU und der FDP)
Das Nächste ist: Wir haben 2000, als wir die gewalt- Kinderschutz ist aber nicht nur für diese Gruppen von
freie Erziehung ins BGB eingeführt haben, festgestellt, Bürgerinnen und Bürgern wichtig, sondern für alle, weil
dass Eltern Hilfe brauchen, also der § 16 SGB VIII die es eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und
Förderung der Elternkompetenz und der Erziehungsfä- Aufgabe ist. Deswegen müssen die Rechte der Kinder
higkeit beinhalten muss. Wenn man jetzt nachforscht, auf Schutz, Förderung, Beteiligung und kindgerechte
bemerkt man, dass das Ganze nicht wie gewollt umge- Lebensverhältnisse in dem Gesetz niedergelegt werden,
setzt wird. Auch diesen Paragrafen wollen wir genau an- in dem all das niedergeschrieben ist, was die Gesell-
1658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(Beifall bei der CDU/CSU) Die Kinder profitieren dann von einem höheren Einkom-
men.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Seit Jahren, und nicht erst mit dem Wachstumsbe-
Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für schleunigungsgesetz, werden im öffentlichen Bereich
die Fraktion Die Linke. Steuergelder sozial ungerecht umverteilt, umverteilt von
unten nach oben. Steuerliche Entlastungen für Unterneh-
(Beifall bei der LINKEN) men und die Rettung der Großbanken werden mit Kür-
zungen im sozialen Bereich bezahlt. Von diesen Einspa-
Heidrun Dittrich (DIE LINKE): rungen werden auch die Sozialarbeiterinnen und Sozial-
arbeiter in den Jugendämtern nicht verschont. Durch die
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Kürzungen in den Jugendämtern ging der präventive
und Herren! Woran denken die Bürger im Lande, wenn Charakter der Jugendarbeit verloren. Das Kinder- und
sie das Wort „Kinderschutz“ hören? An vernachlässigte Jugendhilfegesetz stellt aber gerade die Prävention in
(B) Kinder und an das Jugendamt. Das Jugendamt wird den Vordergrund. (D)
hauptsächlich als Eingreifbehörde gesehen, und die Kin-
deswohlgefährdung wird viel zu häufig als individuelles Es ist bekannt, dass bei Abbau der öffentlichen Da-
Versagen der Eltern dargestellt. Dies blendet aber aus, seinsvorsorge der Anteil der ratsuchenden Familien und
dass die Eltern in die Lage versetzt werden müssen und die Fallzahlen ansteigen. Durch stetigen Personalabbau
Bedingungen vorfinden müssen, um die Bedürfnisse ih- entstand eine Überlastung der Sozialarbeiterinnen und
rer Kinder nach körperlichem und seelischem Wohlerge- Sozialarbeiter in den Allgemeinen Sozialen Diensten.
hen, Anregung und Spiel, Schutz und Geborgenheit be-
friedigen zu können. (Zuruf von der FDP: Gerade in Berlin!)
Nicht einmal die Fälle von Kindesmisshandlung mit To-
Die Situation vieler Familien ist aber gerade durch
desfolge, die sich bundesweit häufen, führen zu einer
Unsicherheit und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet.
flächendeckenden Aufstockung in den Allgemeinen So-
Wer heute noch beschäftigt ist, kann morgen schon ent-
zialen Diensten. Ja, es gibt bis heute keine an die Ein-
lassen sein. Die berüchtigten Hartz-Gesetze und die Zu-
wohnerzahl angelehnten Mindeststandards für die not-
nahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse haben
wendige bezirkliche Sozialarbeit. Auf Überlastungs-
dazu geführt, dass eine Familienplanung erschwert wird.
anzeigen von Kolleginnen und Kollegen in den Jugend-
In Hannover wird zum Beispiel bei Continental die Lkw-
ämtern wurde unzureichend reagiert. Es kam damit zum
Reifenherstellung komplett wegfallen. Bei VW wurden
Organisationsversagen im Jugendamt Bremen. Den Tod
zuerst die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter von Ent-
des misshandelten zweijährigen Kevin, festgestellt am
lassung bedroht, und selbst bei der Stadtverwaltung, also
10. Oktober 2006, werden wir wohl nicht vergessen.
im öffentlichen Dienst, werden Auszubildende erstmals
nicht übernommen. Die Drangsalierung bei den Jobcen- (Dr. Helge Braun [CDU/CSU]: Das ist wohl
tern macht den Menschen Angst und beschädigt ihre wahr!)
Würde; denn sie können nichts dafür, dass ihr Arbeits-
platz wegfällt. Mit dem großen Kitastreik im Sommer letzten Jahres
forderten die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen bes-
Meine Damen und Herren, glauben Sie denn, dass sere Arbeitsbedingungen für sich und damit eine qualita-
diese soziale Verunsicherung an den Eltern und an den tiv bessere pädagogische Betreuung. Die frühen Hilfen
Kindern spurlos vorübergeht? Kinder reagieren sensibel können nur dann als Prävention verstanden werden,
auf die Ängste ihrer Eltern. Psychische Erkrankungen wenn sie allen Eltern zugutekommen und nicht nur für
und Suizide bei Kindern nehmen zu. Dies ist Ausdruck Risikofamilien gelten. Sie beseitigen aber nicht den Per-
einer tiefen Verunsicherung in unserer Gesellschaft. sonalmangel in den Jugendämtern. Nicht nur Eltern
1660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Heidrun Dittrich
(A) müssen in die Lage versetzt werden, geduldig mit ihren Zum Thema Prävention. Uns muss eines immer be- (C)
Kindern umzugehen, auch die pädagogischen Kräfte im wusst sein: Ein Kind, das in seinem Leben einmal miss-
öffentlichen Dienst benötigen mehr Zeit, damit sie sich braucht oder misshandelt worden ist, wird das nie mehr
beständig den Familien zuwenden können und nicht erst los. Das begleitet einen Menschen ein Leben lang. Auch
kommen, wenn es brennt. als Erwachsener hat man unter den Folgen von Miss-
handlung und Missbrauch, die man als Kind erlebt hat,
(Beifall bei der LINKEN) zu leiden. Deswegen ist es so wichtig, dass wir präventiv
Hierzu sind erforderlich – das waren die Forderungen tätig werden: damit es erst gar nicht dazu kommt, damit
aus dem Streik –: eine Verdopplung des Personals in den ein Mensch nicht sein Leben lang leiden muss. Dazu gibt
Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter, Zeit es viele Vorschläge, auch von der SPD, die wir aus-
für die soziale Arbeit im Stadtteil und Zeit für die Bera- drücklich begrüßen.
tung der Kinder und Eltern. Neben diesen Vorschlägen möchte ich ein weiteres
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Thema ansprechen, das meines Erachtens häufig zu kurz
beleuchtet wird. Oftmals werden Erwachsene zu Tätern,
Diese Forderungen sind der Familienministerin wohlbe- die selbst Misshandlung oder Missbrauch erfahren ha-
kannt. ben.
Der beste Kinderschutz ist daher nach unserer Mei- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!)
nung eine solidarische Sozialpolitik ohne Ausgrenzung.
Von daher ist es ganz wichtig, die Erwachsenen in den
(Beifall bei der LINKEN) Blick zu nehmen und diese, wie wir es im Koalitionsver-
trag formuliert haben, stark zu machen. Dazu zählen
Wir sind uns wohl alle einig, dass Kinder die Zukunft zum Beispiel Verbesserungen bei der psychischen Auf-
der Gesellschaft sind. Daher müssen wir uns fragen las- arbeitung von selbst erlebter Misshandlung oder erleb-
sen: Wie sieht eigentlich eine sichere Zukunft aus? Wel- tem Missbrauch. Dazu zählt aber auch, zu lernen, wie
che Welt wollen wir unseren Kindern vererben? – Auf man mit Kindern gewaltfrei umgeht, wenn man selbst
jeden Fall eine Welt ohne Krieg in Afghanistan; eine Gewalt erfahren hat. Deswegen sind bei der präventiven
Welt mit Löhnen, die zum Leben reichen, und sozialer Aufgabe die Elternbildung und das Starkmachen der El-
Absicherung; eine Welt ohne Atomkraftwerke und ohne tern meines Erachtens ein sehr wichtiger Punkt.
Klimakatastrophe. Diese Welt für unsere Kinder zu
schaffen, das ist unsere Aufgabe. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Frau Rupprecht und Herr Geis haben bereits einige (D)
Punkte genannt. Familienhebammen können in der El-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tern-Kind-Beziehung bzw. für die werdenden Eltern eine
Frau Kollegin Dittrich, wenn ich es richtig sehe, war wichtige Rolle spielen, weil sie an den Familien nahe
das Ihre erste Rede hier. Herzlichen Glückwunsch dazu, dran sind, weil sie niedrigschwellig in den Familien tätig
verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Ar- werden. Es können vertrauensvolle Beziehungen aufge-
beit. baut werden, die eine Stigmatisierung vermeiden. Denn
(Beifall) jeder von uns hat manchmal eine Frage; jeder erlebt viel-
leicht einmal eine Überforderungssituation. In einer sol-
Nun hat das Wort die Kollegin Miriam Gruß für die chen Situation möchte man nicht als jemand stigmati-
FDP-Fraktion. siert werden, der mit dem Kind nicht umgehen kann.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deshalb ist eine Familienhebamme, zu der man schon
der CDU/CSU) früh Vertrauen aufbauen kann, eine wichtige Ansprech-
partnerin. Auch die Grünen haben in der vergangenen
Legislaturperiode hierzu schon Anträge gestellt.
Miriam Gruß (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herren! Kinderschutz, also Kinder vor Vernachlässigung NEN]: Mehrere! – Kai Gehring [BÜND-
und Misshandlung zu schützen, ist uns nach wie vor ein NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gute!)
sehr zentrales Anliegen. In der Tat gab es in der letzten Eine weitere wichtige präventive Maßnahme ist die
Legislaturperiode dazu eine entsprechende Initiative, Verbesserung der Zusammenarbeit aller am Aufwachsen
und es wurde uns ein Gesetz vorgelegt. Aber ich finde es der Kinder Beteiligten. Wir hören von den Jugendämtern
richtig und wichtig und gut, dass wir jetzt noch einmal immer wieder, dass viele Angst haben, die Probleme, die
darüber reden und damit auch die Chance haben, Verbes- sie mit manchen Fällen haben, mit anderen zu bespre-
serungen in diesem Gesetz vorzunehmen. chen. Diese Angst müssen wir ihnen nehmen, indem wir
Ich freue mich sehr – das war insbesondere uns von ihnen sagen, dass wir hinter den Mitarbeiterinnen und
der FDP ein großes Anliegen –, dass dieses Gesetz jetzt Mitarbeitern der Jugendämter stehen. Und nicht nur das:
zwei Schwerpunkte beinhalten soll, nämlich Prävention Unsere Aufgabe ist es vielmehr auch, in den Ländern da-
und Intervention. für zu sorgen, dass die Jugendämter personell und finan-
ziell besser ausgestattet werden. Denn sie wollen ihre
(Beifall bei der FDP) Aufgaben erfüllen; aber sie geraten an ihre Grenzen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1661
Miriam Gruß
(A) Deswegen müssen wir sie unterstützen. Dazu rufe ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (C)
Sie alle auf, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach]
die Jugendämter nicht im Stich lassen; denn sie sind die- [SPD])
jenigen, die diese Arbeit hervorragend leisten.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verschiedene Projekte sind schon angesprochen wor-
den. In Augsburg beispielsweise war immer wieder Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
„Hallo Baby“ ein Thema. Da werden Begrüßungsbriefe
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
geschrieben, was wir nur anerkennen können. Fast wäre
Ich finde es sehr gut, dass wir in dieser Legislatur schon
das aus datenschutzrechtlichen Gründen gescheitert.
sehr frühzeitig anfangen, dieses Thema zu bearbeiten;
Aber auch in Bayern ist jetzt festgestellt worden, dass
denn wir alle wissen, es besteht großer Handlungsbedarf.
dieser Weg durchaus möglich und gangbar ist. Die Poli-
Wir haben in diesem Bereich sehr viel zu regeln. Leider
tik – das will ich betonen – steht hinter dieser Möglich-
ist die Vorlage des Entwurfs eines Bundeskinderschutz-
keit.
gesetzes in der letzten Wahlperiode schiefgegangen, weil
Zum Thema Intervention. Auch das ist ein wichtiges das Ministerium nicht in der Lage war, die Bedenken der
Stichwort; denn wenn es zu spät ist für die Prävention, Fachleute mit aufzunehmen. Es ist sehr viel Porzellan
muss man einschreiten. Dafür brauchen wir den Staat, zerschlagen worden.
einen starken, handlungsfähigen Staat – hinter dem auch (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber nicht
wir als FDP stehen –, der sich schützend vor die Kinder ganz richtig!)
stellt.
Wir müssen nun das Vertrauen in die politische Hand-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lungsfähigkeit zurückgewinnen.
Ich dachte, der Staat ist ein Schwächling! Das
hat Herr Lindner gesagt! Ein „teurer Schwäch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ling“!) und bei der SPD)
Natürlich zählt aber nicht nur der Staat; vielmehr zählen Dazu gehört, dass wir unser Handeln sehr breit anle-
wir alle. Das Stichwort lautet: Hinsehen, nicht wegse- gen. Ich möchte jenseits dessen, was wir grundsätzlich
hen! Das ist ein Anliegen, das durch die Berichterstat- brauchen, auf das Bundeskinderschutzgesetz eingehen.
tung der letzten Jahre in unser aller Köpfe gebrannt Wir müssen einen soliden Vorschlag machen. Solide
(B) wurde: dass wir alle Zivilcourage zeigen, hinschauen, heißt, dass wir den Mut haben sollten, bereits vorhan- (D)
aufmerksam sind, beobachten und dann entsprechend dene Instrumente zu evaluieren. Ich spreche da ganz be-
einschreiten und möglicherweise Fälle melden. sonders § 8 a SGB VIII an. Er stellt eine richtige Verbes-
serung im Bereich der Kinderschutzstrukturen dar. Wir
Aber beim Einschreiten sind natürlich auch die Ärzte müssen uns die Ergebnisse aber erst einmal anschauen,
gefragt. Uns als FDP ist es ganz wichtig, dass einerseits bevor wir vorschnell daran herumwerkeln.
die Ärzte in einer rechtssicheren Situation sind und an-
dererseits das Verhältnis von Patienten, also Eltern mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kindern, zum Arzt nicht durch die Angst belastet wird, sowie bei Abgeordneten der SPD)
beim Arzt kein Vertrauensverhältnis vorzufinden. Von Denn wir müssen den Menschen Handlungssicherheit in
daher begrüße ich es, dass die Ministerin gestern mit vie- diesem Bereich geben.
len Verbänden gesprochen hat. Der Koalition wird es ein
Anliegen sein, entsprechende Regelungen zu finden, die Zur Prävention. All das, Frau Gruß, was Sie dazu ge-
beides im Blick haben; dies ist meines Erachtens wich- sagt haben, wissen wir im Grundsatz bereits. Wir brau-
tig. chen aber auch einmal eine Vorlage zur konkreten Um-
setzung und sollten nicht nur darüber reden. Im Moment
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) liegt dazu leider nicht sehr viel vor.
Uns war aber auch wichtig: Wir brauchen Qualitäts- Ich weiß nicht, ob uns die heutige Debatte weiter-
standards in der Kinder- und Jugendhilfe. Wir brauchen bringt. Der Antrag, den die SPD vorgelegt hat, beinhaltet
in regelmäßigen Abständen eine Evaluation in der Kin- zwar sehr viele und richtige Punkte, ein paar wesentliche
der- und Jugendhilfe, und wir müssen, last, but not least, Dinge fehlen aber. Diese muss man aufnehmen. Sie be-
die Forschung ausbauen. ziehen sich zum Beispiel auf den 13. Kinder- und Ju-
Es gibt noch viel zu tun. Wir haben dies nicht nur im gendbericht. Über diesen Bericht hätten wir eigentlich
Koalitionsvertrag festgeschrieben, sondern bereits erste schon in der letzten Wahlperiode diskutieren können.
Schritte gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir in Dies haben wir nicht gemacht. Man könnte wahlkampf-
großem Konsens ein neues Kinderschutzgesetz auf den technische Gründe dahinter vermuten; aber ich will na-
Weg bringen würden. Ich finde nicht nur den Namen türlich nichts Böses unterstellen. Jetzt ist es aber an der
wunderschön, sondern auch den Inhalt immer besser. Zeit, diesen Bericht vorzulegen, über ihn öffentlich zu
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. diskutieren und die kritischen Punkte in den Mittelpunkt
zu rücken. Man sollte dies alles nicht noch mehr in die
Vielen Dank. Zukunft verschieben. Denn wenn es solche Berichte
1662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Ekin Deligöz
(A) gibt, dann sollten wir den Anstand haben, uns mit den freue mich. Hauptsache, es passiert in diesem Bereich et- (C)
Ergebnissen auch dann zu befassen, wenn sie der Regie- was, und dies ist notwendiger denn je.
rung oder uns nicht passen.
Natürlich gibt es auch Gesetzeslücken. So müssen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) etwa bei der Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Gesund-
heitssystem und Behindertenhilfe die gesetzlichen Rege-
Ein weiterer Punkt ist: Sie geben in diesem Antrag lungen nachjustiert und geschärft werden. Ich halte es
zwar den Sachstand der Fachdiskussion wieder; das ist auch immer noch für wichtig, dass wir umdenken. Wir
gut. Aber entscheidende Fragen bleiben nach wie vor brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen die
unbeantwortet. Gerade da besteht Handlungsbedarf. Ein Kinder in den Mittelpunkt stellen. Dies heißt für mich
Beispiel ist die Problematik im Hinblick auf die Schnitt- nach wie vor, Kinderrechte in die Verfassung aufzuneh-
stellen der verschiedenen Leistungsebenen. Das zu be- men und eigenständige Rechte für sie zu sichern, damit
nennen, ist einfach. Aber in welchem Gesetz könnten wir im Bereich des Kinderschutzes selbstbewusst han-
wir dies bearbeiten und welche detaillierten Lösungen deln können und uns nicht nur auf unsicherem Terrain
formulieren? Es gibt ein paar Modelle; aber die reichen bewegen. Dies halte ich für sehr notwendig.
bei weitem nicht aus. Die Regierung ist uns letztendlich
einen Gesetzentwurf schuldig. Hier müssen wir dringend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
handeln; die Problematik nur zu erkennen, reicht nicht. und bei der SPD)
Zur Familienbildung. Sie sprechen von verbindlichen Noch eines zur Regierung: Sie haben bis jetzt noch
Leistungen. Jetzt müssen wir aber definieren, was ver- nicht viel Erhellendes gemacht. Sie machen es immer
bindliche Leistungen sind. Sollen diese immer noch frei- hinter den verschlossenen Türen und sozusagen geheim.
willig gewährt werden, oder wollen wir einen Rechtsan- Bringen Sie doch ein bisschen Licht! Warum verstecken
spruch vorsehen, zum Beispiel in § 16 SGB VIII. Das Sie sich? Sie haben vielleicht etwas Gutes; dann zeigen
wäre eine gute Sache; Rechtsansprüche kosten aber Sie es uns. Was Sie aber an Pressemitteilungen herausge-
Geld. Auch das muss man einbeziehen. Man muss klar geben haben, ist bisher nicht gut. Sie wiederholen die
Farbe bekennen und darf sich nicht hinter Allgemein- Fehler, die Frau von der Leyen gemacht hat: die Infor-
plätzen verstecken. mationsweitergabe von Berufsgeheimnisträgern zu the-
matisieren und eine anständige Evaluation zu § 8 a
Sehr gut ist es, dass die Jugendhilfe angesprochen SGB VIII überhaupt nicht anzusprechen. Das ist ein
wird. Sie benötigt natürlich Ressourcen. Sie braucht Fehler. Frau von der Leyen ist genau an diesen Punkten
Leute. Es wird mehr Zeit für die Kinder, die Familien gescheitert.
und die Eltern benötigt. Der Ausbau der Kapazitäten ist
(B) notwendig. Das wird natürlich immer schwieriger, wenn (Lachen bei der CDU/CSU) (D)
wir den Kommunen den letzten Atem nehmen, über den Wenn Sie nicht scheitern wollen, dann distanzieren Sie
sie noch verfügen, um in diesem Bereich überhaupt han- sich von Ihrer eigenen Presseerklärung. Das ist der fal-
deln zu können. Wir wissen doch, dass gerade die frei- sche Weg. Ich teile hier die Einschätzung der Praktiker
willigen Aufgaben, um die es auch bei der Jugendhilfe und der Fachleute. Diese Ideen sind nutzlos und kontra-
geht, in Haushaltssicherungsplänen als Erste gekürzt produktiv. Bitte vermeiden Sie dies!
werden müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Helge Braun [CDU/CSU]: Stimmt doch und bei der SPD)
nicht!)
Wenn Sie den Kommunen wirklich alle Handlungsspiel- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
räume nehmen, dann können wir im Bereich der Jugend- Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für
hilfe nicht immer mehr verlangen. Deshalb bin ich an die CDU/CSU-Fraktion.
diesem Punkt ganz stark dafür, dass wir in diesem Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reich den Kommunen den Rücken stärken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Katharina Landgraf (CDU/CSU):
und bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der An-
trag der SPD ruft in mir widersprüchliche Gefühle her-
Was den Kitabereich angeht, reicht es nicht aus, nur
vor. Es geht um ein Thema, das mir sehr am Herzen
über quantitative Aspekte zu reden – das ist wichtig –;
liegt. Aber er macht mich wütend und traurig zugleich.
aber wir müssen auf der Bundesebene endlich einmal an-
Warum? Wir wollen alle mehr Schutz für die Kinder:
fangen, auch über Qualität, besonders die Strukturquali-
mehr Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung.
tät, sowie darüber zu reden, was wir vielleicht im Kin-
Dieses Ziel hätten wir im vorigen Jahr schon fast er-
der- und Jugendhilfegesetz dazu unternehmen können.
reicht. Aber auf der Zielgerade haben Sie, meine Damen
Qualität ist das A und O, wenn es um die frühe Förde-
und Herren von der SPD, uns alle ausgebremst.
rung und um besseren Schutz und Stärkung der Kinder
geht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zu den Hebammen: Die Grünen haben schon 2006 Diese Verschleppung zulasten der Kinder war und ist un-
hierzu einen sehr guten Antrag eingebracht. Wenn Sie verantwortlich. Das müssen Sie sich zu Recht vorwerfen
ihn gut finden, dann übernehmen Sie es. Wunderbar, ich lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1663
Katharina Landgraf
(A) Dass Sie hier und heute diesen Antrag stellen, der eilt, und wir müssen uns zum Schutz vor weiterer Ver- (C)
viele Regelungen des von Ihnen boykottierten Kinder- nachlässigung endlich auf eine Linie einigen und Ge-
schutzgesetzes von damals enthält, ist der Gipfel. Dies setze verabschieden. Die Themen, die gestern bespro-
könnte man auch als Scheinheiligkeit pur bezeichnen. chen wurden, kann man nachbessern. Es war von § 8 a
Aus meinem christlichen Verständnis vermute ich aber, SGB VIII die Rede gewesen, der sowieso evaluiert wird.
zumal ich Sie sehr schätze, Frau Rupprecht, dass es sich
um späte Reue und Einsicht handelt. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das
ist der neue Ansatz!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ulrich Kelber [SPD]: Sie dürfen nicht die Un- – Genau. Das kommt jetzt dazu. Ich sehe ein, dass das
wahrheit sagen!) gut so ist.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sehe ich auch so!)
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Aber dass wir es nicht geschafft haben, ärgert mich wirk-
Kollegin Rupprecht?
lich. Ich denke, jetzt müssen wir wirklich ran.
Katharina Landgraf (CDU/CSU): (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]:
Ja. Nach vorne gucken!)
Das will ich in meinen Ausführungen gleich darlegen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte, Frau Rupprecht. In diversen Details bestätigen Sie unseren alten Ge-
setzentwurf für einen wirksameren Kinderschutz. Zum
Beispiel fordern Sie uns auf, die Regelung des § 86 c
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): SGB VIII – hierbei geht es um das sogenannte Jugend-
Frau Kollegin Landgraf, in der gestrigen Anhörung amt-Hopping bei Wohnortwechsel – zu überarbeiten.
des Ministeriums ist deutlich geworden, dass alle aufge- Darüber hat schon der Herr Kollege Geis gesprochen.
atmet haben, dass wir keinen Schnellschuss gemacht
hatten, weil in dem Entwurf zum Kinderschutzgesetz im Die Forderung nach Kinderrechten im Grundgesetz
Sommer Intervention und Repression die wesentlichen ist meiner Meinung nach nicht schädlich, aber auch nicht
Elemente waren. Mittels eines Antrags haben wir ver- wirklich hilfreich. Es ist eine symbolträchtige Veranke-
sucht, noch andere Elemente nachzuschieben; dies ist rung der Rechte, die den Kindern ohnehin schon nach
aber gescheitert. Es gebietet der Respekt voreinander, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu-
(B)
dies zu erkennen. Wir waren der Auffassung, dass es stehen. Das stellen Sie in Ihrem Antrag übrigens auch (D)
besser ist, etwas nicht zu machen, bevor man es falsch fest. Welchem Kind hilft es, wenn im Grundgesetz seine
macht. Für mich ist wirklich die Frage, ob Sie den Ge- Rechte verankert sind, aber die Eltern nicht danach han-
setzentwurf gut gekannt haben, der im Sommer vorlag. deln? Was wirklich hilft, sind klare bundesgesetzliche
Wenn man ihn und alle Bemühungen, an denen ich Regelungen, wie wir sie mit einem neuen Kinderschutz-
auch beteiligt war, gut gekannt hat, kann man ihn so gesetz schaffen werden. In erster Linie helfen starke und
nicht als – – mündige Eltern.
(Zuruf von der CDU/CSU: Fragen, nicht Er- Vieles in Ihrem Antrag ist richtig, was sicher daran
klärungen abgeben!) liegt, dass es schon in unserem Entwurf eines Kinder-
schutzgesetzes aus der letzten Wahlperiode stammt.
– Ich habe gefragt, ob sie ihn gekannt hat. Doch es ist auch die reinste Polemik darin zu finden:
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Man muss Dass Sie beispielsweise das Wachstumsbeschleuni-
nicht fragen!) gungsgesetz als Initiative bezeichnen, welche den wirk-
samen Kinderschutz konterkariert, entbehrt jeglicher Lo-
– Ich weiß, ich kann eine Erklärung abgeben; das weiß gik.
ich alles. Trotzdem wäre es mir wichtig, wenn das noch
einmal deutlich wird. Gestern wurde in der Anhörung Die Forderung der Bundesregierung, gemeinsam mit
des Ministeriums deutlich klar: Es ist gut. Heute hat mir den Ländern den Ausbau der Kinderbetreuung für unter
jemand gesagt: Sie haben darauf angestoßen, dass es Dreijährige voranzubringen, kann getrost als obsolet be-
nicht durchgejagt wurde. Der neue Staatssekretär, Herr zeichnet werden. Genau dies ist bereits in vollem Gange.
Hecken, hat in der Anhörung gesagt, es ist gut, dass wir Alles, was darüber hinausgeht, ist Ländersache. Die
jetzt neu starten können und dass wir all das, was nicht Hauptsache ist, dass wir unser Ziel, bis 2013 für 35 Pro-
gemacht wurde, einarbeiten können. Ich glaube, das soll- zent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zur
ten wir alle zur Kenntnis nehmen. Verfügung zu stellen, erreichen.
Nach der Anhörung zum Kinderschutzgesetz vom
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Mai 2009 hatten wir einige Regelungen im Gesetzent-
Frau Kollegin Rupprecht, Sie wissen, dass ich Sie wurf im Sinne der Experten verändert, Frau Rupprecht.
schätze. Wir verstehen uns gut. In einigen Fragen bin ich Selbst mit diesen Änderungen konnte die SPD nicht le-
aber anderer Meinung. Ich hätte es besser gefunden, ben. Wir stehen nach wie vor dazu. Darum erläutere ich
wenn wir es gleich verabschiedet hätten; denn die Zeit jetzt, was in Ihrem Antrag alles fehlt und was wir im
1664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Katharina Landgraf
(A) Kinderschutzgesetz beschließen werden. Es besteht nun Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
aus zwei Säulen: Prävention und Intervention. Nächste Rednerin ist die Kollegen Petra Crone für die
SPD-Fraktion.
Ich werde zwei Punkte aus dem Bereich der Präven-
tion hervorheben, die ich für besonders wichtig erachte. (Beifall bei der SPD)
In Zukunft soll für alle Personen, die sich mit Kindern
und Jugendlichen beschäftigen, die Vorlage eines erwei- Petra Crone (SPD):
terten Führungszeugnisses erforderlich sein. Dieses listet Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
– anders als das einfache Führungszeugnis – auch ein- legen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Kinderschutz
schlägige Straftaten im Bagatellbereich auf. Außerdem wirksam verbessern“, das klingt nicht nur wie eine
werden wir die Rechtsgrundlagen für Hebammen und Selbstverständlichkeit. Alle Redner und Rednerinnen
Familienhebammen verbessern. Damit schaffen wir hier und heute haben versichert: Kinderschutz ist ihnen
niedrigschwellige und frühe Hilfen für Familien. Dazu wichtig, wichtig, wichtig. Doch auf dem Weg zu einem
gehört natürlich auch der Hausbesuch, bei dem vor allem optimalen Kinderschutz zeigen sich die Unterschiede;
das Kind selbst, aber auch seine persönliche Umgebung Herr Geis, auch Sie haben die festgestellt.
in Augenschein genommen werden.
Für die SPD heißt Kinderschutz vorrangig Präven-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tion.
Im Bereich der Intervention muss vor allem Rechts- (Beifall bei der SPD)
sicherheit für Ärzte und andere Berufsgeheimnisträger
hinsichtlich der Weitergabe von Informationen geschaf- Prävention sollte so früh wie möglich beginnen; denn
fen werden. Dies haben uns auch die Experten bei der Prävention bedeutet Erziehung zur Eigenverantwor-
damaligen Anhörung zum Kinderschutzgesetz bestätigt. tung. In Kindern stecken vielfältige Begabungen und
Die Lösung ist eine bundeseinheitliche Norm. Eine sol- Potenziale. Die können sie aber nur entfalten, wenn sie
che ist für die wirksame Vernetzung unerlässlich. Das früh und individuell gefördert werden; denn Entwick-
sehen sowohl Ärzte als auch Kriminalbeamte so. lung ist umweltabhängig.
Daher kam es vor einigen Jahren in Duisburg zur Eltern wollen das Beste für ihre Kinder geben. Aber
Gründung der Datenbank „Riskid“, der „Risikokinder- die Anforderungen an sie steigen ständig. Gleichzeitig
Informationsdatei“. Das ist ein Portal, auf das nur Ärzte haben sich die Familienstrukturen verändert. Sie bieten
zugreifen können, um Informationen über Verdachtsfälle in vielen Fällen kein Hilfsnetz mehr nach dem Motto:
von Kindesmisshandlung auszutauschen. Durch Eingabe Die Oma für den guten Rat zur richtigen Zeit. Alle El-
der Personalien kann ein Arzt erfahren, ob ein Kind tern – das ist unabhängig vom Verdienst – können in
(B)
schon einmal bei Kollegen vorstellig geworden ist oder eine Situation rutschen, die ihnen ausweglos erscheint. (D)
ob Vorsorgeuntersuchungen eingehalten wurden. So Aber gerade Eltern, die in besonders riskanten Verhält-
kann man das sogenannte Doktor-Hopping stoppen und nissen leben, sind auf Hilfe angewiesen.
Leben retten. Allerdings ist „Riskid“ mit derzeit gelten- Schon seit dem 30. April 2009 liegt dem Bundesmi-
dem Recht nicht vereinbar. Gerade las ich einen sehr nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der
treffenden Satz in der Zeitschrift Der Kriminalist vom 13. Kinder- und Jugendbericht vor. Leider wurde er im
Bund Deutscher Kriminalbeamter: Plenum immer noch nicht behandelt. Weder Frau von
Ärzte dürfen sich zwar bei einem Verdacht auf der Leyen noch Frau Köhler haben ihn bisher offen de-
Schweinegrippe austauschen, bei einem Verdacht battieren lassen. Warum nicht? Etwa weil darin der Prä-
auf Kindeswohlgefährdung gilt das aber nicht. vention ein höherer Stellenwert zukommt, als es CDU
und CSU gern hätten?
Das müssen wir unbedingt ändern.
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein!
Zusätzlich müssen die Ärzte beispielsweise durch Wir wollen auch Prävention!)
Fortbildungen noch stärker für Anzeichen von Miss-
handlungen sensibilisiert werden. Erst gestern fand im Oder weil es Geld kostet, eine vernünftige und wirksame
Ministerium ein breit angelegtes Fachgespräch – wir Infrastruktur aufzubauen? Die Experten fordern in die-
sprachen schon davon – mit gut 50 Kinderschutzexper- sem Bericht eine bessere Verzahnung von Akteuren der
ten aus Ländern, Kommunen und von Fachorganisatio- Kinder- und Jugendhilfe, ohne die gesamte Verantwor-
nen zum Kinderschutzgesetz statt. Das Konzept, das von tung für die Jugendförderung an diese abzugeben.
uns und dem Ministerium vorgelegt wurde, fand eine
(Beifall bei der SPD)
breite Unterstützung. Die Fachwelt wurde also wirklich
einbezogen. Es wurde auch über Schnittstellen der ein- Die SPD stützt diese Forderung. Wir gehen sogar da-
zelnen Ebenen gesprochen. Wir werden jetzt dafür sor- rüber hinaus: Wir fordern ein spezielles Präventionsge-
gen, dass es bald, ohne weitere Verzögerungen zum Ab- setz.
schluss dieses längst überfälligen Gesetzes kommt. Das
(Beifall bei der SPD)
sind wir unseren Kindern schuldig.
Wir brauchen eine Netzwerkbildung, eine Präventions-
Vielen Dank.
kette „frühe Kindheit“, die schon mit dem Einsatz von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hebammen beginnt. Sie können sich bereits frühzeitig
neten der FDP) um die Gesundheit des Kindes im Mutterleib kümmern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1665
Petra Crone
(A) und auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
Mutter und Kind Einfluss nehmen – und dies flächende- Frau Kollegin Crone, auch für Sie war dies die erste
ckend. Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen
sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit
Damit wird ein Vertrauensverhältnis zu jungen Eltern alles Gute.
aufgebaut, um die Schwelle bei der Suche nach Hilfe
und Unterstützung so niedrig wie möglich zu halten. Da- (Beifall)
rum haben wir – genauso wie Experten und Verbände –
den gesetzlich verpflichtenden Hausbesuch abgelehnt, Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Frau Landgraf, Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion.
(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Er ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
so schlimm!) neten der FDP)
den Frau von der Leyen vorgeschlagen hat. Wir lehnen Eckhard Pols (CDU/CSU):
ihn auch heute noch ab, weil er Vertrauen zerstören kann
und damit kontraproduktiv ist. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zu-
kunft von Kindern ist unsere Verantwortung. Ihr Wohl-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ergehen ist unsere Pflicht. Kinder benötigen unseren
der LINKEN – Katharina Landgraf [CDU/ Schutz, da sie sich als schwächste Glieder unserer Ge-
CSU]: Was ist denn das für ein Vertrauen?) sellschaft nicht selbst schützen können: Schutz vor Ver-
nachlässigung und vor jeglicher Form körperlicher, see-
In einigen Städten und Gemeinden gibt es schon jetzt lischer und sexueller Gewalt. Den Kinderschutz in
vorbildliche Strukturen; das ist eben angesprochen wor- Deutschland haben wir in den letzten Jahren bereits
den. Ich aus Nordrhein-Westfalen kenne zum Beispiel deutlich verbessert, zum Beispiel durch das Gesetz zur
das Dormagener Modell. Dort wurde ein sinnvolles Prä- Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe im Jahre
ventionsnetzwerk geschaffen; denn zu schützen sind alle 2005.
Kinder vom Baby bis zum Jugendlichen.
Die SPD hat jedoch zum Ende der vergangenen Le-
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der Ko- gislaturperiode – sicherlich auch aus wahltaktischen
alition, ich habe schon eine Idee, wie das finanziert wer- Gründen – ein dringend benötigtes Kinderschutzgesetz
den kann. Werfen Sie den Plan für das Betreuungsgeld blockiert, auf das sich sogar die Ministerpräsidenten der
auf den Müllhaufen der Geschichte; da gehört er hin, Bundesländer parteiübergreifend geeinigt hatten und
(B) denn er ist rückwärtsgewandt. über das auf Grundlage eines Entwurfes des Familienmi- (D)
nisteriums verhandelt worden war. Dies geschah nach
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Motto: Gönnen wir der damaligen Bundesfamilien-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ministerin Dr. Ursula von der Leyen nicht noch einen
GRÜNEN – Zuruf CDU/CSU: Was hat das mit weiteren Erfolg in Sachen Familien- und Kinderpolitik,
Prävention zu tun?) nachdem sie dieses Feld aus dem Schattendasein geholt
Nehmen Sie die Milliarden in die Hand und stecken Sie hat, das es bei Rot-Grün fristete.
sie in Kinderschutz und Kindertagesstätten. Ich habe (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
noch eine zweite Idee: Machen Sie das Schuldenbe- Oh!)
schleunigungsgesetz rückgängig, das die Kommunen fi-
nanziell ausblutet. Nun will die SPD mit ihrem Antrag zur Verbesserung
des Kinderschutzes Versäumtes wiedergutmachen. Diese
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Einsicht ist durchaus lobenswert, Frau Rupprecht,
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE kommt aber reichlich spät, da die Blockade uns wichtige
GRÜNEN) Monate zulasten betroffener Kinder gekostet hat.
Dann bleiben sie in der Lage, ein Netzwerk von Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU – Marlene Rupprecht
heitshilfe, Bildungswesen und Jugendhilfe aufzubauen. [Tuchenbach] [SPD]: Ich schiebe es darauf,
dass Sie neu sind!)
Die Investition in den Kinderschutz rechnet sich spä-
testens dann, wenn weniger Kinder in Heimen unterge- Die Ansätze in dem Antrag der SPD sind wenig ziel-
bracht werden müssen, wenn weniger Geld für die reak- führend: Da wird auf einer grundgesetzlichen Veranke-
tive Gesundheitspflege ausgegeben werden muss. Um es rung von Kinderrechten bestanden, die unnötig ist. Wir
deutlich zu sagen: Es geht nicht um freiwillige Leistun- von der Union sind der Meinung, dass die im Grundge-
gen, sondern um den ganz elementaren Schutz vor Ge- setz bereits verankerten Kinderrechte ausreichend sind.
walt und Vernachlässigung sowie um das jedem Kind Sie müssen nur mit Leben erfüllt werden, sprich: Es
zustehende Recht auf die Entwicklung und Entfaltung muss endlich ein Gesetz zum Schutz von Kindern verab-
seiner Persönlichkeit. Darum muss das Kinderrecht ins schiedet werden.
Grundgesetz. Denn im Grundgesetz steht das, was uns in
der Gesellschaft wichtig ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das
(Beifall bei der SPD) eine tun und das andere nicht lassen!)
1666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Eckhard Pols
(A) Dies ist im Übrigen auch die Auffassung vieler Exper- Einrichtungen wie Kinderärzten, Hebammen, Geburts- (C)
ten. kliniken, Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Schwan-
gerschaftsberatung, Frauenhäuser, Polizei und Gerichte.
Ich möchte aus Art. 6 des Grundgesetzes zitieren – in Dies ist eine zentrale Voraussetzung, um Entscheidungen
diesem Artikel geht es um Familien und Kinder –: qualifiziert treffen zu können.
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürli-
Auch hier sind noch Fragen offen: Welche Rahmen-
che Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-
bedingungen brauchen wir, damit diese Netzwerke funk-
liegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
tionieren? Was ist förderlich bzw. hinderlich bei der Ko-
staatliche Gemeinschaft.
operation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und
Jetzt kommt das Wichtigste: dem Gesundheitssystem, und wo gibt es Lücken in der
Hilfestruktur?
Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dür-
fen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Im Bereich der Intervention werden wir uns zur Erhö-
Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsbe- hung der Rechtssicherheit und zum Schutze unserer Kin-
rechtigten versagen oder wenn die Kinder aus ande- der für klare bundeseinheitliche Regelungen einsetzen
ren Gründen zu verwahrlosen drohen. und für die Weitergabe von Informationen an das Ju-
gendamt im Falle von Gefährdungen des Kindeswohls.
Durch eine Änderung des Grundgesetzes würden fal-
sche Hoffnungen geweckt. Durch eine Änderung oder Ich freue mich daher ganz besonders, dass unsere Fa-
Ergänzung des Grundgesetzes lässt sich der Kinder- milienministerin, Frau Dr. Kristina Köhler, das Kinder-
schutz nicht verbessern. schutzgesetz ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat.
Notwendig ist vielmehr ein umfassendes Kinder- Meine Damen und Herren, im Interesse eines aktiven
schutzgesetz, das auf zwei Säulen beruht. Diese beiden und wirksamen Kinderschutzes wünsche ich mir, dass
Säulen sind – Frau Landgraf hat das schon gesagt – Prä- wir trotz aller unterschiedlichen Ansichten, die hier ge-
vention und Intervention. äußert wurden, gute, konstruktive und zielführende Ar-
beit leisten, damit dieses so wichtige Thema nicht in die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Mühlen von Halbherzigkeiten gerät.
Prävention heißt: Vorbeugung und Früherkennung.
Ein funktionierendes soziales Frühwarnsystem von Risi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
kofrüherkennung bis hin zu wirksamen Hilfen ist Vo- der FDP)
raussetzung für die Prävention von Kindervernachlässi- Zum Wohle unserer Kinder fordere ich Sie alle zur prak-
(B) gung und Kindesmisshandlung. Der Kinderschutz kann tischen Mitarbeit auf. Ich hoffe, dass wir dieses wichtige (D)
sicherlich nicht allein durch ein Gesetz oder durch Ein- Vorhaben bald erfolgreich zum Abschluss bringen wer-
führung einer zusätzlichen Früherkennungsuntersuchung den.
verbessert werden. Vielmehr braucht es ein ganzes Netz
von Hilfen, die frühzeitig ansetzen müssen. Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der FDP)
Vor der Geburt des Kindes, aber auch danach müssen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
wir den Eltern Hilfestellung geben: durch Entwicklungs- Herr Kollege Pols, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer
begleitung, durch Beratung über Pflege und Erziehung ersten Rede sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen in Ihrer
von Kindern und durch Frühförderung. Nur so können weiteren Arbeit viel Freude und Erfolg.
wir den Schutz- und Entwicklungsbedürfnissen des Kin- (Beifall)
des gerecht werden und die vorrangige elterliche Erzie-
hungsverantwortung und -kompetenz stärken. Damit schließe ich die Aussprache.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
der FDP) Drucksache 17/498 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
Der präventive Ansatz umfasst aber auch die gezielte
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
Unterstützung von Eltern in belastenden Lebenssituatio-
schlossen.
nen, die spezifische Risiken für Kinder bergen können.
Welches sind die wirksamsten Zugangswege zu risiko- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
belasteten Eltern? Und sind die Hilfen, die angeboten
werden, die richtigen? In unterschiedlichen Modellpro- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
jekten im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen Künast, Bärbel Höhn, Dr. Hermann Ott, weiterer
für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ be- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
schäftigen sich die Kommunen derzeit mit diesen Fra- DIE GRÜNEN
gen, die insbesondere die Phasen der Schwangerschaft, Regierungs- und Parlamentshandeln konse-
der Geburt und des frühen Säuglingsalters betreffen. Er- quent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten
forderlich ist ebenfalls eine enge, verlässliche Vernet-
zung und Zusammenarbeit von Behörden, Diensten und – Drucksache 17/446 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1667
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ziel ist, die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2020 (C)
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dazu hat die
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung von diesem Pult
NIS 90/DIE GRÜNEN aus gesagt:
Klimaschutzgesetz vorlegen – Klimaziele ver- Was ich nicht zulassen werde …, ist, dass wir von
bindlich festschreiben 30 auf 40 Prozent gehen, andere ihre Position nicht
– Drucksache 17/132 – verändern und wir anschließend etwas versprechen
sollen, was wir zum Schluss realistischerweise
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
nicht halten können.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Das klingt für mich wie eine Relativierung des 40-Pro-
Verbraucherschutz zent-Ziels. Wenn es nicht so gemeint ist, liebe CDU/
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung CSU, können Sie heute mit einer Zustimmung zu unse-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und rem Antrag deutlich machen, dass Sie das Ziel der Re-
Entwicklung Haushaltsausschuss
duktion um 40 Prozent weiterhin verfolgen wollen.
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
– Drucksache 17/522 – KEN)
Überweisungsvorschlag: Wir dürfen beim Klimaschutz nicht zurückweichen,
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) sondern müssen vorangehen. Deshalb schlagen wir im
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zweiten Antrag, den wir jetzt zur Abstimmung stellen,
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ein Klimaschutzgesetz vor. Wir wollen ein Klimaschutz-
Verbraucherschutz gesetz, weil wir damit Klimaziele verbindlich festschrei-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ben und präzisieren sowie ihre Erreichung regelmäßig
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und überprüfen können. Andere Länder haben es vorge-
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union macht: Zum Beispiel hat Großbritannien 2008 ein sol-
Haushaltsausschuss ches Gesetz eingeführt. Brasilien hat nach der Konferenz
in Kopenhagen gesagt: Wir zeigen es der Welt; wir sind
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zuverlässig und setzen ein Klimaschutzziel fest. Anfang
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, dieses Jahres ist ein entsprechendes Gesetz in Brasilien
(B) dass Sie auch damit einverstanden sind. Dann können in Kraft getreten. (D)
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Es wäre ein tolles Signal, wenn wir im Bundestag sa-
nerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn für die Frak- gen würden: Das machen wir auch.
tion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): KEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Klimakonferenz von Kopenhagen ist gescheitert. Ich spreche die Kollegen Göppel und Jung an, mit denen
Nun kommt es auf uns an. Die Welt braucht jetzt Vorrei- wir viele gute Sachen auf den Weg gebracht haben: Es
ter im Klimaschutz. Und Deutschland braucht die Wirt- wäre eine gute Sache, das fraktionsübergreifend hinzu-
schaftskraft und die Arbeitsplätze, die eine solche Vor- bekommen. Wir bieten Ihnen hier die Zusammenarbeit
reiterrolle mit sich bringt. an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein Klimaschutzgesetz kann viel leisten. Bislang ist
sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) es so: Es gibt Klimaschutzziele; aber sie sind nicht mehr
als politische Versprechungen. Wir wollen eine größere
Das heißt, die Konsequenz aus dem Scheitern von Ko- Verbindlichkeit der Klimaschutzziele erreichen: eine
penhagen kann nicht die Abschwächung der deutschen konkrete Klimaschutzstrategie, Zwischenziele, Sektor-
Klimaziele sein; denn das würde letzten Endes den Kli- ziele – etwa in den Bereichen Verkehr und Landwirt-
maschutz untergraben und der Zukunftsfähigkeit unserer schaft – sowie mehr Transparenz und Kontrolle. Jedes
Wirtschaft schaden. Jahr muss geklärt werden: Sind wir auf einem guten
Wir haben es im Automobilbereich gesehen: Wenn Weg? Wir können nicht heute hier Versprechungen ma-
man die Trends verschläft, gefährdet man die Arbeits- chen, von denen wir wissen, dass sie bis 2020 gar nicht
plätze. Das soll uns beim Klimaschutz nicht passieren. eingehalten werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) und bei der LINKEN)
Deshalb habe ich mit großer Sorge gehört, wie die Bun- Eines kann ein Klimaschutzziel nicht: Es kann wirk-
deskanzlerin letzte Woche in ihrer Regierungserklärung same Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen. Da herrscht
das deutsche Klimaziel für 2020 infrage gestellt hat. Das bei der Regierung leider völlige Fehlanzeige. Herr Mi-
1668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Bärbel Höhn
(A) nister Röttgen redet viel und schön über den Klima- auch die Europäische Union gekämpft haben, ist nicht (C)
schutz; aber er tut das Gegenteil bzw. gar nichts: erreicht worden. Davon sind wir weit entfernt. Ich
glaube, deshalb ist es normal, dass sich bei denen, die
(Zuruf von der FDP: Blödsinn!) dabei waren, und bei denen, die diesen Prozess beobach-
kein Effizienzgesetz, keine Energiesparfonds, kein Tem- tet haben, Ernüchterung und Enttäuschung breitmachen.
polimit. Stattdessen unterstützt der Minister neue, klima-
(Ulrich Kelber [SPD]: Nachdenklichkeit wäre
schädliche Kohlekraftwerke und den Ausbau von Flug-
auch nicht schlecht!)
häfen. Das ist das Gegenteil von Klimaschutz.
Wenn man die Konsequenzen zu ziehen hat, dann muss
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
man aber auch die Frage beantworten, woran dieser Gip-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
fel gescheitert ist.
KEN)
Minister Röttgen möchte den erneuerbaren Energien (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken NEN]: Ja, das fragen wir!)
als Bremsklotz entgegenstellen. Das ist keine Brücke, Zunächst ist hier die USA zu nennen. Auch wir alle
das ist ein Bremsklotz, eine Mauer, gegen die Sie die er- gemeinsam hatten große Hoffnungen in Präsident
neuerbaren Energien fahren. Obama und in die von ihm angekündigte neue Politik
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesetzt, die er bei diesem Gipfel zumindestens noch
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nicht erfüllen konnte. Die Angebote, die die USA vorge-
KEN) legt haben, kamen spät und waren unzureichend.
Mit der überzogenen Kürzung der Solarförderung Es ist die Volksrepublik China zu nennen, die sich ge-
droht Minister Röttgen ganze Branchen zu ruinieren, wie gen die Vereinbarung verbindlicher und nachprüfbarer
das die letzte Koalition zum Beispiel mit den Biokraft- Klimaschutzziele gewehrt hat. Nach unserem Eindruck
stoffen ja auch schon gemacht hat. Wir brauchen mehr hat sie sich sogar mehr als bei vergangenen Gipfeln da-
Klimaschutz, und wir brauchen in diesem Bereich mehr gegen gewehrt. Sie hat gesagt: Wir, China, und die ande-
Arbeitsplätze in Deutschland. ren armen Länder müssen außen vor bleiben. Wir armen
Länder dürfen nicht belastet werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Zuruf von der CDU/CSU: So war es! –
KEN) Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das stimmt ja gar nicht!)
Wenn man weiter so wie die jetzige Bundesregierung
(B) vorgeht, dann ist Deutschland nicht Vorreiter im Klima- Das alles hat dazu geführt, dass die Verhandlungen (D)
schutz; denn als Vorreiter im Klimaschutz brauchen wir auf diesem Gipfel nicht nur schwierig waren, sondern
beides: ehrgeizige Ziele und konsequentes Handeln. Das dass die entscheidenden Ziele am Ende nicht erreicht
wollen wir erreichen – auch mit diesem Antrag. wurden.
Wir bitten Sie um gute Beratungen im Ausschuss Es ist auch eine chaotische Organisation zu nennen,
nach der Überweisung und darum, dass wir gemeinsam durch die vieles erschwert wurde.
ein solches Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen.
Zu nennen ist sicherlich auch eine undiplomatische
Vielen Dank. Moderation der dänischen Präsidentschaft, durch die
vieles noch mehr erschwert wurde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Schließlich ist auch die eine oder andere Blockade zu
LINKEN) nennen. Für die Motivation, solche Blockaden zu errich-
ten, kann man zumindest teilweise Verständnis haben,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: im Ergebnis haben sie aber dazu geführt, dass wertvolle
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung für die Zeit verloren wurde.
CDU/CSU-Fraktion. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der CDU/CSU) Aber was machen wir hier? Darum geht es
heute!)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Ich will gar nicht bestreiten, dass ein solcher Gipfel
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch Anlass sein kann, die eigene Strategie zu überden-
Ich erinnere mich an die Debatte vor dieser Konferenz ken, aber zunächst einmal will ich festhalten: Geschei-
von Kopenhagen. tert ist dieser Gipfel an anderen, gescheitert ist er nicht
an der EU und nicht an der Bundesrepublik, die mit der
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja!)
Bundeskanzlerin und mit dem Bundesumweltminister
Bei dieser Debatte haben wir einvernehmlich gesagt: glänzend verhandelt hat.
Dieser Gipfel von Kopenhagen darf nicht scheitern.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Heute stellen wir ebenfalls gemeinsam fest: Es ist neten der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜND-
zwar ein kleiner Schritt erreicht worden, aber das, was NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen Sie
wir uns erhofft und wofür wir, die Bundesregierung und endlich einmal zur Sache!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1669
Andreas Jung (Konstanz)
(A) Der Umweltminister hat in der Haushaltsdebatte als Sie, dass in dieser Woche auch der deutsche Vertreter in (C)
Konsequenz aus diesem Gipfel gesagt, dass die Parole Brüssel erneut gegen ein unkonditioniertes Klimaschutz-
jetzt heißen muss: Jetzt erst recht! Was heißt dieses ziel gestimmt hat? Würden Sie uns darin unterstützen,
„Jetzt erst recht“? das zu ändern?
Für mich heißt das zum einen, dass wir feststellen
müssen, dass zwar ein Klimagipfel, aber eben nicht der Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Klimaschutzprozess gescheitert ist und dass es deshalb Herr Kollege Kelber, erstens glaube ich, dass ich ein-
nach wie vor keine Alternative zu dem Klimaschutzpro- deutig meine Auffassung klargemacht habe, die wohl
zess unter dem Dach der Vereinten Nationen gibt. auch geteilt wird, dass dieser Gipfel nicht an der Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desrepublik Deutschland oder der EU und auch nicht da-
ran gescheitert ist, ob die EU konditionierte oder unkon-
Zum anderen: Wenn man dann fragt, was mit der ei- ditionierte Angebote gemacht hat. Ich glaube, da gibt es
genen Strategie ist und ob wir genauso weitermachen kein Vertun.
wollen wie zuvor, dann muss die Botschaft „Jetzt erst
recht“ heißen, dass wir als Bundesrepublik und als Euro- Zweitens teile ich ausdrücklich nicht die Auffassung,
päische Union unsere Vorreiterrolle ausbauen. Wir als dass Kopenhagen oder bestimmte Angebote in Kopenha-
Bundesrepublik bekennen uns dazu. Minister Röttgen gen die letzte Chance gewesen sind. Das würde nämlich
hat ganz eindeutig klargestellt, dass es keine Relativie- in der Konsequenz bedeuten, dass wir jetzt keine Chance
rung des unkonditionierten 40-Prozent-Ziels der Bun- mehr haben und die Flinte ins Korn werfen könnten. Das
desrepublik Deutschland gibt. ist ausdrücklich nicht meine Auffassung.
Ich persönlich bin der Meinung, dass unsere Bot- Ich glaube, dass wir jetzt erst recht die Chance ergrei-
schaft an die EU sein sollte, dass auch sie ihr 30-Pro- fen und uns daranmachen müssen, in Deutschland und in
zent-Ziel unkonditioniert erklärt und damit das nachvoll- der Europäischen Union mit klaren Zielen und Maßnah-
zieht, was wir in Deutschland schon gemacht haben. men voranzugehen.
Damit könnten wir gemeinsam deutlich machen, dass es
jetzt darauf ankommt, dass diejenigen, die den Erfolg (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wollen, schneller vorangehen und zeigen, dass Klima- neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
schutz und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehören DIE GRÜNEN]: Sie haben die Frage gar nicht
und dass unkonditionierte Ziele deshalb keine Bedro- beantwortet! – Ulrich Kelber [SPD]: Zu Frau
hung, sondern gerade auch für Arbeitsplätze und Wirt- Merkel sagen Sie nichts mehr?)
schaft eine Chance sind. – Frau Merkel hat eindeutig klargemacht, dass auch sie (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU) weiterhin zu der Vorreiterrolle der Bundesrepublik und
der Europäischen Union steht, und zwar sowohl bei den
Verhandlungen auf internationaler Ebene als auch bei
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
den Maßnahmen, die in Deutschland zu treffen sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber Sie können dem Antrag zustimmen! Der
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): sieht ja 40 Prozent vor!)
Wie immer sehr gerne.
Ich kann in der knappen Zeit nicht auf jeden einzel-
nen Einwand von Frau Kollegin Höhn eingehen. Ich will
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nur die Kritik, die sehr pauschal vorgetragen wurde,
Bitte. ebenfalls pauschal zurückweisen.
Ich freue mich auf die Debatte über diese Maßnah- Herzlichen Dank.
men wie auch über Ihren Antrag und andere Vorschläge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
im Plenum und im Ausschuss.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage die SPD-Fraktion.
der Kollegin Bulling-Schröter? (Beifall bei der SPD)
Frank Schwabe
(A) Jahr 2050 und zum anderen eine jährliche Überprüfung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
der Maßnahmen der Regierung durch ein unabhängiges Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Gremium, zu dessen Vorschlägen sich die Regierung der Kollegin Höhn?
entsprechend verhalten muss. Das fordern wir. Sie haben
ja bis zum Oktober Zeit, ein entsprechendes Gesetz vor- Michael Kauch (FDP):
zulegen. Ja.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in jedem Scheitern
liegt aber auch eine Chance, hier die Chance, den inter- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nationalen Wettbewerb um das beste Klimaschutzgesetz Bitte schön, Frau Höhn.
zu beginnen, zu begreifen, dass Klimaschutz im nationa-
len Interesse liegt, unabhängig davon, was international Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
geschieht. Um diese Chance zu wahren, dürfen Sie in der Herr Kollege Kauch, ich habe eben die Bundeskanz-
Regierung aber die Energiewende nicht blockieren, denn lerin zitiert. Aus dem Zitat wird sehr deutlich, dass sie
damit würden Sie ökonomische Chancen und Vertrauen
keineswegs mehr zu diesem 40-Prozent-Ziel steht, son-
in der Welt verspielen.
dern dass sie es infrage stellt. Sie haben jetzt sehr deut-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich gesagt, Sie stehen trotzdem zu diesem 40-Prozent-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ziel.
LINKEN) Wir stellen heute einen Antrag zur Abstimmung, der
die Frage zu beantworten trachtet, ob diese Koalition
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weiterhin zum 40-Prozent-Ziel steht. Stimmen Sie unse-
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von rem Antrag zu, ja oder nein? Das wüsste ich gern.
der FDP-Fraktion.
Michael Kauch (FDP):
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
Liebe Frau Höhn, als wir in der Opposition waren, ha-
Aber nicht wieder der Opposition die Schuld
am Scheitern geben!) ben wir diese Spielchen auch gemacht; das gehört ja ir-
gendwie zum Geschäft.
Eva Bulling-Schröter
(A) Wenn ich mir anschaue, was da angeboten wurde, (Ulrich Kelber [SPD]: Die Frage ist sehr be- (C)
dann stelle ich fest: Die Summe dieser Angebote würde rechtigt!)
zu einer Erderwärmung von durchschnittlich 3,5 Grad
Celsius führen. Der Chef des PIK, des Potsdam-Instituts Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
für Klimafolgenforschung, Herr Schellnhuber, spricht Ich höre gerade: „Die Frage ist sehr berechtigt!“ Mir
allerdings davon, dass dann über Land eine Erderwär- geht es um die Reden. Dabei ging es um Arm und Reich
mung von 5 Grad Celsius befürchtet werden müsse. Man und um Verantwortung. Dass die Ölstaaten eine Verant-
muss den Menschen in diesem Land sagen, worum es wortung haben, das wissen Sie so gut wie ich; Sie ken-
überhaupt geht: Es geht um eine zu befürchtende Klima- nen mich.
erwärmung von 5 Grad und nicht von 2 Grad oder
1,5 Grad. Hier müssen wir handeln, im Interesse der (Beifall bei der LINKEN)
Menschen, die demnächst wahrscheinlich absaufen wer- Man muss Lösungen finden. Wir sind der Meinung: Fos-
den. sile Energien müssen eingespart werden. Auch wir als
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Industriestaat müssen eventuell dafür bezahlen, dass
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE diese Länder kein Öl mehr fördern. Das müssen wir dis-
GRÜNEN) kutieren; da sind wir uns einig.
Die Industrieländer haben zu wenig vorgelegt – wir (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Schön um die
haben es gehört –: Die USA haben ein Minus von Frage herumgeredet! Keine Antwort auf die
4 Prozent angeboten. Der CO2-Ausstoß der USA ist von Frage! – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])
1990 bis jetzt um 17 Prozent gestiegen. Das ist natürlich – Bei Saudi-Arabien nicht. Es geht um andere Länder.
zu viel. Die USA müssen sich bewegen. An diesem
Punkt liegt die Hauptursache für die Blockade des Gip- Es ist kein Wunder, dass sich die Supermacht China
fels und nicht bei den angeblichen Desperado-Staaten bei den mickrigen Angeboten der Industriestaaten wei-
wie Venezuela oder Bolivien. gert, verbindliche Zielstellungen zu übernehmen. Es ist
auch nicht überraschend, dass Tuvalu wenig Lust hat,
(Michael Kauch [FDP]: Ihre Freunde!) seinen Untergang zu beschließen, oder Nicaragua seine
– Meine Freunde. – In Bezug auf Hugo Chávez und Evo Versteppung. Es wurden wenige finanzielle Beschlüsse
Morales ist von einigen eine Gespensterdebatte angesto- gefasst, und es wurde viel diskutiert. Es ist nicht klar,
ßen worden. Ich muss Ihnen sagen: Mir haben die beiden wer die versprochenen 100 Milliarden Dollar zahlt. Die
gut gefallen. Endlich wurde auf der Klimakonferenz ein- EU und Deutschland haben keine Vorreiterrolle einge-
nommen. Notwendig ist, dass sich die EU und Deutsch-
(B) mal über Kapitalismus, über Arm und Reich und über land zum informell längst beschlossenen Ziel bekennen, (D)
Verantwortung gesprochen. Ich finde, es ist an der Zeit,
dass das in viel größerem Ausmaß geschieht. den CO2-Ausstoß um 30 Prozent zu senken. Zu der ver-
sprochenen Summe von 100 Milliarden Dollar kann ich
(Beifall bei der LINKEN) nur fragen: Wie soll das aufgeteilt werden? Ein Drittel
sollen die Entwicklungsländer selbst bezahlen. Ein wei-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: teres Drittel soll über Carbon-Markets, das heißt über
Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine CDM usw., aufgebracht werden. Wir haben viel darüber
Zwischenfrage des Kollegen Kauch? gesprochen. Dabei handelt es sich zum großen Teil um
faule Zertifikate. Einen solchen Weg kann man den Ent-
wicklungsländern nicht zumuten. Außerdem soll das
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ganze auf die Entwicklungshilfe angerechnet werden.
Ja, klar.
Ich kann dazu nur sagen: Die Bilanz von Kopenhagen
ist verheerend, sowohl in klimapolitischen als auch in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bürgerrechtlichen Fragen.
Bitte schön, Herr Kauch.
(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Mit Bürger-
rechten kennen Sie sich gut aus!)
Michael Kauch (FDP):
Liebe Kollegin, können Sie als Vertreterin der neuen Es gab Übergriffe gegen friedliche Demonstrantinnen
Kommunistischen Internationalen – wie immer man die und Demonstranten, Pfefferspray-Angriffe und Schlag-
Achse mit Venezuela und Bolivien nennen mag – mir er- stockhiebe. Medienvertreter wurden verprügelt. Das ist
klären, was die von Ihnen offensichtlich befürwortete für mich keine Demokratie. Wir wollen eine offene De-
Linie zu Venezuela und Bolivien in Verbindung mit ei- mokratie.
nem Land wie Saudi-Arabien bringt? Venezuela und
(Beifall bei der LINKEN)
Saudi-Arabien hatten eine gemeinsame Verhandlungs-
position: Wir blockieren diese Konferenz; wir blockie- Wir wollen den offenen Diskurs über diese Fragen.
ren die Verhandlungen. Das bedeutet ganz klar, dass Sie Das sind übrigens Überlebensfragen. Das trifft uns,
als Linke es hier offensichtlich begrüßen, dass ein feuda- wenn auch etwas später, nämlich genauso wie viele an-
les und in seinem wirtschaftlichen Gehabe eher kapita- dere. Es wird endlich Zeit, dass gehandelt wird. Ein Kli-
listisches Regime, das vom Ölverkauf lebt, durch Ihre maschutzgesetz ist wichtig. Es ist ein erster Schritt, ge-
sozialistischen Freunde unterstützt wurde. nügt aber noch lange nicht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1675
Eva Bulling-Schröter
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- batte verfälschen. Ich schlage vor, dass ich jetzt Frau (C)
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bulling-Schröter die Gelegenheit gebe, zu antworten,
Ingbert Liebing [CDU/CSU]: So ein und dass wir dann in der Debatte weiter fortfahren.
Schmarrn!)
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich
wurde doch persönlich angesprochen!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem – Sind Sie persönlich angesprochen worden? – Gut,
Kollegen Michael Kauch. dann schlage ich vor, dass wir die Wortmeldung von
Frau Wieczorek-Zeul vorziehen.
Michael Kauch (FDP): (Widerspruch bei der LINKEN)
Liebe Kollegin Bulling-Schröter, wie Ihre Vorredner – Entschuldigung, die Kurzintervention erfolgte auf den
von der SPD haben Sie hier eine Falschbehauptung in Redebeitrag von Frau Bulling-Schröter. Sie hat das
den Raum gestellt. Es ist, denke ich, an der Zeit, Ihren Recht zu antworten. Wir können nicht eine Kurzinter-
Unterstellungen entgegenzutreten und einmal die Sach- vention auf Kurzinterventionen mit erneuter Antwort-
lage klarzustellen. möglichkeit zulassen. Das entspräche nicht der Ge-
Sie reden immer davon, wir würden die Mittel für den schäftsordnung.
internationalen Klimaschutz, die an die Entwicklungs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
länder fließen, mit der Entwicklungshilfe verrechnen.
Das, meine Damen und Herren, tun wir nicht. Wir stellen Wenn Sie Ihre Kurzintervention abgeben wollen, Frau
frisches Geld bereit. Das, was wir tun, ist, dass wir diese Wieczorek-Zeul, dann ziehen wir sie jetzt vor. Dann hat
Gelder auf die Entwicklungshilfequote anrechnen. Ge- Frau Bulling-Schröter die Chance, zu antworten.
nau das haben die alte Regierung und selbst die rot-
grüne Regierung getan. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
(Ulrich Kelber [SPD]: Oh nein!) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt zu
dem klimapolitischen Teil nichts weiter sagen, als dass
Das hat sich nicht geändert, meine Damen und Herren. es wirklich eine falsche Behauptung ist, dass wir keine
Ich sage auch ganz klar Fortschritte – das habe ich hier schon mehrfach geschil-
dert – bei der Official Development Assistance erreicht
(Abg. Frank Schwabe [SPD] meldet sich zu ei- hätten. Wir haben im Jahr 2001 zusammen mit der Euro-
ner Kurzintervention) päischen Union einen Stufenplan zur Steigerung der
(B) – jetzt kommt wieder eine Wortmeldung von der SPD –: Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, die Official (D)
Development Assistance, erstellt. Dieser sah vor, bis
Obwohl die SPD elf Jahre die Entwicklungshilfeministe-
zum Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu er-
rin stellte, hat sie es nicht geschafft, die 0,7-Prozent-
reichen. Das haben wir geschafft. Im Jahr 2005 haben
Quote zu erreichen. Es ist ganz klar: Sie laufen hier der
wir dann im Rahmen der Europäischen Union einen wei-
Fata Morgana, dass die Verhandlungen angeblich an der
teren Stufenplan erstellt, der für das Jahr 2010 eine
Haltung von Herrn Niebel gescheitert seien, hinterher.
ODA-Quote von 0,51 Prozent und für das Jahr 2015 von
Es ist absoluter Nonsens, wenn Sie das Herrn Niebel in
0,7 Prozent vorsieht.
die Schuhe schieben wollen. Diese Regierung macht
eine hervorragende Klimapolitik im Umwelt- und im Sie werden es in den Haushaltsberatungen erleben,
Entwicklungsministerium. dass wir das 0,51-Prozent-Ziel entsprechend unterfüttern
werden. Im Hinblick darauf ist zum Beispiel die Einfüh-
(Widerspruch bei der LINKEN und dem
rung einer internationalen Finanztransaktionsteuer ein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ganz wichtiger Punkt; hierdurch könnte nämlich der Fi-
Kopenhagen hat gezeigt: Bei den Finanztransfers für nanzsektor herangezogen werden, um mitzuhelfen, die
den Waldschutz, beim Technologietransfer und bei den Zeche für den Schaden zu zahlen, den er angerichtet hat.
Anpassungsmaßnahmen für die armen Staaten haben wir
Vergessen zu erwähnen haben Sie, dass im Koalitions-
eine Grundsatzeinigung hinbekommen.
vertrag zwischen CDU, CSU und FDP für das Erreichen
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie wissen, dass Sie die der 0,7-Prozent-Quote kein festes Jahr genannt wird und
Unwahrheit sagen?) man sich auch nicht auf ein Zwischenziel festgelegt hat.
Gehen Sie deshalb einmal mit sich selbst kritisch zurate,
Deshalb können Ihre Argumente eigentlich nur falsch statt andere anzugreifen. Dass die FDP jetzt das Ent-
sein, meine Damen und Herren. wicklungsministerium hat, muss andere Ursachen haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Versuchen Sie nicht andauernd, das zu begründen, indem
Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie die vorherige Regierung und ihre Arbeit schlechtma-
NEN]: Wären Sie wenigstens dagewesen in chen. Das ist völlig unakzeptabel.
Kopenhagen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rufe von der FDP: Oh! – Ulrich Kelber [SPD]:
Ich habe jetzt mehrere Wortmeldungen zu Kurzinter- Das weiß er doch auch! Er musste was anderes
ventionen. Wenn ich die zuließe, würde das aber die De- sagen!)
1676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verlauf der Konferenz in Kopenhagen eine Debatte da- (C)
Jetzt hat die Kollegin Bulling-Schröter das Wort. rüber, ob es überhaupt Sinn macht, diesen Weg weiterzu-
gehen, bei dem man aufgrund des Prinzips der Freiwil-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): ligkeit immer auf den Letzten warten und den kleinsten
Herr Kauch, ich weiß nicht, warum Sie sich so aufge- gemeinsamen Nenner finden muss und mehr eigentlich
regt haben; ich verstehe es nicht. Feststellen kann man, nicht herauskommt.
dass die vorherigen Regierungen das 0,7-Prozent-Ziel Ich war sowohl bei dieser internationalen Klimakon-
alle nicht erreicht haben. Aus entwicklungspolitischer ferenz als auch bei den Klimakonferenzen in den fünf
Sicht wäre es allerdings dringend notwendig. Die Linke Jahren davor. Meine persönliche Erfahrung ist: Man
hat das immer kritisiert, egal wer an der Regierung war. muss trotz aller Schwächen den Weg des internationalen
Jetzt aber zu Ihrer Anrechnung. Sie sagen ja, das wird Übereinkommens gehen. Aber ebenso ist meine Erfah-
nicht angerechnet. rung, dass wir die Entwicklung mit Brückenköpfen und
ganz konkreten Projekten sehr viel schneller voranbrin-
(Michael Kauch [FDP]: Es wird angerechnet!) gen und damit auch das wirtschaftliche Interesse am Kli-
Dazu zitiere ich aus dem Antrag der Koalition zu den maschutz stärker befördern können.
Klimaverhandlungen – es ist nur ein Satz –:
Ich möchte zwei Beispiele nennen, die die Brücke zur
… sicherzustellen, dass die Beiträge für die Finan- Entwicklungspolitik schlagen:
zierung des internationalen Klimaschutzes und der
Anpassungsmaßnahmen auf das Ziel angerechnet Vor den Konferenzräumen in Kopenhagen hatten
werden, Nichtregierungsorganisationen ihre Ideen ausgestellt.
Darunter war ein Vorschlag von sechs Ländern in Afrika,
(Frank Schwabe [SPD]: Aha! – Michael Kauch vom Senegal quer über den Kontinent bis Äthiopien eine
[FDP]: Angerechnet! Nicht verrechnet! Anpflanzung zu machen, auf einer Länge von etwa
0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öf- 6 000 Kilometern am Südrand der Sahara und 25 Kilo-
fentliche Entwicklungszusammenarbeit … zur Ver- meter tief, um den Sand aufzuhalten. Das ist ein Projekt,
fügung zu stellen … das die Afrikaner sich selber ausgedacht haben. Ihr Wille
ist auch, dass die Einheimischen diese Pflanzungen
(Frank Schwabe [SPD]: Schämen Sie sich!) durchführen. Sie brauchen natürlich Hilfe, weil die posi-
Was heißt „anrechnen“? Da müsste man vielleicht tiven Wirkungen solcher Pflanzungen nicht sofort mone-
einmal ein paar Kollegen fragen. tär zu Buche schlagen. Sie haben uns auch gesagt, dass
(B) besonders die Frauen eingesetzt werden sollen, weil sie (D)
(Zuruf von der FDP: Dann fragen Sie mal!) die entscheidenden Meinungsträgerinnen sind. Sie haben
sogar davon gesprochen, Großmütter einzusetzen. Denn
Es heißt natürlich „verrechnen“.
die Großmutter kann durchaus bestimmen, dass die Zie-
(Zurufe von der FDP: Nein!) genherde nicht mehr dahin getrieben werden darf, wo
eine Anpflanzung ist, damit diese wirklich hoch wächst.
Das ist so auch in den Medien diskutiert und in den Ich bin der Meinung: Solche konkreten Projekte sollten
Debatten besprochen worden. Wenn das nicht so ist,
wir auch von Deutschland aus aufgreifen und unterstüt-
können Sie das ja hier noch richtigstellen. Wir würden es
zen.
begrüßen, wenn es nicht angerechnet wird. Wir beschlie-
ßen das mit; die Opposition steht dahinter. Denn so kann Ein anderes Beispiel: Wir haben Leute aus Burundi
man mit Entwicklungsländern nicht umgehen. Auch getroffen und sie gefragt: Was wäre eurer Meinung nach
wenn Sie das vielleicht nicht glauben: Wir haben in den die wirksamste Maßnahme für euer Land? Sie haben klar
Entwicklungsländern viele Gespräche geführt, die erge- gesagt: Dies wäre eine Produktionsstätte für Solarko-
ben haben, dass sie sich vorgeführt fühlen. Nur mit Glas- cher, damit unsere Leute nicht jeden Tag kleine Büsche
perlen kommt man im 21. Jahrhundert nicht weit. abhacken müssen, die sie als Feuerholz zum Kochen
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem verwenden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es gibt im technologischen Bereich natürlich weitere
Projekte. Wichtig ist aber, dass wir diese Dinge, die ba-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nal zu sein scheinen, nicht geringschätzen, sondern dass
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf
der Kollege Josef Göppel von der CDU/CSU-Fraktion solche Projektvorschläge eingehen. Das ist ein Parallel-
das Wort. programm zum Vorantreiben von internationalen Konfe-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- renzen.
neten der FDP) Ich möchte zum Verlauf der Debatte hier eines sagen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Oppositions-
Josef Göppel (CDU/CSU): fraktionen, zum 31. Januar 2010 ist die Meldung fällig,
Meine Damen und Herren! Mein Thema ist: Die rich- welches Klimaziel Deutschland hat. Gehen Sie davon
tigen Lehren aus Kopenhagen ziehen. So lautet ja auch aus, dass es das 40-Prozent-Ziel sein wird. Daran ist
der hier vorliegende Antrag. Natürlich gab es durch den nichts zu deuteln.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1677
Josef Göppel
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Uhr zeigt, dass ich keine Redezeit mehr habe. (C)
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich bedanke mich. Schönen Abend.
Eben nicht! Das steht bei der EU nicht drin!)
– Frau Kollegin Höhn, wir brauchen nicht alle vier Wo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen dasselbe zu beschließen. Ich möchte Ihnen aller-
dings sagen: Ich habe eine gewisse Sympathie dafür, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dass unsere Klimaschutzanstrengungen, die sich schon Ich schließe die Aussprache.
konkret beziffern lassen, in ein Gesetz Eingang finden. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Wenn die Vereinigten Staaten, wie wir alle heute früh ge- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/446
hört haben, noch in diesem Jahr ein Klimaschutzgesetz
mit dem Titel „Regierungs- und Parlamentshandeln kon-
verabschieden werden, dann wird die Diskussion bei uns sequent am 40-Prozent-Klimaziel ausrichten“. Wer
an Geschwindigkeit zunehmen, und es wird ihr noch
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
mehr Nachdruck verliehen. Entscheidend ist, dass wir
haltungen? – Dann ist der Antrag mit der Mehrheit der
konkret handeln. Die Minderung der CO2-Emissionen Koalitionsfraktionen abgelehnt.
um 22 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990, die
Deutschland bisher erreicht hat, ist ein Fakt. Das, was Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Präsident Obama angeboten hat, sind 4 Prozent, bezogen den Drucksachen 17/132 und 17/522 an die in der Tages-
auf 1990 – und dies mit drei großen Fragezeichen. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: so beschlossen.
Herr Kollege Göppel, erlauben Sie, dass die Frau Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf:
Höhn eine Zwischenfrage stellt?
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Josef Göppel (CDU/CSU): Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen –
Gerne. Konditionen für Kurzarbeit verbessern
– Drucksache 17/523 –
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Überweisungsvorschlag:
Frau Kollegin Höhn. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Technikfolgenabschätzung
(B) Danke schön, Herr Kollege Göppel. – Ich schätze Sie Haushaltsausschuss
(D)
ja sehr. Aber können Sie nicht bestätigen, dass – anders,
als Sie es eben gesagt haben – nicht Deutschland den in- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
ternationalen Gremien das 40-Prozent-Ziel melden Dr. Barbara Höll, Jutta Krellmann, Klaus Ernst,
muss, sondern dass es darum geht, was die EU meldet? weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
Die EU hat gerade beschlossen, dass sie eine Reduktion LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
um 30 Prozent nicht ohne Wenn und Aber meldet, son- zur Abschaffung des Progressionsvorbehalts
dern nur konditioniert. Das ist etwas anderes als das, was für Kurzarbeitergeld
Sie eben gesagt haben. – Drucksache 17/255 –
Überweisungsvorschlag:
Josef Göppel (CDU/CSU): Finanzausschuss (f)
Frau Kollegin Höhn, Sie wissen doch genau, dass sich Ausschuss für Arbeit und Soziales
das 30-Prozent-Ziel der EU aus nationalen Minderungs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
anstrengungen zusammensetzt. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
NEN]: Aber die hat die EU gar nicht weiter- schlossen.
gemeldet!) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
Angesichts des Potenzials, das Deutschland hat, ist ent- nerin der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der
scheidend, was wir anbieten. Aufgrund unseres klar er- SPD-Fraktion das Wort.
klärten Ziels besteht die realistische Chance, die anderen (Beifall bei der SPD)
in Europa zur Anerkennung des 30-Prozent-Ziels zu
bringen.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aber das haben sie doch gerade nicht ge- Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass ich
macht!) zu dem Antrag der SPD sprechen darf, der die wichtige
Botschaft selbstverständlich in seinem Titel führt. Es
Genau das hat Frau Merkel von diesem Pult aus erklärt.
geht darum, Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit zu schüt-
Dabei bleibt es.
zen und die Konditionen für Kurzarbeit zu verbessern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies ist dringend nötig. Wir hätten gar nicht tätig werden
1678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) müssen, hätte die schwarz-gelbe Regierung die guten Wetter ist noch nicht vorbei. Deshalb müssen wir darauf (C)
Konditionen gelassen, die wir in der Großen Koalition achten, dass die Bedingungen gut bleiben und dass die
aus gutem Grund so formuliert hatten und die wirklich Unternehmen, die Mut haben, eine langfristige Perspek-
vielen Menschen in Deutschland ermöglicht haben, ihre tive erhalten.
Arbeit zu behalten. Weltweit – aus den USA und aus
europäischen Ländern – sind wir dafür gelobt worden. Welche Branchen nutzen die Kurzarbeit bisher eigent-
Wir sind mit diesem Instrument zum Vorbild geworden. lich? Wir wissen: Am stärksten ist Kurzarbeit im Ma-
schinenbau vertreten; die Quote beträgt dort 22,7 Pro-
Sicherlich ist die Kurzarbeit nicht das einzige Instru- zent. In der Metallindustrie, in der Automobilbranche,
ment oder der einzige Grund dafür, dass wir in der bei der Herstellung elektronischer und optischer Erzeug-
Bundesrepublik Deutschland über einen in der Krise be- nisse gibt es viel Kurzarbeit. Das sind aber Branchen, die
merkenswert stabilen Arbeitsmarkt verfügen. Auch Un- eine sehr langfristige Planungssicherheit brauchen. Inso-
ternehmen und Beschäftigte und ihre Vertretungen haben fern ist das Signal, das Sie gesetzt haben, falsch. Ich zi-
viel dazu beigetragen. Deshalb gilt auch ihnen mein tiere aus einer heute veröffentlichten Pressemitteilung
Dank, dass sie in den letzten Monaten konstruktiv dafür von Frau von der Leyen. Sie schreibt: „Der Arbeitsmarkt
gesorgt haben, dass Arbeit erhalten blieb und Unterneh- braucht weiter die volle Aufmerksamkeit.“ Das unter-
men so auf Dauer gute Perspektiven haben. schreibe ich sofort. Ich zitiere weiter:
Was aber hat stattgefunden? Kaum war der Regie- Wir müssen genau beobachten, ob das Bemühen
rungswechsel vollzogen, hat man sich darangemacht, die der Unternehmen, Beschäftigte im Betrieb zu hal-
Bedingungen für Kurzarbeit auf einen Stand zurückzu- ten, weiter trägt – damit wir flexibel und kurzfristig
führen, von dem wir sagen: Er mag vor der Krise akzep- reagieren können. Das hat sich in der ganzen Kri-
tabel gewesen sein, ist es jetzt aber keinesfalls. Zurzeit senzeit bewährt.
haben wir zwar einen relativ stabilen Arbeitsmarkt; aber
die Frage, ob schon alles vorbei ist, wir uns zurückleh- Recht hat sie. Sie schreibt allerdings auch: „Noch ist un-
nen können und Ruhe einkehren wird, werden viele klar, welche Entwicklung die nächsten Monate dominie-
wohl mit Nein beantworten müssen. Konjunkturelles ren wird.“ Wenn das so ist, frage ich mich, warum man
Kurzarbeitergeld ist ein Hauptelement aktiver Arbeits- dann vorschnell so restriktive Entscheidungen getroffen
marktpolitik. Sie haben die Bedingungen verschlechtert. hat.
Deshalb sagen wir: Wir wollen den alten Zustand wie-
(Beifall bei der SPD)
derherstellen.
(Beifall bei der SPD) Deshalb sagen wir: Weg mit der Begrenzung auf
(B) 18 Monate! Wir wollen, dass weiterhin Sozialbeiträge (D)
Damit verfolgen wir zwei Ziele: Wir wollen Beschäf- durch die BA übernommen werden, auch über 2011 hi-
tigte vor Arbeitslosigkeit schützen und – dies ist uns naus. Ich darf aus dem Jahresgutachten des Sachverstän-
genauso wichtig – den im Kern gesunden Unternehmen digenrates zitieren:
ermöglichen, ihre gut ausgebildeten Beschäftigten zu
halten. Damit legen wir eine stabile Basis für einen Auf- Entscheidend für die weitere Entwicklung auf dem
schwung, den wir wohl alle wollen. Arbeitsmarkt wird sein, wie die Unternehmen in
den kommenden Monaten die Kosten der Weiterbe-
(Beifall bei der SPD) schäftigung relativ zu den Entlassungs- und späte-
Wir wissen: 2009 war ein schwieriges Jahr; 2010 wird ren Such-, Einstellungs- und Einarbeitungskosten
nicht einfacher werden. Wir können auch nicht sagen: einschätzen werden. Dass die Kostenabwägung
2011 werden wir alle Probleme gelöst haben. Deshalb bisher zugunsten des Haltens der Arbeitskräfte aus-
kämpfen wir für die Verlängerung der Brücke „konjunk- gefallen ist, liegt nicht zuletzt an der Kostenerleich-
turelle Kurzarbeit zu optimalen Bedingungen“. terung durch die Veränderung bei der Kurzarbeiter-
regelung.
Wir haben viele auf unserer Seite. Mich hat es beson-
ders gefreut, dass sich auch Herr Kannegiesser so geäu- Wo der Sachverständigenrat recht hat, hat er eben recht.
ßert hat. Dies sollte eine Überlegung auf Ihrer Seite wert (Beifall bei der SPD)
sein.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beginn einer Wir müssen dafür sorgen, dass es einen erleichterten
wunderbaren Freundschaft!) Zugang zur Kurzarbeit gibt. Wir wollen auch für Zeit-
arbeitsfirmen die Option auf Kurzarbeit erhalten. Die
– Eben, genau deshalb könnten Sie ihm ja vielleicht eher Sonderregelung für Qualifizierungsmaßnahmen muss
als uns folgen. Das verstehe ich ja. bis Ende 2011 verlängert werden. Deshalb heißt es auch:
Standhaft bleiben bei Qualifizierung! Wir haben gelernt,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dass da die Unternehmenskultur in Deutschland deutlich
Wir alle sehen: Der Arbeitsmarkt ist angespannt, und besser werden kann. Wir haben einen zaghaften Einstieg
auf ihm sind regionale und zeitliche Disparitäten zu er- über die konjunkturelle Kurzarbeit. Das wollen wir aus-
kennen. Wir haben dazu eine Information der Bundes- bauen. Dabei müssen wir bleiben. Wir sehen, wie gut das
agentur für Arbeit bekommen, in der deutlich wird, dass der Metallbereich beispielsweise in Baden-Württem-
die Kurzarbeit wie schlechtes Wetter auf einer Wetter- berg macht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es in
karte durch das ganze Land zieht. Dieses schlechte ganz Deutschland optimal läuft.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1679
Gabriele Lösekrug-Möller
(A) Wir wollen dieses gute Instrument behalten. Wir müs- Wie Sie sich sicherlich noch erinnern können, haben (C)
sen aber auch den Missbrauch im Blick behalten. Den wir dazu in der letzten Wahlperiode gemeinsam mit Ih-
lassen wir nicht durchgehen. Wir wissen, dass es zu Jah- nen von der SPD im Rahmen des Maßnahmenpakets
resanfang 800 Verdachtsfälle gab, davon sind fast „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“,
200 Verfahren eingestellt worden. 130 Verfahren sind dem sogenannten Konjunkturpaket I, dem Gesetz zur Si-
noch im Gange. Es ist richtig, dass die Staatsanwalt- cherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutsch-
schaft tätig wird. Denn eins ist klar: Wir haben ein gutes land, Konjunkturpaket II, und dem 3. SGB-IV-Ände-
Instrument. Wir wollen es behalten. Wir wollen zurück rungsgesetz diverse Regelungen umgesetzt, welche vor
zur alten Regelung. Das ist der feste Wille der SPD. nicht allzu langer Zeit von den Kolleginnen und Kolle-
gen der SPD noch für erforderlich, aber auch für ausrei-
Meine große Bitte an die neue Koalition ist, zu über-
chend befunden wurden.
legen, ob sie nicht etwas vorschnell war. Ihre Ministerin
zeigt schon millimeterweise Einsicht. Wir wollen wieder (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)
dahin, dass ein gutes Instrument gut angewendet wird;
denn wir alle haben ein Interesse daran, dass für die Un- Obwohl sie Ihnen noch geläufig sein dürften, meine lie-
ternehmen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ben Kolleginnen und Kollegen, werde ich die mit Ihnen
nehmer in Deutschland aus der Krise eine Chance wird. gemeinsam beschlossenen Regelungen gerne noch ein-
Das ist unser Ziel. Deshalb wäre es gut, wenn Sie unse- mal kurz nennen:
rem Antrag zustimmen würden.
Wir haben die Bezugsfrist des Kurzarbeitergeldes auf
Danke schön. 18 Monate verlängert und die Antragstellung für Arbeit-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geber vereinfacht. Die Agenturen für Arbeit erstatten ab
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dem siebten Monat der Kurzarbeit die vollen Beiträge
GRÜNEN) zur Sozialversicherung, die auf Kurzarbeit entfallen. In
den ersten sechs Monaten werden die Beiträge zur So-
zialversicherung zur Hälfte von den Agenturen für Ar-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
beit übernommen. Für jene Mitarbeiter, die während der
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
Kurzarbeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen,
CDU/CSU-Fraktion.
können in dieser Zeit die Sozialversicherungsbeiträge zu
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 100 Prozent übernommen werden. Auch die Weiterbil-
neten der FDP) dungsmaßnahmen selbst werden von den Agenturen für
Arbeit umfangreich gefördert. Die Bedingung, dass min-
(B) Paul Lehrieder (CDU/CSU): destens ein Drittel der Belegschaft von einem Entgelt- (D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! ausfall betroffen sein muss, wird ausgesetzt: Um für einen
Werte Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von oder mehrere Beschäftigte Kurzarbeitergeld beantragen
der SPD, insbesondere Sie, geschätzte Frau Kollegin zu können, reicht der Nachweis eines Entgeltausfalls von
Lösekrug-Möller, mit dem heutigen Antrag fordern Sie mehr als 10 Prozent. Der Arbeitgeber kann bei der An-
verbesserte Konditionen für Kurzarbeit. Wie Sie wissen, tragstellung wählen, ob er davon Gebrauch machen
sind wir für konstruktive Vorschläge, auch und gerade möchte. Arbeitszeitkonten müssen vor Bezug des Kurz-
von unseren Freunden von der geschätzten Opposition, arbeitergeldes nicht ins Minus gebracht werden. Ab dem
jederzeit dankbar. 1. Januar 2008 durchgeführte vorübergehende Änderun-
gen der Arbeitszeit aufgrund von Beschäftigungssiche-
(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) rungsvereinbarungen wirken sich nicht negativ auf die
– Da haben Sie völlig recht, Herr Kolb. Höhe des Kurzarbeitergeldes aus. Kurzarbeitergeld kann
auch uneingeschränkt für Leiharbeitnehmer sowie für
Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass die unionsge- befristet Beschäftigte beantragt werden.
führte Bundesregierung der vergangenen und der laufen-
den Legislaturperiode bereits umfassende und kosten- Unter dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Dr. Jung
intensive Verbesserungen der Kurzarbeit auf den Weg wurde durch die Zweite Verordnung zur Änderung der
gebracht hat, welche sich in der derzeitigen Wirtschafts- Verordnung über die Bezugsfrist für das Kurzarbeiter-
krise sehr gut bewährt haben. Ich will auch nicht verheh- geld die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld verlängert,
len, dass der frühere Arbeitsminister Olaf Scholz einen
nicht unerheblichen Anteil daran hat. (Beifall bei der CDU/CSU)
Arbeitsplätze von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- und das ist gut so. Für Kurzarbeit, die ab dem Jahr 2010
mern in Deutschland konnten dadurch gesichert werden. beginnt, kann bis zu 18 Monate lang Kurzarbeitergeld
Kurzarbeit hilft, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sie ist gezahlt werden. Ohne den Erlass der Verordnung hätte
ein flexibles Instrument, das besonders den unterschied- die Bezugsfrist für Kurzarbeitergeld, wenn die Kurzar-
lichen Entwicklungen der einzelnen Branchen und beit 2010 begonnen wird, entsprechend der gesetzlichen
Regionen Rechnung trägt. Außerdem können Unterneh- Regelung nur 6 Monate betragen. Mit der Verordnung
men und Betriebe durch das Instrument der Kurzarbeit wurde die Bezugsfrist auf 18 Monate verlängert. Das
bei verbesserter Auftragslage die Produktion mit ihren heißt, vieles von dem, was Sie sich für die Zukunft wün-
bewährten und eingearbeiteten Mitarbeitern wieder schen, haben wir für die laufende Bezugszeit bereits ein
hochfahren. Stück weit berücksichtigt, und zwar auch nach Ende der
1680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Paul Lehrieder
(A) Großen Koalition. Die Verlängerung gilt nur für jene Be- wie sie dafür gesorgt hat, mit dem Instrument der Kurz- (C)
triebe, die mit der Kurzarbeit 2010 beginnen. arbeit Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Regelmäßig gibt es
dann einen Zwischenruf von der SPD: Olaf Scholz ist es
Den Arbeitgebern, die im Vertrauen auf eine Verbes-
aber gewesen. – Betriebsräte, Vertrauensleute und Ge-
serung ihrer wirtschaftlichen Situation keine Entlassun-
werkschaften kommen als Akteure so gut wie gar nicht
gen vornehmen, wird somit Planungssicherheit gegeben. vor. Ich möchte an dieser Stelle all meinen Kolleginnen
Gegebenenfalls ist im Sommer auch für die Zeit nach
und Kollegen in den Betrieben ganz große Anerkennung
dem 1. Januar 2011 eine Verlängerung zu prüfen – Sie
dafür aussprechen, dass ihnen das gelungen ist.
haben auf entsprechende Äußerungen unserer Bundesar-
beitsministerin, Frau von der Leyen, hingewiesen –, so- (Beifall bei der LINKEN)
fern die wirtschaftlichen Rahmendaten dies dann not-
Ich kenne nicht wenige Betriebe, in denen Betriebs-
wendig machen. Zum jetzigen Zeitpunkt ein Signal zu
räte und Betriebsrätinnen gegen den anfänglichen Willen
senden, dass wir auch im Jahr 2011 in erheblichem Aus-
ihrer Geschäftsleitungen Kurzarbeit auf den Weg ge-
maß mit Kurzarbeit rechnen, halte ich schlichtweg für
bracht haben. Geschäftsleitungen und Personalabteilun-
den falschen Weg.
gen einiger Maschinenbaubetriebe hatten noch nicht rea-
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, Sie haben selbst aus- lisiert, dass sie in einer Krise waren. Aber die
geführt, dass wir zurzeit einen relativ stabilen Arbeits- Beschäftigten, Betriebsräte und Betriebsrätinnen hatten
markt haben. sehr schnell gemerkt, dass die Arbeit im Grunde weg-
bricht. Kurzarbeit auf zwei Jahre zu verlängern, war
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtig. Kurzarbeit auf 18 Monate zu verkürzen, ist
NEN]: Aber warum denn?) falsch.
Was in einem halben oder Dreivierteljahr sein wird, kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen weder Sie noch ich verlässlich voraussagen. Sie ha-
ben auch ausgeführt, Frau Lösekrug-Möller – ich darf Die Krise ist nicht vorbei. Im Schiff- und im Anlagen-
Sie zitieren –: „Das schlechte Wetter ist noch nicht vor- bau kommt die Krise aufgrund langer Auftragsvorläufe
bei.“ – Sie kommen mir vor wie jemand, der bei Sonnen- und Lieferzeiten gerade erst an. Auch in Teilen der Au-
schein bzw. heranziehenden Wolken bereits den Regen- tomobilindustrie beginnen erst jetzt mit dem Ende der
schirm aufspannt, noch bevor die ersten Regentropfen Abwrackprämie die Beschäftigungsprobleme. Die Linke
fallen. hat bereits in ihrem 10-Punkte-Sofortprogramm direkt
nach der Bundestagswahl die Verlängerung der Kurzar-
(Beifall bei der CDU/CSU – Anette Kramme beit auf drei Jahre gefordert. Wir freuen uns, dass die
[SPD]: Das ist doch lächerlich!) SPD unser Anliegen aufnimmt.
(B) (D)
Wie auch unserem Koalitionsvertrag zu entnehmen (Beifall bei der LINKEN)
ist, ergreifen wir effektive Maßnahmen, um die in der
Geschichte der Bundesrepublik einmalige Finanz- und Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Gewerkschaften
Wirtschaftskrise rasch zu überwinden und gestärkt aus und Geschäftsleitungen brauchen Planungssicherheit
ihr hervorzugehen. Die von uns getroffenen Maßnahmen und Instrumente zum Handeln. Kurzarbeit inklusive der
haben zur Robustheit des Arbeitsmarktes in der Krise Befreiung von Sozialversicherungsbeiträgen – ich habe
entscheidend beigetragen und bedürfen keiner weiteren gehört, was Herr Lehrieder eben gesagt hat; ich hätte
Ergänzung. Wir geben damit sowohl den Arbeitnehmern gerne einmal schriftlich von Ihnen, wo das steht; denn
und ihren Familien als auch den Unternehmen und Be- nach meinen Informationen ist es nicht so –
trieben in der derzeit schwierigen Wirtschaftssituation (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das können Sie
Sicherheit und Stabilität. gern haben!)
(Beifall bei der CDU/CSU) muss erhalten bleiben, genauso wie die Qualifizierungs-
– Danke schön. – Deshalb müssen wir heute die weiter- möglichkeiten während der Kurzarbeit. Außerdem ist es
gehenden Anträge leider ablehnen. ein Fehler, gerade jetzt geförderte Altersteilzeit abzu-
schaffen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will das
denn?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Auch sie ist ein Instrument, das dabei helfen kann, Men-
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der schen in Arbeit zu halten und die Einstellung und Über-
Fraktion Die Linke. nahme von Beschäftigten und Auszubildenden zu unter-
(Beifall bei der LINKEN) stützen.
Diejenigen, die schon jetzt in Kurzarbeit sind, waren
Jutta Krellmann (DIE LINKE): vom ersten Tag an Betroffene der Krise, ganz im Gegen-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und satz zu den Banken, für die man große Rettungsschirme
Kollegen! Kurzarbeit war schon in der Vergangenheit im aufgespannt hat. Kurzarbeit ist für Beschäftigte nicht
Bundestag immer wieder ein Thema. Die Bundesregie- kostenlos. Die Bundesagentur für Arbeit ersetzt nur 60
rung klopft sich auf die Schulter, um sich dafür zu loben, bzw. 67 Prozent des Entgeltverlustes. Das sind teilweise
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1681
Jutta Krellmann
(A) erhebliche Einschnitte für die Betroffenen; denn die mo- Sebastian Blumenthal (FDP): (C)
natlichen Belastungen durch Miete, Lebensunterhalt und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie allge-
weitere laufende Kosten bestehen zu 100 Prozent weiter. mein bekannt, haben wir in den vergangenen anderthalb
Jahren die heftigste Wirtschafts- und Finanzkrise unserer
Jetzt bekommen diese Beschäftigten möglicherweise Zeit erlebt.
noch eine Rückzahlungsforderung durch das Finanzamt.
Das darf nicht sein. Um den wirtschaftlichen Einbruch abzufedern und
überbrückend Arbeitsplätze zu sichern, sind die aktuel-
(Beifall bei der LINKEN) len Regelungen für Kurzarbeit sehr hilfreich gewesen.
Eigentlich ist Kurzarbeitergeld steuerfrei; so glaubt man. Auf die Details der Erfolge der Regelungen für Kurzar-
Allerdings muss man in den Einkommensteuererklärun- beit ist bereits mehrfach eingegangen worden; deswegen
gen das komplette Jahreseinkommen versteuern. Dann möchte ich das nicht wiederholen.
ist Kurzarbeitergeld plötzlich zu versteuerndes Einkom- Ich komme zu dem, was die SPD fordert. Das Instru-
men. So will es der Progressionsvorbehalt. Damit kön- ment der Kurzarbeit wirkt nur kurzzeitig und begrenzt.
nen plötzlich erhebliche Nachzahlungsforderungen ent- So war es von Anfang an geplant; denn wenn sich bei
stehen, mit denen die Betroffenen nicht gerechnet haben den betreffenden Unternehmen mittelfristig kein Wachs-
und für die sie keine Rücklagen gebildet haben. Aus die- tum einstellt, werden die Nachteile der Regelungen für
sem Grund fordert die Linke den Verzicht auf den soge- Kurzarbeit die Vorteile überwiegen.
nannten Progressionsvorbehalt bei Kurzarbeitergeld zu-
gunsten von Beschäftigten und deren Familien und zur (Anette Kramme [SPD]: Ich glaube nicht, dass
Stärkung bzw. zum Erhalt der Binnennachfrage. wir Babysitter sind! Das muss jedes Unterneh-
men selber entscheiden!)
(Beifall bei der LINKEN)
Daher möchten wir der Forderung, den Zeitraum für
Das Kurzarbeitergeld ist schon ausgegeben; die Be- Kurzarbeit zu verlängern, nicht folgen.
troffenen haben keinen finanziellen Spielraum für Rück-
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Kurzarbeit
zahlungen. Wir hatten in der vergangenen Legislaturpe-
eine Subvention aus öffentlichen Mitteln ist, Frau Kolle-
riode bereits einen Antrag auf Abschaffung des
gin. Die SPD fordert in dem vorliegenden Antrag eine
Progressionsvorbehaltes eingebracht; jetzt tun wir es er-
weitere Verlängerung des Zeitraums für Kurzarbeit. Wir
neut. Denn das Problem für Tausende von Beschäftigten
sollten uns die Konsequenzen einmal anschauen. Wenn
ist immer noch nicht aus der Welt. Hier muss dringend
wir den Zeitraum für Kurzarbeit einfach verlängern, füh-
eine Lösung gefunden werden.
ren wir eine Dauersubventionierung ein.
(B) Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen Instrumen- (D)
(Anette Kramme [SPD]: Für ein Jahr – das soll
tenkasten für Betriebsräte und Betriebsrätinnen, Ge- eine Dauersubventionierung sein?)
werkschaften und Personalabteilungen in Form von Ver-
längerung des Zeitraums für Kurzarbeit auf 36 Monate, – Hören Sie bitte zu! Sie müssen sich auch mit den Kon-
sequenzen auseinandersetzen, die die Regelung, die Sie
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 36 Monate?) fordern, zur Folge hätte. – Diese Regelung würde wei-
Erhalt der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge tere hohe Kosten verursachen, sie würde den Staatshaus-
durch die Bundesagentur für Arbeit, Qualifizierungs- halt nachhaltig belasten, vor allem aber würde sie die
maßnahmen während der Kurzarbeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten, die das
Kurzarbeitergeld über ihre Versicherungsbeiträge mitfi-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Reichtum für nanzieren müssen.
alle!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Förderung von Altersteilzeit, Verzicht auf den Progres- CDU/CSU)
sionsvorbehalt und, wo Sie das sagen, Herr Kollege, Wir würden eine weitere Subvention schaffen, die, wie
Reichtum für alle. wir das in der Vergangenheit bereits mehrfach erlebt ha-
Vielen Dank. ben, zu Mitnahme- und Gewöhnungseffekten führen
würde: Es gab zum Beispiel Fälle, dass bei Automobil-
(Beifall bei der LINKEN) herstellern trotz steigender Nachfrage infolge der Ab-
wrackprämie und trotz monatelanger Wartezeiten bei
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Pkw-Bestellungen Zehntausende Mitarbeiter in Kurzar-
beit geschickt wurden, gleichzeitig aber Boni ausgeschüt-
Frau Kollegin Krellmann, auch Ihnen gratuliere ich tet wurden. Es besteht also die realistische Gefahr von
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Mitnahmeeffekten. Darüber sollten wir uns Gedanken
(Beifall) machen. Letztendlich würden solche Mitnahmeeffekte
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schaden;
Das Wort hat der Kollege Sebastian Blumenthal von denn sie finanzieren all das indirekt mit.
der FDP-Fraktion.
Zum anderen würden Steuermittel und Versicherungs-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beiträge verwendet, um Unternehmen künstlich am Le-
der CDU/CSU) ben zu erhalten. So ist es zum Beispiel bei einem großen
1682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Sebastian Blumenthal
(A) Versandhändler geschehen. Wenn das Unternehmen, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!) (C)
weil es keine wirtschaftliche Basis mehr gibt, dann in die
Pleite entlassen werden muss, verlieren die Arbeitneh- Genau das ist Bestandteil des Wachstumsbeschleuni-
merinnen und Arbeitnehmer doch ihren Arbeitsplatz. gungsgesetzes. Sie müssen einmal erkennen, dass genau
Das ist eine Konsequenz, die man sich immer wieder vor das, was Sie fordern, bereits von der Regierung umge-
Augen führen muss, die Sie bei Ihrem Antrag aber völlig setzt wurde; das müssen Sie zur Kenntnis nehmen und
aus den Augen verloren haben. Kurzarbeit in solchen anerkennen. Zwei Wochen zuvor wurde eine andere
Unternehmen hat dazu beigetragen, dass wertvolle Zeit Pressemitteilung von Ihnen herausgegeben, in der Sie
verloren gegangen ist, die die betreffenden Arbeitneh- sagen, es gebe überhaupt keinen Spielraum für Steuer-
mer hätten nutzen können, um sich auf dem Arbeits- senkungen. Das ist ein Widerspruch: Innerhalb von zwei
markt neu zu orientieren. Das ist ja auch eine Chance, Wochen behaupten Sie zunächst, dass Steuersenkungen
die man einmal erwähnen sollte. nicht möglich sind, und wenig später fordern Sie Kon-
junkturmaßnahmen.
Anstelle von dauersubventionierter Kurzarbeit (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auf der
(Anette Kramme [SPD]: Für Hoteliers und Ausgabenseite!)
Erben!) – Herr Kollege, da sind Sie grundsätzlich auf dem richti-
brauchen wir klare und verbindliche Wachstumsstrate- gen Weg. Zu diesem Erkenntnisgewinn möchte ich Ih-
gien. Genau das ist das Kernthema der FDP und der nen gratulieren und Sie ermuntern, auf dieser Ebene wei-
Bundesregierung. Dafür haben wir das Wachstumsbe- ter mitzuarbeiten. Dann können Sie unsere Arbeit
schleunigungsgesetz verabschiedet. Der erste Beitrag ist konstruktiv begleiten.
also bereits geleistet. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]:
Nach aktuellen Prognosen und Modellrechnungen So ein Unfug!)
wird die Schwarzarbeit in Deutschland in diesem Jahr
ein rekordverdächtiges Volumen von bis zu 260 Milliar- Damit eine Steuerreform langfristig und nachhaltig
den Euro annehmen. Das entspricht knapp 15 Prozent wirkt, müssen drei Kriterien erfüllt werden: Die Steuern
des Bruttoinlandsprodukts, ist also jeder siebte Euro, der müssen niedrig, fair und einfach ausgestaltet sein. Hier
erwirtschaftet wird. Auch das ist ein interessanter Punkt, hat der Entwurf der Linken konkrete Defizite, auf die ich
den Sie einmal berücksichtigen sollten. jetzt im Einzelnen eingehe. Die Linken fordern nämlich,
dass der Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld
Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, die abgeschafft wird. Es gibt allerdings eine Vielzahl von
(B) Menschen wieder in legale Beschäftigungsverhältnisse Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen. (D)
zu überführen. Das ist der Ansatz, den wir weiter verfol- Dazu gehören zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das
gen. Krankengeld und das Übergangsgeld. Es gibt ein Dut-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zend weiterer Leistungen; ich habe diese drei exempla-
der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE risch herausgegriffen.
LINKE]: Wir haben doch schon einen Niedrig- Wir stellen uns schon die Frage, wie hier die soziale
lohnsektor!) Ausgewogenheit, die Sie sonst immer betonen, gewähr-
leistet wird. Ihre Initiative lässt diese Frage völlig unbe-
Eine wichtige, für uns unverzichtbare Maßnahme dazu
antwortet und ist daher unzureichend.
ist eine grundlegende Reform der Einkommensteuer.
Dafür tritt die FDP in der Regierungskoalition an. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
brauchen spürbare steuerliche Entlastungen, damit sich der CDU/CSU)
legale Arbeit wieder lohnt.
Hier stellt sich einfach die Frage: Warum soll eine Bä-
(Beifall bei der FDP – Anette Kramme [SPD]: ckereifachverkäuferin, die kein Kurzarbeitergeld be-
Das glauben Sie immer noch? – Gegenruf des zieht, mehr Steuern zahlen als ein Facharbeiter, der
Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das glau- Kurzarbeitergeld bekommt und ein höheres Einkommen
ben die seit 1945!) als die Verkäuferin hat? Das ist ein Widerspruch, den Sie
nicht auflösen können.
– Das glaube ich auf jeden Fall. Darum haben wir dieses
Ziel beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Blumenthal, erlauben Sie eine Zwi-
NEN]: Ihr Koalitionspartner klatscht ja gar schenfrage der Kollegin Höll?
nicht!)
Sebastian Blumenthal (FDP):
Jetzt komme ich zu den Linken, die hier die zweite
Vorlage zu diesem Thema eingebracht haben. Man muss Nein, ich möchte den Gedanken zu Ende führen; ich
eine interessante Veränderung Ihrer Einstellung betrach- verzichte.
ten. Vor kurzem gab es eine Pressemitteilung der Frak-
tion der Linken, in der der Einsatz von Konjunkturmaß- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nahmen gefordert wird. Bitte schön, keine Zwischenfrage.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1683
(A) Sebastian Blumenthal (FDP): eine Entscheidung zu treffen, die auf drei Jahre ausge- (C)
Sie verletzen hier den Grundsatz, dass gleich hohe legt ist.
Einkommen gleich besteuert werden müssen. Wo bleibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hier die soziale Ausgewogenheit? Es ist schon bemer- und bei der CDU/CSU)
kenswert, wenn ich als Mitglied der Freien Demokraten
Sie an diesen Aspekt erinnern muss. Vielleicht gehen Sie Frau Lösekrug-Möller, ich möchte Sie noch auf etwas
noch einmal in sich und kommen zu einer vernünftigen anderes hinweisen. Sie haben in Ihrem Antrag darauf
Schlussfolgerung. hingewiesen, dass die OECD empfohlen hat, das Kurzar-
beitergeld auf andere Länder zu übertragen, weil es ein
Abschließend möchte ich sagen: Wenn wir hier eine geeignetes Kriseninterventionsinstrument sei. Sie haben
Verbesserung der Situation der Arbeitnehmerinnen und aber nur die halbe Wahrheit gesagt. Die OECD gibt
Arbeitnehmer erreichen wollen, dann brauchen wir im Deutschland auch auf, jetzt damit anzufangen, darüber
Zuge der Einkommensteuerreform drei konkrete Maß- nachzudenken, wie wir diese Subventionierung wieder
nahmen, nämlich einen flachen und abgestuften Tarif- beenden können.
verlauf, hohe Freibeträge und niedrige Steuersätze. Das
nützt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben schon
den Familien am meisten. Dafür stehen die FDP und die die Lösung!)
Regierungskoalition. Subventionierungen sind manchmal notwendig, aber
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. man muss den Zeitpunkt sehr genau abpassen, ab wann
man diese vielleicht auch wieder beendet.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der FDP)
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von der
In die gleiche Richtung geht auch das Institut für Ar-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
beitsmarkt- und Berufsforschung in einem Gutachten. Es
wird gesagt: Durch das Kurzarbeitergeld kann nicht über
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einen langen Zeitraum dafür gesorgt werden, Arbeits-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich plätze tatsächlich zu erhalten. – Bei der Idee des Kurzar-
glaube, wir sind uns wirklich fraktionsübergreifend da- beitergeldes geht man quasi von einer „Untertunnelung“
rüber einig, dass die Kurzarbeit ein geeignetes und gutes der Krise aus. Es gibt ein Problem, das „untertunnelt“
wird, sodass die Situation nach der Krise genauso wie
(B) Instrument ist, um in der Krise Arbeitslosigkeit abzufe- (D)
dern. Ich glaube, da brauchen wir uns jetzt nicht gegen- vor der Krise ist. Ich habe erhebliche Zweifel daran.
seitig katholisch zu machen.
In dieser Krise geht es auch um erhebliche struktu-
Ich will darauf hinweisen: Kurzarbeit ist eine große relle Probleme. Wenn wir die strukturellen Probleme
Leistung der Solidargemeinschaft – also nicht nur der nicht angehen, dann schmeißen wir viel Geld aus dem
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über Lohn- Fenster heraus. Die Beschäftigten werden gehalten, aber
verzicht ihren Beitrag leisten, oder der Arbeitgeber, die sobald die Zahlung des Kurzarbeitergeldes eingestellt
einen erheblichen Teil der Festkosten weiter tragen müs- wird, zahlen wir für die Arbeitslosigkeit. Ich finde, das
sen –, die dieses Kurzarbeitergeld mit 5 Milliarden Euro ist einfach zu wenig. Das können wir so nicht machen.
finanziert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – der FDP)
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich finde übrigens, dass wir im Ausschuss intensiv darü-
NEN]: Das sollte man nicht vergessen!) ber reden sollten, und ich finde auch, wir sollten darüber
Frau Lösekrug-Möller, da ist es eigentlich nur richtig nachdenken, ob wir dazu nicht eine Anhörung durchfüh-
und fair, dass wir uns intensiv Gedanken darüber ma- ren. Das würde sich wirklich einmal lohnen.
chen, an welcher Stelle das Kurzarbeitergeld dringend Ich will aber noch auf etwas anderes hinweisen: Ich
und sinnvoll eingesetzt werden muss. bin sehr unzufrieden damit, wie die Kurzarbeit mit der
Qualifizierung verknüpft worden ist. 1 Million Men-
Es gibt, glaube ich, gar keinen Zweifel, dass das In- schen befinden sich im Durchschnitt in Kurzarbeit. In
strument der Kurzarbeit in der Krise weiter genutzt wer- dieser Zeit haben insgesamt nur 100 000 Menschen pa-
den soll. Frau Lösekrug-Möller, auch nach Ihrem Bei-
rallel dazu an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen.
trag ist mir aber nicht klar geworden, warum wir heute,
zum jetzigen Zeitpunkt, die Bezugsdauer des Kurzarbei- (Anette Kramme [SPD]: Besser als gar nichts,
tergeldes auf 36 Monate verlängern sollten. Im Moment oder!?)
ist nicht abzusehen, ob diese Form der Laufzeitverlänge-
Das sind nur 10 Prozent, liebe Leute. Das ist einfach viel
rung nötig ist; wir sind gegen die eine, vielleicht auch
zu wenig.
gegen die andere Form der Laufzeitverlängerung. In der
jetzigen Situation, in der keiner genau abschätzen kann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
wie sich die Krise weiterentwickeln wird, ist es falsch, Anette Kramme [SPD]: Besser als gar nichts!)
1684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Brigitte Pothmer
(A) Wir alle wissen, dass wir in Deutschland ein Qualifi- beitergeld steuerfrei sind. Sie werden lediglich zur Be- (C)
zierungsdefizit größter Ordnung haben. Das wäre die rechnung des individuellen Steuersatzes herangezogen.
Chance gewesen, die Krise tatsächlich zu nutzen, dieses Wenn wir nun bestimmte steuerfreie Einkünfte beim
Qualifizierungsdefizit zu verringern. progressiven Verlauf des Einkommensteuertarifs außer
Ansatz lassen würden, dann würde dies nicht nur bedeu-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaube, die ten, dass für diese Einkünfte ein Steuerausfall zu ver-
vier Minuten sind vorbei!) zeichnen ist, sondern auch, dass ein niedrigerer Steuer-
Deswegen lohnt es sich, im Ausschuss auch darüber satz für die übrigen Einkünfte angewendet wird.
noch einmal nachzudenken.
Ich hatte Sie eigentlich immer so verstanden, dass die
Ich glaube, es wird im Ausschuss eine sehr solidari- Linken keine Steuersenkungen wollen. Sie wettern ja
sche Diskussion auf einem guten fachlichen Niveau ge- auch immer gegen unsere Pläne, gerade die Bezieher
ben. Insofern freue ich mich auf die Beratungen. niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Wenn
ich die Worte Ihres Parteivorsitzenden richtig in Erinne-
Danke schön. rung habe, dann hat er sinngemäß gesagt: Diese Steuer-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN senkungen der christlich-liberalen Koalition dürfen nicht
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – sein; denn dadurch werden die Kommunen in die Pleite
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man konnte in getrieben. Aber nichts anderes als eine Steuersenkung
weiten Teilen zustimmen!) mit einer gewissen Unwucht propagieren Sie jetzt, und
zwar völlig inkonsequent.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Frak- Warum sollte der Progressionsvorbehalt nur für das
tion das Wort. Kurzarbeitergeld aufgehoben werden? Diese Frage
wurde bereits gestellt. Was ist mit den anderen zahlrei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld und In-
neten der FDP) solvenzgeld?
(Zuruf von der LINKEN: Hotelübernachtun-
Olav Gutting (CDU/CSU): gen!)
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir müssen den Menschen in dieser Krise Antworten Ein kompliziertes Einkommensteuersystem mit einer
darauf geben, wie wir unser Land aus dem Tal heraus- Vielzahl von Ausnahmen und wiederum Ausnahmen
(B) führen. Hierfür war die Ausweitung und die Verlänge- von diesen Ausnahmen haben wir schon. Wir brauchten (D)
rung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes ganz un- konstruktive Vorschläge zu einer Reform der Einkom-
bestritten eine richtige Maßnahme. mensteuer anstelle solcher Anträge.
(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]) Uns in der Union geht es in allererster Linie um ein
einfacheres und schon deswegen gerechteres Steuersys-
Was wir nicht brauchen, sind solche Anträge wie der tem.
vorliegende von der Linkspartei,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Doch!)
Ihr Antrag, den wir heute debattieren, ist aber in keiner
mit denen populistische Ziele verfolgt werden. Das wird Weise für eine Vereinfachung geeignet.
auch dadurch nicht besser, dass Sie diesen Antrag nun
schon zum zweiten Mal stellen. (Zuruf von der LINKEN: Doch!)
Die Linke will die Abschaffung des Progressionsvor- Grundsätzlich muss gelten, dass sich die Einkommen-
behaltes für Kurzarbeitergeld. Damit will sie anerkannte steuer nach der individuellen Leistungsfähigkeit des ein-
steuerrechtliche Grundsätze aushebeln; zelnen Steuerzahlers richtet. Dazu gehört in diesem Sys-
tem zwingend der Progressionsvorbehalt. Wir wollen
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die sind de- eine Reform der Einkommensteuer, durch die neben der
nen nicht bekannt! – Dr. Heinrich L. Kolb Vereinfachung gerade die Steuerzahler mit mittleren und
[FDP]: Die kennen sie nicht!) niedrigen Einkommen entlastet werden.
denn durch den Progressionsvorbehalt wird ja die Be- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und vor al-
steuerung nach der Leistungsfähigkeit sichergestellt. lem die Reichen!)
Hier verstehe ich Sie nun wirklich nicht. Ich dachte im-
mer, die Linken seien gerade diesem Prinzip verbunden. Das sind doch all die Menschen, die morgens aufstehen,
Wer mehr verdient und mehr erhält, der muss höhere zur Arbeit gehen und hart für ihre Brötchen arbeiten. Sie
Steuern zahlen als derjenige, der weniger hat. zu entlasten, das sind wir ihnen schuldig.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So, wie es denen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
passt!)
Wenn wir mehr Wachstum wollen, dann müssen wir
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, die Sie hier unser Steuerrecht leistungsgerechter gestalten und dür-
stellen, schon etwas verwunderlich. Tatsache ist doch, fen gerade nicht, wie in Ihrem Antrag geschehen, die
dass Lohnersatzleistungen und damit auch das Kurzar- Leistungsfähigkeit ausblenden. Erste Schritte in die rich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1685
Olav Gutting
(A) tige Richtung haben wir in dieser Koalition schon ge- meine Rede mit einem lateinischen Zitat zu beenden, (C)
macht. Das Bürgerentlastungsgesetz, die Absenkung des werde ich sie auch so beginnen: Quousque tandem, can-
Eingangssteuersatzes, die Anhebung des Grundfreibetra- cellaria?
ges, die Rechtsverschiebung des Tarifs und das Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz zusammen entlasten die Wie lange noch wollen Sie diese unsolide Haushaltspoli-
Menschen in diesem Land seit dem 1. Januar um knapp tik fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
22 Milliarden Euro. Union?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)
Abschließend will ich als Fazit festhalten: Unter dem Diese Frage mag vielleicht verfrüht erscheinen, ist
Gesichtspunkt einer gerechten Besteuerung nach der doch die schwarz-gelbe Regierung noch gar nicht so
Leistungsfähigkeit ist im Einkommensteuerrecht der lange im Amt. Aber seien Sie versichert: Aufgrund der
Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld nur folge- Ankündigungen und vor allen Dingen der Nichtankündi-
richtig und deswegen beizubehalten. Ergo werden wir gungen Ihrer Regierung insbesondere in der Finanzpoli-
Ihren Antrag ablehnen. tik werden wir diese Frage immer wieder und bei jeder
Gelegenheit stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Einen ersten Anlass dazu hat uns bereits Ihr erstes
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gesetz gegeben, mit dem Sie unter anderem den Um-
Ich schließe die Aussprache. satzsteuersatz für Übernachtungen von 19 auf 7 Prozent
gesenkt haben. Das war eine offensichtliche Fehlent-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf scheidung. Dies sehen nicht nur wir alleine so.
den Drucksachen 17/523 und 17/255 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind (Beifall bei der SPD)
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Mit unserem heutigen Gesetzentwurf wollen wir Ih-
die Überweisungen so beschlossen. nen die Gelegenheit geben, diesen Fehler wieder gutzu-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: machen Wenn Sie diese Gelegenheit nicht nutzen und
nicht zustimmen, dann werden Sie sich unseren Fragen
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- auch weiterhin stellen müssen. Wir werden Sie wieder
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- und wieder fragen, was Sie denn zu tun gedenken, um
derung des Umsatzsteuergesetzes Ihre Steuergeschenke zu finanzieren. Wir werden Sie
– Drucksache 17/520 – wieder und wieder fragen, wem Sie das Geld wegneh-
(B) Überweisungsvorschlag: men, mit dem Sie Ihre Steuergeschenke finanzieren. (D)
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der LINKEN)
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus Ohne jetzt näher auf die Details des Spendenrechts
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO einzugehen: Der Wähler wird sich schon seinen eigenen
Reim darauf machen, wenn eine Partei Geld geschenkt
b) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/
bekommt und dieses mit Steuergeldern zurückzahlt.
DIE GRÜNEN
(Beifall bei der SPD)
Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zu-
rücknehmen Er wird auch erkennen, dass dies bei FDP und Union mit
– Drucksache 17/447 – größerer Häufigkeit vorkommt und es sich um höhere
Summen handelt als bei den anderen.
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu Ihrer
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie heutigen Chance und unserem Gesetzentwurf. Die Ex-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz perten in der Anhörung, vor allem die aus der Wirtschaft
Ausschuss für Tourismus – ich nenne beispielhaft den BDI und den DIHK; sie
Haushaltsausschuss sind wahrlich nicht SPD-nah –, waren sich beim
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wachstumsbeschleunigungsgesetz einig: Die Umsatz-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- steuerermäßigung für Übernachtungen ist – ich will es
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. vorsichtig formulieren und zitiere aus der Anhörung Pro-
fessor Dr. Homburg – ökonomischer Irrsinn. Denn sie
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster führt ausschließlich zu mehr Bürokratie.
Rednerin der Kollegin Sabine Bätzing von der SPD-
Fraktion das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)
(Beifall bei der SPD) Sie führt nicht zu mehr Wachstum, und sie führt schon
gar nicht zur Senkung der Übernachtungskosten.
Sabine Bätzing (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Kollegen! Da ich beabsichtige, wie vorhin angekündigt, LINKEN)
1686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Sabine Bätzing
(A) Einen Monat nach Inkrafttreten haben sich diese Aus- Aber Koalitionsräson gilt doch nur für das größere (C)
sagen in der Praxis bestätigt. Tatsächlich haben 7 Pro- Ganze. Auch wir haben in unserer Regierungszeit – ich
zent der Hotels die Preise gesenkt, 14 Prozent aber ha- will nichts beschönigen – die eine oder andere bittere
ben sie erhöht. Sie argumentieren immer wieder, dass Pille schlucken müssen.
vorrangig investiert wird (Christian Lindner [FDP]: Und Spende be-
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Richtig! Wird kommen!)
ja auch!) Wir wussten aber genau, was wir jeweils im Gegenzug
und dass nur dort, wo nicht investiert wird, die Preise ge- bekommen und dass es den Kompromiss und die Ab-
senkt werden. Das ist eine clevere Argumentation und sprache wert war. Bei uns gab es kein „Wünsch dir was“
eine geschickte Strategie. Fakt ist leider: Es passiert nach dem Motto: Geld her! Dann bekommt ihr euren
nichts. Die Hotels stecken sich ihr schwarz-gelbes Steu- Wunsch erfüllt.
ergeschenk in die Tasche, und das war es. (Christian Lindner [FDP]: Was war denn mit
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Abwrackprämie?)
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Richard Entsprechende Überlegungen bei Ihnen vermissen
Pitterle [DIE LINKE] – Gisela Piltz [FDP]: nicht nur wir, sondern die ganze Republik. Im Gegenteil:
Wie war das noch mit der Abwrackprämie?) Um das Steuergeschenk durchzusetzen, haben Sie auch
Dies ist auch der Grund, warum sich praktisch jeder noch die widerstrebenden Länder gekauft. Womit, haben
Betroffene in der Republik – Reiseveranstalter, Finanz- Sie uns allerdings bis heute nicht gesagt. Wir fragen uns:
Werden Sie, die CDU, auch an anderer Stelle Steuer-
ämter, Steuerberater und Steuerzahler – über diese Rege-
pläne der FDP mittragen, die selbst von Experten massiv
lung beschwert. Selbst die begünstigten Hotels sind nicht
kritisiert werden, ohne dagegenzuhalten?
glücklich, weil sie mit den Details der Regelung – zum
Beispiel in Bezug auf die Umsatzsteuerausweisung des Wir geben Ihnen mit unserem Gesetzentwurf die Ge-
Frühstücks – nicht zurechtkommen. legenheit, Ihre falsche Entscheidung zu korrigieren und
für Übernachtungen wieder den angemessenen Umsatz-
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Ist doch auch steuersatz zu erheben. Wir fordern von Ihnen – genauso
falsch!) wie die Kanzlerin in ihrer Antrittsrede von der Opposi-
Auch Sie, meine Damen und Herren von der CDU, tion –, an der Verbesserung Deutschlands mitzuwirken.
haben das in weiten Teilen so gesehen. Prominente Mit- Wir fordern Sie auf, individuelle Größe zu zeigen. Wir
glieder Ihrer Fraktion wie der Bundesfinanzminister ha- richten diese Forderung nicht an FDP und CSU, weil wir
ben das durchblicken lassen, und andere, zum Beispiel wissen, dass das wahrscheinlich vergebens ist. Aber wir
(B)
Herr Professor Dr. Lammert, der Präsident dieses Hau- richten sie an die CDU, in der viele Abgeordnete in die- (D)
ses, haben es offen gesagt. Das ist durchaus positiv anzu- ser Sache richtig entscheiden würden, wenn sie sich
rechnen. Leider haben Sie nicht danach gehandelt. trauten. Wenn Sie es nicht für uns tun, dann trauen Sie
sich wenigstens für Ihre Kommunen, Ihre Länder und
(Beifall bei der SPD) den Bund, für den Sie Verantwortung tragen, und erspa-
ren Sie den Gebietskörperschaften Mindereinnahmen in
Es stellt sich mir daher die Frage: Wenn Sie den Feh-
Höhe von 1 Milliarde Euro.
ler erkannt haben, warum haben Sie dem Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz in dieser Fassung dennoch zuge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
stimmt? Streit in der Koalition zu vermeiden, kann nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf
Ihr Argument gewesen sein; denn Sie streiten sich an- von der CDU/CSU: Die Sie schon fünfmal an-
dauernd. Was – das ist die Frage – hat Ihnen die FDP im deren versprochen haben!)
Gegenzug zugesagt? Oder entscheidet die FDP bei Ihnen Wir werden die Nachricht über Ihr Abstimmungsver-
in der Steuerpolitik allein? halten den Bürgern sicherlich nicht vorenthalten. Wir
(Zuruf von der FDP: Leider nicht!) werden das jedes Mal tun, wenn Sie von der Allgemein-
heit Opfer verlangen, obwohl keine Notwendigkeit dafür
Oder – was noch viel schlimmer wäre – wird die Steuer- besteht und es sich um reine Klientelpolitik handelt.
politik in Zukunft auch in anderen Bereichen durch ge-
zielte Spenden bestimmt werden? Beim Ausschließlich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
keitskriterium lässt sich der Verdacht nicht völlig Wir werden jedes Mal den Wähler fragen, ob er es rich-
ausräumen, wie wir vorhin erfahren haben. Bedeutet das tig findet, dass rund 45 000 Hotels mehr Geld bekom-
vielleicht, dass wir uns gegen eine entsprechende men, während er höhere Abgaben und Steuern zahlen
Spende unseren Mindestlohn hätten kaufen können? muss.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden ihn fragen, ob er von der Umsatzsteuerermä-
Wie dem auch sei: Wir überlegen, was die Gründe da- ßigung für Hotels profitiert hat. Wir werden dieses
für waren, dass Sie zugestimmt haben. Das kann man Thema immer wieder bei der Regierung in Zahlen nach-
mit Koalitionsräson begründen. fragen. Alles das können Sie sich mit einer mutigen Ent-
scheidung bei der späteren Abstimmung ersparen.
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Vielleicht auch
mit guten Erkenntnissen!) (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1687
Sabine Bätzing
(A) Ansonsten werden Sie von mir noch öfter hören: „Cete- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
rum censeo: Habitudinem favoris clientium esse abolen- der FDP – Zuruf von der FDP: Die bereiten die
dam.“ Im Übrigen bin ich der Meinung: Ihre Klientelpo- Fusion mit der Linken vor!)
litik gehört abgeschafft.
Die angeblich fehlende sachliche Begründung liefert
Danke schön. die SPD in Bayern im vorgenannten Antrag selbst:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Bundesregierung wird aufgefordert, die deut-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sche Hotellerie wettbewerbsfähiger zu machen, in-
dem sie die Umsatzsteuer für die Hotellerie senkt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/ Wie recht Sie doch haben, liebe Kolleginnen und Kolle-
CSU-Fraktion. gen der bayerischen SPD.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
An dieser Stelle kann ich nur dem wirtschaftspoliti-
Peter Aumer (CDU/CSU): schen Sprecher der Grünen im Bayerischen Landtag,
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Herrn Dr. Martin Runge, recht geben, der die Debatte
ren! Erlauben Sie mir, meine Überraschung darüber aus- um die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes als sehr
zudrücken, dass heute die erste Beratung über Ihren Ge- seicht empfindet. Er sieht es genauso wie die CSU.
setzentwurf auf der Tagesordnung steht, Frau Kollegin
Bätzing. Vielleicht schaffen wir es, dass Sie heute – das (Joachim Poß [SPD]: Seicht ist der Vorgang!)
haben Sie von uns gefordert – die Chance zu einer besse- – Seicht ist Ihr Vorgehen, nicht unseres.
ren Erkenntnis nutzen. Entscheidungen, die dieses Hohe
Haus mehrheitlich getroffen hat, zu akzeptieren, gehört (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu einer guten Zusammenarbeit.
Er hat recht, weil es Ihnen nicht um die Sache geht,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern weil
In Ihrem Gesetzentwurf, meine sehr geehrten Damen versucht wird, etwas zu konstruieren. Käuflichkeit,
und Herren von der SPD, bezeichnen Sie die Ermäßi- Klientelpolitik und vieles mehr führen Sie ins Feld. Ih-
gung des Umsatzsteuersatzes für Beherbergungsleistun- nen geht es gar nicht um Inhalte. Doch was macht die
gen durch die christlich-liberale Koalition als eklatante SPD bei dieser Debatte? Sie weiß heute nicht mehr, was
Fehlentscheidung. sie gestern gesagt hat.
(B) (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Die christlich-liberale Koalition hat eine klare Linie,
GRÜNEN) einen klaren Kurs. Wir haben das, was wir in unseren
– Danke schön. Ich hoffe, dass Sie auch gleich noch klat- Wahlprogrammen versprochen haben, gehalten und
schen. – Die SPD beantragte im Bayerischen Landtag müssen nicht die in der Vergangenheit gutgeheißenen
bereits im Jahr 2006 – das sollte man bitte nicht verges- Forderungen nun bekämpfen. Wir stehen zu unserer Ver-
sen; ich zitiere wörtlich –: einbarung im Koalitionsvertrag.
Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fluss
Im Folgenden führe ich einige inhaltliche Aspekte an,
– man spricht bei der SPD von Einfluss – wenn Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Opposition, diese überhaupt sehen und zur Kenntnis
dahin gehend geltend zu machen, dass der Bund für
nehmen wollen.
die Hotellerie den reduzierten Mehrwertsteuersatz
in Höhe von 7 % einführt. Durch die Ermäßigung der Umsatzsteuer bei Beher-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bergungsleistungen stärken wir die internationale Wett-
bewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gastrono-
Wie kommt der plötzliche Meinungsumschwung zu- miegewerbes. Der überwiegende Teil der europäischen
stande? Jetzt, da das Anliegen der SPD erfüllt ist, kom- Mitbewerber in dieser Branche profitiert bereits von er-
mentiert der bayerische SPD-Landesvorsitzende Pronold mäßigten Umsatzsteuersätzen, Herr Poß.
die Maßnahme wie folgt: Die CSU hat Subventionen
ohne sachliche Begründung durchgesetzt, (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Warum müssen die Übernachtungen
(Beifall bei der SPD) billiger werden?)
und zwar zugunsten ihrer Klientel. Da drängt sich doch Wenn Sie zu Ende gesammelt haben, nehmen wir die
die Frage auf: Gehört die Bayern-SPD mittlerweile zur Box gern mit. Wir finden bestimmt eine gute Gelegen-
Klientel der CSU? Meines Erachtens sollte sich die SPD heit, den Inhalt zu verwenden.
in Bayern vergegenwärtigen, dass sie, nur weil wir das
getan haben, was die SPD gefordert hat, noch nicht zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Klientel der CSU gehört. neten der FDP)
1688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Peter Aumer
(A) Ich vertraue weiterhin auf die Prognosen des Deut- Steuerermäßigung für die Übernachtung in Hotels alt, (C)
schen Hotel- und Gaststättenverbandes und das zielge- und schon hat sie für viel Aufregung und die heutige De-
richtete Handeln jedes einzelnen Hoteliers und Unter- batte im Bundestag gesorgt. Nun fragen sich die Bürge-
nehmers. Der Großteil dieser Unternehmer ist im rinnen und Bürger: Wissen die im Bundestag eigentlich,
mittelständischen Gewerbe tätig. was sie da tun?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Gisela Piltz [FDP]: Ja! Wir schon! – Christian
Bereits jetzt werden Investitionsmaßnahmen umgesetzt, Lindner [FDP]: Wisst ihr es denn auch?)
die konkrete Impulse in unserer wirtschaftlich schwieri- Wie sieht die Regelung in der Praxis aus? Durch die
gen Zeit geben. Umsatzsteuersenkung sind weder die Hotelpreise gesun-
Unsere tourismuspolitische Sprecherin Marlene ken – nach Angaben vom Focus dieser Woche sind sie
Mortler hat mir von einem Gespräch erzählt, bei dem teilweise sogar gestiegen –, noch haben die Hotelbe-
deutlich wurde, dass gerade diejenigen, die Urlaub auf schäftigten mehr Geld bekommen. Hingegen haben Sie
dem Bauernhof anbieten, im Durchschnitt 5 000 Euro im für mehr Bürokratie gesorgt. Jetzt werden die Übernach-
Jahr investieren und diese Mittel zielgerichtet für Inves- tung mit 7 Prozent, das Frühstück und andere Zusatzleis-
titionen zur Steigerung der Qualität verwenden. Der da- tungen des Hotels aber mit 19 Prozent besteuert. Diese
durch ausgelöste Impuls ist meines Erachtens ein wichti- Zusatzleistungen müssen auf der Rechnung extra ausge-
ger Beitrag gewesen. wiesen werden. Die Hotels müssen sich neue Software
zulegen. Das ist für die großen Hotelketten kein Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) blem, für Besitzer kleinerer Hotels jedoch eine zusätzli-
Mit Ihrem Verhalten schüren Sie nicht nur die Politik- che finanzielle und arbeitsmäßige Belastung.
verdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger, meine sehr Aber auch die Hotelgäste haben das Nachsehen. Bis-
geehrten Damen und Herren der Opposition; Sie verletz- her bekam zum Beispiel eine Betriebsrätin oder ein Be-
ten auch das Vertrauen in die Wirksamkeit und Nachhal- triebsrat nach einer Schulung eine Rechnung des Hotels,
tigkeit der Politik. Leisten Sie wirkungsvolle und kon- die beim Arbeitgeber zur Auszahlung eingereicht wer-
struktive Oppositionsarbeit! Das bisher Dargebotene den konnte. In dieser Rechnung war die Übernachtung
erscheint eher spärlich. mit Frühstück in einem Gesamtbetrag ausgewiesen. Da
Die christlich-liberale Koalition hat einen ersten Teil ich vor meiner Wahl in den Bundestag als Rechtsanwalt
ihrer Wahlversprechen tätig war, rufen mich heute die Mandanten an und fra-
gen, ob es sein könne, dass der Arbeitgeber für das mit
(Joachim Poß [SPD]: Genau!) 12 Euro ausgewiesene Frühstück nur noch den steuerli-
(B)
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz umgesetzt, chen Pauschbetrag von 4,80 Euro bezahlen müsse. Sie (D)
Herr Poß, und damit Wort gehalten. sind ziemlich aufgebracht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Genauso geht es vielen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern im Außendienst sowie anderen Dienstrei-
Mit Ihrer Politik der Willkür werden Sie sicherlich nicht senden. Auch sie finden auf der Hotelrechnung Positio-
das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen. Das hat nen, die vom Arbeitgeber nicht mehr in voller Höhe
auch die letzte Wahl deutlich gezeigt. erstattet werden; wenn doch, werden sie als vermögens-
Ich empfehle Ihnen, die Menschen und auch Ihre werte Vorteile versteuert
Wählerinnen und Wähler mit Blick auf die in diesem
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ein geld-
Haus getroffenen Entscheidungen ernst zu nehmen.
werter Vorteil ist das!)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
und auch der Sozialversicherungspflicht unterworfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das zum Thema „Arbeitgeberbeiträge senken!“.
Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Sehr gute Rede!) Kein Wunder, dass der Spiegel in dieser Woche über
die Klagen der Hotelbesitzer berichtet, wonach viele
ihrer Gäste es vorziehen, statt in ihrem Hotel bei
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: McDonald’s nebenan zu frühstücken. Verstehen Sie das
Herr Kollege Aumer, auch Ihnen gratuliere ich im unter „Beschleunigung des Wachstums“?
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall) Wenn die Anzahl der Frühstücksgäste bei McDonald’s
Jetzt hat das Wort der Kollege Richard Pitterle von weiter wächst, sollte man anfangen, die Konten der FDP
der Fraktion Die Linke. zu beobachten.
Lassen Sie mich gerade in die Richtung der Grünen – Haben Sie einmal Ihre gesehen? Sie ziehen hier eine
etwas zum Begriff der Klientelpolitik sagen. Wenn Sie populistische Nummer ab, aber trotzdem sind Sie in der
diesen Ausdruck in den Mund nehmen, dann fällt mir Wählergunst noch nicht gestiegen. Sie haben den Partei-
mein alter Lehrer ein, der immer sagte: Wenn man mit vorsitzenden gewechselt, Sie sind trotzdem noch im Tal.
dem Finger auf jemanden deutet, sollte man bedenken, Was wollen Sie eigentlich noch machen, um in der Wäh-
dass drei auf einen selbst zurückzeigen. Bei Ihnen kom- lergunst zu steigen? Sie bleiben bei 20 Prozent. Da kön-
men zehn Finger zurück. Es gibt doch keine klientelisti- nen Sie machen, was Sie wollen.
schere Partei als Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP – Kerstin Andreae [BÜND- Das wundert mich natürlich auch nicht. Ihr stellver-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) tretender Parteivorsitzender Wowereit, den ich nun ein
paar Jahre kenne, kritisiert diese Spende und sagt, das sei
Ich erläutere Ihnen das einmal an einem klassischen ein Riesenskandal. Das ist derselbe Wowereit, der sich
Beispiel. Wie wir gerade lernen, erhält die Solarwirt- von der Berlinwasser Holding ein Spenden-Dinner aus-
schaft in Deutschland durch Subventionen Margen, von richten ließ, nachdem er sie vorher teilprivatisiert hatte.
denen andere nur träumen können. Wer kümmert sich Ein Spenden-Dinner eines teilprivatisierten Unterneh-
darum, dass es der Solarwirtschaft weiterhin traumhaft mens, dessen Einnahmen sich ausschließlich aus Zwangs-
geht? Bündnis 90/Die Grünen! Sie sind sich nicht zu gebühren der Bürger rekrutieren! Dieser Wowereit
schade, Ihre ganzen Vorfeldorganisationen wie die Deut- macht nun die Backen dick über Parteispenden.
sche Umwelthilfe – deren Geschäftsführer ist zufällig Ihr
ehemaliger Staatssekretär Baake – in Marsch zu setzen, (Sabine Bätzing [SPD]: Der hat aber keinen
damit sie ihre dicken Subventionen behalten können. Gesetzentwurf eingebracht!)
Diese Organisationen haben keine Umsatzrückgänge Ich lache mich tot.
von 6 Prozent. Sie sind die Klientelpartei. Wenn ich ge-
nauso niveaulos wäre wie Sie, dann würde ich Ihnen Oder nehmen Sie Herrn Gabriel: Er fordert uns jetzt
jetzt Ihre ganzen Spenden aus der Solarwirtschaft auf- auf, diesen Vorgang juristisch überprüfen zu lassen.
zählen, wie es der Kollege Altmaier gemacht hat. Liebe Freunde, juristisch ist an dem Ding alles einwand-
(B) frei. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hier ist doch kein Parteitag!)
Das erspare ich Ihnen aber und uns genauso.
Wir haben alles deklariert, alles ist geklärt.
Besonders lächerlich wird es dann, wenn Ihr Ge- (Nicolette Kressl [SPD]: Ist denn schon
schäftsführer Beck daherkommt und, um uns Klientelis- Fastnacht?)
mus nachzuweisen, uns eine Beitragsreduzierung von
5 Prozent durch die DKV vorhält. Ich habe schon Angst Hat er denn schon die 150 000 Euro, die die SPD einen
bekommen: Gestern haben wir die Einladung eines Deli Monat vor Einführung der Abwrackprämie von der Au-
Lama, einer Art Salatservice, bekommen. In dieser Ein- tomobilindustrie bekommen hat, nach Haiti gespendet?
ladung stand: Mitarbeiter und Abgeordnete der FDP- Wenn er es gemacht hat, dann legen Sie doch den Über-
Fraktion erhalten einen Rabatt von 15 Prozent. – Da weisungsträger auf den Tisch.
habe ich gesagt: Um Gottes willen, werft das Ding weg!
(Beifall bei der FDP)
Holt euch bloß nicht einen Salat mit einem Preisrabatt
von 15 Prozent. Sonst kommt der Kollege Beck wieder Ihre albernen Anträge werden wir ablehnen; das ist
und haut uns das Ganze um die Ohren. – Kollege Beck klar.
würde natürlich nie auf die Idee kommen, seiner eigenen
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Fraktionsvorsitzenden vorzuhalten, dass sie im Wahl-
NEN]: Hochmut kommt vor dem Fall!)
kampf forderte, einen Toyota Prius zu kaufen, wo doch
gleichzeitig Herr Al-Wazir im Wahlkampf für einen sehr Was wir allerdings ernst nehmen werden, ist das Thema
günstigen Preis einen Toyota Prius gefahren ist. Das Parteienfinanzierung. Darauf können Sie sich verlassen.
würde er nie tun. Wir werden sehr genau schauen, wie sich Parteien in
Deutschland finanzieren, insbesondere wenn sich Par-
(Beifall bei der FDP) teien aus Beteiligungen an Verlagsgesellschaften finan-
Uns aber einen Rabatt vorzuhalten, der jedem Kegelklub zieren,
gewährt wird, dazu sind Sie sich nicht zu blöd. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Am Schlimmsten ist die SPD. Ihnen kann man als
Einzigen keine Klientelpolitik vorwerfen. Sie haben indem sie von der parteieigenen Gesellschaft zweistel-
keine Klientel mehr. Sie haben einen Rest von Wählern, lige Millionenbeträge pro Jahr abkassieren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1691
Dr. Martin Lindner (Berlin)
(A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und die ersten Umfragen haben das klar ergeben. Im Gegen- (C)
Leiharbeiter beschäftigen!) teil, die Preise gehen sogar leicht nach oben. Geschäfts-
reisen – auch das ist Fakt – verteuern sich, weil weniger
und den Menschen, denen sie diese Medien zumuten, abgesetzt werden kann. Das Steuersystem wird durch
überhaupt nicht sagen, dass hinter dieser Zeitung, hinter weitere Ausnahmetatbestände nicht einfacher, sondern
diesem Medium eine Partei steckt, wenn auch nur mit ei- komplizierter.
ner Minderheitsbeteiligung. Ich lese Ihnen mit Erlaubnis
des Herrn Präsidenten – – Lassen Sie mich noch eines sagen: Der CSU-Mann
Guttenberg wurde heute Morgen als der große Ord-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nungspolitiker bezeichnet, und es wurde viel über Ord-
Nein, Herr Lindner, es ist zwar Ihre erste Rede, aber nungspolitik geredet. Als Neuling in diesem Parlament
Sie überziehen jetzt schon die zweite Minute. hatte ich wirklich die Hoffnung, da auch einmal Taten zu
erleben. Aber wenn Sie diese Regelung, die dem, was
Sie bei einer Umsatzsteuerreform brauchen und wollen,
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
diametral gegenübersteht und um 180 Grad entgegen-
Dann erspare ich Ihnen das Zitat von Inge Wettig- steht, als eine Maßnahme verkaufen wollen, die in die
Danielmeier. richtige Richtung geht, dann müssen Sie wirklich mit an-
Ich sage Ihnen aber eines: Wir werden dafür sorgen, deren reden. Hier im Parlament nimmt Ihnen das nie-
dass in diesem Bereich genauso viel Transparenz herr- mand ab. Das ist einfach unglaubwürdig.
schen wird und jeder Bürger erfahren wird,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schluss und bei der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: Das
jetzt!) war ja auch eine Fastnachtsrede!)
dass nicht die Genialität von Herrn Gabriel oder von Wir haben im Finanzausschuss nach dem Normen-
Herrn Steinmeier Redakteure dazu verführt hat, ein sol- kontrollrat gefragt. Ein Redner hat hier von Tricksen,
ches Loblied auf sie zu singen, sondern dass das der Be- Täuschen, Tarnen gesprochen; genau das haben Sie ge-
teiligung der SPD an dem entsprechenden Verlag zu ver- macht. Sie haben abgelehnt, dieses Gesetz durch den
danken ist. Verlassen Sie sich darauf: Transparenz bei Normenkontrollrat prüfen zu lassen. Jetzt sagt die Bun-
der Parteienfinanzierung wird ganz oben auf der Agenda desregierung, dass alle Gesetze geprüft werden sollen.
dieser Regierung stehen! Sie sind gerade noch durch die Lücke gehuscht, weil Sie
nicht wollten, dass unabhängige Experten Ihnen vor-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sabine
rechnen, was das an zusätzlichen Bürokratiekosten be-
Bätzing [SPD]: Wir freuen uns darauf!)
deutet. Das haben Sie vermieden, weil Sie schlicht und
(B) (D)
einfach Angst vor der Wahrheit hatten.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lindner, auch Ihnen gratuliere ich zu Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
rer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Man hat aber bei der SPD und der LINKEN)
gemerkt, dass Sie im Landesparlament von Berlin schon Der Kollege Hinsken – Herr Aumer kommt aus Re-
ausreichend Zeit zum Üben hatten. gensburg, habe ich gerade gesehen – hat hier als Nieder-
(Beifall) bayer die geringe Entfernung zu Schärding erwähnt.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Gambke von (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Fakten!
Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen Fakten hören!)
Ich komme aus Niederbayern und war, als ich den Inn
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entlanggeradelt bin, auch in Schärding, weil es das
NEN): schönste Barockstädtchen Österreichs ist. Die Mehr-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wertsteuer war jedenfalls nicht der Grund, warum ich
Herr Lindner, Sie nehmen zwar jetzt die Gratulationen dort war. Dann bin ich nach Breitenberg im Bayerischen
für Ihre erste Rede entgegen, ich möchte Sie aber doch Wald, 5 Kilometer von der österreichischen Grenze ent-
bitten, Ihre Aufmerksamkeit kurz auf das zu richten, was fernt, gefahren, um von dort auf den Dreisessel zu mar-
ich zu sagen habe. schieren. Auch hier spielte die Mehrwertsteuer keine
Ich habe den Eindruck, Herr Lindner, dass Sie hier Rolle.
mit sehr viel heißer Luft versucht haben, einen Vorgang Die Niederbayern sollten da mal hinhören. Den Cam-
schönzureden. Ich habe keinerlei Fakten gehört. pingplatz in Rostock vergleichen Sie mit einem Hotel in
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Waren Sie Nizza. Es ist doch absoluter Blödsinn, anzunehmen, dass
draußen? – Weiterer Zuruf von der FDP: da Wettbewerb eine Rolle spielt. Das können Sie doch
Was?) niemandem erzählen.
Doch die Fakten sollten Sie sich einmal anhören: Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Steuerermäßigung für Hotels kommt beim Kunden nicht Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Waren Sie
an; mal in Rostock? Oder war Niederbayern und
Berlin bisher alles?)
(Nicolette Kressl [SPD]: Das wollte er ja auch
gar nicht, hat er gesagt!) – Nein. Ich wollte nur die Begründung erwähnen.
1692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
So ist es; tut mir leid. Herr Kollege Gambke, erlauben Sie eine Nachfrage
des Kollegen Hinsken?
(B) (D)
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Ich bin ein niederbayerischer Landsmann, aber ich Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
stelle fest: Sie verstehen vielleicht viel vom Radfahren Bitte sehr.
und vom Wandern, aber von der Hotellerie relativ wenig.
Sie haben bei Ihrer Wanderung durch Niederbayern und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nach Schärding vielleicht alles Mögliche gemacht, aber Bitte schön, Herr Hinsken.
nicht mit den Hoteliers gesprochen; sonst hätten Sie mit-
bekommen, dass diese sehr große Schwierigkeiten ha-
ben, überhaupt über die Runden zu kommen. Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Ich möchte mich kurzfassen, Herr Gambke. Ich
Jetzt meine Frage: Was sagen Sie zu der Aussage Ih- möchte Ihnen empfehlen, einmal nachzulesen, was Herr
res wirtschaftspolitischen Sprechers im Bayerischen Dr. Runge genau gesagt hat. Da finden Sie das Gegenteil
Landtag, Herrn Dr. Runge, dass diese Mehrwertsteuer- von dem, was Sie hier ausgeführt haben. Er lag richtig,
senkung dringend erforderlich ist, dass sie geboten ist und Sie liegen falsch. Wenn Sie auf den Pfad der Tugend
und dass sie unter allen Umständen schnellstmöglich zurückkehren und sich von ihm etwas sagen lassen, dann
durchgesetzt werden muss? Wollen Sie dem widerspre- liegen auch Sie in Zukunft richtig.
chen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!) der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Was war
oder welche Meinung vertreten Sie hier? die Frage?)
Diese Aussage hat er im April letzten Jahres getrof- Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
fen, also wenige Monate vor den Bundestagswahlen. Bei
Herr Hinsken, Sie können nicht einfach ignorieren,
den Grünen weiß anscheinend die Rechte nicht mehr,
was mir in schriftlicher Form vorliegt. Es tut mir leid,
was die Linke tut. Das ist das große Problem. Darum
Sie haben nicht zu Ende gelesen. Sie sollten nicht das
wäre es gut, wenn Sie sich erst einmal informieren wür-
herauslesen, was Sie lesen oder hören wollen, sondern
den, bevor Sie hier das Wort ergreifen.
das, was wirklich geschrieben und gesagt wurde.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der sucht
ja auch an der pommerschen Grenze nach Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Was Sie hier zum
Nizza!) Besten gegeben haben, erinnert mich an den Cheflob-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1693
Dr. Thomas Gambke
(A) byisten der Tourismus- bzw. Hotelleriebranche, aber tag bei der dpa lesen können – ich darf zitieren –, dass (C)
nicht an jemanden, der ernsthaft will, dass wir mit der „vor allem kleinere Betriebe“ diese Reduzierung „für die
Umsatzsteuerreform weiterkommen, der sich ernsthaft Modernisierung ihrer Bäder, Fenster, Heizungs- und
Lüftungsanlagen oder die Fortbildung ihrer Mitarbeiter
(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Er heißt
nutzen“ wollen. Anders, als Sie glauben machen wollen,
doch Ernst!)
wenn Sie in diesem Zusammenhang von Hoteliers bzw.
mit dem Thema beschäftigt, wie man zum Beispiel das von Fünfsternehäusern sprechen, heißt es im Übrigen
Wachstum beschleunigt, und der keine Klientelbeglü- weiter – das hätten Sie vor Ihrer Rede wissen können –:
ckungspolitik machen will.
Die Branche sei in Deutschland im Vergleich zum
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr seid Ausland sehr mittelständisch geprägt. Der Anteil
doch die Klientelpartei!) der großen Ketten mache gerade einmal gut
3 Prozent der fast 38 000 Betriebe aus.
Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
Damit ist diese Maßnahme auch unter konjunktur-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) politischen Gesichtspunkten viel treffsicherer als all das,
was die SPD mit ihrem Bundesfinanzminister Steinbrück
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beschlossen hat.
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gambke.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Pein-
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich, peinlich!)
Sehr gerne.
Wer hier glaubwürdig über Ordnungspolitik reden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und bei den Wählern Verständnis dafür erzeugen will, Herr Kollege Gambke, Sie haben die Möglichkeit, zu
dass die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen erwidern.
steigen, sollte nicht für die eigene Klientel, die Hotelbe-
sitzer und Steuerberater, noch etwas aus der Kasse neh- Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
men. Vielen Dank. – Ich habe sehr häufig auch andere
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Solarwirt- Stimmen aus Ihrer Partei gehört. Da ging es um Preise
schaft!) für Übernachtungen. Das können Sie jetzt nicht einfach
wegdrücken.
Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie mit den Grünen
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Für mehr und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Subventionen für die Solarwirtschaft!) LINKEN)
für die Abschaffung der Umsatzsteuerermäßigung. Ich habe auch etwas von Wettbewerb gehört.
Danke schön. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir wol-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len keinen ruinösen Wettbewerb! Wir wollen
sowie bei Abgeordneten der SPD) gesunden Wettbewerb!)
Sie sollten sich einmal dahin gehend sortieren, was
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie wirklich wollen. Warum haben Sie nicht zumindest
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Vereinbarungen getroffen, in denen Sie nachweislich
Kollegen Christian Lindner. festlegen, wie hoch die Investitionen sein sollen? Ich
sage noch einmal: In Frankreich wurde dies gemacht und
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ein nicht eingehalten. Wir wissen ja, was man von freiwilli-
Lindner kommt selten allein!) gen Vereinbarungen zu halten hat. Aber Sie haben sich ja
noch nicht einmal bemüht, so etwas zu vereinbaren.
Christian Lindner (FDP):
Herr Präsident, vielen Dank. – Ich will Ihren Redebei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
trag zum Anlass nehmen, auf ein eklatantes Missver- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
ständnis hinzuweisen, dem Sie und im Übrigen auch die LINKEN)
antragstellende Fraktion unterliegen. Hier wird nämlich Jetzt wollen Sie uns aber verkaufen, dass da etwas pas-
fortwährend davon gesprochen, dass die Hauptintention siert. Es tut mir leid, aber das ist nicht sehr glaubwürdig.
der Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für die Hotelle-
rie gewesen sei, Preissenkungen für Hotelgäste zu errei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
chen. Das ist ein Irrtum. Diese Maßnahme ist deshalb in
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz eingeordnet wor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
den, weil wir uns davon einen Konjunkturimpuls erhof- Jetzt kommen wir zum letzten Redner zu diesem Ta-
fen. gesordnungspunkt. Es handelt sich um Ingbert Liebing
von der CDU/CSU-Fraktion.
Tatsächlich zeigen aktuelle Berichte, dass dieses Ge-
setz diesen Zweck erfüllt. So hätten Sie heute Nachmit- (Beifall bei der CDU/CSU)
1694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Ingbert Liebing (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Sabine Bätzing [SPD]: Uns war das Allge-
Herren! Die Oppositionsfraktionen von SPD und meinwohl wichtiger!)
Bündnis 90/ Die Grünen beantragen mit gleicher Zielset-
Diese Anträge sind auch in der Sache daneben; denn
zung die Rücknahme eines Gesetzes, das der Deutsche
Sie schüren Neidkomplexe, indem Sie das Beherber-
Bundestag am 4. Dezember beschlossen hatte und das
gungsgewerbe darstellen, als bestehe es nur aus wenigen
erst seit vier Wochen in Kraft ist. Ich finde es schon er-
Hotelketten oder einigen reichen Hoteliers, die sich die
staunlich, welche Schlüsse Sie nach vier Wochen ziehen
Taschen vollstopfen. Davon ist doch die Rede. Welches
können, wenn es um die Frage geht, ob ein Gesetz funk-
Bild haben Sie eigentlich von der touristischen Branche
tioniert oder nicht.
in unserem Land? Diese Branche steht in einem harten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wettbewerb, der nicht zuletzt deswegen in Europa härter
geworden ist, weil inzwischen 21 Länder um uns herum
Der Branche sollte man etwas mehr Zeit geben, zu zei-
den abgesenkten Mehrwertsteuersatz eingeführt haben –
gen, was möglich ist und was nicht.
nicht zuletzt deshalb, weil der damalige SPD-Finanz-
Diese Anträge sind in der Form und in der Sache minister Steinbrück einer entsprechenden EU-Regelung
– dies haben wir heute erlebt – Klamauk und kein Bei- ausdrücklich zugestimmt hat.
trag zur Lösung der Probleme unseres Landes.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nun argumentieren Sie, es müssten auch die Preise sin-
Dabei ist es überhaupt kein Geheimnis, Herr Gambke, ken, wenn es um den Wettbewerb mit den Nachbarlän-
dass es auch in unserer Fraktion unterschiedliche Auf- dern geht. Ich halte es schon für bedauerlich, dass man
fassungen zu diesem Thema gegeben hat. Ihnen erst erklären muss, dass Wettbewerb nicht nur
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE über den Preis, sondern auch über die Qualität geführt
GRÜNEN]: Hört, hört!) wird. Entscheidend ist das Preis-Leistungs-Verhältnis
und nicht nur ein Preiskampf.
Es gibt nicht wenige, denen eine Diskussion über dieses
Thema im Zusammenhang mit der gesamten Umsatz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
steuerproblematik lieber gewesen wäre. Aber für den
Budenzauber, den Sie hier veranstalten, hat bei uns nie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
mand Verständnis. Herr Kollege Liebing, der Kollege Gambke würde Ih-
nen gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
Die Anträge sind in der Form daneben; denn es ist Ingbert Liebing (CDU/CSU):
schon ein merkwürdiger Stil, Debatten und Entscheidun- Ja, gerne.
gen, die gerade erst geführt und getroffen wurden, we-
nige Wochen später wieder aufzuwärmen. Wenn es die
Strategie der Opposition sein soll, in dieser Wahlperiode Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
immer die Schlachten von gestern zu führen, dann ist das Bitte schön.
ein Armutszeugnis für die Opposition.
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielen Dank, Herr Kollege. – Wenn Sie von Wettbe-
Wenn Sie ankündigen, Frau Kollegin Bätzing, dass sie werb sprechen, wie kommentieren Sie dann die Mel-
das regelmäßig machen wollen, dann erst recht. Offen- dung, dass Deutschland nach dem Sparkassen-Touris-
sichtlich haben Sie keine besseren Argumente und The- musbarometer Spanien und Italien in Bezug auf
men, als dass Sie uns mit längst ausdiskutierten und ent- Übernachtungen als Marktführer in der EU abgelöst hat?
schiedenen Sachfragen kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingbert Liebing (CDU/CSU):
Sabine Bätzing [SPD]: Die zu Misserfolgen Ich gebe Ihnen dazu gern eine passende Antwort, weil
führen!) wir, die Tourismuspolitiker unserer Fraktion, gerade ges-
tern mit Professor Feige, der dieses Tourismusbarometer
Für mich ist es schon bezeichnend – das ist schon ge-
erstellt hat, und dem Sparkassen- und Giroverband zu-
sagt worden –, dass es auch in Ihren Reihen nicht wenige
sammengesessen haben. Sie haben aus ihrer Gesamtbe-
gegeben hat und gibt, die dieser Umsatzsteuersenkung
trachtung ein Fazit gezogen, weil wir gefragt haben, was
für das Beherbergungsgewerbe sehr wohl etwas Positi-
man jetzt tun müsse, um der Branche zu helfen. Sie ha-
ves abgewinnen können.
ben uns Folgendes gesagt: Entscheidend sind Innovatio-
(Sabine Bätzing [SPD]: Zu dieser Zeit nie- nen, Investitionen und die Stärkung der Wettbewerbsfä-
mals! Vor 14 Jahren!) higkeit in Europa.
Die Tourismuspolitiker Ihrer Fraktion im Tourismusaus- Das ist das Fazit aus dem Tourismusbarometer. Genau
schuss vertreten dies; aber sie sind heute nicht einmal deswegen senken wir den Umsatzsteuersatz: für Innova-
hier. Wo sind sie denn? Wahrscheinlich ist es ihnen pein- tion, für Investition und für eine bessere Wettbewerbsfä-
lich, was Sie hier an Anträgen vorgelegt haben. higkeit in Europa.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1695
Ingbert Liebing
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tische Aufwand, der die Beschränkung auf die Beherber- (C)
Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Faire gungsleistung erfordert, nämlich gar nicht.
Löhne!)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Wirt-
Ein Beispiel: Ein Betrieb in der Schweiz hatte im ver- schaftsverbände sind dagegen!)
gangenen Jahr bei einem Umsatz von 1 Million Euro ei-
Mit entsprechender EDV-Software ausgerüstet sind die
nen um 125 000 Euro höheren Ertrag als sein deutscher
marginalen Änderungen der Stammdaten leicht zu be-
Kollege. Über diesen Ertrag kann er verfügen, um ein
wältigen – so ein Hotelier. Ein anderer sagt: Da wir das
besseres Preis-Leistungs-Verhältnis zu erzielen, egal ob
Frühstück aus grundsätzlichen Erwägungen stets ge-
durch Preissenkungen oder für Investitionen in bessere
trennt aufführen, gibt es keinen bürokratischen Auf-
Qualität. Bei der Qualität haben wir in Deutschland
wand. – Das sind Antworten auf die Panikmache, die Sie
Nachholbedarf. An der Erkenntnis führt kein Weg vor-
betreiben.
bei. Wir kennen doch Betriebe im Charme der 70er- und
80er-Jahre. Aber es gibt auch Betriebe, die top sind, weil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sie in den letzten Jahren investiert haben. Aber wer top
ist, muss auch viel tun, um top zu bleiben. Für diese In- Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Op-
vestitionen leisten wir einen Beitrag. position, nur auffordern: Beenden Sie endlich Ihre un-
sägliche Kampagne! Sie schaden dem Ansehen einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hellmut Branche. Sie hat es nicht verdient, dass Sie Ihre parteipo-
Königshaus [FDP]: So ist das!) litischen Spielchen auf ihrem Rücken austragen.
Das Bild von einigen wenigen reichen Hoteliers, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sie von der Branche zeichnen, geht an der Wirklichkeit Sabine Bätzing [SPD]: Beenden Sie Ihre Kli-
völlig vorbei. Wir haben es mit einer stark mittelstän- entelpolitik!)
disch geprägten Branche zu tun. Es gibt insgesamt
Beteiligen Sie sich lieber an der Lösung der tatsächli-
45 000 Betriebe. Dreiviertel aller Hotels verzeichnen ei-
chen Probleme unseres Landes. Davon gibt es genug.
nen Jahresumsatz von weniger als 500 000 Euro. Dazu
gehören kleine Landpensionen und Bauernhöfe mit we- Herzlichen Dank.
nigen Ferienwohnungen, hinzu kommen Campingplätze
und zahlreiche private Kleinvermieter mit ein oder zwei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Appartements. Zur Branche gehören auch über Sabine Bätzing [SPD]: Die werden Sie auch
350 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Zehntau- nicht lösen!)
sende Auszubildende. Sie alle profitieren davon, wenn
(B) es ihrem Betrieb besser geht, wenn er wettbewerbsfähi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
ger ist. Die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Branche Ich schließe die Aussprache.
ist ein wichtiger Grund, warum wir dieses Gesetz genau
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
so gestaltet haben.
auf den Drucksachen 17/520 und 17/447 an die in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Die Senkung des Umsatzsteuersatzes ist ein Bestand- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
teil des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Das Gesetz
trägt diesen Namen nicht ohne Grund. Es geht um neues Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Wachstum. Ich bin überzeugt: Hiermit schaffen wir Beratung des Antrags der Abgeordneten
neues Wachstum; denn wir geben den Betrieben Luft für Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst,
Investitionen. Ich habe 300 Hotels, Pensionen und Cam- Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der
pingplätze in meinem Wahlkreis angeschrieben und Fraktion DIE LINKE
nachgefragt, wie die neuen finanziellen Spielräume ge-
nutzt werden. Mir wurden viele Beispiele genannt, wie Verbesserung der Rentenanwartschaften von
investiert wird. Ein renommiertes Hotel wollte Langzeiterwerbslosen
900 000 Euro investieren. Die Bank hat das nicht finan-
– Drucksache 17/256 –
ziert. Die Branche ist derzeit schlecht geratet. Nach die-
ser Gesetzesänderung ist die Wirtschaftlichkeit des Be- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
triebes besser. Der Betrieb bekommt den Kredit. Es wird Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
investiert. Das sind 900 000 Euro, die auch dem Hand- Haushaltsausschuss
werk zugutekommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Wir fordern Bürokratieabbau. Sie sagen: Das Gesetz Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
bedeutet mehr Bürokratie. Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
(Sabine Bätzing [SPD]: Das sagen nicht nur
wir! Das sagen auch die Hoteliers, die IHK Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
und der BDI!) Wort der Kollege Matthias Birkwald für die Fraktion Die
Linke.
Ich will Ihnen zwei Antworten vorlegen, die mir Hote-
liers gegeben haben. So groß ist der zusätzliche bürokra- (Beifall bei der LINKEN)
1696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Minibeiträge reißen Löcher in die Rentenkassen. (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat
Damen und Herren! Mitte der 90er-Jahre wurden für schon vor Jahren gewarnt, die Minibeiträge könnten die
Langzeiterwerbslose noch weit über 200 Euro im Monat Kosten, die aus den Ansprüchen aus Rehamaßnahmen
in die Rentenkasse eingezahlt. Unter Rot-Grün war es und Erwerbsminderungsrenten entstünden, nicht ansatz-
vor zehn Jahren noch knapp die Hälfte. Mit der Einfüh- weise decken. Ein Grund mehr, umgehend angemessene
rung des unsäglichen Hartz-IV-Gesetzes vor fünf Jahren Beiträge für Langzeiterwerbslose in die Rentenversiche-
sank der Rentenbeitrag für Langzeiterwerbslose auf mo- rung einzuzahlen.
natlich 78 Euro. Im gleichen Maße sinken natürlich (Beifall bei der LINKEN)
die Rentenansprüche der Betroffenen.
Der tiefere Sinn der bisherigen Politik scheint mir an-
Doch damit nicht genug: Um weitere 2 Milliar- ders gelagert zu sein. Die fünf Wirtschaftsweisen des
den Euro auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen ein- Sachverständigenrates nehmen da kein Blatt vor dem
zusparen, hat die Große Koalition ohne Gegenstimmen Mund. Sie sagen – ich zitiere –:
der FDP den Beitrag zur Rentenversicherung nochmals
fast halbiert, von 78 Euro auf nur noch 40 Euro pro Mo- Der Zweck dieser aus Steuermitteln finanzierten
nat. Das sind sage und schreibe 80 Prozent weniger als Rentenversicherungsbeiträge liegt … nicht darin,
vor 15 Jahren. Das bedeutet: Für ein Jahr Hartz-IV-Be- den Begünstigten einen relevanten Rentenanspruch
zug erhalten die Betroffenen etwas mehr als 2 Euro aufzubauen, sondern ihnen einen Anspruch auf Er-
Rente. 2 Euro! Damit brauchten Langzeiterwerbslose werbsminderungsrente oder die Riester-Förderung
mehr als 300 Jahre für eine Rente auf Hartz-IV-Niveau. zu eröffnen und zudem eine Unterbrechung renten-
Das ist Altersarmut per Gesetz. Das ist Sozialraub. Das rechtlicher Zeiten zu verhindern.
ist völlig inakzeptabel, und das muss ganz dringend wie- Auf Deutsch heißt das: Die Rentenbeiträge für Langzeit-
der geändert werden. erwerbslose sind gar nicht für ihre Alterssicherung ge-
dacht. Das ist doch zynisch.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich
L. Kolb [FDP]: Alles von Rot-Grün gemacht!) (Beifall bei der LINKEN)
Die Altersarmut von morgen wird auch das Ergebnis Herbert Rische, der Präsident der Deutschen Renten-
dieses langjährigen Sozialabbaus durch SPD und Grüne versicherung Bund, sagte zu dem Thema im Deutsch-
sowie Union und FDP sein. landradio Kultur, wir sollten uns – ich zitiere – darüber
„Gedanken machen, ob man auch hier – so wie beim
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was haben wir Arbeitslosengeld I – einen Bezugspunkt hinsichtlich des
(B) denn damit zu tun?) (D)
vorherigen Einkommens nimmt …, zum Beispiel etwas
weniger als 80“ Prozent, „aber doch ein bisschen mehr
Jedes Jahr mit Hartz-IV-Bezug ist ein verlorenes Jahr für
als heute.“ Sie sehen: Wir Linken stehen mit unseren
die Alterssicherung langzeiterwerbsloser Menschen. Mit
Forderungen nach besseren Rentenanwartschaften von
dieser Politik haben Sie die Alterssicherung der Lang-
Erwerbslosen nicht allein. Darum fordere ich Sie auf:
zeitarbeitslosen ruiniert.
Folgen Sie mit uns den Appellen, Forderungen und Vor-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles die böse schlägen des DGB, der IG Metall, des Sozialverbandes
SPD!) Deutschland, der Volkssolidarität, des Sozialverbandes
VdK und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsver-
Diese Politik schadet den Betroffenen; denn ihre Alters- bandes: Bekämpfen Sie Altersarmut, bevor sie entsteht!
armut ist damit vorprogrammiert.
Herzlichen Dank.
Für die künftigen Rentnerinnen und Rentner gilt (Beifall bei der LINKEN)
Art. 1 des Grundgesetzes genauso wie für alle anderen in
Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantast-
bar.“ Das gilt auch für die Würde von Erwerbslosen, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
das Rentenalter erreicht haben. Darum sollten wir alles Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
daransetzen, Armut zu verhindern und Altersarmut gar CDU/CSU-Fraktion.
nicht erst entstehen zu lassen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Die Rentenkürzungen münden – so sieht es auch der Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband – für viele gen! Die neue Regierungskoalition aus CDU, CSU und
Langzeitarbeitslose zwangsläufig in die Grundsicherung FDP hat in ihrer Koalitionsvereinbarung eine, wie ich
im Alter, also im SGB XII. Damit schieben Sie einen finde, bemerkenswerte und sehr wichtige Festlegung ge-
Teil der Kosten der Langzeiterwerbslosigkeit auf die troffen, die ich deswegen wörtlich zitiere:
Kommunen ab. Erwerbslosigkeit und ihre Spätfolgen
sind aber ein gesamtgesellschaftliches Problem und kei- Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch
nes, das den Kommunen übergeholfen werden darf. veränderte wirtschaftliche und demographische
Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigen-
(Beifall bei der LINKEN) den Altersarmut besteht. Deshalb wollen wir, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1697
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) sich die private und betriebliche Altersvorsorge hilfeempfänger, die zum ersten Mal in ihrem Leben ei- (C)
auch für Geringverdiener lohnt und auch diejeni- nen Rentenanspruch begründen können.
gen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
gesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der
derspruch bei der LINKEN)
Grundsicherung
Das Interessante ist übrigens, dass der Antrag, der uns
– um in der alten Sprache zu sprechen: oberhalb des So-
heute vorliegt, mehr als substanzlos ist. Er besteht aus
zialhilfeniveaus –
acht Sätzen, und anschließend werden zwei Aufsätze zi-
erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert tiert.
ist. Hierzu wird eine Regierungskommission einen
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Zu Ihrer
Vorschlag für eine faire Anpassungsregel entwi-
Aufklärung!)
ckeln.
Das kann man machen. Der Punkt ist nur der: Man sollte
Während sich die Linke – das ist typisch – einzelne
solche Aufsätze bis zum Ende durchlesen. Dann passiert
Rosinen herauspickt, wollen wir als Koalition eine
es einem nicht, dass man einige ganz wichtige Passagen
grundlegende Regel für alle schaffen, die Rentenversi-
übersieht. Zum Beispiel hält der Beitrag von Christina
cherungsbeiträge gezahlt haben, durch die ihnen garan-
Wübbeke im IAB-Kurzbericht Einmal arm, immer arm?
tiert wird, dass sie nach einer langen Phase der Erwerbs-
fest, dass man eben nicht sagen kann, dass der Arbeitslo-
tätigkeit oder auch der Nichterwerbstätigkeit, in der auf
sengeld-II-Bezug automatisch ein erhöhtes Risiko von
jeden Fall Rentenversicherungsbeiträge gezahlt worden
Altersarmut bedeutet, sondern dass es auch auf verschie-
sind, ein Einkommen im Alter haben, das über der
dene andere Faktoren ankommt und dass vor allen Din-
Grundsicherung liegt. Mit diesem grundlegenden Ansatz
gen die älteren Bezieher von Arbeitslosengeld II schon
führen wir eine zusätzliche Schutzklausel in das deut-
heute aus unterschiedlichen Vorphasen, auch der Berufs-
sche Rentenrecht ein; das geht weit über das hinaus, was
tätigkeit, einen Rentenanspruch erworben haben, der
die Linke vorschlägt.
deutlich über dem Grundsicherungsniveau liegt. Deswe-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen weise ich die These, ALG II bedeute automatisch
neten der FDP) Altersarmut, entschieden zurück.
Wir wissen, dass gerade die Linke, aber auch andere, Die Linke hat einen zweiten Punkt einfach vergessen.
Parlamentsdebatten gern für Märchenstunden nutzen. Ich möchte vor allen Dingen die Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Fraktion Die Linke herzlich einladen, mor-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist ja
gen, Freitagvormittag, 9 Uhr, an der Debatte teilzuneh-
auch schon spät!)
(B) men; denn morgen früh beraten wir einen Gesetzentwurf (D)
Als das Sozialgesetzbuch II, das gemeinhin immer noch der Bundesregierung, der einen wichtigen Beitrag zur
als Hartz IV betitelt wird – diesen Titel würde ich lieber Verhinderung von Altersarmut enthält.
weglassen –, eingeführt wurde, hat man zwei unter-
Wir werden das Schonvermögen – heute 250 Euro
schiedliche Systeme, die steuerfinanziert waren, nämlich
pro Lebensjahr – verdreifachen.
die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe, zusammenge-
führt. Das war und ist bis zum heutigen Tag ein sozialpo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
litischer Meilenstein.
Das ist ein entscheidender Punkt. Die Riester-Rente ist
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: So ist es!) ohnehin geschützt. Aber auch wer rechtzeitig für das Al-
ter vorgesorgt hat, nach einem langen Berufsleben aber
Sozialhilfeempfänger haben in der Vergangenheit null leider noch arbeitslos wird, aus dem Arbeitslosengeld-I-
Entgeltpunkte für Rentenansprüche erwerben können.
Bezug herausfällt und Arbeitslosengeld II beziehen
(Anton Schaaf [SPD]: Das stimmt!) muss, braucht jetzt nicht zuerst sein Vermögen einzuset-
zen, bevor er staatliche Hilfe bekommt. Das Vermögen,
Mit dem Sozialgesetzbuch II haben wir Hunderttausende das er fleißig angespart hat, schonen wir in einem we-
Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger in sentlich höheren Maße, als dies je der Fall war, damit es
Deutschland in die Lage versetzt, zum ersten Mal über- ihm im Alter zur Verfügung steht.
haupt einen Rentenanspruch erwerben zu können.
Das Motto „Leistung muss sich lohnen“ muss auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- im Hinblick auf die Vorsorge für das Alter gelten. Die
neten der FDP – Karl Schiewerling [CDU/ christlich-liberale Koalition setzt dieses Motto in die Tat
CSU]: Und Recht auf Rehabilitation!) um. Das beste Mittel gegen Altersarmut ist, wenn das,
Deshalb war und ist es richtig, dass wir bei Menschen, was angespart ist, im Alter zur Verfügung steht.
die im Prinzip erwerbsfähig sind, aber aus unterschiedli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen Gründen nicht arbeiten können, nicht zwischen de-
nen unterscheiden, die einen Rentenanspruch bekom-
men, und denen, die keinen Rentenanspruch bekommen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sondern dass wir allen einen Rentenanspruch zuspre- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
chen. Wenn die Linke hier immer wieder fordert,
Hartz IV müsse weg, dann ist das ein Schlag ins Gesicht Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
der ehemaligen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozial- Ich habe das Signal schon gesehen, Frau Präsidentin.
1698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(Beifall bei der SPD) Herr Kollege Weiß, Sie haben bei der Frage, wie man
die Armutsvermeidung am besten in den Griff bekommt,
Sie jammern über 6 Prozent Umsatzrückgang in der Ho- im Koalitionsvertrag insbesondere die Frage der privaten
tellerie. Vielleicht sollten Sie im Zusammenhang mit und betrieblichen Altersvorsorge für Geringverdiener in
dieser Debatte einmal darüber nachdenken, wie man den den Fokus genommen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn
Menschen ein ordentliches Einkommen sichert; dann die alten Kollegen der Union aus den Sozialausschüssen
können sie vielleicht wieder in Urlaub fahren. dafür gesorgt hätten, dass im Koalitionsvertrag gestan-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1699
Anton Schaaf
(A) den hätte: Die gesetzliche Rentenversicherung soll ver- Leiharbeitsbranche verhindert, und zwar aus ideologi- (C)
breitert und substanziell verbessert werden, und zwar für schen Gründen. Da gibt es Dumpinglöhne, die von
alle Menschen. Das haben Sie aber nicht im Koalitions- Christlichen Gewerkschaften ausgehandelt wurden.
vertrag durchgesetzt. Dann sagt die Union, es gebe konkurrierende Tarifver-
träge und deshalb werde kein Mindestlohn eingeführt.
Ich komme zur realen Politik der Koalition und zur
Frage des Zuverdienstes. Das ist eine ganz spannende Wir waren, wenn es darum geht, Menschen vor Al-
Frage. Anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen or- tersarmut zu schützen, schon einen Schritt weiter: Zu-
dentliche Ansprüche aus Arbeit erwerben können, wol- mindest haben wir branchenspezifische Mindestlöhne
len Sie die Zuverdienstgrenzen anheben, und dann wird vereinbart. Ich sage aber noch einmal: Ziel ist ein ver-
eben draufgezahlt. Wir haben schon jetzt eine Aufsto- nünftiges Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Wer Vollzeit
ckerproblematik. Menschen, die sich in solchen Arbeits- arbeitet, muss ein anständiges Einkommen und einen an-
verhältnissen befinden, werden niemals ordentliche An- ständigen Rentenanspruch haben, sodass er seine Fami-
sprüche für das Alter erwerben können. Das ist doch lie ernähren kann.
Fakt.
Man muss von seiner Arbeit leben und sich durch sie
(Beifall bei der SPD) ordentliche Ansprüche erwerben können. Das, was Sie
hinsichtlich des Einkommens betreiben, ist ganz genau
Es ist der falsche Weg, die private Altersvorsorge zu das Gegenteil. Alle rentenpolitischen Maßnahmen wer-
stärken. Die gesetzliche Altersvorsorge muss gestärkt den Ihnen nicht helfen – und Heilsversprechungen auch
werden; wir müssen mehr Menschen einbeziehen. Hier nicht.
reden wir zum Beispiel über die drohende Gefahr im Zu-
sammenhang mit der Solo-Selbstständigkeit, wo es ein Sorgen Sie dafür, dass die Menschen ordentliche Min-
Riesenproblem gibt. Da kann die Antwort doch nicht destlöhne und Einkommen haben! Beenden Sie die
sein – Sie haben sie gebracht –: Wir öffnen die Riester- Schmuddelgeschichten bei der Zeit- und Leiharbeit!
Förderung auch für Selbstständige. – Das ist doch der Dann sind wir schon ein Stück weiter.
falsche Weg. Wir haben die Riester-Förderung vor dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des
Hintergrund der Absenkung des Rentenniveaus als BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nachteilsausgleich für die betroffenen gesetzlich Versi-
cherten installiert. Diejenigen, die nicht gesetzlich versi-
chert sind, werden durch die Absenkung des Rentenni- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
veaus nicht benachteiligt; aber Sie wollen ihnen die Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
Vorteile der Riester-Förderung einräumen. Ich halte den FDP-Fraktion.
(B) Weg, den Sie da gehen, für völlig falsch. Ich bin der fes- (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ten Überzeugung – das habe ich immer gesagt –: Man der CDU/CSU)
kann die Menschen am besten vor Altersarmut schützen,
wenn man ihnen Arbeit verschafft, die aber auch ver-
nünftig bezahlt wird, also sozialversicherungspflichtige Pascal Kober (FDP):
Arbeit. Ihr Weg ist völlig falsch. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen –
insbesondere der Linkspartei! Wir als christlich-liberale
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist mit den Regierungskoalition freuen uns natürlich über jeden, der
vielen Leuten, die Sie mit den Ich-AGs in die sich darüber Gedanken macht, wie eine drohende Alters-
Solo-Selbstständigkeit gehetzt haben?) armut zu verhindern sein wird. Insofern finden wir das
Ich sage noch etwas zum Mindestlohn, weil einem in gut. Vielleicht sind Sie auch dadurch auf den Gedanken
diesem Zusammenhang immer wieder Vorwürfe ge- gekommen, dass Sie unseren Koalitionsvertrag gelesen
macht werden. Herr Kollege Weiß, Sie wissen, dass wir haben.
in der letzten Legislaturperiode über branchenspezifi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vielleicht auch
sche Mindestlöhne geredet und sie zum Teil vereinbart das Positionspapier der FDP!)
haben. Ich finde, wir haben das teilweise sehr ordentlich
geregelt; immerhin sind einige Branchen hinzugekom- Dort ist nämlich klar ausgeführt, dass wir uns diesem
men. Thema stellen wollen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Heute ist eine Altersarmut könnte in der Tat zu einem größeren Pro-
weggefallen!) blem werden, wenn wir es jetzt nicht beherzt anpacken.
Im Koalitionsvertrag haben wir bereits einen wesentli-
Ich weiß noch nicht, wie es jetzt mit der Lex FDP aus- chen Teil der Lösungen dafür vereinbart. Morgen wer-
sieht: Die FDP kann eventuell Mindestlöhne, die wir den wir eine erste Säule zur Beratung hier in den Bun-
vereinbart haben, im Kabinett anhalten. Das ist schon ein destag einbringen. Herr Weiß hat es schon erwähnt: Wir
starkes Stück. Das müssen Sie mit denen ausmachen. werden den Freibetrag beim Schonvermögen für Hartz-
IV-Empfänger, der der verbindlichen Altersvorsorge
In der Großen Koalition stand auch die Frage des dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen. Das
Mindestlohns im Bereich der Zeit- und Leiharbeit auf ist das eine.
der Tagesordnung. Hier lagen Anträge vor, die von Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam unterstützt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wurden. Die Union hat den Mindestlohn in der Zeit- und der CDU/CSU)
1700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Pascal Kober
(A) Zum anderen haben wir im Koalitionsvertrag auch schon (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er sollte einmal (C)
festgelegt, dass wir selbst genutzte Immobilien umfas- zurück in die Vergangenheit blicken!)
send schützen werden. Auch das ist vereinbart; auch das
Erhöhung des Schonvermögens und Schutz der selbst
wird kommen. Mit diesen beiden Maßnahmen erreichen
genutzten Immobilie: Das sind schon einmal zwei ganz
wir freilich noch nicht jeden; auch das wissen wir. Da es
wesentliche Pfeiler, mit denen wir die gröbsten Unge-
aber von Tag zu Tag glücklicherweise immer mehr Men-
rechtigkeiten der rot-grünen Hartz-IV-Reformen beseiti-
schen gibt, die privat für ihr Alter vorsorgen – im Übri-
gen wollen und mit denen wir dem Problem einer zu-
gen auch aus Verantwortung der Solidargemeinschaft
künftig drohenden und sich möglicherweise auswei-
gegenüber –, erreichen wir mit dieser Maßnahme zu-
tenden Altersarmut begegnen werden. Bei diesen beiden
künftig immer mehr Menschen.
Pfeilern wird es aber nicht bleiben. Herr Weiß hat das
schon ausgeführt. Wir haben im Koalitionsvertrag da-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rüber hinaus vereinbart, eine Regierungskommission
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zum Thema einer drohenden Altersarmut einzusetzen,
Kollegen Schaaf? deren Ergebnisse wir als selbstbewusste Parlamentarier
natürlich kritisch prüfen, dann aber auch zur Grundlage
Pascal Kober (FDP): unserer künftigen Arbeit und Entscheidung machen wer-
Ja. den.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der CDU/CSU)
Bitte sehr. Klar ist aber auch, dass es bei all unseren Bemühungen,
die rot-grünen Hartz-IV-Reformen gerechter zu machen
Anton Schaaf (SPD): und die gröbsten Härten abzumildern, das vordergrün-
Das ist sehr freundlich, Herr Kollege. – Können Sie digste Ziel dieser christlich-liberalen Regierung und Re-
mir hinsichtlich des Schonvermögens beantworten, wie gierungskoalition ist, dass sich möglichst viele Menschen
viele Betroffene nach den aktuellen Zahlen von dieser in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen
Anhebung des Schonvermögens tatsächlich profitieren? befinden, sie damit eigene Beiträge in die gesetzliche
Mir liegen Zahlen vor, wonach es um 0,5 Prozent sind. Rentenversicherung einzahlen und in der Lage sein wer-
den, zusätzlich privat für ihr Alter vorzusorgen und in den
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sehen das
Genuss einer betrieblichen Altervorsorge zu kommen.
Zukünftige vorher!)
Dazu ist ohne Frage ein Bündel von sozialpolitischen, ar-
(B) beitsmarktpolitischen, bildungspolitischen, familienpoli- (D)
Pascal Kober (FDP): tischen, wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen und
Herr Schaaf, ich sehe es Ihnen nach, dass Sie auf- haushaltspolitischen Maßnahmen notwendig, die wir aber
grund der Vorbereitung auf Ihre Zwischenfrage die letz- allesamt zügig angehen werden und zu einem guten Teil
ten Sätze nicht gehört haben. Ich habe gerade darauf hin- auch schon angegangen sind.
gewiesen, dass dadurch, dass immer mehr Menschen
privat vorsorgen werden, was wir alle miteinander wol- Es gibt aber auch noch ein anderes wichtiges Ziel die-
len, in Zukunft auch immer mehr Menschen davon be- ser Regierungskoalition, nämlich die Haushaltskonsoli-
troffen sein werden. Ich füge aber hinzu, Herr Schaaf: Es dierung.
muss natürlich unser aller Bemühen sein, dass möglichst (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Oh! Die
wenige Menschen in die Situation kommen, Hartz IV haben Sie aber ein bisschen aus den Augen
beziehen zu müssen. verloren!)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir wer- Dazu stehe ich auch als Sozialpolitiker, der ohne Zweifel
den alle Hoteliers! Dann geht es gut!) finanzielle Mittel für seinen Bereich und vor allen Din-
gen für die Menschen, für die wir Politik machen,
Hier strengen wir uns an; das kann ich Ihnen versichern.
braucht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn sie ihren
macht dann die nächste Regierung!)
Arbeitsplatz erst gar nicht verlieren, dann
brauchen sie diese Regelung nicht!) Aber als Sozialpolitiker dieser christlich-liberalen Re-
gierungskoalition stellen wir uns auch der Herausforde-
Ich bin mir sicher, dass durch die Verdreifachung des
rung, dass wir in Zukunft noch besser begründen müs-
Schonvermögens – mit Blick auf die Zukunft gedacht,
sen, wofür wir Geld einsetzen werden. Wir werden
und über die Zukunft reden wir – einige soziale Härten
nachweisen, was es für die Betroffenen wirklich bewirkt,
in unserer Gesellschaft verhindert werden. Lieber Herr
und wir werden vor allen Dingen sagen, wie viel es ist.
Schaaf, auch deshalb ist die Kritik, die jetzt gerade aus
Dazu findet sich in Ihrem Antrag leider nichts, liebe
den Reihen der SPD zu diesem Thema kommt, wonach
Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei. Darin heißt
das nur einen sehr eingeschränkten Personenkreis betref-
es lapidar:
fen würde – Sie haben das gerade gesagt –, schlichtweg
falsch. Das zeigt nur, dass Sie nicht weit genug in die Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
Zukunft blicken. rung daher auf, die Rentenanwartschaften von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1701
Pascal Kober
(A) Langzeiterwerbslosen umgehend deutlich zu ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich an- (C)
bessern. ders in Erinnerung!)
Wie viel es sein wird, was es kosten wird, und wie Das ist der nächste Punkt. Wir haben einen Kritikpunkt
man es macht, schreiben Sie nicht. gegenüber der Linken. Denn man muss ehrlich sein:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir wollten Auch eine Erhöhung würde noch keine existenz-
euch Gelegenheit zu positiver Gestaltung ge- sichernde Rente bedeuten, es sei denn, man verzehnfacht
ben!) oder verfünfzehnfacht den Satz. Dann müsste man aller-
dings auch sagen, wie das Ganze zu finanzieren wäre.
Das liegt vielleicht daran, dass Sie das, was Sie politisch
wollen, selbst für nicht finanzierbar halten, oder dass Sie Sie von der Linken nicken zwar, aber in Ihrem Antrag
das, was Sie finanzieren wollen, gegenüber Ihrer eigenen ist nichts dazu enthalten. Im Antrag wird eine deutliche
Anhängerschaft politisch nicht vertreten wollen. Erhöhung gefordert, aber was heißt das denn? Damit
können Sie uns nicht kommen. Es ist viel zu billig, ein-
Wir wollen Politik anders machen. Wir denken etwas fach zu sagen, dass die Welt besser werden muss. Dem
länger nach, beraten uns intensiv, berechnen und geben kann man sich nicht verschließen; das ist völlig richtig.
an, ob es etwas kostet und gegebenenfalls wie viel, und Aber was heißt „deutlich besser“? Meinen Sie das Fünf-
werden damit, ganz im Sinne der betroffenen Menschen, fache, Zehnfache oder Zwanzigfache?
erfolgreich sein.
Bei einer deutlichen Erhöhung auf ein existenzsi-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. cherndes Niveau, zum Beispiel um das Zehnfache, gäbe
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es das Problem, das Herr Schaaf angesprochen hat. Was
wäre dann beispielsweise mit den Geringverdienern?
Müsste man das nicht auch auf sie beziehen? Es gibt
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
viele Folgeeffekte.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Sie sagen auch nicht, wie Ihre Forderungen finanziert
nen. und umgesetzt werden sollen. Es fehlt also noch einiges.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gesamtproblem der
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE
Altersarmut. Auch das ist nur eine Teilgruppe. Man
GRÜNEN): braucht aber ein Gesamtkonzept. Dazu haben Sie in der
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Begründung zu Ihrem Antrag ein paar Stichpunkte ge-
Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht. Art. 22 der nannt, aber das ist noch ein bisschen wenig. Sie müssen
(B) Menschenrechtserklärung sollte für uns alle der Maßstab (D)
mehr leisten. Für unsere Fraktion kann ich versprechen,
sein, wie man mit den Schwächsten der Gesellschaft, dass wir ein Gesamtkonzept gegen Altersarmut vorlegen
den Langzeitarbeitslosen, umgeht. werden.
Wie zum Beispiel Herr Koch, mein Ministerpräsident
Die schwarz-gelbe Koalition hat in ihrem Koalitions-
in Hessen, herumschwadroniert und über die Hartz-IV-
vertrag angekündigt, etwas machen zu wollen. Der Satz,
Empfänger herzieht, ist nicht der Umgang mit den Lang-
der vorgelesen wurde, strotzt allerdings vor Widersprü-
zeitarbeitslosen, den wir uns wünschen. Das, was die
chen. Es wird eigentlich nicht ganz klar, was dabei he-
Ministerin dazu gesagt hat, war nur ein bisschen abge-
rauskommen soll. Es wird nicht deutlich, dass Sie eine
schwächt.
existenzsichernde Rente haben wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Anton Schaaf [SPD]: Doch! Das ist klar!)
Mit demselben Ansatz gehen wir auch an die Rente Da steht etwas von betrieblicher und privater Alters-
und die Rentenansprüche von Langzeitarbeitslosen he- sicherung, die irgendwie besser auf die Grundsicherung
ran. Es ist völlig richtig, dass der Betrag von 2,19 Euro angerechnet werden soll. Es soll weiterhin eine bedürf-
lächerlich ist. tigkeitsgeprüfte Leistung geben. Diesem Satz zufolge
handelt es sich also eher um eine Grundsicherung de
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber durch Rot- luxe als um eine existenzsichernde Rente. Wir dagegen
Grün eingeführt, Herr Strengmann-Kuhn!) streben ebendiese an.
– Nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch! Und dann Wir werden, wie gesagt, ein Konzept dazu vorlegen.
kamen 2,19 Euro heraus!) Ich bin auf das Konzept der Regierung und auf das Kon-
– Er ist von der Großen Koalition auf 2,19 Euro halbiert zept der Linken gespannt. Vielleicht kommt sogar noch
worden. von der SPD ein Gesamtkonzept zum Thema Alters-
armut.
Herr Birkwald hat vorhin das Prozedere beschrieben.
Herr Weiß hat darauf hingewiesen, dass es gar nicht da- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben unser
rum ging, einen Satz zu finden, der nach 40 Jahren Ar- Konzept schon vorgelegt! – Anton Schaaf
beitslosigkeit eine existenzsichernde Rente ergeben [SPD]: Ich habe eben schon Stichworte gelie-
würde. fert!)
1702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihr Antrag enthält etwas versteckt den Ruf nach einer
Mindestrente bzw. einem Mindesteinkommen. Das zeigt
Die beste Vorsorge gegen Altersarmut – das haben sehr deutlich, dass es sich hier um keine gute sozialpoli-
wir auch im Koalitionsvertrag niedergelegt – sind mög- tische Agenda handelt. Sie wollen letztendlich vom so-
lichst viele Arbeitsplätze und damit möglichst sozialver- genannten Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Ren-
sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bei gu- tenversicherung, mit dem wir über Jahrzehnte gut
ter Bezahlung. Dafür stehen wir. Daran werden wir gefahren sind, abweichen. Das ist sozialpolitisch nicht
arbeiten. sinnvoll; denn damit werden geringfügig Beschäftigte
Im Hinblick auf die Forderungen der SPD und der und Teilzeitbeschäftigte deutlich besser gestellt als Bei-
Grünen möchte ich Folgendes sagen: Mit gesetzlichen tragszahlerinnen und Beitragszahler, die Vollzeit gear-
Mindestlöhnen werden Sie die Altersarmut nicht be- beitet haben.
kämpfen. Denn wenn jemand 45 Jahre lang auf einen
Wir werden sicherlich noch Gelegenheit haben, in
Stundenlohn von 7,50 Euro angewiesen ist, wird er hin-
Anhörungen über diesen Antrag zu diskutieren. Es wäre
terher auch auf Grundsicherung angewiesen sein.
gut, wenn sich die Linke darauf verständigen könnte,
(Anton Schaaf [SPD]: Aber der Betrag ist ver- dass unser gesetzliches Rentenversicherungssystem eine
handelbar!) großartige Grundlage ist, Altersarmut vorzubeugen, und
Menschen, die keine ausreichende Rente haben, einen
Das kann es nicht sein. Deshalb ist es besser, starke Ta-
hervorragenden Schutz durch eine Grundsicherung bei
rifparteien, starke Gewerkschaften und starke Arbeitge-
Erwerbsunfähigkeit bzw. im Alter bietet.
berverbände zu haben. Wir als christlich-liberale Regie-
rung werden für ein gutes wirtschaftliches Umfeld Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
sorgen, damit in unserem Land viele Arbeitsplätze ent-
stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1703
(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: aber auch einen qualitativen Sprung, weil in überbetrieb- (C)
Ich schließe die Aussprache. lichen Ausbildungsstätten die Betriebe beteiligt sind und
dort tatsächlich etwas anderes stattfindet als in den de-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf qualifizierenden Warteschleifen, die wir zurzeit haben.
Drucksache 17/256 an die in der Tagesordnung aufge- Das System ist anschlussfähig an das, was DIHK und
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ZDH bislang vorgelegt haben: an das System der Quali-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die fizierungsbausteine, wie es der ZDH vorgelegt hat, und
Überweisung so beschlossen. an die Skizze „Dual mit Wahl“, die der DIHK vorgelegt
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 13: hat.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hinz (Herborn), Brigitte Pothmer, Kai Gehring, Was aber macht die Bundesregierung? Sie kürzt im
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- vorliegenden Haushalt die Mittel für die überbetriebli-
NIS 90/DIE GRÜNEN chen Einrichtungen, anstatt sie massiv auszubauen.
Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschan- (Ulrike Flach [FDP]: Stimmt gar nicht!)
cen geben – DualPlus unverzüglich umsetzen
Auf dem Bildungsgipfel wird zwar viel diskutiert; aber
– Drucksache 17/541 –
mit den Ländern wird nicht einmal darüber geredet und
Überweisungsvorschlag: festgehalten, wie man die berufliche Ausbildung tatsäch-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
lich reformiert. All die Versuche, Projekte und Modelle,
Ausschuss für Arbeit und Soziales die immer stückchenweise vom Haushalt mitfinanziert
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden, führen nicht dazu, dass man einen besseren Ein-
stieg in die Ausbildung hat und man für Altbewerber tat-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sächlich gute, qualifizierende Systeme und Einstiegs-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da- angebote schafft. Es gibt keine Durchlässigkeit hin zur
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann können wir Weiterbildung, und es gibt keine ausreichende Zahl von
so verfahren. Ausbildungsangeboten.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
das Wort die Kollegin Priska Hinz für die Fraktion sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von
Bündnis 90/Die Grünen. der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!)
(B) (D)
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Natürlich stimmt das. Diese Fakten können Sie doch
Schönen guten Abend! Auch wenn uns noch nicht nicht leugnen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, und es
alle aktuellen Zahlen der Nachvermittlung vorliegen, wird nicht besser, wenn Sie immer nur auf den Ausbil-
kann man grundsätzlich ein paar Fakten feststellen, die dungspakt schielen und immer noch Vereinbarungen nur
noch immer für den Ausbildungsbereich gelten. Etwa mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag
50 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber im letzten und dem ZDH treffen. Das ist sicherlich ganz schön und
Jahr haben keinen betrieblichen Ausbildungsplatz erhal- wichtig, aber es reicht nicht aus.
ten. Der Verbleib von etwa 100 000 Jugendlichen ist völ- Wir brauchen eine Reform der Ausbildung, bei der
lig unklar. Man weiß nicht, ob sie in Maßnahmen, zu mehr Akteure ins System einbezogen werden, damit wir
Hause oder in Beschäftigung sind. Es gibt zudem tatsächlich eine entsprechende Qualität für Nachwuchs-
300 000 Altbewerber. Wir haben des Weiteren ein völlig kräfte und soziale Integration hin zur Beschäftigungsfä-
ineffektives und circa 3 bis 5 Milliarden Euro teures higkeit junger Leute erreichen.
Übergangssystem. Trotz aller Anstrengungen des Hand-
werks und der Industrie ist die Zahl der Ausbildungsver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
träge im letzten Jahr einzig und allein im öffentlichen
Dienst gestiegen. Ansonsten haben die Ausbildungsan- Es geht nicht an, dass wir eine solche Desintegra-
gebote abgenommen. tionsstrategie fahren. Deswegen bitten wir Sie, unseren
Antrag im Ausschuss ordentlich zu beraten und ihm an-
Das heißt im Klartext, wir brauchen ein konjunkturun- schließend zuzustimmen sowie im Haushalt möglichst
abhängiges System für die Ausbildung, in dem mehr Aus- die Mittel für die überbetrieblichen Einrichtungen aufzu-
bildungsbetriebe eingebunden sind: Ausbildungsbetriebe, stocken.
die nur besondere Sparten ausbilden können, solche, die
keine Ausbildungstradition haben, und kleine Ausbil- Danke schön.
dungsbetriebe, die das allein nicht stemmen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben ein System entwickelt – darüber haben wir
hier schon mehrfach diskutiert –, mit überbetrieblichen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ausbildungsstätten gemeinsam die Betriebe dazu zu Nun hat das Wort der Kollege Axel Knoerig für die
bringen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Das CDU/CSU-Fraktion.
hätte den Effekt, dass wir mehr Quantität hätten, das
heißt eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen, (Beifall bei der CDU/CSU)
1704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Axel Knoerig (CDU/CSU): nen womöglich der Staat die Notwendigkeit von Ausbil- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen dung und Investitionen in Bildung erklären und dies
und Kollegen! Uns liegt ein Antrag der Fraktion sogar noch vormachen müsste. Ich kenne genügend Be-
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Jugendli- triebe, die mehr oder überhaupt Jugendliche ausbilden
chen bessere Ausbildungschancen geben – DualPlus un- würden, wenn sie entsprechend qualifizierte junge Leute
verzüglich umsetzen“ vor. Dabei geht es in erster Linie finden würden.
darum, neben Berufsschule und Betrieb eine staatliche
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
überbetriebliche Ausbildungsform als dritte Säule neben
dem dualen System aufzubauen. Das soll nach Meinung Fünftens. Ich sage auch ganz klar: Dabei geht es über-
der Grünen zu einer Neustrukturierung der gesamten Be- haupt nicht um theoretisches Überfliegertum. Ein Dach-
rufsausbildung führen. Über 300 000 junge Leute, die deckermeister sucht keinen Schüler, der sich für die
sich in Warteschleifen befinden, sollen einer Ausbildung Relativitätstheorie von Einstein interessiert; er sucht je-
zugeführt werden. manden, der sich für das Handwerk begeistert, notwen-
dige Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit und Ehrlich-
Dazu merke ich für die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
keit mitbringt und ein entsprechendes Sozialverhalten an
tion Folgendes an:
den Tag legt.
Erstens. Wir sind auch durch unsere Verbundenheit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mit dem ländlichen Raum und durch die damit einherge-
henden Kontakte mit bodenständigen Handwerksmeis- Wenn er solche Jugendliche nicht findet, wird Ausbil-
tern der festen Überzeugung, dass unser duales Berufs- dung nicht nur uninteressant, sondern objektiv unmög-
ausbildungssystem überaus erfolgreich ist. lich.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sechstens. Der Zentralverband des Deutschen Hand-
werks geht davon aus, dass rund jeder vierte Jugendliche
Zweitens. Wir glauben nicht, dass ein stärkerer staat-
nicht ausbildungsfähig sei; jährlich verließen 8 Prozent
licher Einfluss auf die Berufsausbildung die Lage der
der Schüler ihre Klassen ohne Abschluss; dazu kämen
schwer vermittelbaren Jugendlichen – um solche handelt
weitere 15 Prozent, die selbst in den Hauptfächern Ma-
es sich überwiegend – nachhaltig verbessert.
thematik und Deutsch unzureichend ausgebildet seien.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Diese Defizite beseitigen Sie mit Ihrem Antrag nicht.
GRÜNEN]: Überbetriebliche Einrichtungen Hier muss im Vorfeld, insbesondere bei Familien und
werden von den Betrieben getragen und nicht Schulen, angesetzt werden.
vom Staat!)
(B) Siebtens. Das bedeutet, dass notwendige Sekundär- (D)
Drittens. Wir sind der Überzeugung, dass die Unter- tugenden und Eigenverantwortung in der Erziehung in
nehmen und Handwerksbetriebe sich der Problematik Deutschland wieder einen höheren Stellenwert bekom-
des demografischen Wandels und der daraus resultieren- men müssen.
den Knappheit an qualifizierten Mitarbeitern bewusst
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind.
Dadurch wurde unser Land zu einem der erfolgreichsten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Länder der Welt. Durch Fehlentwicklungen wie die anti-
Dass dies so ist, kann man schon daran ablesen, liebe autoritäre Erziehung und die Spaßgesellschaft haben wir
Kolleginnen und Kollegen, dass der stärkste Einbruch Zukunftsfähigkeit verloren.
der Konjunktur in Friedenszeiten seit der Weltwirt-
(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
schaftskrise nicht zu einem entsprechenden Anstieg der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Arbeitslosigkeit in 2009 geführt hat. Warum ist das so?
Weil die Unternehmen Fachkräfte an Bord halten wol- Diese gilt es zurückzugewinnen. Wir müssen die eigent-
len, dafür die Kurzarbeiterregelung nutzen und auch in lichen Probleme lösen und dürfen nicht, wie die Grünen
Zukunft nutzen können. beabsichtigen, an den Symptomen herumdoktern. Viel
wichtiger ist es, den Kindern wieder Leistungsbereit-
Ich habe in meinem Wahlkreis die wissenschaftlich schaft und Freude an der eigenen Arbeit sowie soziale
fundierte Initiative „Qualifizieren statt Entlassen“ ge- Verantwortung beizubringen.
startet, die von zwei Professoren der privaten FOM,
Hochschule für Oekonomie & Management, entwickelt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
worden ist. Unternehmer und Handwerker der Region
wollen qualifizierte Leute auch über die Durststrecke Achtens. Bei der Neujahrsansprache der Kreishand-
hinweg im Unternehmen behalten und sind bereit, dafür werkerschaft in meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg I
auch Gewinneinbußen oder sogar Verluste hinzuneh- sagte deren Kreishandwerksmeister sinngemäß: Junge
men. Menschen, die sich für eine Ausbildung interessieren,
sollen praxisfähig sein und nicht durch die Qualitätshür-
Viertens. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund über- den der Theorieausbildung an einem Abschluss gehin-
lege, warum es so viele junge Leute in Warteschleifen dert werden. Die übertriebene Verschulung in der Aus-
gibt, komme ich zu dem Schluss, dass dies sicher nicht bildung ist im Handwerk eine Hürde für den
deshalb so ist, weil unsere Unternehmer und Hand- Auszubildenden. Der Handwerksmeister muss wieder
werksmeister ausbildungsfeindliche Egoisten sind, de- einen Mehrwert bekommen, der sich aus der Praxisfä-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1705
Axel Knoerig
(A) higkeit der Berufsausbildung ergibt. Die Qualitätshürden Eine Randbemerkung sei erlaubt: Wenn Sie die ÜBS, (C)
der beruflichen Ausbildung dürfen also nicht so hoch bezogen auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, in
sein, dass der gute Praktiker an der Theorie versagt und eine Ecke stellen, aber gleichzeitig im Haushaltsplan die
keinen Abschluss macht. Mittel für die ÜBS auf über 50 Millionen Euro auf-
stocken, dann müssen Sie mir einmal im Ausschuss er-
Die Grünen wollen mit ihrem Modell noch mehr klären, wie das inhaltlich zusammenhängt. Das ist ein
Theorie. schlechtes Vorgehen.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN]: Ich glaube, Sie haben es einfach des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nicht verstanden!)
Ich möchte auf den Bereich Übergangsmanagement
Wir brauchen aber weniger. Auch das ist eindeutig ein eingehen. Dankenswerterweise hat eine Kollegin von
Beleg dafür, dass das Vorhaben „DualPlus“ in Wahrheit, uns die Regierung angeschrieben und gefragt, wann wir
wenn man von der erfolgreichen dualen Ausbildung in endlich anfangen, diesen Bereich vernünftig zu organi-
Deutschland ausgeht, eigentlich ein „DualMinus“ wäre. sieren. Die Antwort war sehr erstaunlich: Die Bundes-
Wir sagen eindeutig Nein zu „DualPlus“, weil unser be- regierung will erst eine Vorstudie und dann eine Evalua-
stehendes duales Ausbildungssystem ein wirkliches tion durchführen; danach will sie entscheiden, was sie
„DualMultiPlus“ ist. tut. Meine Güte, bis diese Entscheidung getroffen ist, ge-
hen wieder drei oder vier Jahre ins Land. Das bringt
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
doch den jungen Leuten und auch unseren Unternehmen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- nichts, weil sie nämlich Fachkräfte suchen. Da müssen
chen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ wir etwas tun.
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Meine Bitte ist – die FDP spricht häufig vom Eintre-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ten der politisch-geistigen Wende in Deutschland; das
Herr Kollege Knoerig, das war Ihre erste Rede im kennen wir aus alten Zeiten –: Geben Sie einmal Gas!
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr Laden Sie die Ministerpräsidenten und die Kultusminis-
herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel ter ein – Frau Schavan kann das tun –, und beschäftigen
Freude, Erfolg und alles Gute. Sie sich damit, wie es in diesem Bereich aussieht! Wir
(Beifall) wissen, dass dieser Bereich vor allen Dingen regional zu
betrachten ist. Ich kann Ihnen Beispiele von Nürnberg
(B) Nächster Redner ist nun für die SPD-Fraktion der (D)
bis Hamburg dafür nennen, dass sich die Zuständigen in
Kollege Willi Brase. den Gebietskörperschaften mit den örtlichen IHKs, mit
den Gewerkschaften, mit der Agentur für Arbeit, mit den
(Beifall bei der SPD)
Argen zusammensetzen, um sinnvolle Maßnahmen
durchzuführen. All dies wäre zu bündeln.
Willi Brase (SPD):
Das setzt allerdings voraus, dass die Kommunen auch
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukünftig in der Lage sind, entsprechende Finanzen vor-
Sehr geehrte Damen und Herren! Als Mitglied zweier zuhalten. Wenn Sie die in Ihrem Koalitionsvertrag for-
Berufsbildungsausschüsse muss ich mich schon ein biss- mulierten steuerpolitischen Vorschläge umsetzen, dann
chen darüber wundern, dass man hier sehr schnell meh- kommt auf die Kommunen möglicherweise einiges zu.
rere Hunderttausend Jugendliche als nicht ausbildungs- Sie bekommen dann ein weiteres Problem, weil Sie den
fähig abgestempelt hat. Man hat behauptet, sie seien Kommunen mit Ihrer Steuerpolitik Geld wegnehmen,
nicht in der Lage, täglich zur Arbeit bzw. zur Ausbildung das sie unbedingt brauchen.
zu gehen. Ich halte das für schlecht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Im Antrag der Grünen und auch im Koalitionsvertrag
Ich habe selten Handwerksmeister oder Kleinbetrieb- von Schwarz-Gelb habe ich gelesen, dass man zur Be-
ler erlebt, die sagen: Mit diesen jungen Leuten können wältigung der schwierigen Aufgabe – das will ich durch-
wir nichts anfangen. Im Gegenteil, sie sagen schon seit aus anerkennen – differenzierte und modularisierte An-
Jahren – auch wir haben hier darüber diskutiert –: Der gebote machen will. Das Berufsprinzip will man dabei
Übergangsbereich – wir bekommen ihn jedes Jahr im wahren.
Berufsbildungsbericht zahlenmäßig vor Augen geführt –
muss endlich einmal vernünftig geordnet werden, nach (Beifall der Abg. Priska Hinz [Herborn]
dem Motto „Weniger ist mehr“. Es blickt nämlich keiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
mehr durch, was wir dort an Maßnahmen haben. Was ist denn das Berufsprinzip? Das Berufsprinzip der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dualen Ausbildung wird nicht dadurch gewahrt, dass
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man eine Abschlussprüfung bei der IHK macht. Das ist
ein bisschen billig. Die Ausbildung in Arbeits- und Ge-
Dazu habe ich wenig bzw. gar nichts gehört. schäftsprozessen, also dort, wo das reale wirtschaftliche
1706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Willi Brase
(A) Leben stattfindet, verbunden mit der notwendigen Un- vernünftiges Mittel, ein vernünftiges Angebot an die (C)
terstützung und der wichtigen theoretischen Unterwei- Hand zu geben, damit sie auch eine Perspektive haben.
sung, die Erlangung der Beschäftigungsfähigkeit in ei-
nem Zeitraum von drei bis dreieinhalb Jahren, das Es gibt ein weiteres Problem: die Ausstattung der Be-
zusammen ist das Berufsprinzip. Frau Hinz, wir müssen rufskollegs. In manchen Regionen sind sie gut ausgestat-
sehr intensiv darüber streiten, ob dieses Prinzip über tet, in anderen Regionen weniger gut. Ich will nur darauf
DualPlus aufrechterhalten werden kann. Wir müssen verweisen, dass man sich immer vor Augen halten sollte,
auch der Frage nachgehen, was die Koalition vorhat, um dass immer zwei Teile dazugehören, wenn das duale
dieses Problem in den Griff zu bekommen. System vernünftig laufen soll. Es nutzt den jungen Leu-
ten überhaupt nichts, wenn sie in ihren Unternehmen
In Ihrem Koalitionsvertrag steht auch, dass Sie die bzw. Betrieben fantastisch ausgebildet werden, aber im
Gewerkschaften und die Kommunen gerne einladen Berufskolleg die Bedingungen schlecht sind, weil die
wollen, an einem Pakt für Ausbildung teilzunehmen. notwendige Zahl an Fachlehrern nicht vorhanden ist.
Das halte ich für eine gute Sache. Dieses Problem müssen Sie angehen. Deshalb noch ein-
mal unsere Aufforderung: Rufen Sie die entscheidenden
(Beifall des Abg. Dr. Philipp Murmann [CDU/ Leute zusammen! Überlegen Sie, wie Sie hier voran-
CSU]) kommen und vor allen Dingen endlich einmal das Über-
gangssystem vernünftig auf den Weg bringen können!
Ich habe von den Gewerkschaften gehört, dass sie bei
Vor Ort gibt es viele gute praktische Beispiele. Darauf
der Betrachtung dessen, was wir haben, gern eine ehrli-
kann man sich beziehen. Das ist eine gute Sache.
che Bilanz hätten. Für eine solche Bilanz brauche ich nur
den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zu zitie- Die Weiterentwicklung der dualen Ausbildung war ei-
ren: Es fehlen nicht nur Ausbildungsplätze für die noch gentlich immer eine Angelegenheit des ganzen Parla-
Unversorgten, sondern auch beinahe 250 000 Plätze für mentes und kein Thema, mit dem man sich am Rande
die sogenannten Altbewerber. befasste. Ich darf daran erinnern, dass wir die Reform
des Berufsbildungsgesetzes in diesem Parlament ohne
Wir haben damals das Ausbildungsbonusprogramm Gegenstimme beschlossen haben. Es gab nur Zustim-
auf den Weg gebracht mit mittlerweile 30 000 Geförder- mung und Enthaltungen. Nach fünf Jahren sage ich:
ten. Meine Frage wäre an dieser Stelle, da die FDP das Diese Reform hat sich in weiten Teilen schon ausbe-
Programm ja massiv kritisiert hat: zahlt. Wir haben damals im Gesetz verankert, dass die
(Patrick Meinhardt [FDP]: Richtig!) Berufsorientierung wieder ein Stück weit stärker in die
Hände der Betriebe gelegt wird. Wir haben Möglichkei-
(B) Wie läuft es bei Ihnen weiter? Wird der Ausbildungsbo- ten aufgezeigt, wie in schwierigen Zeiten über eine schu- (D)
nus weitergeführt? Können wir damit rechnen, dass er lische Ausbildung in Vollzeit gegengesteuert werden
auch durch Kampagnen begleitet wird, damit weiterhin kann. Hier stelle ich auch die Frage: Wie wollen Sie die-
junge Leute gerade auch aus dem Altbewerberbereich in ses zeitlich befristete Element gemäß § 43 Abs. 2 positiv
dieses Programm aufgenommen werden und somit eine nutzen, damit nicht noch mehr junge Leute in Warte-
vernünftige Perspektive erhalten bzw. für sich entwi- schleifen geparkt werden – es handelt sich ja um meh-
ckeln können? Es wäre eine wichtige und gute Sache, rere Hunderttausende –, sondern eine vernünftige Aus-
wenn Sie das auf den Weg brächten. bildung machen können?
Wenn wir ehrlich sind – das sage ich nicht nur heute Nutzen Sie die Instrumente! Damit tun Sie etwas Gu-
hier, sondern das habe ich auch zu Zeiten der Regie- tes für das Land, aber vor allen Dingen für die betroffe-
rungsbeteiligung meiner Partei gesagt –, müssen wir uns nen jungen Leute.
eingestehen, dass wir zwar einen Weg entwickelt haben, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
um am 30. Juni und am 31. Dezember statistische Zah-
len zu erhalten, die wir dann wunderbar bewerten kön- (Beifall bei der SPD)
nen, es aber auch immer wieder vorkommt, wie wir wis-
sen, dass sich junge Leute gar nicht mehr melden. Diese Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gelten dann nach unserer Definition als „versorgt“.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Heiner
Wenn man das Problem auch im Hinblick auf die demo-
Kamp.
grafische Entwicklung vernünftig in den Griff bekom-
men will, dann müssen wir dazu übergehen, ehrliche Er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hebungen über die Zahlen an unversorgten jungen
Leuten durchzuführen und all denen dann auch ein ver- Heiner Kamp (FDP):
nünftiges Angebot zu unterbreiten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben die Berufseinstiegsbegleitung auf den Weg Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag verhält es
gebracht. Ich höre sehr Gutes über die Arbeit der Berufs- sich wie mit grünem Tee: im Urzustand schon ein unge-
einstiegsbegleiter. Dass bestimmte junge Leute an die nießbares Gebräu!
Hand genommen werden, ist eine wichtige Sache. Dazu (Willi Brase [SPD]: Grüner Tee ist sehr gut!)
steht nicht viel im Koalitionsvertrag. Wir sind deshalb
sehr gespannt, was die neue Koalition in den nächsten Leider wird das Gesöff nicht besser, wenn man es immer
Wochen und Monaten tun wird, um jungen Leuten ein und immer wieder neu aufgießt. Es ist dann genauso
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1707
Heiner Kamp
(A) fade wie Ihr x-ter Antrag zum sogenannten DualPlus- überbetriebliche Ausbildung gerade zum Beispiel im (C)
Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen. Handwerk zur Vermittlung von Aus- und Fortbildungs-
inhalten sogar für unverzichtbar.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
René Röspel [SPD]: Er ist übrigens gesund, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
der grüne Tee!) Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aha! Jetzt doch!)
Dieses Modell ist ein Ladenhüter – keiner will es, vor al-
lem nicht die Kammern, denen Sie eine tragende Rolle Doch unser Orientierungspunkt ist und bleibt dabei die
zubilligen wollen. Fragen Sie doch einmal beim Hand- betriebliche Ausbildung. Diese ist das deutsche Erfolgs-
werk nach! Gehen Sie doch einmal zu den Kammern! modell. Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten.
Denn nur diese sichert erstaunliche Quoten des Über-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
gangs in den Beruf und bewahrt uns vor einer Jugendar-
GRÜNEN]: Mit denen sind wir dauernd im
beitslosigkeit wie in Skandinavien oder Frankreich. Die
Gespräch!)
überbetriebliche Ausbildung kann deswegen nur als
Da wird Ihnen kein Jubel entgegenschlagen – höchstens Stütze der betrieblichen Ausbildung dienen. Sie wird
die Tür. niemals als eigener Pfeiler in einem „trigonalen Ausbil-
dungssystem“ eine positive Wirkung entfalten können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Kein Wunder! Sie wollen zwei bewährte Elemente Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Was sagt
unserer beruflichen Bildung, das duale System der be- denn Herr Kretschmer dazu, was den Osten
trieblichen Ausbildung und die überbetrieblichen Aus- angeht?)
bildungsstätten, miteinander kreuzen. Eine Maßnahme, Lassen Sie mich auch kurz auf die in Ihrem Antrag
die für sich genommen gut ist und sich wie die überbe- unterschwellig mitklingende Kritik am Ausbildungspakt
trieblichen Ausbildungsstätten durchaus bewährt hat, eingehen. Seit 2003, dem letzten Jahr vor dem Ausbil-
wird durch die zwangsweise Integration in das erfolgrei- dungspakt, gibt es zum Beispiel im Bereich der Indus-
che und anerkannte duale System nicht besser. trie- und Handelskammern trotz Krise ein Plus von
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE 8 Prozent bei den abgeschlossenen Ausbildungsverträ-
GRÜNEN]: Das schlägt das Handwerk ja sel- gen, und dies bei einem gleichzeitigen Rückgang der
ber vor!) Schulabgängerzahlen um 5 Prozent. Reden Sie doch mit
den Betroffenen statt über sie!
Die FDP will am Erfolgskonzept der Kooperation von
(B) Betrieb und Berufsschule festhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dann wüssten Sie auch, dass es selbst im Jahr der Krise,
Sonder-, Übergangs-, Misch- und Scheinlösungen leh- 2009, keine Lücke auf dem Ausbildungsmarkt, sondern
nen wir ab. Unser Anliegen ist es, die Berufsausbildung ein Überangebot an Lehrstellen gab. 9 600 unvermittel-
im Gespräch mit den Akteuren – hier sind die ausbilden- ten Jugendlichen im September 2009 standen 17 300 of-
den Betriebe ein wichtiger Ansprechpartner – krisen- fene Lehrstellen und 20 000 freie Einstiegsqualifizie-
und zukunftssicher zu machen. Während die Grünen an rungsangebote gegenüber. Statt Anträge mit unseriösen
Modellen stricken, die sich auf Parteitagen nett verkau- Zahlen zu verbreiten, sollten Sie besser das Gespräch
fen, vor denen aber in der realen Welt alle Betroffenen mit den Betroffenen suchen.
die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, die Büro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kratie aufbauen, Ausbildungsunternehmen belasten und
das Dualsystem der betrieblichen Bildung aushöhlen, Die duale Berufsausbildung in Deutschland ist eine
setzt sich die FDP mit den Betroffenen zusammen und Errungenschaft, der gerade vor dem Hintergrund des de-
sucht nach echten Wegen zur Weiterentwicklung der Be- mografischen Wandels eine große Bedeutung zukommt.
rufsbildung. Durch ihre enge Verzahnung mit und Verankerung in der
beruflichen Praxis gelingt es dem dualen System, Aus-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bildungsinhalte auf dem neuesten Stand zu halten.
Nicht zuletzt deshalb hat die FDP-Fraktion bereits
2007 mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund halte ich es ge-
eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet. Aus dieser Zu- radezu für aberwitzig, dass die Grünen die Berufsbil-
sammenarbeit ist ein Positionspapier hervorgegangen, dung nun für Freilandversuche heranziehen wollen. In
das in zehn Punkten die erforderlichen Maßnahmen zur Hamburg gehen Schüler und Eltern bereits gegen eine
Verbesserung der Ausbildungssituation in Deutschland verkorkste grüne Bildungspolitik auf die Straße.
aufzeigt. (Willi Brase [SPD]: Grün-schwarz, Herr Kol-
Die Ausweitung des Einzugsgebiets der überbetriebli- lege! Dass Sie sich so davonstehlen, das ist ty-
chen Ausbildungsstätten auf das herkömmliche Feld der pisch!)
Berufsbildung ist nicht praktikabel. Wir zweifeln keines- Hoffen wir, dass es bei der beruflichen Bildung nicht erst
wegs an der Funktionalität der überbetrieblichen Bil- so weit kommen muss.
dungsstätten – dort, wo sie gebraucht und von den Betei-
ligten gewünscht werden. Daher hält die FDP die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
1708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Heiner Kamp
(A) Die FDP hält nichts von diesen fragwürdigen Experi- menbedingungen zu schaffen, damit endlich jeder Ju- (C)
menten. Wir werden an Bewährtem festhalten und Ände- gendliche eine qualifizierte Ausbildung erhält.
rungen dort vornehmen, wo es sinnvoll und erforderlich
ist. Dabei wird die FDP den eingeschlagenen Weg fort- (Beifall bei der LINKEN)
setzen und mit den betroffenen Akteuren im Gespräch Es geht um eine Ausbildung für alle.
sachgerechte Lösungen entwickeln.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wollen dieses Ziel erreichen, indem Sie das ganze Aus-
bildungssystem in Module zerlegen, die wahlweise im
Ein besonderes Anliegen ist mir persönlich eine bes-
Betrieb und/oder in überbetrieblichen Ausbildungsstät-
sere Verzahnung von Aus-, Weiter- und Hochschulbil-
ten absolviert werden. In der jetzigen Situation sind
dung. Nach einer dualen Ausbildung zum Industriekauf-
überbetriebliche Ausbildungen wichtig, weil sie für viele
mann und Betriebswirt (VWA) habe ich an der
Jugendliche die einzige Chance sind, überhaupt einen
Universität Münster Betriebswirtschaft studiert und war
Ausbildungsplatz zu erhalten. Aber mit Ihrem Modell
selbst von den Problemen der mangelnden Anrech-
akzeptieren Sie, dass sich die Betriebe weiterhin aus ih-
nungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Teilen
rer Verantwortung stehlen. Dabei kann es schnell passie-
des Bildungssystems betroffen. Hier müssen wir das Bil-
ren, dass es bald noch weniger Ausbildungsplätze gibt.
dungssystem effizienter gestalten. Ich fordere Sie alle
dazu auf, daran mitzuarbeiten. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Jetzt muss
eigentlich die CDU/CSU klatschen!)
Vielen Dank.
Sie sagen: Module sind ein Anreiz für die Betriebe, weil
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- sie so nur Bausteine der Ausbildung übernehmen müs-
ruf von der FDP: Bravo!) sen. Die Kammern sollen dafür in den Betrieben werben.
Ich habe 16 Jahre in der überbetrieblichen Ausbil-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dung gearbeitet und kann Ihnen nur eines sagen: Die Be-
Herr Kollege Kamp, auch für Sie war dies die erste triebe werden da nicht mitmachen. Noch viel wichtiger
Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere sehr herz- ist: Die Jugendlichen, die keine Ausbildung bekommen
lich und wünsche Ihnen weiterhin viel Freude, Erfolg und die in diesen überbetrieblichen Ausbildungen unter-
und Spaß an der Arbeit. gebracht werden sollen, brauchen kein flexibles Modul-
(Beifall – Heiner Kamp [FDP]: Herzlichen Hopping, sondern einen verlässlichen Betrieb, in dem sie
Dank!) handlungsorientiert lernen und zusätzlich individuell ge-
(B) fördert werden. (D)
Nun hat das Wort für die Fraktion Die Linke die Kol-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
legin Agnes Alpers.
neten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Modell bietet das nicht.
Agnes Alpers (DIE LINKE): Wenn wir das Problem der Ausbildungsmisere grund-
sätzlich in den Griff bekommen wollen, müssen wir end-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lich alle Betriebe
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hohe Ju-
gendarbeitslosigkeit, nur ein Viertel der Betriebe bilden (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zwingen!)
noch aus, Hunderttausende von Jugendlichen sind in
Übergangsmaßnahmen, meist ohne Ausbildungsper- verbindlich an der Ausbildung der jungen Menschen be-
spektive. Jeder vierte Hauptschüler und jede vierte teiligen. Dann nützt es nichts, zu sagen: Die jungen
Hauptschülerin ist vier Jahre nach dem Schulende immer Menschen wollen keine Leistung zeigen. Worin besteht
noch ohne Ausbildung. Besonders betroffen sind Ju- die Leistung von 75 Prozent aller Betriebe, die weder für
gendliche, die in Armut leben, junge Menschen mit Mi- die Jugendlichen noch für ihre Zukunft sorgen?
grationshintergrund und Menschen mit Behinderung. – Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, erstens
Das ist das Kielwasser des Flaggschiffes unserer Bil- bis zum Sommer 2010 ein Konzept für die berufliche
dungsministerin. Bildung vorzulegen, zweitens die Betriebe wieder in die
In meiner Heimatstadt Bremen hatte 2008 nur die Verantwortung zu nehmen, den Jugendlichen qualitativ
Hälfte der Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine hochwertige Ausbildungsplätze anzubieten, und drittens
Chance, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Zusätzlich eine Ausbildungsumlage einzuführen,
suchten 3 000 Altbewerberinnen und Altbewerber sowie (Heiner Kamp [FDP]: Hatten wir schon, hat
Tausende von Schülerinnen und Schülern aus dem Um- nicht funktioniert!)
land einen Ausbildungsplatz in unserer Stadt. So gingen
80 Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Haupt- damit Ausbildung endlich nicht mehr von wirtschaftli-
schulabschluss, die Hälfte aller Hauptschülerinnen und cher Konjunktur abhängt.
Hauptschüler sowie 25 Prozent der Realschülerinnen Vielen Dank.
und Realschüler in das sogenannte Übergangssystem.
Wir Linke sagen: Es ist die Aufgabe der Politik, Rah- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1709
(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Zuständigkeit für Module und Praktika verweist? (C)
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Wenn Module permanenten Prüfungsstress schaffen, wie
Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion. wir das auch im Zusammenhang mit Bologna diskutie-
ren, dann frage ich, ob es nicht sinnvoll wäre, den Ju-
(Beifall bei der CDU/CSU) gendlichen, die Sie meinen, beim systematischen Lernen
zu helfen. Wir benötigen andere Formen des Lernens
Uwe Schummer (CDU/CSU): und der Prüfungen – wie Stufenausbildungen und ge-
Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Das streckte Abschlussprüfungen –, als Sie vorschlagen.
duale System steht für betriebliche Praxis mit begleiten-
der Theorie. Der Antrag, den die Grünen eingereicht ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben, kehrt dieses Prinzip um. Das heißt im Grunde: viel Bisher sind Ausbildung und Prüfung nicht in einer
Theorie und wenig Praxis. Sie haben gesagt, geschätzte Hand. Das heißt, es gilt der Grundsatz, der bei Ihnen
Kollegin Hinz, dass die Kammern eine Vorlage für diese nicht mehr eingehalten wird: Wer lehrt, prüft nicht. Wie
Ausarbeitung geliefert hätten. Seit Montag habe ich ver- wollen Sie dies in Ihrem Konzept vernünftig auf den
zweifelt versucht, irgendjemanden bei IHK und ZDH zu Weg bringen?
finden, der Ihr Konzept unterstützt. Ich habe niemanden
gefunden. 2005 haben wir – Willi Brase hat es erwähnt – in Bun-
destag und Bundesrat einstimmig eine Berufsbildungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – reform verabschiedet; es war die erste seit 1977. Ich
Heiner Kamp [FDP]: Es gibt auch keinen!) empfand den Ansatz als richtig, die Elemente dieser Be-
Von daher kann ich nur empfehlen: Reden Sie einmal rufsbildungsreform, nämlich Stärkung der Verbundaus-
mit den Kammern und versuchen Sie, ihnen dies näher- bildung, Aufwertung von Stufenausbildung und
zubringen. gestreckte Abschlussprüfung, erreichen zu wollen. Glei-
ches gilt für die Anerkennung ausländischer Bildungs-
Konsequent ist eben, dass bei uns Ausbildung origi- zeiten, was die Folge hat, dass heute nicht 2 000 Auszu-
när von der Wirtschaft und subsidiär vom Staat organi- bildende wie im Jahre 2005, sondern über 10 000 Teile
siert wird, der vorausschauend Hilfe zur Selbsthilfe zu ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren. Ich denke
leisten hat, wenn es einen Mangel gibt. Die betriebliche aber auch an die Zulassung vollzeitschulischer Berufs-
Praxis führt bei uns auch zu einer schnellen Integration ausbildung zur Kammerprüfung, die befristet ist. Nach
in den Arbeitsmarkt. Dies zeigt die Zahl der Arbeitslo- fünf Jahren ist es sinnvoll, diese Elemente der Berufsbil-
sen bis 25 Jahre im europäischen Vergleich. Bei uns sind dungsreform zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wir
es 11 Prozent; diese Zahl ist natürlich zu hoch. Aber werden nicht mehr 25 Jahre warten. Ich denke, dass wir
(B) wenn man die verschulten Berufsausbildungen beispiels- einen gemeinsamen Ansatz haben, das Thema Berufs- (D)
weise in Großbritannien sieht, dann stellt man fest, dass ausbildung frühzeitig ins Zentrum der parlamentarischen
dort die Jugendarbeitslosigkeit bei 17,5 Prozent liegt, in Debatte zu stellen. Wir als Koalitionsfraktionen werden
Frankreich bei 22,5 Prozent und in Spanien bei eine entsprechende Überprüfung und Fortentwicklung
35,7 Prozent. Das heißt, aufgrund der dualen Ausbildung einbringen.
haben wir in Deutschland die besten Daten bei der Inte-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gration von jungen Menschen, die qualifiziert worden
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Entfristen
sind.
Sie den 43er?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir haben eine Alternative zu dem, was die Grünen
Dieses duale System ist auch in der Krise stabil. Zwei in ihrem Antrag vorstellen.
von drei Jugendlichen absolvieren derzeit eine duale
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war
Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen Azubis in
eine Frage!)
500 000 Betrieben, und allein die Wirtschaft finanziert
in Deutschland die Qualifikation, die Ausbildungsvergü- Sie wollen „neue überbetriebliche Ausbildungsstätten …
tungen und die Ausbildungswerkstätten jährlich mit als Träger der Ausbildung“ aufbauen. Sie wollen, dass
30 Milliarden Euro. Andere Volkswirtschaften wären Kammern die Betriebe anwerben, die Module und nicht
dankbar, wenn sie eine Kultur der Wirtschaft wie in mehr vollständige Berufsbilder anbieten. Die „gesamte
Deutschland hätten. Berufsausbildung“ soll „neu strukturiert und in bundes-
weit anerkannten Modulen organisiert“ werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Das heißt, Sie wollen ein neues System und keine Re-
GRÜNEN]: Das reicht leider nicht aus!) form im System, wie das immer die Mehrheitsmeinung
im Parlament gewesen ist. Deshalb werden wir zu einem
Bei Ihrem Modell frage ich mich und fragen sich an-
Miteinander aufrufen. Wir werden Reformen anbieten,
dere, beispielsweise Vertreter der Kammern, wer bei ei-
die pragmatisch und lösungsorientiert sind. Wir wollen
nem neuen Modell die Ausbildungsvergütung zahlen
kein Ideal, das sich wunderbar zeichnen lässt, aber in der
soll. Der Staat? Wollen Sie die Betriebe, wie es zu Recht
Praxis elendig scheitert.
angemerkt wurde – was natürlich noch nicht heißt, dass
wir Sie von der Linkspartei gut finden –, wirklich aus Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns bei der Überprü-
der Verantwortung für die Ausbildung entlassen, wie es fung der Berufsbildungsreform gemeinsame Wege ge-
bei Ihnen mitschwingt, indem man sie weitgehend auf hen. Vielleicht kann das heute ein Anfang sein. Wir von
1710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Uwe Schummer
(A) der christlich-liberalen Koalition werden weitere und vorgestellt. Markus, Kind einer alleinerziehenden Mutter (C)
bessere Papiere vorlegen. aus Pforzheim, konnte kein Jimi Hendrix werden; denn
seine E-Gitarre kostete 1 200 Euro, aber er musste
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
600 Euro seines Gehalts für den Lebensunterhalt auf-
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
wenden. Julia, die bei einem Ferienjob ebenfalls
GRÜNEN]: Da sind wir ja mal gespannt!)
1 200 Euro verdient hat, konnte diese voll in den Führer-
schein investieren. Ihre Eltern sind Lehrer. Das ist eine
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gerechtigkeitslücke, die wir mit unserem Antrag klug
Ich schließe die Aussprache. schließen.
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vorlage, und zwar auf Drucksache 17/541, an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass jede Schülerin
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Über- und jeder Schüler bis 25 Jahre das angemessene Gehalt
weisung so beschlossen. des Ferienjobs behalten kann,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD und das unabhängig vom sozialen Status der Eltern.
Mehr Chancengleichheit für Jugendliche – Als Ferienjob gilt in Anlehnung an das Jugendarbeits-
Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkommen schutzgesetz ein Job mit einer maximalen Dauer von
anrechnen vier Wochen für alle Jugendlichen unter 25 Jahren. Nur
so bleibt der Anreiz zur Berufsorientierung für alle Ju-
– Drucksache 17/524 –
gendlichen gleich. Nur so bauen wir Chancen im Bil-
Überweisungsvorschlag: dungssystem auf.
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Gut ist, dass die SPD-Bundestagsfraktion mit dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und heutigen Antrag eine Lösung für das Herzensanliegen
Technikfolgenabschätzung des Unionsfraktionsvorsitzenden Volker Kauder vorlegt.
Haushaltsausschuss Er hat in der Sendung hart aber fair im August letzten
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Jahres gesagt – ich zitiere –, es müsse doch möglich
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe sein, für vier Wochen eine Ausnahmeregelung zu ma-
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah- chen und die Arbeit von Schülerinnen und Schülern
(B) ren. nicht anzurechnen. (D)
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Auch der Kollege Lehrieder von der CSU hat im No-
das Wort die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion. vember in einer Bundestagsdebatte
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE versuchen krampfhaft, sich – auf dem Rücken der Be-
GRÜNEN) troffenen – von unserem Antrag abzugrenzen.
(B) Diese wichtige Lebenserfahrung darf Schülerinnen und (Katja Mast [SPD]: Nein!) (D)
Schülern nicht deshalb verleidet werden, weil ihre Eltern Das ist hart, aber nicht fair.
Hartz IV beziehen. Das ist und bleibt diskriminierend.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Es ist doch so: Jobbende Schülerinnen und Schüler
ten der SPD) können rein gar nichts dafür, wenn ihre Eltern schon
lange arbeitslos sind. Deshalb sollten Jugendliche ihr in
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der den Ferien hart verdientes Geld komplett ausgeben dür-
vergangenen Wahlperiode, Anfang September 2009, ha- fen – für eine Gitarre, für Reisen, für ein Mokick oder
ben Sie unseren Vorschlag, Ferienjobs nicht anzurech- für was auch immer. In meiner Heimatstadt Köln gibt es
nen, schnöde abgelehnt. Klaus Wowereits Versprechen ein schönes Sprichwort: Mer muss och jönne künne. Auf
in der Sendung hart aber fair, diese Gerechtigkeitslücke Hochdeutsch: Man muss auch gönnen können. Gönnen
zu schließen, war wohl nicht ganz ernst gemeint. Sie er- Sie, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
innern sich an die Enttäuschung der 15-jährigen Laura, den Schülerinnen und Schülern ihren ganzen Lohn aus
die gejobbt hatte, um sich einen Elektrobass zu kaufen. dem Ferienjob und verzichten Sie darauf, den Ferienver-
Hartnäckig wie wir sind, hatten wir Linken im Novem- dienst von Jugendlichen aus SGB-II-Haushalten einzu-
ber 2009 erneut einen Antrag eingebracht, in dem gefor- schränken! Es muss doch darum gehen – darin sind wir
dert wurde, auf die Anrechnung von Verdiensten aus Fe- uns doch einig –, die ungerechte und entmutigende Son-
rienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verzichten. Nun derbehandlung von Schülerinnen und Schülern aus ar-
legen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, men Familien abzuschaffen. Lassen Sie uns deshalb
einen Antrag vor, den ich mit Ausnahme eines – aller- keine neue Sonderbehandlung einführen!
dings entscheidenden – Wortes teilen kann. Der Gang in
die Opposition hat also offensichtlich zu einem Sinnes- Zum Schluss möchte ich ein Wort an die Kolleginnen
wandel bei Ihnen geführt oder einen Lernprozess ausge- und Kollegen von Union und FDP richten
löst. Wie auch immer, herzlich willkommen auf der rich- (Zuruf von der SPD: Wird auch Zeit!)
tigen Seite.
und sie heute erneut an das Versprechen erinnern, dass
(Beifall bei der LINKEN) der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder,
in der Fernsehsendung hart aber fair abgegeben hat. Er
Ja, Ihr Antrag weist in die richtige Richtung,
hat versprochen, dass es nicht dabei bleiben dürfe, dass,
(Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP]) wie es in dieser Sendung eindruckvoll geschildert wor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1713
Matthias W. Birkwald
(A) den ist, eine Schülerin von ihrem gesamten Lohn aus Ich habe an dem Antrag der Linken kritisiert, dass sie (C)
dem Ferienjob nur 100 Euro behalten darf. In dieser Hin- nur die materiellen Vorteile für die Jugendlichen – den
sicht habe ich den Redebeitrag von Herrn Dr. Linnemann Verdienst und den Vergleich mit anderen Jugendlichen –
mit großer Freude vernommen. Ich fordere Sie auf: Le- gesehen hat.
gen Sie zügig einen entsprechenden Gesetzentwurf vor!
Das Problem muss in den Osterferien endlich vom Tisch Dieser Punkt ist jetzt von der SPD aufgegriffen wor-
sein. den: Man hat sich die Mühe gemacht, auch die Gedanken
von den Chancen, die ein Ferienjob für die Orientierung
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- bei der Berufswahl bietet, und von den Chancen, die ein
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ferienjob für die Stärkung des Selbstbewusstseins bietet,
GRÜNEN) zu Papier zu bringen. All das finden wir auch. Ich habe
damals gesagt, dass uns Liberalen die Erfahrung des Ge-
Meine Damen und Herren von der FDP, die Leistung lingens besonders wichtig ist. Das ist – mein Kollege
von Ferienjobberinnen und Ferienjobbern aus Hartz-IV- Carsten Linnemann hat das auch gesagt – wirklich eine
Haushalten am Fließband, am Schreibtisch, im Lager gute Sache.
oder am Computer muss sich genauso lohnen wie die al-
ler anderen jobbenden Schülerinnen und Schüler. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wenn das
so ist, dann nichts wie zustimmen!)
Vielen herzlichen Dank.
Ich habe aber auch kritisch angemerkt, dass Miss-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- brauch ausgeschlossen werden muss. Wir müssen irgend-
neten der SPD) wie sicherstellen, dass es wirklich die Jugendlichen sind,
die arbeiten, und dass das Geld wirklich den Jugendlichen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zur Verfügung steht. Das mag nicht das größte Problem
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die sein; aber auch dieses Problem sollten wir im Auge be-
FDP-Fraktion. halten.
(Beifall bei der FDP) (Anette Kramme [SPD]: Das geht künftig alles
auf ein Sperrkonto!)
Pascal Kober (FDP): Ich habe einen weiteren Punkt kritisiert; es wundert
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mich wirklich, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht ha-
Das ist heute meine fünfte Rede im Deutschen Bundes- ben, sich daran zu erinnern oder, wenn Sie damals nicht
tag. Ich bin neu gewählt worden, rede heute aber schon zugehört haben, es nachzulesen. Uns von der FDP wun-
(B) zum zweiten Mal zum gleichen Thema. dert, dass Sie hier nur an diejenigen denken, die für eine (D)
begrenzte Zeit in einem Ferienjob arbeiten. Was ist denn
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD
mit den Jugendlichen, die Woche für Woche vielleicht
und der LINKEN)
Zeitungen austragen,
Das ist wirklich etwas Besonderes; das hatte ich so nicht
(Otto Fricke [FDP]: Da denken die nicht dran!
erwartet.
Dass man die SPD an so etwas erinnern muss!)
Am 26. November 2009 haben wir über einen nahezu
babysitten, den Rasen des Nachbarn mähen etc.? Es gibt
identischen Antrag diskutiert. Er ist ein bisschen detail-
ganz andere Arbeitsverhältnisse als nur Ferienjobs. Was
reicher ausgeführt; aber im Grundsatz geht es heute um
ist mit diesen Jugendlichen? Wir von der christlich-libe-
den gleichen Antrag.
ralen Koalition wollen sie jedenfalls nicht vergessen.
(Katja Mast [SPD]: Das ist ein konkreter
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Vorschlag!)
Katja Mast [SPD]: 100 Euro Zuverdienst im
Deshalb wundert es mich, dass Sie es nicht für nötig Monat!)
befunden haben, einmal nachzulesen, was die Kollegin-
Jetzt haben Sie uns vorgeworfen, dass seit August in
nen und Kollegen von der Union und von der FDP, aber
dieser Frage nichts geschehen ist. Nun möchte ich zu-
auch von den anderen Fraktionen in dieser Debatte ge-
mindest klarstellen, dass wir von der FDP am 27. Sep-
sagt haben.
tember in die Regierung gewählt wurden
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das be-
Das haben wir! – Christian Lange [Backnang]
reut die Mehrheit der Deutschen schon!)
[SPD]: Sie können auch auf Ihren Redebeitrag
verzichten!) und der Bundestag erst seit November tagt. Insofern
sage ich nur eines: Hätten Sie sich vielleicht mehr Zeit
Für den Grundgedanken habe ich durchaus Sympa- gelassen und mehr darüber nachgedacht, was Sie bei den
thie bekundet. Kollege Birkwald, wir von der FDP glau- Hartz-IV-Reformen tun, dann wäre vielleicht manches
ben wirklich, dass Leistung sich lohnen muss. Das muss für die Betroffenen nicht so hart gekommen, wie es sich
natürlich – da haben Sie völlig recht – für jede Leistung jetzt darstellt.
gelten, insbesondere für die Leistung von Jugendlichen,
die sich die Mühe machen, in einem Ferienjob zu arbei- (Anette Kramme [SPD]: Sagen Sie das Ihrem
ten. Koalitionspartner! – Katja Mast [SPD]: Das
1714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Pascal Kober
(A) kommt aus dem Vermittlungsausschuss! – Ge- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Von euch nicht! (C)
genruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Sie haben Nicht von den Grünen, Herr Kurth!)
doch dem Vermittlungsausschussergebnis zu-
Herr Kober, in derselben Debatte haben Sie Ihre
gestimmt!)
grundsätzliche Sympathie – das haben Sie jetzt bekräf-
Wir stellen uns im Sinne der betroffenen Menschen tigt – für den Antrag der Fraktion Die Linke ausge-
unserer Verantwortung. Wir werden jetzt sukzessive, gut drückt.
durchdacht, die gröbsten Härten und Ungerechtigkeiten,
(Pascal Kober [FDP]: Für den Kerngedanken,
die Rot-Grün in die Gesetze geschrieben hat, ausbessern.
Herr Kurth!)
(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- – Nein, ich habe das im Protokoll nachgelesen: Sie ha-
SES 90/DIE GRÜNEN) ben von grundsätzlicher Sympathie gesprochen. Sie ha-
Wir haben uns auf den Weg gemacht und bereits ange- ben auch gesagt:
kündigt, dass wir im Rahmen der Diskussion über Hin- Immerhin greifen Sie ein Kernelement liberaler Ge-
zuverdienstmöglichkeiten auch über dieses Thema bera- rechtigkeitsvorstellungen auf, das wir gerne unter
ten und entscheiden werden. Das heißt nicht unbedingt, dem Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Aus-
dass es zu einer Aufrechnung kommen wird. Wir werden druck bringen.
prüfen, wie wir das lösen können. Seien Sie einmal ge-
spannt, wie wir ganz in Ihrem Sinne, im Duktus Ihres (Pascal Kober [FDP]: Richtig! – Otto Fricke
Antrages, einen gescheiten Antrag vorlegen werden. [FDP]: So ist es!)
Vielen Dank. Bei so viel Zustimmung zum Anliegen sollte man
meinen, dass eine gesetzliche Regelung bei der nächst-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katja besten Gelegenheit zu erwarten wäre.
Mast [SPD]: 1 200 Euro für Markus!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
LINKEN – Otto Fricke [FDP]: So war das bei
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Rot-Grün immer! Bei jeder Gelegenheit ein
der Kollege Markus Kurth. Gesetz!)
(Otto Fricke [FDP]: Ein rot-rot-grüner Antrag! (Otto Fricke [FDP]: Das muss „meine früher
Den möchte ich sehen!) lieben“ heißen!)
Sie müssen das einfach realisieren: Die Linken waren
Es stellt sich die Frage, ob sich, wenn man sich diesen hier schneller. Sie hecheln den Linken hinterher. Nichts
Gesetzentwurf, den Arbeitsentwurf, näher anschaut, mehr bedeutet Ihr heutiger Antrag.
auch nur ein Hinweis darauf findet. Nein, ganz im Ge-
genteil: Sie wollen die Sanktionen verschärfen. Daran (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
zeigt sich, was Sie von Union und FDP wirklich wollen. LINKE])
(B) – Sie haben das völlig zu Recht ausgeführt. (D)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Anette Kramme Liebe Kollegin Mast, wenn Sie das Protokoll vom
[SPD]: Genau!) 26. November 2009 gelesen haben – ich unterstelle das –,
dann wissen Sie, dass nicht nur das darin steht, was Sie
Sie bieten denjenigen jungen Menschen, die in ALG-II-
zitiert haben.
Bedarfsgemeinschaften leben und Leistungen erbringen
– etwa im Ferienjob –, keine verbesserten Anreize, son- (Anette Kramme [SPD]: Sie haben nicht zuge-
dern Sanktionen. Wie wäre es, wenn Sie von der Regie- hört!)
rungskoalition sich einmal darum kümmern würden, die
Anreize für diejenigen zu verbessern, die arbeiten wol- Nichts ist schlimmer als Halbwahrheiten. Diese sind oft
len? schlimmer als eine Lüge.
Jawohl, auch wir sehen hier einen Handlungsbedarf.
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen fordern schon seit Es ist auch völlig richtig, dass unser Fraktionsvorsitzen-
langem eine verbesserte Förderung von Arbeitslosen, ei- der bereits im August in der Sendung hart aber fair ge-
nen höheren Regelsatz – insbesondere für Kinder und sagt hat, hier bestehe Handlungsbedarf. In der Debatte
Jugendliche – und eine Verbesserung der Arbeitsanreize. am 26. November 2009 haben wir hier zur gleichen Zeit
Daher werden wir den Antrag der SPD-Fraktion unter- am selben Ort ausgeführt, dass wir bis Mitte des Jahres
stützen. eine Lösung bei den Hinzuverdienstgrenzen anstreben –
Vielen Dank. nicht mehr und nicht weniger. Lieber Herr Kurth, wir ar-
beiten gründlich und nicht vorschnell.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sehr langsam! –
und bei der SPD – Anette Kramme [SPD]: Wir Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer
revanchieren uns!) Zwischenfrage)
– Kollegin Mast, ich lasse grundsätzlich liebend gern
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
eine Zwischenfrage zu, aber wir sind heute arg in Ver-
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege zug, und ich will meine Redezeit eh nicht komplett aus-
Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. schöpfen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir haben zu dem Thema das Wesentliche gesagt. Sie
Pascal Kober [FDP]) haben meine Argumente bereits nachgelesen. Ich glaube,
1716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Paul Lehrieder
(A) das meiste ist bereits in der Debatte über den Antrag der – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, (C)
Linken ausgeführt worden. Hartz IV ist ein lernendes Jan Korte, Wolfgang Nešković, weiterer Abge-
System. Kollege Linnemann hat völlig zu Recht darauf ordneter und der Fraktion DIE LINKE
hingewiesen: Am 9. Februar 2010 gibt es eine Entschei-
Abschiebungen nach Syrien stoppen – Ab-
dung zu den Bedarfssätzen für Kinder. Auch hier müssen
schiebeabkommen aufkündigen
wir etwas tun.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Im Übrigen haben wir mit unseren früheren Partnern Winkler, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
– auch das haben Sie längst vergessen – die Hartz-IV- weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Sätze für 6- bis 13-Jährige zum 1. Juli 2009 um 35 Euro BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erhöht. Wir haben das Schulstarterpaket eingeführt, und
wir werden jetzt das Schonvermögen verdreifachen. Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-
Dazu werden wir morgen etwas ausführen. Syrischen Rückübernahmeabkommens
Hartz IV ist ein lernendes Problem, Hartz IV ist nicht – Drucksachen 17/237, 17/68, 17/570 –
perfekt, und bei Hartz IV gibt es noch Ungereimtheiten. Berichterstattung:
Eine der Ungereimtheiten bei Hartz IV ist die fehlende Abgeordnete Reinhard Grindel
Motivation für Schüler, sich zur Integration ins Berufsle- Rüdiger Veit
ben rechtzeitig zu einem Unternehmen aufzumachen, da Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
sie den Hinzuverdienst nicht für sich behalten dürfen. Ulla Jelpke
Hier werden wir etwas ändern. Wir, die christlich-libe- Josef Philip Winkler
rale Koalition, haben das Thema auf dem Schirm.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schwarz- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Gelb heißt das!) Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
Bevor wir zu schnell handeln und einen Schuss aus
der Hüfte abgeben, werden wir das gründlich und or- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er-
dentlich ausarbeiten. Ich hoffe, dass wir bis zum teile ich der Kollegin Angelika Graf für die SPD-Frak-
Sommer die Lösung vorlegen können. Sie wird besser tion das Wort.
als beide Papiere sein: besser als das Papier der Linken (Beifall bei der SPD)
vom 25. November 2009 und besser als das Papier der
(B) SPD vom 26. Januar 2010. Deshalb werden wir heute Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): (D)
auch den vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Danke schön. Die relativ gute Nachricht zuerst: Der seit seiner Ab-
schiebung aus Deutschland im September 2009 in syri-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- scher Haft befindliche syrische Kurde Khaled Kenjo ist
neten der FDP) anscheinend aus der Haft geflohen – wir hatten in unse-
rem Antrag die Begleitung seines Prozesses durch die
deutsche Botschaft gefordert – und hat in der Türkei
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Asyl beantragt.
Ich schließe die Aussprache.
Er klagt in einem Interview darüber, in Damaskus zu-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf nächst sieben Tage in einer winzigen Einzel-Dunkelzelle
Drucksache 17/524 an die in der Tagesordnung aufge- festgehalten worden zu sein. Sie sei so klein gewesen,
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dass er sich zum Schlafen nicht habe ausstrecken kön-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung nen. Er sei vier Tage von der Staatssicherheit verhört
so beschlossen. worden. Man habe ihm bei allen Verhören die Augen
verbunden und die Hände gefesselt. Er sei geohrfeigt
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 15 a und und mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile ge-
15 b: schlagen worden.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zentral während der Verhöre sei die Frage nach der
Christoph Strässer, Dr. Rolf Mützenich, Edelgard Teilnahme an einer Demonstration in Berlin gegen das
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Frak- deutsche Rückübernahmeabkommen mit Syrien im Jahr
tion der SPD 2008 gewesen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Mei-
nung, dass dieses Rückübernahmeabkommen gekündigt
Syrien – Abschiebungen beenden, politischen werden muss. Wir orientieren uns dabei an Art. 3 der Eu-
Dialog fortführen ropäischen Menschenrechtskonvention, die Folter und un-
menschliche Behandlung verbietet.
– Drucksache 17/525 –
Dabei nehmen wir durchaus positiv zur Kenntnis,
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dass sich die Stellung Syriens in der internationalen Poli-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) tik verbessert hat, unter anderem durch die Aufnahme
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1717
Angelika Graf (Rosenheim)
(A) diplomatischer Beziehungen zum Libanon und die Be- Bilanz des 2009 in Kraft getretenen Rückführungsab- (C)
reitschaft, mit den USA und Israel zu verhandeln. Wir kommens mit Syrien aussieht. Im ersten Halbjahr 2009
bedauern es sehr, dass die Zeichnung des Assoziations- wurden 28 Personen abgeschoben, in drei Fällen kam es
abkommens mit der EU durch Syrien bisher nicht erfolgt unmittelbar im Anschluss zu Inhaftierungen. Entspre-
ist. chende Nachfragen des Auswärtigen Amtes wurden von
den syrischen Behörden nicht beantwortet.
Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion muss die Bun-
desregierung den Öffnungsprozess Syriens gegenüber Wir müssen damit rechnen, dass weitere solche Fälle
den Nachbarländern in der Region und der internationa- folgen, wenn nicht die Reißleine gezogen wird. Neben
len Gemeinschaft weiter unterstützen, auch und gerade einer Inhaftierung kann Ausgewiesenen zum Beispiel
in Hinsicht auf den Nahostkonflikt. Das Angebot an eine Anklage wegen Verbreitung von Lügen und Be-
Syrien zur Zeichnung des Assoziationsabkommens, und schädigung des Ansehens Syriens im Ausland drohen.
zwar inklusive der Menschenrechtserklärung, muss die Dies sind alles Punkte, die man sehr ernst nehmen muss.
Bundesregierung gemeinsam mit der EU aufrechterhal- Mitte Dezember 2009 hat die Bundesregierung die Bun-
ten. desländer genau deshalb in einem Rundschreiben aufge-
fordert, Rückführungen illegal aufhältiger Personen
Den positiven Signalen in der Außenpolitik stehen
nach Syrien mit besonderer Sorgfalt zu prüfen. Das Bun-
leider sehr negative Signale hinsichtlich der Menschen-
desamt für Migration und Flüchtlinge wurde gebeten,
rechtslage in Syrien gegenüber. Wir fordern die Bundes-
vorerst keine Asylanträge als offensichtlich unbegründet
regierung deshalb auf, sich bilateral und auch auf EU-
abzulehnen und Entscheidungen über Folgeanträge zu-
Ebene für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in
rückzustellen. Das ist aus unserer Sicht nicht ausrei-
Syrien sowie für die Freilassung syrischer politischer
chend. Wir brauchen einen Abschiebestopp und eine
Gefangener einzusetzen.
Kündigung dieses Rückübernahmeabkommens.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
DIE GRÜNEN)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein genauer Blick auf die Menschenrechtslage in
Bei syrischen Staatsangehörigen und bei für Syrien
Syrien zeigt, dass Folter, Misshandlung von Gefangenen
bestimmten Staatenlosen müssen Abschiebungen so
und das Verschwindenlassen von Menschen leider keine
lange ausgesetzt werden, bis sich die Menschenrechts-
Ausnahmeerscheinungen sind. Es gibt Korruption, Zen-
lage in Syrien erkennbar verbessert hat. Die Notwendig-
sur und keinen verlässlichen Rechtsstaat.
keit dafür können wir nicht nur den dokumentierten In-
Seit 1963 gilt in Syrien der Ausnahmezustand, wes- haftierungen, sondern auch der Reaktion – vielmehr der
(B) wegen die rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung mangelnden Reaktion – der syrischen Behörden auf (D)
weitgehend außer Kraft sind. Das Auswärtige Amt deutsche Nachfragen hinsichtlich des Schicksals der Ab-
spricht übrigens von einem von Sicherheitsapparaten geschobenen entnehmen.
und vom Militär geprägten autoritären Regime.
Der aktuelle Zustand führt zudem zu einer tiefen Ver-
Es gibt in Syrien etwa 13 Menschenrechtsorganisatio- unsicherung der von Abschiebung bedrohten Syrer, die
nen, darunter auch kurdische. Diesen gilt unsere Unter- kein Dauerzustand sein darf. Die taz hat am Montag be-
stützung. Ihre Lage ist sehr schwierig. Politisch sensib- richtet, dass die Empfehlungen des Bundes an die Län-
len Vereinen wird in der Regel die Registrierung der bisher wohl nicht gefruchtet haben. So ist von einem
verwehrt. Das hat zur Folge, dass jemand, der sich in Fall die Rede, wo ein Syrer am 5. Januar 2010 um 5 Uhr
nicht genehmigten Vereinen engagiert, mit bis zu drei morgens von der Polizei abgeholt worden ist, um ihn so-
Jahren Haft bestraft werden kann. fort abzuschieben, was durch den Niedersächsischen
Flüchtlingsrat und einen von ihm eingeschalteten An-
Schikane und Verhaftungen sind keine Seltenheit. Es
walt gerade noch verhindert werden konnte. Es reicht
gibt laut dem von Menschenrechtsanwälten betriebenen
deshalb offensichtlich nicht, Empfehlungen auszuspre-
Syrian Human Rights Information Link fast 1 000 politi-
chen und dann zu hoffen, dass schon alles gut gehen
sche Gefangene in Syrien. 2008 gab es 183 Festnahmen
wird. Es reicht nicht, darauf zu vertrauen, einen Rechts-
und 129 Verurteilungen.
staat zu haben, der schon verhindern wird, dass Abschie-
Andere Organisationen sprechen von noch höheren bungen in menschenrechtlichen Katastrophen enden.
Zahlen. Ich verweise auch darauf, dass der Menschen- Genau das ist aber passiert. Wir sprechen nicht von ir-
rechtspreis des Deutschen Richterbundes an einen syri- gendwelchen erfundenen Situationen. Wir brauchen also
schen Anwalt gegangen ist, der unter Einsatz seines Le- eine klare Rechtslage. Die Bundesregierung ist in der
bens Menschen in Syrien verteidigt. Er konnte zur Bringschuld, diese klare Rechtslage zu schaffen.
Preisverleihung übrigens nicht erscheinen, weil er in Sy-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
rien im Gefängnis saß.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wissen also, wie sich die menschenrechtliche
Das aber geht nur mit einer Kündigung dieses Rück-
Lage in Syrien darstellt. Das betrifft insbesondere die Si-
übernahmeabkommens.
tuation der rund 2 Millionen Kurden im Land. Noch viel
stärker aber betrifft es die 250 000 bis 300 000 Kurden in Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte
Syrien ohne syrische Staatsangehörigkeit sowie alle poli- um Zustimmung für unseren Antrag. Was die Anträge
tisch engagierten Kurden. Wir wissen auch, wie die erste der Grünen und Linken betrifft, gibt es Kollegen in unse-
1718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
Reinhard Grindel
(A) lücke in unserer Ausländerpolitik zu schließen. Deshalb tert wurde, es dann aber glücklicherweise geschafft hat, (C)
lehnen wir die Anträge der Opposition ab. wieder aus Syrien herauszukommen. Ich bin der Mei-
nung, dass Deutschland alles tun sollte, damit Khaled
Vielen Dank.
Kenjo wieder nach Deutschland kommen kann, hier auf-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- genommen wird und nach dem, was er erlebt hat, ent-
neten der FDP) sprechend versorgt wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ulla Was Sie hier heute vorgeführt haben, Herr Grindel,
Jelpke das Wort. zeigt, dass das Abschiebeinteresse dieser Bundesregie-
rung offensichtlich schwerer wiegt als die Sicherheit von
(Beifall bei der LINKEN) Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben.
Das ist so, obwohl Sie alles das wissen, was in Syrien
Ulla Jelpke (DIE LINKE): passiert. Das hat auch die Debatte gestern im Innenaus-
Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf der Tribüne, die Sie schuss gezeigt. Sie lehnen unsere Anträge gänzlich ab.
Migranten aus Syrien und Kurden sind und dieser De- Ich finde es ziemlich zynisch, Herr Grindel, wenn Sie sa-
batte heute folgen! Meine Damen und Herren! Die Linke gen – sei es im Innenausschuss oder heute hier –, es
fordert schon lange, dass Abschiebungen nach Syrien seien nur drei Leute verhaftet worden, verhört worden;
sofort gestoppt werden müssen und das Rückübernah- bei einem sei es ein bisschen schiefgegangen. Ich
meabkommen mit Syrien aufgekündigt werden muss; möchte Sie gern einmal fragen: Woher wissen Sie ei-
gentlich, was mit anderen Abgeschobenen passiert ist?
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Eine Anfrage des Bayerischen Flüchtlingsrates bei-
Aber das ist doch ein sozialistisches Regime in spielsweise hat ergeben, dass das Auswärtige Amt von
Syrien!) der syrischen Regierung keine Antwort auf die Frage be-
denn die Bundesregierung liefert damit dem syrischen kommt, was mit den Flüchtlingen dort überhaupt pas-
Regime Oppositionelle regelrecht ans Messer. Das ist siert ist. Das gilt auch für die konkreten Fälle, wie man
unverantwortlich und muss sofort beendet werden. nachlesen kann. Deswegen bleibt die Linke dabei: Das
Rückübernahmeabkommen mit Syrien muss sofort ge-
(Beifall bei der LINKEN) kündigt werden. Das gebieten die Menschenrechte und
Es ist schon lange bekannt, dass in Syrien gefoltert die Humanität.
wird und die Menschenrechte nicht viel wert sind. Ganz (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(B) besonders gilt dies für Angehörige der kurdischen Min- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
derheit. Von Anfang an hat die Linke dagegen protes-
tiert, Herr Grindel, ein Abschiebeabkommen mit einem Mehr als 8 000 Menschen fürchten, dass sie abgescho-
dezidierten Folterstaat zu schließen – mit einem Staat, ben werden. Diese Menschen brauchen einen sicheren
der die meisten internationalen Menschenrechtsabkom- Aufenthalt und eine Zukunftsperspektive ohne Angst.
men nicht unterzeichnet hat, zum Beispiel auch die Gen- Ich sage hier ganz deutlich: Wir werden weiter Druck
fer Flüchtlingskonvention nicht. So etwas geht unseres machen mit den zahlreichen Flüchtlingsinitiativen und
Erachtens gar nicht. Menschenrechtsorganisationen, die in den vergangenen
(Beifall bei der LINKEN) Tagen auf die Straße gegangen sind und dafür eingetre-
ten sind, dass es eine humane Politik für die Flüchtlinge
Das Abschiebeabkommen ist, wie das von Herrn aus Syrien gibt. Ich hoffe, dass wir andere Fraktionen
Grindel richtig dargestellt wurde, in der Tat von Innen- dafür gewinnen, diese Aktionen zu unterstützen.
minister Schäuble ausgehandelt worden. Aber auch ich
denke, es ist wenig glaubwürdig, wenn die SPD heute so Ich danke.
tut, als hätte sie es nicht verhindern können. Nichtsdesto- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
trotz, in der Opposition hat die SPD die Menschenrechte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
wiederentdeckt.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Unsinn!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Das ist aber nicht Nun hat das Wort der Kollege Hartfrid Wolff für die
mein Problem. Mir geht es um die Sache. Deswegen FDP-Fraktion.
sage ich: besser spät als nie. Von daher sollte man die (Beifall bei der FDP)
Position der SPD hier jetzt respektieren.
Auch das Auswärtige Amt, Herr Grindel, gibt mittler- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
weile zu: Die Menschenrechtslage in Syrien ist unbefrie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
digend. Es gibt Folter, Misshandlung und Fälle von Ver- SPD, wenn sie an der Regierung ist, ihre Wahlverspre-
schwinden-Lassen. Die Kollegin Graf hat schon auf den chen wenig ernst nimmt, ist in Deutschland inzwischen
Fall des Kurden Khaled Kenjo aufmerksam gemacht, der sattsam bekannt. Neu aber ist der umgekehrte Vorgang.
versucht hat, in Deutschland Asyl zu bekommen, dann Eine ehemalige Regierungspartei distanziert sich nur we-
nach Syrien abgeschoben wurde und dort, wie wir gehört nige Wochen nach ihrer Abwahl von der eigenen Politik.
haben, sieben Tage in Dunkelhaft gehalten wurde, gefol- Das ist es, was wir im Fall des Rückübernahmeabkom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1721
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) mens mit Syrien nun zur Kenntnis nehmen müssen. Es (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das wäre (C)
ist wirklich bizarr, wenn der ehemalige Vizekanzler und menschlich!)
Außenminister Steinmeier, der dieses Abkommen mit
Im Falle einer erkennbaren Verfolgung gewährt die Bun-
Syrien ausgehandelt hat, plötzlich als Fraktionsvorsit-
desrepublik bereits heute Schutz. Das muss und wird
zender in der Opposition so seine ureigene Regierungs-
auch so bleiben.
arbeit für unsinnig erklärt.
Die Grünen fordern, dass das Schicksal der bisher
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nach Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung
der CDU/CSU) aufgeklärt und der Bundestag darüber unterrichtet wird.
Es ist leider nichts Neues, wenn ich feststelle: Die Das ist selbstverständlich und, soweit bislang möglich,
Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig; Meinungs- auch schon geschehen.
und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; die In- Laut Antrag soll die Bundesregierung auch die Er-
landsopposition ist starken Repressionen ausgesetzt. kenntnisse über den Umgang mit nach Syrien Abgescho-
Dies benennt die neue Bundesregierung ebenso wie ihre benen bei der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für
Vorgängerin. Migration und Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu
ist zu sagen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien
Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhand- in die Bewertung einbezogen. Das Bundesinnenministe-
lungen heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorgani- rium hat dankenswerterweise die Länder nochmals sen-
sationen haben Abschiebungen nach Syrien generell ab- sibilisiert und gebeten, bis zu einer abschließenden Klä-
gelehnt. Da ist es auch aus Ihrer Sicht konsequent, wenn rung anstehende Abschiebungen nach Syrien mit
Sie entsprechende Beschleunigungsmechanismen ableh- besonderer Sorgfalt zu prüfen.
nen. Die Vorgängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier
hat sich dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschie- Dass Rückübernahmeabkommen sowohl auf nationa-
den. Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes In- ler wie europäischer Ebene nur mit Staaten abgeschlos-
strument des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der sen werden sollen, die die wesentlichen menschenrecht-
Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu ef- lichen Übereinkommen unterzeichnet haben, ist
fektivieren. wohlfeil. Auch für die FDP-Bundestagsfraktion ist unbe-
streitbar, dass Rückübernahmeabkommen nicht einfach
Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blanko- blind abgeschlossen werden dürfen.
schecks für Ausländerbehörden; vielmehr ist weiterhin,
wie immer, genau zu prüfen, ob im Einzelfall die Vo- (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist
raussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Gewäh- doch schon mal was!)
(B) rung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen set- (D)
Der jeweilige Partner muss nicht nur beim Abschluss,
zen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur sondern auch danach, bei der Durchführung des Abkom-
Ausreise verpflichtet ist. mens, in die Pflicht genommen werden. Diese Aufgabe
nimmt die Bundesregierung wahr.
Wenn die Linken hier eine Aufgabe des Abkommens
fordern, ist das aus ihrer Sicht folgerichtig: Eine mög- (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wo?)
lichst weitgehende Aushöhlung des Ausländerrechts
Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für
durch inflationären Umgang mit dem Abschiebestopp ist
andere Fälle, liebe Kollegin, muss die Notwendigkeit ei-
hier Programm. Das ist einfach die linke Spielart von
nes Abschiebestopps genau geprüft werden. Auch des-
„am deutschen Wesen soll die Welt gewesen“.
halb werden wir die Menschenrechtslage in Syrien unse-
(Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat dir denn das auf- rerseits weiterhin kritisch und regelmäßig beobachten
geschrieben?) und, wenn nötig, auch die entsprechenden Maßnahmen
ergreifen.
Dies ist aus Sicht der FDP zu einfach.
Vielen Dank.
Die Forderung der vorliegenden Anträge, das Rück- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
übernahmeabkommen auszusetzen, lehnen wir ebenso
ab wie die Forderung, die Abschiebungen nach Syrien
sofort generell zu stoppen. Für einen Abschiebestopp Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sind in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zustän- Herr Kollege Wolff, Sie haben heute Geburtstag. Ich
dig. Generelle Abschiebestopps können auch nur ein gratuliere Ihnen sehr herzlich
letztes Mittel für eine besonders eskalierende Situation (Beifall)
sein.
und wünsche Ihnen einen ganz besonders schönen
Die Linken fordern die Bundesregierung auf, gegen- Abend am heutigen Festtag und ansonsten alles, alles
über den Bundesländern anzuregen, generell ein huma- Gute.
nitäres Bleiberecht zu gewähren. Eine generelle Ge-
(Rüdiger Veit [SPD]: Und gute Erkenntnisse
währleistung würde die Systematik unseres Asyl- und
im nächsten Lebensjahr!)
Aufenthaltsrechts aushebeln: Dieses sieht vor, dass in je-
dem Einzelfall die besondere Verfolgungssituation nach- Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker
zuweisen ist. Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
1722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schoben haben, zustimmen müssten. Ich erwarte von der (C)
Herr Kollege Wolff, herzlichen Glückwunsch zum Bundesregierung, dass sie uns auflistet, wer abgescho-
Geburtstag. Trotzdem muss ich sagen: Das, was Sie und ben wurde, und in Erfahrung bringt, ob diese Menschen
Herr Grindel hier abgeliefert haben, war vom Niveau her noch leben, ob diese Menschen noch in Freiheit sind
ein Tiefpunkt der Debatte des heutigen Tages. oder ob sie verschwunden sind, wie es wahrscheinlich
als Ergebnis festzustellen sein wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der SPD) bei der SPD und der LINKEN)
Sie treten hier als christlich-liberale Koalition an; aber in Herr Grindel, ich habe in Ihrer Rede sehr viel über die
Ihren Reden habe ich weder etwas Christliches noch et- Systematik des Ausländerrechts gehört.
was Liberales gefunden.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht ja
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch um Ausländerrecht!)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) Auch ich bin dafür, dass jemand, der weder Flüchtling
noch legaler Migrant ist, nicht hier bleiben darf, sofern
Es steht doch außer Zweifel – das sagt ja sogar der es keine humanitären Abschiebehindernisse gibt. Das ist
Bericht des Auswärtigen Amtes – selbstverständlich; denn ansonsten macht eine gesteuerte
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Plattitü- Migrationspolitik keinen Sinn. Aber dieses Prinzip kann
den, Herr Kollege!) man nicht um jeden Preis gegen Menschen durchsetzen,
bei denen de facto EMRK-Abschiebehindernisse beste-
– reden Sie einmal über die Menschen in diesem Zusam- hen.
menhang! –,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sollten bei der SPD und der LINKEN)
Sie tun!)
Es ist doch ganz offensichtlich, dass die Garantien der
dass abgeschobene Syrer in Syrien mit dem Tatvorwurf Menschenrechtskonvention in Syrien nicht respektiert
festgenommen wurden, dass sie in Deutschland an De- werden. In diesem Fall kommt es nicht auf das kodifi-
monstrationen gegen das deutsch-syrische Abschiebeab- zierte Recht an, sondern auf die tatsächliche Praxis.
kommen teilgenommen oder dass sie hier Asylanträge Diese haben wir ja nun kennengelernt. Sie machen sich
gestellt haben. Das heißt doch, eine Abschiebung von zum Komplizen eines Regimes, das die Menschenrechte
(B) Personen, auf die diese Tatbestände zutreffen, ist nicht mit Füßen tritt, wenn Sie ihm die Menschen ans Messer (D)
zu verantworten. Das gilt doch faktisch für alle. Sie ha- liefern, indem Sie sie im Rahmen eines solchen Abkom-
ben doch alle einen Asylantrag gestellt. Deswegen wird mens abschieben.
ihnen dann in Syrien vorgeworfen, sie hätten das Land
beleidigt und Respekt gegenüber dem syrischen Staat Ich bin wirklich entsetzt, dass man hier so hartherzig
vermissen lassen. Das wissen wir doch. Wir können uns darüber herzieht und keine effiziente Maßnahme ergreift.
als Bundestag, als Gesetzgeber, und als Bundesregierung Es gibt einen Brief des Bundesinnenministeriums – wie
doch nicht dümmer stellen, als wir sind. wunderbar! Aber was schert sich Ihr niedersächsischer
Innenminister darum? Am 5. Januar wurde – Frau Graf
(Beifall bei der SPD) hat es zitiert – erneut versucht, einen kurdischen Syrer
Wir wissen, dass das passiert ist. Das ist eine neue Sach- abzuschieben. Das konnte vom Anwalt gerade noch ver-
lage, die man zur Kenntnis nehmen muss, selbst wenn hindert werden. Aber in unserem Rechtsstaat, der huma-
man bei der Ratifizierung des Abkommens noch wegge- nitär orientiert ist, muss doch klar sein, dass nicht nur
schaut hat. Das ist geschenkt. derjenige, der einen Anwalt griffbereit hat, sein Leben
retten kann. Vielmehr müssen unsere Gesetzgebung und
(Zuruf des Abg. Reinhard Grindel unsere Verwaltungspraxis von Anfang an garantieren,
[CDU/CSU]) dass die Menschen nicht in ein Land abgeschoben wer-
Aber wenn wir sehen, dass wir durch die praktische den, in dem sie umgebracht werden, in dem sie festge-
Umsetzung des Abkommens, also durch Abschiebung, setzt werden und ihre Freiheit verlieren oder in dem sie
Leib, Leben und Freiheit von Menschen gefährden, dann durch Folter ihre Gesundheit verlieren.
muss man die Umsetzung aussetzen. Von mir aus müs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
sen Sie es nicht kündigen. Mir ist erst einmal auch egal, bei der SPD und der LINKEN)
welchen Aufenthaltsstatus die Betroffenen bekommen.
Diese Frage können wir später klären. Ich bin da ganz Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwartet habe.
bei Ihnen. Jetzt geht es aber erst einmal darum, das Le- Ich bin entsetzt, dass Sie das nicht machen – vielleicht
ben dieser Menschen zu retten. Deshalb haben wir es in nicht auf Grundlage der Anträge der Opposition; das
unserem Antrag auch so soft formuliert, dass Sie, wenn wäre ja geschenkt. Aber Sie haben nicht im Ansatz er-
Sie noch ein Stückchen Humanität im Herzen und im kennen lassen, dass Ihnen das Leben und die Freiheit
Kopf haben, unserer Forderung, das Abkommen auszu- dieser Menschen etwas wert sind. Sie wollen zynisch
setzen, keinen mehr abzuschieben und die Leute hier zu Ihre ausländerrechtliche Logik exekutieren – auf dem
lassen und uns um all die zu kümmern, die wir abge- Rücken dieser Menschen. Ich bin wirklich entsetzt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010 1723
Volker Beck (Köln)
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dr. Martin Lindner, Dr. Gesine Lötzsch, Sylvia Kotting- (C)
bei der SPD und der LINKEN) Uhl und Parlamentarischer Staatssekretär Peter Hintze.
Andreas G. Lämmel
(A) Bei der Erweiterung des Angebots an Energieträgern abhängig. Ein Großteil der Wertschöpfung wird in (C)
setzt Brasilien auch auf fossile Energieträger. Brasilien Deutschland stattfinden und hier bei uns Arbeitsplätze
hat hier umfangreiche eigene Vorkommen. Im Jahr und kommunale Gewerbesteuern sichern. Ich weiß,
2007 wurde das wohl drittgrößte Ölfeld der Welt – circa diese Fragen des politischen Alltags – Arbeitsplätze und
33 Milliarden Barrel – vor der Küste Brasiliens ent- Steuern – sind für die Kollegen der Grünen nicht son-
deckt. An dieser Stelle zeigt sich aber auch, dass die derliche interessant.
Grünen ein Problem mit der Realität haben. Wenn
Klimaschutz ernsthaft auf der Agenda steht, dann ist es Bedenken Sie bitte schließlich den positiven Effekt ei-
absolut widersprüchlich, einer aufstrebenden Volkswirt- nes energiepolitischen Austausches mit Brasilien. Ich
schaft, wie der brasilianischen, den Zugang zu emissi- hatte es am Beispiel der Wasserkraft und der Endlage-
onsfreier Stromerzeugung zu verwehren. Wir können in rung schon erwähnt. In Brasilien verfügt man über ver-
Deutschland und Europa gar nicht ausreichend konven- tiefte Kenntnisse und Erfahrung in der Nutzung von Bio-
tionelle Kraftwerke und Fabriken abschalten oder auto- ethanol als Energieträger. Hier gibt es sicher auch für
freie Sonntage veranstalten, um die globalen CO2-Emis- Deutschland interessante Erkenntnisse zu gewinnen. Si-
sionen zu reduzieren, wenn die Brasilianer ihren cher gibt es in Brasilien auch Potenzial für deutsche Me-
thoden der Steigerung von Energieeffizienz und deutsche
zusätzlichen Strombedarf ausschließlich durch Gas,
Kohle und Öl decken. Meinen Sie – von den Grünen – es Techniken bei den erneuerbaren Energien. Wie werden
nun ernst mit dem Klimaschutz oder nicht? die Verantwortlichen in Brasilien wohl reagieren, wenn
die Mitglieder des Deutschen Bundestages ihnen besser-
Selbstverständlich ist beim Bau eines Kernkraftwer- wisserisch und belehrend diese Anfrage verwehren?
kes der Aspekt der Sicherheit von herausragender Be- Diese Potenziale einer brasilianisch-deutschen Energie-
deutung, dies gilt im politischen und im technischen partnerschaft zur Beruhigung der grünen Psyche oder
Sinne. Das Projekt Angra 3 entspricht deutschen und in- treffender: Psychose zu verschenken, dient niemandem,
ternationalen Standards. Dies haben Untersuchungen nicht in Brasilien, nicht in Deutschland und dem Welt-
des deutschen Instituts für Sicherheitstechnologie, ISTec klima schon gar nicht.
GmbH, ergeben. Dies gilt sowohl für die Standards der Dieser Antrag ist daher abzulehnen. Er ist ökono-
Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, als auch misch und ökologisch unkonstruktiv.
die der deutschen Genehmigungspraxis. Bei diesen Un-
tersuchungen wurden auch regionale Risiken wir Erdbe-
ben oder Erdrutsche betrachtet und entsprechend in die Rolf Hempelmann (SPD):
Projektplanung einbezogen. Dass die deutsche Nuklear- Grundsätzlich begrüßen wir als SPD-Fraktion die
technik zu den weltweit sichersten gehört, sollte an die- Unterstützung deutscher Investitionen im Ausland und
(B) ser Stelle auch erwähnt sein. halten das Instrument der Hermesabdeckungen für rich- (D)
tig und wichtig. Dennoch müssen bei jedem Projekt ins-
Auch im politischen Sinne ist der Export deutscher besondere die ökonomischen Risikoabschätzungen
Nukleartechnik unbedenklich. Brasilien ist eine stabile genau beleuchtet werden, bevor ein solcher Antrag ge-
Demokratie. Brasilien hat umfangreiche völkerrechtli- nehmigt werden kann. Im vorliegenden Fall hat die Bun-
che Abkommen ratifiziert. Jetzt hier alle aufzuzählen, desregierung viele wichtige Aspekte entweder nicht be-
würde den Rahmen sprengen. Es seien hier die wichtigs- rücksichtigt oder falsch eingeschätzt. Der Bericht der
ten und obligatorischen genannt: der Atomwaffensperr- Bundesregierung an den Ausschuss wirft mehr Fragen
vertrag, der Nichtverbreitungsvertrag und der Atom- auf, als er Antworten gibt. In dem Bericht werden keine
waffenteststoppvertrag. Zusätzlich hat Brasilien an Aussagen zu einer Ausfallwahrscheinlichkeit getroffen.
einer atomwaffenfreien Zone in Südamerika mitgearbei- Doch gerade bei einer Bürgschaft in Höhe von über
tet. Des Weiteren ist die bisher betriebene und in Angra 3 2 Milliarden Euro, für die ja im Zweifelsfall der deut-
vorgesehene niedrige Urananreicherung zur Herstel- sche Steuerzahler geradesteht, sollte das Risiko eines
lung von Atomwaffen ungeeignet. Brasilien hat zudem Ausfalls genau geprüft werden.
entschieden, auf die Wiederaufbereitung zu verzichten.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-
in der brasilianischen Verfassung niedergeschriebene sen, dass der geplante Reaktortyp Stand der Technik der
Verzicht auf Nuklearwaffen. 70er-Jahre in Deutschland ist und heute in Deutschland
unter keinen Umständen eine Baugenehmigung erhalten
Das Problem der Endlagerung besteht selbstver- würde. Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz derart al-
ständlich auch in diesem Fall. Gegenwärtig befindet ter Technik die ökonomischen Erfolgsaussichten dieses
sich am Standort Angra I und 2 ein Zwischenlager, wel- Projektes erheblich mindert und damit das Ausfallrisiko
ches bis 2017 erweitert wird. Seitens der brasilianischen deutlich erhöht. Deshalb erwarten wir von der Bundes-
Regierung ist noch keine Entscheidung zur Endlagerung regierung klare Aussagen zu den wirklichen ökonomi-
hochradioaktiver Abfälle gefallen. Auch auf diesem Ge- schen Risiken der beantragten Bürgschaft.
biet können die brasilianisch-deutschen Energiebezie-
hungen noch intensiviert werden. Im Umgang mit dieser Bürgschaft zeigt sich wieder
einmal, dass die Bundesregierung das Thema Atomkraft
Ein weiterer Aspekt, der mir sehr wichtig ist, sind die ohne Rücksicht auf Verluste in den Mittelpunkt ihres
Arbeitsplätze in Deutschland. 5 200 Mitarbeiter der politischen Handelns stellt: Noch vor der Diskussion um
AREVA NP GmbH in Erlangen und weitere in kleinen ein Gesamtenergiekonzept verhandelt sie mit den großen
und mittleren Zulieferbetrieben sind von diesem Auftrag Kraftwerksbetreibern über eine Laufzeitverlängerung,
Marco Bülow
(A) geprüft. Es scheint die Bundesregierung schlichtweg Gefahr für den Weltfrieden weltweit im Fokus steht, (C)
überhaupt nicht zu interessieren, dass es sich im Falle wurde mit Hermesbürgschaften abgesichert.
von Angra 3 um einen veralteten und damit noch un-
sichereren Reaktortyp handelt, dass Teile benutzt wer- Lernen Sie endlich aus Ihren Fehlern. Wir brauchen
den, die seit Jahren eingemottet sind, und dass der eine Regierung, welche Sicherheit und Zukunftsfähigkeit
Standort im einzigen erdbebengefährdeten Gebiet Brasi- in die globale Energiepolitik bringt und keine Lobbyge-
liens liegt. Hinzu kommt, dass die Endlagerfrage kom- schenke verteilt.
plett ungeklärt ist, dass Brasilien keine unabhängige
Atomaufsicht besitzt und nicht einmal das Zusatzproto- Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
koll des Atomwaffensperrvertrags unterschrieben hat. In Zeiten einer gerade zögerlich wieder in Fahrt kom-
menden Wirtschaft haben wir in der Koalition beschlos-
Wir dürfen doch kein Land in einer so sensiblen Tech-
sen, „die Entscheidungsverfahren für die Garantien für
nologie unterstützen, wenn es nicht einmal bereit ist, un- Exportkredite, Investitionen und ungebundene Finanz-
angekündigte Kontrollen der Internationalen Atomener-
kredite zu beschleunigen und vorrangig an der Siche-
gie-Behörde zu akzeptieren. Was ist das für ein Signal,
rung des Standortes Deutschland und der Förderung
das wir setzen? Union und FDP sprechen immer davon, von Wirtschaft und Beschäftigung im Inland“ auszurich-
dass die Atomenergie nur eine Brückentechnologie ist,
ten. Genau diese Ziele können durch die Bürgschaft für
aber hier unterstützen sie ein Atomprojekt, das eventuell
Angra 3 in Brasilien erreicht werden: zum einen das
ein halbes Jahrhundert in Betrieb sein wird und das Stärken des Standortes Deutschland durch die Absiche-
gleichzeitig viele Projekte der erneuerbaren Energien
rung eines Auftrages an ein Unternehmen mit Sitz in
verhindern wird.
Erlangen und 5 200 Beschäftigen in Deutschland, zum
Das geplante brasilianische AKW wäre in Deutsch- anderen die Förderung eines Hochtechnologieunterneh-
land schon vor Jahren nicht genehmigungsfähig gewe- mens auf internationale Ebene.
sen. In Brasilien setzt die Bundesregierung aber offen-
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
bar andere Maßstäbe an. Sie macht sich durch diese
Grünen beruht auf Unwissenheit und dem Schüren der
riskante Bürgschaft mitverantwortlich dafür, dass die
Angst. Doch die Lage der Sicherheit stellt sich tatsäch-
Gesundheit vieler Menschen gefährdet wird, die im Ein-
lich wie folgt dar:
zugsbereich des AKW leben müssen.
Erstens. Durch das Deutsche Institut für Sicherheits-
Zur Wirtschaftlichkeit. Alle Erfahrungen zeigen, dass
technologie wurden die vorliegenden brasilianischen
AKW-Neubauten nie zum kalkulierten Preis fertig-
Studien und die erteilten Umwelt- und Baugenehmigun-
gestellt werden. Das brasilianische AKW Angra 2 war
gen geprüft auf Umweltverträglichkeit, Sicherheits-
(B) ein ökonomisches Desaster, der Neubau des finnischen (D)
konzept, Brennstoffkreislauf sowie Betriebsführung.
AKW in Olkiluoto wird zu einem gigantischen Zuschuss-
Zusätzlich wurden die relevanten Standards und An-
geschäft für Areva, und selbst in den USA liegt das Aus-
forderungen der Internationalen Atomenergieorganisa-
fallrisiko bei AKW-Neubauten laut einer Studie des US-
tion, der EU sowie die Nuclear Guidelines der staat-
amerikanischen Bundesrechnungshofes bei über 50 Pro-
lichen US-Exportkreditagentur US Ex-Im Bank
zent.
herangezogen. Das Projekt hält also deutsche und inter-
Quintessenz: Die Kreditausfallwahrscheinlichkeit bei nationale Standards ein. Auch die neuen Herausforde-
diesem Projekt ist hoch. Schon das argentinische AKW rungen durch mögliche terroristische Aktionen, wie die
Atucha hat den deutschen Steuerzahler über 900 Millio- Sicherheit bei Flugzeugabstürzen, wurden bedacht. Bei
nen Euro gekostet. Sollte Brasilien in eine finanzielle der Festlegung des Konzepts wurden seinerzeit gemäß
Notlage geraten, nutzt auch die Gegengarantie des bra- der internationalen Praxis die IAEA Safety Guides be-
silianischen Finanzministeriums nicht viel. Es ist bitter: rücksichtigt. In diesem Rahmen wurde die Luftverkehrs-
Die Motivation der Bundesregierung, die deutsche situation im Bereich der Anlage berücksichtigt. Demzu-
Atomwirtschaft zu hofieren, scheint größer zu sein als folge sind in der Umgebung des Projektgebietes keine
ihre Motivation, den Steuerzahler vor zusätzlichen Las- Flugplätze vorhanden, und es besteht auch kein erhöhtes
ten zu schützen. Hinzu kommt, dass die Exportgarantie Risiko durch Flugaufkommen von Militärmaschinen.
in Milliardenhöhe einem Unternehmen gewährt wird, Die Anlage kann, wie auch bei deutschen Kernkraftwer-
das nur zu einem Drittel in deutscher Hand ist und in ab- ken üblich, mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen versehen
sehbarer Zeit komplett in französischen Besitz übergeht. werden, um auch gegen einen etwaigen gezielten Flug-
Zusammenfassend stelle ich fest: Das Vorgehen der Bun- zeugabsturz – terroristischer Anschlag – gerüstet zu
desregierung ist sicherheitstechnisch, energiepolitisch sein. Diese Maßnahmen bestehen beispielsweise in ver-
und auch ökonomisch unsinnig und es ist gefährlich. stärkter Luftraumüberwachung in Kombination mit der
Abschaltung des Reaktors sowie Vernebelungseinrich-
Leider kommt es noch schlimmer: Die Anträge für tungen. Zudem zeigen neuere Studien, dass die Beton-
AKW-Projekte in Pakistan und Kaliningrad liegen den hülle der Reaktorgebäude größere Explosionsdruckwel-
Ministerien schon vor, und auch in diesen Fällen soll es len, als bisher angenommen, abtragen können.
Befürworter geben. Die Bundesregierung wird zum
Sponsor dafür, dass auch in sensiblen Regionen wieder Auch seismische Studien waren Gegenstand der Um-
mehr auf Atomenergie statt auf saubere Zukunftstechno- weltstudien. Weltweit betrachtet gehört der brasiliani-
logien gesetzt wird. Ich möchte daran erinnern: Auch sche Schild zu den geologisch stabilsten Formationen
das iranische AKW Buschehr, welches aufgrund seiner der Erde. Die brasilianische Umweltgenehmigung um-
Helmut Brandt
(A) Dublin-II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt gelungen des griechischen Asylrechts mit EG-Recht ob- (C)
hat. Eine erste Entscheidung in der Hauptsache wird bis liegt im Übrigen der Europäischen Kommission.
zum Sommer dieses Jahres erwartet.
Gegen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begründet ih- spricht auch, dass bislang Belgien, Dänemark, Finn-
ren Antrag damit, eine Fortsetzung von Überstellungen land, Frankreich, Großbritannien, Italien und andere
nicht besonders Schutzbedürftiger nach Griechenland europäische Staaten grundsätzlich Überstellungen ge-
sei zum einen eine Brüskierung des Bundesverfassungs- mäß der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland
gerichts. Zum anderen sei nach Berichten internationa- durchführen. Auch nach der höchstrichterlichen Recht-
ler Menschenrechtsorganisationen in Griechenland der sprechung dieser Mitgliedstaaten sind Rücküberstellun-
Zugang zum Asylverfahren nicht gewährleistet. gen nach Griechenland möglich. Nach einer Entschei-
dung des niederländischen Raad van State vom
Den Antrag lehnen wir aus mehreren Gründen ab. 31. August 2009 kann nach Griechenland überstellt
Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, werden. Der österreichische Asylgerichtshof entschied
Sie versuchen in Ihrem Antrag den Eindruck zu vermit- am 16. Januar 2009, dass eine Überstellung
teln, als seien nach Ansicht des Bundesverfassungsge-
richts Rücküberstellungen nach Griechenland derzeit nach Griechenland keinesfalls eine Verletzung des
unzulässig. Das ist unseriös. Zumindest die Juristen un- Art. 3 EMRK und somit auch keinen Anlass zur
ter Ihnen wissen doch – jedenfalls gehe ich davon aus, zwingenden Ausübung des Selbsteintrittsrechtes
dass sie es wissen –, dass Beschlüsse des Bundesverfas- Österreichs
sungsgerichts ausschließlich auf einer Abwägung darstelle. Der Europäische Gerichtshof für Menschen-
zwischen den Folgen, die ohne den Erlass der einstwei- rechte hat mit Entscheidung vom 2. Dezember 2008 eine
ligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den Überstellung nach Griechenland für zulässig erklärt.
Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen für den Die Bundesregierung geht daher zu Recht nach wie vor
umgekehrten Fall beruhen. Das heißt, die einstweiligen davon aus, dass die griechische Regierung die erforder-
Anordnungen, auf die Sie in Ihrer Begründung abstellen, lichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits ergriffen hat, um
enthalten gerade keine Aussagen zur Zulässigkeit der die mit dem hohen Zustrom von Migranten und Asylbe-
Überstellungen nach Griechenland. Sie enthalten auch werbern verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen.
keine Beurteilung der Situation in Griechenland. Viel-
mehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten der Verfas- Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass
sungsbeschwerde offen. gegenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwie-
rigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren, wie
In diesem Zusammenhang noch Folgendes: Sie spre- Einsatz von Dolmetschern, Bereitstellung von Unter-
(B) (D)
chen von einer Brüskierung des Bundesverfassungsge- künften, möglich sind. Dies mag auch bei einzelnen
richts. Meines Wissens haben Sie jedoch bereits vor den Asylbewerbern zu persönlichen Härten und Schwierig-
Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts in Anknüp- keiten führen können. Aber der Bundesregierung und
fung an entsprechende Forderungen von UNHCR und unserer Fraktion liegen keine Hinweise auf gravierende
Pro Asyl unter anderem eine vollständige Aussetzung Verstöße gegen fundamentale Gewährleistungen des
von Überstellungen gemäß der Dublin-II-Verordnung Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flüchtlings-
nach Griechenland befürwortet. Es wird Sie deshalb si- rechts oder der Menschenrechte in Griechenland vor.
cherlich nicht überraschen, dass ich Ihnen Ihre Besorg- Griechenland selbst weist zudem auf eine bevorzugte
nis um das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer hin.
nicht abnehme. Ich möchte darüber hinaus auf folgendes Problem
Ihrer Forderung wurde bzw. wird aus folgenden aufmerksam machen: Nur bei einer gerichtlichen Ent-
Gründen nicht entsprochen: Für sogenannte Dublin- scheidung zur vorübergehenden Aussetzung verlängern
Rückkehrer besteht in Griechenland grundsätzlich Zu- sich Fristen zur Überstellung. Würde ohne eine gericht-
gang zu Asylverfahren. Die griechische Regierung hat liche Entscheidung von Überstellungen nach Griechen-
im Jahr 2008 erklärt, dass es aufgrund des unverhältnis- land abgesehen, entstünde wegen Ablaufs der Überstel-
mäßig hohen Zustroms von Asylbewerbern und Migran- lungsfrist eine deutsche Zuständigkeit zur Durchführung
ten erhebliche Probleme bei der Aufnahme und der der Asylverfahren. Das wollen wir nicht.
Durchführung von Verfahren gegeben habe, die Lage Außerdem würde der sogenannte Pull-Faktor nach
sich aber deutlich verbessert habe. Auch der UNHCR Deutschland noch weiter verstärkt, wenn durch die zu-
stellt in seinen Studien aus den Jahren 2007 und 2008 ständigen Behörden generell Dublin-Überstellungen
fest, dass Dublin-Rückkehrer grundsätzlich die Mög- nach Griechenland ausgesetzt würden. Schon 2009 war
lichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. ein sprunghafter Anstieg unerlaubter Einreisen an deut-
schen Flughäfen bei Flügen aus Griechenland zu ver-
Griechenland hatte bereits 2007 gegenüber den Dub-
zeichnen. Nach den vorliegenden Feststellungen haben
liner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die so-
sich die unerlaubten Einreisen gegenüber 2008 mehr als
genannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird. Im
vervierfacht. Auch das wollen wir verhindern.
Sommer 2009 hat die griechische Regierung das Asylan-
tragsverfahren dezentralisiert. Es ist aber noch zu früh, Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt
um Aussagen über die Auswirkungen des neuen Verfah- der Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei
rens zu treffen. Die Bewertung der Vereinbarkeit von Re- besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel für
Rüdiger Veit
(A) Das in dem Antrag angesprochene Beobachtungs- Verelendung von Flüchtlingen in den vollkommen über- (C)
ergebnis internationaler Menschenrechtsorganisatio- lasteten Staaten der EU-Außengrenzen gewendet. Für
nen, dass die Situation für Asylsuchende in Griechen- heute empfehle ich jedoch aus den genannten Gründen
land seit langem gegen internationale und europäische die Zustimmung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die
Standards für Verfahren zur Überprüfung der Flücht- Grünen.
lingseigenschaft verstößt und dass vor allem der Zugang
zum Asylverfahren nicht gewährleistet ist, deckt sich Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
mithin mit den Erfahrungen der Teilnehmer der Delega-
Ziel der Dublin-Verordnung ist es, den EU-Mitglied-
tionsreise des Innenausschusses nach Griechenland.
staat festzulegen, der für die Prüfung eines von einem
Von den gravierenden humanitären und sozialen Proble-
Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrages zustän-
men bis hin zu sozialer Verelendung, die aus dem Fehlen
dig ist. Dadurch soll verhindert werden, dass eine Per-
fast jeglicher staatlicher Fürsorge für Flüchtlinge resul-
son in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen
tieren, konnten wir uns vor Ort leider selbst überzeugen.
Union einen Asylantrag stellt. Zuständig ist meist der
Entscheidend ist aber schließlich, dass sich das Bun- Mitgliedstaat, den der Antragsteller als Erstes in der EU
desverfassungsgericht in sechs Beschlüssen dafür aus- betreten hat. Eine wichtige praktische Folge aus dieser
gesprochen hat, im Eilverfahren die Überstellung nach Verordnung ist, dass ein unzuständiger Mitgliedstaat die
Griechenland in Dublin-II-Fällen zu stoppen. Das entsprechenden Drittstaatsangehörigen an den als zu-
oberste deutsche Gericht hielt in diesen sechs Beschlüs- ständig festgestellten Mitgliedsstaat abschiebt. Dort soll
sen die Verletzung elementarer Rechte für die Zurückzu- dann ein entsprechendes Asylverfahren durchgeführt
führenden für möglich. Im Beschluss 2 BvQ 56/09 führt werden.
das Bundesverfassungsgericht aus, dass „bereits die Er- Die Abschiebungen nach Griechenland stehen bereits
reichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die seit längerer Zeit unter massiver Kritik von den bekann-
Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sicher- ten Organisationen Pro Asyl, Amnesty International und
gestellt“ sei, „sollte ihm, wie von ihm, gestützt auf ernst- UNHCR. Hauptprobleme sind dabei: Griechenland hat
zunehmende Quellen, befürchtet, in Griechenland eine eine besonders geringe Anerkennungsquote für Asylsu-
Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Ob- chende. Asylsuchende werden bereits für die Durchfüh-
dachlosigkeit drohen“. Und die Gefahr der Obdachlo- rung von Asylverfahren in Haftanlagen untergebracht.
sigkeit realisiert sich für Flüchtlinge täglich hundert- Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen. Anwaltli-
fach in Griechenland. che Vertretung wird ihnen nicht gewährt. In die Überle-
Wenn selbst das Bundesverfassungsgericht die Ge- gungen muss andererseits sicherlich mit einbezogen
werden, dass Griechenland aufgrund seiner geografi-
(B) fahr sieht, dass die Rechte von Flüchtlingen bei einer (D)
Rückführung nach Griechenland verletzt werden, so schen Lage eine besonders hohe Anzahl an Flüchtlingen
darf sich die Bundesregierung dem nicht verschließen. aufzunehmen hat. Auch wird von allen Seiten, ein-
Es kann nicht sein, dass sie die Rechte von Flüchtlingen schließlich des UNHCR und der EU, darauf hingewie-
weiter sehenden Auges gefährdet. Rückführungen nach sen, dass Griechenland in den letzten Jahren erhebliche
Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens sind Anstrengungen unternommen habe, um die Bedingungen
zumindest bis zur Entscheidung in der Hauptsache des bei den Asylverfahren zu verbessern, jedoch besteht
Bundesverfassungsgerichts auszusetzen und die Prüfung nachweislich noch deutlicher Nachholbedarf.
des Asylantrages im Wege des Selbsteintrittsrechts Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutsch-
durchzuführen. land auf dem letzten Rat der Justiz- und Innenminister
Ich möchte hier kurz erwähnen, dass es uns immerhin ihre Hilfe gegenüber Griechenland in praktischer Art
schon unter der Großen Koalition gelungen ist, zusam- angeboten hat. Staatssekretär Peter Altmaier führte im
men mit dem Bundesministerium des Innern und dem Innenausschuss vom 18. Juni 2008 aus, dass sich das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine flexible Angebot der Bundesregierung auf die Entsendung von
Rückführungspraxis einzuführen, die besonders schutz- Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und
bedürftige Personen von der Rückführung nach Grie- Flüchtlinge bezog. Diese sollten bei der Bewältigung
chenland ausgenommen hat. An dieser Stelle muss je- der praktischen Probleme Hilfe leisten. Das Bundesamt
doch deutlich gesagt werden, dass wir uns in Zukunft als für Migration und Flüchtlinge ist besonders angewie-
Europäer konkrete Gedanken über die Entwicklung ei- sen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach Grie-
nes echten Lastenteilungssystems in der EU machen chenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angabe von
müssen, das die Dublin-II-Verordnung als reinen Zu- Pro Asyl werde auch generell bei besonders schutzwür-
ständigkeitsmechanismus sinnvoll ergänzt. digen Gruppen, wie Minderjährigen und Kranken bei-
spielsweise, in Einzelfällen jeweils von der Abschiebung
Die Vermeidung der konstanten einseitigen Überlas- abgesehen. Es erscheint jedoch angesichts der prekären
tung einzelner Staaten wie zum Beispiel Malta oder eben Lage der Asylantragsteller in Griechenland sinnvoll,
Griechenland ist erstens Voraussetzung für einen effekti- momentan auf Rücküberstellungen dorthin zu verzich-
ven Flüchtlingsschutz und zweitens ein Gebot europäi- ten. Die Bundesregierung sollte daher generell von ih-
scher Solidarität. In diesem Sinne hat sich während un- rem Selbsteinstrittsrecht Gebrauch machen. Ein generel-
serer Delegationsreise nach Griechenland unsere Sorge les Selbsteintrittsrecht nimmt momentan innerhalb
bezüglich einiger hundert Zurückgeführter im Rahmen Europas ausschließlich Norwegen wahr. Die diesbezügli-
von Dublin II hin zu dem Massenphänomen der totalen che Forderung der Grünen läuft letztlich auf eine deut-
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
van Aken, Jan DIE LINKE 28.01.2010 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 28.01.2010
DIE GRÜNEN
Barnett, Doris SPD 28.01.2010*
Werner, Katrin DIE LINKE 28.01.2010
Ernstberger, Petra SPD 28.01.2010
Dr. Westerwelle, Guido FDP 28.01.2010
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 28.01.2010*
Land), Axel E. Zimmermann, Sabine DIE LINKE 28.01.2010
Schuster, Marina FDP 28.01.2010* Sie unterstreichen den besonderen Rang der gegen-
seitigen Beziehungen. Alle Projekte dienen dem strate-
Spatz, Joachim FDP 28.01.2010 gischen Ziel, deutsche Hochschulen auf interessanten
Bildungs- und Forschungsmärkten weltweit zu positio-
Strässer, Christoph SPD 28.01.2010* nieren und damit auch Werbung für den Hochschul-
und Forschungsstandort Deutschland zu betreiben, An-
Stüber, Sabine DIE LINKE 28.01.2010 kereinrichtungen für die bilaterale Wissenschaftskoope-
ration zu schaffen, neue wissenschaftliche Koopera-
Thönnes, Franz SPD 28.01.2010**
tionsmöglichkeiten zu erschließen, den beteiligten
1736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 19. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Januar 2010
(A) Hochschulen die Gewinnung von guten Master- und insbesondere die Einrichtung binationaler Studien- und (C)
Doktorandenkandidaten zu ermöglichen und Ausbil- Promotionsprogramme sowie die Anerkennung von
dung für deutsche Unternehmen vor Ort zu leisten. Doppelabschlüssen vorsieht. Das Projekt soll stufen-
weise vorangebracht werden, wobei das Deutsch-
In diesem Sinne wird auch an den Aufbau eines Argentinische Hochschulkolleg die Endstufe bildet. Die
Deutsch-Argentinischen Hochschulkollegs gedacht. Federführung hierfür liegt beim Auswärtigen Amt.
Derzeit ist eine Absichtserklärung in Vorbereitung, die
(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980