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Plenarprotokoll 17/102

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

102. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt in Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11630 B
den Gemeinsamen Ausschuss . . . . . . . . . . . 11623 A
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Wahl der Abgeordneten Petra Müller DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11631 C
(Aachen) in den Stiftungsrat der Bundesstif-
tung Baukultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11623 B Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11632 D

Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 11623 B Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11634 B

Absetzung des Tagesordnungspunktes 19 . . . 11624 C Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11636 C

Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 11624 C Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11637 C

Begrüßung des Präsidenten der Hellenischen Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11638 C


Republik, Herrn Philippos Petsalnikos . . . . . 11636 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11639 C

Tagesordnungspunkt 3: Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11640 D

Unterrichtung durch die Bundesregierung: Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11641 D


Rahmenprogramm Gesundheitsforschung Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11642 D
der Bundesregierung
(Drucksache 17/4243) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11624 D René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11643 D

in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4:


Antrag der Abgeordneten Christel Humme,
Zusatztagesordnungspunkt 2: Caren Marks, Petra Crone, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD: Entgelt-
Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. gleichheit zwischen Männern und Frauen
Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter Rossmann, gesetzlich durchsetzen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 17/5038) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11645 A
SPD: Gesundheitsforschung an den Bedar-
fen der Patientinnen und Patienten ausrich- Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11645 A
ten – Rahmenprogramm Gesundheitsfor- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 11646 B
schung der Bundesregierung überarbeiten
(Drucksache 17/5364) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11624 D Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 11648 B
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11649 B
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11625 A
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11626 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11650 B
Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 11628 D Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 11651 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11653 A den gegenseitigen Schutz von Kapital-


anlagen
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/5264) . . . . . . . . . . . . . . . 11667 B
DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . 11655 B
f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11656 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11656 D zes zur Änderung gewerberechtlicher
Vorschriften
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11657 C (Drucksache 17/5312) . . . . . . . . . . . . . . . 11667 B
Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11658 D
Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11660 A Zusatztagesordnungspunkt 3:
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11661 C Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Netzneu-
Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11662 D tralität im Internet gewährleisten – Diskri-
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11664 A minierungsfreiheit, Transparenzverpflich-
tungen und Sicherung von Mindestqualitä-
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11665 B ten gesetzlich regeln
(Drucksache 17/5367) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11667 C

Tagesordnungspunkt 31: Tagesordnungspunkt 32:


a) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Beschlussempfehlung und Bericht des
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Rechtsausschusses: zu den Streitverfah-
zes zur Verbesserung des Austauschs ren vor dem Bundesverfassungsgericht
von strafregisterrechtlichen Daten zwi- 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10
schen den Mitgliedstaaten der Europäi- (Drucksache 17/5398) . . . . . . . . . . . . . . . 11667 C
schen Union und zur Änderung regis-
terrechtlicher Vorschriften b) – h)
(Drucksache 17/5224) . . . . . . . . . . . . . . . . 11666 D Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung schusses: Sammelübersichten 242, 243,
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ge- 244, 245, 246, 247 und 248 zu Petitionen
gen den Handel mit illegal eingeschlage- (Drucksachen 17/5211, 17/5212, 17/5213,
nem Holz (Holzhandels-Sicherungs-Ge- 17/5214, 17/5215, 17/5216, 17/5217) . . . 11667 D
setz – HolzSiG)
(Drucksache 17/5261) . . . . . . . . . . . . . . . . 11667 A
Tagesordnungspunkt 5:
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
zes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/ schusses für Kultur und Medien zu der Unter-
43/EG des Europäischen Parlaments richtung durch die Deutsche Welle: Aufga-
und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Ver- benplanung der Deutschen Welle 2010 bis
einfachung der Bedingungen für die in- 2013
nergemeinschaftliche Verbringung von (Drucksachen 17/1289, 17/1485 Nr. 3, 17/5260) 11668 C
Verteidigungsgütern Bernd Neumann, Staatsminister
(Drucksache 17/5262) . . . . . . . . . . . . . . . . 11667 A BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11668 D
d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 11670 A
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Übereinkommens Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 11671 C
vom 11. Oktober 1985 zur Errichtung
der Multilateralen Investitions-Garan- Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . 11672 C
tie-Agentur Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/5263) . . . . . . . . . . . . . . . . 11667 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11673 C
e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11674 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 1. Dezem- Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 11675 D
ber 2009 zwischen der Bundesrepublik Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . 11676 C
Deutschland und der Islamischen Repu-
blik Pakistan über die Förderung und Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . 11677 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 III

Tagesordnungspunkt 6: Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11695 C
a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 11696 D
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11697 D
Einführung eines verpflichtenden Lob-
byistenregisters Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11698 C
(Drucksache 17/2096) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 B
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . 11698 D
b) Antrag der Abgeordneten Michael Hartmann
(Wackernheim), Sören Bartol, Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD: Mehr Tagesordnungspunkt 8:
Transparenz beim Einsatz externer Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Personen in der Bundesverwaltung – Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer
Bericht des Bundesrechnungshofes voll- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
ständig umsetzen DIE GRÜNEN: Integration Älterer in den
(Drucksache 17/5230) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 B Arbeitsmarkt verbessern
c) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Drucksache 17/5235) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 C
(Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 D
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transpa-
renz schaffen – Verbindliches Register Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 11700 C
für Lobbyistinnen und Lobbyisten ein- Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11701 D
führen
(Drucksache 17/2486) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 C Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 11703 B

Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11678 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 11705 A

Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11679 C Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11706 A

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . 11681 A Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11706 B

Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11682 C


Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11682 D Tagesordnungspunkt 9:
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . 11683 C – Zweite und dritte Beratung des von der
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11684 A eines Siebten Gesetzes zur Änderung
des Straßenverkehrsgesetzes
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/4981, 17/5355) . . . . . . . 11707 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11685 C
– Zweite und dritte Beratung des vom Bun-
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11687 A desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Straßenver-
Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . . 11687 C
kehrsgesetzes
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11688 B (Drucksachen 17/2766, 17/5355) . . . . . . . 11707 B
Armin Schuster (Weil am Rhein) Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11689 B BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11707 B
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11708 B
Tagesordnungspunkt 7: Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11709 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11710 D
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11711 C
Fortentwicklung des Emissionshandels
(Drucksache 17/5296) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11690 D Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 11712 B
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11691 A
Tagesordnungspunkt 10:
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11692 A
a) Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann,
Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11693 A
Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Garrelt
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 11694 C Duin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

tion der SPD: Verbraucherschutz in der kung von Europäischen Betriebsräten


Telekommunikation umfassend stärken umsetzen
(Drucksache 17/4875) . . . . . . . . . . . . . . . . 11713 D (Drucksachen 17/5184, 17/5399) . . . . . . . 11722 B
b) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 11722 C
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . 11723 C
DIE LINKE: Telekommunikationsmarkt Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11723 D
verbrauchergerecht regulieren
(Drucksache 17/5376) . . . . . . . . . . . . . . . . 11713 D Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11725 B
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11726 C
in Verbindung mit
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11727 B

Zusatztagesordnungspunkt 4: Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11728 B

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-


ausschusses Tagesordnungspunkt 12:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Wilhelm
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der
DIE LINKE: Unlautere Telefonwerbung Fraktion der SPD: Für faire Lebensmittel-
effektiv verhindern preise und transparente Produktionsbedin-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole gungen – Gegen den Missbrauch von
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, Marktmacht
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 17/4874) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11729 C
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unerlaubte Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 11729 D
Telefonwerbung wirksam bekämpfen
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11730 C
(Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587) . . 11714 A
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11732 C
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 11714 B
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11733 B
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11715 D
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11717 A Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11734 C

Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11717 D Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11734 D

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11718 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11735 B

Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . 11719 B Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11736 A


Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11719 D
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11721 B Tagesordnungspunkt 13:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Tagesordnungspunkt 11: Änderung des § 522 der Zivilprozessord-
nung
a) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 17/5334, 17/5388) . . . . . . . . . . 11737 A
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Europäische Betriebsräte-Gesetzes – in Verbindung mit
Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG
über Europäische Betriebsräte (2. EBRG-
ÄndG) Zusatztagesordnungspunkt 5:
(Drucksachen 17/4808, 17/5399) . . . . . . . 11722 B
Erste Beratung des von den Abgeordneten
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck
schusses für Arbeit und Soziales zu dem (Köln), weiteren Abgeordneten und der Frak-
Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
Ottmar Schreiner, Anette Kramme, weite- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rer Abgeordneter und der Fraktion der rung des § 522 der Zivilprozessordnung
SPD: Wirkungsvolle Sanktionen zur Stär- (Drucksache 17/5363) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11737 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 V

Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/


BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11737 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11757 A
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11738 A Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11758 B
Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . 11739 C Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11759 C
Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11742 A
Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11760 B
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11742 D Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 11762 B
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . 11743 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 11763 B
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 11764 A
Tagesordnungspunkt 14:
Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg,
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Tagesordnungspunkt 17:
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Erste Beratung des von der Bundesregierung
Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauscha- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
len in Krankenhäusern Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
(Drucksache 17/5119) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11743 D und anderer Vorschriften
Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11744 A (Drucksache 17/5311) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11766 A

Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11745 A Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11766 A

Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11746 B Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11766 C


Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11747 B Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 11767 B
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11767 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11747 D Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11768 B
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11748 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11769 B
Tagesordnungspunkt 15:
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Tagesordnungspunkt 18:
ausschusses zu der Verordnung der Bundesre-
gierung: Verordnung über die Erhebung der Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
Beiträge zum Restrukturierungsfonds für brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
Kreditinstitute (Restrukturierungsfonds- kung der Täterverantwortung
Verordnung – RStruktFV) (Drucksache 17/1466) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11769 D
(Drucksachen 17/4977, 17/5122 Nr. 2, Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11770 A
17/5401, 17/5405) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11749 A
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11771 A
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 11749 B
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11772 A
Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11750 B
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 11772 B
Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11752 A
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11753 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11773 A
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11754 A
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11754 D Tagesordnungspunkt 20:
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr.
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11755 A Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Lehren aus dem Dioxin-Skandal
Tagesordnungspunkt 16: ziehen – Ursachen bekämpfen
(Drucksache 17/5377) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11773 D
Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
Daniela Wagner, Stephan Kühn, weiterer Ab- Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . . 11774 A
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11775 A
DIE GRÜNEN: Klimaschutz in der Stadt
(Drucksache 17/5368) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11757 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 11776 A
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 11776 D Bundeswehr und der ehemaligen NVA vo-
ranbringen
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/5365) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11778 B

in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 21:
Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Zusatztagesordnungspunkt 7:
Monika Lazar, Winfried Hermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak,
NIS 90/DIE GRÜNEN: Frauenquote bei Gre- Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeord-
mienbesetzungen durch das Bundesminis- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
terium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- GRÜNEN: Umfassende Entschädigung für
lung konsequent einhalten Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und
(Drucksache 17/5257) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11779 A der ehemaligen NVA
(Drucksache 17/5373) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 C
Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11779 A
Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 C
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11780 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11789 D
Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . 11780 C
Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11790 D
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11781 C
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 11791 C
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11782 A Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11792 A
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11792 D
Tagesordnungspunkt 22:
Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr.
Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer Tagesordnungspunkt 24:
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhal- Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und
ten – Kormoranmanagement einführen der Fraktion DIE LINKE: Abzug deutscher
(Drucksache 17/5378) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11782 C Polizisten aus Afghanistan
Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11782 D (Drucksache 17/4879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11793 B
Holger Ortel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11783 C Armin Schuster (Weil am Rhein)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11793 C
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 11784 C
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11794 C
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11785 C
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11795 D
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11787 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11796 C
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11797 C
Tagesordnungspunkt 23:
Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul
Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 25:
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Umfassende Entschädigung für Radar- Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge-
strahlenopfer der Bundeswehr, der ehema- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ein-
ligen NVA und ziviler Einrichtungen führung einer Kennzeichnungspflicht für
(Drucksache 17/5233) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 B Angehörige der Bundespolizei
(Drucksache 17/4682) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11798 A
in Verbindung mit Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11798 B
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11799 A
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11799 D
Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr.
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11800 C
Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
SPD: Ausgleich für Radargeschädigte der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11801 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 VII

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11802 C Krüger-Leißner, Caren Marks, Ullrich Meßmer,


Florian Pronold, Mechthild Rawert, Ulla
Schmidt (Aachen) und Rolf Schwanitz (alle
Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11802 C
SPD) zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Siebten Gesetzes zur Änderung des Stra-
ßenverkehrsgesetzes (Tagesordnungspunkt 9) 11803 B
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11803 A
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Anlage 2
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent-
Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Sören Bartol, wurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
Bärbel Bas, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, des Europäische Betriebsräte-Gesetzes – Um-
Elvira Drobinski-Weiß, Petra Ernstberger, setzung der Richtlinie 2009/38/EG über Euro-
Hans-Joachim Hacker, Dr. Barbara Hendricks, päische Betriebsräte (2. EBRG-ÄndG) (Ta-
Gustav Herzog, Lars Klingbeil, Angelika gesordnungspunkt 11 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11804 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11623

(A) (C)

Redetext

102. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Gesundheitsforschung an den Bedarfen der


Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Patientinnen und Patienten ausrichten – Rah-
menprogramm Gesundheitsforschung der
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Bundesregierung überarbeiten
begrüße Sie herzlich zu unserer 102. Plenarsitzung.
Ich habe vor Eintritt in die Tagesordnung zwei Mittei- – Drucksache 17/5364 –
lungen über Umbesetzungen zu machen. Die Fraktion Überweisungsvorschlag:
der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Hans- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Peter Friedrich aus dem Gemeinsamen Ausschuss aus- Technikfolgenabschätzung (f)
Sportausschuss
scheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Kollegin Rechtsausschuss
Gerda Hasselfeldt vorgeschlagen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(B) gute Wahl!) Haushaltsausschuss (D)
Ich könnte mir vorstellen, dass es dazu Einverständnis ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
gibt. fahren
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Ergänzung zu TOP 31

Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Hasselfeldt in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt. Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Der Kollege Joachim Günther ist aus dem Stiftungs-
rat der Bundesstiftung Baukultur ausgeschieden. Die Netzneutralität im Internet gewährleisten –
Fraktion der FDP schlägt an seiner Stelle die Kollegin Diskriminierungsfreiheit, Transparenzver-
Petra Müller vor. Sind Sie auch damit einverstanden? pflichtungen und Sicherung von Mindestquali-
(Heiterkeit bei der FDP) täten gesetzlich regeln

– Wir halten den spontanen Jubel im Protokoll fest. Da- – Drucksache 17/5367 –
mit ist die Kollegin Müller zum Mitglied des Stiftungs- Überweisungsvorschlag:
rates der Bundesstiftung Baukultur gewählt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Rechtsausschuss
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
geführten Punkte zu erweitern: Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Ausschuss für Kultur und Medien
SPD:
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Gründe des Bundeswirtschaftsministers ge- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
gen ein Verbot von Klonfleisch
(siehe 101. Sitzung) – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Unlautere Telefonwerbung effektiv verhin-
tion der SPD dern
11624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Verteidigungsausschuss (C)
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weite- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Entwicklung Haushaltsausschuss
NIS 90/DIE GRÜNEN
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Unerlaubte Telefonwerbung wirksam be-
kämpfen Tschernobyl mahnt – Für eine zukunftssichere
Energieversorgung ohne Atomkraft und eine
– Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 – lebendige europäische Erinnerungskultur
Berichterstattung:
– Drucksache 17/5366 –
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Marianne Schieder (Schwandorf) Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
Stephan Thomae weit erforderlich, abgewichen werden.
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger Der Tagesordnungspunkt 19 wird abgesetzt.

ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- merksam:
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende Ge-
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der setzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss
Zivilprozessordnung (7. Ausschuss) und dem Ausschuss für Arbeit und Sozia-
– Drucksache 17/5363 – les (11. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen wer-
Überweisungsvorschlag:
den:
Rechtsausschuss
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Vereinfachung des Austauschs von Informa-
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tionen und Erkenntnissen zwischen den Straf-
SPD verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
Ausgleich für Radargeschädigte der Bundes-
wehr und der ehemaligen NVA voranbringen – Drucksache 17/5096 –
(B) (D)
– Drucksache 17/5365 – Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss (f) Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
Haushaltsausschuss
sen.
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Ab- Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 3 sowie
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE den Zusatzpunkt 2 auf:
GRÜNEN 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
Umfassende Entschädigung für Radarstrah- gierung
lenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
NVA Bundesregierung
– Drucksache 17/5373 – – Drucksache 17/4243 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Rechtsausschuss
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sportausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Deutschland im VN-Sicherheitsrat – Impulse Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
für Frieden und Abrüstung Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
– Drucksache 17/4863 –
Überweisungsvorschlag: Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Auswärtiger Ausschuss (f) Patientinnen und Patienten ausrichten – Rah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11625
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) menprogramm Gesundheitsforschung der In den vergangenen Jahren sind viele Analysen durch- (C)
Bundesregierung überarbeiten geführt worden, in denen immer wieder darauf hinge-
wiesen wurde, dass die Trennung der Hochschulmedizin
– Drucksache 17/5364 – von den Forschungsinstituten den Weg erschwert. Es
Überweisungsvorschlag: braucht eine Bündelung der Kräfte, es braucht Verbin-
Ausschuss für Bildung, Forschung und dungen, und es braucht, damit zusammenhängend, hö-
Technikfolgenabschätzung (f) here Investitionen in die Hochschulmedizin. Das Rah-
Sportausschuss
Rechtsausschuss menprogramm ist übrigens auch ein großer Beitrag des
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundes – und somit Konsequenz aus der Entscheidung
Ausschuss für Gesundheit des Parlamentes – zur finanziellen Unterstützung der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hochschulmedizin. Es ist Zeit, dass das große Potenzial,
Haushaltsausschuss
das in unseren Universitäten vorhanden ist, finanziell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für entsprechend unterstützt wird. Das Rahmenprogramm
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Gesundheitsforschung wird hierfür in den nächsten Jah-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. ren die Voraussetzungen schaffen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nächst der Bundesministerin Frau Dr. Schavan. Im April dieses Jahres wird die Auswahl der Stand-
orte stattfinden. Ich werde schon Ende dieses Monats die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschlandkarte präsentieren können, die Ihnen zeigen
wird, an wie vielen Standorten wir in Zukunft mit sehr
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- viel intensiverer Forschung im Bereich der Gesundheit
dung und Forschung: und mit der Verwirklichung der Schwerpunkte, die in
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diesem Programm enthalten sind, rechnen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Rahmen- Ich nenne drei zentrale Schwerpunkte.
programm Gesundheitsforschung der Bundesregierung
ist ein Schwergewicht bei den Rahmenprogrammen für Erstens: die individualisierte Medizin. Dazu sind er-
die kommenden Jahre. Dies ist aus gutem Grund so. hebliche weitere Forschungsanstrengungen notwendig.
Denn die demografische Entwicklung in Deutschland Dies ist aber auch eine große Herausforderung für die
– 2050 wird bereits jeder dritte Bürger älter als 65 sein – Versorgungssysteme.
macht eine Konzentration auf damit verbundene Verän- Zweitens: die Präventions- und Ernährungsforschung,
(B) derungen notwendig; diese müssen in der Gesundheits- auch die Versorgungsforschung, die insgesamt eine Ver- (D)
versorgung, im Gesundheitssystem und vorausgehend in bindung zwischen der Forschung, unserem Gesundheits-
der Gesundheitsforschung vorgenommen werden. Des- system und der Gesundheitsversorgung herstellt. Es geht
halb ist das neue Rahmenprogramm für die kommenden dabei um mehr individuelle Zugangswege und eine bes-
acht Jahre von neuen Schwerpunkten, struktureller Wei- sere Versorgung vor allem der multimorbiden Patienten.
terentwicklung und Internationalisierung geprägt. Das
sind die drei zentralen Merkmale des neuen Rahmenpro- Drittens: das Aktionsfeld internationale Kooperation
gramms. Seitens des BMBF werden bis zum Jahre 2014 mit dem Schwerpunkt bei vernachlässigten Krankheiten
rund 6 Milliarden Euro investiert werden. oder, anders gesagt, Volkskrankheiten in den Entwick-
lungsländern.
Wenn ich von Schwergewicht spreche, dann hat das
natürlich auch mit der herausragenden Kompetenz und Wir haben über diese Themen sowohl im Fachaus-
dem herausragenden Potenzial in der Gesundheitsfor- schuss für Bildung und Forschung als auch im Gesund-
schung zu tun, die in unseren großen Forschungsorgani- heitsausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sationen stecken. Ich denke nur an die Institute der sammenarbeit und Entwicklung diskutiert. Ich messe
Helmholtz-Gemeinschaft, aber auch – das ist die ent- dem Aktionsfeld internationale Kooperation eine heraus-
scheidende strukturelle Weiterentwicklung – an das, was ragende Bedeutung bei. Die Gesundheitsforschung muss
an zahlreichen Universitätsinstituten in Deutschland in den nächsten Jahren angesichts der Möglichkeiten, die
schon geleistet wird. Deshalb ist in meinen Augen die wir in Deutschland haben, aber auch angesichts der
größte Veränderung – übrigens auch die größte Verände- Möglichkeiten, die wir auf europäischer Ebene haben,
rung in der Gesundheitsforschung, die es in Deutschland noch stärker genutzt werden, um internationale Verant-
bislang überhaupt gegeben hat – die Gründung von na- wortung wahrzunehmen. Sie ist ein wichtiges Aktions-
tionalen Gesundheitsforschungszentren. Dies ist eine feld der internationalen Verantwortung, auch in der in-
neue Art der Zusammenarbeit zwischen universitärer ternationalen Entwicklungszusammenarbeit.
und außeruniversitärer Forschung und führt, damit ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bunden, zu einer größeren Nähe zu den Erkenntnissen,
die in der Forschung gewonnen werden, was den Patien- Meine Damen und Herren, ich werde nicht auf wei-
ten zugutekommt. Der Grundgedanke ist: Die Erkennt- tere Einzelheiten eingehen; denn das Rahmenprogramm
nisse müssen schneller und wirksamer zum Patienten. Gesundheitsforschung liegt Ihnen vor. Ich will auf den
Antrag der SPD eingehen, der heute in diesem Hause
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie eingebracht worden ist. Mich hat dieser Antrag insofern
des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) verwundert, als er die Tatsachen im Hinblick auf das
11626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) Rahmenprogramm Gesundheitsforschung an vielen Stel- ten Arbeitsplätzen, die in dieser Branche geschaffen (C)
len ins Gegenteil verkehrt. werden, von großer Bedeutung ist.
Erstens. Wenn Sie davon reden, dass dieses Rahmen- Sie schreiben, es gebe Defizite bei der Ausbildung
programm allgemein gehalten ist, dann muss ich Ihnen klinischer Forscher. Sie wissen aber, dass die genannten
sagen – wir haben ausdrücklich und ausführlich darüber Defizite mit diversen Förderschwerpunkten ganz gezielt
diskutiert –: Wir legen bewusst ein Rahmenprogramm angegangen werden, zum Beispiel in den Klinischen
vor, das in den nächsten acht Jahren Entwicklungen Studienzentren oder in den Integrierten Forschungs- und
möglich macht. Wir legen bewusst ein Programm vor, Behandlungszentren.
das die Richtung vorgibt, basierend auf dem, worüber
Sie sprechen davon, dass wir uns zu wenig mit der ge-
wir mit dem Gesundheitsforschungsrat diskutiert haben.
sundheitsökonomischen Dimension des ganzen Themas
Wir legen Schwerpunkte fest. Jeder von Ihnen weiß,
beschäftigen. Sie wissen aber, dass längst Zentren der
dass es einer Verwechslung von Äpfeln mit Birnen
gesundheitsökonomischen Forschung eingerichtet wer-
gleicht, wenn man ein Rahmenprogramm mit konkreten
den.
Förderausschreibungen verwechselt.
Ich nenne diese wenigen Punkte aus Ihrem Antrag,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
weil ich der Meinung bin, dass wir in der Frage der Ge-
Zweitens. Sie schreiben, die verstärkte Zusammenar- sundheitsforschung einschließlich der damit verbunde-
beit von Wissenschaft und Wirtschaft – es ist auch die nen Schwerpunkte und strukturellen Verbindungen und
Rede von einer Stärkung der Gesundheitswirtschaft – sei Veränderungen möglichst viel Zusammenarbeit brau-
das Leitmotiv dieses Rahmenprogramms. Wir haben chen – auch zwischen Bund und Ländern. Deshalb wün-
lange darüber diskutiert. Wenn in diesem Rahmenpro- sche ich mir für die gute Umsetzung dieses Schwerge-
gramm von Translation und Wissenstransfer die Rede ist wichtes unserer Forschungsstrategie eine gute
– und zwar auf der Basis der Zentren, die wir in den letz- Verbindung zu den Ländern und einen möglichst weitge-
ten Jahren schon aufgebaut haben –, dann geht es eben henden parteiübergreifenden Konsens; denn wir reden
nicht um verkaufbare Produkte, sondern es geht um neue über ein Forschungsfeld, das zutiefst mit humaner Ent-
Therapien, um neue Leitlinien für Diagnose und Thera- wicklung in unserer Gesellschaft, exzellenter Forschung
pie, um unmittelbare Verbesserungen für die Patienten. und neuen Verbindungen zwischen der Forschung, dem
Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung zu-
Nachdem wir so viel darüber diskutiert haben, lieber sammenhängt. Das Potenzial war noch nie so groß. Die
Herr Röspel, kann ich, wenn ich jetzt Ihren Antrag lese, finanziellen Investitionen waren noch nie mit so vielen
nur davon ausgehen, dass Sie nicht wahrnehmen wollen, Möglichkeiten verbunden, und die Strukturen, die wir
dass vieles von dem, was in dieses Rahmenprogramm auf den Weg bringen, sind die Konsequenz aus dem, was (D)
(B)
aufgenommen worden ist, gerade aus den gemeinsamen in vielen Analysen über das Gesundheitssystem und die
Diskussionen, die wir geführt haben, resultiert. Ich finde Gesundheitsforschung in Deutschland zutage getreten
das bedauerlich; denn der Bereich der Gesundheitsfor- ist. Deshalb geht mein Dank auch an diejenigen, mit de-
schung wäre wunderbar geeignet, um auch einmal ge- nen dieses Programm aufseiten des Parlaments diskutiert
meinsam die Richtung für die nächsten Jahre vorzuge- werden konnte. Ich bitte um Unterstützung für die Um-
ben. setzung in den nächsten acht Jahren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vielen Dank.
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war
jetzt die Abteilung Attacke!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Das ist wahr. – Ganz abgesehen davon hielte ich es,
wenn die Gesundheitswirtschaft und die damit verbun- Präsident Dr. Norbert Lammert:
dene Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen dieses Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
Parlament und diese Bundesregierung gleichgültig las- SPD-Fraktion.
sen würden, für eine komische Grundeinstellung. (Beifall bei der SPD)
Das Leitmotiv ist klar – dabei können wir auch gut
auf Entwicklungen der letzten Jahre aufbauen –: Wir René Röspel (SPD):
wollen die Wege zum Patienten verkürzen. Wir wollen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
dass das, was die Gesundheitsforschung an neuen Ansät- Herren! Im Oktober 2007 ist die „Roadmap für das Ge-
zen und individualisierter Medizin ermöglicht, in dem sundheitsforschungsprogramm der Bundesregierung“
gesamten System der Gesundheitsversorgung wirklich publiziert worden, herausgegeben vom Gesundheitsfor-
Platz greift und wirkt. Aber wir wollen auch, dass sich schungsrat des BMBF. Das ist ein Rat, der mit hochkarä-
die Gesundheitswirtschaft in Deutschland gut entwi- tigen deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ckeln kann, lern besetzt ist. Er hat sich im Beratungsprozess mit über
900 Beteiligten getroffen – leider waren darunter keine
(René Röspel [SPD]: Das wollen wir auch, gar
Patientenvertreter und keine Vertreter der Komplemen-
keine Frage!)
tärmedizin; dazu werde ich gleich kurz noch etwas sagen –
weil sie eine Wachstumsbranche schlechthin ist, weil sie und einige Jahre diskutiert. Er hatte die Aufgabenstel-
gerade vor dem Hintergrund der demografischen Ent- lung, zu beraten, welche aussichtsreichen Forschungs-
wicklung und vor dem Hintergrund von hochqualifizier- themen im Bereich der Gesundheit zu identifizieren sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11627
René Röspel
(A) und der Bundesregierung sozusagen mit auf den Weg ge- Wenn man das Programm liest, dann erhält man in der (C)
geben werden können, um ein Gesundheitsforschungs- Tat den Eindruck, dass die Gesundheitsforschung in die-
programm zu erarbeiten und zu beschließen. sem Programm dazu dienen soll, möglichst schnell wirt-
schaftlich verwertbare Produkte zu generieren. Sie nen-
Dieses haben wir im Oktober 2007 auf den Tisch be-
nen das: Erkenntnisse „an den Patienten bringen“. Das
kommen, und ich muss sagen: Es ist ein richtiges
zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Programm.
Schwergewicht – 120 Seiten vollgepackt mit Informatio-
Um das visuell deutlich zu machen, habe ich rote Zettel
nen, wissenschaftlichen Arbeiten, Handlungsoptionen
eingelegt. Überall dort, wo sich ein roter Zettel befindet,
und Vorschlägen. Wir waren damals, als wir darüber dis-
wird die Wirtschaft betont. Das darf man machen, aber
kutiert haben, sehr zufrieden damit und haben gesagt: Es
es dient nicht der Gesundheitsforschung.
wird spannend, was für ein Gesundheitsforschungspro-
gramm aus den Vorschlägen der beteiligten Wissen- Wir als SPD haben eine andere Auffassung, Frau
schaftler entstehen wird. Schavan. Gesundheitsforschung soll nicht der Wirtschaft
dienen, sondern den Menschen.
Knapp anderthalb Jahre später haben wir nachgefragt.
Im Januar 2009 bekamen wir die Antwort: Im April/Mai (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wird es eine Kabinettsbefassung mit dem Gesundheits- der LINKEN)
forschungsprogramm geben. Ein weiteres Jahr später, im
Sie hingegen – das haben wir auch in Ihrem Redebeitrag
Februar 2010, haben wir noch einmal nachgefragt, wann
gerade wieder gehört – zäumen das Pferd von der ande-
das Gesundheitsforschungsprogramm vorliegen wird. Es
ren Seite auf. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.
wurde dann eine ähnliche Antwort gegeben: Kabinetts-
Die Frage ist: Wie können wir den Menschen dienen,
befassung im April/Mai.
und wie kann man vom Menschen her darüber nachden-
Ende 2010 flatterte eine Hochglanzbroschüre des ken, welche Gesundheitsforschung betrieben werden
BMBF in unsere Büros – übrigens ohne vorherige Dis- muss?
kussion; ich weiß nicht, in welchen parlamentarischen
(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Sie haben doch
Zirkeln das vorher besprochen worden ist –, auf der
keinen Exklusivvertrag!)
stand: „Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
Bundesregierung“. Dann ergeben sich auch noch andere Fragen: Was müs-
sen wir machen, damit die Menschen gesund bleiben?
(Ulla Burchardt [SPD]: So viel zum Thema
Was müssen wir in der Forschung tun, damit Kranke
Gemeinsamkeit!)
wieder gesund werden?
Das Deckblatt ist übrigens im seit 2005 üblichen CDU-
Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise ergeben sich
(B) Orange gehalten. Wir waren sehr gespannt, was in die- (D)
wieder andere Fragen: Wie sehen die Lebensbedingun-
sem Rahmenprogramm steht. Es sind 48 Seiten; es müs-
gen von Menschen aus? Wie schaffen wir Arbeitsplätze
sen ja auch nicht wieder 120 Seiten sein. Aber wenn man
und Situationen, mit denen es gelingt, dass Menschen
hineinschaut, dann findet man erst einmal eine ganze
gesund bleiben? Wie schaffen wir entsprechende Le-
Reihe von Hochglanzfotos. Sehr interessant! Zieht man
bensbedingungen? Welche Ernährungsforschung und
sie ab, bleiben von den 48 Seiten 30 Seiten Text.
Versorgungsforschung betreiben wir? Wie gehen wir mit
(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist schön! – Krista Kranken um?
Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer-
Das sind die Fragen, die sich ergeben, wenn man vom
hin!)
Menschen her denkt, und das finden wir in dem Gesund-
Auch das ist okay. heitsforschungsprogramm leider nicht.
Wenn man sich diesen Text dann aber ansieht – das ist Ihre Antworten sind anders. Zum Teil sind sie nicht
alles andere als ein Schwergewicht, Frau Schavan, das vorhanden; die Bereiche Arbeits- und Dienstleistungs-
ist ein wirkliches Leichtgewicht –, dann ist die Enttäu- forschung gibt es nicht. Es gibt aber ein Kapitel über
schung sehr groß, Versorgungsforschung, Ernährungs- und Präventionsfor-
schung. Wie sehen hier Ihre Antworten aus? Sie können
(Beifall bei der SPD)
sich hier nicht darauf zurückziehen, dass das nur ein gro-
und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist ein in- ber Überblick ist. Es muss mehr sein als nur Textbei-
haltlicher: Bei der Erarbeitung des Gesundheitsfor- träge.
schungsrahmenprogramms haben Sie die wissenschaft-
Ich habe alles mit Spannung gelesen. Auf Seite 33
lichen Chancen nicht genutzt;
schreiben Sie:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Bedeutung der gesundheitsökonomischen For-
sie finden sich im Gesundheitsforschungsprogramm schung hat in den vergangenen Jahren erheblich zu-
nicht wieder. Sie haben die Arbeit der deutschen Wissen- genommen. Der Bedarf an fundierten wissenschaft-
schaft schlicht und einfach nicht genutzt. lichen Erkenntnissen … wird immer dringlicher.
Forschung kann hierfür konsistente Entscheidungs-
Der zweite Punkt, der mich fast ärgert, ist: Sie haben
grundlagen schaffen.
nicht die Möglichkeit genutzt, mit dem Gesundheitsfor-
schungsprogramm ein gesellschaftliches und politisches Das ist alles richtig. Jetzt warten wir auf die Vor-
Zeichen mit einer entsprechenden Dimension zu setzen. schläge. Was aber kommt? Nichts. Es folgt das nächste
11628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

René Röspel
(A) Kapitel: „Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch- (Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer (C)
ses“. Darin verweisen Sie darauf, dass mehr Lehrstühle [CDU/CSU]: Da waren Ihre Anträge noch
für Versorgungsforschung geschaffen werden müssen. qualitätsvoll!)
Das ist Länderaufgabe. Wo ist die Verantwortung des
Wir wollen auch Gender- und Kinderaspekte einbe-
Bundes?
ziehen. Das sind nur einige Beispiele aus unserem An-
Welche Vorschläge bieten Sie zur Gesundheitsfor- trag.
schung für die Menschen? Sie wollen in den nächsten fünf Jahren 5,5 Milliarden
Euro einsetzen. Auch darauf sind wir sehr gespannt. Wo
(Ulla Burchardt [SPD]: Keine!) sind eigentlich neue Mittel? Denn Sie zählen For-
Das Programm ist eine inhaltliche Enttäuschung für uns. schungsmittel dazu, die längst bewilligt sind. Entschei-
Sie machen keine Gesundheitsforschung, sondern dend ist aber nicht das Geld oder die Höhe der Summe,
Krankheitenerforschung. Das greift zu kurz. sondern die Frage: Was nutzt letzten Endes den Men-
schen? Dafür ist die Forschung da.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Gesundheitsforschungsprogramm erfüllt diesen
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Einige Kolle- Anspruch nicht. Bedienen Sie sich gerne aus unserem
gen haben gestern an einer Veranstaltung zur Komple- Antrag. Das tut den Menschen im Lande sicherlich gut.
mentärmedizin teilgenommen, bei der es auch um Natur- Danke schön.
heilkunde und alternative medizinische Verfahren ging.
90 Prozent der Menschen, die auf diese Weise behandelt (Beifall bei der SPD)
werden, sind sehr zufrieden. Das spielt also gesellschaft-
lich eine Rolle. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Dr. Peter Röhlinger für die
In der „Roadmap Gesundheitsforschung“ von 2007 CDU/CSU-Fraktion, Entschuldigung: für die FDP-Frak-
wird die Komplementärmedizin im Kapitel „Krebser- tion, das Wort.
krankungen“ berücksichtigt. Es wird ernsthaft vorge-
schlagen, sich damit zu befassen. In dem vermeintlichen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
Schwergewicht Gesundheitsforschungsprogramm findet kann heutzutage schon mal passieren, Herr
sich kein Wort dazu. Man findet nicht einmal das Wort Präsident!)
„Behinderung“. Aber zu einem Gesundheitsforschungs- – Mögliche Fraktionswechsel sollten schon subjektive
programm gehört, wie ich finde, auch Gesundheitsfor- individuelle Entscheidungen bleiben. Sie werden nicht
(B) schung für Menschen mit Behinderung. durch das Präsidium veranlasst. – Bitte schön, Herr Kol- (D)
lege.
Das alles ist sehr enttäuschend. Sie hatten drei Jahre
Zeit für das Gesundheitsforschungsprogramm, die Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht genutzt haben. Wir als SPD hatten drei Wochen der CDU/CSU)
Zeit, als wir erfuhren, dass die Debatte sehr schnell auf
die Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben einen Antrag Dr. Peter Röhlinger (FDP):
erarbeitet. Er mag nicht vollständig oder auch verbesse- Herr Präsident, ich freue mich, dass wir in dieser
rungswürdig sein; aber wir sagen ausdrücklich: Wir wol- fröhlichen Stunde auch ein fröhliches Wort übrig haben.
len Gesundheitsforschung, die von den Bedarfen der
Menschen ausgeht. Ich begrüße Sie herzlich, Frau Ministerin, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Ich widme mich im Fol-
(Beifall bei der SPD) genden dem von Ihnen genannten tatsächlichen Schwer-
gewicht. Ich empfinde es als Veterinärmediziner und
Damit stehen wir nicht alleine. Das Institut für Qualität Bürger, der 40 Jahre lang das Gesundheitswesen der
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sieht das DDR kennengelernt hat, auch persönlich als eine große
genauso. Die Frage ist: Was hat der Patient davon? Das Freude, dass wir nun die Chance haben, der Spitze der
gilt auch für die Forschung. europäischen medizinischen Forschung zu zeigen: Wir
sind hier und wollen unseren Beitrag leisten.
Wir wollen einen Aktionsplan Präventions- und Er-
nährungsforschung. Sie kündigen ihn seit Jahren an. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sagen: Legen Sie ihn endlich vor! der CDU/CSU)
Ich gehe davon aus, dass das Rahmenprogramm Ge-
Wir wollen die Stärkung der Patientenautonomie, und
sundheitsforschung der Bundesregierung die strategi-
wir wollen die klinische Forschung stärken. Was Sie
sche Ausrichtung der medizinischen Forschung für die
eben an bereits existierenden Maßnahmen aufgeführt ha-
kommenden Jahre darstellt. Es bildet die Grundlage für
ben, Frau Schavan, ist doch auf eine Initiative der SPD
die Finanzierung medizinischer Forschung an Hoch-
zur Förderung nicht kommerzieller und klinischer For-
schulen, Universitätskliniken, außeruniversitären For-
schung zurückzuführen, die wir in guter Zusammenar-
schungseinrichtungen und in Unternehmen.
beit, Herr Kretschmer, gemeinsam in der Großen Koali-
tion auf den Weg gebracht haben. Sonst wäre nichts Die Bundesregierung ist einer der wichtigsten Ak-
passiert. teure auf dem Gebiet der Gesundheitsforschung, denn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11629
Dr. Peter Röhlinger
(A) sie finanziert anteilig Wissenschaftsorganisationen wie neue Qualität der Zusammenarbeit in der Wissenschaft (C)
die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, entstehen kann; das muss auch so sein. Erstmals werden
die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesell- hier universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen
schaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. mit ihren jeweils besten Forscherinnen und Forschern
gleichberechtigt und gemeinsam wissenschaftliche Fra-
(René Röspel [SPD]: Nicht die Bundesregierung
gestellungen definieren und bearbeiten. Bei den Vorge-
hat das getan, sondern der Bundestag!)
sprächen zum Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist mir ans
Sie unterhält Ressortforschungseinrichtungen, und sie Herz gelegt worden: Wir brauchen nicht mehr Geld, son-
fördert medizinische Forschungsprojekte. Daraus er- dern neue Strukturen. Wir brauchen Kooperation, auch
wachsen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei wird hoffent- mit den Unternehmen.
lich ein Großteil dessen, was Sie, Herr Röspel, angespro-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chen haben, integriert werden.
Das ist ein neuer Aspekt, der sich in diesem Rahmenpro-
(René Röspel [SPD]: Wir hoffen immer, ge-
gramm wiederfindet.
rade in diesem Fall!)
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Er-
Wir haben als Parlamentarier Zeit, das zu kontrollieren
krankungen, zum Beispiel Parkinson, Demenz und Alz-
und gegebenenfalls zu ergänzen.
heimer, und das Deutsche Zentrum für Diabetesfor-
Dieses Programm setzt für die institutionelle Förde- schung sind bereits gegründet.
rung und für die Projektförderung des BMBF einen ge-
(René Röspel [SPD]: Aber die Forschung hat
meinsamen Rahmen und richtet beide Förderarten neu
es vorher schon gegeben!)
aus. Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft
schneller aus der Grundlagenforschung und der klini- Vier weitere Zentren werden eingerichtet, zu Herz-
schen Forschung in die medizinische Regelversorgung Kreislauf-Erkrankungen, zu Krebs, zu Infektions- und zu
und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess, der Lungenkrankheiten. Hier werden sicherlich – darüber
in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedauert hat, sind wir uns alle einig – die Kliniken und Einrichtungen
soll durch neue Strukturen und neue Formen der Zusam- mit großem Interesse dabei sein. Sie werden sich fragen:
menarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- Sind wir dabei, oder gehören wir zu den Einrichtungen,
lern beschleunigt werden. Dafür sind – die Zahlen haben die aus diesen oder jenen Gründen nicht einbezogen
wir zum Teil schon gehört – für das Jahr 2011 insgesamt werden? – Da können wir uns auf schwierige Diskussio-
mehr als 1 Milliarde Euro in den Haushalt eingestellt, für nen gefasst machen. Frau Ministerin, Sie plädierten für
den Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro. eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Ich sehe da
(B) durchaus Spannungsfelder. Aber auch dafür sind wir da. (D)
(René Röspel [SPD]: Keine neuen Mittel,
Sonst würden das andere schon längst gemacht haben.
oder?)
Beim Aktionsfeld 2 geht es um die Forschungshe-
Die Laufzeit ist auf acht Jahre angelegt. Auf der Veran-
rausforderung. Das Stichwort heißt individualisierte Me-
staltung, die wir gestern gemeinsam besucht haben, hatte
dizin. Dieses Aktionsfeld ist der ganzheitlichen Behand-
ich den Eindruck, dass wir überfraktionell, gerade was
lung gewidmet; denn durch die großen Fortschritte der
die Komplementärmedizin angeht, durchaus überein-
medizinischen Forschung in den vergangenen Jahren ist
stimmende Ansichten haben.
das Verständnis der grundlegenden Krankheitsmechanis-
Die Tatsache, dass die Laufzeit auf acht Jahre ange- men inzwischen stark gewachsen. Dabei ist deutlich ge-
legt ist, gibt uns die Möglichkeit, nicht im Raster von worden, dass individuelle Unterschiede, zum Beispiel
vier Jahren denken zu müssen, sondern in längeren Zeit- Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und genetische
räumen. Das sind wir den Bürgern schuldig, und dieser Disposition, eine große Rolle spielen. Die Erforschung
Zeithorizont macht uns Abgeordneten Hoffnung, in den dieser Aspekte muss forciert werden, um Diagnose und
nächsten Jahren etwas mehr Kraft zu investieren. Therapie künftig stärker als heute auch auf individuelle
Bedürfnisse und Voraussetzungen einzelner Menschen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
oder einzelner Gruppen von Menschen auszurichten.
Die Patienten stehen – so geht es aus dem Text her-
Mir sagen die Chefs in Heidelberg und an anderen
vor – im Mittelpunkt. Partner der Regierung sind in ers-
Orten: Wenn die Patienten künftig mit ihrem Chip zum
ter Linie die Forschungseinrichtungen. Aber wir haben Arzt oder in die Klinik kommen und eine Fülle von In-
auch – darin unterscheiden wir uns vielleicht, Herr
formationen mitbringen, dann kann der Mediziner Kos-
Röspel – ein ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen
ten auf dem einen oder anderen Gebiet vermeiden, weil
als Partner bei der Lösung außerordentlich komplizierter er sehr speziell reagieren und auf die Anwendung von
Vorhaben. Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung
diesem oder jenem Diagnostikum oder Therapeutikum
sind sechs Aktionsfelder definiert. Ich möchte an dieser
verzichten kann.
Stelle nur auf einige eingehen, die mir besonders interes-
sant erscheinen. (René Röspel [SPD]: Die elektronische Ge-
sundheitskarte hat nichts mit individualisierter
Zunächst geht es um die Erforschung von Volks-
Medizin zu tun!)
krankheiten. Diese Forschung wird gebündelt. Es wer-
den sechs deutsche Zentren der Gesundheitsforschung Die Bundesregierung unterstützt die Entwicklung von
gegründet. Diese Zentren sind so aufgestellt, dass eine Diagnostika und Therapeutika und spannt in der Förde-
11630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Peter Röhlinger


(A) rung den Bogen entlang des Innovationsprozesses von zu den höchsten Ansprüchen einer Gesellschaft. Diese (C)
der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung über Aufgabe bedarf, soll sie auch nur annähernd gerecht für
die präklinische und klinisch-patientenorientierte For- die Menschen erfüllt werden, eines zutiefst solidarischen
schung bis zur Marktreife. Der Übergang von einer Stufe Ansatzes. Herr Röspel hat schon gesagt, dass von den
des Innovationsprozesses zur nächsten wird erleichtert. Menschen aus gedacht werden soll.
Die Erforschung seltener Krankheiten wird ebenso be-
(Zuruf von der SPD: Da hat er recht!)
sonders intensiv gefördert.
Für diesen Ansatz bedeutet das, dass das Gesundheits-
Die Präventions- und die Ernährungsforschung lie-
forschungsprogramm nicht mehr nur in den Grenzen von
fern Erkenntnisse über den Einfluss von Ernährung und
Nationalstaaten verfolgt werden kann, und für diesen
Bewegung. Das betrifft speziell unsere Berufsgruppe;
Ansatz bedeutet das, dass die Grenzen zwischen fach-
(René Röspel [SPD]: Dazu brauchen wir kein wissenschaftlichen Disziplinen überschritten werden
Gesundheitsforschungsrahmenprogramm!) müssen.
denn die Bewegungsarmut betrifft uns alle, die wir hier Was heißt das jetzt aus der Sicht der Linken? Ein mo-
sitzen. dernes Gesundheitsforschungsprogramm muss zwangs-
läufig seinen Horizont erweitern. Deshalb ist uns beson-
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
ders wichtig, dass soziale, kulturelle, soziologische,
demografische, aber auch ökologische Faktoren einzu-
Präsident Dr. Norbert Lammert: beziehen sind, weil auch diese die Gesundheit maßgeb-
Herr Kollege. lich beeinflussen.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Man sieht, das Ministerium denkt auch an uns, ob- Im Zentrum des Gesundheitsforschungsprogramms
wohl man sagt: Der brave Mann denkt an sich selbst zu- sollen nun so große Volkskrankheiten wie Krebs, Herz-
letzt. – In diesem Fall haben Sie, Frau Ministerin, auch Kreislauf-, Stoffwechsel-, Infektions-, Lungen- oder neu-
dieses Tabu gebrochen. rodegenerative Erkrankungen stehen. Der Anstieg bei
diesen Erkrankungen und die Dramatik ihres Verlaufs
Präsident Dr. Norbert Lammert: werden, wie zwischenzeitlich belegt, eindeutig auch
Herr Kollege, wenn Sie gelegentlich an die Redezeit durch unsere Lebensweise geprägt. Daher müssen in
dächten, würde uns das auch wieder mehr Bewegung am neuer Qualität auch Präventions- und Versorgungsfor-
Rednerpult ermöglichen. schung in das Konzept integriert werden. Die Linke hat an
(B) dieser Stelle wiederholt kritisiert, dass Gesundheitsfor- (D)
(Heiterkeit) schung in dieser Bundesregierung viel zu sehr auf Phar-
maentwicklung, Biotechnologie und Medizintechnik ver-
Dr. Peter Röhlinger (FDP): engt ist.
Ich nähere mich dem Ende. Tatsächlich hätte die Bundesregierung längst weiter
(Heiterkeit) sein können. Herr Röspel hat es schon zu Recht gesagt:
Immerhin lagen mit dem damaligen als – neudeutsch –
„Roadmap für die Gesundheitsforschung“ bezeichneten
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Konzept der schwarz-roten Koalition von 2007 viele
Das wollen wir nicht hoffen, aber die Redezeit geht deutlich konkretere Vorschläge auf dem Tisch. Aber of-
zu Ende, Herr Kollege Röhlinger. fensichtlich ist die schwarz-gelbe Gemeinschaftspraxis
(Heiterkeit) tapfer entschlossen, ihre konzeptionelle Blutarmut ohne
rote Helferzellen zu überstehen.
Dr. Peter Röhlinger (FDP): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Ich möchte zum Schluss auf die neuen Strukturen in neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
der internationalen Kooperation und auf die Zusammen- GRÜNEN)
arbeit mit dem BMZ verweisen.
Also muss das Parlament die konkrete strukturelle
Herzlichen Dank. und finanzielle Umsetzung der angekündigten Initiativen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kontrollieren und mit eigenen Vorschlägen bereichern.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie uns be-
reits in den Haushaltsberatungen Auskunft darüber gibt,
Präsident Dr. Norbert Lammert: in welchem Verhältnis die einzelnen Aktionsfelder zu-
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Petra Sitte für einander stehen und wie sie jeweils finanziell unterlegt
die Fraktion Die Linke. werden.
(Beifall bei der LINKEN) Die Erforschung großer Volkskrankheiten ist wahrlich
eine Mammutaufgabe, an die sich hohe Erwartungen
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): knüpfen. Das alles ist nicht ohne verlässliche Strukturen,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sich um ohne neue bundesweite Vernetzungen und Kooperatio-
die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen, gehört wohl nen zu schaffen. Also macht die Bildung von Zentren für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11631
Dr. Petra Sitte
(A) Gesundheitsforschung unter dem Dach der starken Lediglich 20 Millionen Euro für sogenannte Produktent- (C)
Helmholtz-Gemeinschaft durchaus Sinn. Wenn jedoch wicklungspartnerschaften zwischen Industrie und For-
die Universitätsklinika auf Augenhöhe mitwirken sollen, schern stehen beispielsweise 800 Millionen Euro gegen-
dann müssen sich Bund und Länder darüber verständi- über, die im Rahmen der Pharmainitiative in den letzten
gen, wie der chronischen Unterfinanzierung der Univer- Jahren ausgegeben wurden. Das müssen wir ändern.
sitätsmedizin begegnet werden kann.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Krista Meine Damen und Herren, das Gesundheitsfor-
Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schungsprogramm bietet uns durchaus auch auf diesem
Ansonsten können die Klinika ihre Chance, endlich wie- Feld eine Chance, die hohe Kompetenz wissenschaftli-
der stärker in öffentlich geförderte, nicht kommerzielle cher Einrichtungen tatsächlich in den Dienst dieser Ge-
Forschung einzusteigen, kaum befriedigend wahrneh- sellschaft wie auch der Weltgemeinschaft zu stellen. Pa-
men. Insofern hatten Sie in Ihrer Rede recht. Das Ganze cken wir es endlich an!
muss jetzt aber auch verbindlich festgehalten werden. Danke schön.
Eine unabhängige klinische Forschung kann dem (Beifall bei der LINKEN)
Wissen über Therapien entscheidende Impulse geben;
das wissen wir. Mithin wird die Möglichkeit, eigene For- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schungsvorhaben zu verfolgen, auch für wissenschaftli- Das Wort erhält nun die Kollegin Krista Sager vom
chen Nachwuchs attraktiv. Deshalb betrachte ich es als Bündnis 90/Die Grünen.
Fortschritt, dass Nachwuchsfragen in jedem Themenge-
biet des Programms eine Rolle spielen. Allerdings müs-
sen Sie jetzt nachlegen und verlässliche Perspektiven Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
konzipieren. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-
desregierung hat in ihrem nationalen Rahmenprogramm
Gesundheitsprobleme können, wie ich schon ein- zur Gesundheitsforschung die Präventionsforschung, die
gangs gesagt habe, nicht mehr nationalstaatlich gelöst Versorgungsforschung und auch die globale Herausfor-
werden; sie tragen globalen Charakter. Wer heute meint, derung mit einem Schwerpunkt auf vernachlässigte und
dass die wohlhabenden Staaten von den Krankheiten der armutsbedingte Krankheiten aufgegriffen und zu eige-
sogenannten armen Länder verschont bleiben, verkennt nen Aktionsfeldern gemacht. Das bewerten wir erst ein-
den Ernst der Lage. Die Linke sagt: Wir tragen eine hohe mal durchaus positiv. Ich sage aber auch: Wenn man sich
Verantwortung dafür, dass Krankheiten, die mit Armut die finanzielle Gewichtung anschaut, kann man in der
(B) einhergehen, wie HIV, Malaria, Tbc oder tropische Tat nur von allerersten Schritten sprechen. Da müssen (D)
Krankheiten, ausgerottet werden können. mit Sicherheit weitere Schritte folgen.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Die Pharmaindustrie ihrerseits ignoriert nämlich er- LINKEN)
fahrungsgemäß die dramatischen Folgen, weil in den ar-
men Ländern auf sie keine kaufkräftigen Kunden war- Die Bedeutung der Präventionsforschung wird beson-
ten. Es ist eine Bankrotterklärung der reichen Staaten, ders durch den demografischen Wandel unterstrichen.
dass die Millenniumsziele der Vereinten Nationen nicht Wir müssen junge Menschen vor Erkrankung schützen,
erreicht worden sind. wir müssen ältere Menschen länger gesund und aktiv er-
halten. Ein wichtiges Thema für die Präventionsfor-
Nicht genug damit, dass so viele Menschen wie nie schung ist aber auch die soziale Spaltung im Präven-
hungern, nämlich über 1 Milliarde: Nein, sie sind infol- tionsbereich. Prävention darf nicht nur die gebildete
gedessen auch noch dramatisch geschwächt und fast Mittelschicht erreichen, sondern sie muss auch Kinder
wehrlos gegen Krankheiten. So stehen wir weltweit vor aus armen Familien und Menschen, für die gesunde Er-
verschärften armutsbedingten medizinischen Großpro- nährung nicht alltäglich ist, erreichen.
blemen und damit einhergehenden gesellschaftlichen
Konflikten. Krasses Beispiel etwa sind multiresistente (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tuberkulosekeime, die sich in den Staaten der ehemaligen und bei der SPD)
Sowjetunion entwickelt haben und die sich nunmehr über Deswegen muss die interdisziplinäre und kooperative
ganz Europa ausbreiten. Präventionsforschung ganz besonders verstärkt werden.
Deutschland bezeichnet sich immer wieder gern als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
„Apotheke der Welt“. Angesichts dessen, was ich gerade und bei der SPD)
gesagt habe, kann ich nur feststellen: Dieser Satz ist
falsch. Wenn überhaupt, dann sind wir Apotheke höchs- In einer alternden Gesellschaft gibt es aber auch immer
tens für den reicheren Teil der Welt. Unter den Förderna- mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen, deren
tionen findet sich Deutschland als eines der reichsten Leid gemildert und deren Lebensqualität erhalten werden
Länder nämlich nur auf Platz 20. Das ist völlig inakzep- muss. Gesundheitsforschung muss deswegen auf die Er-
tabel! forschung chronischer Erkrankungen einen Schwerpunkt
legen. Auch die Schmerz- und die Pflegeforschung müs-
(Beifall bei der LINKEN) sen verstärkt werden. Frau Schavan, ich finde, dass in
11632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Krista Sager
(A) einem nationalen Gesundheitsforschungsprogramm die fahrung. Sie braucht die Überprüfung ihrer eigenen Er- (C)
Pflegewissenschaften einen sehr viel stärkeren Stellen- wartung in der klinischen Praxis. Sie braucht aber auch
wert brauchen, als das in Ihrem Programm der Fall ist, die Nähe zum ärztlichen Nachwuchs; denn wir müssen
gerade die jungen Ärzte auch für die medizinische For-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schung und für die Kooperation mit der medizinischen
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Forschung interessieren und gewinnen. Das heißt, wenn
LINKEN)
man Translation als Ziel ernst nimmt, dann müssen
und zwar nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Herzstück und Schnittstelle der Deutschen Zentren ei-
Erkenntnisse, sondern auch, was die akademische Pro- gentlich die Universitätskliniken sein.
fessionalisierung des Fachkräftepotenzials angeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Stärkung der Versorgungsforschung war – gerade Was ist aber passiert? Wir sind wieder von den Be-
vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Möglichkei- sonderheiten der föderalen Forschungsförderung einge-
ten – für uns immer ein besonders wichtiges Anliegen. holt worden. 90 Prozent der Mittel sollen vom Bund
Der medizinische Fortschritt muss auch bei denen an- kommen. Also wurden, um die Länder im Boot zu hal-
kommen, die es am nötigsten haben und bei denen er am ten, die Helmholtz-Zentren in die Mitte gerückt; sie wur-
meisten bewirkt – nicht nur bei denen, die es sich leisten den als Partner gesetzt. Sie mussten sich im Gegensatz
können. Deswegen ist gerade die Stärkung der Versor- zu den Universitäten dazu keinem qualitativen Wettbe-
gungsforschung unter dem Gesichtspunkt von Gerechtig- werb stellen. Sie sind von vornherein privilegiert, weil
keit, aber auch unter dem Gesichtspunkt von Qualität und sie Geförderte und Förderer zugleich sind. Es ist kein
Effizienz für uns Grüne ein ganz besonderes Anliegen. Wunder, dass der Verband der Universitätskliniken, der
Männer und Frauen werden in unserem System unter- Medizinische Fakultätentag und die Hochschulrektoren-
schiedlich unterversorgt und überversorgt. Man muss konferenz protestiert haben. Durch ihren Protest und
sich da nur die Herzkrankheiten und die psychischen durch ihren Druck gibt es jetzt verschiedene Zentrenmo-
Krankheiten anschauen. Zum Teil kommen Medika- delle und eine Entwicklung in Richtung einer Netzwerk-
mente auf den Markt, die nur an männlichen Probanden struktur.
getestet worden sind. Deswegen muss die Bundesregie- Damit sind aber nicht alle Probleme und Ängste be-
rung dafür sorgen, dass genderspezifische Aspekte in die seitigt. Werden die Helmholtz-Zentren forschende junge
Gesundheitsforschung systematischer integriert werden, Ärzte, Publikationen und Drittmitteleinwerbung aus den
als das in der Vergangenheit der Fall war. Universitätskliniken und aus den Unis zu sich herüber-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziehen? Werden die Länder Komplementärmittel, die sie
(B) und bei der SPD) jetzt brauchen, bei der Grundfinanzierung der Uniklini- (D)
ken abziehen? Das alles sind offene Fragen. Die Frage
Wir begrüßen – auch Frau Sitte hat das angespro- „Wird es Kooperation auf Augenhöhe geben?“ ist bisher
chen –, dass die Bundesregierung jetzt mehr gegen ar- nicht beantwortet.
mutsbedingte Krankheiten tun will. Das ist in der Tat
nicht nur ein Thema, das Solidarität und globale Verant- Ich finde es nicht unproblematisch, so viel Geld auf
wortung betrifft, es hat auch etwas mit Selbstschutz zu Dauer in eine Struktur hineinzustecken, die bisher noch
tun. Resistente Formen der Tuberkulose können auch so wenig erprobt ist. Wir brauchen ganz dringend nicht
ganz schnell bei uns ankommen. nur eine Evaluation der Ergebnisse, sondern beizeiten
auch eine Evaluation der Strukturen sowie der Folgen
Bei den geförderten Produktentwicklungspartnerschaf- und Risiken dieser Strukturen, bevor wir auf Dauer so
ten muss jetzt dafür gesorgt werden, dass die Kriterien für viel Geld in diese stecken. Das ist eine Sache, zu der ich
Lizenzierung und Erfolg transparent entwickelt werden. von Ihnen, Frau Schavan, eine Zusage erwarte, und das
Unsere Entwicklungspolitiker werden ganz besonders erwarten auch die Universitätskliniken von Ihnen.
darauf achten, dass dabei in Zukunft in Zusammenarbeit
mit den NGOs Fortschritte erzielt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michael Kretschmer [CDU/CSU])
und bei der SPD)
Der größte Teil der Mittel aus diesem Rahmenpro- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gramm geht in die Deutschen Zentren der Gesundheits- Der Kollege Michael Kretschmer erhält als Nächster
forschung. Ich sage ausdrücklich: Fokussierung auf die das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
großen Volkskrankheiten und Bündelung von Kräften
und Ressourcen zur Erforschung der großen Volkskrank- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heiten finden wir im Prinzip richtig. Zur Erreichung des
Ziels der schnelleren Translation, also der schnelleren Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Überführung der medizinischen Forschungsergebnisse Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
in die klinische Praxis bzw. in die Patientenbehandlung, Herren! Über 5,5 Milliarden Euro, nahezu 6 Milliarden
müssen aber eigentlich die Universitätskliniken ins Zen- Euro, wird der Bund zwischen 2011 und 2014 für die
trum gerückt werden. Warum? Die medizinische For- Gesundheitsforschung ausgeben. Über nicht weniger
schung braucht unbedingt die Nähe zu den Patientinnen Geld sprechen wir heute. Das ist ein gewaltiger Kraftakt.
und Patienten. Sie braucht die Nähe zur klinischen Er- Das macht klar, welche Bedeutung wir der Medizin und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11633
Michael Kretschmer
(A) der Gesundheitsforschung beimessen. Es ist nicht weni- Diabetes, Neurodegeneration und Infektion zwei weitere (C)
ger als knapp die Hälfte des Geldes, das das Bundes- Einheiten errichten will. Die Abgeordneten des Deut-
ministerium für Bildung und Forschung jährlich als Etat schen Bundestags haben gesagt: Wir wollen, dass die Er-
zur Verfügung hat. Es ist ein gewaltiger Kraftakt und, krankungen von Herz und Kreislauf sowie der Lunge
wie ich finde, ein deutliches Zeichen in die richtige auch in diesen Zentren ein Thema sind. Jetzt ist dies auf
Richtung. dem Weg. Ich finde, die Kritik ist an den Haaren herbei-
gezogen, und sie ist auch ein bisschen verletzend.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Helmholtz-Gemeinschaft ist eine der größten
Es reicht in diesem Zusammenhang nicht, über Geld deutschen Wissenschaftsorganisationen. Sie hat eine
zu sprechen; wir müssen auch über Strukturen und über große Exzellenz und ist international anerkannt. Wir ha-
Qualität sprechen. Ganz wichtig ist, auch im Hinblick ben sie damit beauftragt, diese Deutschen Zentren zu or-
auf das 8. Forschungsrahmenprogramm und andere Dis- ganisieren. Natürlich gibt es einen Wettbewerb bei den
kussionen, die derzeit laufen: In der Forschung muss es Projekten, die in den Deutschen Zentren verfolgt wer-
zuallererst um Exzellenz gehen. Es ist alles nichts ohne den. Dabei muss sich auch eine Gruppe, die in der Helm-
Exzellenz. holtz-Gemeinschaft mitarbeitet, im Rahmen dieses Wett-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bewerbs bewerben. So ist es auch passiert. Wir haben im
Übrigen eine große Gemeinsamkeit zwischen Klinikern
Diese Erkenntnis hatte vor Jahren auch schon eine an- und außeruniversitären Forschern. Man sollte nicht ver-
dere Bundesforschungsministerin. Sie hatte festgestellt, suchen, diese durch eine kleinteilige Diskussion in die-
dass Deutschland bei der klinischen Forschung weit zu- sem Bereich kaputtzumachen.
rück lag, und deswegen versucht, mit Zentren für klini-
sche Studien und ähnlichen Dingen die Qualität zu he- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben. Vieles davon ist gut gelungen. Deswegen empfinde Ich will die Frage aufwerfen, wie es sich mit den Bun-
ich nicht alle Reden, die wir heute gehört haben, als ziel- desländern, denen die Kliniken gehören, der Hochschul-
führend. Wir können nämlich gemeinsam auf das stolz medizin und der außeruniversitären Forschung verhält.
sein, was wir auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, wir haben auch hier in den vergangenen Jah-
Wir haben heute gehört, das Programm sei zu nahe an ren deutliche Maßnahmen ergriffen, um zu helfen. Ich
der Umsetzung, zu nahe an den Unternehmen, die später bin aber nach wie vor der Meinung, dass wir die Univer-
die Medikamente herstellen. Das ist erstens falsch, und sitätskliniken nicht übernehmen sollten. Das würde völ-
zweitens widerspricht der Vorwurf dem, was die SPD, lig an der Sache vorbeigehen.
als sie in der Regierung war, einmal selber mit vorange- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(B) trieben hat. (D)
Das hat auch niemand gewollt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir haben die für Forschung und Entwicklung zur
René Röspel [SPD]: Nichts gegen Gesund- Verfügung stehenden Mittel deutlich erhöht. Wir haben
heitswirtschaft!) versucht, mit den Zentren für klinische Forschung die
Translation ist ein ganz zentrales Thema in der Ge- Qualität zu erhöhen. Dies ist uns in großen Teilen gelun-
sundheitsforschung. Was nutzt es uns, wenn wir im La- gen. Zuletzt haben wir in der Frage von Programmpau-
bor, im Forschungsinstitut die größten Dinge erforschen schalen und der Overheadfinanzierung – es werden in
und Fortschritte erzielen, wenn die Ergebnisse nicht um- Zukunft 20 Prozent sein – dafür gesorgt, dass diejenigen,
gesetzt werden, nicht zum Patienten kommen? Es ist die wirklich gut sind und sich im Wettbewerb bewähren,
richtig, so wie es hier angelegt ist: Translation, also die am Ende keine Probleme bekommen, weil dies zulasten
Überführung des Wissens in die klinische Anwendung, ihrer Gemeinkostenfinanzierung geht. Nein, meine Da-
muss zentrales Thema eines jeden Gesundheitsfor- men und Herren, wir haben die Strukturen geändert. Wir
schungsprogramms sein. haben dies so gemacht, dass Wettbewerb stattfindet und
dass am Ende wirklich die Besten erfolgreich sein kön-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen, sodass es am Ende in Gänze zu einer Erhöhung von
Exzellenz und Qualität kommt. Ich glaube, der Weg ist
Wenn Sie die Menschen fragen, was Allensbach und
richtig.
andere Forschungseinrichtungen ab und an machen, was
sie sich von der Forschung am meisten wünschen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
was die wichtigsten Themen sind, dann wird das Thema René Röspel [SPD]: Die besten Forscher ha-
Gesundheit genannt. Der Grund ist ihre Sorge um die ben nicht unbedingt die Lösungen für die Pa-
schweren Krankheiten Demenz oder Krebs. Deswegen tienten!)
glaube ich, dass wir mit diesem Programm vollkommen
richtig liegen. Die großen Volkskrankheiten und die Seu- Es ist die Frage angesprochen worden, ob alle The-
chen der Gegenwart gehen wir an. Wir versuchen, dies men richtig bearbeitet worden sind und ob man sich
in Zusammenarbeit mit den Deutschen Zentren der Ge- nicht noch mehr vorstellen könnte. Man kann sich im-
sundheitsforschung mit einer neuen Struktur zu bewälti- mer mehr vorstellen. Aber auch die Mittel der Bundesre-
gen. publik Deutschland und dieses Ministeriums, das einen
hohen Etat hat, sind begrenzt. Deswegen ist erstens die
Dabei hat das Parlament einen deutlichen eigenen Konzentration auf die großen Volkskrankheiten wichtig.
Akzent gesetzt, indem es neben den Zentren für Krebs, Zweitens kommen eine Missionsorientierung und eine
11634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Michael Kretschmer
(A) Methodenorientierung hinzu. Ich denke, es ist ein großer Auch wenn unser Gesundheitssystem zweifelsohne (C)
Schritt, dass wir Qualität in der Breite und Vergleichbar- zu einem der besten der Welt gehört, stehen wir doch vor
keit organisieren und neben der klinischen Studie die großen Herausforderungen, denen wir uns auch stellen
präklinische Phase und am Ende auch die Markteinfüh- müssen. Vieles in unserem System ist nach wie vor zu
rung mit bedenken. Das heißt, vom Menschen her zu unkoordiniert, zu intransparent und viel zu wenig am Pa-
denken. Das heißt, den Patienten in den Mittelpunkt zu tienten orientiert.
stellen. Ich finde die Kritik, die hier geäußert worden ist,
völlig falsch. Sie ist in der Sache absolut daneben. (Beifall bei der SPD)
Das führt im Übrigen nicht nur zu unnötigen zusätzlichen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kosten, sondern hat auch Einfluss auf die Qualität der
Der Kollege Röspel hat einen Antrag angesprochen, Versorgung von Millionen von Versicherten. Allein im
den wir in der vergangenen Legislaturperiode gemein- Bereich der Versorgung sind noch ganz viele Fragen un-
sam gefertigt haben. Ich finde, das ist ein großartiges geklärt: Wie überwinden wir das isolierte Nebeneinander
Werk. verschiedener Institutionen? Wie schaffen wir eine stär-
kere Patientenorientierung bei den Versorgungsabläu-
(René Röspel [SPD]: Gute Zusammenarbeit, fen? Wie entwickeln wir neue Versorgungsformen, und
Herr Kretschmer!) wie beschleunigen wir deren Einführung dann in der
– Es gab eine gute Zusammenarbeit und kluge Ideen. – Praxis?
Vieles von dem realisieren wir jetzt, weil die frühere Ge- Angesichts der demografischen Entwicklung und der
sundheitsministerin Ulla Schmidt die Ideen einfach nicht vielen offenen Fragen nicht nur im Bereich der Versor-
umgesetzt hat. Das gehört zur Wahrheit dazu. gung, sondern auch in anderen Teilbereichen des Ge-
(Zuruf von der FDP: Genau, das gehört auch sundheitssystems bedarf es eines breit aufgestellten, gut
zur Wahrheit!) vernetzten Gesundheitsforschungsbereichs in Deutsch-
land. Grundsätzlich begrüßen wir es daher sehr, dass
Ich glaube, mit dem jetzigen Gesundheitsminister haben sich die Bundesregierung dieses Themas annimmt.
wir jemanden, der die Dinge mit uns gemeinsam voran-
bringen will. Wirft man nun aber einen Blick in das von Ihnen vor-
gelegte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung, so
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René stellt man leider fest, dass es der herausragenden Bedeu-
Röspel [SPD]: Der sitzt ja nicht mal da!) tung der Gesundheitsforschung und damit dem selbst ge-
stellten Anspruch nicht gerecht wird.
Ich finde, die Ministerin hat vollkommen recht, wenn
(B) (Beifall bei der SPD) (D)
sie sagt, dieses Thema sollte zu Gemeinsamkeit führen.
Wir sollten gemeinsam für die Gesundheit in diesem
Wer gehofft hat, dass die ständigen Verschiebungen und
Land arbeiten. Die Menschen haben so große Hoffnun-
Überarbeitungen letztlich genutzt wurden, um hier ein
gen, und wir können in diesem Bereich wirklich so viel
Programm mit Substanz vorzulegen, der wurde ent-
gemeinsam bewegen: Lassen Sie uns nicht über Kleinig-
täuscht.
keiten reden und parteitaktisch das Ganze betrachten,
sondern stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt (René Röspel [SPD]: So ist das!)
und tun wir etwas für die Gesundheit in diesem Land!
Ihr Papier bleibt in überwiegenden Teilen abstrakt, vage,
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) unbestimmt. Weitgehend richtigen Problemdarstellun-
gen folgen leider keine konkreten Lösungsansätze, keine
Wir haben gemeinsam die Möglichkeit. klaren konkreten Maßnahmen und auch keine konkreten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Forschungsprojekte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Besonders enttäuschend finde ich, dass das Rahmen-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola programm einem Hauptproblem der Gesundheitsfor-
Reimann für die SPD-Fraktion. schung, nämlich der nach wie vor viel zu geringen Pa-
(Beifall bei der SPD) tientenorientierung, viel zu wenig Beachtung schenkt.
Auch der Kollege Röspel hat das schon ausgeführt. Das
finde ich sehr bedauerlich.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Kolleginnen und Kollegen, damit hier kein Zweifel
gen! Wohl kaum ein Bereich ist so komplex und solch aufkommt: Wir brauchen eine starke Gesundheitswirt-
starken Veränderungen unterworfen wie unser Gesund- schaft im Bereich der Pharmaindustrie genauso wie in
heitssystem. Die aus dem demografischen Wandel, der der Medizintechnik und der Telemedizin.
hier schon angesprochen worden ist, resultierende Not- (Beifall bei der SPD)
wendigkeit der Versorgung älterer und multimorbider
Patientinnen und Patienten erfordert fortlaufend Anpas- Öffentlich geförderte Gesundheitsforschung muss sich
sungen und in vielen Bereichen auch mutige Struktur- aber immer an den Hilfebedürftigen und an den Kranken
reformen. orientieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11635
Dr. Carola Reimann
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seit Jahren diskutieren wir im Rahmen des von uns im- (C)
der LINKEN) mer wieder geforderten Präventionsgesetzes über die
Orientierung an den Lebensverhältnissen.
Die Fragen, die im Rahmenprogramm gestellt werden
müssen, dürfen nicht lauten: „Wie können wir der phar- (Beifall der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE
mazeutischen Industrie am besten helfen?“, oder: „Wie LINKE])
können wir wissenschaftliche Erkenntnisse schneller Bislang werden mit gängigen Präventionsangeboten ge-
ökonomisch verwerten?“, sondern die Fragen müssen nau diejenigen nicht erreicht, die wir aber vor allem er-
lauten: „Was hat der Patient davon?“, und: „Wie können reichen müssen. Lieber Kollege Röhlinger, damit sind
wir mit den neuen Erkenntnissen Patienten besser, um- nicht sich schlecht ernährende und bewegungsarme Ab-
fassender und systematischer versorgen?“. Das muss der geordnete gemeint,
Leitgedanke eines Gesundheitsforschungsprogramms
sein. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
(Beifall bei der SPD) geordneten der LINKEN – Dr. Peter Röhlinger
Liebe Ministerin, wären Sie diesem Gedanken gefolgt [FDP]: Aber auch!)
– Sie haben heute Morgen noch einmal betont, dass Sie sondern Menschen mit niedrigem Einkommen, mit nied-
den Weg zum Patienten kürzer machen wollen –, dann rigem Bildungsstand und Migrationshintergrund.
hätten Sie sich stärker mit der Gesundheitsforschung und
den eingangs gestellten Fragen befasst. Gesundheitsfor- (Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Ach so!)
schung und Versorgungsforschung sind enthalten, aber All diese Menschen haben schlechtere Gesundheitschan-
deren Anteil ist eigentlich marginal. Die gegenwärtige cen in unserem Land.
Gesundheitsforschung konzentriert sich schwerpunkt-
mäßig immer noch zu sehr an medizinischen Produkten; Die Erforschung und Bekämpfung ungleicher Ge-
viel zu wenig sind die Prozesse, die Behandlungsketten sundheitschancen in Deutschland gehört mit zu den
und die Abläufe bei der Therapie des Patienten im Blick. größten Herausforderungen, vor denen wir in der Ge-
Dazu, wie Sie diesem Problem konkret begegnen wol- sundheitsversorgung stehen.
len, findet sich im Papier gar nichts. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Auch hier schweigt die Bundesregierung; denn dazu fin-
Ebenso wenig befasst sich das Programm mit der det sich nichts im Rahmenprogramm Gesundheitsfor-
Frage der Stärkung der Patientenautonomie in einem im- schung. Allein das zeigt schon, dass dieses Programm
(B) mer komplexer werdenden Gesundheitssystem. Bei ei- von der Versorgungsrealität weit entfernt ist und sich (D)
ner gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft ist das eine nicht an dem Bedarf der Betroffenen orientiert. Hier
der ganz großen Herausforderungen. müssen Sie dringend nachbessern, wenn Sie den Kampf
gegen ungleiche Gesundheitschancen in unserem Land
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr rich- wirklich ernst nehmen.
tig!)
Das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm ist ein
Wirtschaftsminister – Pardon! – Gesundheitsminister Papier der schönen Worte, ein Papier des kleinsten ge-
Rösler meinsamen Nenners, auf den sich BMBF und BMG ge-
rade noch haben einigen können. Es bleibt deutlich – auch
(Heiterkeit bei der SPD – René Röspel [SPD]: das wurde hier schon angesprochen – hinter der bereits
Das weiß man in diesen Zeiten nie!) 2007 vorgelegten Roadmap zurück, die wesentlich klarer,
– da hat die Berichterstattung der vergangenen Tage Wir- konkreter und substanzieller war. Da wurde im Zusam-
kung gezeigt – spricht ja gerne vom mündigen, eigenver- menhang mit der Definition des Begriffs „Gesundheits-
antwortlichen Patienten. Bislang beschränkte sich das bei forschung“ sehr klar ausgeführt:
Schwarz-Gelb allerdings auf finanzielle Eigenverantwor- Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen für
tung in Form von Zusatzbeiträgen und Kostenerstattun- das ärztliche Handeln nutzbar gemacht werden und
gen. Wenn Sie es mit dem mündigen Patienten wirklich – umgekehrt – Beobachtungen und Fragen aus der
ernst meinen würden, dann würden sich in diesem Pro- Versorgungspraxis in die Grundlagenforschung ein-
gramm Möglichkeiten zur Stärkung der Patientenautono- gebracht werden.
mie wiederfinden. Aber auch hier leider Fehlanzeige.
Da wurde also an prominenter Stelle die Frage angespro-
Eines der sechs Aktionsfelder im Rahmenprogramm chen, was Gesundheitsforschung eigentlich leisten soll.
Gesundheitsforschung befasst sich mit Präventions- und Das vermisse ich jetzt.
Ernährungsforschung. Das ist ohne Frage zu begrüßen;
denn gerade im Zusammenhang mit der demografischen Dass das, was hier jetzt vorgelegt wurde, etwas mager
Entwicklung und der Zunahme chronischer Erkrankun- ist, müssen Sie inzwischen wohl selbst gemerkt haben.
gen wird die Bedeutung der Prävention weiter zuneh- Wenn man sich anstatt der Hochglanzbroschüre die ent-
men. Doch auch hier geht das Rahmenprogramm nicht sprechende Bundestagsdrucksache ansieht, dann erkennt
über Altbekanntes und Bewährtes hinaus. man, dass nach 18 Seiten schöner Worte und Situations-
beschreibung darauf hingewiesen wird, dass das Pro-
(René Röspel [SPD]: Ja!) gramm in den kommenden Jahren natürlich ausgefüllt
11636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Carola Reimann


(A) und konkretisiert werden muss. Ja, in der Tat, hier muss strengungen verfolgen, die Sie zur Stabilisierung des (C)
noch einiges ausgefüllt, konkretisiert und überarbeitet griechischen Staatshaushalts und zur Verbesserung der
werden, damit Ihr Programm der Bedeutung der Ge- Wettbewerbsfähigkeit Ihrer Volkswirtschaft in den ver-
sundheitsforschung und der Versorgungsrealität gerecht gangenen Monaten unternommen haben. Wir wünschen
wird. Ihnen dafür viel Erfolg.
Wenn Sie Ideen brauchen, dann empfehle ich die Lek- (Beifall im ganzen Hause)
türe unseres Antrags.
Die Debatte wird fortgesetzt mit Ulrike Flach, die für
die FDP-Fraktion das Wort erhält.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Carola Reimann (SPD): Ulrike Flach (FDP):


Ich komme zum Schluss. – Er zeigt, welche Impulse Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
für eine bessere Gesundheitsforschung im Sinne der Pa- heute vorliegende Rahmenprogramm Gesundheitsfor-
tientinnen und Patienten gegeben werden müssen. Wir schung baut – das wissen wir alle – auf Programmen der
wollen, dass das Programm die Versorgungsrealität auf- Vergangenheit auf. Aber es arbeitet mit einem Volumen
greift und Projekte für die Versorgung entwickelt. Erst von 5,5 Milliarden Euro, einer Summe, die, Frau Minis-
dann ist es wirklich ein Gesundheitsforschungspro- terin, in der Vergangenheit noch nie in Forschung und
gramm, von dem auch Patientinnen und Patienten profi- Innovation hineingegeben worden ist. Ich bin froh und
tieren, und nicht einfach nur ein Programm, das den Titel glücklich, dass die Koalition die Kraft gehabt hat, dies
tragen könnte: Grundlagenforschung in der Medizin un- auch haushalterisch umzusetzen.
ter besonderer Berücksichtigung von Volkskrankheiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Danke. Aber es ist mehr als ein Forschungsprogramm. Die
Ansätze dieses Programms gehen nicht nur fiskalisch
(Beifall bei der SPD)
über die Ansätze der Vergangenheit hinaus, sondern mit
ihnen werden heute neben den Gesundheitszentren vor
Präsident Dr. Norbert Lammert: allem mit den Bereichen Versorgungsforschung und in-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri- dividualisierte Medizin auch neue, sehr patientenorien-
büne hat der Parlamentspräsident der Hellenischen tierte Wege beschritten. Wir wollen, liebe Kollegen, blü-
Republik, Herr Philippos Petsalnikos, mit seiner Dele- hende Forschungslandschaften; denn wir wissen, dass
(B) gation Platz genommen. die Zukunft unseres Hightechlandes natürlich von Inno- (D)
vation abhängt. Aber wir wollen diese Innovationen
(Beifall)
auch ganz bewusst aus Sicht der Patienten.
Ich begrüße Sie, Herr Präsident, herzlich im Namen
Zu Recht weist zum Beispiel der Leiter des Instituts
aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundes-
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe-
tages, von denen Sie einige bei Ihren Gesprächen gestern
sen, Professor Windeler, darauf hin – das möchte ich den
bereits kennengelernt haben.
Kollegen von der SPD an dieser Stelle einfach einmal
Es ist uns, Herr Präsident, eine große Freude, dass Sie ins Stammbuch schreiben –:
und Ihre Delegation gerade in diesen Tagen Deutschland
In Deutschland stehen Grundlagenforschung, klini-
besuchen. Ihr offizieller Besuch in Berlin findet auf den
sche Forschung und Versorgungsforschung in einem
Tag genau 70 Jahre nach dem Einmarsch von Truppen
Missverhältnis. … Aber diejenigen, die Innovatio-
der damaligen deutschen Wehrmacht in Griechenland
nen entwickeln, kümmern sich zu wenig darum, wie
statt, die am 6. April 1941, von Bulgarien kommend, die
sie in der Versorgung untergebracht werden können.
griechische Grenze überschritten haben. Wir sind uns
sehr bewusst, dass die darauf folgenden vier Jahre der So Windeler über die Vergangenheit unter Ulla
deutschen Besatzung Griechenlands in Ihrem Volk tiefe Schmidt und eine SPD-betonte Gesundheitspolitik.
Wunden hinterlassen haben. Umso dankbarer sind wir
(Zuruf von der SPD)
dafür, dass seit dieser Zeit so viele Griechen – unbescha-
det des persönlichen Leids, das sie erfahren haben – Innovationen an sich seien kein medizinischer
Deutschen versöhnlich entgegengekommen sind und da- Wert, betonte er.
mit die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass
wir die traditionell gute, enge freundschaftliche Verbin- Als wir Ende des letzten Jahres das neue Arzneimit-
dung zwischen unseren Ländern haben wiederherstellen telgesetz auf den Weg brachten, sind wir genau diesem
können. Seien Sie uns ganz herzlich willkommen. Gedanken gefolgt. Entscheidend ist der medizinische
Nutzen von Arzneimitteln, und damit lautet die zentrale
(Beifall im ganzen Hause) Frage, die natürlich auch den heutigen Tag mit Blick auf
die Gesundheitsforschung bestimmt: Was hat der Patient
Ich will gerne hinzufügen, dass wir im Deutschen
von dem, was wir hier machen?
Bundestag – übrigens auch aus eigenem Interesse – mit
besonderer Intensität, aber auch mit hohem Respekt die Deswegen sind vergleichende Studien so wichtig.
beachtlichen politischen und ökonomischen Kraftan- Nicht alles, was als Innovation identifiziert wurde, hat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11637
Ulrike Flach
(A) auch Platz in der Versorgung. Wir brauchen empirisch in eine Zukunft, in der sie alles nutzen können, was (C)
gesicherte Daten darüber, welche Innovationen in der möglich ist, und das zu einem vernünftigen Preis. Ich
Diagnose, der Therapie und in der Medizintechnik die sage Ihnen ganz offen, Frau Ministerin: Ich bin als Haus-
Versorgung der Menschen verbessern. Wir haben be- haltspolitikerin und als Gesundheitspolitikerin froh, dass
grenzte Ressourcen – das wissen wir alle –, und wir wol- wir heute diesen Weg mit diesem Programm gehen kön-
len Erkenntnisse darüber gewinnen, wo eine hohe Brei- nen.
tenwirkung erzielt wird.
Herzlichen Dank.
Ein typisches Beispiel – auch das für die Kollegen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
von der SPD – sind zum Beispiel die sogenannten Di-
sease-Management-Programme oder die integrierte Ver-
sorgung, bei denen wir bis heute nicht wissen, ob die Präsident Dr. Norbert Lammert:
einstmals damit verbundenen Hoffnungen sich wirklich Das Wort erhält jetzt die Kollegin Martina Bunge für
erfüllt haben. Hier haben wir sehr viel Geld ausgegeben; die Fraktion Die Linke.
aber nach wie vor ist die Frage nicht geklärt, ob die Pa- (Beifall bei der LINKEN)
tienten von den in den Programmen festgelegten Quali-
tätszielen wirklich profitieren. Der gute Wille allein,
liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht eben nicht. Nur Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
eine konsequente Forschung wird zeigen, ob für den Pa- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
tienten etwas dabei herauskommt. Ich unterstreiche für die Linksfraktion ebenfalls, dass
Sie, verehrte Frau Ministerin Schavan, in dem vorgeleg-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten Rahmenprogramm viele wichtige Punkte benennen.
der CDU/CSU) Wenn man aber genauer hinschaut, ist die Einschätzung
Das betrifft auch das zweite Aktionsfeld des Pro- nicht mehr ganz so schmeichelhaft. Herr Kretschmer,
gramms, auf das ich an dieser Stelle ganz besonders Be- das sind unseres Erachtens nicht nur Kleinigkeiten.
zug nehmen möchte: die individualisierte Medizin. Das Ihr Ausgangspunkt ist – und das wiederholen Sie ge-
ist ein Gebiet, welches vor allem dadurch gekennzeich- betsmühlenartig –, dass Demografie und medizinischer
net ist, dass es zwischen großen Visionen und noch grö- Fortschritt große Herausforderungen sind, uns aber auch
ßeren Bedenken immer hin und her schwankt. vor massive Probleme stellen. Das ist eingängig und
klingt beim ersten Hinhören logisch; ich sage aber: Man
Individualisierung als neues Leitbild der Medizin? –
kann damit ganz schön darüber blenden, wie differen-
Das ist eine Frage, die uns in den nächsten Jahren immer
ziert die Prozesse dahinter sind. Tatsächlich werden die
(B) wieder umtreiben wird, in der Forschung und in der Ge- Menschen älter, und der Anteil der Älteren in der Gesell- (D)
sundheitspolitik. Sind Effektivitätssteigerungen zu er-
schaft wird sich erhöhen. Wissenschaftliche Studien zei-
warten, oder wird die biologisch orientierte Medizin un-
gen aber: Weder muss die Wirtschaftskraft aufgrund der
bezahlbar bleiben? Wie hoch ist der tatsächliche Nutzen
alternden Gesellschaft sinken, noch müssen die Gesund-
für die oft schwerkranken Patienten? Schon heute kön-
heitskosten deshalb in die Höhe schießen. Unseres Er-
nen wir je nach Krankheit höchst unterschiedliche Kos-
achtens pflegen Sie diesen Mythos, um Ihre unsoziale
tenentwicklungen erkennen, wie etwa bei Arzneikosten
Politik begründen zu können.
für zielgerichtete Therapien bei Brust-, Darm- oder Lun-
genkrebs: einerseits horrende Kosten für individuelle (Beifall bei der LINKEN)
Profile, andererseits Preise für Gentests und ganze Ge-
nomanalysen im freien Fall. Seit Jahrzehnten betragen die Gesundheitskosten ziem-
lich konstant 10 bis 11 Prozent des Bruttoinlandspro-
Zwischen 400 und 700 Wirkstoffe, die man zur maß- dukts. Das ist der wahre Maßstab.
geschneiderten Therapie rechnen darf, sind inzwischen
Wir stellen immer wieder fest, dass sich die soge-
in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung. Was aber
nannten Prognosen nicht bewahrheiten. Ich möchte ei-
fehlt, sind zum Beispiel standardisierte Gewebeproben
nen Artikel aus dem Spiegel von 1975 zitieren. In die-
und Biobanken. Studienergebnisse sind damit oft nicht
sem Artikel ging es um die Frage, was, wenn es so
mehr reproduzierbar. Der G-BA hat zu Recht darauf ver-
weiterginge wie damals, im Jahr 2000 sein würde. Dort
wiesen, dass vor einer Erstattungsfähigkeit durch die
steht, dass die Westdeutschen dann das ganze Jahr hin-
Kassen die individualisierte Medizin zuerst von der Dia-
durch nur für den Gesundheitsdienst arbeiten müssten.
gnose bis zur Behandlung eindeutig ihren Nutzen zeigen
Diese Situation ist nicht eingetreten. Das sind Horrorsze-
muss.
narien. Wir lehnen es ab, solche Horrorszenarien zu ver-
Für uns heißt das: Das ist der treibende Grund für Ge- breiten, und wir werden nicht müde, dieses unwissen-
sundheitsforschungsprogramme. Das müssen wir absi- schaftliche Herangehen abzulehnen.
chern. Dafür müssen wir sorgen; denn die Menschen in
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
diesem Lande haben einen Anspruch darauf, dass neue
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
Methoden in der Medizin forschungsmäßig unterlegt
und dann in der Praxis umgesetzt werden. Die Debatte, Die Bundesregierung scheint nicht wirklich zu glau-
ob die Wirtschaft profitiert oder nicht, ist eine völlig vir- ben, dass die alternde Gesellschaft ein Problem darstellt.
tuelle. Es geht darum, dass wir forschen, damit die Men- Vergeblich habe ich ein Aktionsfeld gesucht, in dem
schen in diesem Lande in eine gesunde Zukunft gehen; man sich explizit mit den Folgen des demografischen
11638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Martina Bunge


(A) Wandels für die Gesundheitsforschung auseinandersetzt. sundheitsorganisation halten, nach der Gesundheit nicht (C)
Das Wort „Alter“ taucht in Ihrem Programm 7-mal auf, nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen ist,
das Wort „Wirtschaft“ hingegen 62-mal; das wurde von- sondern der Zustand eines vollkommenen körperlichen,
seiten der SPD auch schon angesprochen. geistigen und sozialen Wohlbefindens.
Wohlgemerkt: Wir reden hier über das Rahmenpro- Es geht also nicht nur darum, das Rahmenprogramm
gramm für die Gesundheitsforschung für die kommen- Gesundheitsforschung der Bundesregierung umzusetzen
den acht Jahre. Daher ist ein langfristiges Denken wich- und zu konkretisieren.
tig. Folgerichtig schreiben Sie im Abspann auch, dass es
jetzt darauf ankommt, „diesen Rahmen auszufüllen und
Präsident Dr. Norbert Lammert:
weiter zu konkretisieren.“ Dort steht, dass „heute noch
nicht absehbare Herausforderungen“ einzubeziehen Frau Kollegin.
sind.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Ich sage Ihnen ehrlich: Ich hätte mich gefreut, wenn
Sie heute Bekanntes und bereits Erforschtes stärker ein- Es gibt Änderungs- und Ergänzungsbedarf. Ich denke,
bezogen hätten. So hingegen beruht Ihr Ansatz für die diese Aufgabe müsste bald in Angriff genommen wer-
Prävention auf altbackenen Konzepten. Verhaltensprä- den.
vention ist überholt. Wenn Minister Rösler das nicht mit- Danke schön.
bekommen hat, obwohl dies schon seit vielen Jahren be-
kannt ist – als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, war (Beifall bei der LINKEN)
er noch in der Grundschule –, ist das die eine Sache.
Aber Sie, Frau Ministerin Schavan, hätten das doch mit- Präsident Dr. Norbert Lammert:
bekommen müssen. Nächster Redner ist der Kollege Eberhard Gienger für
(Beifall bei der LINKEN) die CDU/CSU-Fraktion.
Längst wird der Paradigmenwechsel in Richtung Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hältnisprävention eingefordert. Frau Ministerin, Sie ge-
ben den Ton an. Ich denke, im Bereich der Forschung Eberhard Gienger (CDU/CSU):
können Sie die Stoßrichtung bestimmen. Das haben wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
vermisst. haben heute schon sehr viel über Gesundheit und das
In Ihrem Programm ist kein einziges Wort über den Gesundheitsforschungsprogramm gehört. Ich möchte
(B) Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Ge- mich bezüglich des Programms besonders auf das Ak- (D)
sundheit zu finden. Wir wissen, dass maßgeblich soziale tionsfeld von Präventions- und Ernährungsforschung
Faktoren wie Bildung, Wohn- und Arbeitsverhältnisse, konzentrieren, weil mir dieses Thema als Forschungs-
Einkommen und sozialer Status den Gesundheitszu- und als Sportpolitiker natürlich am Herzen liegt. Eine
stand, ja, sogar die Lebenserwartung beeinflussen. Als wichtige Aufgabe der medizinischen Forschung sehen
Herausforderungen im Bereich Vorsorge nennen Sie wir im Bereich der großen Volkskrankheiten; das ist
aber nur die Präventions- und die Ernährungsforschung. heute schon mehrfach erwähnt worden. Schon heute lei-
Das ist zwar ein anderer Ansatz als bisher, greift unseres den Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes, an
Erachtens aber viel zu kurz. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Krebs, an neurodege-
nerativen Erkrankungen, an Arteriosklerose oder auch
(Beifall bei der LINKEN) an Störungen des Stoffwechsels.
Wir müssen erforschen, was uns gesund erhält, über In den nächsten Jahrzehnten wird die Häufigkeit die-
welche Ressourcen wir verfügen müssen, um gesund zu ser Erkrankungen aufgrund der steigenden Lebenserwar-
bleiben. In diesem Zusammenhang spielen die sozialen tung noch zunehmen. Die steigende Anzahl älterer Men-
Faktoren die Hauptrolle. Der Ansatz der Stärkung der schen hat auch eine Zunahme von Demenzerkrankungen
Ressourcen ist im Kinder- und Jugendalter und im Er- und demzufolge Pflegebedürftigkeit zur Folge. Neben
werbsalter wichtig, er ist für Menschen mit Behinderung der Suche nach Therapie und Heilung gewinnen somit
und für Menschen im Ruhestand wichtig, also für alle. die Pflege und die Versorgungsforschung rasant an Be-
Es gibt viele wissenschaftliche Erkenntnisse. In man- deutung. Da viele Volkskrankheiten durch einen ange-
chen Bereichen ist es erforderlich, endlich einmal Stu- passten Lebensstil gelindert oder vielleicht sogar verhin-
dien in Auftrag zu geben, zum Beispiel bei der schon er- dert werden können, werden Prävention und richtige
wähnten Komplementärmedizin, die Potenziale hat. Ernährung zu wichtigen Instrumenten unseres Gesund-
Diese sind aber nicht für alle nachvollziehbar ausgewie- heitssystems.
sen. Vor allen Dingen brauchen wir Umsetzungsstrate-
Alle Teile des Körpers, die eine Funktion haben,
gien. Das sind die Aufgaben von heute, die erledigt wer-
werden gesund, wohlentwickelt und altern langsa-
den müssen, damit sich das Wohlbefinden in der
mer, sofern sie mit Maß gebraucht und in Arbeiten
alternden Gesellschaft tatsächlich und maßgeblich ver-
geübt werden, an die man gewohnt ist. Wenn sie
bessert.
aber nicht benutzt werden und träge sind, neigen sie
Nebenbei bemerkt, würden wir uns dadurch auch an zur Krankheit, wachsen fehlerhaft und altern
die Definition des Begriffs „Gesundheit“ der Weltge- schnell.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11639
Eberhard Gienger
(A) So hat das Hippokrates vor ungefähr zweieinhalbtau- Es werden auch neue Ansätze und Wege zur Prävention (C)
send Jahren ausgedrückt. Was vor zweieinhalbtausend gesucht, die dazu beitragen, dass diese Krankheiten erst
Jahren bereits bekannt war, hat in den industrialisierten gar nicht entstehen können.
Gesellschaften längst zu einem Wandel geführt, und
zwar zu einem Wandel unseres Krankheitspanoramas. Unter dem Dach der nationalen Präventionsstrategie
Die neuen Leiden in unserer modernen Gesellschaft entwickelt das BMBF einen Aktionsplan, der die For-
heißen also Zivilisations- oder Volkskrankheiten. Sie schungsförderung zu allen für Präventions- und Ernäh-
betreffen offensichtlich trotz guter medizinischer Ver- rungsfragen relevanten Ansätzen – von der Epigenetik
sorgung einen zunehmend größeren Teil unserer Bevöl- bis hin zur Epidemiologie – zusammenführt und inter-
kerung. disziplinär verknüpft. Wenn wir uns im Jahr 2018 mit
der nächsten Auflage des Rahmenprogramms Gesund-
Studien des Robert Koch-Institutes haben ergeben, heitsforschung befassen werden, dann wird schon zu er-
dass ungefähr ein Viertel der deutschen Bevölkerung an kennen sein, dass wir viele unserer ambitionierten Ziele
Herz-Kreislauf-Problemen und ungefähr genauso viele erreicht haben.
an Rückenschmerzen leiden. Der technologisch-gesell-
Ich kann mir sehr wohl vorstellen, lieber René Röspel
schaftliche Wandel führt also zu einem Bewegungsman-
und Kollegen, dass gerade das Thema „Präventions- und
gel und einem einseitigen Bewegungsverhalten. Diese
Ernährungsforschung“ ein guter erster Schritt auf einem
Faktoren begünstigen natürlich die Entwicklung der be-
gemeinsamen Weg ist. Ich kann mir auch sehr gut vor-
reits erwähnten Krankheiten. Viele Kinder leiden eben-
stellen, dass die SPD und die anderen Oppositionspar-
falls an solchen Erkrankungen. Die Tendenz ist steigend.
teien zur Ausgestaltung dieses Rahmenprogramms bei-
Ein gesundheitsgerechtes Bewegungsverhalten wirkt tragen können.
also der Entwicklung dieser Krankheitsbilder entgegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
und stellt einen Schutzfaktor für die Gesundheit dar. Da- René Röspel [SPD]: Wenn wir helfen können,
her kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu. machen wir das gerne!)
Zum einen soll sie die Lebensqualität der Menschen in
allen Lebensbereichen verbessern, zum anderen führt sie
zu einem erhofften Nebeneffekt, nämlich der Senkung Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Ausgaben für die Behandlung von chronischen Das Wort erhält nun die Kollegin Birgitt Bender für
Krankheiten. Dies darf erwähnt werden, ohne den Vor- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
wurf hören zu müssen, dass es in unserem Programm nur
um einen ökonomischen Nutzen gehe. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B)
Von besonderer Bedeutung ist, dass ein sehr großer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber (D)
Teil der Erkrankungen kaum schicksalhaft ist, sondern Herr Gienger, alles, was Sie zum Zusammenhang zwi-
weitestgehend verhaltensbedingt. Beispielsweise sind schen Bewegung, Ernährung und Volkskrankheiten sa-
extremes Übergewicht und die daraus resultierenden gen, ist richtig. Was ich bei der Union aber immer wie-
Folgeerkrankungen nicht allein durch Lebensumstände der vermisse, ist die Erkenntnis, dass es beim Thema
bedingt und nur in seltenen Fällen durch organische De- Prävention auch und gerade um soziale Fragen geht.
fekte hervorgerufen, sondern sie sind auch das Ergebnis (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
fehlender körperlicher Aktivität. Das heißt, dass das [SPD])
Auftreten und der Verlauf chronischer Krankheiten in
hohem Maße durch persönliches Verhalten sowie durch Es nützt doch nichts, wenn Sie joggen oder ich mit ei-
Fehlanreize und gesundheitliche Belastungen aus dem nem Streetstepper in den Bundestag fahre. Es geht da-
sozialen und physischen Umfeld verursacht werden. rum, dass man sich in die Stadtteile begibt, in denen
viele Kinder morgens kein Frühstück bekommen und
Überzeugende Beweise stützen die Hypothese, dass nicht zu Fuß zur Kita gebracht werden.
Inaktivität das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einer
Anzahl von chronischen Krankheiten erhöht. Die stich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
haltigsten Beweise für diese Kausalzusammenhänge bei der SPD und der LINKEN)
existieren für Koronararterienerkrankungen, Hyperto- Damit muss man sich befassen. Wenn man sich mit dem
nie, Dickdarmkrebs, Fettleibigkeit und nicht zuletzt auch Thema Forschung beschäftigt, sollte es auch um die
Diabetes mellitus. Ein körperlich aktiver Lebensstil ver- Frage gehen, wie man diese Leute erreicht. Natürlich
ringert allerdings die Wahrscheinlichkeit der Mortalität müssen wir dies auch in der Gesundheitspolitik umset-
und erhöht die Lebenserwartung. zen. Auch der Gesundheitsminister redet ja von Eigen-
verantwortung, meint damit aber nur, dass die Leute
Da durch ein Mehr an Bewegung nicht alle Krankhei-
mehr zahlen sollen. Er spricht aber nicht von Empower-
ten verhindert werden können, ist die Einrichtung der
ment und der Befassung mit den unteren sozialen
Gesundheitsforschungszentren der richtige Weg. Damit
Schichten.
wird im Kampf gegen die Volkskrankheiten ein neuer
Weg beschritten. Ich finde, unsere Ministerin hat dies in (Ulrike Flach [FDP]: Na, na, na!)
überzeugender Weise dargestellt.
Das ist bei Ihnen leider immer noch nicht eingepreist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielleicht ist dies eine Gelegenheit, das zu ändern.
11640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Birgitt Bender
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hand nehmen. Frau Ministerin, es geht übrigens nicht (C)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nur, wie Sie im Ausschuss angedeutet haben, um die chi-
nesische Medizin. Die ist auch ein Ansatz. Aber wir soll-
Frau Ministerin Schavan, Sie haben vorhin davon ge- ten auch etwa die Homöopathie und die Anthroposophie
sprochen, dass Sie sich beim Rahmenprogramm Ge- in den Blick nehmen, die Heilweisen mit deutschen
sundheitsforschung Gemeinsamkeit wünschen. Ich will Wurzeln. Auch diese haben hier einen ganz hohen Stel-
ausdrücklich begrüßen, dass – nach jahrelangem Drän- lenwert.
gen der Grünen – nun endlich ein Aktionsfeld Versor-
gungsforschung integriert ist. Was Sie dazu an Prosa (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schreiben, findet teilweise auch unsere Zustimmung, so sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
etwa die Aussage, dass in Bezug auf Psychotherapie, Stattdessen ist leider viel von Genetik die Rede. Im-
Ergo- und Logopädie geforscht werden muss. Das ist merhin habe ich da die kritischen Anmerkungen von Frau
richtig. Aber insgesamt sehe ich in diesem Programm Flach gehört. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
sehr viel Produktorientierung. Da geht es um Arzneimit- sehr nebulös bleibt, was Sie da eigentlich erforschen wol-
tel, Diagnostik und Medizinprodukte. Was praktisch völ- len. Ich erinnere daran, dass jüngst noch Geld in ein Pro-
lig fehlt, ist der Blick auf Verfahren des Gesamten. Das jekt geflossen ist – inzwischen ist es eingestellt –, in dem
Wort „Gesundheitssystemforschung“ kommt nicht ein- es um die Forschung an geistig behinderten Kindern, um
mal vor. Ich sehe überhaupt nicht, dass es hier entspre- fremdnützige Forschung ging. Das ist etwas, was als me-
chende Ansätze gibt. Aber wir brauchen einen Blick auf dizinische Untersuchung gar nicht zulässig wäre. Als
das Gesamte, darauf, was den Menschen nützt und sie Forschung haben Sie es aber zunächst unterstützt. Da
am Ende gesünder macht. Darauf werden wir achten. kann ich nur sagen: Hier ist überfällig, dass der Schutz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Probanden, Datenschutz und Transparenz in der For-
sowie bei Abgeordneten der SPD) schung gewährleistet werden. Frau Ministerin, da haben
Sie noch Hausaufgaben zu machen.
Stattdessen sehen wir im Haushalt 2011, dass das
BMBF mit gut 5 Millionen Euro ein Projekt zur Ma- Danke schön.
gnetresonanztomografie fördert. Brauchen wir aus ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sundheitspolitischer Sicht ein solches Projekt? Deutsch- sowie des Abg. René Röspel [SPD])
land ist Weltmeister bei der MRT-Diagnostik. Im
Jahre 2009 wurde sie bei fast 6 Millionen Personen an-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
gewendet. Anders gesagt: Jeder 15. Bürger wurde inner-
halb eines Jahres in die Röhre geschoben. Kassen und Das Wort erhält nun der Kollege Florian Hahn für die
(B) Wissenschaft stellen die therapeutische Notwendigkeit CDU/CSU-Fraktion. (D)
in vielen Fällen infrage. Was wir im Bereich der Versor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gungsforschung brauchen, ist die Beantwortung der
Frage, wann eine MRT-Untersuchung sinnvoll ist und Florian Hahn (CDU/CSU):
wann nicht. Daran, dass dies bei Ihnen geschieht, habe Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ich Zweifel. ren! Alle Menschen wünschen sich ein langes und vor al-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lem gesundes Leben. Auch wenn wir uns zu vielen An-
lässen wie zum Geburtstag oder zum neuen Jahr
Nach dem, was Sie, Frau Flach, vorhin gesagt haben, gegenseitig Gesundheit wünschen, spielt gesundheitsbe-
müssten Sie daran eigentlich interessiert sein. Denn im- wusstes Leben und Verhalten im Alltag oftmals keine
merhin – das begrüße ich sehr – haben Sie betont, dass ausreichende Rolle. Spätestens jedoch, wenn man im Be-
nicht alles, was neu ist, den Menschen nützt und dass wir kannten- oder Familienkreis mit schwerer Krankheit
mehr Verfahren brauchen, mit denen der Nutzen über- konfrontiert wird, erkennt man auf ganz persönliche
prüft werden kann. Weise, welchen enorm hohen Stellenwert ein unbe-
Was ich in diesem Rahmenplan auch vermisse, ist die schwertes und gesundes Leben einnimmt.
Komplementärmedizin, also die alternativen Heilweisen, Aus diesem Grund stellt die Gesundheitsforschung ei-
die die klassischen Verfahren ergänzen können. Dazu nen der wichtigsten Bereiche für uns alle dar. Das Ziel
braucht es Forschung, aber wir sehen davon so gut wie des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregie-
nichts. rung ist es, dass alle Menschen schnell von den For-
(René Röspel [SPD]: Gar nichts!) schungsergebnissen profitieren können.
In der Gesundheitsforschung werden neue oder bes-
Es hat ein Vierteljahr gedauert, bevor mir das BMBF
sere Diagnoseverfahren und Therapien entwickelt, um
überhaupt mitteilen konnte, wie viele Fördermittel denn
kranken Menschen effektiver zu helfen. Für uns als
dafür in den letzten fünf Jahren geflossen sind. Es waren
christlich-liberale Koalition steht dabei der erkrankte
zusammengerechnet gerade einmal 1,2 Millionen Euro.
Mensch mit seinen Nöten im Mittelpunkt, dem wir Hand
Im Gegensatz dazu fördert in den USA das National In-
in Hand mit der Wissenschaft helfen wollen.
stitute of Health die komplementärmedizinische For-
schung jährlich mit mindestens 120 Millionen Dollar. Was uns die Patienten und deren Gesundheit wert
Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und sind, das zeigen auch die enormen finanziellen Mittel,
Geld zur Erforschung der Komplementärmedizin in die die hierfür aufgewendet werden: Fast 6 Milliarden Euro
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11641
Florian Hahn
(A) werden insgesamt zur Verfügung gestellt. Es handelt Ich möchte Ihnen nun ein aktuelles Beispiel dafür (C)
sich damit um das größte Förderungsprogramm für Ge- nennen, wie die Förderung direkt dort ankommt, wo sie
sundheitsforschung in der Geschichte der Bundesrepu- benötigt wird. Eines von 100 Kindern leidet an einem
blik Deutschland. angeborenen Herzfehler. Viele von ihnen müssen rasch
operiert werden. Der sogenannte RepliCardio ist ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neues Instrument zur Herstellung eines Herzmodells und
Die Schwerpunkte beim Gesundheitsförderungspro- hilft den Ärzten bei der Entscheidung, ob und wie ope-
gramm setzen wir bei der Erforschung von Volkskrank- riert werden kann. Dieses Verfahren wurde vom Kompe-
heiten sowie der Gesundheitswirtschaft. Doch auch die tenznetz Angeborene Herzfehler in Kooperation mit dem
individualisierte Medizin und die globale Zusammenar- Deutschen Krebsforschungszentrum entwickelt und vom
beit sind wichtige Themen des Programms. Wir wollen BMBF gefördert. Das individuelle Herzmodell kann ins-
die Fähigkeiten der Wissenschaft bündeln und Transla- besondere dazu beigetragen, die Dauer der Operationen
tion beschleunigen. Dazu werden sechs deutsche Gesund- drastisch zu verkürzen. Oft entscheiden Minuten da-
heitszentren geschaffen. Letztes Jahr wurde beispiels- rüber, ob der Eingriff erfolgreich abgeschlossen werden
weise mit dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung kann oder ob es zu irreparablen Spätfolgen kommt.
in München-Oberschleißheim bereits das zweite eröffnet. Wie wichtig und weitsichtig die Überlegungen inner-
halb des Forschungsförderungsprogramms sind, kann
Präsident Dr. Norbert Lammert: man darüber hinaus an der Alzheimerforschung erken-
nen. Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind
Herr Kollege Hahn, darf Ihnen der Kollege Röspel derzeit von der unheilbaren Krankheit betroffen. Statisti-
eine Zwischenfrage stellen? ken gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 rund 3 Millionen
Menschen sein werden. Mit dem Alois Alzheimer Research
Florian Hahn (CDU/CSU): Center, in dem die Ludwig-Maximilians-Universität
Nein. München, die Technische Universität München, das Zen-
trum für Neurodegenerative Erkrankungen und das Insti-
(René Röspel [SPD]: Schade!) tut für Schlaganfall- und Demenzforschung integriert
sind, ist ein weiterer Leuchtturm in der Forschungsland-
Das kann er danach machen. – Allein in Deutschland schaft geschaffen worden.
sind rund 8 Millionen Menschen von der Zuckerkrank-
heit betroffen, fast genauso viele Personen haben einen Insgesamt stellt das neue Förderungsprogramm einen
bislang unerkannten Diabetes oder ein hohes Erkran- Meilenstein in der Gesundheitsforschung dar. Wir sor-
gen mit dem enormen Mitteleinsatz von fast 6 Milliar-
(B) kungsrisiko. Es ist daher wichtig und notwendig, dass den Euro dafür, dass Innovationen schneller bei den Pa- (D)
wir mit dem Zentrum neue Perspektiven für Prävention,
Therapie und Diagnose des Diabetes schaffen. Durch die tienten im Alltag ankommen. Wir lassen der Forschung
Kooperation mit Pharmaunternehmen können so For- aber auch genug Spielraum, um innovativ arbeiten zu
schungsergebnisse schneller in die Praxis übertragen können; denn das größte Innovationshemmnis – das wis-
werden. Wir bringen die Forschung quasi „ans Bett der sen wir – ist unter anderem die Bürokratie. Die Ände-
Patienten“. rungswünsche und der Antrag der SPD sind gerade auch
deshalb abzulehnen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einer glo-
Herzlichen Dank.
balisierten Welt dürfen nicht nur Wirtschaftsaktivitäten
global betrachtet werden, sondern ganz besonders auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Gesundheitsforschung. In diesem Zusammenhang ist
es mir wichtig, auf die vernachlässigten Krankheiten hin- Präsident Dr. Norbert Lammert:
zuweisen, mit denen wir uns in dem Programm ebenfalls Das Wort erhält nun der Kollege Michael Gerdes für
beschäftigen. Sie erzeugen in den Entwicklungsländern die SPD-Fraktion.
großes Leid und sind für den Tod vieler Menschen verant-
wortlich. Leider war die staatliche Forschungsförderung (Beifall bei der SPD)
lange Zeit auf Krankheiten beschränkt, die hauptsächlich
unsere Bürger im eigenen Land betreffen. Vor diesem Michael Gerdes (SPD):
Hintergrund stellen wir uns mit dem Gesundheitsfor- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kol-
schungsprogramm neu auf. Wir machen nicht an den na- lege René Röspel und meine Kollegin Carola Reimann
tionalen Grenzen halt, sondern helfen auch den Men- haben die Sicht der SPD-Fraktion auf das Rahmenpro-
schen in anderen Teilen der Welt. Dazu sind wir allein gramm der Bundesregierung bereits deutlich gemacht.
schon durch unser christliches Menschenbild verpflich- Wir sehen große Lücken im Gesundheitsforschungspro-
tet. gramm, besonders mit Blick auf sozialpolitische Fragen.
Vor allem fehlt uns Sozialdemokraten der Blickwinkel
Noch in diesem Jahr wird die Fördermaßnahme für
der Patientinnen und Patienten. Mir persönlich fehlt
Produktionspartnerschaften anlaufen. Dabei handelt es
auch der Blickwinkel der Beschäftigten im Gesundheits-
sich um internationale Non-Profit-Organisationen, deren
wesen. Im Rahmenprogramm finde ich keinen Hinweis
Aufgabe es ist, Medikamente gegen vernachlässigte
darauf.
Krankheiten zu günstigen Preisen auf den Markt zu brin-
gen. (Beifall bei der SPD)
11642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Michael Gerdes
(A) Frau Ministerin Schavan, Sie räumen der Gesundheits- Kurzum: Ihrem Programm fehlt das Aktionsfeld, das (C)
wirtschaft eine äußerst prominente Stellung ein und be- sich den Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
gründen dies mit dem Wachstumspotenzial der Branche. mer widmet.
Mit moderner Medizintechnik und innovativen Medika-
Gesundheitsforschung muss sich auch ganz konkret
menten kann man offensichtlich viel Geld verdienen. Da-
mit den Bedürfnissen der Patienten auseinandersetzen.
gegen habe ich im Grundsatz nichts einzuwenden. Ich
Haben wir überhaupt genügend Erkenntnisse darüber,
habe aber ein Problem damit, wenn die wirtschaftlichen
was sich Patienten wünschen bzw. welche Anforderun-
Interessen von Forschung fast wichtiger erscheinen als
gen sie an das Gesundheitssystem stellen? Finden sich
der medizinische Fortschritt und die Gesundheit der Men-
Patienten in einem System zurecht, das immer komple-
schen in diesem Land.
xer wird und ständig neue Behandlungsmethoden her-
(Beifall bei der SPD) vorbringt? Wer heute gesund werden will, braucht im
Zweifel einen Case-Manager, der durch das System
Ganz deutlich wird diese Auffassung der schwarz- führt, um medizinische und soziale Dienstleistungen op-
gelben Regierung auf Seite 4 der Unterrichtung. Dort timal zu koordinieren. Von Patientenautonomie ist da
steht schwarz auf weiß: nicht mehr viel zu spüren.
Des Weiteren soll die Gesundheitsforschung auf (Beifall bei der SPD)
eine wirtschaftliche Verwertbarkeit ihrer Erkennt-
nisse hinarbeiten … schon in der Grundlagenfor- Auf diese Systemfragen müssen wir Antworten fin-
schung und der präklinischen Forschung. den. An dieser Stelle sind mir die Ausführungen der
Bundesregierung zu abstrakt. Das Aktionsfeld der Ver-
Aus meiner Sicht darf nicht nur erforscht werden, wie sorgungsforschung muss dringend erweitert werden.
wir neue Technologien schneller oder besser implemen- Denn ohne Verbesserungen im System nützt uns die er-
tieren und vermarkten können; vielmehr muss es darum folgreichste Forschung nichts. Neue und verbesserte Ge-
gehen, welche gesundheitlichen Vorteile die Menschen räte machen keinen Sinn, wenn der Patient nicht weiß,
daraus ziehen können. ob er die richtige Therapie bekommt oder wie er den
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtigen Weg durch das Gesundheitslabyrinth findet.
der LINKEN) Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, steht das
Der Mensch und seine Gesundheit gehören an die erste diesjährige Wissenschaftsjahr unter dem Motto „For-
Stelle, nicht der mögliche Profit. schung für unsere Gesundheit“. Das BMBF ruft die Bür-
gerinnen und Bürger zum Dialog auf und fragt nach den
Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich freue mich über jede Erwartungen an die Gesundheitsforschung. Diese He- (D)
(B) Branche, die wirtschaftlich erfolgreich ist. Aber wir soll-
rangehensweise wünsche ich mir auch für das vorlie-
ten auch darüber diskutieren, für wen Arbeitsplätze in gende Rahmenprogramm: Erforschen Sie nicht in erster
der Gesundheitswirtschaft entstehen, welche Anforde- Linie die Wirtschaftlichkeit der Medizin,
rungen die Beschäftigten erfüllen müssen, wie sich Be-
rufsbilder verändern und unter welchen Bedingungen (René Röspel [SPD]: Sehr gut!)
heute und in Zukunft gearbeitet werden muss. sondern orientieren Sie sich an den Bedürfnissen der
Gibt es Ideen, wie die Arbeitsbelastung von Ärzten Menschen!
und Pflegepersonal gesenkt werden kann? Was muss (Beifall bei der SPD)
eine Pflegerin künftig können? Wie schafft sie es, in ei-
ner alternden Gesellschaft immer mehr Patienten zu ver- Lassen Sie sich nicht davon leiten, was der Gesund-
sorgen? Wie kann sie Familie und Beruf vereinbaren? heitsindustrie hilft, sondern orientieren Sie sich daran,
was für die Beschäftigten gut ist und was die Patienten
Insbesondere im Bereich der Pflege- und Dienstleis- gesund macht.
tungsforschung sehe ich Lücken in dem Programm von
Ministerin Schavan. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald
Weinberg [DIE LINKE])
Die Pflegebranche braucht wissenschaftlich fundierte
Antworten auf den steigenden Pflegebedarf.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich habe kürzlich Praxistage in der Seniorenpflege Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
und im Krankenhaus durchgeführt. Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der SPD – Dr. Ernst Dieter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Rossmann [SPD]: Wir alle!)
– Wir alle, jawohl. – Dabei ist wahrscheinlich uns allen Rudolf Henke (CDU/CSU):
aufgefallen, dass die Ärzte und Pfleger eine sehr gute Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeit leisten. Aber sie alle bewegen sich am Rande der Verehrte Damen und Herren! Opposition ist ein schwie-
Leistungsgrenze. Hohe Fallzahlen und viel Dokumentie- riges Tun. Ich glaube, es ist doppelt schwierig, wenn
rung rauben ihnen in vielen Fällen die Zeit für die Pa- man an einem Teil der Vorbereitungen für das Gesund-
tienten. Diese Probleme müssen erforscht werden. heitsforschungsprogramm teilgenommen hat, damals so-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11643
Rudolf Henke
(A) gar in einer gemeinsamen Koalition mit der CDU/CSU- Primäres Ziel der Gesundheitsforschung ist es, (C)
Fraktion in der ersten Regierung Merkel, Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung
der Patientinnen und Patienten weiter zu steigern.
(René Röspel [SPD]: Das ist nie parlamenta-
risch diskutiert worden!) Das ist das primäre Ziel, um das es geht. Die Frage, ob
die Wirtschaft dabei mitwirkt, ist eine Frage des Instru-
und jetzt erlebt, dass in der zweiten Regierung Merkel mentes. Wir wären doch töricht und dumm, wenn wir
ein großer Teil eigener Forderungen umgesetzt wird. nicht bereit wären, die Produktivkraft der Wirtschaft
Deswegen findet sich auch in dem von Ihnen vorgeleg- zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu nutzen.
ten Antrag an sehr vielen Stellen ein Lob. Sie machen
sogar Vorschläge, was alles der Deutsche Bundestag an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dem Programm begrüßen soll. In mehreren Spiegelstri- Deswegen sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kolle-
chen wird das ausgeführt. Trotzdem müssen Sie hier ir- gen: Lassen Sie die Tassen im Schrank!
gendwie Nöligkeit verbreiten,
Ich zitiere aus dem gemeinsamen Vorwort von Frau
(Widerspruch bei der SPD) Schavan und Herrn Rösler zum Rahmenprogramm Ge-
– doch –, damit der Eindruck entsteht, als wäre alles kri- sundheitsforschung:
tisch zu bewerten. Aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Wissenschaftlern entstehen die Ansätze, die bei
der FDP) entsprechender Weiterentwicklung und erfolgrei-
cher Übertragung in die medizinische Praxis den
Sie setzen darauf, dass die Menschen das Programm Menschen in unserem Land ein beschwerdefreies,
nicht gelesen haben, und tragen dann in Ihrem Antrag selbstbestimmtes und langes Leben ermöglichen.
Dinge vor, die im Programm bereits enthalten sind, und
Das ist die Zielsetzung. Sie versuchen jetzt, es umzu-
tun so, als wären Sie die einzigen Erfinder dieser Punkte.
münzen und einen Teil des Publikums mit den bei der
Ein plastisches Beispiel dafür ist das, was gerade ge- SPD und den Linken üblichen und weitverbreiteten Res-
schehen ist. Sie haben behauptet, im Programm befinde sentiments über die schwarz-gelbe Koalition zu bedie-
sich kein Hinweis auf die Verbesserung der Situation der nen. Das ist der Ansatz, den Sie praktizieren. Das ist
Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Liebe nicht in Ordnung. Dagegen wehren wir uns.
Kollegen, Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Grundlage des Haushalts der Bundesregierung
(B) In einer Zeit, in der um die finanzielle Stabilität ge- (D)
(Michael Gerdes [SPD]: Sie finden es jetzt rungen werden muss, ist es ein deutliches Zeichen des
auch nicht!) Bundes, für die Gesundheitsforschung in den Jahren
– ich wollte darauf eigentlich nicht an dieser Stelle, son- 2011 bis 2014 mehr als 5,5 Milliarden Euro allein aus
dern zu einem späteren Zeitpunkt eingehen – das Wis- dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und
senschaftsfeld Versorgungsforschung allein im Jahr Forschung vorzusehen.
2010 mit einer Ausschreibung in Höhe von 54 Millionen
Euro für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen für Präsident Dr. Norbert Lammert:
das Gesundheitssystem bedacht worden ist. Ich bin be- Herr Kollege Henke, Sie lassen doch jetzt sicherlich
reit, darüber zu diskutieren, ob das reicht und ob zum gerne den Kollegen Röspel, der vorhin mit seiner Wort-
Beispiel die DFG das im Rahmen ihrer Förderung hin- meldung nicht zum Zuge gekommen ist, zu Wort kom-
reichend ergänzt. Wenn sie das nicht täte, müsste man men.
noch einmal über die Summe diskutieren. Aber Sie tun
so, als geschähe hier nichts, und wollen die Leute für Rudolf Henke (CDU/CSU):
dumm verkaufen. Das ist nicht in Ordnung.
Ja, sehr gerne.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
René Röspel (SPD):
Sie sagen außerdem, das alles sei wirtschaftskonzen-
triert. Das ist es nicht. Frau Bunges Zählerei mit dem Vielen Dank, Herr Henke, dass das möglich ist. – Die
Wortzählautomaten nutzt dabei nichts. Zahl 5,5 Milliarden Euro auf fünf Jahre wird ständig her-
vorgehoben. Sie schreiben im Gesundheitsforschungs-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das programm, dass sich diese 5,5 Milliarden Euro auf fünf
macht es sehr deutlich!) Jahre aus den Geldern für die institutionelle Förderung,
Projektförderung und dem Bundesanteil an der DFG-
Was ist denn das für ein Niveau? Das ist ja kleinstes Pe- Förderung, jeweils bezogen auf die Gesundheitsfor-
pita: Worte zählen durch ihre Bedeutung, nicht durch schung, zusammensetzen. Es handelt sich also um nichts
ihre Zahl. anderes als die Aufzählung dessen, was in den letzten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren bereits gemacht bzw. etatisiert worden ist. Des-
halb lautet meine konkrete Frage: Sie suggerieren
Ich zitiere Seite 4 der Unterrichtung durch die Bundesre- 5,5 Milliarden Euro. Wie viele Mittel werden wirklich
gierung: zusätzlich bzw. neu bereitgestellt?
11644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): Da haben wir lieber mehr Vertrauen in die Wissen- (C)
Lieber Herr Kollege Röspel, diese Frage werden Sie schaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus der Motiva-
sich doch schon beantwortet haben, als Sie den Bundestag tion des Gesundheitsforschungsprogramms die Beiträge
aufgefordert haben, zu begrüßen, dass sich die Bundesre- leisten werden, die dann Patientinnen und Patienten zum
gierung im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung für Wohl gereichen. Deswegen bin ich sehr dafür, über man-
eine Stärkung der krankheitsbezogenen Projektforschung ches zu diskutieren.
bzw. Projektförderung ausspricht. Das haben Sie an die Ich finde es zum Beispiel falsch – –
erste Stelle gesetzt. Ob Sie dieses Geld jetzt zusätzlich ha-
ben oder ob Sie dieses Geld bloß ausgeben oder in den
Haushalt schreiben Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, „zum Beispiel“ nicht mehr.
(René Röspel [SPD]: Ist das neu?)
(Lachen bei der SPD)
oder ob Sie dieses Geld in dieses Programm stecken: Der
entscheidende Punkt ist doch, dass es zur Verfügung Rudolf Henke (CDU/CSU):
steht.
Nicht mehr? – Also: Ich finde es etwa falsch, dass zur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wertung individualisierter Medizin in diesem Programm
Lachen des Abg. René Röspel [SPD]) steht – Zitat –:

Der entscheidende Punkt ist, dass es genutzt werden Erste Schritte auf dem Weg zur individualisierten
kann. Medizin sind das Verständnis grundlegender Krank-
heitsmechanismen und die Identifizierung moleku-
(René Röspel [SPD]: Also, Sie wissen es larer Schaltstellen für die Ausprägung einer Erkran-
nicht! – Weitere Zurufe von der SPD) kung.
Dann – das verstehe ich gar nicht – sagen Sie, Frau Das halte ich für falsch.
Reimann und andere aus Ihrer Gruppe, das sei alles zu
abstrakt und zu unbestimmt. – Ja, klar, es kommen jetzt Nein, erste Annäherung an individualisierte Medizin
Ausschreibungen. An diesen Ausschreibungen nimmt ist, dass der Arzt dem Patienten begegnet, ihn nach sei-
natürlich die Wissenschaftsgemeinde teil. Da gibt es nen Beschwerden befragt, sich ihm so weit nähert, dass
Projektträger, die diese Ausschreibungen betreiben. Was eine körperliche Befunderhebung stattfindet, und er
hätten Sie denn gern? Wenn ich mir Ihren Katalog von dann ein individuelles diagnostisches und therapeuti-
Forderungen zur Konkretisierung ansehe, dann habe ich sches Konzept daraus macht. Das findet seit Hippokrates
(B) statt. (D)
das Gefühl, Sie wollen schon die 200 000 Adressen und
Geburtsdaten derer wissen, die dann in der Bevölke- (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])
rungskohorte erfasst sein sollen. Das möchten Sie wahr-
scheinlich offenlegen. Deswegen ist das, was im Programm steht, nicht die
erste Annäherung an individualisierte Medizin. Indivi-
(Widerspruch des Abg. René Röspel [SPD]) dualisierte Medizin ist mehr als bloß molekulargenetisch
begründete Medizin. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie hier davon träu- Kollegen –
men, einen wissenschaftlichen Fünf- oder Zehnjahres-
plan vorgelegt zu bekommen. Das ist aber ein falsches
planwirtschaftliches Verständnis des Wissenschaftspro- Präsident Dr. Norbert Lammert:
zesses auch in der Gesundheitsforschung. Herr Kollege!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rudolf Henke (CDU/CSU):
Zurufe von der SPD)
– ist mein Satz, mit dem ich dann gern enden möchte:
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lei- Dieses Gesundheitsforschungsprogramm als Ganzes
der findet man zurzeit in meinem Heimatland Nord- nimmt den Menschen in den Blick und dient einer indivi-
rhein-Westfalen, wo eine schwarz-gelbe Koalition dualisierten Medizin in allen Ausprägungen des Mensch-
seins.
(René Röspel [SPD]: Abgewählt worden ist!)
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
dadurch für eine große Stimulation der wissenschaftli-
chen Entwicklung gesorgt hat, dass sie ein Hochschul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
freiheitsgesetz verabschiedet hat, eine aus Ihrer Partei
stammende Philosophie, die diese neu geschaffene Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hochschulautonomie wieder in eine Welt zurückführen Ich schließe die Aussprache.
will, in der der Staat den Wissenschaftsprozess steuert.
Genau diesen Anspruch, nämlich die Steuerung des Wis- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
senschaftsprozesses durch den Staat, atmet Ihr Antrag. auf den Drucksachen 17/4243 und 17/5364 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
(René Röspel [SPD]: Das steht doch im Pro- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
gramm der Bundesregierung, oder nicht?) sind die Überweisungen so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11645
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: len Frauen die große Mehrheit der Beschäftigten im (C)
Niedriglohnsektor dar. Der von uns seit langem zu Recht
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel geforderte gesetzliche Mindestlohn würde also einen
Humme, Caren Marks, Petra Crone, weiterer Ab-
wichtigen Beitrag zu mehr Lohngerechtigkeit für Frauen
geordneter und der Fraktion der SPD
in unserem Land leisten.
Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen
gesetzlich durchsetzen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Drucksache 17/5038 –
Doch selbst wenn alles gleich ist – Qualifikation, Tä-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) tigkeit, Alter, Betrieb –, liegt der Durchschnittslohn von
Innenausschuss Frauen bei etwa 8 bis 12 Prozent unter dem der Männer.
Rechtsausschuss Dies ist nichts anderes als Diskriminierung von Frauen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in unserem Land.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
Wenn sowohl von der Frauenministerin als auch von
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
der Kanzlerin so kluge Sprüche wie „Frauen müssten
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
beim Gehalt einfach nur besser verhandeln“ zu hören
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin sind, so ist das erstens zynisch und zweitens lebens-
Caren Marks für die SPD-Fraktion das Wort. fremd. Wie gut, dass weder Frau Schröder noch Frau
Merkel ihr Gehalt bisher wirklich verhandeln mussten.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate
Caren Marks (SPD): Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und NEN])
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Statt die Verantwortung bei den Frauen einseitig ab-
Schon auf dem ersten Internationalen Frauentag 1911 zuladen, sollte diese Bundesregierung ihr Nichthandeln
forderten Frauen gleiche Rechte. Sie kämpften für ihr als Gesetzgeber infrage stellen. Es helfen keine Appelle
Wahlrecht, aber auch für bessere Bezahlung und für gute an die Freiwilligkeit von Unternehmen; der Gesetzgeber
Arbeit. Was hat sich in 100 Jahren getan? Das Wahlrecht ist bei der Beseitigung der Entgeltungleichheit klar ge-
für Frauen wurde 1918 durchgesetzt. Die formalrechtli- fordert. Vielleicht sollte die Bundesregierung wieder
(B) che Gleichstellung mit den Männern wurde 1949 im einmal einen Blick in unser gutes Grundgesetz werfen. (D)
Grundgesetz verankert. Unser Recht hier in Deutschland So heißt es in Art. 3 Abs. 2:
sowie das EU-Recht verbieten Diskriminierung auf-
grund des Geschlechts auch beim Lohn. So weit zum Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
geltenden Recht. fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
Doch wie sieht die Arbeitswirklichkeit von Frauen in rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
diesem Land aus? Trotz guter Bildungsabschlüsse haben die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Frauen nach wie vor schlechtere Chancen in der Arbeits- Da müsste doch auch bei dieser schwarz-gelben Bun-
welt, haben seltener Führungspositionen inne, und sie er- desregierung etwas klingeln. Wenn es erwartungsgemäß
halten deutlich weniger Lohn als Männer. Zur Durchset- bei der Frauenministerin nicht klingelt, so vielleicht
zung von gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige beim Finanzminister; denn laut EU-Kommissarin
Arbeit fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, in un- Reding würde die Beseitigung der Lohnunterschiede das
serem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzent- Bruttoinlandsprodukt um rund 30 Prozent steigern. Das
wurf zur Herstellung von Entgeltgleichheit vorzulegen. klingt doch auch für einen Finanzminister durchaus inte-
(Beifall bei der SPD) ressant.

Denn eines ist klar: Frauen haben mehr verdient als un- Die Lohndiskriminierung von Frauen werden wir nur
verbindliche Sonntagsreden der Frauenministerin und mit einem Gesetz beseitigen können. Die Erfahrung hat
der Arbeitsministerin sowie der Kanzlerin. gezeigt, dass die Verantwortlichen aus eigenem Antrieb
nicht tätig werden. Also müssen die Arbeitgeber durch
Traurig, aber wahr: Erwerbstätige Frauen erhalten in ein Gesetz verbindlich dazu aufgefordert und gegebenen-
unserem Land nach wie vor im Schnitt 23 Prozent weni- falls auch gezwungen werden, Entgeltgleichheit herzu-
ger Lohn als Männer. Damit liegen wir deutlich über stellen. Ein solches Gesetz muss folgende Kernelemente
dem Durchschnitt in der Europäischen Union mit enthalten: Es muss zuerst einmal Transparenz über die
18 Prozent Lohndifferenz. Wir haben hier im Deutschen Entlohnung in den Betrieben hergestellt werden. Die Ge-
Bundestag mehr als nur ein Mal über die wirklichen Ur- heimniskrämerei hinsichtlich der Bezahlung in den Be-
sachen der Entgeltungleichheit zwischen Männern und trieben ist zu beenden; denn sie begünstigt vor allem
Frauen diskutiert. So haben Frauen vor allem aufgrund Lohndiskriminierung mit den entsprechenden Auswir-
fehlender Kinderbetreuungsangebote längere Erwerbs- kungen.
unterbrechungen, und sie sind auch deswegen vermehrt
in Teilzeitarbeit beschäftigt. Mit knapp 70 Prozent stel- (Beifall bei der SPD)
11646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Caren Marks
(A) Also müssen die Arbeitgeber verpflichtet werden, Ent- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): (C)
geltberichte zu erstellen. Diese sind von einer staatlichen Ich hoffe aber nicht, dass wir auch die Empfindlich-
Behörde entsprechend zu prüfen. Datenschutz ist natür- keit beim Mikro gesetzlich regeln müssen. Das klappt
lich zu gewährleisten. Wird Entgeltungleichheit festge- wohl auch so. – In Deutschland beträgt die Entgeltun-
stellt, muss das Gesetz einen Prozess zur Beseitigung der gleichheit 23 Prozent. Das ist eine Zahl, die wir nicht
Lohndifferenz einleiten und natürlich auch festlegen. hinnehmen dürfen. Es lohnt sich, sich die Ursachen der
Auch muss es wirksame Instrumente der Kontrolle und Entgeltungleichheit anzuschauen; denn das Thema ist
Durchsetzbarkeit enthalten. sehr komplex.
Mit dem Gesetz wollen wir, die SPD-Bundestagsfrak- Die erste Ursache ist der Grad der Qualifikation von
tion, die Unternehmen zum Tätigwerden verpflichten. Frauen. Glücklicherweise sind die jungen Frauen heute
Dabei wollen wir auch die Rolle der Gewerkschaften in der Regel genauso gut qualifiziert wie die Männer;
und Betriebsräte stärken. Weigert sich der Arbeitgeber, aber noch gibt es Unterschiede. Und niedrigere Qualifi-
für Transparenz und Entgeltgleichheit zu sorgen, so ist kation führt selbstverständlich zu niedrigeren Löhnen.
auch der Klageweg, der im Gesetz zu regeln ist, ein not- Problematisch ist auch die Art der Qualifikation, die Be-
wendiger Schritt. Die Verbandsklage wird hier unum- rufswahl. Mädchen entscheiden sich häufig für schlecht
gänglich sein. bezahlte Dienstleistungsberufe. Zu selten wählen sie
Da zu erwarten ist, dass diese Bundesregierung – auch technische und mathematisch-naturwissenschaftliche
gerade leider diese Frauenministerin; schade, dass sie Ausbildungsgänge und Studienfächer. Aber genau die
nach wie vor dieser Debatte nicht beiwohnt – gesetzge- lassen relativ hohe Löhne erwarten. Die Konsequenz:
berisch wohl nicht handeln wird, kündige ich Ihnen an: Wir haben zwar viele sehr gut ausgebildete Frauen mit
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden ein Entgelt- im Schnitt besseren Abschlüssen als die Männer. Im
gleichheitsgesetz vorlegen. Denn wo sich Schwarz-Gelb Geldbeutel macht sich das aber leider fast nie bemerk-
vor der Wirtschaft wegduckt, werden wir handeln und bar.
die Lohndiskriminierung von Frauen endlich wirksam (Beifall bei der CDU/CSU)
gesetzlich bekämpfen.
Ein weiterer Grund ist die Position im Unternehmen.
(Beifall bei der SPD) Wir wissen: Nur selten besetzen Frauen die hohen, gut
Worthülsen und leere Versprechungen à la Merkel, bezahlten Positionen; nur selten sind Frauen in Führungs-
Schröder und von der Leyen haben Gleichstellungspoli- positionen. Die Folgen sind: wenig Führungspositionen,
tik in diesem Land noch nie vorangebracht. Frauen ha- geringer Gehaltsdurchschnitt, hohe Entgeltungleichheit.
Dieser Zusammenhang ist einfach nachzuvollziehen.
(B) ben endlich mehr verdient. (D)
Vielen Dank. Ein weiterer Grund für die Lohnlücke liegt im Le-
bensverlauf vieler Frauen: Schwangerschaft, Erzie-
(Beifall bei der SPD) hungszeit und Pflegezeiten. Bei Frauen findet man mehr
Brüche im beruflichen Lebensverlauf und mehr Er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werbsunterbrechungen. Das verhindert eine Karriere und
Die Kollegin Nadine Schön hat das Wort für die ein kontinuierliches Aufsteigen in höhere Gehaltsklas-
CDU/CSU-Fraktion. sen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Besonders verantwortlich für den Einkommensknick
ist die hohe Teilzeitquote. Frauen arbeiten überdurch-
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): schnittlich oft – etwa zu 35 Prozent – in einem Teilzeit-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und job, bei den Männern sind es gerade einmal 5 Prozent.
Kollegen! Am 25. März war der diesjährige Equal Pay Entsprechend geringer ist das Einkommen bei Frauen.
Day. Der Durchschnittsmann hätte am 25. März anfan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Gründe – Art
gen können, zu arbeiten, und hätte am Ende des Jahres und Grad der Qualifikation, Position, Erwerbsunterbre-
das gleiche Geld auf dem Konto wie die Durchschnitts- chungen und vor allem die hohe Teilzeitquote – sind die
frau, die seit Beginn des Jahres gearbeitet hat. harten Faktoren, die erwiesenermaßen zum großen Teil
(Zurufe: Lauter!) zur Entgeltungleichheit beitragen. Ich sage das deshalb
so ausführlich, weil die Zahl von 23 Prozent oft so uner-
Das kann ja wohl nicht wahr sein. klärlich hoch erscheint.
Rechnet man diese Faktoren heraus, so gelangt man
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zu einer Lohnlücke von 6 bis 10 Prozent. Das ist wesent-
Einen kleinen Moment, Frau Kollegin, wir müssen lich weniger als die genannten 23 Prozent, aber natürlich
erst einmal sehen, dass der Ton verstärkt wird, damit Sie immer noch 6 bis 10 Prozent zu viel.
nicht schreien müssen. Die Techniker werden sich da-
rum kümmern. Auch das ist eine Frage der Gleichbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
rechtigung.
Versucht man, diese 6 bis 10 Prozent zu erklären,
(Beifall im ganzen Hause – Rita Pawelski dann wird es noch schwieriger; denn dann kommt man
[CDU/CSU]: Sehr gut!) in den subjektiven Bereich. Zwei Gründe kann man aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11647
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) machen. Erstens müssen wir feststellen: Es ist sicher sie leider Gottes einen frauenspezifischen und damit au- (C)
eine Mentalitätsfrage. Studien haben ergeben – das hat tomatisch schlechter bezahlten Beruf gewählt haben?
nicht die Ministerin erfunden, liebe Kollegin Marks –, Nein! Wir müssen uns fragen: Muss die Bezahlung in
dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen bescheidener diesen Berufen zwingend so schlecht sein? Liebe Kolle-
sind als ihre männlichen Kollegen. Wir fordern weniger ginnen und Kollegen, den Lohn bestimmen bei uns in
und bekommen deshalb auch weniger. Das ist wohl eine Deutschland die Tarifparteien.
falsche Bescheidenheit. Hier sind wir Frauen selbst ge-
(Christel Humme [SPD]: Nein, nicht nur!)
fragt, etwas zu ändern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Deshalb appelliere ich an die Tarifparteien:
Caren Marks [SPD]: Okay!) (Caren Marks [SPD]: Alles wieder nur Ap-
Ich glaube allerdings nicht, dass das der entscheidende pelle! Wie lange wollen wir denn noch war-
Grund für die Lücke von 6 bis 10 Prozent ist. ten?)
Den zweiten Grund Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Bewerten Sie
frauenspezifische Berufe in den Lohnrunden besser!
(Caren Marks [SPD]: Schlechte Frauensolida- Sorgen Sie dafür, dass es auch in diesen Branchen bran-
rität!) chenspezifische Mindestlöhne gibt! Man kann nicht im-
halte ich für viel wesentlicher, und das ist schlicht und mer nur mit dem Finger auf andere zeigen und nach der
einfach Diskriminierung, nämlich Diskriminierung, die Politik schreien. Hier haben auch die Tarifparteien Ver-
sich darin äußert, dass Frauen weniger zugetraut wird, antwortung, und die müssen sie auch wahrnehmen.
dass eine mögliche Schwangerschaft schon beim Berufs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einstieg mit eingepreist wird und Frauen deshalb trotz
gleicher Qualifikation schlechter bezahlt werden. Das Aber auch die Politik kann einiges tun. Wir müssen
gibt es, und das muss genannt werden, und das, liebe weiter daran arbeiten, die Vereinbarkeit von Familie und
Kolleginnen und Kollegen, ist der eigentliche Skandal. Beruf zu verbessern. Wir sind hier auf dem richtigen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weg.
neten der FDP) (Caren Marks [SPD]: In hundert Jahren wird
Insgesamt kann man festhalten: Die Ursachen der es passen!)
Entgeltungleichheit sind sehr unterschiedlich, aber hin- Der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur, der Rechtsan-
nehmbar ist die Lohnlücke von 23 Prozent deswegen spruch auf einen Kitaplatz, das Elterngeld mit den Part-
(B) noch nicht. Wir müssen uns fragen: Welche Schlussfol- (D)
nermonaten, die Familienpflegezeit, die Initiativen zur
gerungen ziehen wir daraus? Was tun wir? Die SPD hat familienbewussten Arbeitszeit und die Programme zum
sich in ihrem Antrag dafür entschieden, die vermeint- Wiedereinstieg – all das trägt dazu bei, dass beide Part-
liche Allzweckwaffe auszupacken, nämlich die staatli- ner – ich betone: beide Partner – Beruf und Familie ver-
che Regulierung. einbaren können. Alles das sind Schritte zu einer konti-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nuierlichen Erwerbsbiografie auch von Frauen.
Ja, wenn alles andere nichts nützt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da soll es gesetzliche Fristen, eine neue Entgeltgleich-
heitskommission und ein Verbandsklagerecht für Anti- Es ist aber auch klar – ich denke, das muss uns allen
diskriminierungsverbände geben. In Anbetracht der vie- bewusst sein –: Ganz ohne Unterbrechungen wird es
len verschiedenen Ursachen, die wir ausgemacht haben, nicht gehen. Gerade weil das so ist, weil wir immer Brü-
meine ich, dass Sie bei diesen Forderungen zu staats- che im Lebensverlauf und immer Auszeiten haben wer-
gläubig und vor allen Dingen zu undifferenziert sind. den, ist es wichtig, dass wir das nicht immer als Nachteil
Wirksamer erscheinen mir von den Ursachen hergelei- sehen. Solche Unterbrechungen sind doch positiv zu be-
tete Gegenmaßnahmen. Wir müssen bei einem so kom- werten. Sie bringen neue Erfahrungen und neue Kompe-
plexen Thema doch an die Wurzeln, an die Ursachen des tenzen mit sich. Deshalb kann ich nur an die Unterneh-
Übels, und genau das tun wir, men appellieren: Nutzen Sie diese Kompetenzen und
berücksichtigen Sie diese auch in der Gehaltsstruktur!
(Beifall bei der CDU/CSU) Ermutigen Sie auch die Männer, sich auf solche Auszei-
zum Beispiel mit Maßnahmen gegen das eingeschränkte ten, beispielsweise bei der Elternzeit oder bei der Pflege-
Berufswahlverhalten. Von wegen: Die Mädchen interes- zeit, einzulassen! Denn Lebenskompetenz ist doch auch
sieren sich nicht für Technik! Schauen Sie sich all die im Unternehmen oft viel wichtiger als dröges Fachwis-
MINT-Initiativen, den Girls’ Day, Roberta an! Es ge- sen.
lingt, mehr Frauen für technisch geprägte Berufe zu inte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ressieren, und der Frauenanteil in diesen Berufen steigt. neten der FDP)
(Mechthild Rawert [SPD]: Langsam!)
Ein weiteres Thema für Politik und Wirtschaft glei-
Was ist aber mit denen, die nach wie vor kein Inte- chermaßen: Sorgen wir endlich dafür, dass mehr Frauen
resse an solchen Berufen haben? Wollen wir hinnehmen, in Führungspositionen kommen! Die Debatte über Wege
dass alle anderen dann halt schlecht bezahlt werden, weil dorthin führen wir derzeit.
11648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Nadine Schön (St. Wendel)


(A) Schließlich müssen wir gemeinsam auch dafür sorgen, Es muss auch erkannt werden, dass der Weg zur (C)
dass tatsächliche Diskriminierung aufgedeckt wird. Auch Gleichstellung der Frau mit dem Manne nur durch
das liegt letztlich im Interesse der Unternehmen selbst; die ökonomische Gleichstellung der Frau gesche-
die Kollegin hat darauf hingewiesen. Mit Logib-D gibt es hen kann.
ein Instrument, das die entsprechende Transparenz in ei-
nem Betrieb herstellt. Mehrere Hundert Unternehmen Ich denke, nur das ist der richtige Weg, nicht Appelle an
haben schon daran teilgenommen. So kann man echte die Wirtschaft.
Diskriminierung erkennen und wirksam bekämpfen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es lohnt neten der SPD)
sich, die Ursachen der Entgeltungleichheit genauer unter Mehr als 100 Jahre danach ist diese Forderung so ak-
die Lupe zu nehmen; denn nur dann gelangen wir zu ei- tuell wie damals. Frauen erhalten 23 Prozent weniger
ner differenzierten Sicht der Dinge und zu differenzier- Lohn als Männer. Die Verdienstunterschiede in Deutsch-
ten Lösungen. Es sind viele kleine Stellschrauben, mit land sind so groß wie nie und wie nirgendwo sonst in
denen wir die Rahmenbedingungen für ein verbessertes Europa. Und: Sie sind über die letzten Jahre noch ge-
Einkommen von Frauen beeinflussen können; hier kön- wachsen. Das ist ungerecht. Ich denke, es ist wichtig,
nen wir intelligent und mit vielen kleinen Schraubenzie- dass man als Antwort darauf auch gesetzliche und staat-
hern arbeiten. Den Vorschlaghammer staatlicher Regu- liche Regelungen schafft.
lierung brauchen wir dazu nicht.
70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor
Vielen Dank. sind Frauen. Das kommt nicht allein daher, dass Frauen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – oft Teilzeit arbeiten. Nein, rund 7,3 Millionen Frauen ar-
Caren Marks [SPD]: Ich dachte, Sie wären beiten Vollzeit. Von ihnen erhalten aber 2,5 Millionen
weiter! Schade eigentlich!) Frauen einen Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle.
Ich frage Sie: Ist das gerecht? Das heißt, jede dritte Voll-
zeit arbeitende Frau ist davon betroffen. Meine Damen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Herren der Koalition, lassen Sie sich diese Zahl bitte
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für noch einmal auf der Zunge zergehen: Jede dritte Vollzeit
die Fraktion Die Linke. arbeitende Frau arbeitet im Niedriglohnbereich. Das ist
(Beifall bei der LINKEN) ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN) (D)
Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schön, ich Deshalb ist klar: Wir brauchen in Deutschland endlich
muss Ihnen sagen: Seit 100 Jahren warten die Frauen auf einen gesetzlichen Mindestlohn.
gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und kämpfen dafür.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem früher
im ZK! Da waren nur alte Männer!) Sie wehren sich dagegen. Der Skandal ist, dass der ge-
setzliche Mindestlohn in Deutschland nicht eingeführt
Wie lange wollen Sie noch an die Wirtschaft appellieren, wird. In Europa gibt es in 20 von 27 Ländern einen ge-
damit das endlich Wahrheit wird? Das ist mir aus Ihrem setzlichen Mindestlohn. Das kann doch nicht schlecht
Vortrag weiß Gott nicht klargeworden. sein.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN)
neten der SPD)
Das wäre ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Die Frau Bundeskanzlerin hat zum Internationalen
Frauentag eine Videobotschaft versandt. Sie plauderte Natürlich reicht der Mindestlohn nicht aus. Schaut
ein wenig über ihre Kindheitserinnerungen in der DDR man sich die Ursachen für die ungleiche Bezahlung von
und darüber, welche Blumen sie am 8. März ihrer Mutti Frauen und Männern an, dann wird schnell deutlich: Es
schenkte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali- geht um eine direkte Diskriminierung, wenn Frauen am
tion, kennen Sie die Lieblingsblumen Ihrer Kanzlerin? gleichen Arbeitsplatz in eine niedrigere Lohn- bzw. Ge-
Ich helfe Ihnen ein wenig, weil Sie mich so anschauen. haltsgruppe eingestuft werden als Männer. Um die rie-
Es sind Freesien. Ich denke, es wäre besser gewesen, sige Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu ver-
wenn die Kanzlerin in der Videobotschaft ein wenig wei- ringern, ist aber mehr nötig. In den traditionellen
ter zurück in die Geschichte geblickt und die Begründe- Frauenbranchen wie dem Einzelhandel oder auch dem
rinnen des Frauentages und ihre Motive benannt hätte. Friseurhandwerk wird deutlich schlechter bezahlt. Hinzu
kommt der hohe Anteil von Frauen in Teilzeit und Mini-
Es waren nämlich die Arbeiterbewegung und ihre jobs. Zu zwei Dritteln sind die Lohnunterschiede aus
Vorkämpferinnen, allen voran Clara Zetkin. Als im Au- diesen genannten Gründen zu erklären.
gust 1910 in Kopenhagen die II. Internationale Sozialis-
tische Frauenkonferenz beschloss, einen internationalen Aber statt dieses Problem anzugehen, hat Ihre Ar-
Frauentag durchzuführen, stellte sie zugleich klar – ich beitsmarktpolitik der letzten Jahre uns in Deutschland in
zitiere –: eine Situation gebracht, in der sich dieses Problem noch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11649
Sabine Zimmermann
(A) mehr verschärft hat: Mit den Hartz-Gesetzen wurden (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe (C)
prekäre Beschäftigungsverhältnisse gefördert und der von der SPD)
Niedriglohnsektor weiter ausgebaut. Vor allem die typi-
schen Frauenbranchen sind davon betroffen. Deshalb ist Die bürokratischen Vorschläge der SPD würden Kosten
zu befürchten: Wenn es nicht zu einem Kurswechsel verursachen und die Wirtschaft erneut belasten.
kommt, wird sich diese Ungleichbehandlung mit der (Caren Marks [SPD]: Was Sie sagen, ist ein
steigenden Frauenerwerbstätigkeit weiter verfestigen Tritt für die Frauen!)
oder sogar verstärken. Bei diesem Punkt, meine Damen
und Herren von der SPD, hat Ihr Antrag leider eine Leer- Zu dem Argument der Linken, dass eine gesetzliche
stelle. Regelung, die es in 20 Ländern in Europa gibt, ein Plus
darstelle, kann ich nur sagen:
Die Linke fordert: Ein Entgeltgleichheitsgesetz, das
seinem Namen gerecht wird, muss das Problem der pre- (Christel Humme [SPD]: Was ist denn das für
kären, niedrig entlohnten und unfreiwilligen Teilzeitar- eine Denke?)
beit angehen. Das ist der richtige Weg. Die deutsche Wirtschaft ist gerade deshalb leistungsfä-
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der hig, weil sie solche Verpflichtungen nicht zu tragen hat.
SPD) (Caren Marks [SPD]: Weil sie Frauen diskri-
Die Wirtschaftsjournalistin Julia Dingwort-Nusseck miniert! Jawohl! Unglaublich!)
– sie war von 1976 bis 1988 Präsidentin der Landeszen- Wir werden uns dafür einsetzen, dass das nicht kommt.
tralbank Niedersachsen; sie ist also nicht dem linken
Spektrum zuzuordnen – befürchtete zu Recht: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht, wer- Frau Laurischk, möchten Sie eine Zwischenfrage des
den wir im Jahre 2230 den Zustand der Gleichbe- Kollegen Beck zulassen?
rechtigung von Mann und Frau erreicht haben.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass diese Sibylle Laurischk (FDP):
düstere Prognose nicht wahr wird. Nein, ich möchte fortfahren.

Danke. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


NEN]: Wie hoch ist denn eigentlich Ihre Frauen-
(Beifall bei der LINKEN) quote mit der Selbstverpflichtung in Baden-
(B) Württemberg? 0 Prozent im eigenen Lager, (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und dann von Selbstverpflichtung reden!)
Die Kollegin Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für – Wir sind dabei, das zu ändern; das wissen Sie. Das
die FDP-Fraktion. brauchen wir in diesem Zusammenhang nicht zu disku-
tieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben allerdings zu klären, auf welche Ursachen
Sibylle Laurischk (FDP): die noch immer bestehende Ungleichbehandlung zu-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und rückzuführen ist. Das liegt im Wesentlichen an folgen-
Herren! Das Einkommen von Frauen liegt in Deutschland den Punkten:
im Schnitt um fast ein Viertel unter dem der Männer. Zu- Typische Frauenberufe werden trotz individueller
dem ist die Lohnlücke in Deutschland im Vergleich zu un- Lohnverhandlungen schlechter bewertet und vergütet als
seren europäischen Nachbarn deutlich höher. Sowohl aus klassische Männerberufe. Hier wäre natürlich auch von-
Art. 3 Grundgesetz als auch aus dem Allgemeinen seiten der Gewerkschaften im Rahmen der Tarifautono-
Gleichbehandlungsgesetz folgt ein Verbot der Lohndis- mie noch einiges zu tun.
kriminierung. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz ver-
pflichtet uns, dagegen etwas zu tun. Frauen sind in bestimmten Berufen, Branchen und auf
höheren Stufen der Karriereleiter unterrepräsentiert.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns zur Umsetzung
des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verpflich- Vor allem ist trotz höherer und besserer Schulab-
tet. Die Umsetzung dieses Ziels ist auf einem guten Weg. schlüsse und einer fachlich hervorragenden Ausbildung
Dabei wollen wir aber keine gesetzlichen Regelungen zur das Arbeitszeitvolumen bei Frauen geringer als bei Män-
Überwindung der Entgeltungleichheit schaffen, wie es nern. Familienbedingte Unterbrechung der Erwerbstätig-
die SPD in ihrem Antrag fordert. Wir als FDP setzen auf keit ist ein weiterer Faktor. Die hohe Anzahl von Teilzeit
Selbstverpflichtung und sind der Meinung, dass Selbst- arbeitenden Frauen und von Frauen in niedrig bezahlten
verpflichtungen letztendlich auch eine sehr viel nachhal- und gering qualifizierten Arbeitsverhältnissen trägt nach
tigere Möglichkeit darstellen, wie vor zum Fortbestehen der Lohndiskriminierung von
Frauen bei.
(Caren Marks [SPD]: Da haben Sie es schon
weit gebracht! Endlich was Neues!) Die Überwindung der Rollensterotype bei Ausbil-
dung und Beschäftigung sowie ein modernes Rollenver-
solche Ungleichbehandlungen zu beseitigen. ständnis gerade der Männer würden einen erheblichen
11650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Sibylle Laurischk
(A) Beitrag zur Überwindung der Entgeltdiskriminierung wertige Arbeit“ begleitet uns schon lange. Wir finden sie (C)
leisten. in den Römischen Verträgen von 1957, und Art. 3 Abs. 2
des Grundgesetzes haben Sie gerade angesprochen, zu
Auffällig in Bezug auf das unterschiedliche Lohnge- Recht. Sie haben ja das Zitat gebracht, in dem steht, dass
füge zwischen Männern und Frauen ist, dass ein deutli- sich der Staat dafür einsetzen soll. Er hat also eine ent-
ches Gefälle zwischen West- und Ostdeutschland be- sprechende Verpflichtung. Von daher gebe ich den Hin-
steht. Frauen, die in Ostdeutschland arbeiten, verdienen weis, dass wir nicht allein auf Freiwilligkeit setzen soll-
zwar ebenfalls weniger als ihre männlichen Kollegen, ten. Wir als Gesetzgeber, im Parlament, haben durchaus
aber die Lohnlücke ist dort deutlich geringer als im Wes- die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen zu set-
ten. Dies wird wohl mit der besseren Kinderbetreuungs- zen.
infrastruktur zusammenhängen. Deswegen ist für uns
der Ausbau der Kinderbetreuung mit dem Ziel, bis 2013 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
für bundesweit durchschnittlich 35 Prozent der unter sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
dreijährigen Kinder Betreuungsplätze zu haben, eine der Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
wesentlichen Maßnahmen, die wir zur Überwindung des
Gender Pay Gap verfolgen. Es gibt ferner das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Wir könnten also der Meinung sein, wir hätten genug
(Beifall bei der FDP) Gesetze. Aber wir kennen die Zahlen: Seit Jahren beträgt
der durchschnittliche Lohnunterschied 23 Prozent. Da-
Ein weiteres wichtiges Instrument zur Beseitigung
mit sind wir im EU-Vergleich auf einem hinteren Platz.
der Lohnlücke ist die Einführung des Logib-D-Verfah-
Es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir uns von dort weg-
rens. Dies eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, in ei-
bewegen.
nem freiwilligen Selbsttest zu untersuchen, inwieweit
Entgeltgleichheit im Unternehmen sichergestellt ist. Die- Wir wissen – das wurde schon ausgeführt –: Es handelt
ses Verfahren wurde gut angenommen. Es ist ein Instru- sich hierbei um eine komplexe Materie. Beim Gender Pay
ment, das im Rahmen der Selbstverpflichtung, auf die Gap kommt einiges zusammen: die hohe Teilzeitquote
wir setzen, Wirkung zeigt. bei Frauen, die häufigeren und längeren Erwerbsunter-
Darüber hinaus haben wir zur Bekämpfung des Gen- brechungen wegen der Erziehung der Kinder oder der
der Pay Gap das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Pflege von Angehörigen, die geringere räumliche Mobi-
Familie“ zur Durchsetzung einer familienbewussten Per- lität von Frauen. Dazu gehört aber auch die sogenannte
sonalpolitik und das Aktionsprogramm „Perspektive vertikale Polarisation auf dem Arbeitsmarkt. Das bedeu-
Wiedereinstieg“ auf den Weg gebracht, welches Frauen tet nichts anderes, als dass Frauen in Führungspositionen
unterrepräsentiert sind und selbst dort dramatisch weni-
(B) nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung die ger verdienen als ihre männlichen Kollegen. (D)
Reintegration ins Berufsleben erleichtert.
Die Überwindung der Lücke zwischen den Löhnen Natürlich ist es immer noch so, dass junge Frauen und
von Frauen und Männern ist ein wichtiges gleichstel- Mädchen schlecht bezahlte Berufe wählen und sich auf
lungspolitisches Signal. Dafür ist ein Umdenken in der deutlich weniger Berufe und Branchen als Männer kon-
Gesellschaft genauso erforderlich wie das Aufbrechen zentrieren. Nun könnten wir, wie es Ministerin Schröder
von Rollenbildern und das Selbstverständnis eines mo- gerne macht, sagen: Selber schuld! Die jungen Frauen
dernen Familienbildes. können ja Maschinenbau studieren und den Beruf in den
Vordergrund stellen. – Aber so einfach ist das nicht. Wir
Wir haben in diesem Jahr den 100. Internationalen brauchen durchaus vieles: bessere Kinderbetreuung,
Frauentag gefeiert. Ich verweise nochmals darauf, dass mehr Männer, die ihre Vaterrolle auch zeitlich stärker
unser Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 ausführt: ausfüllen,
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und SES 90/DIE GRÜNEN)
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin. flexible Arbeitszeiten gerade für Eltern und selbstver-
ständlich eine andere Arbeitskultur. Ich denke, darin sind
Meine Damen und Herren, daran arbeiten wir. wir uns im ganzen Hause einig.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rufe von der SPD: Oh! – Caren Marks [SPD]:
Ihre Rede war ein Tritt gegen die Frauen in un- Aber das ist nicht alles. Der verschieden hohe Lohn-
serem Land! Schade! Schade!) unterschied in Ost- und Westdeutschland wurde schon
angesprochen. In Westdeutschland beträgt er 25 Prozent,
in Ostdeutschland 6 Prozent. Das liegt unter anderem da-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ran, dass die ostdeutschen Männer weniger verdienen.
Monika Lazar hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Es gibt sicherlich auch einige westdeutsche Männer, die
Grünen. weniger verdienen würden. Der geringere Unterschied
im Osten ist aber nicht nur der besseren Kinderbetreuung
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geschuldet. Es ist nämlich auch so, dass die große Mehr-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! heit der ostdeutschen Frauen wirtschaftlich für sich
Die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche und gleich- selbst verantwortlich ist; das ist für sie eine Selbstver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11651
Monika Lazar
(A) ständlichkeit. Die Hausfrauenehe spielt keine Rolle herzlich dazu ein, mit uns gemeinsam den Weg zu ge- (C)
mehr; es gibt sie nur zu einem geringen Prozentsatz. Bei hen, nicht nur auf Freiwilligkeit zu setzen, sondern den
knapp drei Vierteln aller Paare in Ostdeutschland sind Rahmen selber vorzugeben.
beide Partner erwerbstätig. Auch der Anteil der Teilzeit-
Vielen Dank.
arbeit ist wesentlich geringer als in Westdeutschland.
Die Frauen im Osten sind also aufgrund ihrer Ausbil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dung hochqualifiziert, und sie wollen mehr und auch und bei der SPD)
eher Vollzeit arbeiten.
Interessant ist auch, dass es einen Unterschied zwi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schen Stadt und Land gibt. In ländlichen Regionen ist Ewa Klamt hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das
die Lohnlücke um fast 10 Prozent größer als in der Stadt. Wort.
Auch wenn die Ursachen noch nicht ausreichend er-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
forscht sind – entsprechende Forschungen laufen –, gibt
neten der FDP)
es einige Auffälligkeiten: Die Frauen auf dem Land neh-
men noch häufiger Minijobs an, sind häufiger Hinzuver-
dienerinnen, und die Vereinbarkeit von Familie und Be- Ewa Klamt (CDU/CSU):
ruf ist wegen der größeren räumlichen Entfernungen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
meistens noch schwieriger zu bewerkstelligen. legen! Gleichberechtigung ist keine sich selbst erfül-
lende Prophezeiung. Sie muss – immer noch – in unserer
Zu den Führungspositionen – das habe ich vorhin Gesellschaft ausgebaut und gelebt werden. Frauen mei-
schon angesprochen – gibt es eine aktuelle Studie vom ner Generation können bei diesem Thema aufgrund
WSI, nach der der Lohnunterschied 18 bis 24 Prozent langjähriger Erfahrungen mitreden. Wir wissen, was wir
beträgt. Er ist also kein bisschen geringer, obwohl die hier einfordern wollen.
Frauen sicherlich genauso qualifiziert sind.
Die existierende Lohnungleichheit in Deutschland ist
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir eine der ungelösten Herausforderungen. Die entschei-
sind uns in vielem einig, was Ihren Antrag und auch die dende Frage ist: Was sind die Ursachen der Lohnlücke,
Eckpunkte betrifft, die Sie jetzt für ein Entgeltgleich- und wie können wir sie bekämpfen? Wir wissen, dass die
heitsgesetz vorlegen. Viele dieser Forderungen finden unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen
Sie auch in unserem Antrag „Frauen verdienen mehr“, drei Kernursachen hat: Erstens. Frauen sind in bestimm-
den wir im März hier im Plenum diskutiert haben. Auch ten Berufszweigen und Branchen unterrepräsentiert.
wir wollen den Ausbau der Verbandsklage. Ich denke, Zweitens. Qualifikationen, die Frauen in das Erwerbsle-
(B) das ist wirklich ganz wichtig. Wir wollen die Tarifpar- ben einbringen, werden häufig schlechter bewertet. Drit- (D)
teien zu einer diskriminierungsfreien Arbeitsbewertung tens. Frauen steigen öfter und länger aus dem Erwerbsle-
verpflichten. Wir brauchen endlich Transparenz bei den ben aus.
Entgelten. Wir möchten auch erreichen, dass sich die
Beschäftigten über ihr Arbeitsentgelt und dessen Zusam- Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen aus circa
mensetzung austauschen dürfen. Ich denke, das ist sehr 350 Ausbildungsberufen im Wesentlichen nur zehn aus
wichtig. Klauseln in Arbeitsverträgen, die das verbieten, dem Dienstleistungs- und Sozialbereich auswählen.
sind nicht rechtmäßig.
Die Wahl der Studiengänge zeigt ein ähnliches Bild:
Notwendig ist in diesem Zusammenhang selbstver- Männer fokussieren sich auf die technisch-naturwissen-
ständlich auch ein flächendeckender Mindestlohn. Dass schaftlichen Zweige, Frauen wählen vermehrt sprach-
Frauen einen Anteil von knapp 70 Prozent an den Nied- oder sozialwissenschaftliche Studiengänge. Frauen und
riglohnbeschäftigten haben, hat die Kollegin bereits aus- Männer gehen also bereits zu Beginn ihrer beruflichen
geführt. Laufbahn unterschiedliche Wege; sie richten ihre Be-
rufswahl nach unterschiedlichen Kriterien aus. Das Pro-
Neben den gesetzlichen Regelungen für die Entgelt- blem ist jedoch, dass jeder Einzelne individuell entschei-
gleichheit brauchen wir dringend ein Gleichstellungsge- det. Wir als Gesetzgeber können vom Kindergarten bis
setz für die Privatwirtschaft. Ich denke, da sind wir auch hin zur allgemeinen schulischen Bildung versuchen,
sehr nahe beieinander. Frauen frühzeitig für technische oder naturwissenschaft-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Berufe zu begeistern.
und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Der Equal Pay Day war in diesem Jahr der 25. März. neten der FDP)
Ich würde mich sehr freuen, wenn es an diesem Tag Deshalb sind die Programme des Familienministeriums
mehr als nur warme Worte geben würde, warme Worte,
wie „Komm, mach MINT“, der Girls’ Day, aber auch
wie sie unter anderem in der lauen Pressemitteilung der „Neue Wege für Jungs“ der richtige Ansatz, das Berufs-
Ministerin Schröder standen. Ich würde mich freuen, wahlspektrum von jungen Frauen und Männern zu er-
wenn wir da gemeinsam vorankommen, damit es mehr
weitern.
gibt als nur warme Worte oder Selbstverpflichtungen.
Ich denke, wir sollten auch unserem Anspruch als Ge- Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass nach wie vor
setzgeber gerecht werden und die Rahmenbedingungen Frauen und ihre Qualifikationen im Berufsleben schlech-
vorgeben. Deshalb lade ich die Koalitionsfraktionen ter bewertet werden.
11652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Ewa Klamt
(A) (Caren Marks [SPD]: Das werden Sie auch bei Der Unterschied in der Lohnlücke zwischen Deutsch- (C)
gleicher Qualifikation!) land Ost und Deutschland West zeigt eines: Die Rah-
menbedingungen von Kinderbetreuung und Vereinbar-
So sehen Unternehmen Frauen häufig als Unsicherheits- keit von Familie und Beruf sind entscheidend; eine
faktor, da sie dem Arbeitgeber durch Elternzeit und Er- Kollegin hat das bereits genannt. Weil in Ostdeutschland
ziehungspausen nur bedingt zur Verfügung stehen. Ihre 61 Prozent der Frauen nach einer Kinderpause in eine
Tätigkeit wird, bewusst oder unbewusst, nach dem Aus- Vollzeitbeschäftigung zurückkehren, beträgt der Lohn-
fallrisiko bewertet. Entscheidend ist daher in den Betrie- unterschied zwischen Frauen und Männern hier nur
ben ein Bewusstseinswandel dahin gehend, 6 Prozent, während er im Westen bei 24 Prozent liegt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das zeigt, dass ein gut ausgebautes Kinderbetreuungs-
system die Rückkehr in die Vollbeschäftigung ermög-
das Potenzial und die Fähigkeiten von Frauen besser zu licht und für mehr Entgeltgleichheit sorgt.
nutzen. Der Fachkräftemangel und der demografische
Wandel zeigen vielen Unternehmen bereits heute die Der Antrag, den die SPD heute vorlegt, wird keiner
richtige Weichenstellung auf. Wer dringend benötigte der genannten Herausforderungen gerecht. Ihre Forde-
Fachkräfte haben und halten möchte, muss das Potenzial rungen, von denen ich nur einige wenige zitieren
von Frauen nutzen. Gleiche Bezahlung für gleiche Ar- möchte, sehen folgendermaßen aus:
beit wird darüber entscheiden, wer zukünftig in diesem … die Unternehmen werden aufgefordert, einer be-
Land über genügend Fachkräfte verfügt. hördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezi-
(Beifall bei der CDU/CSU) fisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
Form eines betrieblichen Entgeltberichts in regel-
Der dritte Aspekt ist die familienbedingte Unterbre- mäßigen Abständen vorzulegen;
chung der Erwerbstätigkeit. Es sind nach wie vor mehr-
heitlich junge Frauen, die sich der Kindererziehung wid- – ich zitiere weiter –
men und dafür ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Nach die behördliche Stelle prüft den Entgeltbericht auf
ihrer Rückkehr ins Berufsleben reduzieren sie verstärkt Verdachtsmomente, die auf eine geschlechtsspezifi-
ihre Stundenzahl; sie nehmen besonders häufig Teilzeit- sche Ungleichbehandlung hinweisen. Das Ergebnis
modelle in Anspruch. Statistiken und Studien belegen, ist betriebsöffentlich zugänglich zu machen;
dass insbesondere in Deutschland die Erwerbsunterbre-
chung ein maßgeblicher Faktor der ungleichen Entloh- (Christel Humme [SPD]: Das sind gute Vor-
nung ist. Insofern trifft der Satz des SPD-Antrages zu, schläge! – Caren Marks [SPD]: Sie sollten
dass es Aufgabe der Politik ist, Prozesse in Gang zu mehr aus unserem Antrag vorlesen!)
(B) setzen und bei der Überwindung typischer Blockaden zu (D)
die Unternehmen stellen sicher, dass bei der Erstel-
helfen. Das von der CDU vorgeschlagene „audit beruf- lung des Berichts Betriebs- und Personalräte,
undfamilie“ ist ein richtiger Ansatz. Die Politik zeigt Gleichstellungsbeauftragte und Beschäftigte sowie
hier den Unternehmen Lösungswege auf. So kann sich Tarifvertragsparteien einbezogen werden.
ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel entfalten.
Unternehmen mit einem großen Frauenanteil nehmen (Sibylle Laurischk [FDP]: Bürokratie pur! –
dies heute in hohem Maße an. Sie verzichten schon aus Christel Humme [SPD]: Was haben Sie gegen
ökonomischen Gründen nicht mehr auf gut ausgebildete Mitbestimmung?)
Frauen. Fakt ist: Wir sind keine Erziehungsdiktatur. – Liebe Frau Humme, wenn ich mir vorstelle, was das an
Auch wenn wir uns wünschen, dass sich mehr Männer in bürokratischem Aufwand für die rund 3,4 Millionen
Familienarbeit und Kinderbetreuung einbringen, bleibt kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die Selbst-
die Entscheidung, welcher Partner sich der Kindererzie- ständigen bedeutet, stellt sich mir die Frage, ob sie dem-
hung widmet, eine individuelle Entscheidung. nächst überhaupt noch Frauen einstellen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Beide!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Die Hoheit über die Kinderbetten zu erlangen, wie es der Sibylle Laurischk [FDP]: Sehr richtig! – Caren
ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz verlangte, ist Marks [SPD]: Das ist ja wohl dreist!)
nicht Ziel unserer CDU/CSU-Politik. Ich sage Ihnen: Wir brauchen weder neue Behördenmit-
(Beifall bei der CDU/CSU) arbeiter, die unzählige Daten sammeln und verarbeiten,
noch brauchen wir neue Berichtspflichten, die zualler-
Für mich sind alle drei geschilderten Problembereiche erst unseren Mittelstand treffen.
komplex miteinander verknüpft. Klar ist, dass wir die
Ungleichheit in der Entlohnung ursachengerecht ange- Die Quintessenz einer lösungsorientierten und realis-
hen müssen. Fest steht auch, dass gesellschaftlicher tischen Gleichstellungspolitik muss sein
Wandel nicht per Gesetz verordnet werden kann. Aber (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, dem Rechtsan-
spruch auf einen Kitaplatz, dem Projekt „Perspektive – Schreien macht nichts besser; Sie können für Ihre
Wiedereinstieg“ und dem Elterngeld für beide Eltern- Fraktion reden –, die sozialen Risiken in den Lebensläu-
teile hat die CDU die Weichen richtig gestellt. fen und Erwerbsbiografien der Menschen zu erkennen
und familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche
(Beifall bei der CDU/CSU) Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann erreichen wir,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11653
Ewa Klamt
(A) dass Frauen der Wiedereinstieg in sozialversicherungs- einer der größten sozialpolitischen Skandale in dieser (C)
pflichtige Vollzeitjobs gelingt und die wesentlichen Ur- Republik.
sachen für eine fehlende Entgeltgleichheit beseitigt wer-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den. DIE GRÜNEN – Sibylle Laurischk [FDP]: Sa-
Statt immer neue Gesetze zu erfinden, sollten auch gen Sie das auch den Gewerkschaften?)
Sie, liebe Kollegen von der SPD, erkennen, dass wir uns Damit wir uns hier verstehen: Wir haben diesen An-
auf unsere Kernaufgabe konzentrieren müssen, nämlich trag schon zur Zeit der Großen Koalition eingebracht.
auf die Schaffung von Grundlagen und Rahmenbedin- Frau Merkel und die nicht anwesende Familienministe-
gungen. rin bzw. ihre Vorgängerin haben ihn im Duett abgelehnt.
Ich danke Ihnen. Für uns ist das keine neue Erkenntnis. Es ist übrigens
spannend, wie wichtig die zuständigen Kabinettsmitglie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der diese Debatte offensichtlich finden.
Caren Marks [SPD]: Ach, Gleichstellung ist Leistung lohnt sich nicht für Frauen in Deutschland.
keine Kernaufgabe?) Es geht darum, Frau Kollegin Schön, dass wir der sozia-
len Marktwirtschaft Geltung verleihen und dass sich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Leistung lohnt. Es ist übrigens ein interessanter Mei-
Sigmar Gabriel gebe ich jetzt als erstem Mann in der nungswandel, dass Sie das für die Aufgabe der Tarifver-
Debatte das Wort. Sollte sich die Entgeltgleichheit bei tragsparteien halten; denn ich habe noch gut in Erinne-
uns in Redezeit ausdrücken, haben die beiden Männer rung, dass CDU/CSU und FDP die Tarifvertragsfreiheit
sehr gut verhandelt. Er spricht für die SPD-Fraktion. infrage stellen und den Flächentarifvertrag abschaffen
wollten. Aktuell verhindern Sie im Kabinett ein Gesetz
(Beifall bei der SPD) über die Tarifeinheit. Sie zerstören die Tarifverträge und
sagen gleichzeitig, dass sich die Tarifvertragsparteien
Sigmar Gabriel (SPD): um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wir sind uns aber si- kümmern sollen. Das kennzeichnet Ihre Politik in die-
sem Bereich.
cher einig, dass die Herstellung von Gleichberechtigung
keine alleinige Aufgabe der Frauen ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Sibylle Laurischk [FDP]:
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Markus Das ist reine Polemik!)
Grübel [CDU/CSU] und Volker Beck [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Wenn das reine Polemik ist, dann beschließen Sie end-
(B) lich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Sie (D)
Meine Damen und Herren! Ich will den Argumenten wissen, dass 70 Prozent der Niedriglöhner in Deutsch-
begegnen, dass das nur für mehr Bürokratie sorgen land Frauen sind. Machen Sie das doch endlich!
würde, dass dies eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien
sei und die Politik sich herauszuhalten habe. Ich lese Ih- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nen einen Satz vor, um den es hier eigentlich geht: DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W.
Birkwald [DIE LINKE] – Volker Kauder
Niemand darf wegen seines Geschlechts … benach- [CDU/CSU]: 7,50 Euro sind die Lösung? Da
teiligt oder bevorzugt werden. lachen doch die Hühner!)
Das ist einer der fundamentalen Sätze der Verfassung der – Herr Kollege Kauder, ich weiß, dass Sie wenig Zugang
Bundesrepublik Deutschland. Recht und Gesetz in zu diesem Lohnsektor haben. Nein, es geht darum, dass
Deutschland durchzusetzen, ist nicht die Aufgabe von für Männer und Frauen eine Untergrenze eingeführt
Privatpersonen, auch nicht von Tarifvertragsparteien, wird. Wenn wir wissen, dass in weiten Teilen Deutsch-
sondern die Aufgabe des Gesetzgebers, der Exekutive, lands keine Tarifverträge gelten, weil sich die Arbeitneh-
des Staates. Deswegen geht es hier um staatliches Han- merinnen und Arbeitnehmer gar nicht mehr trauen, sich
deln und nicht um Fragen der Bürokratie oder um Auf- zu organisieren, dann muss der Staat eine untere Grenze
gaben von Privatpersonen. einführen. Das wussten Ihre Vorgänger Ludwig Erhard
und andere besser als Sie heute.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
[DIE LINKE]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Es geht auch nicht um Bewusstseinsbildung. Es geht um Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und um die der Regierungskoalition, es geht nicht an, dass die Bun-
Durchsetzung unserer Verfassung. Es geht nicht darum, deskanzlerin das zum Privatproblem der Frauen macht.
dass den Unternehmen ein Lernauftrag erteilt werden Ich zitiere einmal aus einem Interview mit der Emma.
soll. Frau Schön, es geht auch nicht um ein Privatver- Dort rät die Bundeskanzlerin Frauen, die weniger als
gnügen. Es ist nicht egal, ob man das macht oder nicht. ihre männlichen Kollegen verdienen, „selbstbewusst
Es geht darum, dass wir der Verfassung unseres Landes zum Chef zu gehen und zu sagen: Da muss sich was än-
Geltung verleihen. Es ist einer der gröbsten Verstöße ge- dern!“
gen die Verfassung, dass Frauen und Männer in diesem
Land für gleiche Arbeit ungleich bezahlt werden. Das ist (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
11654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Sigmar Gabriel
(A) Wo sind wir eigentlich hingekommen? Es geht doch Zumindest müssen sie sich darüber bewusst sein, (C)
nicht darum, dass die betroffenen Frauen aufgefordert dass mit bestimmten Berufswünschen gewisse Ein-
werden, etwas zu tun. Es ist die Aufgabe der Politik, ei- kommensperspektiven verbunden sind.
nen Missstand, der Millionen von Frauen betrifft, zu be-
seitigen. Das ist unsere Aufgabe. Das geht auch Sie an. Das würde bedeuten, dass es an der Berufswahl liegt,
Sie können sich nicht ständig vor der Verantwortung dass Frauen in Teilzeit arbeiten und schlechter bezahlt
drücken. werden. Es liegt aber daran, dass sie häufig keine ausrei-
chenden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder ha-
Ich sage hier ganz offen: Lernen Sie doch auch von ben. Deswegen müssen sie in Teilzeit gehen.
den Fehlern der Sozialdemokratie. Wir haben auch ein- (Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist reine Pole-
mal gedacht, dass Selbstverpflichtungen helfen. Heute mik!)
wissen wir: Sie helfen nicht.
Es liegt auch daran, dass Sie nicht bereit sind, dafür zu
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sorgen, dass in Deutschland vernünftige Löhne gezahlt
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der werden. Deshalb werden Frauen in diese Bereiche ge-
LINKEN) drängt.
Sie möchten jetzt eine freiwillige Frauenquote in Auf- (Beifall bei der SPD – Sibylle Laurischk
sichtsräten und Vorständen einführen. Ich stelle mir ein- [FDP]: Sie haben die ganze Zeit nicht zuge-
mal vor, wie wir zu den DAX-Vorständen und Aufsichts- hört!)
räten sagen: Jungs, ihr müsst jetzt zu 40 Prozent
freiwillig auf den Millionenjob verzichten, damit Platz Wenn Sie sagen, dass es an der Wahl des falschen Be-
für die Frauen ist. – Wenn Sie glauben, dass das funktio- rufs liegt, dann schauen Sie doch einmal typische Frau-
niert, dann glauben Sie auch, dass man mit Gänsen über enberufe, in denen nur oder im Wesentlichen Frauen be-
Weihnachten diskutieren kann. schäftigt sind, an. Drei Viertel der Bürokaufleute sind
Frauen; das ist also deutlich die Mehrheit. Bürokauf-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der frauen verdienen trotzdem 15 Prozent weniger als ihre
SPD) männlichen Kollegen. Oder schauen wir ins Bankge-
werbe. Bankkauffrauen bekommen im Monat im Durch-
Das kann man nicht ohne den Gesetzgeber durchsetzen. schnitt 700 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen.
Es ist schlimm, dass die Kanzlerin diese Entwicklung, Bemerkenswert ist auch ein Blick in die soziale Wirk-
die bei Ihnen durch Frau von der Leyen in Gang gekom- lichkeit der oberen Gehaltsgruppen. Die Zahlen zeigen,
men war, wieder gestoppt hat. Es gibt immer nur Win- dass auch Frauen in Führungspositionen für die gleiche
(B) dow Dressing in der CDU/CSU und FDP. Wenn es da- Tätigkeit deutlich weniger Geld bekommen. Auf der (D)
rauf ankommt, schlagen Sie sich in die Büsche. Ebene der Hauptabteilungsleiter verdienen Frauen ein
Vielleicht hilft es Ihnen ja, sich die Realität in den un- Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Da sagen
terschiedlichen Lohnsegmenten in Deutschland anzu- Sie: Fangen wir mit der Bewusstseinsbildung an! Warten
schauen; es geht dabei nicht nur um den Niedriglohn- wir auf die Bewusstseinsbildung in den Unternehmen! –
sektor. Sie scheinen auch in diesen Bereichen ein Nein, wir sagen ganz klar: Das ist eine Aufgabe, der sich
Wahrnehmungsproblem zu haben. Ihre Familienministe- die Politik stellen muss. Wir sind dafür verantwortlich,
rin sagte in einem Interview: dass Recht und Gesetz in Deutschland eingehalten wer-
den. Das ist keine Frage der Freiwilligkeit.
Wir können den Unternehmen nicht verbieten,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Elektrotechniker besser zu bezahlen als Germanis-
DIE GRÜNEN)
ten.
Immer wenn es konkret wird, ist von Ihren Schau-
Darum geht es aber nicht. Erklären Sie Ihrer Familien- fensterreden nichts mehr zu hören. Sie fallen den Frauen
ministerin bitte, dass es nicht darum geht, unterschied- regelmäßig in den Rücken, wenn es konkret wird.
liche Gehälter zu nivellieren, sondern dass man etwas
dagegen tun muss, dass Ingenieure besser bezahlt wer- (Caren Marks [SPD]: Ja! So ist es!)
den als Ingenieurinnen. Das muss doch die Politik inte-
Das war übrigens auch bei den Hartz-IV-Verhandlungen
ressieren.
der Fall. Als wir gefordert haben, die Beschäftigten in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Leih- und Zeitarbeit genauso zu behandeln wie die
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert Stammbelegschaften, wussten wir doch, dass davon
[DIE LINKE]) viele Frauen betroffen wären, die dann vernünftig be-
zahlt worden wären. Sie haben sich dagegen gewehrt.
Der Lohnunterschied im Beruf der Ingenieure beträgt
zwischen den Männern und Frauen 17 Prozent. Wie er- Vielleicht haben auch noch nicht alle mitbekommen,
klären Sie das einer fleißigen und gut qualifizierten wie Ihre Definition von Equal Pay ist. Sie haben zu-
Frau? nächst einen Equal-Pay-Day ausgerufen. Nächtens hat
dann die FDP mit Zustimmung der Union folgendes Mo-
Nun komme ich zum Größten, das Sie sich bisher ge- dell erarbeitet: Equal Pay – gleicher Lohn für gleiche Ar-
leistet haben. Ihre Frauenministerin sagte über die beit – soll schon ab dem ersten Tag gelten, wenn der Be-
Frauen: trieb, in den ein Leiharbeitnehmer verliehen wird,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11655
Sigmar Gabriel
(A) schlechter bezahlt, als es der Tarifvertrag in der Zeitar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
beit vorsieht. Wenn der Betrieb besser bezahlt als in der bei der SPD und der LINKEN)
Zeitarbeit vorgesehen, dann – so war Ihr Vorschlag – soll
das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
neun Monaten gelten. Wissen Sie, wie ich das nenne?
Solche Vorschläge nenne ich asozial, meine Damen und Wir kommen zur Abstimmung über diesen Geschäfts-
Herren. ordnungsantrag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – reicht nicht! – Zuruf von der SPD: Ihr seid zu
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Beschä- wenige!)
mend ist das! Was sagen Sie denn da?)
Wer dem Antrag auf Herbeizitierung zustimmen möchte,
– Nein. Beschämend ist, sich immer vor der Verantwor- den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Wer ist dage-
tung zu drücken und immer nur von anderen zu fordern, gen? – Gibt es Enthaltungen? –
sich zu kümmern.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach was! war sehr eindeutig! – Zuruf von der SPD: Hier
Ihre Rede ist beschämend! – Holger Krestel ist die Mehrheit! – Caren Marks [SPD]: Alles
[FDP]: Geben Sie sich doch mal ein bisschen andere wäre wirklich fatal! – Zuruf von der
Mühe, Herr Gabriel!) FDP: Seien Sie objektiv!)
– Ja, passen Sie auf. Dann gebe ich mir Mühe und zitiere Wir sind uns nicht einig.
die von Ihnen offensichtlich immer noch, jedenfalls zeit-
weise, geschätzte Kanzlerin. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Widerspruch bei der SPD, der LIN-
(Heiterkeit bei der SPD – Caren Marks [SPD]:
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Ja! Zeitweise!) Caren Marks [SPD]: Das ist wirklich ein
Sie sagt: Über Frauenpolitik darf man nicht nur reden. Skandal! Das ist für Männer ein Skandal!
Man muss handeln. – Peinlich! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ham-
melsprung! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) GRÜNEN: Mehrheit ist Mehrheit!)
Na, dann handeln Sie einmal, meine Damen und Herren! Deswegen können wir die Mehrheit nur auf andere (D)
(B)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weise feststellen. Wir werden jetzt einen Hammelsprung
DIE GRÜNEN) durchführen.
(Norbert Geis [CDU/CSU], an das BÜND-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Auch das
Der Kollege Beck erhält das Wort, und zwar, wie ich noch! Warum müsst ihr denn auch so einen
annehme, zu einer Kurzintervention. Antrag stellen? Wir wissen doch, warum die
Frau nicht da ist! Das ist eigentlich eine Un-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verschämtheit! – Gabriele Molitor [FDP]: Das
ist Frauensolidarität!)
Nein, ich möchte einen Geschäftsordnungsantrag stel-
len. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenar-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich saal zu verlassen.
finde, in dieser Debatte zum Thema „Entgeltgleichheit Wir würden auch noch ein paar Stühle herausstellen
zwischen Frauen und Männern“ geht es um eine zentrale lassen für den Fall, dass Sie gern weiter sitzen wollen.
Frage der Frauenpolitik. Aber vielleicht begeben Sie sich nach und nach hinaus.
(Caren Marks [SPD]: Ja!)
Es sind im Verhältnis zu allen anderen noch übermä-
Ich vermisse nicht nur viele Kolleginnen und Kollegen ßig viele FDP-Kolleginnen und -Kollegen im Saal.
aufseiten der Koalition,
Sind alle Türen mit Schriftführern besetzt? – Noch
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ach, Herr Beck! nicht. Es fehlen noch zwei Schriftführer von der Regie-
Bitte nicht schon wieder!) rungskoalition. – Jetzt sind alle Türen besetzt. Dann er-
öffne ich die Abstimmung.
sondern vor allen Dingen auch die Bundesfrauenministe-
rin. Gibt es immer noch Kolleginnen und Kollegen, die
(Caren Marks [SPD]: Ja!) vor der Tür stehen und nicht hereinkommen können,
weil das Gedränge so groß ist? Ich frage das in Richtung
Wir möchten sie zu dieser Debatte herbeizitieren, weil der Schriftführerinnen und Schriftführer. – Jetzt scheint
wir finden: Eigentlich müsste sie dem Haus in dieser außer den Besucherinnen und Besuchern niemand mehr
Diskussion Rede und Antwort stehen. vor der Tür zu sein.
11656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die Ich finde außerdem die Wortwahl in Ihrem Antrag un- (C)
Kolleginnen und Kollegen Schriftführer, uns das Ergeb- erhört. Sie sprechen von „Verdachtsmomenten“ bei der
nis mitzuteilen. Lohnfindung. Ich finde es schon allerhand, dass Sie hier
Unternehmen kriminalisieren und von „Verdachtsmo-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben zweierlei
menten“ sprechen. Ich denke, das ist nicht der richtige
festgestellt: Erstens. Der Deutsche Bundestag ist – wie
Weg.
eigentlich immer – beschlussfähig, weil wir bei der Zäh-
lung das entsprechende Quorum erreicht haben. (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
SPD – Caren Marks [SPD]: In welcher Welt
Zweitens. Mit Ja zum Antrag auf Herbeizitierung ha- leben Sie eigentlich?)
ben 173 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Mit Nein
haben 230 gestimmt. Enthalten hat sich niemand. Damit – In einer Welt, die auch darauf setzt, dass eben nicht
ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt. pauschal verkürzt wird, wie Sie das auch mit Ihren Sta-
tistiken tun,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Caren Marks [SPD]: Ja, ja!)
Wenn jetzt die Gespräche der CSU-Landesgruppe,
der Geschäftsführung von Bündnis 90/Die Grünen und auf die Sie Bezug nehmen. Denn Sie sagen, angeblich
von Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion an besteht bei Frauen und Männern ein durchschnittlicher
anderer Stelle fortgesetzt werden – besonders die CSU- Gehaltsunterschied von 23 Prozent. Dabei hält diese
Landesgruppe ist hartnäckig; Frau Hasselfeldt identifi- Prozentzahl einer differenzierten Überprüfung nicht
ziert sich offenbar noch nicht ausreichend mit ihrer stand.
neuen Funktion; wenn ich CSU-Landesgruppe sage, hört Viel interessanter ist in meinen Augen eine aktuelle
sie noch nicht automatisch –, setzen wir die Debatte fort. Studie der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft. Hier
Erhöhter Aufmerksamkeit erfreut sich jetzt die Kolle- werden erstaunliche Ergebnisse aufgezeigt: Bei jungen
gin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. Frauen ohne Kinder oder mit kurzen Babypausen ist eine
Lohnungleichheit statistisch nicht mehr nachweisbar.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Caren Marks [SPD]: Es ist trotzdem peinlich, (Caren Marks [SPD]: Stimmt nicht!)
dass die Ministerin nicht da ist!) So beträgt etwa die Entgeltlücke zwischen 25- bis 35-jähri-
gen erwerbstätigen Männern ohne Kinder und der ver-
Gabriele Molitor (FDP): gleichbaren Gruppe von Frauen nur knapp 2 Prozent und
Frau Präsidentin! Um der Legendenbildung keinen fällt damit in den Bereich der statistischen Unschärfe.
(B) Vorschub zu leisten: Ich wollte nicht vor mehr Publikum (D)
sprechen und habe deswegen nicht diese sportliche Akti- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vität von Ihnen verlangt. Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Ich möchte an das anknüpfen, was Sigmar Gabriel Kollegin Höll zulassen?
hier eben gesagt hat. Ich habe den Eindruck, dass die
SPD den Gewerkschaften überhaupt nichts mehr zutraut. Gabriele Molitor (FDP):
Nicht anders ist es zu verstehen, dass Gewerkschaften Bitte.
offensichtlich Tarifverträge abschließen, die nicht diskri-
minierungsfrei sind. Sie stellen damit der Tarifautono- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mie ein Armutszeugnis aus. Ich finde es erstaunlich, dass Bitte schön.
Sie das tun. Wer handelt denn die Tarifverträge aus? Das
sind doch die Gewerkschaften. Ich kann mir gut vorstel-
len, dass die Gewerkschaften von Ihnen nicht dauernd Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
vorgehalten bekommen wollen, ihren Aufgaben nicht zu Frau Kollegin, da Sie ja jetzt vertieft in Zahlen ein-
genügen. Auch beim Mindestlohn misstrauen Sie der Ta- steigen, aber als Ausgangszahl auch die Zahl 23 Prozent
rifautonomie und rufen immer nach dem Gesetzgeber. Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern genannt
haben – das ist bekanntlich die Zahl des Statistischen
(Beifall bei der FDP) Bundesamts –, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mir
darin zu, dass bereits diese Zahl eindeutig von einem
Was Ihnen zum Erreichen des Ziels „gleicher Lohn
männerzentrierten Denken geprägt ist? Denn wenn man
für gleiche Arbeit“ bei Männern und Frauen einfällt, ist
einfach einmal rechnet, eine Frau verdient in der Stunde
eigentlich sehr enttäuschend. Was Sie verlangen, führt
15 Euro, ein Mann verdient in einer Stunde 20 Euro,
zu zusätzlicher Bürokratie. Unternehmen sollen ver-
kann man sagen, die Frau verdient ein Viertel weniger,
pflichtet werden, Entgeltdaten zu melden. Sie wollen
aber man kann natürlich auch sagen, der Mann verdient
eine neue Superbehörde in Deutschland schaffen. Dabei
ein Drittel mehr als die Frau. Das heißt, da ist der reale
müssen Sie doch sehen, dass das Bürokratiemonster
Lohnunterschied 33 Prozent. Die Frau muss, um das
ELENA überhaupt nicht funktioniert hat. Blinde Daten-
Gleiche wie der Mann zu verdienen, nicht ein Vierteljahr
sammelwut löst keine Probleme, sondern sorgt nur für
arbeiten, sondern vier Monate. Das heißt also, diese all-
mehr Verwaltungsaufwand.
gemein verbreitete Zahl von 23 Prozent Lohnunter-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schied, im Durchschnitt gerechnet, verschleiert bereits
der CDU/CSU) die Unterschiede, die es in der Bundesrepublik Deutsch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11657
Dr. Barbara Höll
(A) land gibt, und verschleiert, dass Frauen in der Realität Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
noch viel stärker benachteiligt werden. Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Gabriele Molitor (FDP): (Beifall bei der LINKEN)
Ich gebe Ihnen vollkommen recht, Frau Kollegin,
dass Zahlen verschleiern und dass Zahlen nicht immer Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
unbedingt die Tatsachen widerspiegeln. Gerade an die- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
sem Beispiel wird deutlich, dass wichtige Faktoren aus- gen! Bundesministerin Frau Schröder, die heute hier
geblendet sind, nämlich Teilzeitarbeit, unterschiedliche nicht anwesend ist,
Qualifikation bei den Tätigkeiten, Ausbildungs- und Be-
rufserfahrung. Für eine solche objektive Analyse – da (Caren Marks [SPD]: Wie nie!)
müssen wir ansetzen – reicht der Blick auf die Zahlen
nicht aus. hat aus Anlass des ersten Internationalen Frauentags vor
100 Jahren erklärt, dass die großen Mauern auf dem Weg
Ich denke, es geht der Antragstellerin, der SPD, im zur Geschlechtergerechtigkeit nun eingerissen seien,
Wesentlichen darum, unter dem Deckmantel der Gleich- auch wenn im Alltag noch viel Dickicht sei, das Frauen
berechtigung Mindestlöhne einzufordern bremse. Wahrscheinlich hält sie das Dickicht für nicht so
wichtig; deshalb ist sie heute nicht da.
(Widerspruch bei der SPD)
(Caren Marks [SPD]: Sie kommt nicht durch!)
– ja –, und das hilft uns an dieser Stelle nicht weiter.
Dass dadurch vor allem die durch Frauen ausgeübten Sie sagt, man brauche zur Beseitigung dieses Dickichts
Teilzeitbeschäftigungen nicht den großen Hammer, sondern nur noch feinere In-
strumente. Kollegin Schön hat sich vorhin ganz ähnlich
(Caren Marks [SPD]: Beschämend! Und das geäußert. Ich möchte ein bisschen in dieses Dickicht ein-
von einer Frau!) tauchen.
sowie die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte einge- Im Durchschnitt ist jeweils ein Drittel der Frauen in
schränkt werden, scheint Sie nicht zu stören. Das finde Vollzeit, Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig. Aber schon
ich sehr ignorant. bei den Frauen mit einem Kind steigt die Teilzeitquote
auf fast 44 Prozent an. Bei Familien mit zwei Kindern
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert arbeitet fast die Hälfte der Frauen nur noch Teilzeit. Je
Geis [CDU/CSU]) höher die Kinderzahl, desto mehr Frauen sind überhaupt
(B) nicht erwerbstätig. Nun sagt die Bundesministerin, der (D)
Hauptsache, man hat ein Gesetz auf den Weg gebracht. Ausbau der Kinderbetreuung helfe Frauen, einer Er-
Sinn oder Unsinn interessiert an dieser Stelle nicht. werbstätigkeit nachgehen zu können. Das stimmt. Seit
Die Koalitionsfraktionen hingegen wissen, dass wir 1996 hat die Zahl der nicht erwerbstätigen Frauen aus
nur auf der Basis einer vernünftigen Analyse eine sach- Familien mit Kindern tatsächlich deutlich abgenommen.
gerechte Strategie entwickeln können. Diese Analyse Gleichzeitig ist die Zahl derer, die mit mehr als zwei
muss dann eben auch den gesellschaftlichen Entwicklun- Kindern Vollzeit arbeiten, deutlich gesunken. Das muss
gen Rechnung tragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich Ursachen haben. Dafür gibt es ein gängiges Erklärungs-
der Beschäftigungsanteil von Frauen ständig erhöht. muster: Frauen wollen sich in den ersten Jahren eben der
Auch die Gehälter von Frauen haben sich erhöht. Viele Kindererziehung widmen, und das sei schließlich gut so.
Frauen machen heute Karrieren, von denen ihre Mütter Aber so einfach ist es nicht. Ich frage Sie: Wieso eigent-
nur träumen konnten. Ich denke, der richtige Weg ist es, lich Frauen, wieso nicht Männer?
auf die qualifizierte Berufsausbildung zu schauen und (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
dafür zu sorgen, dass Mädchen verstärkte Aufmerksam- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
keit in ihre Ausbildung lenken. NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Caren Marks [SPD]: Das machen die meisten Die Männer dürfen das inzwischen. Ich frage Sie außer-
schon mehr als gedacht!) dem: Wie sollen Eltern Vollzeit arbeiten, wenn Ganz-
tagsbetreuungsplätze überhaupt nicht zur Verfügung ste-
Gerade mir als Mutter ist es besonders wichtig, dass
hen?
diese Dinge in den Vordergrund gerückt werden.
In den östlichen Bundesländern, zumindest in drei der
Auf diesem Weg werden wir weiterkommen. Denn fünf, wollen weit mehr als 38 Prozent der Frauen mit
mit gesetzlichen Keulen und Mindestlöhnen ist an dieser Kindern unter drei Jahren erwerbstätig sein, die meisten
Stelle niemandem geholfen, zuallerletzt den Frauen. Vollzeit. In Sachsen-Anhalt sind es über 50 Prozent. In
Vielen Dank. Sachsen und Thüringen ist das nicht so. Gute Kinderbe-
treuung, denkt man, spricht für sich. Aber warum ist das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in Sachsen und Thüringen anders? Die Antwort ist ganz
der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Den einfach: Dort gibt es eine Prämie für das Zuhauseblei-
Männern wäre damit nicht geholfen, aber den ben. Das nutzen in ihrer Not vor allem Frauen. Familien
Frauen wäre geholfen! Peinlich, peinlich!) denken da nämlich ganz praktisch: Derjenige oder dieje-
11658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Rosemarie Hein


(A) nige bleibt zu Hause, der oder die am wenigsten zum Fa- erfordert. Aber können Sie mir erklären, warum Grund- (C)
milieneinkommen beitragen kann. Nun soll diese „Zu- schullehrerinnen so viel schlechter bezahlt werden als
hausebleibeprämie“ auch noch bundesweit kommen. Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien, wo im Übrigen
Frau Ministerin sollte dieses Dickicht wegräumen, wenn auch mehr Männer arbeiten?
sie wirklich für eine Entgeltgleichheit sorgen will.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
Hier hat die Politik Handlungsmöglichkeit; denn hier
[CDU/CSU]: Das mit Sachsen und Thüringen
geht es um die öffentliche Hand, die Arbeitgeberin ist.
sollten Sie noch mal nachlesen!)
Sie könnte dieses Problem lösen.
– Ich benutze hier Zahlen der Bundesregierung, keine (Beifall bei der LINKEN)
anderen.
In solchen aus Standesdünkel gewachsenen Einkom-
Ein weiterer Fakt: Bezüglich meines Bundeslandes, menshierarchien entstehen genau jene Ungerechtigkei-
Sachsen-Anhalt, weist der Gleichstellungsatlas des Bun- ten der Bezahlung in dieser Gesellschaft. Das gilt auch
desministeriums einen sehr kleinen Einkommensunter- für andere soziale Erziehungs- und Pflegeberufe. Das al-
schied aus; das ist hier schon erwähnt worden. Da les sind Frauendomänen. Darum geht unsere Forderung
scheint alles in Butter zu sein; die Richtung scheint zu über das „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ hinaus. Wir
stimmen. Da ich mich zu Hause ein bisschen auskenne, fordern gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit; denn es
habe ich nachgeschaut. In Sachsen-Anhalt liegen die kann doch niemand erklären, wieso Arbeit in einer
Lohnunterschiede im produzierenden Gewerbe sogar bei Grundschule weniger wert sein soll als an einem Gym-
25 Prozent. Wenn ich so rechne wie meine Kollegin nasium. Das ist doch wohl nicht mehr zeitgemäß.
Höll, heißt das: Männer verdienen ein Drittel mehr als
Frauen. Wir haben allerdings nicht so viel produzieren- (Beifall bei der LINKEN)
des Gewerbe und darum auch nicht so viele hohe Ein-
Ich glaube, die Frau Ministerin, die heute Wichtigeres
kommen. Was wir viel haben, ist Niedriglohn, und zwar
zu tun hat, hat hier noch viel Dickicht hinwegzuräumen.
für Frauen und Männer. Das heißt, weiter nach unten mit
Aber ich fürchte, Frau Schön, mit dem Schraubenzieher-
dem Lohn geht es kaum noch. Dagegen gäbe es aller-
chen wird es nichts werden. Dann sind wir damit näm-
dings ein Mittel: gesetzlicher Mindestlohn.
lich noch die nächsten hundert Jahre beschäftigt.
(Beifall bei der LINKEN) Ich danke schön.
Diesen einzuführen, löst zwar noch nicht alle Probleme, (Beifall bei der LINKEN)
würde aber unmöglich machen, dass man, etwa im Fri-
(B) seurhandwerk, für Stundenlöhne von 3,83 Euro arbeiten (D)
muss. Das wäre dann ausgeschlossen. Das wäre ein Bei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
trag zur Entgeltgleichheit und im Übrigen zur Verbesse- Die Kollegin Rita Pawelski hat jetzt das Wort für die
rung der Einkommen von Männern. CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Gestrüpp zu beseitigen, gilt es auch an anderer Stelle. Rita Pawelski (CDU/CSU):


Mädchen und junge Frauen haben in der Bildung im
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
letzten Jahrhundert deutlich aufgeholt. Sie haben mehr
Kollegen! Kennen Sie den Film Und täglich grüßt das
höhere Schulabschlüsse und studieren häufiger. In Sach-
Murmeltier? Der TV-Wetteransager Phil Connors durch-
sen-Anhalt erwerben fast 70 Prozent der 18- bis 21-jäh-
lebt alptraumhaft immer und immer wieder denselben
rigen jungen Frauen eine Studienberechtigung – da ist
Tag. Ähnlich geht es mir bei dem Thema „Gleiche
Sachsen-Anhalt Spitzenreiterin –; aber nur 17 Prozent
Löhne für Männer und Frauen“. Fast alptraumhaft steigt
der Professuren in diesem Land wurden an Frauen ver-
immer und immer wieder das gleiche Thema hoch.
geben. Frauen finden wir dafür überproportional in Er-
ziehungsberufen, besonders in der frühkindlichen Bil- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
dung und in der Grundschule, aber auch in der Pflege. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Problem be-
Dort sind Männer eher die Ausnahme. Ich war neulich in steht, weil die Regierung nichts macht!)
einer Grundschule. Sie arbeitet inklusiv – ich hoffe, hier
– Hören Sie doch einfach zu! – Frauen demonstrieren für
nicht mehr erklären zu müssen, was das bedeutet –; es
gleiche Löhne, der Lohnabstand bleibt. Die Fraktionen
wird also niemand an eine andere Schule geschickt.
stellen Anträge, wollen etwas verändern, der Lohnab-
40 Prozent der Kinder, die diese Grundschule besucht
stand bleibt. Die Regierungen wechseln, der Lohnab-
haben, setzen ihren Bildungsweg auf dem Gymnasium
stand bleibt. Geändert hat sich inzwischen die Bezeich-
fort. Ihr Bildungsweg ist also erfolgreich. Die Stunde,
nung. Es heißt oftmals nicht mehr „Entgeltgleichheit“,
die ich miterleben durfte, war beeindruckend. Ich gebe
sondern „Equal Pay“; aber auch das hat das Problem
Ihnen Brief und Siegel: Die Mehrzahl der Kolleginnen
nicht erledigt.
und Kollegen aus diesem Hause – ich schließe mich da
ein –, die irgendwann schon einmal vor einer Klasse ge- In Deutschland gibt es eine ungleiche Entlohnung bei
standen und unterrichtet haben, wären mit dieser Arbeit Männern und Frauen, und das ist nicht akzeptabel. Die
vollständig überfordert. Es ist eine Arbeit, die viel Wis- offiziellen Zahlen zeigen, dass bei uns die Lohnlücke
sen und Können, hohe Flexibilität und hohe Kreativität zwischen Männern und Frauen 23,2 Prozent beträgt. Im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11659
Rita Pawelski
(A) Laufe des Arbeitslebens steigt der Einkommensunter- rin, Friseurin, medizinische Fachangestellte und Hotel- (C)
schied auf 30 Prozent. Wie ist das zu erklären? Wo liegt fachfrau die Lieblingsausbildungsberufe für Mädchen.
das Problem?
(Dagmar Ziegler [SPD]: Wollen wir sie ab-
Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat dazu ein schaffen, oder was?)
paar interessante Untersuchungen vorgelegt. Dabei kam
Bis heute hat sich so gut wie nichts geändert, leider.
heraus, dass ein entscheidender Faktor für die Verdienst-
Hallo, Mädchen, wenn ihr weiterkommen wollt, ergreift
lücke zwischen Männern und Frauen die Zeiten der Er-
andere Berufe!
werbsunterbrechung, zum Beispiel die Babypause, sind.
Denn die Lohnschere öffnet sich ab einem Alter von (Dagmar Ziegler [SPD]: Ach so?)
30 Jahren, und das ist exakt die Zeit, in der viele Frauen
Ihr könnt auch Mechatronikerin oder Ingenieurin wer-
ihr erstes Kind bekommen und für eine bestimmte Zeit
den.
aus ihrem Job heraus müssen.
(Iris Gleicke [SPD]: Da verdienen sie auch
Teilzeitarbeit – das haben wir heute schon oft gehört –
20 Prozent weniger!)
nehmen Frauen oft nur deshalb in Anspruch, weil sie Fa-
milie und Beruf nicht anders vereinbaren können; aber Geht in diese Fächer! Ihr müsst es nur wollen.
Teilzeitarbeit führt karrieremäßig und finanziell in eine
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sackgasse. Das gilt übrigens auch für Minijobs.
der FDP)
Deutschland ist ein Land mit einer dramatischen de-
Wir haben unglaublich viele Programme aufgestellt,
mografischen Entwicklung. Der Nachwuchs fehlt. Aber
um junge Frauen und Mädchen auch für geschlechtsaty-
werden bei uns Frauen mit schlechteren Löhnen und
pische Berufszweige zu motivieren. Es gibt den Girls’
schlechteren Aufstiegschancen bestraft, wenn sie wegen
Day, „Komm, mach MINT“ und viele andere gute Pro-
ihrer Kinder nicht berufstätig sind oder für eine be-
gramme.
stimmte Zeit zu Hause bleiben wollen, um die Kinder zu
erziehen? Denn klar ist: Bei einer schnellen Rückkehr in Aber selbst wenn frau sich für einen typischen Frau-
den Beruf nach der Babypause beträgt der Lohnabstand enberuf entscheidet, bleibt eine Frage: Warum werden
nur 4 Prozent. Wir müssen also unter anderem dafür sor- diese Berufszweige so schlecht bezahlt?
gen, dass Frauen wieder frühzeitig in den Beruf zurück-
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
kehren können. Da sind wir bereits auf einem guten
GRÜNEN]: Genau!)
Weg.
Ich frage die Gewerkschaften, ob der tarifliche Stunden-
Wie keine Regierung zuvor hat die Merkel-Regierung
(B) lohn von 4,71 Euro brutto für eine ausgebildete Friseurin (D)
in den letzten fünf Jahren eine sehr gute Familienpolitik
in Sachsen oder 6,63 Euro im Hotel- und Gaststättenge-
entwickelt und durchgesetzt.
werbe in Hessen angemessen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks
(Caren Marks [SPD]: Ich frage Sie, warum Sie
[SPD]: Das hat aber nicht an Frau Merkel ge-
noch keinen gesetzlichen Mindestlohn verab-
legen!)
schiedet haben!)
Das hat kein anderer vorher geschafft.
– Die Tarifautonomie steht im Grundgesetz, und das ist
Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen, wohl auch für Sie immer noch die Grundlage aller Poli-
um eine Vorbildfunktion und ein Umdenken – für mehr tik.
Betriebskindergärten, vor allem für familienfreundliche
Liebe Tarifpartner, kommen Sie endlich Ihrer Pflicht
Arbeitszeiten – zu erreichen. Wir müssen den Unterneh-
nach! Anständige Löhne auszuhandeln, ist Ihre Sache
men sagen, dass sie etwas an ihrer Arbeitszeitphiloso-
und nicht unsere. Dafür sind Sie verantwortlich.
phie ändern müssen. Mehr Flexibilität bei der Arbeits-
zeitgestaltung für Frauen und Männer! Das gilt (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks
besonders für junge Eltern; denn Mütter wollen länger [SPD]: Für Gleichstellung sind wir da!)
arbeiten, und Väter wollen weniger arbeiten. Es muss
Den Unternehmen sei gesagt: Sie wollen keinen
doch möglich sein, dass man sich da entgegenkommt.
Zwang, keine weiteren gesetzlichen Regelungen. Dann
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verpflichten Sie sich doch bitte tatsächlich einmal selbst!
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Wir helfen Ihnen dabei, zum Beispiel mit dem Compu-
GRÜNEN) terprogramm Logib-D.
Zum großen Lohnunterschied trägt natürlich auch die (Mechthild Rawert [SPD]: Es gibt bessere Pro-
Berufswahl entscheidend bei. Für die akademischen Be- gramme!)
rufe wurde das schon angesprochen. Für mich ist er-
Mit dieser kostenlosen Software können die Unterneh-
schreckend, dass eine unglaublich große Zahl von Mäd-
men aktiv die Ursachen erkennen, die zu unterschied-
chen – das sage ich besonders in Richtung der Mädchen
licher Entlohnung führen, und sie können sie dann ab-
und jungen Frauen, die hier oben sitzen – sich immer
schaffen.
noch für frauentypische Berufe entscheiden. Auch hier
grüßt täglich das Murmeltier; denn schon vor 20 Jahren Meine lieben Unternehmer, gleicher Lohn für gleiche
waren Einzelhandelskauffrau, Bürokauffrau, Verkäufe- Arbeit fördert die Motivation. Das macht sich letztend-
11660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Rita Pawelski
(A) lich auch in der Bilanz bemerkbar, und es ist eine Image- terpräsident? Das wechselte damals in Niedersachsen bei (C)
förderung auch für das Unternehmen. der SPD sehr häufig. Da gab es einen größeren Ver-
schleiß. Zumindest hätte er das Thema über den Bundes-
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
rat einbringen können. Das ist nicht passiert.
SPD sagen. Erst einmal möchte ich daran erinnern, dass
in der hier schon oft zitierten Vereinbarung, die 2001 Wie ging es mit dem Thema weiter? Hier wurde viel
zwischen Kanzler Schröder und der Wirtschaft geschlos- davon geredet, dass das Ganze asozial sei und dass man
sen wurde, das Thema Entgeltgleichheit – man höre: das sich vor der Verantwortung drücke. Herr Gabriel hat
Thema Entgeltgleichheit – als eine von vier Zielgrößen noch einmal auf das Grundgesetz hingewiesen.
verankert wurde. Aber auch hier, wie bei der Quote:
Nichts als weiße Salbe! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
„Herr Gabriel“ ist ein gutes Stichwort. Der möchte Ih-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen nämlich gern eine Zwischenfrage stellen.
Frau Pawelski, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach zulassen? – Anscheinend ja. Bitte Rita Pawelski (CDU/CSU):
schön. Wir wollen nicht an frühere Diskussionen im Landtag
anknüpfen; lassen wir das lieber.
Rita Pawelski (CDU/CSU):
(Sigmar Gabriel [SPD]: Jetzt hast du aber
Ja, selbstverständlich. Angst!)

Ingrid Fischbach (CDU/CSU): – Nein, Angst habe ich nicht.


Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Sie sprachen ge- Es gab während der Regierungszeit Schröder keinen
rade die Vereinbarung an, die seinerzeit unter Kanzler Antrag von der Fraktion oder von den Frauen. Man hat
Schröder geschlossen wurde. Können Sie mir und den sich auch da – wie bei der Quote – in den Senkel stellen
Kolleginnen und Kollegen vielleicht noch einmal sagen, lassen und schön die Klappe gehalten. Ich habe hier
wo da der Kollege Gabriel stand? eine Pressemitteilung vom 16. Februar 2005. Da wird
Christel Humme, SPD-Abgeordnete und schon damals,
(Mechthild Rawert [SPD]: Da war er noch
vermute ich einmal, frauenpolitische Sprecherin, mit
nicht Mitglied im Bundestag!)
dem Satz zitiert – 2005! –:
Er hat gerade sehr emotional reagiert und deutlich ge-
Wir setzen darauf, dass sich Arbeitgeber und Ar-
macht, wie er sich des Themas angenommen hat, vor al-
beitnehmer stärker mit dem Thema auseinander set-
(B) lem in der Zeit danach, als er im Bundestag war. Wie (D)
zen …
ernsthaft und ehrlich waren seine Worte in der Rede ge-
rade, wenn er es als Chef der SPD nicht schafft, seiner (Iris Gleicke [SPD]: Das ist sechs Jahre her!)
Generalsekretärin beim Eintritt in den Mutterschutz die
Schon bisher hätten Frauen gegen Diskriminierung
Angst davor zu nehmen, nicht zurück in ihren Job zu
beim Gehalt klagen können, …
kommen?
Das war 2005, aber die Zahlen waren schon im Jahr
(Christel Humme [SPD]: Was ist das denn für
2005 genauso wie heute. Hier gibt es kaum einen Unter-
eine doofe Frage?)
schied.
Wäre das nicht auch eine Form von Unterstützung der
(Iris Gleicke [SPD]: Wir haben wenigstens ei-
Frauen? Er war gerade der große Frauenversteher. Wie
nen Erkenntnisgewinn! Sie haben aber nichts
bewerten Sie das?
getan! – Weitere Zurufe von der SPD)

Rita Pawelski (CDU/CSU): Mit anderen Worten: Die SPD wird immer dann mutig,
In der Tat, mich hat schon sehr gewundert, dass die wenn sie in der Opposition ist. Ihr seid eine tolle Opposi-
Generalsekretärin einer großen Volkspartei in den letzten tionspartei, bleibt da, wo ihr seid.
Schwangerschaftsmonaten Angst davor haben musste, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass andere ihr den Job wegnehmen. Mechthild Rawert [SPD]: Wir werden das än-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dern, und Sie werden demnächst auf der Oppo-
sitionsbank sitzen!)
Das war ein verdammt schlechtes Beispiel oder gibt ei-
nen tiefen Einblick in die Frage, wie es in der SPD wirk- – Entschuldigung, Sie haben den Mund ganz schön voll
lich zugeht. genommen. Die Wahlergebnisse sehen bei Ihnen wesent-
lich schlechter aus als bei uns. Man sollte sich ein biss-
Wenn das die Personalpolitik der SPD ist, dann muss chen in Bescheidenheit üben.
ich sagen: Sigmar, schämt euch, das war nicht in Ord-
nung! (Caren Marks [SPD]: Wer verliert denn gerade
die Mehrheit im Bundesrat? – Mechthild
(Zuruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) Rawert [SPD]: Aber nicht frau! Man, ja!)
Wo war Sigmar Gabriel 2001? Ich weiß es nicht mehr. Jetzt komme ich noch einmal zu dem Antrag. Sie ha-
War er Fraktionsvorsitzender? Oder war er schon Minis- ben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sorgfältig zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11661
Rita Pawelski
(A) recherchieren. Ich helfe kurz nach: Der Grundsatz des Rita Pawelski (CDU/CSU): (C)
gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit bzw. bei gleichwer- Wir machen das, aber Sie müssen erst einmal Ihren
tiger Arbeit ist nicht mehr in Art. 141 des EG-Vertrags Antrag überarbeiten. Da stehen Forderungen drin, die
verankert, wie es in dem Antrag steht; denn den gibt es mit uns so nicht zu machen sind.
seit dem 1. Dezember 2009 nicht mehr. Seitdem gibt es
nämlich den Vertrag von Lissabon. Sie meinen wohl (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Art. 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi- Caren Marks [SPD]: Das war eher ein biss-
schen Union. Da ist dies jetzt enthalten. Der Antrag chen neben der Kappe! – Weitere Zurufe von
der SPD)
muss also sowieso noch einmal umgeschrieben werden.
Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag darüber, „dass es Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der Respekt vor der Tarifautonomie gebietet, die gesetz- Die Nächste ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
lichen Eingriffe des Staates so gering wie möglich zu für Bündnis 90/Die Grünen.
halten“. Trotzdem fordern Sie – das ist mir überhaupt
nicht klar und ist für mich auch nicht nachvollziehbar –, Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass zivilgesellschaftliche Akteure von außerhalb der NEN):
Betriebe, also außerhalb der Betriebsräte, auf die wir
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
großen Wert legen, mit Einflussmöglichkeiten ausgestat-
nen und Kollegen! Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist
tet werden, um staatliches Eingreifen auf ein Minimum
eine Selbstverständlichkeit, und Frauen arbeiten natür-
zu reduzieren. Was das außerhalb der Betriebsräte soll,
lich in allen Branchen. Dass beispielsweise Pilotinnen
ist mir ein Rätsel.
sich nicht mehr lange so kluge Männersprüche anhören
Sie wollen eine behördliche Stelle, die Entgeltbe- müssen wie: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen flie-
richte von Unternehmen entgegennimmt und auswertet. gen, dann wäre der Himmel rosa geworden“, dafür wer-
Wollen Sie eine neue Behörde? Wollen Sie mehr Büro- den wir auch noch sorgen.
kratie und mehr Aufgaben? Ist es das, was Sie wollen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nein, wir wollen das nicht. Sie fordern wieder einmal
das Verbandsklagerecht und den gesetzlichen Mindest- Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-
lohn. wertige Arbeit“ ist gesetzlich festgeschrieben. Grund-
sätzlich ist das ja auch gesellschaftlicher Konsens; aber
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: leider sieht die Realität anders aus. Die Erklärungen für
Das sind zwei wichtige Forderungen!) die ungleiche Entlohnung von Frauen sind natürlich viel-
(B) fältig – wir haben ja auch heute schon viele gehört –, wie (D)
Auch hier grüßt täglich das Murmeltier. zum Beispiel unterschiedliche berufliche Präferenzen
oder berufliche Unterbrechungen wegen Kindererzie-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hung. Das sind aber nur Erklärungen. Eine zentrale Ur-
sache ist die unterschiedliche und somit diskriminie-
Frau Pawelski, das Murmeltier hält jetzt auch Ihre rende Behandlung von Frauen im Berufsleben. Wir
Zeit an. sehen es also genauso wie die SPD: Das Verbot der Ent-
(Heiterkeit – Caren Marks [SPD]: Eine Mur- geltdiskriminierung ist vorhanden, was fehlt, ist ein Ver-
meltierrede!) fahren, wie die Entgeltgleichheit durchgesetzt werden
kann, und vor allem der politische Wille, etwas zu verän-
dern.
Rita Pawelski (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Danke, Frau Präsidentin. und bei Abgeordneten der SPD)
Ich denke, es ist wichtig, dass sich hier etwas entwi- Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung bringen keinen
ckelt. Dass sich etwas entwickelt hat, zeigt übrigens der Erfolg, liebe FDP. Wir wollen zwar die Betriebsräte und
Staat – es gibt hier ausnahmsweise einmal ein Lob an Personalräte stärken, aber auch in die Pflicht nehmen;
den Staat –: Im öffentlichen Dienst ist der Lohnunter- denn sie haben eine wichtige Schlüsselrolle inne. Vor al-
schied auf unter 8 Prozent zurückgegangen. lem aber brauchen wir gesetzliche Regelungen, damit
endlich Schluss ist mit der Lohndiskriminierung von
Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiges Frauen.
Thema. Ich glaube, das weiß jeder von uns.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Ko-
(Zurufe von der SPD) alitionsfraktionen, warum verdienen Teilzeitbeschäftigte
weniger als ihre Kollegen in Vollzeit? Natürlich deswe-
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Mur- gen, weil dort häufig Frauen arbeiten. Bei wem fransen
meltierschleife entzerrt und dass wir auch für Frauen an- die Löhne im Niedriglohnbereich besonders nach unten
ständige Löhne haben. aus? Natürlich bei den Frauen. In Ihrem Koalitionsver-
trag steht, Sie wollen die Lohnlücke zwischen Männern
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Frauen abschaffen. Dann tun Sie doch etwas.
Frau Kollegin! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
11662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Beate Müller-Gemmeke
(A) Machen Sie endlich den Weg frei für einen gesetzlichen Viele Frauen studieren gern Germanistik und (C)
Mindestlohn, für mehr branchenspezifische Mindest- Geisteswissenschaften, Männer dagegen Elektro-
löhne, für mehr allgemeinverbindlich erklärte Tarif- technik – und das hat dann eben auch Konsequen-
löhne, und reformieren Sie insbesondere die Minijobs! zen beim Gehalt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN So einfach ist das für die Ministerin.
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
Das fordert auch der Gleichstellungsbericht „Neue NISSES 90/DIE GRÜNEN – Markus Kurth
Wege – Gleiche Chancen“. Auch wenn die Ministerin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unmöglich! –
das Gutachten nicht persönlich entgegengenommen hat: Zurufe von der LINKEN)
Lesen sollte sie die Handlungsempfehlungen schon, und Das ist aber blanker Hohn in den Ohren vieler gut ausge-
vor allem sollte sie endlich tätig werden. bildeter und motivierter Frauen. Nicht die Frauen ent-
scheiden sich für die falschen Berufe, vielmehr muss der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“
sowie bei Abgeordneten der SPD)
durchgesetzt werden,
Die mittelbare Diskriminierung von Frauen ist kein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
einfaches Thema. Aber genau das geht die SPD zu Recht bei der SPD und der LINKEN)
an. Auch wir Grünen arbeiten an einem Konzept. Es geht
um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und um die damit die sogenannten Frauenberufe endlich aufgewertet
Kriterien, wie Arbeit bewertet wird. Fakt ist, dass hinter werden. So wird ein Schuh daraus, Frau Ministerin; denn
vermeintlich geschlechtsneutralen Formulierungen viel Frauen verdienen mehr.
zu häufig Kriterien stehen, die eindeutig zu Einkom- Vielen Dank.
mensunterschieden und somit zu Benachteiligungen von
Frauen führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
So wird beispielsweise bei frauendominierten Tätig-
keiten die Anforderung „soziale Kompetenz“ nicht be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wertet, in klassischen Männerberufen, zum Beispiel auf
Claudia Bögel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
dem Bau, wird aber die notwendige Muskelkraft beson-
ders hoch bewertet, hingegen werden die körperlichen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und psychischen Belastungen der Pflege wiederum igno- der CDU/CSU)
(B) riert. (D)
(Christel Humme [SPD]: Genau!) Claudia Bögel (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
Hier finden wir unsere Geschlechterrollen wieder, die di- nen und Kollegen! Verehrte Antragsteller der SPD!
rekt und indirekt in die Bewertung von Arbeit auf be-
(Caren Marks [SPD]: Antragstellerinnen!)
trieblicher Ebene und ebenso in Tarifverträgen einflie-
ßen. Die schlecht bezahlten Berufe sind eindeutig noch Ja, es stimmt: Der Grundsatz des gleichen Entgelts bei
immer Frauensache. Das muss endlich durch eine ge- gleicher Arbeit für Frauen und Männer ist seit 1957 in
schlechtsneutrale Arbeitsbewertung verändert werden. der Europäischen Union verankert. Meine Fraktion
würde dieser Tatsache nie widersprechen. Unser Gesell-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaftssystem steht hinter dieser Forderung, und sie ist
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Gesetz.
KEN)
Ihr Antrag lässt zwischen den Zeilen vermuten, dass
Warum bekommen Männer, die Baumaterial tragen, in Deutschland geltendes Recht verletzt wird. Das
mehr Lohn als Erzieherinnen, die quirlige Kinder tra- stimmt aber nicht.
gen? Warum verdienen in Bayern Kraftfahrer, die Bier
fahren, um die 2 600 Euro, Kellnerinnen aber, die Bier (Caren Marks [SPD]: Doch!)
schleppen, nur 1 900 Euro? Warum werden Hochschul- So erkennt der werte Leser Ihres Manuskripts sehr
sekretärinnen, obwohl von ihnen häufig die Kenntnis schnell, worum es geht. Sie möchten nämlich durch die
von zwei Fremdsprachen verlangt wird, wie Schreib- Hintertür einen flächendeckenden Mindestlohn ins Spiel
kräfte eingestuft? Ich frage also die Ministerin, die ja lei- bringen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Tarif-
der heute nicht da ist, wie sie den jungen Frauen erklären autonomie bekannt. Sie ist ein hohes Gut und ein unver-
möchte, dass sie sich zwar um die Jungs in der Gesell- zichtbarer Ordnungsrahmen.
schaft kümmern möchte, dass sie allerdings nichts, aber
auch gar nichts macht, um diese Einkommenslücke zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
verkleinern. der CDU/CSU)
Wir werden davon nicht abrücken. Ein einheitlicher ge-
Stattdessen schiebt sie sogar den Frauen selbst die
setzlicher Mindestlohn ist mit uns nicht zu machen.
Schuld in die Schuhe, dass sie so wenig verdienen. Ich
zitiere aus dem Spiegel-Interview vom 8. November (Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Na
2010: ja! Das hätte uns sonst auch enttäuscht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11663
Claudia Bögel
(A) Zurück zum vermeintlich eigentlichen Thema Ihres Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was (C)
Antrags: die Entgeltgleichheit. Frauen arbeiten häufiger Sie fordern, ist nichts weiter als die Schaffung einer
in Bereichen, in denen das Entgeltniveau niedriger ist. neuen bürokratischen Hürde.
(Caren Marks [SPD]: Aber warum?) (Zurufe von der SPD: Oh! – Caren Marks
[SPD]: Das Wort fehlte noch!)
Wir haben es heute schon häufiger gehört. Selbst bei
gleicher Qualifikation – so ist es halt im Moment noch – Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren:
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- … die Unternehmen werden aufgefordert, einer be-
NEN]: So ist es halt? Etwas ändern! – Zurufe hördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezi-
von der SPD) fisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
verdienen Frauen durchschnittlich 8 Prozent weniger als Form eines betrieblichen Entgeltberichts … vorzu-
ihre männlichen Kollegen; das ist richtig. Aber man legen …
muss sagen: Frauen arbeiten häufiger in Bereichen, in Na bravo!
denen das Entgeltniveau niedriger ist.
(Caren Marks [SPD]: Wir können das verste-
(Caren Marks [SPD]: Weil sie Frauen sind!) hen – im Gegensatz zu Ihnen! – Weitere Zu-
Man muss immer wieder feststellen, dass typische Frau- rufe von der SPD)
enberufe schlechter bewertet und bezahlt werden.
Sie fordern eine detaillierte expertengestützte Prüfung
(Caren Marks [SPD]: Hört! Hört!) mittels eines Lohnmessverfahrens. Sie wollen außerdem
eine Prüfung auf Verdachtsmomente.
Ich möchte hier alle Frauen aufrufen: Zeigen Sie
mehr Selbstbewusstsein! (Caren Marks [SPD]: Ja, zu Recht!)
(Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Allein das Wort „Verdacht“ sagt alles. Dies wäre ein
GRÜNEN und der LINKEN: Oh!) weiteres bürokratisches Monster. Gerade kleine und mit-
telständische Unternehmen würden darunter leiden.
Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel! Verhan-
deln Sie geschickt, damit Sie für gleiche Arbeit auch (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert
gleichen Lohn erhalten! [SPD]: Wir merken wenigstens, wo Ungerech-
(Mechthild Rawert [SPD]: Fragen Sie mal Ihre tigkeit herrscht!)
(B) Fraktion!) Zu unrühmlicher Popularität in 2011 könnte Ihre (D)
Seien Sie nicht mit niedrigen Löhnen einverstanden, und Wortkreation „Entgeltgleichheitskommission“ kommen.
orientieren Sie sich nicht an niedrigen Löhnen! Sie hätte große Chancen, zum Unwort des Jahres 2011
gekürt zu werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Da muss (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
man sich als Frau ja fremdschämen!) NEN]: So ein Unsinn! – Dagmar Ziegler
[SPD]: Das Unwort heißt „FDP“! – Caren
Gute Verdienstmöglichkeiten zeigen sich in den na- Marks [SPD]: Bei 3 Prozent!)
turwissenschaftlich-technischen Bereichen. Genau das
ist der Punkt. Schule, Wirtschaft und Verbände müssen
für jungen Frauen Anreize schaffen, Berufe wie bei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
spielsweise den des Ingenieurs zu erlernen. Gefordert Frau Kollegin.
sind hier vor allem die Unternehmen dieser Bereiche. Es
ist an ihnen, ihre Vorzüge und Chancen richtig zu ver- Claudia Bögel (FDP):
mitteln und im wahrsten Sinne des Wortes an die Frau zu
Ich bin sofort fertig. – Was sich aber dahinter verbirgt,
bringen.
ist nur wieder eine weitere Kontrollstelle, die die Unter-
Im Hinblick auf den demografischen Wandel geht es nehmen Unmengen an Geld kostet, frei nach dem Motto
dabei nicht um Sympathiepunkte. Hier zählen knallharte „Kontrollieren und Abkassieren“. Das machen wir nicht
ökonomische Gründe. Die Wirtschaft muss durch fle- mit.
xible Arbeitszeitmodelle und Möglichkeiten der betrieb-
lichen Kinderbetreuung ihren Beitrag dazu leisten, damit Vielen Dank.
Beruf und Familie zu vereinbaren sind. Dies wird zu ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nem echten Faktor im Wettbewerb, dem sich die Unter- der CDU/CSU)
nehmen in Deutschland stellen müssen – aber freiwillig.
(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
glaube, die FDP war damals auch gegen die Christel Humme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
Abschaffung von Kinderarbeit! – Monika tion.
Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
löst aber das Problem nicht!) (Beifall bei der SPD)
11664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Christel Humme (SPD): – Sie sagen Nein, aber Sie sagen nicht, was Sie dagegen (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- tun wollen.
nen! Liebe Frau Pawelski, in den letzten Jahren haben
(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Da hätten Sie ein-
wir leider feststellen müssen, dass die Lohnlücke in
fach mal zuhören müssen!)
Deutschland größer geworden ist, dass sie in West-
deutschland sogar auf 25 Prozent angewachsen ist. Ich Wenn ich mir anschaue, was die Frauenministerin an-
gebe zu: Auch ich habe einmal geglaubt – so auch im bietet, dann stelle ich fest: Sie hat tatsächlich 4,5 Mil-
Jahre 2001 –, wir könnten mit den Unternehmen eine lionen Euro in den Haushalt eingestellt. 4,5 Millionen
freiwillige Vereinbarung für mehr Lohngleichheit schlie- Euro – wofür? Für eine Homepage, von der man sich
ßen. Sie können auch gerne meine Äußerungen aus dem freiwillig ein Lohnmessverfahren herunterladen kann,
Jahr 2005 zitieren. Ich war immer davon überzeugt: Ja, das man freiwillig anwenden kann, und für ein Pro-
wenn wir mit denen eine Vereinbarung treffen, dann be- gramm für den ländlichen Raum, das vielleicht gar nicht
wegen die sich. – Aber genau das Gegenteil ist eingetre- so schlecht ist; denn da sind die Lohnunterschiede in der
ten. Von daher bin ich froh, dass wir jetzt den Beweis da- Tat größer.
für haben, dass Freiwilligkeit eigentlich nichts bringt.
Wir brauchen ein Gesetz. Aber warum hat sie ein solches Programm nicht auch
für andere Branchen aufgelegt, in denen die Lohnunter-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schiede größer als 23 Prozent sind? Schauen Sie sich die
DIE GRÜNEN) gesamte Kreativwirtschaft an. Da gibt es Lohnunter-
Frau Pawelski, Sie haben gesagt, Entgeltgleichheit ja; schiede von bis zu 38 Prozent. Ich denke, das können
das Murmeltier, das Sie jeden Tag grüßt, seien Sie schon wir letztlich nicht zulassen.
leid. Erschlagen wir es doch endlich. Sie haben gesagt, Wir können auch nicht zulassen, dass die Frauenmi-
Sie machen das. nisterin sagt, sie möchte in den nächsten zehn Jahren
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das ist Tierquäle- – man höre genau zu: in den nächsten zehn Jahren – die
rei!) Lohnlücke von 23 Prozent auf 10 Prozent senken. Die
freiwillige Vereinbarung ist zehn Jahre alt. Wir haben
Aber ich bezweifle, dass Sie wirklich einen Gestal- gerade gehört, wozu sie geführt hat.
tungswillen haben. Ich bezweifle das allen Ernstes; denn
wer zulässt, dass Frauen mit Niedriglöhnen abgespeist (Caren Marks [SPD]: Zu nichts!)
werden, und noch nicht einmal einen flächendeckenden Ich glaube, wenn wir solch ein zögerliches Ziel formu-
gesetzlichen Mindestlohn hinbekommt, dem fehlt doch lieren, Absenkung der Lohnlücke, dann kann daraus
(B) jeder Mut für weitere Regelungen und Veränderungen in nichts werden. Wir wollen die Abschaffung der Lohnlü- (D)
dieser Gesellschaft. cke und gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Ar-
(Beifall bei der SPD) beit.

Wir wollen uns mit den Ungerechtigkeiten, die es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gibt, nicht mehr abfinden. Sie haben in epischer Breite in der LINKEN)
verschiedenen Reden immer wieder erklärt, warum es Mit der Unverbindlichkeit, die Sie da an den Tag legen,
diese Ungerechtigkeiten geben müsse. Sie haben dabei schaffen Sie es noch nicht einmal, die Lohnlücke in den
auch die Teilzeitarbeit angeführt. Sagen Sie einmal: Fin- nächsten 100 Jahren um 1 Prozent zu senken.
den Sie es wirklich gerecht, wenn der Unterschied beim
Stundenlohn von Frauen und Männern in Teilzeitarbeit Frau Schön, Sie haben von der Staatsgläubigkeit der
knapp 4,40 Euro beträgt? SPD gesprochen. Das ist ja immer schnell ein Argument
gegen uns Sozialdemokraten: Sie wollen mehr Staat, und
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, das finde damit ist das alles schlecht. – Gleichzeitig sprechen Sie
ich nicht in Ordnung!) von Bürokratieaufbau. Ich wundere mich immer, gerade
Das hat mit Teilzeit und Vollzeit gar nichts zu tun, son- was die FDP angeht. Ich möchte Sie an Ihre Gesund-
dern das ist echte Diskriminierung von Frauen. heitsreform erinnern, an das Bürokratiemonster, was den
Sozialausgleich und die Berechnung der Zusatzbeiträge
Finden Sie es gerecht, dass eine Buchhalterin durch- betrifft.
schnittlich 816 Euro weniger verdient als ein Buchhal-
ter? (Beifall bei der SPD)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, das finde Da haben Sie alle zugestimmt. Wenn es um die Gleich-
ich auch nicht in Ordnung!) stellung von Frauen und Männern geht, dann bemühen
Sie das Argument der Bürokratie. Ich verstehe das nicht
Und – was viel schlimmer ist –: Finden Sie es gerecht, mehr.
dass Frauen im Laufe ihres Lebens 58 Prozent weniger
Einkommen haben als Männer und dass die Frauen es (Zurufe von der FDP)
sind, die das Armutsrisiko im Alter tragen? Finden Sie
das wirklich gerecht? Frau Schön, noch einmal ein Hinweis zur Staatsgläu-
bigkeit: Lesen Sie unseren Antrag sehr genau. Dann
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, ich finde es werden Sie feststellen, dass wir eine Vorstellung haben
ungerecht!) von einem Gesetz, das nicht den Staat in den Vorder-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11665
Christel Humme
(A) grund stellt, sondern die Akteure selbst, sprich: die Un- men, in die Familienphase gehen und dass sie in dieser (C)
ternehmen und Tarifvertragsparteien. Familienphase einen Erwerbsnachteil erleiden.
Wir wollen, dass mehr Transparenz herrscht. Wie (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
kann denn eine Frau etwas ändern wollen, wenn sie noch Auch Männer dürfen in die Familienphase ge-
nicht einmal weiß, wie die Bezahlung und die Ent- hen!)
geltstruktur ist? Und wie kann man das beseitigen? Man Gleichzeitig nehmen sie in Kauf, dass ihr berufliches
kann das doch nur über Mitbestimmung, über die Betei- Fortkommen nicht mehr wettgemacht werden kann. Das
ligung von Betriebsrat, Mitarbeitern und Mitarbeiterin- halte ich im Grunde für einen Skandal; denn das darf
nen machen. Anders wird es nicht gehen. Das hat doch doch wohl nicht sein. Eine Frau, die daheim bleibt, um
mit Bürokratie und Staatsgläubigkeit nichts zu tun. ihre Kinder zu erziehen, erbringt eine große Leistung,
Wenn auf diesem Gebiet nichts passiert, wenn dieser nicht nur für die eigene Familie, sondern für die gesamte
Prozess nicht stattfindet, dann müssen die Frauen ein Gesellschaft. Trotzdem wird sie benachteiligt. Die Leis-
Recht haben, zu klagen, und zwar als Verbandsklage, tung der Mutter wird von unserer Gesellschaft nicht ge-
nicht als Individualklage. bührend anerkannt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar


[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Soll die Fa-
Frau Kollegin.
milienministerin zu Hause bleiben? – Caren
Marks [SPD]: Also doch die drei K‘s: Kinder,
Christel Humme (SPD): Küche, Kirche!)
Denn das würde sie vielleicht den Arbeitsplatz kos-
– Wissen Sie, das ist mir einfach zu billig. Entschuldi-
ten. Ich denke, wir legen Ihnen ein Gesetz vor, mit dem
gung, Frau Kollegin, das ist ein dummer Spruch. Düm-
wir, Frau Pawelski, vielleicht das Murmeltier erschlagen
mer kann man es nicht mehr machen, tut mir leid.
bekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, das wollen [SPD]: Und Sie halten gerade eine dumme
wir nicht! Das muss nur aufwachen!) Rede!)
Danke schön. Das ist nämlich ein Allerweltsurteil, ein Totschlagargu-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ment. Damit wollen Sie Vorteile erzielen. Das können
DIE GRÜNEN) Sie aber nicht, weil die Menschen die Dummheit dieses
Arguments erkennen. Sie haben noch nicht begriffen,
(B) (D)
dass eine Frau, die daheim bleibt und Kinder erzieht,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eine große Leistung nicht nur für die Familie, sondern
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Geis für für die Gesellschaft erzielt,
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks
(Beifall bei der CDU/CSU) [SPD]: Doch, ich habe das sogar gemacht,
werter Herr Kollege! – Weitere Zurufe von der
Norbert Geis (CDU/CSU): SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und weil die Gesellschaft einen großen Nutzen daraus zieht.
Herren! Dass ich der letzte Redner bin, hat nichts mit der Die Gesellschaft hat einen großen Nutzen davon, dass
Diskriminierung der Männer zu tun, sondern bedeutet die Frau die Kinder daheim erzieht. Sie muss sich zum
die besondere Ehre, diese Debatte abschließen zu dürfen. einen nicht um die Kinderbetreuung kümmern, es kostet
Ich bedauere allerdings, dass Herr Beck nicht mehr da weniger Geld, und zum anderen dürfen wir davon ausge-
ist, der es für notwendig hielt, die Frau Ministerin her- hen – –
beizuzitieren. Unmittelbar nach dem Hammelsprung ist
er offenbar gegangen. So wichtig kann es ihm also nicht (Caren Marks [SPD]: Als Mutter von zwei
gewesen sein. Kindern müssen Sie mir das nicht sagen! –
Weitere Zurufe von der SPD – Beate Müller-
(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den vermis- Kommen Sie zurück zum Thema! Es geht um
sen Sie öfters!) Entgeltgleichheit!)
Auch Herr Gabriel fehlt. Hieran kann man eine Gewich- – Lassen Sie mich doch einmal in Ruhe ausreden. Sie
tung erkennen. lassen mir ja gar keinen Platz für meine Darlegungen.
Ich wollte eigentlich am Ende dieser Debatte gar nicht
Da meine Redezeit um zwei Minuten gekürzt worden
mehr zu einem solch lauten Disput aufrufen. Es muss
ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, den
doch möglich sein, sich dieses Argument einmal anzu-
ich jetzt anführe: Ich glaube, dass ein wesentlicher An-
hören.
teil daran, dass wir einen Unterschied von 23 Prozent
zwischen dem durchschnittlichen Erwerbseinkommen Ich glaube wirklich, dass die Leistung der Mutter von
der Frau und dem des Mannes haben, in der Tatsache be- unserer gesamten Gesellschaft – nicht nur von einer Par-
gründet ist, dass die Frauen, wenn sie Kinder bekom- tei – nicht richtig gewürdigt wird. In Wirklichkeit ist es
11666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Norbert Geis
(A) nämlich eine große Leistung. Deshalb müssen wir uns uns hierzu einiges einfallen lassen. Es muss möglich (C)
Gedanken darüber machen, wie wir die Nachteile aus- sein, dass die Frau trotz Beruf genug Zeit hat, sich ihren
gleichen können, die die Frau hat, die in die Familien- Kindern zu widmen.
phase geht und dadurch Nachteile im Erwerbseinkom- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
men und auch im Beruf hat. NEN]: Und auch der Vater! Die meisten Kin-
(Beifall bei der CDU/CSU) der haben auch einen Vater! – Caren Marks
[SPD]: Warum vergessen Sie den Vater im-
In diesem Zusammenhang ist das Elterngeld sicher- mer?)
lich eine große Hilfe. Wenn eine Frau aber länger in der
Familienphase bleibt und während dieser Familienphase In diesem Zusammenhang müssen wir uns überlegen
ein zweites Kind bekommt, dann bezieht sie Elterngeld – darauf kommt es an, auch wenn Ihnen das nicht gefal-
auf dem Niveau der untersten Stufe, dann bekommt sie, len mag –, ob die haushaltsnahen Dienstleistungen nicht
um in Ihrem „Wortgehege“ zu bleiben, einen Mindest- in größerem Maße absetzbar sein sollten. Warum soll
lohn von 300 Euro. Das ist zu wenig. Trotzdem haben eine Familie nicht einem kleinen Betrieb gleichgestellt
Sie sich dagegen gesperrt, dass die Frau das bekommt. werden? Der Betrieb kann die Kosten absetzen, die Fa-
milie aber nicht. Ich meine, dass dazu eine steuerrechtli-
Das finde ich schon sehr bemerkenswert. Dieser Aus-
che Regelung gefunden werden muss.
gleich für die Familienphase erscheint mir zu gering.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Außerdem möchte ich betonen, dass beim Wiederein- der FDP – Zuruf der Abg. Mechthild Rawert
stieg nach der Familienphase viel zu hohe Hürden zu [SPD])
überwinden sind. Die Kita ist in diesem Zusammenhang
sicher eine gute Einrichtung. Die Frau kann das Kind, Wenn Frauen in den Beruf zurückkehren – auch das
wenn es ein Jahr alt ist, in die Kita geben und kann ihrem ist zu sagen –, werden sie oft schlecht behandelt, weil
Beruf nachgehen. man ihnen vorwirft, dass sie nicht mehr das gleiche Wis-
sen wie ihre Kolleginnen und Kollegen haben, die nicht
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in der Familienphase waren. Das kann es aber nicht sein.
NEN]: Und der Mann kann das Kind auch in
die Kita geben!) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es geht um die Bezahlung!)
– Darauf komme ich noch zu sprechen.
Ich meine, an dieser Stelle muss man ein Benachteili-
Wir haben es aber noch nicht geschafft, dass Beruf gungsverbot vorsehen.
und Familie in Deutschland besser vereinbart werden
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
(B) können, was in anderen Ländern der Fall ist. GRÜNEN]: Das gibt es schon!) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wir haben ein solches Benachteiligungsverbot zum Bei-
der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE spiel im Betriebsverfassungsgesetz. Die Betriebsräte dür-
GRÜNEN]: Herr Geis, Sie reden am Thema fen, wenn sie in ihren normalen Beruf zurückkehren,
vorbei! – Caren Marks [SPD]: Thema ver- nicht benachteiligt werden. Das steht in § 78 des Betriebs-
fehlt!) verfassungsgesetzes. Eine ähnliche Regelung könnte ich
Ein Grund dafür ist, dass wir eine im internationalen mir für die Mütter vorstellen.
Vergleich niedrige Geburtenrate haben. Da nehme ich (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
durchaus Ihren Vorwurf auf: Ich bin der Meinung, dass NEN]: Und für die Väter!)
die Frau, die einen Beruf erlernt hat, das gute Recht ha-
ben muss, ihrem Beruf mit Familie nachzugehen. Darüber sollte man nachdenken.
(Caren Marks [SPD]: Und der Mann?) Danke schön.

Ich bin auch der Meinung, dass sich die Männer dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
partnerschaftlich verhalten müssen, was in einer guten Caren Marks [SPD]: Tosender Applaus!)
Ehe sicherlich der Fall ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich schließe die Aussprache.
Caren Marks [SPD]: Partnerschaften gibt es
auch außerhalb von Ehe!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5038 an die in der Tagesordnung aufge-
Sie müssen ihren Anteil dazu beitragen, dass Beruf und führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu sehe und
Familie auch für die Frau möglich sind. Das kann nicht höre ich keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
nur für den Mann gelten, sondern muss auch für die Frau so beschlossen.
gelten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis f so-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sehr gut!) wie Zusatzpunkt 3 auf:
Viele Frauen, die Kinder haben, arbeiten nicht Voll- 31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
zeit, weil sie Angst haben, dann keine Zeit mehr für die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
Kinder zu haben. Das behindert den Wiedereinstieg. Das serung des Austauschs von strafregisterrecht-
kann es nicht sein. Meiner Meinung nach müssen wir lichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11667
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Europäischen Union und zur Änderung regis- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin (C)
terrechtlicher Vorschriften Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/5224 –
Netzneutralität im Internet gewährleisten –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f) Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflich-
Innenausschuss tungen und Sicherung von Mindestqualitäten
gesetzlich regeln
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den – Drucksache 17/5367 –
Handel mit illegal eingeschlagenem Holz Überweisungsvorschlag:
(Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
– Drucksache 17/5261 – Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
zung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäi- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
schen Parlaments und des Rates vom 6. Mai überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der
2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für Fall. Dann ist das so beschlossen.
die innergemeinschaftliche Verbringung von
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis h auf. Es
Verteidigungsgütern
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
– Drucksache 17/5262 – denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 32 a:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Verteidigungsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
(B)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfas- (D)
rung des Übereinkommens vom 11. Oktober sungsgericht 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10
1985 zur Errichtung der Multilateralen Inves-
– Drucksache 17/5398 –
titions-Garantie-Agentur
Berichterstattung:
– Drucksache 17/5263 – Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
Überweisungsvorschlag: Schwenningen)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lung auf Drucksache 17/5398, in den Verfahren eine Stel-
lungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten,
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevoll-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschluss-
kommen vom 1. Dezember 2009 zwischen der
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Bundesrepublik Deutschland und der Islami-
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Fraktion
schen Republik Pakistan über die Förderung
Die Linke hat sich enthalten, die übrigen Fraktionen ha-
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla-
ben zugestimmt.
gen
Tagesordnungspunkte 32 b bis 32 h. Wir kommen zu
– Drucksache 17/5264 – den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Tagesordnungspunkt 32 b:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Sammelübersicht 242 zu Petitionen
rung gewerberechtlicher Vorschriften – Drucksache 17/5211 –
– Drucksache 17/5312 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Überweisungsvorschlag: tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nommen.
11668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Tagesordnungspunkt 32 c: Tagesordnungspunkt 32 h: (C)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 243 zu Petitionen Sammelübersicht 248 zu Petitionen

– Drucksache 17/5212 – – Drucksache 17/5217 –


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Koalitionsfraktionen haben dafür ge-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen. Die Sam-
stimmung durch SPD und Koalition. Dagegen hat die
melübersicht ist angenommen.
Fraktion Die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen
hat sich enthalten. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 5 auf:
Tagesordnungspunkt 32 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (22. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die
ausschusses (2. Ausschuss) Deutsche Welle
Sammelübersicht 244 zu Petitionen Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2010
bis 2013
– Drucksache 17/5213 –
– Drucksachen 17/1289, 17/1485 Nr. 3, 17/5260 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange- Berichterstattung:
nommen. Abgeordnete Reinhard Grindel
Ulla Schmidt (Aachen)
Tagesordnungspunkt 32 e: Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tabea Rößner
ausschusses (2. Ausschuss)
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, dass hierzu
Sammelübersicht 245 zu Petitionen eine Dreiviertelstunde debattiert wird. – Dazu sehe und
– Drucksache 17/5214 – höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
(B) sen. (D)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
und SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren da- Herrn Staatsminister Bernd Neumann für die Bundesre-
gegen. Die Sammelübersicht ist angenommen. gierung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Tagesordnungspunkt 32 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-
ausschusses (2. Ausschuss) kanzlerin:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Sammelübersicht 246 zu Petitionen
Deutsche Welle, unser Auslandsrundfunk, ist die media-
– Drucksache 17/5215 – le Visitenkarte Deutschlands in der Welt. Sie vermittelt
das Bild unseres Landes weltweit. Dazu gehört die Dar-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- stellung deutscher Sichtweisen und Interessen sowie be-
tungen? – Die Fraktion Die Linke und die Koalitions- sonderer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und
fraktionen haben dafür gestimmt, dagegen Bündnis 90/ Umweltschutz. Die Pflege und Förderung der deutschen
Die Grünen und SPD. Die Sammelübersicht ist ange- Sprache bleibt ein wichtiges Ziel.
nommen.
Wenn man weiß, dass ARD und ZDF für ihre Pro-
Tagesordnungspunkt 32 g: gramme jährlich etwa 8,3 Milliarden Euro zur Verfü-
gung haben,
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die sind auch
jeden Cent wert!)
Sammelübersicht 247 zu Petitionen
die Deutsche Welle dagegen mit 283 Millionen Euro im
– Drucksache 17/5216 – Jahr auskommen muss und damit Hörfunkprogramme in
30 verschiedenen Sprachen, ein 24-stündiges Fernseh-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
programm, ein attraktives Internetangebot und eine Aus-
tungen? – Dafür gestimmt haben Koalitionsfraktionen
bildungsakademie verantwortet, dann ist die Leistung
und Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke dagegen.
der Deutschen Welle gar nicht hoch genug zu bewerten.
Es gab keine Enthaltung. Die Sammelübersicht ist ange-
nommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11669
Staatsminister Bernd Neumann
(A) Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Mitarbeiterin- über die Zulieferung von Programmmaterial und den ge- (C)
nen und Mitarbeiter der Deutschen Welle und auch dem meinsamen Rechteerwerb sowie die Übernahme von
Intendanten Bettermann, der heute anwesend ist, einen ständigen Formaten berät und dies in Abstimmung mit
herzlichen Dank sagen. den beteiligten Intendanten auch beschließt. Dabei ist
die politische Unterstützung durch die Länder wichtig
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und unverzichtbar; sie sind in diesem Bereich auch zu-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ständig. Ich habe deshalb Kontakt mit dem Vorsitzenden
Aufgrund der rasanten technischen Entwicklung gibt der Rundfunkkommission der Länder – konkret: mit
es einschneidende Veränderungen in der Mediennut- Staatssekretär Stadelmaier – aufgenommen, um diese
zung. Damit der deutsche Auslandssender auch in Zu- Thematik alsbald gemeinsam erörtern zu können. Er-
kunft seinem Auftrag gerecht werden kann, ist eine freulich ist: Es wurde die Bereitschaft zugesagt, dazu
strukturelle Neupositionierung der Deutschen Welle un- beizutragen, zu besseren Ergebnissen zu kommen.
abdingbar. Dabei muss die Deutsche Welle in Zukunft (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
auf eine Stärkung des Internetangebots sowie auf regio- Ein guter Weg!)
nale fremdsprachige TV- und Audioangebote setzen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum letzten
Eine Reform der Angebots- und Verbreitungsstrategie Punkt. In meiner bisherigen, mehr als fünfjährigen
der Deutschen Welle ist geboten. Der Sender wird dabei Amtszeit konnte sich die Deutsche Welle auf konstante
immer wieder prüfen müssen, auf welchem Übertra- finanzielle Rahmenbedingungen verlassen. Ich habe die
gungsweg und mit welcher Sprache ein relevantes Publi- drastischen jährlichen Kürzungen der damaligen rot-grü-
kum gefunden werden kann; denn auf das kommt es ja nen Bundesregierung sofort beendet.
an. Die lineare Radioausstrahlung über Kurzwelle wird
mit Ausnahme weniger Regionen wahrscheinlich zu be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla
enden sein. Schmidt [Aachen] [SPD]: Das war aber unser
Vorschlag!)
Die von der Deutschen Welle vorgelegte Aufgaben-
planung, über die wir jetzt diskutieren, trägt diesen not- Das haben wir zusammen in der Großen Koalition ge-
wendigen Veränderungen in vollem Umfang Rechnung. macht.
Deswegen hat die Bundesregierung ihr auch zuge-
stimmt. Durch die Neupositionierung der Deutschen (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ein biss-
Welle entstehen Synergieeffekte, die sich auch finanziell chen war ja auch in der Großen Koalition nicht
auswirken. Wir werden etwaige frei werdende Mittel schlecht!)
(B) aber nicht einsparen, sondern im Haushalt der Deutschen Wir haben Sie, Frau Kollegin Schmidt, auf den Weg der (D)
Welle belassen, um dem Sender auch auf diese Weise zu-
Besserung geführt.
sätzliche Maßnahmen im Hinblick auf Programminno-
vationen und die Verstärkung der medialen Präsenz (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Es war
Deutschlands in der Welt zu ermöglichen. nicht alles schlecht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies soll auch in Zukunft nicht anders sein. Trotz der
drastischen Sparmaßnahmen im gesamten Bundeshaus-
Zur Verbesserung des Angebots der Deutschen Welle
halt im Umfang von 80 Milliarden Euro in der mittelfris-
können – so steht es im Übrigen auch in der Koalitions-
tigen Finanzplanung bis 2014 habe ich für meinen Be-
vereinbarung – öffentlich-rechtliche und private Medien-
reich entschieden, die Größenordnung des Haushaltes
unternehmen einen Beitrag leisten. Die Bundesregierung
der Deutschen Welle im Wesentlichen beizubehalten,
sieht es deshalb als ein sehr wichtiges Ziel an, die Ko-
obwohl er mehr als ein Viertel meines Etats ausmacht.
operation der Deutschen Welle mit ARD, ZDF und
Deutschlandradio entscheidend zu verstärken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt zum
Sehr gut!) Beispiel ein Blick nach Großbritannien, wo wegen der
Hierin liegt auch ein Schlüssel für eine mögliche Quali- Wirtschafts- und Finanzkrise Kürzungen beim Aus-
tätsverbesserung bei vertretbaren Kosten. landssender in der Größenordnung von 20 Prozent ge-
plant sind. Wir stehen zu unserem Ziel, die mediale Prä-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) senz Deutschlands in der Welt durch die Deutsche Welle
zu erhalten und möglichst zu verbessern.
Dabei könnte zum Beispiel an das Modell
German TV, das, soweit es die Programmbeschaffung Vielen Dank.
und die Planung anbelangte, durchaus erfolgreich war,
angeknüpft werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der


Vizepräsident Eduard Oswald:
FDP)
Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Als Nächste hat
Denkbar ist, wie bei German TV ein von ARD, ZDF und unsere Kollegin Ulla Schmidt von der Fraktion der So-
Deutscher Welle besetztes Gremium zu schaffen, das zialdemokraten das Wort.
11670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Derzeit wird uns durch die Freiheitsbewegungen in (C)
Vielen Dank, Herr Präsident! – Noch einmal herzli- der arabischen Welt ganz deutlich vor Augen geführt,
chen Glückwunsch von dieser Stelle aus, dass Sie jetzt wie enorm wichtig die Rolle einer vom Staat unabhängi-
unser neuer Präsident sind! gen Öffentlichkeit für die Entwicklung dieser Gesell-
schaften ist. Smartphones, Twitter und Facebook, aber
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: vor allem die mutigen Menschen in den arabischen Län-
Ja! Auch von uns! Das hat er verdient!)
dern tragen dazu bei, dass sich Freiheitsideen und Ge-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir erle- danken über Demokratie verbreiten können. Medien wie
ben heute täglich: Nichts ist globaler als der Austausch der Deutschen Welle kommt dabei eine ganz bedeutende
von Informationen und Nachrichten. Weil das so ist, ha- und wichtige Funktion zu. Wir vergessen zu leicht, dass
ben auch die Auslandsmedien eine ganz wichtige Auf- zwei Drittel der Menschen auf dieser Welt in Ländern le-
gabe: als Botschafter, als Wertevermittler und als Infor- ben, in denen es keine Informations-, Meinungs- und
mationsträger. Unsere Deutsche Welle spielt im großen Pressefreiheit gibt, wie sie für uns alltäglich sind. Diese
globalen Wettbewerb mit. Die internationale Medienpo- Menschen brauchen Unterstützung, und wir haben im
litik erfährt große Wertschätzung. Das sehen wir an der Ausschuss deutlich gemacht, dass wir sehr froh darüber
Zunahme der Zahl der Auslandssender. Ob der Iran, sind, dass wir durch die Präsenz der Deutschen Welle in
Russland, China, die USA oder eines von vielen weite- vielen Ländern, in denen es eine Pressezensur gibt,
ren Ländern: Heute versucht jeder, in dieser globalen durch die Möglichkeit einer umfassenden und pluralisti-
Welt, in der Weltöffentlichkeit seinen Platz zu finden schen Berichterstattung und durch Initiativen wie den
und für sein Land und seine Werte zu kämpfen, damit
Weblog Award „The BOBs“ und besonders auch durch
wir uns als Freunde in dieser Welt darstellen können.
die Deutsche-Welle-Akademie mit dazu beitragen kön-
Hillary Clinton hat in ihrem Parlament engagiert für nen, dass Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus
mehr Geld geworben und gesagt: Wenn wir nicht han- gefördert werden.
deln und wieder versuchen, eine Rolle zu spielen, sind
wir einem War of Information ausgesetzt. – Das hat Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem Inten-
nichts mit Krieg zu tun, sondern es geht einfach darum, danten Dank sagen, dass er gegen Zensur und gegen Ein-
im Kampf um die öffentliche Weltmeinung, im Kampf schränkungen der Pressefreiheit immer wieder das Wort
um Werte und um Demokratie seinen Einfluss geltend zu ergriffen hat. Das halten wir für richtig, und deshalb vie-
machen. Wenn man das so betrachtet, ist die Deutsche len Dank dafür!
Welle für uns eine ganz wichtige Stimme in dieser Welt-
öffentlichkeit. Sie ist das Instrument in diesem Spek- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
trum, das dazu beiträgt, dass wir ein wirklich positives und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
Deutschlandbild fördern können. Dafür herzlichen Dank
an die Deutsche Welle! Ich begrüße es, dass wir uns in der Stellungnahme da-
rauf einigen konnten, die Deutsche-Welle-Akademie
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP weiter zu fördern und uns gemeinsam dafür einzusetzen,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass notwendige ODA-Mittel dafür zur Verfügung ge-
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: stellt werden; denn ihr Wirken ist auch ein wichtiger
Auch von uns!) Beitrag zur auswärtigen Politik.
Die Stärkung dieses Instruments ist der Konsens un-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Welle
serer gemeinsamen Stellungnahme, und ich möchte
mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. hat einen schwierigen Reformprozess hinter sich, und sie
Wir haben eben vom Staatsminister gehört, dass bei der hat noch viele Herausforderungen vor sich. Es ist nicht
Deutschen Welle ein enormer Reformprozess notwendig einfach, Kostensteigerungen zu bewältigen, wenn der
ist, um in diesem globalen Wettbewerb mithalten zu Haushalt nicht wächst. Wir alle wissen, dass durch Re-
können. Es ist gut, wenn der Bundestag dahintersteht formen, wie sie in der Deutschen Welle notwendig sind,
und klarmacht, dass wir auf diese für uns wichtige auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen großen Verän-
Stimme in der Außenpolitik auch zukünftig nicht ver- derungsprozessen unterworfen werden. Das geschieht
zichten wollen. allein schon durch die Zusammenlegung von Online-,
Fernseh- oder Radioredaktionen.
Wenn wir unsere Beschlussempfehlung heute verab-
schiedet haben, sollten wir den Worten Taten folgen las- Deshalb hat die Sozialdemokratie, auch unsere Frak-
sen. Herr Staatsminister, ich kann Ihnen sagen, dass Sie tion, immer – auch in dieser gemeinsamen Stellung-
von unserer Seite die volle Unterstützung haben, wenn nahme – großen Wert darauf gelegt, dass diese Reform
es darum geht, die Deutsche Welle zu stärken. Sie haben sozialverträglich und transparent gestaltet wird, dass die
es gesagt: Sie ist unsere Visitenkarte in der Welt. Es ist Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle in
eine Visitenkarte in doppelter Hinsicht. In den Ländern, diesem Prozess als Partner auf Augenhöhe gesehen wer-
in denen es Nutzer der Deutschen Welle gibt, ist das Bild den und agieren können, dass sie ausreichend informiert
von Deutschland positiver und differenzierter. Aber die werden und dass es ausreichend Angebote zur Fort- und
Deutsche Welle hat auch eine andere Funktion. Sie ist
Weiterbildung gibt, um die Mitarbeiterinnen und Mitar-
Botschafterin gesellschaftlicher und kultureller Werte
wie Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit. beiter zu befähigen, auch in anderen Feldern weiterar-
beiten zu können; denn unser Ziel ist, dass betriebsbe-
(Beifall bei der SPD) dingte Kündigungen vermieden werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11671
Ulla Schmidt (Aachen)
(A) Ich fordere auch von dieser Stelle aus den Intendanten möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt erreicht. (C)
und die Gremienmitglieder, von denen einige im Deut- Dabei ist es egal, ob sie Meinungsmacher, Multiplikato-
schen Bundestag sitzen, auf – ich sehe den Kollegen Fritz ren aus der Bildungselite erreichen will, ob sie Unter-
Rudolf Körper aus meiner Fraktion dort sitzen, der ein nehmer erreichen will, die in Deutschland investieren,
sehr engagierter Verfechter der Rechte der Mitarbeiterin- ob sie junge Menschen erreichen will, die sich für
nen und Mitarbeiter ist; herzlichen Dank dafür –, dass sie Deutschland interessieren und vielleicht zu uns kommen
in diesem Prozess darauf achten, dass die notwendigen wollen, ob sie Touristen informieren oder mutige Frei-
Veränderungsprozesse sozialverträglich gestaltet werden. heitskämpfer unterstützen will.
Ich glaube, das sind wir, auch nach der gemeinsamen
Wir wollen, dass die Deutsche Welle auch weiterhin
Stellungnahme, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
uneingeschränkt den von ihr eingeschlagenen Weg ver-
der Deutschen Welle schuldig.
folgen und ihre Aufgabe der Unterstützung von Men-
An dieser Stelle danke ich der Deutschen Welle für schen, die für Freiheit kämpfen, gerade in den Transfor-
ihr Engagement in der Hinsicht, dass die Reform bzw. mationsstaaten, wahrnehmen kann. Deswegen sage ich
Umgestaltung der Deutschen Welle zukunftsgerecht auf der Deutschen Welle hier die uneingeschränkte Unter-
den Weg gebracht wird, um dem technologischen Wan- stützung durch die SPD-Fraktion zu.
del und dem veränderten Nutzerverhalten gerecht wer-
den und auch im internationalen Wettbewerb um die Ich bedanke mich.
Weltöffentlichkeit bestehen zu können. Ich nenne hier (Beifall bei der SPD, der FDP und dem
nur einige Stichworte: Zielgruppenausrichtung auf Infor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
mationssuchende und Multiplikatoren, mehrsprachige
Programme, Ausbau der Multiplattformstrategie, trime-
Vizepräsident Eduard Oswald:
diale Redaktionen. Ich glaube, das ist eine riesige Auf-
gabe, für die wir unseren Auslandssender stärken müs- Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. – Als
sen. Nächster steht unser Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
von der Fraktion der FDP auf der Rednerliste.
An dieser Stelle deshalb ein klares Wort: Für diese
Aufgaben – Herr Staatsminister, Sie haben es angespro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chen und Ihre Bereitschaft erklärt – braucht die Deutsche
Welle eine sichere finanzielle Basis. Sonst kann sie in Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
diesem Reformprozess nicht bestehen. Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister
Neumann! Sehr geehrter Herr Intendant Bettermann!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine russische Teil-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(B) nehmerin des Internationalen Parlaments-Stipendiums (D)
CDU/CSU)
erzählte mir, Herr Kollege Börnsen, neulich begeistert,
Herr Staatsminister, deshalb haben Sie unsere Unterstüt- wie sie die Programme der Deutschen Welle im
zung, wenn Sie nicht nur in Ihrem Haushalt, sondern Deutschunterricht ihrer Schule kennen- und schätzen ge-
auch gemeinsam mit den Ministern Westerwelle und lernt hat. Inzwischen spricht sie die deutsche Sprache
Niebel dafür Sorge tragen, dass das notwendige Geld da längst fließend und schätzt umso mehr die journalisti-
ist – schen Angebote der Deutschen Welle wie DW-TV und
das Internetportal DW-World.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr gut!)
Ihr Beispiel zeigt: Die Deutsche Welle wirkt, und sie
auch dann, wenn manche Reformen zunächst einmal
lebt, und das seit über 50 Jahren. Die Deutsche Welle er-
mehr Geld kosten, als sie einsparen –, damit langfristig
reicht mit ihren verschiedenen Angeboten wöchentlich
Synergieeffekte erzielt werden können. Das Geld dafür
86 Millionen Menschen – das ist mehr als die Einwoh-
muss da sein, wenn sich die Deutsche Welle langfristig
nerzahl Deutschlands – und gilt in Umfragen als vielfäl-
behaupten können soll.
tig und glaubwürdig. Darauf können wir stolz sein. Mit
In der kommenden Zeit müssen die Koalitionsfraktio- ihrem Auftrag zur Wertevermittlung orientiert sie sich an
nen ihren Worten deshalb auch Taten folgen lassen. Wir unseren außenpolitischen Interessen und bewahrt gleich-
werden darauf bestehen, dass die Deutsche Welle nach zeitig durch eine staatsferne Organisation ihre journalis-
dem Deutsche-Welle-Gesetz finanziert wird und dass die tische Glaubwürdigkeit.
Forderung, mehr ODA-Mittel zur Verfügung zu stellen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
umgesetzt wird.
Die Deutsche Welle ihrerseits hat mit ihrer Aufgaben-
Dabei kann man die Verantwortung nicht auf einzelne
planung und den darüber hinausreichenden Konzepten
Haushaltspolitiker schieben, sondern Sie müssen mit der
auf die veränderte Medienlandschaft reagiert und wird
Mehrheit, für die Sie sorgen müssen, entscheiden. Dabei
sich zukünftig noch mehr auf ihre Kernkompetenz und
haben Sie auf jeden Fall unsere Unterstützung.
ausgewählte Zielgruppen konzentrieren. Nach wie vor
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform und die besteht ein großes Finanzierungsdefizit – das wollen wir
entsprechende finanzielle Ausstattung sind ein Muss für nicht verheimlichen –, dem die Deutsche Welle mit Kon-
die Deutsche Welle, damit sie den gesamtgesellschaftli- solidierungsmaßnahmen wirksam begegnet und begeg-
chen Auftrag für Deutschland wahrnehmen und unsere nen wird. Da kaum weiterer Spielraum besteht, ist nun-
gesellschaftlichen Werte vermitteln kann und damit sie mehr eine umfassende Strukturreform erforderlich.
11672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Burkhardt Müller-Sönksen
(A) Die von der Deutschen Welle vorgeschlagene Neu- ihr ein zeitgemäßes Programm und zeitgemäße Übertra- (C)
ausrichtung ist zukunftsweisend und verdient unser aller gungswege!
Unterstützung und Respekt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Sie wird nicht von uns aufgezwungen, sondern stammt Vizepräsident Eduard Oswald:
aus dem eigenen Hause. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht un-
Meine Bitte um Unterstützung richte ich an dieser sere Kollegin Kathrin Senger-Schäfer von der Fraktion
Stelle aber auch an die Abgeordnetenkollegen in den Die Linke. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Bundesländern, damit schnellstmöglich ein Modell für (Beifall bei der LINKEN)
die lizenzkostenfreie Nutzung von Produktionen der öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entwickelt wird. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr gut! Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Richtig!) Kollegen! Die Deutsche Welle ist eine gemeinnützige
Anstalt des öffentlichen Rechts für den Auslandsrund-
Hier werden der Deutschen Welle nach meiner Meinung funk. Gesetzlich ist sie dazu verpflichtet, alle vier Jahre
völlig unnötig hohe Kosten aufgebürdet. eine Aufgabenplanung zu erstellen. Genau deshalb sind
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier,
dazu verpflichtet, zu dieser Planung selbst Stellung zu
Der Weg, den die Deutsche Welle mit ihren Reform- nehmen.
vorschlägen beschritten hat, ist noch lang und vor allem
Was bedeutet das nun für das Parlament bis 2013? Für
steinig. Damit der Umbau hin zu schlankeren und effek-
das Parlament waren – das ist schon öfter angesprochen
tiveren Strukturen gelingt, müssen alle Bereiche einbe-
worden – die Unabhängigkeit des Journalismus und die
zogen werden. Die erfolgreiche Programmarbeit beweist
Staatsferne des Rundfunks bislang zu Recht das Funda-
das Vertrauen zwischen der Senderführung – ich meine
ment für die Meinungsbildung mündiger Bürgerinnen
damit nicht nur die Intendanz, sondern alle Leitungs-
und Bürger. Beides soll nun allerdings auf einmal nicht
funktionen – und den Mitarbeitern. Wir haben deswegen
mehr gelten. Sie, meine Damen und Herren der Koali-
keine Sorge, Frau Kollegin Schmidt, bezüglich der So-
tion, fordern, dass die Deutsche Welle mit den Ministe-
zialverträglichkeit der notwendigen Maßnahmen. Aber
rien zusammenarbeitet, die für die deutsche Außenpoli-
(B) darauf sollte man in jedem Fall achten. Zur Qualität ge- tik zuständig sind, mit dem Auswärtigen Amt sowieso, (D)
hört auch, dass alle Mitarbeiter zufrieden sind.
aber auch mit dem Verteidigungs- und mit dem Wirt-
Auch bei dem Reformkurs bei der Programmgestal- schaftsministerium. Die Bedürfnisse der deutschen Au-
tung braucht die Deutsche Welle starken Rückenwind. ßenpolitik sollen sich mit den Möglichkeiten des Sen-
Wir Liberalen begrüßen dabei vor allem die Konzentra- ders verbinden. Bei den Schwerpunkten der medialen
tion auf Kernaufgaben. Wir wollen der Deutschen Welle Präsenz sollen außenpolitische Interessen beachtet wer-
sowohl in der Programm- als auch in der Verbreitungs- den. Im Klartext heißt das doch, dass die Journalistinnen
strategie einen Gestaltungsspielraum einräumen, damit und Journalisten augenscheinlich ihre Sendemanuskripte
sie die jeweilige Zielgruppe, auf die es uns ankommt, den genannten Ministerien vorlegen sollen.
bestmöglich erreichen kann. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war
Für uns ist das Angebot von 30 Sprachen kein früher so!)
Dogma. Ausgangspunkt soll immer die Erreichbarkeit Was aber hat das mit unabhängigem Journalismus zu
der avisierten Zielgruppe sein. Wichtig ist für uns die tun? Das fasse ich nicht. Erklären Sie es mir bitte! Zu-
Zielgruppe in den Kernregionen. Hier ist meiner Mei- sammenarbeit mit Ministerien, Verbindung von Bedürf-
nung nach eine neue Schwerpunktsetzung notwendig. nissen, Beachtung von Interessen, das ist doch nichts an-
Die Deutsche Welle bietet Hörfunk auf Griechisch an, deres als ein Eingriff in die journalistische Freiheit.
musste aber die Fernsehnachrichten für Afghanistan (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth
trotz sehr erfreulicher Quoten einstellen. Ich glaube, die- [Kyffhäuser] [FDP]: Ein interessantes Gesell-
ses Sprachregime gehört außenpolitisch auf den Prüf- schaftsbild haben Sie!)
stand.
Ich sage: Wenn Ministerialbeamte den Journalistinnen
Entsprechendes gilt für die Einstellung von Übertra- und Journalisten den Griffel führen, ist von journalisti-
gungswegen. Frau Kollegin Schmidt, Sie hatten gerade scher Freiheit keine Rede mehr. Frau Schmidt, journalis-
von Nutzern statt von Zuhörern oder Zuschauern gespro- tische Freiheit sieht für uns anders aus. Pressefreiheit und
chen. Durch diesen Versprecher – oder vielleicht war es unabhängiger Journalismus lassen sich nicht mit außen-
ja auch Absicht – haben Sie die neue Strategie der Deut- politischen Aufgaben, die von Ministerien diktiert wer-
schen Welle vorweggenommen. den, verbinden.
Die Deutsche Welle ist unsere Visitenkarte, unser (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Schaufenster über Deutschland in die Welt. Erlauben wir Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11673
Kathrin Senger-Schäfer
(A) Wenn ich außerdem lesen muss, dass die Bundesregie- (Beifall bei der LINKEN) (C)
rung die Deutsche Welle als „mediales Instrument zur
Positionierung Deutschlands angesichts veränderter Rah- Vizepräsident Eduard Oswald:
menbedingungen auf den internationalen Medienmärk- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächste hat unsere
ten“ betrachtet, dann kann ich kaum davon ausgehen, Kollegin Tabea Rößner von der Fraktion Bündnis 90/Die
dass es sich hier um einen sprachlichen Lapsus handelt. Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Rößner.
Sie reden wirklich davon, dass der Auslandsrundfunk ein
mediales Instrument ist. Sie reden darüber so, als hätten
Sie inzwischen Eingriffsrechte, als wäre es selbstver- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ständlich, den Journalistinnen und Journalisten staatli- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen
cherseits vorzuschreiben, was sie über das deutsche Aus- und Herren! Lieber Herr Bettermann! Der Staatsminister
landsbild zu berichten haben. Das finde ich unglaublich. hat schon das Bild von der „modernen medialen Visiten-
karte Deutschlands in der Welt“ gezeichnet. Eine Visi-
(Beifall bei der LINKEN) tenkarte, die alles leistet, was die Deutsche Welle als
Ich frage Sie: Welche Auffassung von Staatsferne Auslandssender laut Gesetz leisten soll, müsste ungefähr
schwebt Ihnen denn hier vor? Ich erinnere in diesem Zu- so aussehen: gedruckt auf schwerem Diplomatenkarton
sammenhang an den Fall Nikolaus Brender, der auf- mit schicker Prägung und Goldrand, Hologramm wo-
grund politischen Drucks vonseiten der CDU seinen Hut möglich, und auf Knopfdruck spricht sie den Text in
als ZDF-Chefredakteur nehmen musste. 30 Sprachen.
So ungefähr sehen die Aufgabenplanung der Deut-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir reden schen Welle und ihr Auftrag aus: Sie soll die Medienprä-
aber über die Deutsche Welle!) senz Deutschlands im Ausland sicherstellen, sie soll die
– Dazu komme ich gleich. – Ich erinnere auch daran, Positionen und Werte Deutschlands vermitteln, demo-
dass Ulrich Wilhelm, der Pressesprecher von Angela kratische Entwicklungen, einen rechtsstaatlichen Staats-
Merkel war, heute Intendant des Bayerischen Rundfunks aufbau in der Welt sowie die deutsche Sprache und Kul-
ist. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass das politische tur fördern. Zusätzlich soll sie auch noch einen wesent-
Geschrei 2008 um die angeblich tendenziöse China-Be- lichen Beitrag zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit leis-
richterstattung der Deutschen Welle nicht dazu beigetra- ten sowie den Tourismus fördern. Das ist ein ganz schön
gen hat, die Unabhängigkeit des Senders zu stärken. breites Portfolio. Natürlich ist das ein legitimer Wunsch
der Politik; aber die Deutsche Welle ist nicht der
Das, was die Bundesregierung hier auf den Tisch ge- Wunschbrunnen der Nation, sondern sie ist unser Aus-
legt hat, wird von SPD und Bündnis 90/Die Grünen un- landssender und trotz ihrer schwierigen Lage ein sehr
(B) terstützt. Das verstehe ich überhaupt nicht. guter. (D)
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Meine Fraktion fordert dagegen in ihrem Änderungsan-
CDU/CSU)
trag, dass der Deutschen Welle die journalistische Unab-
hängigkeit ohne Wenn und Aber garantiert wird. Das Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten hervor-
heißt konkret: keinerlei Vorschriften zur Zusammenar- ragende Arbeit, um alle Anforderungen zu erfüllen. Re-
beit mit Ministerien, keine Vorschriften zur Beachtung gelmäßig werden Programmbeiträge der Deutschen
von außenpolitischen Interessen, von niemandem. Welle mit Preisen ausgezeichnet. Die Journalistenausbil-
dung dort hat einen ganz ausgezeichneten Ruf. Aber die
Der Vorschlag von Schwarz-Gelb verstößt eindeutig
Politik macht es dem Sender mit den gesetzlichen Rah-
gegen das Deutsche-Welle-Gesetz. Ich zitiere aus § 4 a
menbedingungen nicht gerade leicht, wenn nicht gar un-
Abs. 1:
möglich, allen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu
Die Deutsche Welle erstellt in eigener Verantwor- werden; denn eines ist klar: Das Budget des Senders
tung unter Nutzung aller für ihren Auftrag wichti- steht in keinem Verhältnis zu der breiten Palette von An-
gen Informationen und Einschätzungen, insbeson- forderungen. Deshalb müssen wir uns sehr deutlich die
dere vorhandenem außenpolitischen Sachverstand, Frage stellen: Was soll und kann die Deutsche Welle für
eine Aufgabenplanung für einen Zeitraum von vier das Geld, das sie bekommt, tatsächlich leisten?
Jahren.
Mehr Geld? Das ist angesichts der Haushaltssituation
Auch Sie, meine Damen und Herren, müssen sich an unrealistisch und schwierig. Wenn man viel will, aber
dieses Gesetz halten. Wenn Sie jedoch inzwischen der nur wenig investiert, besteht immer die Gefahr, dass vor
Meinung sind, dass sich journalistische Unabhängigkeit allem eines darunter leidet: die Qualität. Im Fall der
und Staatsferne mit dem Begriff des „medialen Instru- Deutschen Welle wäre das vor allem die Qualität des
ments“ decken, dann müssen Sie mir einmal Ihre neue Journalismus oder der Ausbildung. Damit genau das
Definition von Rundfunkhoheit erklären. nicht passiert, hat der Intendant einige sehr vernünftige
Vorschläge vorgelegt, wie die Deutsche Welle zukunfts-
Die Linke jedenfalls wird dem vorliegenden Ent-
fähig gemacht werden kann.
schließungsvorschlag nicht zustimmen. Es ist nicht so,
dass nicht auch wir die Deutsche Welle wertschätzen, Es ist eine richtige Entscheidung, Schwerpunkte zu
aber wir stehen für unabhängigen Rundfunk ohne Wenn setzen, sowohl regional als auch im Hinblick auf das
und Aber. Programm, die Übertragungswege und die Zielgruppen,
11674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Tabea Rößner
(A) die der Sender erreichen will. Dabei setzt die Deutsche sich die Deutsche Welle ganz auf das konzentrieren, was (C)
Welle stark auf das Internet. Das wurde eben schon er- sie am allerbesten kann: journalistisch gut arbeiten.
wähnt. Sie passt sich also einer veränderten Mediennut-
zung in den allermeisten Teilen der Welt – das muss man Vielen Dank.
dazu sagen – an. Das ist richtig. Sie muss aber auch auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
passen, dass sie in den unendlichen Weiten des Internets sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
gut sichtbar und auffindbar ist. Gerade in Transforma- SPD und der FDP)
tionsstaaten wie jetzt im arabischen Raum – das haben
wir gesehen – oder in Schwellenländern sind die Men-
schen politisiert, sie wollen diskutieren. Dort muss die Vizepräsident Eduard Oswald:
Deutsche Welle zum Beispiel auch in sozialen Netzwer- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht –
ken präsent sein, interaktive Angebote machen und poli- er ist schon auf dem Wege hierher, also bevor er aufgeru-
tische Debatten multimedial begleiten. Positive Bei- fen wurde – Kollege Reinhard Grindel. Bitte schön, Kol-
spiele dafür gibt es bereits, zum Beispiel die Portale der lege Reinhard Grindel, für die Fraktion CDU/CSU.
Deutschen Welle in Farsi oder die Dialogplattform Qan-
tara. Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Lieber Herr neugewählter Präsident! Liebe Kollegin-
Tagesaktuelle Berichterstattung, zumal in Krisensitua- nen und Kollegen! Ich finde, dass die Entschließung, die
tionen, kann die Deutsche Welle mit ihrem Budget nur in
wir vorlegen, durch und durch ehrlich ist. Wir sagen
Ansätzen leisten. In diesem Zusammenhang bin ich sehr nämlich: Die Mittel für die Deutsche Welle werden sta-
froh über das eindeutige Signal, das von unserer Be- bil bleiben; aber es wird in den kommenden Jahren auch
schlussempfehlung ausgeht, dass nämlich die öffentlich- nicht viel mehr geben, und das ist eigentlich zu wenig,
rechtlichen Sender aufgefordert werden, enger mit der um all das zu leisten, was die Deutsche Welle leisten
Deutschen Welle zusammenzuarbeiten. könnte, leisten müsste. – Wenn man ehrlich ist, dann
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man sagen: Als wir das letzte Mal hier im Bundes-
und bei der FDP) tag über die Aufgabenplanung der Deutschen Welle ge-
sprochen haben, sind alle möglichen Prioritäten formu-
Herr Staatsminister, wenn Sie diesen Weg zusammen mit liert und Wünsche angemeldet worden. Mit all dem ist
den Ländern gehen, dann haben Sie unsere Unterstüt- die Finanzausstattung im Grunde nicht in Deckung zu
zung. Das betrifft die Übernahme von Sendungen aus bringen. Jetzt machen wir das, was die Mitarbeiter der
dem öffentlich-rechtlichen Programm, vor allem den Zu- Deutschen Welle und auch ihr Intendant erwarten kön-
(B) griff auf das Korrespondentennetz und die Infrastruktur. nen: Wir sagen, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollen. (D)
Ich hoffe, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen entgegen-
Der erste Schwerpunkt liegt bei den Übertragungswe-
kommend zeigen. Dies wäre nicht nur für die Deutsche
gen. In der Tat, die Zukunft der Deutschen Welle liegt im
Welle ein großer Gewinn.
Fernsehen, und bei DW-World, also im Onlineangebot.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Gerade in diesen Tagen erleben wir, dass die Kraft der
des Abg. Siegmund Ehrmann [SPD]) Bilder einfach durch nichts zu ersetzen ist. Wenn wir un-
sere Sicht auf die Probleme der Welt vermitteln wollen,
Die vorliegende Beschlussempfehlung soll meinem dann kommen wir nicht darum herum, bei der Auseinan-
Verständnis nach vor allem eine Wirkung haben: dem In- dersetzung auch auf die Wirkkraft der Bilder zu setzen
tendanten bei seinen Reformbemühungen den Rücken zu und dieses Medium besonders zu bedienen. Die große
stärken. Die Unruhe, die in der Deutschen Welle vorhan- Bedeutung der Onlineangebote ist hier schon genannt
den ist, wurde schon angesprochen. Diese Unruhe ist worden.
verständlich. Wenn eine große Umorganisation eines
Unternehmens geplant ist, dann sorgt das für Verunsi- Angesichts des Lobs, das vielfach gespendet worden
cherung der Beschäftigten, gerade wenn damit mögli- ist, will ich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass vor al-
cherweise der Abbau von Arbeitsplätzen verbunden ist. len Dingen DW-World in den letzten Jahren ein hervor-
Ich habe nach Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mit- ragendes Angebot präsentiert hat. Ich will darüber
arbeitern der Deutschen Welle die begründete Hoffnung, hinaus deutlich sagen: Dass das dortige Programm zu-
dass die Führungsebene und das Personal gemeinsam ei- nächst in englischer Sprache präsentiert wird, ist eben-
nen guten Weg gehen werden. Ein solcher Wandel kann falls richtig. Der zweite Schwerpunkt, den wir setzen, ist
nämlich nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen, nämlich, dass wir uns auf diejenigen Informations-
und zwar in eine Richtung. suchenden konzentrieren, die wir in erster Linie errei-
chen wollen: auf ausländische Multiplikatoren,
Unstrittig ist bei allen Beteiligten, dass sich die Deut- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sche Welle an die finanziellen und medienpolitischen
Gegebenheiten anpassen muss, damit sie ihre Aufgaben auf Menschen, die in Deutschland studiert haben, die
weiterhin erfüllen kann. Dabei können wir als Gesetzge- sich für Deutschland interessieren und die für demokrati-
ber sie unterstützend begleiten, indem wir ihr Aufgaben- sche Anregungen, für demokratisches Gedankengut, für
profil besser spezifizieren und auch priorisieren. Wir Stellungnahmen aus demokratischen Ländern offen sind,
sollten unsere mediale Visitenkarte etwas schlichter, da- die wissen wollen, wie wir die großen Herausforderun-
für aber klar und übersichtlich gestalten. Dann könnte gen der Welt bestehen wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11675
Reinhard Grindel
(A) Es ist eben nicht mehr der Deutsche im Ausland, auf Lassen Sie mich ein Letztes zur „Deutsche-Welle- (C)
den sich die Deutsche Welle konzentrieren muss; Akademie“ sagen. Ich finde das, was dort geleistet wird,
schließlich kann er in fast allen Ecken der Welt die Sen- unendlich wertvoll. Die anwesende Staatssekretärin aus
der, die ihn interessieren, über die Onlineangebote ver- dem Entwicklungshilfeministerium darf ich ermuntern,
folgen. Die Satellitentechnik ermöglicht es, viele deut- sich dort finanziell noch mehr zu engagieren.
sche Fernsehsender im Ausland zu empfangen. Der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Deutsche im Ausland wird von dem Informationsme-
der FDP sowie der Abg. Ulla Schmidt
dium bedient, auf das er sich auch in Deutschland stützt.
[Aachen] [SPD])
Insofern ist es eben der ausländische Multiplikator – der-
jenige, der sich im Ausland für Deutschland interessiert –, Es gibt manchmal die Diskussion über die Frage: Dürfen
den wir in erster Linie erreichen wollen. Deswegen ist es wir Journalisten aus Diktaturen, die bei Staatssendern ar-
richtig, das Angebot von DW-World auf Englisch zu prä- beiten, ausbilden? Ich bekenne mich ausdrücklich dazu:
sentieren. Ja, auch die wollen wir ausbilden;
Drittens sollten wir Schwerpunkte in bestimmten Re- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gionen setzen. Wir können nicht alle Regionen in glei- Richtig!)
cher Weise bedienen, sondern wir müssen Schwerpunkte denn es macht Sinn, dass ihnen gezeigt wird, wie demo-
setzen. Dabei handelt es sich – das muss man gerade in kratischer Journalismus funktioniert. In den Wochen, in
diesen Tagen nicht besonders begründen – um den arabi- denen sie in der Akademie sind, soll ihnen ein bisschen
schen Raum, um Afrika, um Lateinamerika und, wie wir Freiheit um die Nase wehen. Vor allen Dingen sollen sie
ausdrücklich sagen, um Russland. Es handelt sich nicht einen Austausch mit anderen Journalisten aus Ländern
um Südosteuropa und die anderen osteuropäischen Län- mit einer freien Presse bzw. Meinungsfreiheit haben, um
der. Das heißt wohlgemerkt nicht – das ist in manchen sich ein bisschen abzuschauen, wie es sein kann, wenn
öffentlichen Debatten ein bisschen durcheinander gegan- man ohne Zwang und Zensur seiner Profession nach-
gen –, dass wir auf Sprachen verzichten würden. Wir geht. Insofern sage ich ausdrücklich: Es ist auch in Ord-
bleiben bei dem Sprachenangebot – den 30 Sprachen – nung, wenn die Deutsche-Welle-Akademie Journalisten
im Internet. aus Diktaturen ausbildet; denn das kann dazu führen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass demokratischer Geist in diese Sender – auch wenn
sie dem Staat gehören – einzieht.
Aber gerade was unsere Fernsehangebote angeht, setzen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wir Schwerpunkte. Das ist auch richtig.
Der Deutschen Welle und ihren Mitarbeitern herzli-
(B) Ich meine übrigens – das ist vielleicht ein neuer Ge- (D)
chen Dank. Ich sage natürlich auch dem Staatsminister
danke –, dass wir auch bei unseren Fernsehangeboten re- herzlichen Dank dafür, dass er die Deutsche Welle nicht
gionsspezifische Sendungen brauchen. In Bezug auf die zum Steinbruch seines Kulturhaushalts gemacht, sondern
zentrale Informationssendung Journal der Deutschen sie gestärkt hat. Das ist wichtig, und das ist gut für unser
Welle können heute journal oder die Tagesthemen nicht Schaufenster in die Welt.
die Benchmark sein. Ein Koalitionsstreit ist schon beim
heute journal nicht schön; aber im DW-Journal hat der Herzlichen Dank.
überhaupt nichts verloren; denn die Menschen im arabi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schen Raum, in Afrika oder Lateinamerika interessiert
das nicht. Die interessiert – gerade in Asien –, wie wir
die erneuerbaren Energien nutzen und welche wirt- Vizepräsident Eduard Oswald:
schaftlichen Antworten wir auf die Finanz- und Welt- Vielen Dank, Kollege Reinhard Grindel. – Als Nächs-
marktkrise geben. ter spricht unser Kollege Patrick Kurth für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth.
Ganz aktuell wäre zum Beispiel von Bedeutung, dass
wir breit über die Fußballweltmeisterschaft der Frauen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
berichten, dass wir auch berichten, dass Frauen und
Mädchen gerade mit Migrationshintergrund in unseren Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Vereinen ein ganz normaler Teil der Gesellschaft sind Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
und sich hier – ob mit oder ohne Kopftuch – verwirkli- ren! Herr Staatsminister! Hallo, Frau Grütters! Herr
chen. Staatsminister, wir alle haben eigenständig – nicht von-
einander abgeschrieben – ein Zitat in unsere Reden ein-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gestreut, nämlich dass die Deutsche Welle die mediale
der FDP sowie der Abg. Ulla Schmidt Visitenkarte Deutschlands ist. Wenn das so viele unab-
[Aachen] [SPD]) hängige Institutionen sagen, muss tatsächlich etwas da-
ran sein.
Insofern erwarte ich, dass nicht nur zur Primetime das
Journal in der entsprechenden Sprache gesendet wird; Ich will einige ergänzende Gedanken vortragen. Die
die auf die meiste Akzeptanz stößt, wir sollten auch Deutsche Welle ist auch ein ganz wichtiger Akteur in der
überlegen, dass unser Angebot im Fernsehbereich für auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie ist eine
Asien ein anderes sein muss als für Afrika oder Latein- Botschafterin und eine Diplomatin Deutschlands im
amerika. Ausland. Somit gehört auch sie in starkem Maße – das
11676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Patrick Kurth (Kyffhäuser)


(A) dürfen wir nicht vergessen – zur Außenpolitik Deutsch- Ich glaube, man muss darüber nachdenken, ob die (C)
lands. Sie ist vorrangig im Ausland aktiv. Programminhalte bei der Deutschen Welle nicht viel
stärker auf das ausgerichtet werden können, was bei den
Deswegen ist es nur richtig, dass das vorgelegte Kon- öffentlich-rechtlichen Sendern ohnehin vorhanden ist.
zept zur Neuausrichtung des Senders auch auf die Netz- Ich denke an Die Sendung mit der Maus – im Ausland,
werkbildung abstellt. Uns fällt öfter auf, dass die deut- auf Deutsch –, Löwenzahn, Trickfilmserien, Sketchsen-
schen Netzwerke im Ausland nicht funktionieren. dungen oder Ähnliches. Das meine ich nicht im Scherz.
Unterschiedliche Institutionen sind im Ausland vor Ort, Ich glaube, dass wir darüber die Attraktivität der Deut-
kommunizieren aber wenig miteinander. Das wollen wir schen Welle im Ausland für Ausländer stärken und inso-
ändern. Das ist notwendig. Deswegen ist es auch richtig, fern auch für die deutsche Sprache etwas leisten können.
dass es zum Beispiel zu einer stärkeren Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksam-
menarbeit, mit dem Bundeswirtschaftsministerium, mit keit.
dem Verteidigungsministerium und eben auch mit dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Auswärtigen Amt kommt.
Es ist schon seltsam, wenn hier so stark der Vorwurf Vizepräsident Eduard Oswald:
der Staatsnähe erhoben wird. Es sagt auch viel über Ihr Vielen Dank, Herr Kollege. – Der Letzte auf unserer
Gesellschaftsbild, über Ihr Bild von einer Gesellschafts- Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kol-
ordnung aus, lege Wolfgang Börnsen für die Fraktion CDU/CSU. –
Bitte schön, Kollege Wolfgang Börnsen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Über Ihres
auch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
wenn Sie glauben, dass unabhängige Journalisten, die
bei der Deutschen Welle arbeiten, plötzlich in Kadaver-
gehorsam verfallen, nur weil nach der Konzeption auch Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
mit den Ministerien zusammengearbeitet werden soll, Herr Präsident Oswald! Verehrte Kolleginnen und
die im Ausland aktiv sind. Ich kann Ihnen sagen: Wir Kollegen! Im Mai 1953 ging die Deutsche Welle erst-
sind hier in einem freien Land. Die Journaille ist frei und mals auf Sendung. Es war einer Ihrer Kollegen, Theodor
bleibt es auch bei der Deutschen Welle. Heuss, der ein rein deutsches 3-Stunden-Programm er-
öffnete. Er plädierte damals für eine Entkrampfung der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Außenbeziehungen der jungen Bundesrepublik, für eine
bei Abgeordneten der SPD) mediale Brücke zu den Deutschen im Ausland. Von Be- (D)
(B)
ginn an verstand sich die Deutsche Welle als Stimme der
Bei der Neuausrichtung müssen wir natürlich beach- Freiheit. Heute, fast 60 Jahre später, hat sich die Aufga-
ten, dass die Deutsche Welle in den letzten 10, 15 Jahren benstellung ebenso gewandelt wie der Stellenwert der
eine Entwicklung mitgehen musste, die die gesamte Me- Deutschen Welle. Aber der Freiheitssender ist sie geblie-
dienlandschaft durchlebt hat, und dass es gerade im Aus- ben. Gut so!
land – Kollege Grindel hat darauf hingewiesen – ein ver-
ändertes Konsumentenverhalten gibt. Die Deutschen im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Ausland versammeln sich nicht mehr allabendlich vor bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
den Rundfunkempfangsgeräten und hören die Deutsche NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Welle, um Nachrichten aus der Heimat zu erhalten. Man Heute steht der Rundfunk im weltweiten Wettbewerb
kann jetzt fast überall auf der Welt heute.de, tages- mit 24 anderen Staaten. 1992 gab es nur zwei weitere
schau.de oder sogar regionale Programme wie das Thü- Fernsehstationen, nämlich BBC World und CNN. Jetzt
ringen Journal empfangen kommt die mediale Konkurrenz nicht mehr aus Europa
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Thüringen, oder Nordamerika allein; mit Macht melden sich Russ-
ja!) land, die arabischen Staaten und besonders die Volksre-
publik China auf der Weltbühne der Meinung.
und ist dann bestens informiert.
Das sind Länder mit anderen Weltanschauungen,
Ich glaube vor allen Dingen, dass wir nicht nur dieje- Länder mit anderen Wertvorstellungen, Länder, die auf
nigen für das Angebot interessieren müssen, die zum die Freiheit nicht achten, die den Parlamentarismus
Beispiel einmal als Ausländer hier in Deutschland wa- missachten, Länder, die Menschen- und Bürgerrechte in
ren. Mir scheint sehr wichtig zu sein, auch an diejenigen die Ecke stellen; die Deutsche Welle setzt dagegen. Gut
zu denken, die ein Interesse an der deutschen Sprache so!
haben, die ihre Kenntnisse der deutschen Sprache viel-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
leicht wieder auffrischen wollen, die über die deutsche
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Sprache mehr wissen möchten oder die dabei sind, die
SES 90/DIE GRÜNEN)
deutsche Sprache zu lernen. Viele von uns schauen sich
englische Nachrichten an, um so ihren englischen Wort- Sie ist unser mediales Fenster. 86 Millionen Men-
schatz zu erweitern. Entsprechend kann man sagen, dass schen weltweit erfahren wöchentlich durch sie unsere
man im Ausland über die Deutsche Welle aktiv an der demokratischen Werte. 86 Millionen Menschen werden
deutschen Sprache Anteil haben kann. über Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit in unse-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11677
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) rem Land informiert. 86 Millionen Menschen werden Die Haushälter repräsentieren das Parlament. (C)
über die Wirkung der sozialen Marktwirtschaft unter-
richtet. 86 Millionen Menschen erhalten einen Eindruck (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Herr Grund
hat das richtig gesagt! – Beifall bei der CDU/
davon, was made in Germany praktisch bedeutet. Die
Deutsche Welle bringt ein breites Bild über den Lebens-, CSU und der FDP)
Kultur- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Das nützt – Ich bin doch noch gar nicht fertig. Das gilt für die
uns als Exportnation, das dient der Reputation unseres Haushälter aller Fraktionen,
Landes. Gut so!
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Besonders für
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Herrn Koppelin!)
FDP)
die hinter den Überlegungen von Jürgen Koppelin stan-
Doch die Konkurrenz schläft nicht. Sie rüstet massiv den. Nur durch deren Rückenstärkung konnte er jetzt
auf. BBC World erhält jährlich 293 Millionen Euro. hier diesen bedeutenden Auftritt haben.
Washington investiert 570 Millionen Dollar. Russland hat
(Heiterkeit)
seine Ausgaben verdreifacht. Dem chinesischen Aus-
landsrundfunk stehen nach Auskunft von Experten 6 Mil- Ganz ernsthaft, Herr Koppelin: Damit wird dokumen-
liarden Dollar zur Verfügung. Und wie ist es bei uns hier tiert, dass das Parlament zu seinem Auslandsrundfunk
in Deutschland? Über Jahre wurde unser Auslandssender steht.
– das muss ich Ihnen leider sagen – unter Außenminister
Fischer der Steinbruch für den Bundeshaushalt. Es han- (Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen]
delte sich um fast 70 Millionen Euro. Von den radikalen [SPD])
Kürzungen der rot-grünen Jahre hat sich der Sender bis Damit wird auch dokumentiert, dass das Parlament um
heute nicht erholt. Die Wende kam mit Staatsminister die Wirkung des Senders und um die Qualität der Mitar-
Bernd Neumann. beiter weiß. Wir wissen: Der Auslandsrundfunk ist eine
Werbung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
die deutsche Gesellschaft. Dieser Auslandsrundfunk ist
ruf von der CDU/CSU: Gut so! – Zuruf von
nicht ersetzbar. Er braucht nach unserer Auffassung eine
der FDP: Er lebe hoch!)
Zukunft. Deshalb sage ich Dank für die Mittel aus dem
Derzeit beträgt der Bundesbeitrag 375 Millionen Euro. Haushaltsausschuss.
Von den globalen Minderausgaben wurde der Sender
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgenommen. Das hat dem Sender 30 Millionen Euro
(B) gebracht. Aus dem Konjunkturprogramm II erhielt der Ich gebe meinen beiden Vorrednern recht, dass es zu (D)
Sender 7 Millionen Euro, zusätzlich erhielt er von 2008 Reformen kommen muss. Doch wenn es zu Reformen
bis 2011 eine Erhöhung seines Budgets von 4 Millionen kommt, dann dürfen weder der Standort Bonn noch der
Euro jährlich. Standort Berlin Verlierer der Reform werden. Was die
Kompetenz, die Reputation und die Qualität angeht, ist
Vizepräsident Eduard Oswald: die Deutsche Welle für die Zukunft durchaus kraftvoll
aufgestellt. Darüber hinaus sprechen sieben Pluspunkte
Herr Kollege Börnsen, wenn Sie einmal kurz durch-
für Deutschlands Außensender:
schnaufen würden: Der Kollege Koppelin hat eine Zwi-
schenfrage an Sie. Motivierte Mitarbeiter und eine hohe Qualität der Be-
richterstattung mit Erik Bettermann, der heute mehrfach
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): genannt wurde. Er hat heute einen besonders guten Tag.
Durch ihn und sein Team gibt es eine Intendanz mit
Für den Schleswig-Holsteiner bin ich gern bereit,
Kompetenz und diplomatischem Durchsetzungsvermö-
Herr Präsident. Auch für andere.
gen. Es gibt eine Sendeleistung in 30 Sprachen, wobei
die Kernbotschaft in deutscher Sprache ist, und das ist
Vizepräsident Eduard Oswald: gut für 20 Millionen Menschen, die weltweit Deutsch
Gut. – Bitte schön, Herr Kollege Koppelin. lernen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Lieber Kollege Börnsen, ich schließe mich dem Lob eine Akademie mit exzellenter Ausbildung. – Das alles
an den Staatsminister gern an. Darf ich fragen, ob das spricht für die Deutsche Welle.
Lob auch für die Haushälter der Koalition gilt, die sich Ein achter Pluspunkt könnte dazukommen, nämlich
dafür eingesetzt haben? dann, wenn aus der losen Kooperation mit ARD und ZDF
eine echte Zusammenarbeit wird, aber wirklich auf Au-
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): genhöhe. Das brauchen wir in Zukunft. Am kurzen Zügel
Jürgen Koppelin, das gilt ganz besonders für das Par- darf die Deutsche Welle nicht gehalten werden. Mehr
lament. Programmüberlassung, mehr Nutzungsrechte für Aus-
strahlungen im Ausland und eine Einbindung des Korres-
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch für Jürgen pondentennetzes würden die weltweite Wirkung deutlich
Koppelin!) verbessern.
11678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


(A) Um Nägel mit Köpfen zu machen, plädieren wir für Überweisungsvorschlag: (C)
die Einrichtung einer Bund-Länder-Rundfunkkonfe- Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
renz. Dem Staatsminister danken wir dafür, dass er hier- Haushaltsausschuss
für das richtige Gespür hatte und, wie er sagte, bereits
die ersten Gespräche mit den Ländervertretern aufge- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
nommen hat. Auch die Länder müssen wissen: Es nützt Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, wei-
dem gesamten Land, wenn wir den Auslandsrundfunk terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
stärken. Das stärkt den Wirtschaftsstandort, das stärkt NIS 90/DIE GRÜNEN
die Arbeitsplätze, das stärkt die Exportnation, das stärkt
Transparenz schaffen – Verbindliches Register
letzten Endes insgesamt unsere Stellung in der Welt. für Lobbyistinnen und Lobbyisten einführen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
– Drucksache 17/2486 –
Aber: Wir erwarten eine Partnerschaft auf Augen- Überweisungsvorschlag:
höhe. Dazu muss es kommen. Deshalb braucht dieser Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Sender – das ist heute auch praktiziert worden – die Un- Geschäftsordnung (f)
Innenausschuss
terstützung des gesamten Parlamentes. Ich bedanke mich Rechtsausschuss
bei allen, die mit dazu beigetragen haben, und bei den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Autoren aus meiner Fraktion und auch aus der FDP-
Fraktion, die eine kluge, gewissenhafte und ehrliche Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Vorlage erarbeitet haben. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Herzlichen Dank und Glück auf für die Deutsche
Welle! Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
unser Kollege Raju Sharma von der Fraktion Die Linke. –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bitte schön, Herr Kollege.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ich schließe die Aussprache.
Raju Sharma (DIE LINKE):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und und Kollegen! „Ich danke den Wählerinnen und Wäh-
Medien zu der Unterrichtung durch die Deutsche Welle lern für ihr Vertrauen“ ist ein oft zitierter Satz nach Wah-
(B) über ihre Aufgabenplanung 2010 bis 2013. Der Aus- len. Tatsächlich ist Vertrauen die Grundlage von Politik; (D)
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf denn Wähler vertrauen darauf, dass wir ihre Interessen
Drucksache 17/5260, in Kenntnis der Unterrichtung auf wahrnehmen. Transparenz ist dafür die Grundlage.
Drucksache 17/1289 eine Entschließung anzunehmen. Durch Politik nach dem Motto „Was schert mich mein
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegen- Geschwätz von gestern“, ein Satz, der Konrad Adenauer
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist zugeschrieben wird, leidet das Vertrauen der Bürger in
angenommen. die Politik. Es ist bereits jetzt schwer beschädigt. Die
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Folgen sind Wahlenthaltung, Flucht in außerparlamenta-
rische Aktivitäten und vieles mehr.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Abge- Auch mangelnde Transparenz ist ein Grund dafür. Be-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE kannt ist der Fall Hennenhöfer. Er leitete unter der Um-
weltministerin Angela Merkel die Abteilung Reaktor-
Einführung eines verpflichtenden Lobbyisten- sicherheit, wechselte dann als Lobbyist zu Eon, beriet
registers die Betreiber von Asse II und arbeitet heute wieder als
oberster Aufseher in der Atomabteilung des Umweltmi-
– Drucksache 17/2096 – nisteriums.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ich möchte noch einige Beispiele nennen: Auch wenn
Geschäftsordnung (f) die Kolleginnen und Kollegen von der FDP das nicht
Innenausschuss gerne hören, muss ich an die Sache mit Mövenpick erin-
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nern; das ist natürlich nicht vergessen. Ein ähnliches
Beispiel, das alle Parteien hier im Hause außer unserer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael trifft, ist die Gauselmann-Spende. Dann ist daran zu er-
Hartmann (Wackernheim), Sören Bartol, Sabine innern, dass 100 Lobbyisten zwischen 2004 und 2006 in
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und Ministerien Gesetze schrieben und damit nicht etwa die
der Fraktion der SPD Interessen der Bürger, sondern die ihrer Unternehmen
Mehr Transparenz beim Einsatz externer Per- verfolgten. Im hessischen Innenministerium war ein
sonen in der Bundesverwaltung – Bericht des Mitarbeiter des Flughafenbetreibers Fraport mit Geneh-
Bundesrechnungshofes vollständig umsetzen migungsverfahren für den Flughafen befasst. Die
Barmer-Chefin Birgit Fischer, SPD, wechselt demnächst
– Drucksache 17/5230 – nahtlos an die Spitze des Pharmaverbandes vfa.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11679
Raju Sharma
(A) Christian Weber, ehemals Spitzenlobbyist der privaten Solche Meldungen beschädigen das Vertrauen in die (C)
Krankenversicherungen, ist nun Abteilungsleiter im Politik, und sie beschädigen die Demokratie. Das Lob-
Bundesgesundheitsministerium. Daher ist es doch kein byistenregister kann daher nur der erste Schritt zu mehr
Wunder, dass viele Menschen glauben, dass Politik käuf- Transparenz sein.
lich sei.
Wie wir heute über Schranken für Lobbyisten reden,
(Beifall bei der LINKEN) brauchen wir auch einfache demokratische und transpa-
rente Regeln zu Parteispenden, zum Parteisponsoring.
Zu unserem Antrag. Das Einhalten von Wahlverspre-
All das haben wir in Arbeit. Da müssen wir weiterma-
chen kann nicht gesetzlich erzwungen werden, aber
chen. Den ersten Schritt können wir heute gehen. Dafür
Transparenz kann gesetzlich geregelt werden. Die Linke
bitte ich um Ihre Zustimmung.
hat deshalb einen Antrag zur Einführung eines verpflich-
tenden Lobbyistenregisters eingebracht, in dem Auftrag- Vielen Dank.
geber und Honorare veröffentlicht werden und in dem es
Informationen zu Leihbeamten gibt. Außerdem sollen (Beifall bei der LINKEN)
klare Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen werden. Das
ist zwar keine revolutionäre Großtat, aber es wäre eine Vizepräsident Eduard Oswald:
notwendige Mindestregelung, die der Haushaltausschuss Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht
2008 einstimmig beschlossen hat, die die OECD von Kollege Bernhard Kaster für die Fraktion der CDU/
Deutschland fordert und die vom Bundesverfassungsge- CSU.
richt angemahnt wird. Für dieses Mindestmaß an Trans-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
parenz bohrt die Linke seit Jahren dicke Bretter. Inzwi-
schen sind die Grünen und sogar die SPD mit vernünf-
tigen Initiativen gefolgt. Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
(Beifall bei der LINKEN – Volker Beck und Kollegen! Viele von uns haben häufig Schülergrup-
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir pen zu Besuch oder besuchen Schulklassen, um Politik
hatten schon letzte Wahlperiode dazu eine Ini- und Abgeordnetentätigkeit zu erläutern. Ich habe mir
tiative, Herr Kollege! – Michael Hartmann vorgenommen, beim nächsten Mal, wenn es darum geht,
[Wackernheim] [SPD]: Wir auch!) den Begriff des Schaufensterantrags zu erläutern, genau
– Es hat schon seinen Grund, liebe Kollegen von den diesen Antrag zum Lobbyistenregister vorzustellen;
Grünen und von der SPD, warum ich heute als Erster denn er ist ein sehr gutes Beispiel für einen Schaufens-
sprechen darf. Das hängt einfach damit zusammen, dass terantrag; das ist Populismus pur.
(B) (D)
wir dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist Quatsch! –
(Beifall bei der LINKEN) Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da
täuschen Sie sich!)
Ich muss den Kollegen von Union und FDP noch eine
Frage stellen: Warum wehren Sie sich eigentlich dage- Es wurde nach einem ganz einfachen Rezept verfah-
gen, Verflechtungen von Lobbyisten und Politik offen- ren: Man nehme einen möglichst negativ besetzten Be-
zulegen, damit Bürgerinnen und Bürger beurteilen kön- griff – in diesem Fall Lobbyist oder Lobbyismus –, man
nen, wer mit welchen Interessen an einem Gesetz zeichne ein düsteres Bild und präsentiere eine scheinbar
mitgeschrieben hat? ganz einfache Lösung in dem Wissen, dass die Öffent-
lichkeit die Parlamentswirklichkeit im Detail nicht
Bei Lebensmitteln muss klar sein, welche Farb-, kennt. Genau darauf setzt man. Der Antrag zum Lobby-
Aroma- und Konservierungsstoffe enthalten sind. Dann istenregister beinhaltet erstens ein bürokratisches Mons-
kann der mündige Verbraucher selbst entscheiden, ob er ter.
beispielsweise einen Erdbeerjoghurt mit Farbstoff oder
einen Quark mit Aromastoffen essen will. Er muss nur (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das sagen Sie
vorher wissen, was drin ist. So, wie jetzt auf der Packung immer, wenn Ihnen etwas nicht gefällt!)
von manchen Müslis „Achtung! Dieses Nussmüsli kann Zweitens entspricht er überhaupt nicht der parlamentari-
Spuren von Nüssen enthalten!“ aufgedruckt ist, sollten schen Wirklichkeit – er ist nämlich gar nicht umsetzbar –,
die Bürgerinnen und Bürger künftig den Hinweis be- und drittens wird damit das eigentliche Ziel, wenn es
kommen: Dieses Gesetz zur Laufzeitverlängerung kann denn eine Berechtigung hätte, überhaupt nicht erreicht.
Beratungselemente von Eon, RWE und Vattenfall ent-
halten. Alle vorliegenden Anträge zu diesem Punkt basieren
auf einem Zerrbild über die Arbeitsweise des Deutschen
(Beifall bei der LINKEN) Bundestages. Ein solches Zerrbild muss von allen
Aber es gibt auch Lobbyisten, mit denen wir sehr 621 Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses zurückge-
gerne zusammenarbeiten. Dazu gehört LobbyControl. wiesen werden.
LobbyControl hat auf vieles zu Recht hingewiesen, zum
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Beispiel darauf, dass für die EU-Richtlinie zu Managern
alternativer Investmentfonds gut 1 500 Änderungsan- Ich will dies auch begründen. Der Antrag der Fraktion
träge eingebracht worden sind. Rund die Hälfte davon Bündnis 90/Die Grünen wird im Kern mit dem Vorhan-
kam direkt aus den Schreibstuben der Finanzindustrie. densein von schwarzen Schafen, Korruption und Beste-
11680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Bernhard Kaster
(A) chung begründet. Er enthält also einen Generalverdacht Was die Arbeitspraxis unseres Parlaments angeht, so (C)
gegen den Deutschen Bundestag. Bestechung und Kor- bin ich persönlich der Auffassung, dass wir alle mitei-
ruption werden jedoch – ich denke, da sind wir uns hier nander – ob Regierungsfraktionen oder Oppositionsfrak-
im Hause einig – mit Strafrecht bekämpft und nicht mit tionen – durchaus sehr stolz auf den Deutschen Bundes-
irgendwelchen Registern oder Listen. tag sein können; denn dies ist ein Arbeitsparlament, in
dem viele Kolleginnen und Kollegen sich im Rahmen ei-
Aber jetzt zu der Frage: Welcher Lobbyismus soll hier nes Berichterstattersystems spezialisiert haben und daher
bekämpft oder besser kontrolliert werden? In Ihren An- die Debatten auch auf hohem Niveau stattfinden. Das ist
trägen machen Sie richtigerweise deutlich, dass die nicht unbedingt die Tradition in allen Parlamenten.
Übergänge zwischen richtig wahrgenommener Interes-
senvertretung in einer pluralistischen Gesellschaft und Deswegen muss auch ein Wort zum Selbstverständnis
mit unzulässigen Mitteln massiv manipulierter Interes- unseres Parlaments und zum Selbstverständnis, was das
sendurchsetzung fließend sein können. Die Wirklichkeit Abgeordnetenmandat angeht, gesagt werden.
ist doch die, dass jede Kollegin, jeder Kollege im gutge- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, eben!)
meinten Sinne des Wortes Lobbyist, Bürgerlobbyist,
Vertreter von Interessen seines Wahlkreises oder auch Mit wem ich als Abgeordneter Gespräche führe oder
seines gesellschaftspolitischen Hintergrundes ist. Genau nicht, mit wem ich in Kontakt treten will oder nicht, ent-
diese Vielfalt von Interessen muss dann zu richtigen Ab- scheide ich als freier Abgeordneter und ohne irgendwel-
wägungen führen. Das führt dann letztlich auch zu guter che Regulierungen über Listen.
Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alles Ver- Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
harmlosung!) Wer will das bestreiten? – Jerzy Montag
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bestreitet
Ich will jetzt zur Praxis kommen. Ich erinnere mich das? – Zuruf von der LINKEN: Das soll auch
daran, dass wir hier im Plenum einmal die Änderung des so bleiben!)
Schornsteinfegergesetzes beraten haben. Da sind viele
Kollegen von Verbandsvertretern angesprochen worden, Der Deutsche Bundestag hat bereits seit 1972 ein
und zwar von Verbandsvertretern aus dem Bereich des Lobbyistenregister. Der Bundestagspräsident führt eine
Schornsteinfegerwesens und von Verbandsvertretern des öffentliche Liste, in die sich Verbände eintragen lassen
Heizungsinstallationshandwerks. Deren Interessen wa- können, um ihre Interessen gegenüber dem Bundestag
ren durchaus unterschiedlich. Es war für die Kollegen oder der Bundesregierung zu vertreten. Zu den Angaben
durchaus wissenswert, verschiedene Positionen zu einer – das sind sehr viele – gehören Name und Sitz des Ver-
(B) Gesetzesänderung zu erfahren. So funktioniert das, und bandes, die Zusammensetzung von Vorstand und Ge- (D)
so ist das auch richtig. schäftsführung, sein Interessenbereich, Mitgliederzahl,
die Anzahl der angeschlossenen Organisationen, die Na-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hätten Sie men der Verbandsvertreter. Das Ganze wird ständig ak-
nicht in die Liste aufnehmen müssen!) tualisiert. Der Eintrag in diese Liste ist vor allem eine
Voraussetzung für die Teilnahme an Anhörungen.
Sie werden wahrscheinlich sagen, hier geht es nicht
um Schornsteinfegerverbände oder Handwerksverbände. Zum Thema Transparenz: Diese Liste ist zudem im
Internet und im Bundesanzeiger veröffentlicht. In der
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!) bereits bestehenden Liste sind über 2 000 Verbände re-
Hier müssen die üblichen Verdächtigen ran. Das ist dann gistriert. Hierzu bedarf es wirklich keiner weiteren Er-
die Pharmaindustrie. Das sind Energiekonzerne. Das ist gänzung, bedarf es nicht eines solchen Schaufensteran-
die Rüstungsindustrie usw. trages, der auch nicht praktizierbar ist. Er sieht ein
bürokratisches Monster vor. Außerdem sollen die Anga-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau! Richtig!) ben alle drei Monate aktualisiert werden. Wir wissen
Ein solches Bild wird hier gemalt. doch alle, mit wem wir sprechen, wer uns gegenüber-
sitzt, und wir wissen auch, richtig abzuwägen.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, egal über
(Raju Sharma [DIE LINKE]: Dann sagen Sie
welchen Lobbyismus wir sprechen; wir müssen zur
zweiten Frage kommen: Können Interessen, die vorge- es den Leuten!)
bracht werden, tatsächlich von Abgeordneten unbemerkt Es kommt ja nicht darauf an, mit wem man spricht, son-
und wissentlich mit nicht korrekten Mitteln durchgesetzt dern es kommt darauf an, wie man mit den Dingen um-
werden? Damit sind wir wieder bei der Parlamentspraxis geht.
hier im Haus.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann kann man
Wir haben die erste, zweite, dritte Lesung. Wir haben das mit den Gesprächen besser prüfen!)
Beratungen in fraktionsinternen Arbeitsgruppen. Wir ha-
Die Übergänge zwischen gutem oder schlechtem Lobby-
ben Beratungen in den Ausschüssen. Wir haben Anhö-
ismus sind fließend.
rungen auf der Basis von Minderheitenrechten. Wir ha-
ben hier immer den Streit zwischen verschiedenen Inte- Deswegen fasse ich zusammen: Die Fraktionen im
ressen, die abzuwägen sind und über die wir als Abge- Deutschen Bundestag – und da schließe ich ausdrücklich
ordnete entscheiden. die Oppositionsfraktionen mit ein – wissen sehr wohl
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11681
Bernhard Kaster
(A) mit Lobbyinteressen umzugehen, sowohl im Guten wie Zum anderen sage ich, dass wir unbedingt mehr Trans- (C)
auch im Schlechten. Das kann das deutsche Parlament. parenz beim Einsatz Externer in den Ministerien benöti-
Das muss das Selbstverständnis des deutschen Parla- gen.
mentes sein. Deswegen bedarf es keiner weiteren Ergän-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
zung der bereits bestehenden Liste.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
Das ist wichtig, um unmissverständlich klarzuma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen, dass unser Land nicht von Lobbyisten regiert wird,
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir nehmen sondern dass immer noch der Deutsche Bundestag und
bei der nächsten Besuchergruppe Ihre Rede als die von ihm gewählte Bundesregierung die Geschicke
Beispiel für eine Schaufensterrede!) dieses Landes in der Hand haben.
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Man merkt es
Vizepräsident Eduard Oswald: nicht!)
Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. – Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege An die Kolleginnen und Kollegen der Union gerich-
Michael Hartmann. – Bitte schön, Kollege Michael tet: Wir waren übrigens bei diesem Thema einmal sehr
Hartmann. weit, und zwar in der letzten Wahlperiode. Im Innenaus-
schuss hatten wir uns – sehr geehrter Herr Dr. Uhl, Sie
(Beifall bei der SPD) erinnern sich – schon fast auf einen Antrag verständigt,
der für den Einsatz Externer strengere Regeln definieren
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): wollte. Das Vorhaben wurde leider auf den letzten Me-
Sehr geehrter Herr Präsident! An Ihr Gesicht hat man tern ausgebremst. Ich will damit sagen: Auch Sie waren
sich schnell gewöhnt. so weit, und ich glaube, auch die Kollegen der FDP
– Herr Stadler hat jetzt auf der Regierungsbank Platz ge-
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und nommen – haben eingesehen, dass Handlungsbedarf be-
Kollegen! Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege steht. So ist es auch.
Kaster, ich fand das sehr gut, was Sie eingangs erwähn-
ten, Um nicht missverstanden zu werden: Beim Einsatz
Externer ist zwischenzeitlich eine Menge geschehen,
(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) und zwar deshalb, weil infolge eines Berichts des Rech-
nämlich die Idee, einmal Schulklassen mit diesem Thema nungshofes und unserer parlamentarischen Aktivitäten
zu konfrontieren. Denn gerade Schulklassen – das erlebe mittlerweile halbjährlich im Haushaltsausschuss und im
(B) ich bei Schulklassen aus unterschiedlichen Regionen Innenausschuss über Art und Umfang des Einsatzes von (D)
und unterschiedlichen Jahrgängen – empfinden das Externen berichtet wird. Und siehe da: Seither ist die
Thema durchaus als ein brennendes. Man bekommt ge- Zahl der externen Beschäftigten in erheblichem Maße
legentlich schon die Frage gestellt, ob unsere Republik zurückgegangen. Demnach war der parlamentarische
eine gekaufte Republik ist. Druck gut, notwendig und keineswegs überflüssig. Las-
sen Sie uns auf diesem Weg weitergehen; denn Hand-
(Dr. Eva Högl [SPD]: So ist es! – Bernhard lungsbedarf besteht nach wie vor.
Kaster [CDU/CSU]: Sie müssen die richtige
Antwort geben!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Das ist eine Ansicht, die wir beide nicht teilen wer- Das will ich Ihnen gerne begründen. Damit kein
den. Weil aber dieses Bild in der Welt ist, müssen wir Missverständnis entsteht: Ich denke da – sehr geehrter
auch fragen, warum es in der Welt ist. Deshalb, sehr ge- Herr Ruppert, Sie werden noch die Chance haben, zu
ehrter Herr Kaster, sage ich Ihnen gleich zu Beginn: Es antworten, und auch Sie, Herr Schuster – auch an frühere
geht nicht darum, dass das Vorbringen von Interessen als Regierungen, auch an Regierungen, an denen Sozialde-
illegitim gebrandmarkt wird. Interessen sollen auf uns mokraten beteiligt waren. Das sage ich ausdrücklich.
einströmen. Es geht vielmehr darum, dass die versteckte Jetzt sind wir aber in einer Phase, in der sich vieles ver-
und damit nicht transparente Einflussnahme schärfstens bessert und verändert hat. Eine Ausnahme bilden jedoch
zurückgewiesen oder aber offengelegt werden muss. zwei Ressorts, und zwar ausgerechnet FDP-geführte
Ressorts und ausgerechnet im Zusammenhang mit dem
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BDI.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Warum, frage ich Sie, sind über zwei Jahre hinweg
Wir reden bei diesem Thema schließlich nicht über externe Beschäftigte, die weiterhin vom BDI bezahlt
eine Nebensache und auch nicht über eine Randfrage, werden, ausgerechnet im Bundesministerium für wirt-
sondern am Schluss reden wir über das Selbstverständnis schaftliche Zusammenarbeit und ausgerechnet im Aus-
von Staat, Politik und öffentlicher Verwaltung. Deshalb wärtigen Amt tätig? Stellen Sie das ab! Machen Sie Ih-
sage ich zum einen ausdrücklich: Auch wir als SPD sind ren Einfluss auf die Regierung geltend, meine Damen
der Meinung, dass wir endlich ein verbindliches Lobby- und Herren!
istenregister brauchen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN –
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Serkan Tören [FDP]: Das hätten Sie vorher ab-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellen müssen!)
11682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Michael Hartmann (Wackernheim)


(A) – Sie meinen, deshalb besteht diese Verpflichtung für Sie Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): (C)
nicht mehr? Das zeigt, dass Sie ein ganz falsches Parla- Weil ich Sie so eingeschätzt habe, habe ich eingangs
mentsverständnis haben, sehr geehrter Herr Kollege von eine lobende Bemerkung gemacht, Herr Präsident.
der FDP. Das ist aber kein Wunder. Von Herrn Brüderle
haben wir ja gelernt, dass BDI und FDP sehr eng beiein- Vizepräsident Eduard Oswald:
ander sind. Ich habe es so verstanden. Vielen Dank, Herr Kollege
(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Na ja!) Hartmann.
Durch diese Berichte haben wir in der Tat ein Loch ge-
stopft; allerdings sind andere dadurch aufgetaucht. Durch Ernst Hinsken (CDU/CSU):
einen neuen Bericht des Bundesrechnungshofs sind wir in Ich bedanke mich dafür, dass ich die Frage stellen
der letzten Woche belehrt worden, dass sich die Externen darf, Herr Präsident. Ich stelle sie gerne, weil ich den
nun nicht mehr in den Ministerien ausbreiten, sondern ex- Kollegen Hartmann sehr schätze.
terner Rat nun freihändig, ohne Beschluss, ohne Informa- Herr Kollege Hartmann, einer der größten Lobbyisten
tion des Parlaments und immer wegen einer angeblichen in der Bundesrepublik Deutschland ist der ehemalige
Dringlichkeit eingeholt wird. Ich nenne Ihnen nur drei Vorsitzende und jetzige Ehrenvorsitzende der SPD, der
Beispiele: ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Erstes Beispiel. Kanzleien haben ein Protokoll einer (Serkan Tören [FDP]: Den kennt er nicht!)
Sitzung des Verkehrsausschusses getätigt. Warum?
Er ist nach meiner Information bei Gazprom als Lobby-
Zweites Beispiel. Eine Kleine Anfrage an die Bundes- ist beschäftigt. In welche Kategorie würden Sie ihn ein-
regierung wurde von einer Kanzlei beantwortet und nur ordnen?
pro forma von dem zuständigen Ressort.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
20 000 Euro! Dafür beantworte ich auch ein Erstens. Herr Schröder war nicht mehr im Amt, als er
paar Anfragen!) diese Funktion übernommen hat.
Ich nenne ein drittes Beispiel: Von dem staatlichen (Zurufe von der FDP)
Bankenrettungsfonds, SoFFin, wurden freihändig, ganz
nebenbei und ohne Beschluss Aufträge an Kanzleien Zweitens. Wenn wir über Herrn Schröder reden, fällt
vergeben. Einer dieser Kanzleien gehört übrigens ein mir der frühere hessische Ministerpräsident ein. In
Frankfurt wird gerade ein Flughafen ausgebaut. Nun ist
(B) früherer Fraktionsvorsitzender von Ihnen an, der sich Herr Koch in ein entsprechendes Unternehmen gewech- (D)
nun in der Privatwirtschaft breitgemacht hat.
selt. Dort wird er gut bezahlt; er wird bestimmt auch ei-
Entspricht das einem konservativen oder liberalen nen guten Job machen. Bei aller Wertschätzung warne
Staatsverständnis? Hoffentlich nicht! Wir können also ich davor, die Debatte so zu führen. Ich habe vorhin ganz
gemeinsam feststellen, dass noch Handlungsbedarf be- bewusst auch frühere Regierungen erwähnt, an denen
steht. Ein probates Mittel ist die sogenannte legislative wir beteiligt waren. Wenn wir ein Pingpongspiel nach
Fußspur, die wir ebenfalls fordern. Dazu werden wir hier dem Motto „Wer ist der Größere?“ spielen, verschandeln
noch weitere Anträge einbringen. wir das Selbstverständnis des Parlaments.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der SPD – Sebastian Blumenthal
[FDP]: Das war Ihr Beitrag!)
Uns sollte die Einsicht einen – das sage ich zum
Schluss –, dass wir jeden Anschein, dass Deutschland Ich will, dass wir als Parlament allen, die Lobbyismus
eine gekaufte Republik ist, vermeiden müssen. Deshalb betreiben, die Rote Karte zeigen. Machen Sie einfach
müssen wir an den Stellen, an denen ein solcher, unberech- mit.
tigter Vorwurf angedockt werden könnte, entsprechend
agieren. Das Parlament sollte in diesem Zusammenhang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
selbstbewusst agieren. Es geht um die Selbstheilungs- DIE GRÜNEN)
kräfte der parlamentarischen Demokratie. Es ist Gefahr
im Verzug. Nehmen Sie unsere Anträge ernst. Das sind Vizepräsident Eduard Oswald:
keine Schaufensteranträge. Lassen Sie uns im Interesse Vielen Dank, Kollege Michael Hartmann. – Als
des Parlaments gemeinsam arbeiten. Nächster spricht unser Kollege Dr. Stefan Ruppert für
die Fraktion der FDP.
Nun will ich gerne noch eine Frage des Kollegen
Hinsken beantworten. – Entschuldigung, Herr Präsident. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald: Dr. Stefan Ruppert (FDP):


Eigentlich ist die Redezeit beendet. Ich meine aber, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
angesichts der Bedeutung dieser Debatte sollte der Kol- ren! Wie so oft komme ich als junger Abgeordneter in
lege Ernst Hinsken seine Frage stellen, nachdem der eine Debatte und erhoffe mir, ein ernstzunehmendes und
Kollege Hartmann dies erlaubt hat. – Bitte schön, Kol- schwieriges Problem auch entsprechend behandelt zu se-
lege Ernst Hinsken. hen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11683
Dr. Stefan Ruppert
(A) (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist doch hier wohl ressen wahrnimmt, und einer anderen, der auftraggeben- (C)
der Fall!) den Person, die sagt, was er zu tun hat. Das ist doch ein
völlig unterkomplexes Bild davon, wie hier Entschei-
Wir alle haben den Eindruck, dass sich die erste Ge- dungen getroffen werden. Es ist doch nicht so, dass ein-
walt in diesem Staat, das Parlament, in einer gewissen zelne Personen Aufträge von anderen entgegennehmen,
Legitimationskrise befindet. Wir haben immer wieder sondern es sind Interessen aus der Mitte der Gesell-
den Eindruck, dass der Deutsche Bundestag bei den Bür- schaft, die hier institutionell verfestigt uns gegenüber ar-
gern nicht das Ansehen genießt, das ihm eigentlich laut tikuliert werden. Das ist auch gut so. Wir sollten nicht
Verfassung zusteht. zwischen Menschen in Auftragsverhältnissen und Ge-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat werkschaften, Kirchen, Umweltverbänden und anderen
Gründe!) unterscheiden.
Wir haben den Eindruck, dass die Menschen in andere (Beifall bei der FDP)
Gewalten, beispielsweise die Judikative, vertreten durch
Das führt meiner Meinung nach dazu, dass es den nega-
das Bundesverfassungsgericht, sehr viel mehr Vertrauen
tiven Geruch klassenkämpferischer Ideen bekommt.
setzen als in den Deutschen Bundestag. Wir haben den
Eindruck, dass die Menschen auch sehr viel mehr Ver-
trauen in einzelne Ministerien setzen als in den Deut- Vizepräsident Eduard Oswald:
schen Bundestag. Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
unseres Kollegen Michael Hartmann?
Ein Grund dafür ist, dass wir es nicht schaffen, uns
gegenseitig unsere eigene kritische Haltung gegenüber
unsachgemäßen Interessen, unseren eigenen inneren Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Kompass gegenüber Menschen, die auf uns zukommen Ja.
und dies oder jenes erreichen wollen, zuzugestehen. Wir
tun immer so, als ob wir alle im konkreten und mit Be- Vizepräsident Eduard Oswald:
weisen belegten Verdacht stehen, dass wir käuflich sind Das ist der Fall. – Bitte schön, Kollege Hartmann.
und nur den Einflüsterungen irgendwelcher Interessen-
vertreter zugewandt sind. Ich glaube, wenn Sie diese Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
Diskussion so anfangen, werden Sie sie nicht gewinnen.
Vielen Dank, Herr Ruppert, dass Sie die Frage zulas-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen. Seien Sie versichert, mir geht es tatsächlich um das
der CDU/CSU) ernsthafte Voranbringen eines für das Selbstverständnis
(B) des Parlaments wichtigen Themas. Deshalb frage ich (D)
Ihr Lobbyismusbegriff ist unscharf. Sie: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass Lobbyis-
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Schärfen Sie ihn!) mus, so legitim er auch sein mag, dann nicht mehr legi-
tim ist, wenn er versteckt und intransparent stattfindet?
Als ich hierher gekommen bin, hatte ich – genau so, wie Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, dass wir als
Sie es gerade gesagt haben, Herr Sharma – den Ein- gewählte Volksvertreter einen Anspruch darauf haben,
druck, dass die mächtigsten Vertreter sicherlich die Phar- zu erfahren, wer an einem Gesetz mitgestrickt hat? Es
maverbände sind. Heute habe ich den Eindruck: Nein, kann Sie doch nicht erfreuen, wenn beispielsweise im
die mächtigsten Verbände sind – ich finde das nicht ne- Verkehrsministerium ein Vertreter von Fraport ausge-
gativ – die Gewerkschaften, die Kirchen und Umweltor- rechnet am Fluglärmgesetz mitstrickt. Wenn das der Fall
ganisationen. ist, wollen Sie das nicht wissen? Sind Sie da nicht auch
(Beifall bei der FDP) für mehr Transparenz?
Sie haben durch Massenbriefe oder das Vortragen der
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Anliegen einzelner Personen die Möglichkeit, sehr kon-
kret auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung Lieber Kollege Hartmann, ja, wir sind völlig einer
Einfluss zu nehmen. Meinung, dass es Transparenz bedarf, um genau zu se-
hen, wie Entscheidungen getroffen werden. Aber glau-
(Zuruf von der FDP: Reihenweise!) ben Sie wirklich, dass ein Lobbyist, der sich in dieses
Register eintragen lässt, auf eine Entscheidung Einfluss
Leider werden sie von Ihrem Lobbyismusbegriff über-
nimmt? Glauben Sie, dass es dadurch, dass er in diesem
haupt nicht erfasst.
Lobbyistenregister registriert ist, mehr Transparenz gibt?
(Dr. Eva Högl [SPD]: Natürlich!) Wir alle wissen doch, wie Kontakt aufgenommen wird.
Ich zitiere dazu aus dem Antrag der Grünen: (Iris Gleicke [SPD]: Ich nicht! Erzählen Sie
mal!)
Dabei sollte die Absicht, Entscheidungen und Ab-
läufe der Exekutive und Legislative im Sinne der Es ist doch eben nicht so, dass die konkrete Einfluss-
Auftraggeber zu beeinflussen, das entscheidende nahme durch die Eintragung in ein Lobbyistenregister
Kriterium sein. ausgeschlossen ist.
Vorausgesetzt – das sagt der Jurist in mir – wird also Wir teilen das gleiche Anliegen. Ich bin allerdings der
ein Auftragsverhältnis zwischen einer Person, die Inte- Auffassung, dass der von Ihnen beschrittene Weg ein un-
11684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Stefan Ruppert


(A) tauglicher Versuch ist; denn er führt eben nicht dazu, Dr. Stefan Ruppert (FDP): (C)
dass das eintritt, was Sie aus guten Motiven und, wie ich Herr Kollege Montag, genau hier liegt das Problem.
finde, völlig zu Recht bezwecken. Sie haben das nämlich nicht juristisch präzise, sondern
eher in Alltagssprache formuliert. Aber ich frage Sie:
Unsachgerechte Einflussnahme, die wir alle bekämp- Wäre ein Vertreter von Greenpeace, der Mitglied bei
fen wollen, ist so, wie Sie es uns vorschlagen, leider Greenpeace ist und für Greenpeace arbeitet, in Ihrem
nicht zu unterbinden. Insofern: Das Anliegen teilen wir. Register erfasst? Wäre ein Gewerkschaftsvertreter, der
Was den Weg angeht, sind wir unterschiedlicher Mei- hier auftaucht, darin erfasst?
nung.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ja,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der unbedingt!)
CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackern-
heim] [SPD]: Na ja! Vielleicht kommen wir ja Die stehen nämlich nicht in einem Auftragsverhältnis,
noch zusammen!) sondern in einem Arbeitsverhältnis; das ist der erste
Punkt.
Vizepräsident Eduard Oswald: Zweitens haben Sie meiner Meinung nach nur eine
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Berufsgruppe gekennzeichnet – Ihrem Antrag liegt ein
Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Jerzy Montag. striktes, sehr enges Verständnis von Lobbyismus zu-
grunde –, eine Berufsgruppe, die im Auftrag anderer di-
rekt lobbyistische Initiativen ergreift. Das ist, würde man
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Ihrem Anliegen Rechnung tragen, viel zu wenig, weil
Gerne, ja. man eine viel zu kleine Gruppe erfassen würde,
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Eduard Oswald:
NEN]: Ist das der Inhalt Ihrer Kritik?)
Bitte schön, Herr Kollege.
die tatsächlichen Formen der Interessenbeeinflussung
aber überhaupt nicht erfassen würde.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident, Danke schön. – Lieber Herr Kollege, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nachdem Sie gerade wortwörtlich aus dem Grünen-An- der CDU/CSU)
trag zitiert haben, habe jedenfalls ich den Eindruck, dass Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück. Es ist so,
Sie nicht verstanden haben, was wir in unserem Antrag dass der Lobbyismusbegriff bei Ihnen oft negativ konno-
(B) geschrieben haben. tiert ist. Im Antrag der Grünen ist er dankenswerterweise (D)
(Marco Buschmann [FDP]: Vielleicht haben Sie positiv konnotiert. Sie sagen, Lobbyismus ist eine sinn-
auch nur mal wieder unscharf formuliert!) volle und in einem gewissen Rahmen auch wichtige
Form der Informationsgewinnung, auch für Abgeord-
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn wir von ei- nete.
nem Auftragsverhältnis sprechen, meinen wir nicht ein
Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und einem Abge- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja! Das ist er auch! –
ordneten, sondern wir meinen, dass in dieses Register Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
verpflichtend diejenigen einzutragen sind, die zum Bei- Ohne Frage!)
spiel im Auftrag von Greenpeace, im Auftrag der Phar- Ich teile Ihre Ansicht ausdrücklich.
maindustrie oder im Auftrag des Schornsteinfegergewer-
bes tätig werden. Aber was heißt das in der Konsequenz? Wenn sich
mein Sportverein, mein Kreisverband des Roten Kreu-
Zu einem solchen Auftragsverhältnis gehört, dass zes, der Landessportbund Hessen, die Caritas oder die
Herr Müller oder Herr Meier, der einen Hausausweis be- Diakonie Niedersachsen nicht in Ihr Register eintragen
kommt – es ist Sinn und Zweck dieses Registers, dass lassen, dürfen sie dann in meinem Wahlkreis nicht mit
man einen Hausausweis und einen ungehinderten Zu- mir in Kontakt treten?
gang zum Bundestag und zu den Ausschüssen bekommt –,
offenlegen muss, wer sein Auftraggeber ist. Dies unter- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
scheidet unseren Antrag vom Antrag der Linken. Die Aber natürlich! Ach! – Michael Hartmann
Linken möchten jeden Bürger, der sich in seinem eige- [Wackernheim] [SPD]: Aber darum geht es
nen Interesse an uns wendet, als Lobbyisten in eigener doch gar nicht!)
Sache in das Register aufnehmen. Was Sie an dieser Stelle vorschlagen, ist nicht praktika-
bel.
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Nein! Erzäh-
len Sie doch nicht so einen Schmarren!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Nein! Sie haben es nicht verstanden!)
Dies wiederum geht für uns absolut an der Sache vorbei.
Ich bitte Sie also, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit Meiner Meinung nach haben Sie ein sinnvolles Anliegen
dem Auftragsverhältnis, das Sie zitiert haben, nicht das in völlig untauglicher Form in einen Antrag gegossen.
Verhältnis zwischen einem Lobbyisten und Ihnen oder Dabei können wir Ihnen aber leider nicht helfen. Diese
mir meinen. Arbeit müssen Sie schon selbst machen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11685
Dr. Stefan Ruppert
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ihr Anliegen ist richtig, aber Ihr Weg ist leider nicht (C)
der CDU/CSU) praktikabel, und er bringt nicht mehr Transparenz in die
Beeinflussung von politischen Entscheidungen. Wir
Ich will nun auf die externen Mitarbeiterinnen und müssen ihn deshalb ablehnen.
Mitarbeiter in den Ministerien zu sprechen kommen;
denn auch um sie geht es in dieser Debatte. Wir haben Vielen Dank.
dieser Tage den sechsten Bericht des Bundesrechnungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hofs über externe Mitarbeiter in den Ministerien zur
Kenntnis genommen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ruppert.
Überwiegend Desinteresse!)
Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Es ist also keineswegs so, dass diese Form der Koopera- Kollege Volker Beck. – Bitte schön, Kollege Volker
tion nicht erfasst wird. Ich sage Ihnen: Sie ist dann nega- Beck.
tiv – durchaus auch in den Fällen, die Sie genannt haben –,
wenn es dabei um Interessenverbände geht, die ihr Han- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
deln auf nicht transparente Art und Weise in eine Form
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
gießen, die den Eindruck erweckt, es handele sich ei-
mal ein bisschen Ordnung in die wirre Debatte bringen,
gentlich um hoheitliches Handeln.
die von den Koalitionsrednern gründlich durcheinander-
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: gewirbelt worden ist.
Ja!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist das Problem. Zum einen: Wenn Sie selber keinen Vorschlag haben,
Kein Problem ist es aus meiner Sicht, wenn sich tem- sollten Sie anderen nicht vorwerfen, dass der Weg nicht
porär ein Ministerium externen Sachverstand – auch so optimal ist.
über ein befristetes Arbeitsverhältnis – einkauft. Es ist (Marco Buschmann [FDP]: Der ist untaug-
doch eine alte Vorstellung von Verwaltung, zu denken, lich!)
dass wir alle Bereiche, auch wenn sie nur punktuell und
temporär von Interesse sind, jederzeit kompetent vorhal- Wo ist denn eigentlich Ihr Weg? – Der führt wie immer
ten müssen. Wir müssen also zwischen den Fällen unter- bei der FDP ins Nichts. Da sind Sie auch überwiegend.
scheiden, in denen es richtig und wichtig ist, dass wir Aber wenn Sie den Antrag gelesen hätten, den Sie ge-
rade versucht haben zu zerrupfen, hätten Sie darin den (D)
(B) uns externen Sachverstand einkaufen, und den Fällen,
die Sie genannt haben, bei denen es jemanden gibt, der Satz gefunden, mit dem wir Lobbyisten tatsächlich defi-
eigentlich eigene Interessen verfolgt, sie aber in die nieren, nämlich:
Form hoheitlichen Handelns kleidet. Lobbyistinnen und Lobbyisten, die die im Gesetz
Aus unserer Sicht leistet der sechste Bericht diese vorgesehenen Rechte in Anspruch nehmen wollen,
Transparenz in vollem Umfang. Wir führen dort auf – es müssen sich im Register registrieren lassen.
sind übrigens wesentlich weniger in den Ministerien ge- Dann wird abgeschichtet. Ihr DRK-Vorsitzender kann
worden, seit wir regieren –, eben einmal ein Briefchen schreiben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Es kann vorgesehen werden, dass Lobbyistinnen
der CDU/CSU) und Lobbyisten, deren Lobbytätigkeit einen be-
dass in Ihrer Regierungszeit sehr viele Menschen unter stimmten zeitlichen und finanziellen Aufwand nicht
anderen Vorzeichen in der öffentlichen Verwaltung gear- übersteigt,
beitet haben. (Zuruf von der FDP: Wer legt fest, wo die
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Grenze ist?)
Auch unter der Großen Koalition!) nicht registrierungspflichtig sind.
Seit Schwarz-Gelb, seit die christlich-liberale Koalition Wir haben also alles mit Maß und Realitätssinn er-
regiert, arbeiten wesentlich weniger Menschen unter fal- fasst, weil wir in der Tat einen anderen Ansatz haben, als
scher Flagge in den Ministerien. Sie, Herr Kaster, uns unterstellt haben. Ich zitiere aus un-
(Beifall bei der FDP – Michael Hartmann serer Begründung, damit die Bürgerinnen und Bürger
[Wackernheim] [SPD]: Seit wir diesen Bericht nicht meinen, das, was Sie hier behauptet haben, sei
erzwungen haben!) richtig. Die Begründung fängt zu Recht damit an:

Deswegen sollten wir uns das nicht gegenseitig vor- Die Organisation von Interessen gehört zur Demo-
werfen, aber wir sollten auch nicht so tun, als ob auf der kratie. Der Austausch von Meinungen ist Kernbe-
einen Seite die Heiligen und auf der anderen Seite die standteil einer pluralistischen Gesellschaft. Daher
Unheiligen sitzen. sind auch der Lobbyismus und sein Ansinnen, Inte-
ressen in der Gesellschaft in organisierter Form zu
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: kanalisieren und bei den politischen Entscheidungs-
Das stimmt!) trägern und in der Öffentlichkeit für deren Umset-
11686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Volker Beck (Köln)


(A) zung zu werben, legitimer Bestandteil einer demo- gelungen für die Europäische Kommission – von einem (C)
kratischen Zivilgesellschaft und nicht per se anrüchig. Gremium der Bundesregierung ihre neue berufliche Tä-
tigkeit genehmigen lassen müssen und dass diese Geneh-
Dann weisen wir auf die problematischen Fälle der migung versagt werden muss, wenn der Verdacht auf-
schwarzen Schafe hin. Das ist doch der richtige Ansatz. kommt, früheres Handeln im Amt habe etwas mit der
Wir dürfen auch die ehrlichen Lobbyisten, die uns mit Anschlusstätigkeit zu tun und sei sozusagen indirekt ein
Expertisen ausstatten und auf Fehler bei Gesetzentwür- Dankeschön oder führe zu einem „Absaugen“ von Wis-
fen hinweisen oder auch nur ihre Interessen vortragen, sen und Insiderkenntnissen der Verwaltung, die man für
die mit anderen Interessen im Widerstreit sind, nicht dif- das Wirtschaftsleben gewonnen hat?
famieren. Aber davon zu unterscheiden sind diejenigen,
die hier mit Geld unterwegs sind, die nicht sagen, wer (Serkan Tören [FDP]: Das hätten Sie doch in
sie eigentlich sind – wie die Initiative Neue Soziale den sieben Jahren machen können! – Marco
Marktwirtschaft, wo man nicht so genau weiß, wer da- Buschmann [FDP]: Dann hätte Herr Fischer
hintersteckt. Die beste Prophylaxe von Korruption, von wohl nicht tätig werden dürfen!)
anrüchigen Hinterzimmerpolitiken ist die Transparenz.
Das ist der Ansatz für ein Lobbyistenregister. Wir haben den Vorschlag gemacht. Seit dem Fall
Bangemann von der FDP und seinem Gang vom Kom-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN missarsposten zu einem spanischen Telekomunterneh-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der men hat die Europäische Union eine solche Regelung.
LINKEN) Warum können wir das nicht machen? Sie haben hier ei-
Deshalb ist das sehr richtig. Ich würde mir wünschen, nen Popanz aufgebaut. Es ging dabei um Bürokratie. Zu-
dass Sie mit uns gemeinsam über die Details reden. Über gegeben: Der Antrag der Linken würde zu Bürokratie
die muss man reden, und man muss das sachlich ma- führen, unser Antrag aber nicht.
chen. Aber wenn Sie nur diffamieren und behaupten, wir Warum macht Österreich das gerade? Warum hat die
würden hier gegen die Interessenvertretung der Gesell- EU ein freiwilliges Register, das genau unseren Kriterien
schaft in diesem Land agitieren, dann zeigt das, dass Sie hier entspricht? Warum gibt es im US-Kongress seit
offensichtlich etwas befürchten, wenn das transparenter 1995 den Lobbying Disclosure Act, wonach dort genau
wird. diese Angaben, die wir hier aufgeschrieben haben, ver-
(Zuruf von der FDP: Jetzt kommt’s!) öffentlicht werden müssen? Warum ist das in den ande-
ren Staaten eine Selbstverständlichkeit und hier bei uns
Das kommt bei der Mövenpick-Koalition allerdings bürokratischer Wahn oder die Diffamierung von Interes-
nicht ganz von ungefähr. Sie haben in der Tat ein Pro- senvertretungen? Diesem Umstand müssen Sie Rech-
(B) blem; denn bei Ihnen gibt es tatsächlich einen Zusam- nung tragen. (D)
menhang zwischen Geldüberweisungen an die Parteien
und gesetzgeberischen Bonbons hinterher, die den Steu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
erzahler teuer zu stehen kommen. Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Sie müssen das
auf die Arbeitsweise unseres Parlaments ab-
(Marco Buschmann [FDP]: Wie die 10 000 stellen!)
D-Mark bei Joschka Fischer!)
Seit Urzeiten liegt dieses lustige Papier hier vor:
So etwas sollten wir abstellen. Ein Beitrag dazu kann das „Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über
Lobbyistenregister sein. die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Liste wächst jedes Jahr an.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Nirgends haben
LINKEN – Serkan Tören [FDP]: Sie hatten Sie es gemacht!)
doch sieben Jahre lang Zeit dafür!)
Inzwischen sind es 2 163 Verbände. Warum machen wir
Zu Ihnen, Herr Kollege Hinsken. Sie haben vorhin das nicht zu einem wirklichen informativen und transpa-
den Kollegen von der SPD nach Herrn Schröder gefragt. renten Instrument, damit jeder Bürger, jede Bürgerin, je-
Mir hat es auch nicht gefallen, dass er zu Gazprom ge- der Abgeordnete und jeder Journalist entsprechende In-
wechselt ist. Mir gefällt auch das, was Herr Koch macht, formationen finden kann? Das hier ist völlig intrans-
nicht. parent und uninformativ, kostet aber auch Arbeit.
(Marco Buschmann [FDP]: Was ist mit Frau
(Abg. Serkan Tören [FDP] meldet sich zu ei-
Fischer bei der Barmer?)
ner Zwischenfrage)
– Auch das, was Birgit Fischer gemacht hat, finde ich ein
– Ich sehe, der Kollege von der FDP will mir zu mehr
bisschen schwierig.
Redezeit verhelfen. Ich bedanke mich dafür.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)
Aber: Warum haben Sie denn dann unseren Antrag in Vizepräsident Eduard Oswald:
der letzten Wahlperiode abgelehnt, der forderte, dass Ja, genau. Ich habe Ihre Redezeit jetzt auch schon ge-
sich Mitglieder der Bundesregierung, die aus ihrem Amt stoppt, Kollege Beck, damit die Zwischenfrage gestellt
ausscheiden, in einer Übergangszeit – analog zu den Re- werden kann, die Sie erkannt und ich zugelassen habe.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11687

(A) Serkan Tören (FDP): Vizepräsident Eduard Oswald: (C)


Herr Kollege Beck, ich habe eine Frage: Warum ha- Vielen Dank, Kollege Beck. – Als Nächster hat unser
ben Sie das Register nicht in den sieben Jahren Ihrer Re- Kollege Manfred Behrens für die Fraktion der CDU/
gierungsverantwortung eingeführt? Es gibt auch noch ei- CSU das Wort.
nige Bundesländer, in denen Sie Regierungsverantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tung tragen. Haben Sie dort irgendwelche Überlegungen
angestellt und schon etwas eingeführt? Das würde mich
jetzt einmal interessieren. Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit den Anträgen zum Thema Lobbyistenregister. Das
Wir haben schon in der letzten Wahlperiode ein Lob- Thema ist uns allen nicht ganz neu. Es wurde in diesem
byistenregister gefordert und sind hier konsequent. Hause bereits in der 16. Wahlperiode debattiert. Die
Bundesregierung wird aufgefordert, verbindliche Regis-
Ich glaube, wenn Sie in der nächsten Wahlperiode ter vorzuschreiben. Verbände sollen verpflichtet werden,
noch einmal ins Parlament kommen sollten, dann wer- sich darin einzutragen.
den Sie von der anderen Seite aus daran denken, dass
man hinterher nicht alles mit dem Hinweis abtun kann, Zunächst einmal ist festzuhalten: Die versuchte Ein-
man hätte das alles in vier Jahren machen können. Man flussnahme durch Lobbyisten ist ein legitimes Mittel zur
kann nicht die ganze Welt auf einmal verändern. Lassen Interessenwahrnehmung. Sie gehört in unserem Staat
Sie uns doch ernsthaft darüber reden, und nicht nach zum politischen Entscheidungsprozess. Die Meinungs-
dem Motto: Warum haben Sie das nicht schon vor freiheit, aus der sich letztlich der Lobbyismus herausbil-
det, ist eines der feinsten Rechte der Demokratie. Lobby-
20 oder 30 Jahren gemacht, als die FDP an der Regie-
isten können wichtige Erfahrungen aus der Praxis in den
rung war? Das sind doch alberne Spielchen.
politischen Entscheidungsprozess einbringen. Dieser
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: In Nordrhein- ständige Informationsaustausch wirkt sich zumeist posi-
Westfalen wird das gemacht!) tiv in der Sache aus. Doch die versuchte Einflussnahme
ist durch zahlreiche innerparteiliche Prozesse und Ent-
– Ich weiß nicht, ob die Kollegen in Nordrhein-Westfa- scheidungen begrenzt.
len gerade dabei sind, aber ich finde, dass der Bund hier
Seit fast 40 Jahren existiert die „Öffentliche Liste
eine besondere Vorbildfunktion hat. Die entscheidende
über die beim Bundestag registrierten Verbände und de-
Gesetzgebung – auch in den Bereichen, in denen das
(B) Bundesrecht durch die Länderverwaltungen „exekutiert“ ren Vertreter“. Verbände können sich eintragen, wenn sie (D)
Interessen gegenüber dem Bundestag vertreten möchten.
wird – findet doch hier im Deutschen Bundestag statt.
Aufgrund der Tatsache, dass diese Liste öffentlich ist, ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – eine gewisse Transparenz gegeben.
Marco Buschmann [FDP]: So denken Sie über Inzwischen haben sich, wie schon gesagt wurde, mehr
Landtage!) als 2 000 Verbände eingetragen. Diese öffentliche Liste
ist 800 Seiten stark. Wo fehlt es da an Transparenz? Sie
Die entscheidenden Korruptionsvorwürfe und Verbande-
können Anschriften in Erfahrung bringen. Sie bekom-
lungen zwischen Lobbyismus, Gesetzgebung und Politik men Namen von Geschäftsführern geliefert. Sie erhalten
hat es doch hier in Berlin oder früher in Bonn gegeben. sogar Telefonnummern und E-Mail-Adressen.
(Marco Buschmann [FDP]: In Brüssel!) Zudem fordern Sie die Offenlegung der finanziellen
Mittel der Interessenvertretungen und deren Nutznießer.
Das Gesetz muss so gut werden, dass wir es allen Lan-
So steht es in Ihren Anträgen. Geht daraus mehr Trans-
desparlamenten zur Übernahme empfehlen können. Las- parenz hervor?
sen Sie uns gemeinsam eine Gesetzesinitiative auf den
Weg bringen, statt mit billigen Ausflüchten davor davon- Sie meinen, dass es besser wäre, wenn Interessenver-
zulaufen. treter ihre finanziellen Mittel offenlegen würden. Das ist
aber nur ein bedingt geeignetes Mittel.
Lobbyismus ist keine schlechte Sache. Ob die Deut-
sche Bischofskonferenz oder der Lesben- und Schwulen- (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Wo ist Herr Beck?
verband, ob die Solarindustrie oder das Deutsche Atom- Er ist fort!)
forum hier ihre Interessen vortragen: Das ist nichts Die Finanzierungsquelle lässt aus meiner Sicht nicht da-
Schlechtes. Wir haben als Parlamentarier die Aufgabe, rauf schließen, ob ich gute oder schlechte Gespräche
die Argumente zu wägen und im Interesse des Allge- führe. Ich werde meine Gespräche weiterhin offen, frei,
meinwohls auszugleichen. Dabei sind wir aber darauf unvoreingenommen und mit der nötigen sachlichen Dis-
angewiesen, zu wissen, mit wem wir es jeweils zu tun tanz führen. Ich selbst werde auch weiterhin abwägen,
haben. Das Lobbyistenregister kann dazu einen wertvol- was für meine parlamentarische Arbeit von Bedeutung
len Beitrag leisten. ist und was nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In Ihren Anträgen steht, dass Sie illegale Einfluss-
und bei der SPD) nahme, sprich: Korruption, nicht ausschließen. Würde
11688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Manfred Behrens (Börde)


(A) ein verpflichtendes Lobbyistenregister das Problem lö- tisch gesehen wird – Stichwort „Schulklasse“ –, dann (C)
sen oder ausschließen? Ich denke, eher nicht. Korrum- muss uns das Sorgen bereiten. Wir müssen als Parlamen-
pierbarkeit kann man nicht mit einem Lobbyistenregister tarierinnen und Parlamentarier ein Interesse daran ha-
oder sonstigen Listen bekämpfen. Die moralische Ver- ben, diesen Bereich zu regeln und hier zu Verbesserun-
antwortung eines jeden Abgeordneten und die Stärke der gen zu kommen.
Demokratie sind ein starkes Netz dagegen.
Es gibt zwei Punkte, die mir wichtig sind. Das Erste
Sie schreiben, dass Politik einerseits aufgrund der ist: Wir müssen immer sehr genau überprüfen, wer auf
Komplexität auf externe Informationen angewiesen ist. was tatsächlich Einfluss nimmt. Das müssen wir immer
Aber andererseits verstehen Sie Lobbyismus als Privati- im Blick haben. Das Zweite ist – das ist der Hauptpunkt –:
sierung von Politik und definieren dies als „kontroll- Es geht um Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit. Denn
freien Raum“. Aber seriöse Lobbyisten treten öffentlich das Problem ist, dass Interessenvertretung meistens un-
in Erscheinung. Mir ist nicht bekannt, wo Sie Ihre Ge- erkannt, im Hintergrund stattfindet und nicht kontrolliert
spräche führen. Ich jedenfalls führe meine Gespräche öf- werden kann. Deswegen sollte der Schwerpunkt bei der
fentlich, zum Beispiel bei Empfängen oder parlamentari- Errichtung eines Lobbyistenregisters auf öffentlicher
schen Abenden. Dies sind transparente Räume. Dies sind Kontrolle und Transparenz liegen. Wir brauchen klare
keine – so wie Sie es formulieren – kontrollfreien Regeln. Deswegen begrüße ich für die SPD-Fraktion die
Räume. von den Grünen und der Linken vorgelegten Anträge.
Im Fazit komme ich zu dem Schluss, dass Lobbyis- Es ist schon gesagt worden: Innerhalb der Europäi-
mus in der Bundesrepublik Deutschland zur Demokratie schen Union war der Deutsche Bundestag das erste Par-
gehört. Er darf allerdings niemals die einzige Informa- lament, das 1972 eine Verbändeliste eingeführt hat. Das
tionsquelle für Abgeordnete sein. Die CDU/CSU steht ist ein großer Vorteil. Da sind wir nach vorne gegangen.
für offene und freie Gespräche, zu jeder beliebigen Zeit Doch diese Regelung, Herr Kollege Kaster, ist unzurei-
und an jedem beliebigen Ort; denn der Austausch von chend, und zwar aus zwei Gründen. Es werden lediglich
Meinungen ist ganz einfach Kernbestandteil unserer Verbände erfasst, nicht aber alle anderen Interessenver-
vielfältigen Demokratie. treterinnen und -vertreter. Außerdem sind die Angaben,
die gemacht werden, nicht ausreichend. Wir brauchen
Vielen Dank.
viel mehr Angaben, um Lobbyismus kritisch hinterfra-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen und kontrollieren zu können.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
(B) Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat als Nächste auf Ich möchte, dass wir in diesem Punkt – wie Sie wissen, (D)
unserer Rednerliste das Wort unsere Frau Kollegin nehme ich gern zum Thema Europa Stellung – wieder
Dr. Eva Högl für die sozialdemokratische Fraktion. Bitte Vorreiter in Europa werden. In Europa wird gerade da-
schön, Frau Kollegin. rüber diskutiert, ob das Lobbyistenregister verbindlich
gemacht werden und wie es verbessert werden soll, ins-
(Beifall bei der SPD) besondere vor dem Hintergrund der aktuellen Vorfälle,
die alles andere als schön sind. Lassen Sie uns doch ge-
Dr. Eva Högl (SPD): meinsam gute Regeln erarbeiten! Ich lade ausdrücklich
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! die Koalitionsfraktionen dazu ein, nicht nur zu kritisie-
Mir ist wichtig, gleich zu Anfang zu betonen, dass Lob- ren, was vorliegt, sondern auch konkrete Vorschläge zu
byismus alles andere als verwerflich ist. Darüber habe machen, wie wir das verbessern können.
ich hier in der Debatte Konsens festgestellt. Ich gehe so- (Beifall bei der SPD)
gar so weit und sage, dass Lobbyismus und gezielte Inte-
ressenvertretung für unsere gemeinsame Arbeit hier im Noch ein paar Gedanken. Wie gesagt, es müssen alle
Parlament unerlässlich sind und dass die Vertretung von Interessenvertreterinnen und -vertreter erfasst werden.
Interessen zu den Wesensmerkmalen unserer Demokra- Ein solches Register muss verpflichtend sein. Es darf
tie gehört. Mir ist auch wichtig, gleich zu Anfang zu sa- nicht nur freiwillig sein; das ist ganz entscheidend. Es
gen: Es geht nicht um eine Hetzjagd auf PR-Agenturen, müssen Angaben über die Herkunft und Höhe der finan-
Gewerkschaften, Verbände oder sonstige Interessenver- ziellen Mittel gemacht werden. Das ist wichtig, um beur-
tretungen. Vielmehr geht es darum, die Interessenvertre- teilen zu können, wer welche Interessen wie wahrnimmt.
tung sinnvoll und richtig zu regeln. Ich möchte außerdem sehr gerne einen Überblick über
den Tätigkeitsbereich sowie die Mitarbeiterinnen und
(Beifall bei der SPD) Mitarbeiter haben.
Deutschland ist kein Land, in dem Korruption regiert. Dann ist eines wichtig, liebe Kolleginnen und Kolle-
Das hat der Bundesrechnungshof gerade erst wieder fest- gen: Wir müssen dieses Register veröffentlichen. Wir
gestellt. Wenn aber laut einer Umfrage von Trans- müssen es im Internet veröffentlichen, wir müssen es al-
parency International sieben von zehn Bürgerinnen und len Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen.
Bürgern der Auffassung sind, dass die Bestechlichkeit in
Deutschland zugenommen hat und dass gerade die Ver- Wenn Sie mal ehrlich auf unsere Parlamentspraxis
flechtung von Wirtschaft, Politik, Interessenvertretung schauen: Wer kennt denn überhaupt die Verbändeliste,
und professionellen Lobbyistinnen und Lobbyisten kri- wer arbeitet denn damit?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11689
Dr. Eva Högl
(A) (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Wir kennen nen zu sitzen, durch die Möglichkeit, mit Besuchergrup- (C)
aber unsere Gesprächspartner! Das ist viel pen zu arbeiten, genau die Offenheit, die Transparenz
wichtiger!) gezeigt werden soll, über die wir jetzt seit einer Dreivier-
telstunde hier diskutieren. Jeder kann uns sozusagen live
Das ist doch eher ein Geheimdokument. Ich möchte sehr auf die Finger schauen, und das soll auch so sein.
gern, dass das Register, das wir haben, allen Bürgerinnen
und Bürgern zugänglich ist. Es geht – ich sage es noch (Zuruf des Abg. Michael Hartmann [Wackern-
einmal – um Transparenz. heim] [SPD])
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Die vorliegenden Anträge befassen sich ehrenhafter-
weise alle mit dieser Idee. Gleichwohl – das ist hier he-
Außerdem brauchen wir Sanktionen. Die Nichteintra-
rausgearbeitet worden – spüren wir im Gespräch mit
gung, die Nichtbefolgung unserer Regeln müssen auch
dem Bürger, dass da ein anderes Empfinden, eine andere
sanktionsbewehrt sein. Wir brauchen auch hier klare Re-
gefühlte Temperatur ist. Ich habe den Eindruck, dass das
geln.
gar nicht daran liegt, dass wir ein Problem mit zu viel
Ich will dann noch einen weiteren Punkt anfügen, der Korruption etc. haben, sondern daran – ich habe Frau
in den Anträgen nicht auftaucht. Wir werden als SPD- Dr. Högl gehört, ich habe Herrn Hartmann gehört, ich
Fraktion auch noch Vorschläge vorlegen und uns an der habe Herrn Beck
Diskussion beteiligen. Wir brauchen auch einen Verhal-
(Zuruf von der FDP: Wo ist der eigentlich?)
tenskodex für Interessenvertreterinnen und -vertreter,
geprägt von Offenheit – ich wiederhole es –, von Trans- mit einem tollen Plädoyer gehört –, dass wir eigentlich
parenz, Ehrlichkeit und Integrität. Deswegen brauchen gar kein Problem haben. Wir nehmen in diesem Haus
wir einen solchen Kodex, an den sich alle halten. den Lobbyismus sehr wichtig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dann frage ich mich aber: Woher kommt der Ein-
DIE GRÜNEN) druck, den der Bürger hat? – Dazu möchte ich Ihnen
Zum Schluss appelliere ich noch einmal an uns alle ganz ehrlich sagen – ich nehme da meine Fraktion nicht
aus –: Ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir hier
hier in diesem Hohen Haus: Wir haben das gemeinsame
im Deutschen Bundestag dieses Thema diskutieren, sehr
Interesse – das ist schon gesagt worden –, hier so trans-
parent wie möglich zu arbeiten und so nachvollziehbar zur Meinungsbildung beiträgt. Ich bin nicht damit ein-
verstanden, dass wir uns gegenseitig vorhalten, welcher
wie möglich zu machen, welche Interessen hier vertreten
ehemalige Politiker jetzt wo arbeitet. Solange er nicht 67
werden; denn wir sind alle davon abhängig. Wir kennen
ist, halte ich es für legitim, dass er einen anständigen Job
(B) das: Wir wissen, dass gute Gesetzgebung häufig nur macht. (D)
dann gemacht werden kann und Vorschläge nur dann
wirklich ausgewogen und gut sind, wenn wir die ver- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schiedenen Interessen abwägen. Aber es gibt keinen NEN]: Und danach auch!)
Grund dafür, vor der Öffentlichkeit Angst und vor Trans-
parenz Scheu zu haben. Deswegen fordere ich uns alle Ich halte es nicht für richtig, dass den einen die Mö-
auf, gemeinsam an guten Regeln zu arbeiten. Es würde venpick-Geschichte vorgeworfen wird und im Gegenzug
uns auszeichnen, und es würde dem Deutschen Bundes- Sie vielleicht erklären müssen, wo Ihnen die Windener-
tag gut zu Gesicht stehen. giebranche entgegengekommen ist. Das alles, diese Kul-
tur in diesem Haus, meine Damen und Herren, sorgt sehr
Herzlichen Dank. viel für die gefühlte Temperatur draußen. Es sind nicht
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die tatsächlichen Korruptionsfälle. Deshalb glaube ich,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass wir in dieser Debatte ein wenig zu stark mit Kano-
nen auf Spatzen schießen, wenn wir mal tatsächlich an
die Fakten denken.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Högl. – Als Letzter Ich komme jetzt zu den Fakten und nenne zunächst
auf unserer Rednerliste zu diesem Tagesordnungspunkt das Thema externe Personen. Herr Hartmann beschäftigt
folgt jetzt unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, sich damit im Innenausschuss sehr intensiv, und ich be-
Kollege Armin Schuster. fürworte das auch. Hintergrund ist die Befürchtung, dass
wir zu viele ausgeliehene Referenten haben, die auf an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deren Payrolls arbeiten und unter Umständen sach-
fremde Dinge tun.
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
Mit Ihrer Hilfe haben wir 2008 eine tolle Verwal-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und tungsvorschrift gemacht. Dort sind sehr viele Forderun-
Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich glaube, gen, die jetzt in den Anträgen stecken, bereits verarbeitet
diese Debatte wird auch auf der Zuschauertribüne als worden. Wir erhalten die Berichte des Bundesrech-
sehr interessant bewertet. Es ist kein Zufall, dass die ar- nungshofs, die uns attestieren: Ihr habt kein Problem.
chitektonische Gestaltung der neuen Bundestagsgebäude
nicht einfach den Architekten überlassen wurde, sondern Wir bekommen halbjährlich aus dem Bundesinnen-
dass durch große Fensterfronten, durch komplett einseh- ministerium Berichte über den Einsatz externer Personen
bare Büros, durch die Möglichkeit, auf Zuschauertribü- in der Bundesverwaltung – der aktuelle Bericht umfasst
11690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Armin Schuster (Weil am Rhein)


(A) 63 Seiten; Fleißarbeit! –, in denen im Detail dokumen- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: (C)
tiert wird, was hier los ist. Es gibt, alle Ressorts zusam- Ich hoffe, Sie sind immer noch Beamter, nur
mengenommen, ganze 56 Fälle. Zwei davon entfallen beurlaubt!)
nicht auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das
Goethe-Institut, die Max-Planck-Gesellschaft, den Deut- – Beurlaubt.
schen Naturschutzbund Deutschland oder eine ähnliche Fazit: Wir haben eine gute Verwaltungsvorschrift.
Einrichtung, sondern auf den BDI – und angesichts des- Wir haben sehr gute und aktuelle Rechenschaftsberichte.
sen wird hier ein Fass aufgemacht! In Gottes Namen, ist Wir haben ausweislich des letzten Berichts kein Trans-
es denn so unrealistisch, dass der Bundeswirtschafts- parenzproblem. Wir haben noch nicht einmal einen Ver-
minister mit dem BDI zusammenarbeitet? Wo sind wir dachtsfall. Der BRH sagt: Wir sind clean. In Rheinland-
denn? Diese Kritik kann ich wirklich nicht verstehen. Pfalz gibt es einen Komiker, der Menschen anruft und
Ich glaube, man muss die Kirche im Dorf lassen. Der sagt: „Ich hätt’ da gern mal ein Problem.“
letzte Bericht des Bundesinnenministeriums beweist ein-
deutig, dass wir eine absolut saubere Politik machen. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Das ist ein
Hesse!)
Jetzt komme ich Ihnen aber entgegen, Frau Dr. Högl:
– Stimmt, das ist ein Hesse. – Ungefähr das ist es, was
Erstens. Den Bericht über den Einsatz externer Perso- diese Debatte kennzeichnet.
nen in der Bundesverwaltung öffentlich zugänglich zu
machen – eine Forderung von Herrn Hartmann –, halte Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und
ich ebenfalls für angemessen. Darüber sollten wir reden. Bürger auf der Zuschauertribüne, Sie dürfen stolz darauf
sein, nachweislich – ich betone: nachweislich – eine für
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: das Thema sensible, sich selbst kontrollierende, transpa-
Sehr schön!) rente Regierung, eine durchschaubare Verwaltung und
Zweitens. Nicht erfasste, befristete Arbeitsverträge ein offenes Parlament zu haben. Das ist die Kernbot-
unter bestimmten Kriterien in diese Verwaltungsvor- schaft, die ich gern vermitteln wollte.
schrift aufzunehmen, halte auch ich unter bestimmten Danke schön.
Umständen für sinnvoll. Über beide Dinge sollten wir
reden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Sehr gut!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
(B) Eventuell muss man die Verwaltungsvorschrift ändern. Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. – Ich schließe (D)
Ich biete an, darüber zu beraten. Ich weiß, dass die Re- die Aussprache.
gierung mit uns diesbezüglich eigentlich im Konsens ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: den Drucksachen 17/2096, 17/5230 und 17/2486 an die
Sehr schön!) in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 17/2096
Jetzt komme ich auf das Lobbyregister zu sprechen.
und 17/2486 sollen federführend beim Ausschuss für
Ich darf als ehemaliger Beamter sagen: Wenn man der
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beraten
deutschen Verwaltung unter Anwendung der von Ihnen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
geplanten Regeln den Auftrag gibt, Lobbykontakte in ei-
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
nem Register zu dokumentieren, dann wird man ganze
Kohorten von Planstellen schaffen müssen; schließlich Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
muss jeder Besuch, auch wenn er nur ein einziges Mal
stattgefunden hat, dokumentiert werden. Wissen Sie, Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
was Sie damit erreichen? gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Rechtsgrundlagen für die Fortent-
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: wicklung des Emissionshandels
Sie können ja einen Externen nehmen!)
– Drucksache 17/5296 –
Überhaupt nichts! Unlautere Einflussnahme läuft näm- Überweisungsvorschlag:
lich subtil ab und ist nicht zu verorten. Die Techniken Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
kennen Sie. Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Kein Widerspruch!) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Was das buchhalterische Erfassen in Registern gewähr- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
leisten soll, das erschließt sich mir nicht. Ich glaube, wir Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
müssen noch ein paar Jahre miteinander reden, bis es Ih- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
nen gelingt, mich von der Richtigkeit dieses Erfassens höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
zu überzeugen. Wie gesagt, wenn Sie einen ehemaligen
Beamten nicht überzeugen können, dann zeigt das, wie Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat das Wort die
schwach Ihre Argumente sind. Parlamentarische Staatssekretärin Kollegin Ursula
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11691
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Heinen-Esser. – Bitte schön, Frau Kollegin Heinen- Der zweite Punkt betrifft die in der Novelle eröffnete (C)
Esser. Möglichkeit zur Privilegierung von Kleinanlagen. Es
gibt eine Option für Kleinanlagen, die von der Pflicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zur Abgabe von Zertifikaten dann befreit werden, wenn
sie anstelle der Teilnahme am Emissionshandel gleich-
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim wertige Maßnahmen zur Emissionsreduzierung erbrin-
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- gen. Diese Regelung ist vor allem für kleine und mittlere
cherheit: Unternehmen wichtig, die im Verhältnis zu ihrer Emis-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen sionsmenge überproportional von den Transaktionskos-
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem ten des Emissionshandels betroffen sind.
Entwurf der Novelle zum Treibhausgas-Emissionshan-
delsgesetz bringen wir heute den europäischen Emis- Die dritte Regelung – da werden wir sicherlich noch
sionshandel für die Zeit ab 2013 hier in Deutschland auf in Diskussionen mit dem Bundesrat eintreten – betrifft
den Weg. Dieser Emissionshandel wird sich künftig ganz die Neuaufteilung der Vollzugszuständigkeiten zwischen
deutlich von dem Emissionshandel unterscheiden, wie Bund und Ländern. Die Zuständigkeit des Umweltbun-
wir ihn in den ersten beiden Handelsperioden von 2005 desamtes für die gesamte Emissionsüberwachung sichert
bis 2012 kennengelernt haben. Diese beiden Perioden einen bundeseinheitlichen Vollzug und trägt damit auch
waren durch einen – um es vornehm auszudrücken – zur Wettbewerbsgerechtigkeit zwischen den in Deutsch-
sehr großen Handlungsspielraum gekennzeichnet, den land am Handel beteiligten Unternehmen bei. Die Ge-
die ursprüngliche Emissionshandelsrichtlinie den Mit- nehmigung der emissionshandelspflichtigen Anlagen
gliedstaaten eröffnete. Denn im Grunde – um das einmal soll wie bisher unverändert bei den Ländern bleiben.
deutlich zu sagen – konnte jeder Staat es halten, wie er
wollte. Er konnte die Mengen und die Zuteilungsregeln Gestatten Sie mir dazu eine Anmerkung. Wir können
selber festlegen. nicht in Europa einheitliche Bedingungen haben und es
in Deutschland in den einzelnen Bundesländern unter-
Wir haben erfahren, was das im europäischen Kontext schiedlich regeln. Es ist wichtig, dass wir auch innerhalb
bedeutete, nämlich einen Wettlauf der Mitgliedstaaten Deutschlands zu einheitlichen Regelungen kommen.
um die jeweils besten Wettbewerbsbedingungen. Des-
halb war es überhaupt nicht verwunderlich, dass sich ein Es gibt natürlich Wünsche – auch darüber werden wir
breiter Konsens für eine deutlich stärkere Harmonisie- noch sprechen –, die in der Novelle nicht enthalten sind.
rung der Regeln innerhalb des EU-Emissionshandels- Dies betrifft die viel diskutierten Regeln für die kosten-
(B) systems abgezeichnet hat. Das betraf insbesondere die lose Zuteilung von Zertifikaten. Diese Regeln werden ab (D)
Festlegung einer EU-weit einheitlichen Gesamtemis- 2013 EU-weit vereinheitlicht. Die Mitgliedstaaten – das
sionsmenge und einheitlicher Zuteilungsregeln, mit muss man klar sagen – haben bei der Umsetzung dieser
denen man hofft, diesen Wettlauf einzudämmen. Wir Regeln keinen nennenswerten Gestaltungsspielraum
wollen eben nicht 27 verschiedene nationale Emissions- mehr. Deshalb sieht der Entwurf der Novelle die Umset-
handelssysteme, sondern ein europäisches Emissions- zung der Zuteilungsregeln im Wege einer Rechtsverord-
handelssystem. nung vor. Weil es aber ein besonderes politisches Thema
ist und auch immer wieder besondere politische Auf-
Die Novelle hat drei Hauptanliegen. Erstens. Es soll
merksamkeit bekommt, wird vorgeschrieben, dass die
keine nationalen Alleingänge geben, sondern eine kon-
Zustimmung des Deutschen Bundestages zu der Zutei-
sequente Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie. Zwei-
lungsverordnung erforderlich ist. Damit ist gewährleis-
tens geht es um die Nutzung von Gestaltungsspielräu-
men, die die Richtlinie insbesondere für Kleinanlagen tet, dass es immer wieder hier im Parlament diskutiert
eröffnet. Und schließlich geht es drittens um eine sinn- wird.
volle Fortentwicklung der nationalen Vollzugsregelun- Der Emissionshandel ist für die von ihm erfassten Be-
gen, insbesondere um die Neuaufteilung der Vollzugs- reiche das zentrale Instrument zur Erreichung unserer
aufgaben von Bund und Ländern. Klimaschutzziele. Er ist das wirklich umfassendste kli-
Lassen Sie mich das anhand von drei Themen kurz mapolitische Instrument. Wir sehen unsere Industrie und
darstellen. Der erste Punkt betrifft den Anwendungsbe- unsere Unternehmen auch für den Emissionshandel nach
reich der Novelle und damit die Frage, welche Anlagen 2012 sehr gut aufgestellt. Deshalb können wir jetzt fro-
ab 2013 mit einbezogen werden. Zum einen wollen wir hen Mutes in die neue Handelsperiode eintreten.
das Problem des Flugverkehrs in dieser Novelle mit lö-
sen, das heißt, erstmals werden die Fluggesellschaften Ich danke für die Aufmerksamkeit.
mit in den Emissionshandel einbezogen, und zum ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ren wird die Anzahl der betroffenen Anlagen in Deutsch-
land ab 2013 auf etwa 2 000 anwachsen. Das sind etwa
20 Prozent mehr als bisher. Durch die Eins-zu-eins-Um- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
setzung können sich die betroffenen Unternehmen aber Das Wort hat nun Frank Schwabe für die SPD-Frak-
rechtzeitig auf die veränderte Situation einstellen, ohne tion.
dass ihnen bei der kostenlosen Zuteilung langjährige
Streitereien etwa mit der Kommission drohen. (Beifall bei der SPD)
11692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Frank Schwabe (SPD): Leben gefüllt. Ich glaube, dass man daraus lernen kann. (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, ein selbstbewusstes Parlament zu haben. In
Leider sind die Unternehmen nicht so gut aufgestellt, der aktuellen Situation kann man lernen: Es sind nicht
Frau Staatssekretärin, weil Sie mit Ihrer nationalen Um- Regierungen, nicht Sonderkommissionen und auch nicht
setzung etwas spät dran sind; es hätte schneller gehen Talkshows, die am Ende entscheiden, sondern es ist der
können. Das bringt Probleme für manche Unternehmen. Deutsche Bundestag; er ist vom Souverän mit der Macht
Sie wissen nicht genau, wie das demnächst eigentlich ausgestattet, zu entscheiden. Heute sollten wir uns daran
aussieht und wie sie dann an die Zertifikate kommen, erinnern, dass das Ende 2008 geklappt hat. Auch bei
weil das Gesetz noch nicht beschlossen ist und Sie den dem, was in den nächsten Wochen und Monaten ansteht,
Zeitplan, den Sie sich vorgenommen haben, nicht einhal- sollten wir uns darauf besinnen.
ten werden.
(Beifall bei der SPD)
„Gesetz zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Das alles sind Erfolge der Vergangenheit, die sich
Fortentwicklung des Emissionshandels“, das ist der
jetzt auszahlen. Die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb
sperrige Titel. Es ist eine recht sperrige Materie. In der
– vielleicht kann man das Herrn Umweltminister
Tat – Sie haben es erwähnt, Frau Staatssekretärin –: Die
Röttgen ausrichten –, muss sich an dem Hier und Jetzt
nationalen Spielräume sind sehr gering. Ich sage: Zum
messen lassen und daran, was im Moment Klima- und
Glück sind sie national sehr gering. Wir werden uns im
Energiepolitik in diesem Lande ist. Da weiß die Regie-
Rahmen der Anhörung am Montag intensiver mit diesen
rungskoalition nicht mehr, wo hinten und vorn ist.
geringen Spielräumen beschäftigen.
Sie haben eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt,
Es ist gut, dass die nationalen Spielräume eng sind.
von der Sie nicht wissen, wie Sie davon wieder loskom-
Warum? Weil der Emissionshandel eines der zentralen
men. Sie haben auf 29 schwach beschriebenen Seiten ein
Instrumente des Klimaschutzes ist und wir uns einig
sogenanntes Energiekonzept erstellt, das mittlerweile
sind, dass die Herausforderungen des Klimawandels nur
pulverisiert ist. Sie haben es versäumt, das Klimapro-
in größeren Zusammenhängen zu bewältigen sind. Das
gramm von Meseberg weiterzuentwickeln, das 2007 auf-
gilt weltweit und eben auch EU-weit.
gestellt wurde und deutlich detaillierter war als das soge-
Es wird viel Kritik an der EU geübt. An der Stelle nannte Energiekonzept. Sie haben gegen Ihren eigenen
muss man aber einmal eine Eloge auf die EU halten. Wir Koalitionsvertrag verstoßen. Sie haben von „Brücken-
haben mit der dritten Handelsperiode endlich ein einheit- technologien“ geredet und gleichzeitig die Pfeiler der
liches europäisches System, abseits von nationalen Ego- Brücke eingerissen. Sie haben die Mittel für den Klima-
ismen des Status quo, die die Verhandlungen zur ersten schutz gestrichen. Sie haben einen ominösen Energie-
(B) und zweiten Periode leider bestimmt haben. In der ersten und Klimafonds aufgelegt, von dem Sie nicht genau wis- (D)
Periode ist etwas herausgekommen, das am Ende gar sen, ob überhaupt etwas in diesen Fonds hineinkommt
keine Steuerungswirkung mehr hatte. In der zweiten und wie viel das sein wird. Sie haben den Exportschlager
Handelsperiode ist es deutlich besser geworden, aber EEG ins Abseits gestellt und auf die verrottete Atom-
auch da hätte man sich mehr vorstellen können. technologie gesetzt.
Ich will aus Sicht des Parlaments in Deutschland sa- All das hat einen Torso, eine Karikatur von Energie-
gen: Wir – ich meine diejenigen, die damals schon dabei und Klimaschutzpolitik hinterlassen. Es bringt auch
waren – haben das Bestmögliche herausgeholt. Mit ei- nichts, wenn Herr Röttgen ständig schöne Sätze spricht,
nem Versteigerungsanteil von am Ende 8,8 Prozent sind die man bald alle auswendig kann. Denn er ist nicht da-
wir fast an die Grenze dessen gegangen, was wir eigent- für gewählt worden, Zukunftsforscher, Philosoph oder
lich durften. Nichtsdestotrotz gab es Mitnahmeeffekte in Leitartikler zu sein. Er ist dafür gewählt worden, Dinge
einer Größenordnung von 30 bis 35 Milliarden Euro bei umzusetzen. Ich meine beispielsweise die Frage, wel-
den großen Energieversorgungsunternehmen. Wir von chen Klimaschutz die Europäische Union zukünftig leis-
der Politik müssen uns schon zurechnen lassen, dass wir ten wird. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Frage
das nicht verhindert haben. des Emissionshandels: Wollen wir eine Verschärfung der
Klimaschutzziele innerhalb der Europäischen Union von
Was heute Grundlage ist, was wir heute diskutieren 20 auf 30 Prozent, ja oder nein? Es ist die Zeit gekom-
und demnächst hier beschließen werden, ist letztendlich men, darüber nicht weiter zu reden, sondern sich endlich
Produkt des EU-Gipfels von Ende 2008. Ich will daran durchzusetzen und die Dinge zu vollziehen.
erinnern, dass es Umweltminister Gabriel war, der da-
mals mit dafür gesorgt hat, dass diese Regeln durchge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
setzt worden sind. Die Hauptregel ist, dass es im Bereich DIE GRÜNEN)
der Energieversorgung, des Stroms, eine hundertprozen-
tige Versteigerung gibt. Das wird ab dem 1. Januar 2013 Ich empfehle sehr, das Gutachten zu lesen, das der
seine Wirkung haben. Wissenschaftliche Beirat „Globale Umweltveränderun-
gen“ heute auf den Tisch gelegt hat; ich habe es zumin-
Ich will auch hervorheben, dass wir als Bundestag dest anlesen können. Er ermahnt uns, die Dynamik zu
sehr selbstbewusst auf den Zeitpunkt Ende 2008 schauen nutzen, die in einem beschleunigten Atomausstieg in
können, weil wir als Deutscher Bundestag ein Stück Ge- Deutschland, aber auch darüber hinaus liegt. Er ermahnt
schichte geschrieben haben. Wir haben nämlich die Be- uns, die Chancen zu nutzen, die Dinge anzugehen und
teiligung des Parlaments an der EU-Gesetzgebung mit den Energieumbau voranzutreiben. Dafür braucht man
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11693
Frank Schwabe
(A) einen effizienten Emissionshandel. Ich denke – so viel (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
Gemeinsamkeit kann sein –, dass das, was wir am Ende, Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vielleicht mit leichten Veränderungen, als Gesetz verab- NEN]: Das ist wohl ein Gerücht, das Sie da ge-
schieden werden, durchaus einen Beitrag dazu leistet. hört haben! – Rolf Hempelmann [SPD]: Wann
und wo? Das hätte ich gern genauer!)
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD) Bei allem Lob: Es gibt auch drei Kritikpunkte, die ich
am Anfang des parlamentarischen Verfahrens anbringen
möchte. Frau Heinen-Esser hat die Kleinemittenten er-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wähnt. 50 Prozent der Anlagen, die neu in den Zertifika-
Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der tehandel einbezogen werden, sind Kleinemittenten, die
FDP-Fraktion. insgesamt 2 Prozent der CO2-Emissionen verursachen.
Für sie gibt es folgende Ausnahmeregelung: Wenn die
(Beifall bei der FDP)
CO2-Reduzierung entsprechend der im Zertifikatehandel
vorgesehenen Reduzierung vorgenommen wird, also pa-
Judith Skudelny (FDP): rallel zu dieser läuft, können sie vom Zertifikatehandel
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im De- ausgenommen werden, einfach aus dem Grund, dass die
zember 2009 haben die Grünen einen Antrag gestellt, die Bürokratiekosten wahrscheinlich höher wären als die
alten ineffizienten, CO2 und Quecksilber emittierenden Kosten für die Zertifikate.
fossilen Kraftwerke am besten vom Netz zu nehmen.
Hier gibt es nun Spielräume. Man kann sich vorstel-
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len, dass es zum Beispiel für eine kleine Ziegelei wie die
NEN]: Wir haben geschrieben: Keine neu zu in meiner Gemeinde, die Kunsthandwerk macht, ziem-
bauen!) lich schwierig ist, jedes Jahr den CO2-Ausstoß genau um
Heute werden diese alten ineffizienten Dreckschleudern 1,74 Prozent zu reduzieren. Es gibt vielleicht Nachrüst-
in vielen Studien und beispielsweise auch in Studien des maßnahmen, die nur 1,7 oder 1,69 Prozent oder auch nur
Öko-Instituts „kalte Reserven“ genannt. Es wird darauf 1,59 Prozent Reduzierung bringen. Für solche Fälle
verwiesen, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn diese wurde ein kleiner Spielraum vorgesehen; das heißt,
kalten Reserven jetzt hochgefahren werden. Warum? wenn sie weniger schaffen, also beispielsweise nur
Weil wir auf europäischer Ebene den Zertifikatehandel 1,6 Prozent, müssen sie für diese Differenz in Höhe des
haben. Gegenwertes der Zertifikate zahlen, also quasi eine Er-
satzzahlung leisten. Einen solchen Spielraum gibt es
(B) Spätestens jetzt hat sogar der Letzte gemerkt, dass aber nur bei einer Reduzierung von 1,6 bis 1,74 Prozent. (D)
Verschmutzungen in einen Naturraum einzupreisen, bes- Wenn die Einsparung demgegenüber beispielsweise bei
ser ist, als Techniken nach wechselnden Befindlichkei- 1,59 Prozent liegt, muss der volle Betrag bezahlt wer-
ten zu bestrafen oder zu bevorzugen. Es ist viel sinnvol- den.
ler, auf europäischer Ebene ein marktwirtschaftliches
Instrument einzuführen, als auf lokaler Ebene einzelne Wir wollen mit dem Zertifikatehandel nicht Geld ver-
Kraftwerke hoch- oder herunterzufahren. Der Zertifika- dienen, sondern für Klimaschutz sorgen. Vor diesem
tehandel ist hierfür das richtige Instrument. Insofern fin- Hintergrund ist jedes eingesparte Tönnchen CO2 eine
den wir es gut, dass wir diesen in der nächsten Handels- gute Maßnahme. Deswegen fordere ich hier für die FDP
periode weiter verstärken. eine Nachbesserung in der Form, dass jemand, der gar
nichts macht, den vollen Gegenwert zahlt, dass jemand,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
der nur halb so viel wie vorgesehen einspart, die Hälfte
CDU/CSU)
zahlen, und jemand, der drei Viertel der vorgesehenen
Es ist auch richtig, dass energieintensive Unterneh- Einsparungen schafft, nur ein Viertel zahlen soll. Hier
men kostenfreie Zuteilungen bekommen. Warum? Wir einfach einen Grenzwert festzulegen, halten wir nicht für
wollen das Klima schützen, wir wollen nicht die euro- gerechtfertigt. Das würde nur Kleinunternehmen und
päische Industrie schwächen. Unternehmen, die auf dem den Mittelstand und damit diejenigen treffen, die jetzt
globalen Markt bestehen wollen, brauchen Rahmenbe- nach der Wirtschaftskrise wieder Kapazitäten aufbauen.
dingungen, damit sie sich am globalen Markt durchset- Deswegen denken wir, dass man hierüber durchaus noch
zen können. Zu diesen Rahmenbedingungen insbeson- reden sollte.
dere für energieintensive Unternehmen gehört einfach
auch, dass wir in dieser Frage helfen müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass im
Bereich der Chemie 95 Prozent der Zertifikate frei zuge- Es gibt einen zweiten Kritikpunkt; dieser betrifft den
teilt werden. Warum ist dieser Bereich so wichtig? Wir Bereich der Müllverbrennung. Es gibt Hausmüll, es gibt
sind in Deutschland bei der Chemie Weltmarktführer. aber auch Plastikmüll. Dieser Plastikmüll, der aus Erdöl
Wir haben hier wichtige Arbeitsplätze. Ich danke Herrn besteht, kann wiederaufgearbeitet werden und wird dann
Röttgen und Herrn Wirtschaftsminister Brüderle dafür, als Ersatzbrennstoff bezeichnet. Jetzt kann man auf der
dass sie sich auf europäischer Ebene so stark für einen Seite sagen: Die Verbrennung von Öl und die Ver-
Deutschland eingesetzt haben. brennung dieses Brennstoffs, der auch einmal Öl war,
11694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Judith Skudelny
(A) (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
NEN]: Sie nennen ihn Ersatzbrennstoff, nicht Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
wir!) tion Die Linke.
ist im Prinzip gleichzusetzen. Beides emittiert ja in ge- (Beifall bei der LINKEN)
wisser Weise CO2 und fällt damit unter den Zertifika-
tehandel. Auf der anderen Seite wird aber in fast allen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Gutachten nachgewiesen, dass die Verwendung von Er- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
satzbrennstoffen dem Klima nützt: Zum einen wird das Vieles von dem, über das wir heute beraten, ist bereits
gleiche Produkt mehrfach verwertet, zum anderen ist un- 2008 auf europäischer Ebene entschieden worden. Auf
ter dem Strich tatsächlich ein positiver Klimaeffekt, ein die Emissionshandelsrichtlinie der EU hatte Deutschland
positiver CO2-Effekt vorhanden. Ob man diese positive großen Einfluss. Doch hier ist offensichtlich einiges
Maßnahme, diese Klimaschutzmaßnahme, jetzt unbe- schiefgelaufen – jedenfalls aus Sicht des Klimaschutzes.
dingt in den Zertifikatehandel einbeziehen soll, kann
man durchaus noch einmal diskutieren. Schon im Vor- Nachdem die Politik seit 2005 die Stromkonzerne fett
feld wurde ja darüber diskutiert. Man hat dann gesagt: gemacht hat, indem die Konzerne die wertvollen Emis-
Bei einem Brennwert über 13 000 Kilojoule handelt es sionsrechte vom Staat geschenkt bekommen haben und
sich um einen Ersatzbrennstoff; alles, was darunter liegt, diese aber unbegründet eingepreist haben, sollen die
Zertifikate ab 2013 wenigstens im Stromsektor verstei-
ist vom Zertifikatehandel freigestellt. Aber diese Grenze
gert werden. Dies könnte auch im Kraftwerksbereich tat-
ist nicht sachlich gerechtfertigt, sondern das Ergebnis
sächlich Lenkungswirkung entfalten, allerdings nur
von Verhandlungen. Über diesen Punkt könnte man also dann, wenn nicht zu viele Emissionsrechte auf den
durchaus auch noch nachverhandeln. Markt geworfen werden.
Der dritte Kritikpunkt betrifft den Flugverkehr. Der Doch genau hier liegt das Problem; denn überschüs-
Flugverkehr wird 2013 in den Zertifikatehandel mitein- sige Rechte können von dieser Handelsperiode 2012 in
bezogen. Davon sind allerdings auf globaler Ebene nicht die nächste Handelsperiode ab 2013 übertragen werden.
alle begeistert. Eine amerikanische Airline hat dagegen Zurzeit liegen Rechte für 100 bis 160 Millionen Tonnen
bereits Klage bei der EU-Kommission eingereicht. Man CO2 sozusagen auf Halde. Bedingt durch die Wirt-
kann darüber diskutieren, ob ein Gericht diese Frage ent- schaftskrise wurden sie nicht gebraucht. Es besteht daher
scheiden soll. In vielen Fällen kann man das bejahen. die Gefahr, dass der Markt mit Emissionsrechten über-
schwemmt wird und es daher keine Anreize für Klima-
(B) Wir denken allerdings, dass Europa eine Handelszone schutzmaßnahmen gibt. (D)
darstellt, in der wir es mit Handelspartnern zu tun haben.
Wenn von Handel, von Vertrauensverhältnissen und (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
Partnern gesprochen wird, dann sollte man sich viel- NIS 90/DIE GRÜNEN)
leicht darum bemühen, solche Gerichtsverfahren zu ver- Umweltminister Röttgen will das Minderungsziel der
meiden und stattdessen im Vorfeld mit den Partnern EU von minus 20 auf minus 30 Prozent gegenüber 1990
sprechen. verschärfen. Ich sage noch einmal: Wir unterstützen die-
ses Ziel. Es ist aber nur unter der Voraussetzung zu errei-
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha!)
chen, dass im Emissionshandelssektor entsprechend ge-
Die Liberalen auf europäischer Ebene führen diese Ge- kürzt wird. Die EU-Kommission hatte dazu auch einen
spräche schon. Wir möchten, dass auch die EU-Kom- klugen Vorschlag gemacht, nämlich im Jahr 2013 rund
mission verstärkt in die Gespräche eintritt, damit die 1,4 Milliarden Zertifikate stillzulegen. Sie würden also
Differenzen, die im Moment noch bestehen, in harten, von jenen Emissionsrechten abgezogen, die bislang zur
Versteigerung vorgesehen sind.
aber fairen Gesprächen einvernehmlich aufgelöst wer-
den und wir am Ende nicht die Gerichte darüber ent- Wir haben die Bundesregierung schriftlich gefragt,
scheiden lassen, wie unser Handel mit europäischen und was sie davon hält. Sie hat ganz frech geantwortet, einen
außereuropäischen Partnern abgewickelt wird. solchen Vorschlag der Kommission gebe es überhaupt
nicht. Dabei steht er in der Kommissionsmitteilung zur
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Analyse eines verschärften Minderungsziels schwarz auf
Si tacuisses, philosophus mansisses!) weiß. Ich vermute Folgendes: Entweder nimmt die Bun-
desregierung die Kommission und ihre Mitteilungen
In unseren Haushaltsplänen ist die Flugticketabgabe
nicht ernst oder aber das Fragerecht des deutschen Parla-
noch enthalten. Diese soll ja 2013 von der Flugverkehr- ments – vielleicht auch beides.
steuer abgelöst werden. Deshalb freue ich mich auf den
Haushalt 2013, in dem die Flugticketabgabe nicht mehr (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
enthalten sein wird. NEN]: Sie liest die Mitteilungen der Kommis-
sion einfach nicht!)
Vielen Dank.
Inzwischen hat Klimakommissarin Conni Hedegaard
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten diesen Vorschlag mehrfach wiederholt. Ich kann ankün-
der CDU/CSU) digen, dass wir, die Linke, die Kleine Anfrage noch ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11695
Eva Bulling-Schröter
(A) mal stellen und die Antwort der Bundesregierung an Wirksamkeit auch so einpreisen. Das wird jedoch nicht (C)
Frau Hedegaard schicken. Wir sind gespannt. gemacht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Insgesamt setzen wir mit dem TEHG nur ein halbher-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ziges Klimapaket der EU um. Das sollte heute, bevor es
in den Ausschüssen um Details geht, noch einmal gesagt
Die eigentliche Katastrophe in der EU-Emissionshan- worden sein.
delsrichtlinie ist aber die weitgehend kostenlose Zutei-
lung der Emissionsrechte an die Industrie. Die in jeder Zum Schluss vielleicht noch Folgendes: Für beson-
Hinsicht einfachste und wirksamste Methode einer Ver- ders schäbig halte ich es, dass Sie von der Koalition die
steigerung wurde unter deutschem Druck verworfen. Ich Kompensation für Flugreisen schon im Vorfeld gestri-
sage nicht, dass eine Versteigerung keine Probleme mit chen haben. Das finde ich grob unanständig.
sich bringen würde; denn ich kenne ja Herrn Obermeier. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Er wird dazu sicher etwas sagen. Aber man hätte es dif- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ferenzierter ausgestalten können. Wir haben in diesem
Zusammenhang im Ausschuss über Kriterien diskutiert. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Diesen Weg wollten Sie nicht beschreiten. Das Wort hat nun Hermann Ott für die Fraktion
Die Folge ist erneut ein bürokratisches Monstrum mit Bündnis 90/Die Grünen.
einem Wirrwarr von Zuteilungsregeln. Das zeigt sich
auch bei der TEHG-Novelle, also der Novelle zum Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, um die es heute Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vor-
geht. Durch das Hickhack zwischen Umwelt- und Wirt- liegende Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandels-
schaftsministerium ist das Ding zudem fast unlesbar ge- gesetz bringt unbestritten einige Verbesserungen, etwa
worden. Die Lobbyarbeit der einzelnen Wirtschafts- die Vollversteigerung im Stromsektor, die Einbeziehung
zweige und die Empfänglichkeit von Herrn Brüderle weiterer Klimagase und Anlagen oder auch die längst
dafür liegen wie Mehltau über der Rechtspflege. überfällige Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emis-
sionshandel.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt Wahr ist aber auch, dass der Emissionshandel in der
[FDP]: Keine Unterstellungen!) dritten Handelsperiode weit hinter seinen Möglichkeiten
zurückbleibt und damit den Herausforderungen des Kli-
Dabei stehen die kompliziertesten Geschichten noch mawandels nicht gerecht wird. Ich will an dieser Stelle
(B) gar nicht im Gesetz: Über den Verordnungsweg sollen nur einige Kritikpunkte nennen. (D)
noch 52 EU-weit gültige Benchmarks eingeführt wer-
den. Was sind Benchmarks? Das sind Vergleichszahlen Da gibt es nach wie vor die weitgehend kostenlose
für branchentypische Emissionen. Sie sind nötig, um die Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Industrie
Zuteilung an die Industrie im Detail zu regeln. Einzelne oder die viel zu großzügige Nutzung des Clean Develop-
Anlagen lassen sich dabei noch in fiktive Teilanlagen ment Mechanism, der teilweise höchst problematisch ist.
zerlegen. Sie sehen, wie kompliziert das Ganze ist. Die Dies sind Regelungen, die den Emissionshandel schwä-
Folge ist: Es gibt Schlupflöcher ohne Ende; eine Kon- chen.
trolle durch die Zivilgesellschaft ist quasi ausgeschlos- Doch es gibt sogar explizit klimaschädliche Regelun-
sen. Dass hier unter dem Strich viele Firmen vom zu- gen in der Richtlinie. So erlaubt es die europäische Re-
sätzlichen Klimaschutz befreit werden, pfeifen die gelung sogar, neue Kohlekraftwerke mit den Erlösen aus
Spatzen vom Dach. dem Emissionshandel zu subventionieren. Die Bedin-
gung: Sie müssen „CCS-ready“ sein. Das heißt im
Ab nächstem Jahr wird der Flugverkehr in den Emis- Grunde nicht mehr, als dass sie über einen zusätzlichen
sionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen benachbarten Bauplatz verfügen müssen, wo man so
wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Das ist aller- eine Abscheidungsanlage hinsetzen könnte – könnte,
dings wenig ermutigend; denn die zugeteilte Gesamt- aber nicht muss. Es ist, meine Damen und Herren, eine
menge wird im Jahr 2020 95 Prozent des Durchschnitts Schande, dass ein Instrument des Klimaschutzes für die
der Jahre 2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klima- Finanzierung von Kohlekraftwerken, also von Klimakil-
schutz sieht anders aus. lern, missbraucht werden kann.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der LINKEN)
Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte Dass Sie diese Regelung umsetzen wollen, steht zwar im
versteigert werden. Ferner – das halte ich für schlimm – Koalitionsvertrag, aber die Regelung steht Gott sei Dank
ignoriert das System die indirekten Effekte des Flugver- nicht im Gesetz.
kehrs wie NOx und Wasserdampf, die die Treibhauswir-
Ich komme jetzt zu der Situation in Deutschland.
kung je Tonne ausgestoßenes CO2 um den Faktor zwei
bis vier erhöhen. Das heißt, in Flughöhe ist CO2 wesent- Es muss festgestellt werden, dass der gesamte Emis-
lich klimawirksamer als am Boden, beispielsweise bei sionshandel in seiner jetzigen Ausgestaltung den Klima-
einem Auto. Dann müsste man das entsprechend der schutz in Deutschland eher behindert, indem er nämlich
11696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Hermann Ott


(A) die Erreichung des 40-Prozent-Ziels fast unmöglich ters beim Klimaschutz zu unterstreichen, hat sich die Re- (C)
macht; denn die Verpflichtungen für Deutschland setzen gierung in Ausnahmeregelungen und Detaildebatten ver-
nur das europäische 20-Prozent-Ziel um. Die Minderung zettelt. Das ist ein völlig falsches Signal, insbesondere
für den Strom- und Industriesektor in Deutschland be- für die Klimakonferenz Ende dieses Jahres.
trägt entsprechend eben auch nur 20 Prozent. Das ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nicht nur viel zu schwach. Es ist auch nicht ersichtlich,
bei der SPD und der LINKEN)
wie diese schwache Regelung von den übrigen Sektoren
kompensiert werden könnte, wo doch der Emissionshan- Die internationale Klimapolitik braucht Vorreiter; es
del nur knapp die Hälfte der Emissionen in Deutschland bräuchte Deutschland, es bräuchte die EU. Doch diese
erfasst. Wie viel mehr soll denn der Verkehrssektor er- Vorreiterrolle wollen Sie offenbar nicht annehmen.
bringen? Wie viel mehr sollen die privaten Haushalte er-
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat
bringen? Nein, das deutsche 40-Prozent-Ziel entspräche
eine Energiewende in Deutschland angekündigt. Dabei
einem europäischen Ziel von 30 Prozent. Das wäre – das
geht es nicht nur um den Ausstieg aus der nicht be-
wissen Sie auch – sowohl ökologisch als auch ökono-
herrschbaren und tödlichen Atomenergie, sondern auch
misch sinnvoll.
um den Einstieg in eine Energieversorgung durch erneu-
Aber die Bundesregierung blockiert die europäische erbare Energien und den Umbau zu einer effizienteren
Einigung auf ein 30-Prozent-Ziel. Sie blockiert damit und grüneren Wirtschaft. Die vorliegende Novelle zum
auch die Erreichung des eigenen Ziels. Ist es Schizo- Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz hätte ihren Bei-
phrenie oder kühle Kalkulation? Wir wissen es nicht. trag dazu leisten können, die Weichen in diese Zukunft
Aber so nebenbei wird dadurch auch der seit Regie- zu stellen. Doch wie bei fast allem, was diese schwarz-
rungsantritt bestehende Geburtsfehler dieser Koalition gelbe Koalition anpackt, packt sie es nicht. Es ist ein
deutlich, dass es nämlich keine Solidarität unter Ihnen Jammer.
gibt. Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bei der SPD und der LINKEN) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Wirtschaftsminister Brüderle bremst gnadenlos Um- LINKEN)
weltminister Röttgen aus, der sich für die Erhöhung des
Ziels auf 30 Prozent einsetzt. Röttgen bekommt zum Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Dank nicht einmal die Unterstützung seiner Umweltpoli- Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSU-
tikerinnen und Umweltpolitiker. Ein im Umweltaus- Fraktion.
(B) schuss eingebrachter interfraktioneller Antrag zur Erhö- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU)
hung des EU-Ziels bekam die Stimmen der Grünen, der
SPD und der Linken, aber nicht die Stimmen von Union
und FDP. Damit, meine Damen und Herren von der Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
schwarz-gelben Koalition, haben Sie schnöde Ihren ei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
genen Minister im Regen stehen gelassen. möchte zunächst unterstreichen – zumal Herr Kollege
Dr. Ott dies angezweifelt hat –: Die Umweltpolitiker der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Union stehen mit Überzeugung und großer Geschlossen-
bei der SPD und der LINKEN) heit hinter dem Eintreten des Bundesumweltministers
Zurück zum vorliegenden Entwurf. Leider müssen für ein Aufstocken des EU-Ziels auf 30 Prozent.
– wie so oft bei dieser Regierung – auch handwerkliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mängel konstatiert werden. Die Novelle kommt viel zu Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
spät. Sie hätte bereits am 2. Februar 2010 vorgelegt wer- NEN]: Warum stimmen Sie dann nicht zu? Sie
den müssen. Da ist die offizielle Frist abgelaufen. Ein hätten unseren Antrag unterstützen können!)
Vertragsverletzungsverfahren der EU ist anhängig. Das
dritte und letzte Mahnschreiben der Kommission geht Das zeigt dieser Applaus, das zeigt unser Eintreten dafür
derzeit an Deutschland heraus. Deutschland sieht neben in der Öffentlichkeit, und das zeigt auch unser Werben
Polen, Estland und Zypern ziemlich schlecht aus. Dabei dafür in den Koalitionsfraktionen. Wir wollen, dass die
stehen für die Industrie im Juni und September wichtige Entscheidung der Koalition am Ende in genau diese
Fristen an. Schon bis zum 30. Juni müssen zum Beispiel Richtung geht. Wir stehen selbstverständlich zu unserem
die Anträge der Fluggesellschaften auf kostenlose Zutei- Klimaziel, bis 2020 die Treibhausgase gegenüber 1990
lung bei der EU-Kommission vorliegen. Das ist für die um 40 Prozent zu reduzieren.
Unternehmen nur schwer zu schaffen. Ein wesentliches Instrument des Klimaschutzes ist
der Emissionshandel, über den wir heute diskutieren. Ich
Diese Verspätung ist aber nicht zufällig. Die vorlie-
glaube sagen zu können, dass mit der Emissionshandels-
gende Novelle kommt auch deshalb auf den letzten Drü-
periode ab 2013 Verbesserungen erzielt und in drei Be-
cker, weil innerhalb der Bundesregierung um Ausnah-
reichen dieses Emissionshandelssystems Quanten-
men und Sonderregelungen gefeilscht worden ist, zum
sprünge gemacht werden können.
Beispiel für die sogenannten Kleinemittenten. Statt an-
gesichts des fortschreitenden Klimawandels mit einer Erstens. Wie bereits von mehreren Rednern angespro-
zügigen und klaren Novelle den Anspruch eines Vorrei- chen worden ist, werden wir weitgehende einheitliche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11697
Andreas Jung (Konstanz)
(A) europäische Regelungen haben. Wir überwinden so das Zum Zweiten wollen wir uns anschauen, inwieweit (C)
bisher geltende Emissionshandelssystem, in dem es zwar der Spielraum genutzt wurde, den die Richtlinie bei
europäische Vorgaben, aber weiten Spielraum für natio- Kleinanlagen bietet. Diese Anlagen müssen nicht in den
nale Regelungen gibt. Damit erreichen wir zweierlei: Emissionshandel einbezogen werden, sondern können
Zum einen erreichen wir auf europäischer Ebene ein ge- davon befreit werden. Dieser Spielraum wird genutzt.
meinsames Vorgehen beim Klimaschutz im Bereich des Auch das halten wir für richtig. Wir wollen uns die Re-
Emissionshandels, zum anderen erreichen wir Wettbe- gelung noch einmal genau anschauen, damit bei diesen
werb auf Augenhöhe für unsere Industrie. Aus beiden vom Emissionshandel befreiten Unternehmen so wenig
Gründen haben wir uns dafür eingesetzt, und aus beiden Bürokratieaufwand wie möglich entsteht. Gleichzeitig
Gründen ist das ein wichtiger Schritt. müssen wir aber darauf achten, dass die Erfordernisse
des Klimaschutzes berücksichtigt werden.
Zweitens. Erstmals wird der Flugverkehr in den
Emissionshandel einbezogen. Ich glaube, das ist ein Drittens und letztens. Es gibt Regelungen, die in die-
wichtiger Einstieg. Ich glaube auch, dass es notwendig sem Gesetzentwurf nicht enthalten sind. Sie sind in der
sein wird, Schritt für Schritt zu einer weiteren Reduzie- europäischen Richtlinie verbindlich geregelt und werden
rung des Caps, zu einer weiteren Auktionierung zu kom- in Deutschland durch eine Verordnung umgesetzt. Union
men. Es ist aber aus klimapolitischer Sicht zunächst ein- und FDP haben darauf gedrungen, dass diese Verord-
mal ein Anlass zur Freude, dass dieser Einstieg gelungen nung der Zustimmungspflicht des Deutschen Bundesta-
ist und dass die jahrzehntelange Diskussion, in der es ges unterliegt. Es geht dabei um maßgebliche Fragen,
immer wieder geheißen hat, man würde die umwelt- zum Beispiel um die Regelung zur kostenlosen Zutei-
freundlichen Verkehrsmittel wie Bus und Bahn mit der lung im Bereich der Industrie. Wir finden, es ist richtig
Ökosteuer belasten, aber das Flugbenzin sei steuerfrei, und notwendig, dass der Deutsche Bundestag an dieser
damit überwunden ist. In Zukunft muss der, der mit dem Stelle ein Mitspracherecht hat. Wir wollen uns deswegen
Flugzeug unterwegs ist, auch für den CO2-Ausstoß be- Zeit für die Beratung dieser Fragen nehmen.
zahlen. Das finde ich richtig.
Herzlichen Dank.
Drittens. Wir werden – auch das ist angesprochen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
worden – zu einer 100-prozentigen Auktionierung im
Strombereich kommen. Das bedeutet in der Tat einen
Quantensprung, ausgehend von einer vollständig kosten- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
losen Zuteilung über eine Teilauktionierung in der letz- Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-
ten Legislaturperiode hin zu einer 100-prozentigen Auk- Fraktion.
(B) tionierung mit einer Differenzierung zwischen dem (Beifall bei der SPD) (D)
Energiebereich und dem Industriebereich. Das halten wir
für richtig, weil es zeigt, dass wir den Weg in eine koh-
lenstofffreie, eine kohlenstoffarme Wirtschaft gehen Rolf Hempelmann (SPD):
wollen, dass wir aber gleichzeitig Industrie und Arbeits- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
plätze in Europa im Blick haben. Wir kämpfen für ein Liebe Kollegen! Der Emissionshandel – ich glaube, da-
globales Abkommen, in dem sich alle Staaten der Welt rüber sind wir uns einig – ist ein wichtiges Klimaschutz-
verpflichten, vergleichbare Ziele anzustreben, weil dann instrument und damit ein wichtiges umweltpolitisches
eine Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht mehr möglich Instrument. Deswegen ist es schade, dass unser Kollege
ist. Wir wollen eine 100-prozentige Auktionierung im Frank Schwabe eben die Staatssekretärin bitten musste,
Energiebereich. Wir haben auch im Bereich der Industrie dem Bundesumweltminister über den Verlauf dieser De-
anspruchsvolle Ziele, aber noch nicht die Auktionierung. batte Bericht zu erstatten. Es wäre schön, wenn er hier
wäre.
Lassen Sie mich drei Bemerkungen zu dem Gesetz-
entwurf machen, über den wir heute diskutieren, mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dem das TEHG novelliert werden soll: DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth [CDU/
CSU]: Es wäre schön, wenn mehr von der SPD
Erstens. Wenn wir einheitliche Regelungen und Wett- da wären und nicht nur fünf! Sie sollten Ihre
bewerb auf Augenhöhe haben wollen, dann müssen wir Fraktion informieren!)
darauf achten, dass die europäischen Regelungen tat-
sächlich eins zu eins umgesetzt werden; dadurch wird si- Der Emissionshandel ist aber auch ein wichtiges wirt-
chergestellt, dass wir dieses Ziel erreichen. Die Bundes- schaftspolitisches Instrument. Zumindest hat dieses In-
regierung geht davon aus, dass die Emissionshandels- strument eine hohe wirtschaftspolitische Relevanz. Des-
Richtlinie durch diesen Gesetzentwurf genau so umge- wegen ist es umso bedauerlicher, dass nicht einmal ein
setzt wird. Es wurde schon angesprochen, dass das von- Bote hier ist, ein Staatssekretär, der dem Bundeswirt-
seiten der Wirtschaftsverbände an der einen oder ande- schaftsminister Bericht erstatten könnte. Ich denke, das
ren Stelle infrage gestellt wird. Wir wollen uns in der zeigt deutlich, welchen Stellenwert der amtierende Bun-
Anhörung und bei den Beratungen Zeit nehmen, um deswirtschaftsminister diesem Thema beimisst.
diese Fragen zu klären, damit wir am Ende sicher sein (Beifall des Abg. Frank Schwabe [SPD])
können, dass diese Richtlinie tatsächlich eins zu eins
umgesetzt wird. Es gibt, wie gesagt, nur noch einige De- Als Wirtschaftspolitiker werde ich mich wirtschaftspoli-
tailfragen zu klären. tischen Fragen natürlich in besonderer Weise widmen.
11698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Rolf Hempelmann
(A) Der Erfolg eines solchen Klimaschutzinstrumentes, krise ist es allen bekannt – wir eine hochvernetzte Indus- (C)
des Emissionshandels, hängt auch davon ab, dass man trie haben. Die Wertschöpfungsketten funktionieren; sie
neben den gewünschten Wirkungen, die man erreichen funktionieren auch deshalb, weil wir über die Grund-
möchte, unerwünschte vermeidet. Ein Stichwort in die- stoffindustrie verfügen. Es gibt also neben all den wich-
sem Zusammenhang ist – darüber haben wir uns hier tigen, hier schon genannten Klimaschutzaspekten auch
schon häufiger unterhalten – Carbon Leakage. Wir wol- diese Seite des Emissionshandels. Wir fordern den Wirt-
len vermeiden, dass Unternehmen den Standort Deutsch- schaftsminister auf, zu erkennen, dass dies auch sein
land verlassen, weil das Instrument Emissionshandel Thema ist und dass er sich darum kümmern muss.
hier bestimmte Folgen hat. Wir wollen vermeiden, dass
Unternehmen in Länder abwandern, in denen es dieses Vielen Dank.
Instrument nicht gibt, in denen sie ihre Produkte gegebe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nenfalls auf klima- und umweltschädliche Weise herstel- DIE GRÜNEN)
len können. Ich glaube, das ist ein honoriges Ziel, das
gerade auch den Bundeswirtschaftsminister beschäftigen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
muss.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
Ich denke da insbesondere an die energieintensive legen Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das
Grundstoffindustrie in Deutschland. Sie wissen: Wir Wort.
sind das Industrieland Nummer eins in Europa. Wir sind
dadurch natürlich in besonderer Weise von diesen As- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
pekten des Emissionshandels betroffen und besonders neten der FDP)
gefordert, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden
oder zumindest einzuschränken. Wie kann man das tun? Franz Obermeier (CDU/CSU):
Man kann es tun – so ist es Ende 2008 vom Europäi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
schen Rat festgelegt worden –, indem man dort, wo es Vielen Dank, Herr Hempelmann, für Ihre Ausführungen,
notwendig ist – und nur dort, wo es notwendig ist –, ent- zumindest für den größten Teil, in denen Sie die Debatte
sprechende Kompensationsregelungen vorsieht, zum ei- über den Emissionshandel einigermaßen realistisch dar-
nen für die direkten Kosten des Emissionshandels, also gestellt haben. Der Verweis auf den Bundesumweltmi-
die, die durch die Zertifikate entstehen, und zum anderen nister ist nicht so recht zu verstehen, wenn ich die Prä-
für die indirekten Folgen des Emissionshandels, die sich senz Ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen in dieser
beim Strompreis bemerkbar machen. Der Bundeswirt- Debatte betrachte. Vorhin waren nur fünf Kollegen an-
schaftsminister war seit Ende 2008, zumindest seit Be- wesend, jetzt zähle ich sechs. In der SPD-Fraktion wird
(B) ginn dieser Legislaturperiode aufgefordert, in einen Dia- das Thema offenbar auch nicht als so wichtig angesehen. (D)
log mit der Wirtschaft einzutreten und Vorschläge zu
erarbeiten, wie solche Kompensationsmöglichkeiten aus- Der Emissionshandel wurde von uns in der CDU/
sehen können. Der Wettbewerbskommissar Almunia hat CSU-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren als das In-
längst ein Konsultationsverfahren eingeleitet und wartet strument angesehen, das am geeignetsten ist, unsere
auf die Vorschläge der nationalen Regierungen. Nach CO2-Minderungsziele zu erreichen. Die Begründung da-
unserer Kenntnis und nach dem, was wir aus Brüssel hö- für ist, dass er ein wettbewerbliches Instrument ist.
ren, gibt es aus Deutschland dazu bisher keine Vor-
schläge. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir hören das auch von den Unternehmen, die hände-
ringend darum bitten, dass es endlich zu konkreten Re-
gelungen kommt. Warum ist das für sie so wichtig? Franz Obermeier (CDU/CSU):
Diese Unternehmen haben in der Regel sehr langfristige Ja, selbstverständlich.
Investitionszyklen, verkaufen ihre Produkte meist Jahre
im Voraus an den Weltmärkten, zum Beispiel Alumi- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nium, und sind darauf angewiesen, auch Jahre im Voraus Bitte schön.
ihre Kosten zu kennen. Die kennen sie aber nicht, wenn
zum Beispiel über die wichtige Frage der Kompensation
nicht zeitig Entscheidungen getroffen werden. Deswe- Dr. Matthias Miersch (SPD):
gen richten wir die dringende Aufforderung an den Bun- Herr Kollege Obermeier, sind Sie bereit, zur Kenntnis
deswirtschaftsminister – möglicherweise liest er die Pro- zu nehmen, dass die SPD-Bundestagsfraktion parallel zu
tokolle des Deutschen Bundestages –, sich endlich in dieser Aussprache und zur ersten Lesung dieses Gesetz-
dieses Konsultationsverfahren einzuschalten, entwurfes ein seit langem anberaumtes Gespräch mit
Zeitzeugen aus Tschernobyl führt und ein großer Teil un-
(Beifall bei der SPD) serer Umweltpolitiker an diesem Gespräch teilnimmt?
den notwendigen Dialog mit der Wirtschaft zu führen (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist
und konkrete Kompensationsvorschläge vorzulegen. dafür aber doch keine Begründung! Plenum
Das ist für uns wichtig, nicht nur für die Grundstoffin- geht vor! Wo kommen wir denn da hin? Der
dustrie, sondern für die Industrie insgesamt, weil – das Minister hat auch wichtige Termine! Der geht
wissen wir mittlerweile; spätestens seit der Wirtschafts- ja auch nicht Kaffee trinken! – Gegenruf des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11699
Dr. Matthias Miersch
(A) Abg. Frank Schwabe [SPD]: Wo ist er denn, Herzlichen Dank. (C)
der Minister?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Franz Obermeier (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:


Das nehme ich zur Kenntnis. Ich schließe die Aussprache.
Es geht um die Frage, wie wir unsere Klimaziele er- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
reichen und die Minderung des Umfangs der CO2-Emis- wurfs auf Drucksache 17/5296 an die in der Tagesord-
sionen so gestalten, dass wir die anderen Ziele, die wir nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
verfolgen, die Ziele volkswirtschaftlicher Natur, eben-
falls erreichen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen zum
wiederholten Male, dass Deutschland hier eine ganz be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
sondere Rolle spielt. Dem Klima ist mit Sicherheit nicht Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
gedient, wenn wir Produktion und Fertigung aus Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
Deutschland in andere Länder vertreiben, indem wir die weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Produktionskosten erhöhen und unsere Wettbewerbsfä- NIS 90/DIE GRÜNEN
higkeit im Allgemeinen so sehr schwächen, dass die Pro-
duzenten an andere Standorte gehen. Rolf Hempelmann Integration Älterer in den Arbeitsmarkt ver-
hat die Themen, die relevant sind, schon angesprochen. bessern
Es geht um Schlüsselindustrien in Deutschland, die wir – Drucksache 17/5235 –
im Blick haben müssen. Ich bin der Bundesregierung Überweisungsvorschlag:
ausgesprochen dankbar, dass auf diese Belange in den Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Verhandlungen innerhalb Deutschlands, aber auch inner- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
halb der Europäischen Union Rücksicht genommen Ausschuss für Gesundheit
wurde. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ganz konkret geht es beispielsweise um die Abfall- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
verwertung. Bei der Abfallverwertung entstehen Kosten. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Diese Kosten sind von den Verarbeitern, den Nutzern, dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
beispielsweise von der Verpackungsindustrie, zu tragen.
(B) Es kommt sehr wohl darauf an, wie man damit umgeht. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin (D)
Eine Lösung ist, die klassischen Müllverbrennungsanla- Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
gen davon auszunehmen. Ich könnte mit der Lösung le- nen das Wort.
ben, dass die Zertifikatspflicht auch dort zur Geltung
kommt, wo Ersatzbrennstoffe industriell eingesetzt wer- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den. Denn hier geht es ganz konkret um die Produktion Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und
und die wirtschaftliche Verwertung von Abfällen. Herren! Es ist ungefähr ein Jahr her, dass Frau von der
Was den Zertifikatehandel betrifft, ist dieser Aspekt Leyen gesagt hat, es gehe jetzt darum, den Silberschatz
von eminenter Bedeutung, weil die bundesdeutsche Volks- des Alters zu heben, und nicht etwa darum, die Älteren
wirtschaft ohnehin mit einer Wettbewerbsverzerrung be- zu entsorgen. Ich finde, das klingt gut. Das hat etwas
sonderen Ausmaßes zu kämpfen haben wird, wenn die Prosaisches. Das Problem ist aber, dass – anders als im
Dinge erst einmal ins Laufen gekommen sind. Denn auch Märchen – in der Realität leider niemandem ein solcher
innerhalb der Europäischen Union gibt es Wettbewerbs- Silberschatz einfach in den Schoß fällt. Dafür muss man
länder, die eine völlig andere Energieproduktionsstruktur etwas tun.
aufweisen, deren Stromwirtschaft beispielsweise deutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
weniger CO2 emittiert, als es in Deutschland der Fall ist. sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])
In Anbetracht der Strategie des Energiekonzeptes und der
Neuerungen, die sich aus den Lehren, die wir aus den Er- Wenn man sich die Zahlen dazu anguckt, dann sieht
eignissen in Japan ziehen, möglicherweise ergeben, müs- man, dass seit diesen bahnbrechenden Worten leider nicht
sen wir uns auch mit anderen Emissionsstrukturen befas- viel passiert ist. Die Zahlen sprechen da eine deutliche
sen, als wir es uns noch vor wenigen Monaten vorgestellt Sprache. In 35 Prozent aller Betriebe gibt es keinen ein-
haben. zigen Beschäftigten über 50 Jahre. Ich gebe zu: Die Be-
schäftigungsquote Älterer hat sich etwas verbessert. Aber
Ich bitte die Bundesregierung, bei den Verhandlungen es lohnt sich schon, sehr genau hinzugucken. In der Al-
weiterhin sehr behutsam vorzugehen, was die Emissio- tersgruppe der 60- bis 64-Jährigen sind nur noch 38 Pro-
nen im Allgemeinen betrifft. Des Weiteren verweise ich zent überhaupt beschäftigt. Arbeitslose über 50 haben es
auf die am kommenden Montag stattfindende Anhörung, besonders schwer, wieder einen Arbeitsplatz zu finden.
in der wir mit den Experten noch einmal darüber disku- Wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, schlittern sie
tieren wollen, wie wir den Zertifikatehandel im Interesse im Regelfall in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das können
unseres Landes so gestalten können, dass die nachteili- wir uns angesichts des Fachkräftemangels nicht mehr
gen Wirkungen möglichst gering bleiben. leisten, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass
11700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Brigitte Pothmer
(A) diese Generation, deren Potenziale wir jetzt nicht nutzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
besser ausgebildet ist als die nachfolgenden Generatio- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
nen. der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Wir wollen die Betriebe nicht aus der Ver-
antwortung entlassen. Sie sollen die Älteren nicht nur
Die Regierung geht offensichtlich davon aus, dass die schätzen, sondern auch einstellen.
durch den demografischen Wandel bedingte Nachfrage
dieses Problem lösen wird. Ich kann Ihnen nur sagen:
Wenn wir hier nicht mit einer konzertierten Aktion vor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gehen, wird sich gar nichts daran ändern. Wir sind ge- Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
rade im Begriff, in eine Situation zu schlittern, die auf
der einen Seite durch einen hohen Fachkräftemangel be- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schrieben werden kann und auf der anderen Seite durch Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir müs-
eine hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Älteren. sen endlich aufhören, Menschen ab 45 als arbeitsmarkt-
politische Methusalems zu behandeln. Damit werden wir
Ja, wir sind der Auffassung, dass die Lebensarbeits-
ihnen nicht gerecht.
zeit an die steigende Lebenserwartung angeglichen wer-
den muss. Aber dazu muss man dann auch die Voraus- Ich danke Ihnen.
setzungen schaffen. Wir weigern uns, anzuerkennen,
dass das Prinzip „Rente mit 67“ zu einem Prinzip der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir bei der SPD und der LINKEN)
ausdrücklich nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Wir wollen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dass die Menschen qualifiziert, motiviert und gesund das
Rentenalter erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass
Menschen, auch wenn sie mit über 50 Jahren arbeitslos Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
werden, eine echte und realistische Chance haben, wie- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
der einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Es ist unstrittig richtig, dass die Erwerbsbeteiligung älte-
(B) rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- (D)
Der Antrag, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, land in der Vergangenheit katastrophal schlecht war und
enthält eine Menge von Vorschlägen zu diesem Problem. dass sie auch heute noch nicht besonders gut ist, sich
Wir wollen, dass kontinuierliche Qualifizierung in den aber immerhin verbessert.
Betrieben ansetzt. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit
den Maßnahmen zu beginnen, wenn die Menschen alt Frau Kollegin Pothmer, es ist gut, wenn man Analy-
sind. Sie müssen beginnen, wenn man in den Beruf ein- sen vorträgt, wie Sie das gemacht haben, aber man muss
steigt. Es geht darum, alters- und alternsgerechte Ar- natürlich auch etwas zu den Ursachen sagen. Eine Ursa-
beitsbedingungen zu schaffen, und es geht darum, die che dafür, dass die Zahlen heute so schlecht sind, ist na-
Vermittlung insbesondere der Älteren zu verbessern. türlich die über Jahre hinweg praktizierte Frühverren-
tungspolitik in Deutschland.
Ich habe nur vier Minuten Redezeit und kann deswe-
gen nicht ins Detail gehen; aber drei grundlegende Vo- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
raussetzungen für die Kultur der Altersarbeit will ich Ih- NEN]: Unter Helmut Kohl!)
nen nennen. Gott sei Dank haben wir, schon in der Großen Koalition
Das Erste ist: Wir müssen ehrlich sein. 90 000 Ältere beginnend, die Anreize für eine Frühverrentung konse-
sind arbeitslos und werden nur deswegen nicht als solche quent abgebaut. Das war ein klares und deutliches Zei-
gezählt, weil sie über ein Jahr lang kein Angebot bekom- chen dafür, dass wir hinsichtlich der Beschäftigung älte-
men haben. Das ist nicht ehrlich, das verschleiert das rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
reale Problem. umsteuern und auch zum Umdenken auffordern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, dafür gibt es zwei wichtige Anlässe. Der
sowie bei Abgeordneten der SPD) erste Anlass ist: Auch in den Chefetagen und Personalbü-
ros deutscher Unternehmen lernt man hinzu. Wer auf das
Zweitens. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem in Qualifi- Erfahrungswissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
zierung investiert werden muss, weil es einen ansprin- nehmer leichtfertig verzichtet, der erleidet einen Wettbe-
genden Arbeitsmarkt gibt, für den wir die Menschen werbsnachteil. Deswegen findet Gott sei Dank ein Um-
qualifizieren müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen denken statt. Der zweite Anlass ist: Die kommenden
von der CDU/CSU-FDP-Koalition, ich bitte Sie: Stop- Jahre und Jahrzehnte werden deutlich anders aussehen als
pen Sie Ihren Finanzminister und Ihre Arbeitsministerin, die vergangenen, weil die Zahl der Menschen in Deutsch-
die Mittel zur Arbeitsförderung um Milliardenbeträge zu land, die erwerbsfähig sind, dramatisch zurückgehen
verringern. wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11701
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Im Rahmen einer von der Unionsfraktion kürzlich zen Bündel von Projekten; es gibt die Gemeinsame (C)
durchgeführten Fachveranstaltung hat uns Herr Profes- Deutsche Arbeitsstrategie von Bund, Ländern und Un-
sor Brücker vom IAB vorgetragen, dass die Zahl der fallversicherungsträgern zur Förderung präventiven Ar-
Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2050 beitsschutzes und das Programm Perspektive 50plus mit
von heute 45 Millionen auf nur noch 27 Millionen zu- einem ganzen Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung
rückgehen wird. Das ist eine dramatische Veränderung, der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen
die zeigt, dass die Frage der Zukunft, der nächsten Jahr- und Arbeitnehmer. Von meinen Besuchen in etlichen Be-
zehnte, nicht sein wird: „Wie werde ich ältere Arbeitneh- trieben, die an diesem Programm teilnehmen, weiß ich,
merinnen und Arbeitnehmer mit einer Frühverrentungs- dass es erstaunlich ist, was entgegen dem, was landläufig
politik möglichst bald los?“, sondern dass die Frage für an Auffassungen vertreten wird, möglich ist, um Be-
die Unternehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben schäftigung für über 50- oder auch über 60-Jährige zu
und Fachkräfte halten wollen, sein wird: „Wie begeistere schaffen.
ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mög-
Aktuell arbeitet das Bundesministerium für Arbeit
lichst lange zu bleiben, weil ich auf sie angewiesen
und Soziales am Aufbau einer strategischen Partner-
bin?“. Deswegen wird sich die Politik in Bezug auf äl-
schaft mit wirtschaftsnahen regionalen Akteuren, Initia-
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber
tiven und Projekten, um ein Konzept zu entwickeln, das
der in der Vergangenheit deutlich verändern müssen.
insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung älterer
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt die Ar-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beitskräftebasis sichert.
Unsere Aufgabe in der Politik ist es, dafür zu sorgen, Neben dem Handeln des Staates gibt es aber auch das
dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch Handeln der Sozialpartner, zum Beispiel im Rahmen von
tatsächlich länger in Arbeit bleiben können. Es gibt hier Tarifverträgen wie in der Eisen- und Stahlindustrie oder
eine ganze Menge an Aufgabenstellungen: Weiterbildung in der Chemieindustrie mit ihrem Tarifvertrag „Lebens-
während des ganzen Berufslebens, Gestaltung moderner, arbeitszeit und Demografie“.
gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, weitere Fortschritte Des Weiteren gibt es die neuen Programme der So-
bei der Humanisierung und der Gestaltung der Arbeits- zialversicherungsträger. So wendet sich die Deutsche
welt, Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, Ausbau von Rentenversicherung Bund zum Beispiel mit ihrem Rah-
Prävention, betrieblicher Gesundheitsförderung und Re- menkonzept zur Erprobung von Präventionsleistungen
habilitation. „Beschäftigungsfähigkeit teilhabeorientiert sichern“ an
Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass mittler- Versicherte mit ungünstigen Bedingungen am Arbeits-
(B) weile der größte Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- platz und versucht, Änderungen möglich zu machen. (D)
nehmer, die einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente Ich will zusammenfassend festhalten: Ich glaube, das,
stellen, sprich: vorzeitig in Rente gehen müssen, diesen was an Initiativen staatlicherseits, durch die Sozialpart-
Antrag wegen psychischer Erkrankungen stellen. ner und durch die Sozialversicherungen auf den Weg ge-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bracht worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten
NEN]: Richtig!) das nicht kleinreden, sondern stärker publik machen.

Das Gesundheitsmanagement in Deutschland, was Ich freue mich über den Antrag der Grünen zu diesem
das Vermeiden psychischer Erkrankungen anbelangt, ist Thema.
in den Betrieben völlig unterentwickelt. Hier muss ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schwerpunkt gesetzt werden. Die Arbeitswelt muss
nicht zwangsläufig so gestaltet sein, dass psychische Er- Ich muss Ihnen aber sagen: Angesichts dessen, was wir
krankungen in Deutschland von Jahr zu Jahr zunehmen. bereits auf den Weg gebracht haben,

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- NEN]: Das wissen wir alles inzwischen!)
geordneten der SPD – Brigitte Pothmer bleibt mir nur, aus Schillers Wallenstein zu zitieren:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie „Spät kommt ihr – doch ihr kommt!“
denn, Herr Weiß?)
Vielen Dank.
Wir brauchen neue Arbeitsformen, die besser auf die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erfordernisse älterer Arbeitnehmer eingehen. Wir brau-
chen auch Projekte und Programme, die auf einen Be-
rufswechsel im Laufe des Erwerbslebens abzielen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Anton Schaaf für die Fraktion der
Im Antrag der Grünen wird ein bisschen so getan, als SPD.
gäbe es bisher gar nichts in diesem Bereich. Deswegen
möchte ich sagen, was wir mittlerweile politisch an Pro- (Beifall bei der SPD)
grammen initiiert haben, die auch laufen. Es gibt zum
Beispiel INQA, die Initiative Neue Qualität der Arbeit, Anton Schaaf (SPD):
die auf die Schaffung gesundheits- und leistungsfördern- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
der Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist, mit einem gan- Peter Weiß, der Antrag zum Thema „ältere Arbeitneh-
11702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Anton Schaaf
(A) mer“ ist vor allen Dingen deshalb richtig und notwendig ein höheres Renteneintrittsalter bestrafen will, die Rente (C)
– das sage ich gleich am Anfang –, weil diese Koali- mit 67 nicht einführen darf, ich betone: jetzt nicht.
tionsregierung in diesem Bereich nichts tut. Deswegen
ist er richtig, und er kommt zum richtigen Zeitpunkt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ An dieser Stelle sind Sie völlig ignorant. Das hat nichts
DIE GRÜNEN) mit Wertschätzung zu tun. Wenn ein älterer Mensch ar-
beitslos geworden ist, muss er vor dem Hintergrund nach-
Übrigens verstoßt ihr damit gegen euren eigenen Ko- rangiger Leistungen nach SGB II mit 63 vorzeitig die
alitionsvertrag, Peter Weiß. Auf Seite 111 habt ihr insbe- Rente beantragen. Er muss das tun! Ab dem nächsten Jahr
sondere ältere Arbeitnehmer in den Blick genommen hat er dann nicht nur für zwei Jahre, sondern für zwei
und festgestellt: Da muss man was machen. Das hat viel Jahre und einen Monat Abschläge hinzunehmen, und
mit Wertschätzung der Älteren und deren Kompetenz zu zwar dauerhaft. Das ist Ihre Art der Wertschätzung älterer
tun. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Frau von der
Wie sieht die Wertschätzung konkret aus, Peter Weiß? Leyen hat sich um die älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer – wie ich finde: sehr bezeichnend – geküm-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Schau mal in mert. Sie hat gesagt: Wenn die ihren Beruf nicht mehr
die Arbeitsstatistik hinein!) ausüben können, sollen sie etwas anderes machen. – Hun-
derttausende Hausmeisterstellen werden wir wohl nicht
Das macht die geplante Neuordnung der arbeitsmarkt-
zur Verfügung stellen können. Frau von der Leyen muss
politischen Instrumente deutlich. Darin geht es beispiels-
sich auch einmal hierhin stellen und sagen, was die Ar-
weise um die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Beruf nicht
nach SGB III. Sie soll als dauerhaftes Instrument beibe-
mehr ausüben können, anderes machen sollen.
halten werden, was völlig richtig ist, weil es ein sinnvol-
les Instrument ist. Weiter heißt es: Die Nettoentgeltdiffe- Sie nehmen auch nicht an der Debatte über die Frage
renz soll mindestens 100 Euro statt wie bisher 50 Euro teil: Was ist eigentlich mit einem sozialen Arbeitsmarkt?
betragen; es soll Aufstockungsbeträge geben, und zwar Sollten wir darüber nicht einmal ernsthaft diskutieren?
60 Prozent bzw. im zweiten Jahr 40 Prozent.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dann kommt es: Das, was bisher das Instrument sehr DIE GRÜNEN)
attraktiv gemacht hat und auch Wertschätzung aus-
drückte, nämlich die Aufstockung für die Rentenversi- Aber da ist bei Ihnen überhaupt nichts. Sie überlassen
cherung, soll ersatzlos gestrichen werden. das alles schlichtweg der Wirtschaft und setzen auf das
(B)
So sieht Ihre Wertschätzung älterer Arbeitnehmerin- Verständnis der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wenn wir (D)
nen und Arbeitnehmer und deren Bereitschaft, geringer nicht ernsthaft über die Verursacherfrage diskutieren und
entlohnte Jobs anzunehmen, aus. Das ist Pharisäertum. die Verursacher benennen, wird sich bei der Wirtschaft
Dann lassen Sie die Sonntagsreden sein und sagen Sie nichts ändern. Dann werden Arbeitnehmerinnen und Ar-
ehrlich, meine Damen und Herren von der Koalition: beitnehmer so lange ausgepowert, bis sie nicht mehr
Wir schätzen die Aufnahme von Arbeit durch ältere Ar- können, und dann aus den Betrieben hinausgejagt.
beitnehmer nicht. Ich mache das an einem Beispiel klar. Der eine oder
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ andere von Ihnen weiß bereits, dass ich früher bei der
DIE GRÜNEN) Müllabfuhr gearbeitet habe. Wenn die Kolleginnen und
Kollegen, die schwere Arbeit leisten mussten, mehr Ar-
Das korrespondiert übrigens mit Ihrer Ignoranz beim beit hinzubekommen haben, habe ich als Betriebsrat zu-
Thema Rente mit 67, um das sehr deutlich zu sagen. gegebenermaßen immer als Erstes nach mehr Geld ge-
Wenn wir uns die Beschäftigungsquote älterer Menschen schrien. Mehr schwere Arbeit, mehr Geld! Wenn die
genau anschauen, dann stellen wir fest, dass die Beschäf- Kollegen durch den Job dann vorzeitig kaputt waren,
tigung älterer Menschen zwar leicht gestiegen ist, dass habe ich nach dem Sozialstaat geschrien und gesagt:
aber die Beschäftigungsquote bei den über 60-Jährigen Kümmert euch um die Kaputten! – So ist es gelaufen;
dramatisch einbricht. denn ein kaputter Müllmann bekommt nirgendwo anders
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist einen Job. Die entscheidende Frage lautet: Was machen
es!) wir dagegen, dass Menschen durch Arbeit – körperlich
oder psychisch – vorzeitig kaputt sind? Die Verursacher
Wenn man sich die Beschäftigungsarten genau anschaut, nehmen wir nicht in Haftung. Wir machen nichts. Die
dann stellt man fest, dass viele nur noch teilweise be- Verursacher sind die Arbeitgeber, die solche Arbeit zur
schäftigt sind und dass die Steigerung der Quote auch da- Verfügung stellen. Diese nehmen wir nicht in Haftung,
mit zusammenhängt, dass vor allen Dingen ältere Frauen weder bei Weiterbildung und Qualifizierung noch bei
wieder Arbeit aufgenommen haben, um beispielsweise der Übernahme sozialer Verantwortung, wenn Menschen
hinzuzuverdienen. Wenn man das mit dem Gesetz ver- durch Arbeit kaputt sind. Auch Sie übernehmen übrigens
gleicht und sich die Situation der älteren Menschen genau keine Verantwortung. Sie haben sich komplett verwei-
anschaut, dann kommt man überhaupt nicht darum he- gert und noch nicht einmal über das Thema Erwerbsmin-
rum, sich einzugestehen, dass man jetzt, wenn man die äl- derungsrente diskutiert. Hier nehmen Sie sich komplett
teren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht durch aus der Verantwortung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11703
Anton Schaaf
(A) Wenn wir das Renteneintrittsalter erhöhen, dann müs- (Anton Schaaf [SPD]: Schwarz-gelb!) (C)
sen wir die Frage beantworten: Was machen wir mit den
– Nein, nicht schwarz-gelb, sondern schwarz. Schwarz-
Menschen, die durch Arbeit vorzeitig kaputt sind? Mitt-
gelb wäre ja gut, Toni Schaaf.
lerweile gibt es einschlägige Urteile betreffend Ab-
schlagsregelungen bzw. Zurechnungszeiten. Aber auf Ih- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
rer Seite gibt es überhaupt keine Bewegung. Stellen Sie
sich also in Zukunft nicht mehr hierhin und schätzen äl- Aber Sie haben es ein bisschen schwarz gezeichnet.
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbal! Denn Wenn man eine Situation etwas verbessern will, muss
immer wenn es darauf ankommt, etwas für ältere Arbeit- man erst einmal schauen, was denn schon gut läuft. Ich
nehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun, streichen Sie bei- glaube, die Steigerungsraten bei den Zahlen von Älteren
spielsweise die Mittel im Eingliederungstitel. Gerade auf dem Arbeitsmarkt, die wir in den letzten Jahren hat-
jetzt, wo die Arbeitsmarktlage so gut ist, wären mehr Mit- ten, lieber Toni Schaaf – die Rente mit 67 ist ja genau in
tel zur massiven Förderung älterer Menschen, die schon der Erwartung dieses Effekts von Ihnen auch eingeführt
länger arbeitslos sind, richtig eingesetzt; denn nur so ha- worden –, sind in absoluten Zahlen natürlich noch verbes-
ben die Betroffenen eine Chance auf Integration in den serungsfähig. Das ist ganz klar. Das liegt aber auch daran,
ersten Arbeitsmarkt. Aber nein, Sie machen es genau an- dass die Altersteilzeit eben erst ausläuft. Trotzdem sind
ders herum. Sie streichen die Mittel im Eingliederungsti- die Steigerungsraten beeindruckend. Ich will es noch ein-
tel massiv zusammen. So werden Sie keinen Beitrag dazu mal zitieren. Wir hatten vor zehn Jahren 2,6 Millionen Äl-
leisten, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dau- tere sozialversicherungspflichtig beschäftigt, heute sind es
erhaft in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder in immerhin 3,8 Millionen.
Arbeit zu halten. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
Ich danke für die Aufmerksamkeit. In den letzten fünf Jahren hatten wir bei den 55- bis
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 60-Jährigen 35 Prozent plus, und, Toni Schaaf, bei den-
DIE GRÜNEN) jenigen über 60 sind es sogar noch mehr, nämlich
40 Prozent plus.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf von der FDP: Das ist doch was!)
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak- Nachher wird der Kollege Birkwald wahrscheinlich sa-
tion. gen, ja, es geht nicht nur um Prozente, es geht auch um
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) absolute Zahlen.
(B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist (D)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): es!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da bin ich bei Ihnen. Aber eine 40-prozentige Steige-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Ja,
rung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erheblich. Das
auch ich kann mich dem Kollegen Peter Weiß anschlie-
müssen wir natürlich ausbauen. Aber mehr hat man übri-
ßen. Das Ziel teilen wir.
gens auch bei der Einführung der Rente mit 67 nicht zu
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hoffen wagen können. Insofern müssen wir erst einmal
NEN]: Es wäre klüger, wenn Sie sich meiner festhalten, dass der Trend in die richtige Richtung geht.
Rede anschließen! – Heiterkeit bei der CDU/
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
CSU – Zuruf von der FDP: Das ginge zu
ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das
weit!)
reicht aber nicht!)
– Nein, Frau Kollegin Pothmer, Ihrer Rede kann ich
Übrigens ist die Steigerungsrate bei den Beschäftigten
mich natürlich nicht anschließen. Das ginge zu weit.
bei den über 55-Jährigen höher als bei den unter 25-Jäh-
Aber wir teilen das Ziel. – Denn natürlich ist das nötig,
rigen. – Das nur einmal mit Blick auf die unterschiedli-
nicht nur, um den Menschen, die älter sind und auf dem
chen Gruppen am Arbeitsmarkt.
Arbeitsmarkt noch Probleme haben, eine Perspektive zu
geben, sondern auch – Sie haben es selber angesprochen –, Als besonderes Schmankerl, liebe Frau Kollegin
um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. Pothmer – wir beide zitieren ja immer gern das IAB –:
Der IAB-Kurzbericht 16/2009 hat genau das festgehal-
Bei 6 Millionen Arbeitskräften, die uns bis 2030 feh- ten; er hat nämlich festgehalten, dass es einen positiven
len, muss man an vielen Schrauben drehen. Da werden Trend bei den Älteren auf dem Arbeitsmarkt gibt,
wir über die Erwerbsquote, die Beteiligungsquote von
Frauen reden müssen, da werden wir auch über Zuwan- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
derung reden müssen, und da werden wir ganz zentral NEN]: Das hat doch niemand bestritten!)
auch über die Frage reden müssen, welche Rolle Ältere
und er hat das als langfristiges Phänomen festgestellt.
eigentlich auf dem Arbeitsmarkt spielen.
Das ist nicht nur kurzfristig, das ist nicht nur Konjunk-
Ich freue mich, dass Sie das so wie wir sehen. Ich tur. Es ist ein langfristiges Phänomen. Und was war der
glaube, dass Sie aber doch ein bisschen – deswegen kann entscheidende Vorschlag, den politisch umzusetzen uns
ich mich Ihrer Rede auch nicht anschließen, Frau Kolle- das IAB noch geraten hat? Die geförderte Altersteilzeit
gin – zu schwarz gezeichnet haben. Das wissen Sie auch. als Frühverrentungsprogramm auslaufen zu lassen.
11704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bevor Sie hier Anträge stellen, in denen behauptet wird, (C)
NEN]: Das ist doch lange unser Programm! die Regierung würde zu wenig tun, es gäbe zu wenig
Was reden Sie da?) Programme, sollten wir, liebe Opposition, vielleicht ge-
meinsam daran arbeiten, dass die Programme, die es
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ha-
gibt, bekannter werden.
ben als Koalition entgegen Ihrem Antrag zu Beginn der
Legislatur genau das gemacht, weil wir Ältere auf dem (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Arbeitsmarkt sehen wollen und nicht in die Frühverren- NEN]: Sollen wir jetzt für Sie als Öffentlich-
tung drängen. keitsarbeiter fungieren?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Das wäre eine Aufgabe, der Sie sich mit uns widmen
Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
könnten. Damit würden Sie für Ältere auf dem Arbeits-
NEN]: Gut, aber das ist ja lange unser Pro-
markt mehr tun als mit den Anträgen, die Sie vorlegen,
gramm! – Anton Schaaf [SPD]: Das hat Rot-
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Grün schon gemacht!)
Jetzt gucken wir auch einmal auf die Unternehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben eben gesagt: Wir
wollen das nicht den Unternehmen überlassen. – Das ist Der Kollege Toni Schaaf hat auf die Rentenpolitik
richtig. Auch der Staat hat da etwas zu tun, auch die So- – Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Rente mit 67 –
lidargemeinschaft. Aber, Frau Kollegin, wir haben eben hingewiesen. Ich will zum Abschluss auf einen Aspekt
und in erster Linie auch die Unternehmen in der Pflicht. zu sprechen kommen, der deutlich macht, dass in der Tat
noch etwas zu tun ist – im Gegensatz zu dem, was aus
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihrem Antrag, liebe Kollegin Pothmer, hervorgeht, neh-
NEN]: Genau!) men wir uns vor, auf diesem Gebiet etwas zu tun –, näm-
lich auf den flexiblen Renteneintritt. Ich will einen der
Deshalb ist es doch wichtig, auf zwei Dinge hinzuwei-
profiliertesten Rentenpolitiker im Deutschen Bundestag
sen. Erstens. Wenn die Unternehmen auch in der Pflicht
zitieren, einen gewissen Dr. Heinrich Leonhard Kolb.
sind, dann ist das Beste, was man politischerseits für die
Chancen von Älteren auf dem Arbeitsmarkt tun kann, (Zurufe von der SPD: Oh! – Beifall bei der
durch gute Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachs- FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU –
tum zu sorgen. Dazu verweise ich nur auf die heutigen Anton Schaaf [SPD]: Das ist eine Einzelmei-
Konjunkturdaten. Die Institute haben ihre Prognosen nung!)
von 2,3 Prozent auf 2,8 Prozent hochkorrigiert. Das ist
(B) die Politik der schwarz-gelben Koalition. Wir schaffen Er sagt: Es ist Sache des Einzelnen, zu entscheiden, (D)
die Rahmenbedingungen für Wachstum auf dem Ar- wann er aufhören will, zu arbeiten, nicht die Sache des
beitsmarkt, und das ist auch die beste Grundlage für Äl- Staates. Das ist richtig.
tere auf dem Arbeitsmarkt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wenn ich mir dann anschaue, dass sich das Bild von Deshalb brauchen wir nach Meinung meiner Fraktion
Älteren in den Unternehmen dramatisch wandelt – das und auch nach meiner Meinung ein flexibles Rentenein-
sagen uns alle Erhebungen, die es dazu gibt –, dass Äl- trittsalter. Zumindest brauchen wir einen Wegfall der Zu-
tere in den Unternehmen endlich stärker anerkannt wer- verdienstgrenzen für diejenigen Menschen, die vorzeitig
den, dann, glaube ich, haben wir einen positiven Trend, in Rente gegangen sind. Diese Koalition spricht also zu
den wir verstärken müssen. Recht gerade genau darüber. Wir müssen diesen Bereich
angehen.
Damit komme ich zur Intention Ihres Antrags, die wir
in der Tat verstärken müssen. Aber das tun wir bereits. In Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben gesagt: Wir
der Arbeitsmarktpolitik zum Beispiel wird diese Koali- müssen uns der Frage „Was ist, wenn jemand in seinem
tion den Gedanken beibehalten, dass wir eben auch die- Beruf nicht mehr tätig sein kann und etwas anderes ma-
jenigen fördern, die in Beschäftigung sind, den Gedan- chen will?“ stellen. Es ist richtig, dass wir uns dieser
ken – Sie sprechen es in Ihrem Antrag selber an –, der Frage stellen müssen; denn die Menschen und die Berufe
hinter dem Wegebauprogramm steht. Es geht aber übri- sind unterschiedlich. Mein Vater etwa ist vorzeitig in
gens politischerseits auch darum, dass wir Programme, Rente gegangen. Er wollte etwas anderes machen; er
die es gibt, bekannter machen. Ich verweise nur einmal kann etwas anderes machen. Das Problem ist: Unser
auf das Angebot an Bildungsprämien aus dem Bildungs- Staat lässt ihn nicht, weil er nur 400 Euro dazuverdienen
und Forschungsministerium. Das ist ein Programm, mit kann. Das ist eines der konkreten Probleme, denen sich
dem auch Unterstützungen aus Steuermitteln für berufli- diese Koalition widmen wird. Frau Kollegin Pothmer, es
che Weiterqualifikation, gerade für geringer qualifizierte geht darum, den Silberschatz des Alters zu heben. Ich
Arbeitnehmer, zur Verfügung gestellt werden. Das Pro- freue mich, dass Sie daran mitarbeiten wollen. Aber
gramm ist kaum bekannt. grundsätzlich ist das Ganze bei uns in guten Händen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank.
NEN]: Vielleicht sollten Sie mal etwas dafür
tun, damit es bekannter wird!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11705

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: auch der Kollege Vogel plädiert –, sind nichts anderes (C)
Das Wort hat nun Kollege Matthias W. Birkwald für als die Fortsetzung der Kombilohnpolitik mit rentenpoli-
die Fraktion Die Linke. tischen Mitteln. Im Klartext: Niedriglohn und Tüten ein-
packen im Supermarkt, weil die Rente nicht reicht, das
(Beifall bei der LINKEN) wollen wir nicht.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Immer dann, wenn die Nachfrage nach Arbeitskraft
ren! Frau Pothmer, „motiviert, qualifiziert und gesund“ nicht da ist, kommen Sie uns mit demselben alten Re-
bis zum Renteneintritt arbeiten zu können, ist eine Vor- zept: Arbeit müsse billiger werden,
stellung, die von vielen Menschen und ganz gewiss auch
von allen hier im Parlament vertretenen Parteien geteilt (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wird. Auch die Linke, liebe Kolleginnen und Kollegen NEN]: Wer sagt das?)
von den Grünen, will die Politik in die Pflicht nehmen,
um die Voraussetzungen für ein erfülltes Erwerbsleben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten williger
zu schaffen. Sie stellen sehr richtig fest, dass auch die werden, Geringverdienende sollten im Alter aufstocken
Politik für die missliche Lage Älterer am Arbeitsmarkt dürfen, weil sie bis 67 arbeiten müssten. Das ist ja wie
verantwortlich ist. bei der FDP. So sieht also grüne Sozialpolitik aus? Sie
wollen die FDP zu Tode kuscheln!
Gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente, das ist der Drei-
klang, dem wir Linken uns verpflichtet fühlen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die ist doch schon tot! – Johannes
(Beifall bei der LINKEN) Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Keine Gefahr!)
Das ist auch der Maßstab, mit dem wir den von den Grü- Nur zu, aber bitte nicht auf dem Rücken der älteren Ar-
nen vorgelegten Antrag bewerten. Daran gemessen ist beitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Ihr Antrag leider mangelhaft. Warum?
(Beifall bei der LINKEN)
Einerseits muten Sie mit der Rente erst ab 67 all je-
nen, die nicht bis 67 arbeiten können, drastische Renten- Die Linke will die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
kürzungen zu. Das ist sehr konkret. Das ist die Peitsche, mer fördern und die Arbeitgeber fordern. Und das heißt
die Ältere auf dem Arbeitsmarkt halten oder dorthin trei- unter anderem, die Rente erst ab 67 muss weg. Wir wol-
ben soll. Andererseits reden Sie von verbesserten Chan- len ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördern
cen, von einem Sollen hier, von einem Können dort. und nicht bestrafen.
(B) Doch das alles bleibt sehr unkonkret. Sie bringen es fer- (D)
(Beifall bei der LINKEN)
tig, knallharte Rentenkürzungspolitik mit windelweicher
Chancenpolitik zu kombinieren. Sie garantieren die Peit- Wir brauchen einen guten, öffentlich geförderten Be-
sche und stellen das Zuckerbrot vage in Aussicht. Das ist schäftigungssektor, der gute Arbeit fördert. Zwangsver-
unseriös. rentung aller Art lehnt die Linke ab. Da sind wir uns ei-
(Beifall bei der LINKEN) nig. Wir wollen eine gute Arbeitsmarktpolitik, die allen
Menschen, die arbeiten wollen, ermöglicht, zu guten
Von Ihren warmen Worten kann niemand im Alter leben. Löhnen zu arbeiten. Deshalb wollen wir prekäre Be-
Treten Sie mit uns für die Abschaffung der Rente erst ab schäftigungsformen wie Leiharbeit, Minijobs und befris-
67 ein! Dann reden wir gerne weiter. tete Beschäftigung deutlich zurückdrängen oder auch ab-
(Beifall bei der LINKEN) schaffen.

Wer kann, darf; wer nicht kann, muss auch nicht bis (Beifall bei der LINKEN)
65 und schon gar nicht bis 67 arbeiten. Eine solche Re- Geringqualifizierte und ältere Beschäftigte müssen in
gelung bräuchten wir. den Unternehmen mehr als bisher und dauerhaft weiter-
(Beifall bei der LINKEN) gebildet werden. Nicht zuletzt müssen die Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgeber endlich in die Pflicht genommen
Wir Linken sind der Überzeugung, dass viele Menschen werden. Wer ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
durchaus bereit sind, bis 65 zu arbeiten. Wer es darüber mer ohne zwingenden Grund entlässt, muss zur Kasse
hinaus auch noch kann und will, soll weiterhin, wie bis- gebeten werden und die Kosten des Arbeitslosengeldes
her, dafür belohnt werden. Wer es bis dahin aber nicht erstatten. Das wäre eine wichtige Maßnahme.
schafft, darf nicht bestraft werden. Das ist der entschei-
dende Punkt. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Sanktionspolitik, wie sie mit der Rente erst ab 67 und
auch mit Hartz IV betrieben wird, ist und bleibt der fal- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sche Weg. Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSU-
Fraktion.
Geänderte Hinzuverdienstmöglichkeiten und Teilren-
ten, wie sie die Grünen vorschlagen – dafür hat eben (Beifall bei der CDU/CSU)
11706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Ulrich Lange (CDU/CSU): die nicht geförderte Altersteilzeit. Nach Ihrer Logik (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! müsste die Altersteilzeit ganz verschwinden. Die jetzige
Liebe Kollegin Pothmer! Auch wir sehen in Ihrem Nach- Altersteilzeit bedeutet sozialverträgliche Arbeitsplatz-
denken ein lobenswertes Unterfangen, aber nur so weit, vernichtung und sonst gar nichts. Die geförderte Alters-
wie es gerade eben möglich ist. Also zum Kuscheln teilzeit beinhaltete, dass der Arbeitsplatz auf Dauer er-
reicht es wirklich nicht. halten bleiben muss. Das ist genau der entscheidende
Punkt.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich muss Ihnen sagen, danach ist mir
auch nicht! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU):
Lieber Kollege Schaaf, wir beide wissen, dass der
Am Ende muss ich doch dem Kollegen Weiß mit seinem Ansatz diesbezüglich sehr theoretisch ist.
Wallenstein-Zitat recht geben. Wenn man nämlich ver-
gleicht, was die Bundesregierung in den letzten Jahren – (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
da beziehe ich die Große Koalition, lieber Kollege NEN]: Der ist sehr praktisch!)
Schaaf, ausdrücklich mit ein
– Nein, er ist sehr theoretisch.
(Anton Schaaf [SPD]: Zu Recht!)
Deswegen ist es richtig, dass diejenigen, die weiterhin
– zu Recht mit ein – schon geleistet hat, so sprechen, dieses Modell wählen wollen, es wählen können. Aber
glaube ich, auch die Zahlen durchaus für das, was in den es gibt derzeit keine Notwendigkeit, das Modell von un-
letzten Jahren in diesem Bereich passiert ist. serer Seite mit großzügiger Förderung zu bedenken.
Im Jahr 2000 waren noch rund 20 Prozent der 60- bis (Beifall bei der CDU/CSU)
65-Jährigen erwerbstätig. Kollegin Pothmer, Sie haben
selber von jetzt knapp 40 Prozent gesprochen. Das ist Wir haben darüber hinaus – auch darauf hat der Kol-
immerhin eine Verdoppelung in diesem Bereich. lege Weiß schon hingewiesen – mit INQA einen neuen
Abschnitt aufgemacht. Wir glauben, dass wir hier auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem richtigen Weg sind.
Wir liegen im europäischen Vergleich sicherlich über Ich bin auch davon überzeugt – das unterscheidet uns
dem Durchschnitt, sind aber bei weitem nicht gut genug. jetzt wieder wesentlich –, dass nicht der Staat allein
Denn wir wissen alle, dass wir dieses Potenzial oder die- diese Sache regeln kann, sondern dass wir diesen Weg
sen Schatz heben müssen. Aber – darauf hat der Kollege nur gemeinsam mit den Unternehmen – ich habe das
Weiß vorhin schon ganz richtig hingewiesen – mit der Vertrauen in die Unternehmen – beschreiten können.
(B) Initiative „50 plus“ haben wir in der Großen Koalition (D)
die ersten Schritte unternommen: Erhöhung der Weiter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bildungsquote und Abbau der Frühverrentung. der FDP)
Lieber Kollege Schaaf, Sie haben vorhin ein Beispiel Ich brauche Ihnen nur ein positives Beispiel aus dem
in Bezug auf die Müllabfuhr bei Ihnen genannt. Wir wis- Bayerischen zu nennen, nämlich BMW in Dingolfing.
sen aber beide, wie wir in den letzten Jahren mit diesem Dort ist ein Werk im Rahmen des Demografieprojekts
Problem und mit dem Altersteilzeitgesetz umgegangen „Heute für morgen“ aufgebaut worden. Dort sind alters-
sind. In erster Linie haben wir nämlich das Blockmodell gerechte Arbeitsplätze eingerichtet worden. Die Teile-
gewählt. Damit haben wir ganz bewusst viel Erfahrung bereitstellung wird individuell angepasst. Es ist ein
und Wissen aus dem aktiven Arbeitsleben genommen, Belastungswechsel möglich. Die Industrie und die Un-
um vor allem jüngeren Menschen eine Chance zu geben. ternehmen haben also erkannt, dass sie selber mit in der
Pflicht sind und reagieren müssen.
(Abg. Anton Schaaf [SPD] meldet sich zu
einer Zwischenfrage) Wir alle wissen um die Erfahrungen und die Leis-
tungsfähigkeit der älteren Mitarbeiterinnen und Mit-
– Ich darf bitte den Satz zu Ende führen. – Das haben wir arbeiter. Kollege Schaaf, ich sage es trotzdem noch ein-
getan, weil wir – deswegen kritisiere ich das jetzt auch mal: Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben,
nicht – damals auf eine Arbeitslosigkeit von fast auch wenn Sie es bestreiten, unsere ausdrückliche Wert-
5 Millionen reagieren mussten. Diesen Ansatz haben wir schätzung. Wir wissen, was diese Mitarbeiterinnen und
gewählt. Er hat aber natürlich dazu geführt, dass die Mitarbeiter in den Betrieben zu leisten imstande sind.
Quote damals geringer war.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Anton Schaaf [SPD]: Das wirkt sich aber nicht
So, Herr Kollege, jetzt dürfen Sie die Zwischenfrage in praktischer Politik aus!)
stellen. Die Rente mit 67 haben wir gemeinsam beschlossen.
Frau Pothmer, wenn ich Sie richtig verstanden habe,
Anton Schaaf (SPD): dann ist der Grundsatz zunächst richtig.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Würden Sie mir bestäti- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)
gen, dass nicht die Altersteilzeit abgeschafft wurde, son-
dern nur die Förderung der Altersteilzeit nicht fortge- – Bei Ihnen sowieso nicht. Da warten wir immer noch
führt worden ist? Die jetzt existierende Altersteilzeit ist auf den Reichtum für alle. Ceterum censeo: Reichtum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11707
Ulrich Lange
(A) für alle. Sie haben wieder Ihren ganzen Kasten vorge- ger zur Verfügung, die über eine zum Führen der Ein- (C)
stellt. Es hat kaum etwas gefehlt. satzfahrzeuge notwendige Fahrerlaubnis verfügen.
Vor dem Hintergrund der notwendigen Fachkräfte- Nur Fahrerlaubnisinhaber, die vor dem 1. Januar 1999
sicherung glauben wir an die strategische Partnerschaft. ihre Fahrerlaubnis erworben haben, können aufgrund ih-
Die Handlungsfelder, die Arbeitskräfteallianz, gemein- res Bestandschutzes auch weiterhin schwerere Fahr-
sam mit den Unternehmen, das, was wir mit unserer zeuge mit dem bisherigen Führerschein der alten
Bundesministerin voranbringen, das ist der richtige Weg. Klasse 3 fahren. Diese Fahrer stehen aber den freiwilli-
Wir werden den Schatz heben. Wir vertrauen gemeinsam gen Feuerwehren zunehmend aus Altersgründen nicht
auf die Unternehmen und auf unsere Maßnahmen. Dann mehr zur Verfügung. Es müssen jüngere Fahrer nach-
– da bin ich sicher – werden wir älteren Arbeitnehmerin- rücken, die aber nicht mehr über die benötigte Fahr-
nen und Arbeitnehmern eine größere Chance im Produk- erlaubnis für die Einsatzfahrzeuge verfügen. Es geht also
tionsprozess geben. Heben Sie mit! Heben wir gemein- um unser aller Sicherheit; vor allem im ländlichen
sam! Dann sind wir sicherlich auf einem guten Weg. Raum.
Danke schön. Nicht nur in Süddeutschland mit der dortigen Ehren-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) amtsstruktur, sondern auch in allen anderen Bundeslän-
dern führt dies zu dramatischen Engpässen bei den Ein-
satzfahrten. Ursache für diese Entwicklung ist die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sogenannte Zweite EG-Führerscheinrichtlinie von 1991,
Ich schließe die Aussprache. nach der das Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf deutschen Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an
Drucksache 17/5235 an die in der Tagesordnung aufge- die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen wa-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ren.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Seither dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B
so beschlossen. für Pkw nur noch Kraftfahrzeuge bis zu einer zulässigen
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9: Gesamtmasse von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden.
Für Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zwischen 3,5 Tonnen und 7 Tonnen ist hingegen seit
regierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten 1999 eine Fahrerlaubnis der Klasse C1, und für Fahr-
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrs- zeuge über 7,5 Tonnen eine Fahrerlaubnis der Klasse C
gesetzes erforderlich.
(B) (D)
– Drucksache 17/4981 – Diese Rechtsänderung wurde von der Europäischen
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Gemeinschaft eingeführt, um eine auf die unterschiedli-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur chen Fahrzeugklassen ausgerichtete spezifische Ausbil-
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes dung und Prüfung zu vereinheitlichen. Der Forderung,
eine Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehö-
– Drucksache 17/2766 – rige der freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht
– Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- anerkannten Rettungsdienste und des Katastrophen-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung schutzes mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatz-
(15. Ausschuss) fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu
4,25 Tonnen fahren dürfen, konnte aus europarecht-
– Drucksache 17/5355 – lichen Gründen nicht entsprochen werden.
Berichterstattung: Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlos-
Abgeordnete Kirsten Lühmann sene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die reicht demnach aus meiner Sicht nicht aus, um die Ein-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre satzfähigkeit der betroffenen Organisationen tatsächlich
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zu verbessern. Die dort getroffenen Regelungen waren
zu bürokratisch und zu teuer.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Andreas Scheuer das Wort. Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat
ein intensiver Dialogprozess mit der Europäischen Kom-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mission stattgefunden. An dieser Stelle möchte ich dem
EU-Kommissar Siim Kallas sehr herzlich danken, der
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär beim gestern bei uns im Ausschuss war. Wir alle haben über
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: die Jahre intensiv an diesem Vorhaben gearbeitet, aber
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- die christlich-liberale Koalition hat jetzt umgesetzt, was
gen! Das Projekt „Feuerwehrführerschein“ hat uns alle lange Zeit nur dahingewabert hat und was zwar immer
in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr eingehend mit Briefen an die EU-Kommission unterlegt war, aber
beschäftigt. Die Problematik ist hinreichend bekannt und nie mit persönlichem Kontakt und mit Sensibilisierung
seit Jahren intensiv diskutiert worden. Es stehen immer für das deutsche Interesse an der Weiterentwicklung und
weniger junge ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bür- Zukunftsfähigkeit unserer Ehrenamtsstrukturen. Ich sage
11708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer


(A) Dank an den EU-Kommissar. Der Minister hat sofort wir reden über 2,5 Millionen Menschen, 2,5 Millionen (C)
Kontakt aufgenommen und in vielen persönlichen Ge- freiwillig Helfende, die ihre Freizeit und oft auch ihr Le-
sprächen rübergebracht, dass wir eine andere Struktur ben aufs Spiel setzen, um andere zu retten. Wenn sie im
haben. Ich möchte Dank an den EU-Kommissar sagen. Ausland eingesetzt werden – das ist ja häufiger der Fall,
weil sie sehr gut ausgebildet sind –, sind sie auch noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Botschafter unserer Bundesrepublik Deutschland. Die
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir Hilfsorganisationen nehmen außerdem viele soziale
die Vereinbarung der Koalitionsfraktionen im Koalitions- Aufgaben wahr, insbesondere in den Bereichen Integra-
vertrag um. Wir schaffen weitere Erleichterungen für die tion und Ausbildung junger Menschen.
Ehrenamtlichen, die kostengünstig und unbürokratisch zu
Die gute Infrastruktur, die wir in der Not- und Ka-
handhaben sind. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die
tastrophenhilfe haben, sichert auch den Wohlstand in
betroffenen Organisationen eine organisationsinterne
Deutschland. Dies – da sind wir uns sicher einig – gilt
Einweisung und – das ist das Entscheidende – auch eine
es zu unterstützen. Das Ehrenamt muss gestärkt wer-
organisationsinterne Prüfung auf Einsatzfahrzeugen mit
den. Das ist umso wichtiger, als die Hilfsorganisationen
einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen
allenthalben unter Nachwuchssorgen zu leiden haben.
durchführen können. So wird ein einfaches und kosten-
Das hat mehrere Gründe.
günstiges Verfahren geschaffen, mit dem, den jeweiligen
Bedürfnissen vor Ort entsprechend, mit den vorhande- Der eine Grund – darüber haben wir hier schon sehr
nen Einsatzfahrzeugen ausgebildet und geprüft werden viel geredet – ist der demografische Wandel.
kann. Ich wünsche dazu viel Erfolg. Ich denke, das ist
ein tolles System. Ein anderer Grund ist die Aussetzung der Wehr-
pflicht. Durch diese Entscheidung ist bei vielen Hilfs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) organisationen wie zum Beispiel beim THW eine Rekru-
tierungsquelle weggefallen.
Dabei wird zwischen einer Sonderfahrberechtigung
bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen Der dritte Grund ist die geplante Verkleinerung der
einerseits und bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von Bundeswehr aus Kostengründen. Die genaue Größe
bis zu 7,5 Tonnen andererseits differenziert, da die An- steht noch nicht fest; aber es sind schon viele Zahlen im
forderungen an die Fahrerinnen und Fahrer mit der Höhe Umlauf. Wenn man den Fachleuten glauben darf, ergibt
des Fahrzeuggewichts zunehmen. Aufgrund des tatsäch- sich aus all diesen Zahlen zumindest Folgendes: Die
lich bestehenden Bedarfes werden jetzt erstmalig auch neue Bundeswehr wird nicht mehr in dem Maße, wie sie
Anhänger in die Fahrberechtigung aufgenommen. Zu- es bisher konnte, in der Katastrophenhilfe tätig sein. Das
dem wird die Möglichkeit eröffnet, die Ausbildung in heißt, zukünftig werden wir in der Bundesrepublik noch
(B) Anlehnung an das in Deutschland bewährte System der (D)
mehr auf Freiwillige angewiesen sein.
professionellen Ausbildung auch durch Fahrlehrer vor-
nehmen zu lassen. Jetzt müssen die Landesregierungen Wir müssen also helfen, dass sich mehr junge Men-
dieses System in ihre regionalen Gegebenheiten übertra- schen für die Arbeit in den Hilfsorganisationen entschei-
gen. Ich denke auch, dass hervorzuheben ist, dass wir den, damit wir im Katastrophenfall ausreichend gut aus-
hier ein einfaches und unbürokratisches System wählen. gebildete Kräfte zur Verfügung haben.

Ich bedanke mich noch einmal für die intensiven Ge- (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
spräche auch im Ausschuss. Es ist ein gutes Signal an Auch unter diesem Aspekt ist der Antrag auf Erteilung
die Ehrenamtlichen, dass der Ausschuss einstimmig dem einer Sonderfahrerlaubnis zu sehen. Das Ziel ist, ausrei-
Entwurf zugestimmt hat. Somit wünschen wir unseren chend gut ausgebildeten und ausgestatteten Nachwuchs
Ehrenamtlichen gutes Gelingen und vor allem unseren zu erhalten.
Verbänden, die im Rettungsdienst tätig sind, dass sie auf
viele junge Leute zurückgreifen können, die von dieser (Beifall bei der SPD)
Regelung profitieren. Die vorliegende Lösung ist pragmatisch, unbürokra-
Herzlichen Dank. tisch, kostengünstig, und – das war uns sehr wichtig –
sie geht nicht zulasten der Sicherheit. Heute findet die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie abschließende Beratung statt. Der Gesetzentwurf be-
der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ inhaltet die Schaffung einer Ausnahmeregelung im Füh-
DIE GRÜNEN]) rerscheinrecht, da durch den Generationenwechsel – das
wurde eben vom Staatssekretär angesprochen – immer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: weniger Ehrenamtliche mit der neuen Führerschein-
Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Frak- klasse C1 zur Verfügung stehen. Da es relativ unattraktiv
tion. ist, für den privaten Gebrauch eine Fahrerlaubnis für
diese Klasse zu erwerben, gibt es auch immer weniger,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die privat eine entsprechende Prüfung machen. Sie nur
dafür zu machen, um die Fahrerlaubnis als Hilfskraft
Kirsten Lühmann (SPD): einsetzen zu können, ist verständlicherweise viel zu
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe teuer. Mit dieser Regelung schaffen wir also Mobilitäts-
Kolleginnen! Unter diesem Tagesordnungspunkt reden verbesserungen für Feuerwehr und Rettungsdienste so-
wir über Katastrophenschutz und Feuerwehr. Das heißt, wie technische Hilfsdienste. Von daher ist es sehr wich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11709
Kirsten Lühmann
(A) tig, dass auch das Fahren mit Anhängern in diese greift, wie wir uns das vorstellen, oder ob es bei den (C)
Regelung einbezogen wurde. Hilfsorganisationen noch Probleme gibt, sodass wir
nachsteuern müssen.
Aber bereits in der ersten Lesung hatte ich einige An-
merkungen gemacht, die uns sehr wichtig sind. Die Ver- Die Hilfsorganisationen ringen sehr kreativ um Lö-
kehrssicherheitsverbände haben nämlich bezüglich die- sungen, wie ich feststellen konnte. Es gibt schon eine
ser Regelung erhebliche Bedenken. Die erste Frage ist, Regelung – der Herr Staatssekretär hat es bereits ange-
ob die Neuregelung konform mit EU-Recht geht. Ich sprochen – für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen. Eine Feuer-
habe nicht ganz verstanden, was der Staatssekretär dazu wehr in meiner Region hat ein solches Feuerwehrfahr-
gesagt hat. Er hat von Gesprächen berichtet, die mit zeug selbstständig umgebaut, und es mit einer zweiten
Herrn Kallas geführt wurden. Ich gehe davon aus, dass Bremse und zusätzlichen Spiegeln ausgestattet, sodass
die Gespräche dergestalt endeten, dass Herr Kallas der bei den Einweisungsfahrten der Einweisende eingreifen
Meinung ist, dass unsere Regelung EU-konform ist. kann, falls der einzuweisende Fahrer einen Fehler macht.
(Gustav Herzog [SPD]: Für das Protokoll: Der Es gibt eine weitere clevere Idee, und zwar von einem
Staatssekretär hat genickt! Es gibt ja keine Feuerwehrmann aus Oberfranken, der es allerdings mit
Videoaufnahme!) der Bürokratie zu tun bekam. Es handelt sich um einen
Fahrschullehrer aus der kleinen Gemeinde Litzendorf.
– Er hat genickt, für das Protokoll.
Er ist seit 15 Jahren ehrenamtlich und unentgeltlich für
(Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär: seine Feuerwehr tätig und wollte die Feuerwehrleute auf
Beide!) richtigen Einsatzfahrzeugen schulen. Deswegen kaufte
er ein solches Fahrzeug und schenkte es seiner Feuer-
– Beide. Hervorragend! – Das heißt, wir werden eine Re- wehr. Im Gegenzug wollte er das Feuerwehrfahrzeug für
gelung haben, die für die vielen ehrenamtlich Helfenden seine Schulungsfahrten nutzen und es kostenlos in der
eine klare Situation schafft. Garage der Feuerwehr unterstellen. So weit, so gut.
Zu den anderen beiden Punkten hatten wir im Ver- Jetzt fing der Amtsschimmel an, zu wiehern. Das In-
kehrsausschuss einen Antrag eingebracht. Dieser Antrag nenministerium lässt nun prüfen, ob ein auch privat ge-
wurde von der Mehrheit leider abgelehnt. Er beinhaltet nutztes Fahrzeug in einer öffentlichen Garage stehen
zum einen, dass die Vorgaben für die Einweisung und darf. Das Finanzamt lässt prüfen, ob ein Feuerwehrfahr-
Prüfung bundeseinheitlich geregelt werden sollten, und zeug, das auch privat genutzt wird – und sei es nur eine
zum anderen, dass die Prüfungsfahrten für die Klasse Stunde im Monat –, weiterhin steuerbefreit sein kann.
zwischen 4,75 und 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse Das Innenministerium forderte eine Klärung des Sach-
(B) durch die Kfz-Sachverständigen und nicht organisations- verhalts durch die Regierung von Oberfranken. Diese (D)
intern abzunehmen seien. wendete sich an das Landratsamt Bamberg, das wie-
Obwohl auch der Verkehrsausschuss des Bundesrates derum den Bürgermeister von Litzendorf anschrieb. Um
der Meinung war, man brauche eine bundeseinheitliche mit den Worten der Feuerwehr Reichenbach zu spre-
Lösung, konnte sich der Fachausschuss unserem Vor- chen: Jetzt kann uns wohl nur noch Sankt Florian helfen.
schlag nicht anschließen. Das wäre sinnvoll gewesen, da (Beifall bei der SPD)
die Sonderfahrerlaubnis bundesweit gültig ist. Ich hoffe
jetzt inständig, dass sich die Länder in eigener Regie eng Diese kurze Geschichte zeigt uns, mit wie viel Ein-
abstimmen, damit wir auf freiwilliger Basis doch noch fallsreichtum die Ehrenamtlichen unserer Gesellschaft
eine bundeseinheitliche Lösung hinbekommen. Wenn helfen wollen. Wir müssen dieses Engagement unterstüt-
diese nicht zustande kommt, hätte das eine völlige Zer- zen und tun dies mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
splitterung der Verordnungslage zur Folge. Ich glaube, setz. Es freut mich besonders, dass es einstimmig ge-
das würde keinem nutzen. schieht.
(Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank.
Auch unser zweiter Vorschlag hat den Charakter eines (Beifall bei der SPD)
Appells, diesmal an die Hilfsorganisationen. Die Feuer-
wehrmänner und Ehrenamtlichen in den Hilfsorganisa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tionen leisten hervorragende Arbeit. Ich habe volles Ver-
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
trauen, dass sie in der Lage sind, die Einweisung auf den
Fahrzeugen zu organisieren. Dennoch bitte ich sie, zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
überprüfen, ob es nicht sinnvoll ist, das Geld für einen
externen Kfz-Sachverständigen auszugeben, wenn es um
Oliver Luksic (FDP):
die Prüfungen geht. Das sollte es uns aus Gründen der
Rechtssicherheit und insbesondere mit Blick auf die Hel- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
fenden, die später mit dieser Sonderfahrerlaubnis unter- beraten heute in letzter Lesung über die Entwürfe der
wegs sind, wert sein. Bundesregierung und des Bundesrates zur Schaffung des
sogenannten Feuerwehrführerscheins. Wir haben uns in
Um zu überprüfen, ob das funktioniert, regen wir an, den letzten Wochen intensiv und, wie ich finde, auch
dass wir uns in zwei oder drei Jahren gemeinsam die Re- konstruktiv über diese Entwürfe ausgetauscht. Lassen
gelung anschauen, um zu beurteilen, ob sie wirklich so Sie mich noch einmal auf die Kernpunkte eingehen.
11710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Oliver Luksic
(A) Wir verfolgen mit der Einführung des Feuerwehrfüh- Bedenken gegen die Rechtsförmlichkeit. Sonst läge uns (C)
rerscheins drei Kernziele. Wir tun dies, um die Einsatz- der Gesetzentwurf heute so auch nicht vor.
fähigkeit der freiwilligen Feuerwehren und der anderen
Dienste dauerhaft aufrechterhalten zu können und damit (Kirsten Lühmann [SPD]: Wenn gestern erst
den Freiwilligendienst in den Katastrophenschutzorgani- die Zustimmung kam? Das ist schon ein biss-
sationen zukunftsfest zu machen. Sowohl die Entwürfe chen eng!)
der Bundesregierung als auch des Bundesrats sehen eine Ich bin der Meinung, es ist inhaltlich gut zu vertreten,
Lösung vor, nach der organisationsintern sowohl einge- dass die nun genannten Organisationen zum Katastro-
wiesen als auch geprüft wird. Ich glaube, das ist unbüro- phenschutz im Sinne der 3. EG-Führerscheinrichtlinie zu
kratisch und spart Kosten. Deswegen unterstützen wir zählen sind.
diesen Ansatz.
Das Thema der bundeseinheitlichen Lösung, das auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die SPD angesprochen hat, ist natürlich eines, über das
wir sprechen müssen; das haben wir im Ausschuss be-
Ein weiteres wichtiges Ziel ist Folgendes. Wir reden reits getan. Ich möchte noch einmal festhalten: Im Bun-
ja immer über hochverschuldete Kommunen, die Geld desrat ist weiterhin eine Länderlösung vorgesehen, auch
sparen müssen. Dieses Vorgehen hilft genau hierbei; wenn der federführende Ausschuss es anders gesehen
denn sonst zahlen Kommunen häufig für Nachschulun- hat. Somit entspricht das, was wir hier verabschieden,
gen zum Erwerb von Führerscheinen, gerade bei der auch dem Willen der Länder, übrigens auch der SPD-ge-
Feuerwehr. Ich kenne das auch aus meiner Ratstätigkeit. führten Länder.
Gleichzeitig wollen und müssen Kommunen natürlich
die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Ich Ich halte es immer noch für sinnvoll, dass wir maßge-
glaube, der Feuerwehrführerschein ist eine gute Lösung, schneiderte Lösungen für jedes Bundesland haben; denn
um beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen. die Anforderungen an Katastrophenschutzdienste sind
beispielsweise in Schleswig-Holstein vielleicht anders
Unser drittes Kernziel ist – fraktionsübergreifend –, als in Bayern, Niedersachsen oder im Saarland. Deswe-
dass wir das Ehrenamt stärken wollen. Dafür müssen wir gen ist es sinnvoll, dies vor Ort zu entscheiden.
Anreize schaffen. Ein solcher Anreiz ist der Feuerwehr-
führerschein. (Kirsten Lühmann [SPD]: Feuerwehrfahr-
zeuge sind überall gleich!)
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der von
Beginn an zu Recht eine wichtige Rolle spielte. Das ist Die Länder sind natürlich nicht davon abgehalten,
die Verkehrssicherheit. Es gab Bedenken, dass der Feu- sich eng abzustimmen. Insbesondere was die gegensei-
(B) erwehrführerschein eine Gefahr für die Verkehrssicher- tige Anerkennung angeht, ist dies ja auch wünschens- (D)
heit darstellt. Natürlich ist klar, Blaulichtfahrten bergen wert. Deswegen halte ich es für richtig, dass das
ein höheres Risiko als normale Fahrten. Aber wir haben BMVBS hier eine Art Koordinierungsrolle einnimmt.
uns einem intensiven Abwägungsprozess gestellt. An Staatssekretär Scheuer hat im Ausschuss ja angespro-
dessen Ende kann man guten Gewissens sagen, dass wir chen, dass es eine Art Basistext für den Feuerwehrfüh-
die Möglichkeit der organisationsinternen Einweisung rerschein gibt. Das ist, glaube ich, gut und richtig.
und Prüfung unterstützen. Es sind ja nicht irgendwelche Ich freue mich und die FDP freut sich über den brei-
Chaoten, denen wir das übertragen, sondern pflichtbe- ten Konsens, der im Grundsatz zwischen den Fraktionen
wusste Bürgerinnen und Bürger, die sich in den Diensten besteht. Jetzt kommt es auch darauf an, dass die Länder
engagieren. Vor allem sind im Gesetzentwurf klare An- die Regelungen zügig umsetzen und die Chancen nut-
forderungen für diejenigen vorgesehen, die einweisen zen, die sich mit dem Feuerwehrführerschein bieten. Die
und prüfen dürfen. Gerade deswegen haben wir auch die zahlreichen Ehrenamtlichen im Land warten darauf. Sie
Klarstellungswünsche des Bundesrates durch Ände- werden es Ihnen und uns auch danken.
rungsanträge der Koalitionsfraktionen aufgegriffen. Es
ist nun explizit geregelt, dass Ausbildung und Prüfung Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
auch durch Fahrlehrer vorgenommen werden können.
Ich glaube, das ist ein guter Fortschritt, den wir in den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Beratungen erzielt haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Kirsten Lühmann [SPD]: Das war vorher Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
auch schon möglich!) Linke.
Abgesehen davon, dass es den Fahrschulen ausdrück- (Beifall bei der LINKEN)
lich ermöglicht werden soll, durch attraktive Angebote
weiter Kunden zu gewinnen, haben wir also auch in Zu-
kunft in jedem Fall gut ausgebildete Fahrer auf den Ein- Thomas Lutze (DIE LINKE):
satzfahrzeugen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gut, dass wir heute endlich eine Lösung für die vielen
Lassen Sie mich noch kurz auf das Thema der Verein- freiwilligen Helferinnen und Helfer finden, die für un-
barkeit des Feuerwehrführerscheins mit dem Europa- sere Gesellschaft eine so wichtige Arbeit machen. Die
recht eingehen. Ich bin der Überzeugung, das Ganze unzähligen Freiwilligen bei Feuerwehr, dem Techni-
wurde durch das BMJ sorgfältig geprüft. Es gibt keine schen Hilfswerk und den Rettungsdiensten leisten einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11711
Thomas Lutze
(A) unschätzbaren Beitrag für das Funktionieren unseres Ge- Mir ist klar, dass bei den Einsätzen über Ländergren- (C)
meinwesens. zen hinweg ein einheitlicher Ausbildungsstand wün-
schenswert wäre. Oder soll zum Beispiel eine Feuerwehr
(Beifall bei der LINKEN) bei einer Grenzüberschreitung erst einmal einen Fahrer-
Diesen Dank einmal vom Rednerpult des Parlaments wechsel vornehmen?
auszusprechen, ist mir umso wichtiger, weil die Freiwil- Die Linke stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf
ligen oft auch hoheitliche Aufgaben, wie zum Beispiel zu. Ich würde mir sehr wünschen, dass die anderen Frak-
die Brandbekämpfung, übernehmen. Man kann sagen, tionen – ich schaue gerade in die entsprechende Rich-
dass unser Gemeinwesen in dieser Form ohne das Enga- tung – bei nächster Gelegenheit bei vergleichbaren An-
gement dieser Frauen und Männer nicht funktionieren trägen auch einmal zustimmen würden, wenn die
würde. Diese Menschen erwarten von uns zu Recht, dass Opposition ihre Anträge vorlegt.
wir nicht nur nette Worte für sie übrig haben, sondern sie
erwarten auch Unterstützung vom Gesetzgeber. Dazu Vielen Dank.
gehört es auch, dass wir ihre Arbeit nicht unnötig er- (Beifall bei der LINKEN)
schweren. Die Arbeit von Feuerwehr, dem THW und
den Rettungsdiensten wurde in der Vergangenheit aber
Präsident Dr. Norbert Lammert:
leider erheblich erschwert.
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms
Der Staatssekretär hat es bereits ausgeführt: Seit im für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jahre 1999 das europäische Recht im Führerscheinwesen
vereinheitlicht wurde, finden diese Organisationen kaum Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
noch Nachwuchskräfte, die über einen geeigneten Füh- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pro-
rerschein bis 7,5 Tonnen verfügen. Das wollen wir hier blematik der Feuerwehrführerscheine haben wir lang
und heute korrigieren, und wir sind uns dabei auch über und breit diskutiert, hier im Plenum und auch in den
Fraktionsgrenzen hinweg einig. Ausschüssen. Ich will deswegen nicht noch einmal das
gesamte Thema ausbreiten. Die Kolleginnen und Kolle-
Ein immer wieder diskutierter Punkt bei den Beratun-
gen haben das schon vorab gemacht.
gen war die Verkehrssicherheit. Dabei wird häufig über-
sehen, dass bis 1999 jeder Fahranfänger mit einem Pkw- Auch die Grünen finden die Änderung des Straßen-
Führerschein ins Führerhaus eines 7,5-Tonners steigen verkehrsgesetzes richtig und wollen keine Differenzen
durfte – ohne jede Einweisung und ohne eine einzige konstruieren, wo es keine gibt. Als konstruktive Opposi-
Fahrstunde auf diesem Lkw. Eine wie auch immer vor- tion wollen wir greifbare Verbesserungen für die Men-
(B) geschriebene Einweisung innerhalb der Organisation schen in unserem Land erreichen. Wir fällen unsere Ent- (D)
stellt daher in jedem Fall eine Verbesserung der Ausbil- scheidungen sachorientiert und in aller Ruhe.
dung im Vergleich zur früheren Situation dar.
Von der Panik, die jetzt die eine Seite des Hauses er-
Mir ist überdies keine Statistik bekannt – vielleicht ist griffen hat, lassen wir uns nicht anstecken. Die Lage die-
eine solche in einer anderen Fraktion oder bei der Regie- ser Regierung ist desolat. Verbesserungen sind vielfach
rung vorrätig –, dass die Inhaber der alten Führer- nicht mehr zu erwarten. Aber die Zeit dreht sich weiter,
scheinklasse 3 eine höhere Unfallquote beim Führen von und die Menschen wollen von uns Lösungen sehen. Bei
7,5-Tonnern aufweisen. In Ihrer Gesetzesvorlage wollen sehr vielen Regierungsvorhaben müssen und werden wir
Sie, vor allem der Bundesrat, dass die Bundesländer bei auch weiterhin sehr skeptisch sein. Hier sind wir es nicht
der Prüfung und Ausbildung Sonderregelungen treffen und stimmen deswegen zu.
können. Für die Linksfraktion ist das weiterhin ein Ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
kel, der allerdings nicht dazu führt, dass wir den vorlie-
genden Gesetzentwurf ablehnen werden. Wir stellen uns einer pragmatischen Lösung nicht in
den Weg. Wir gehen davon aus, dass die Gesetzesände-
Wir bleiben dennoch dabei, dass eine bundeseinheit- rung im Einklang mit dem europäischen Recht erfolgt
liche Regelung mehr Sinn macht, da sich die Situationen – der Staatssekretär und der Bundesminister haben das
in den einzelnen Bundesländern kaum voneinander un- eben ja auch bestätigt –; denn alles andere wäre Aus-
terscheiden. Herr Kollege Luksic, Sie müssen mir ir- druck einer unverantwortlichen Politik gegenüber den
gendwann in aller Ruhe erklären, wo sich für eine frei- Katastrophenschützern, den Helfern und den Feuerwehr-
willige Feuerwehr die Situation in Schleswig-Holstein leuten, die ihre Arbeit ehrenamtlich machen.
von der im Saarland unterscheidet.
Meine Damen und Herren, im Verkehrsausschuss ha-
(Oliver Luksic [FDP]: Hochwasser!) ben wir darüber beraten, ob die Zuständigkeit beim
Bund liegen sollte. Da Feuerwehren regional organisiert
– Ja gut, das Hochwasser haben wir an der Saar auch oft sind, denken wir, dass die Verantwortung auch bei den
genug gehabt. Ich sehe vielleicht einen Unterschied zwi- Ländern liegen sollte. Dort kennt man die örtlichen Be-
schen den drei Stadtstaaten; aber bei den Flächenländern dürfnisse am besten und weiß, wie die Veränderungen
sehe ich beim besten Willen keinen Unterschied. schnellstmöglich umgesetzt werden können. Natürlich
(Zuruf des Abg. Florian Pronold [SPD]) regen wir an, dass sich die Länder abstimmen – nach
dem, was wir gehört haben, ist das vorgesehen – und die
– Das nehmen wir jetzt einmal nicht zu Protokoll. Regeln untereinander harmonisieren, aber wir sollten die
11712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Valerie Wilms


(A) Kirche im Dorf lassen. Am Ende ist nicht entscheidend, 1999 einen Pkw-Führerschein erworben haben, damit (C)
ob die Bedingungen für den Führerscheinerwerb in keine Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen fahren dürfen. Entspre-
Schleswig die gleichen sind wie in Passau, sondern dass chend der EU-Regelung dürfen sie nur Fahrzeuge bis
unsere ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer die Ein- 3,5 Tonnen fahren. Aus Gesprächen mit Feuerwehrleu-
sätze sicher fahren können und die Führerscheine überall ten, mit Vertretern des THW und anderer Organisationen
in Deutschland gültig sind. Ich habe Vertrauen in die des Rettungswesens weiß ich, dass man die Sache so auf
Menschen vor Ort, dass die Lösung richtig umgesetzt den Punkt bringen kann: Den Organisationen gehen die
wird. Fahrer aus. Es ist ein Riesenproblem, die notwendigen
Einsätze abzusichern. Deswegen haben der Bundesfeu-
Wir müssen beobachten, ob sich die Neuregelung in
erwehrverband und das THW schon sehr frühzeitig da-
der Praxis bewährt. Deswegen müssen wir die Auswir-
rauf hingewiesen, dass Handlungsbedarf besteht. Mit
kungen der Gesetzesänderung nach Inkrafttreten des Ge-
dem neuen, sogenannten großen Feuerwehrführerschein
setzes im Verkehrsausschuss prüfen. Ich hatte ja schon
für Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen können wir diese Lücke
angeregt, dass wir uns das Thema in zwei Jahren noch
entscheidend schließen.
einmal vornehmen und uns Bericht erstatten lassen. Da-
bei sollten wir insbesondere auf folgende Punkte achten: Wer in der letzten Legislaturperiode mit dabei war,
Erstens. Haben sich die Unfallzahlen infolge der Ein- weiß, dass wir uns schon damals dieses Themas ange-
führung der neuen Führerscheine erhöht? nommen haben. In der Großen Koalition hatten wir ge-
meinsam eine Regelung für das Führen von Kraftfahr-
Zweitens. Wie funktioniert der Austausch zwischen zeugen bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von
den Ländern? 4,75 Tonnen gefunden. Aber die Praktiker unter uns
wussten schon damals, dass das nur eine kleine Lösung
Drittens müssen wir selbstverständlich fragen, ob wir
war; denn schon damals war klar, dass die Löschtechnik
das Problem, das der Einführung dieses Führerscheins
immer schwerer wird – ich sage ausdrücklich: zum
zugrunde lag, gelöst haben; denn niemandem wäre ge-
Glück – und immer mehr Ausrüstungsgegenstände zur
holfen, wenn die Feuerwehren und die Katastrophen-
Unfallrettung mitgeführt werden, was Fahrzeuge mit ei-
schutzorganisationen weiterhin zu wenige Fahrerinnen
ner Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen erforderlich
und Fahrer für ihre Einsätze hätten.
macht.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, so viel Einigkeit wie bei dieser Änderung des Die Regelung, die wir jetzt unter Einbeziehung der
Straßenverkehrsgesetzes habe ich in diesem Haus selten Länder gefunden haben, ist, denke ich, vor allen Dingen
erlebt. Das ist bei diesem Thema, bei dem es um die praxistauglich. Man muss eines sehen – darüber haben
(B) Stärkung des Ehrenamtes geht, sehr wichtig. Ich habe je- wir diskutiert –: Die Festlegung der Durchführungsbe- (D)
doch keine Angst, dass wir jetzt nur noch traute Harmo- stimmungen und die Anwendung liegen bei den Län-
nie erleben werden. Diese Regierung bietet uns wahrlich dern. Das ist auch richtig so; denn man muss die regio-
genug Anlass, ihr ganz genau auf die Finger zu schauen nalen Besonderheiten beachten. Eine Rettungsfahrt auf
und da einzugreifen, wo Murks gebaut wird. einer Deichkrone in Schleswig-Holstein ist anders als
eine auf einem Waldweg im Thüringer Wald.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, neten der FDP – Florian Pronold [SPD]: Ist
bei der SPD und der LINKEN) das bei anderen Führerscheinen auch so?)
Daher müssen einige Regelungen regional getroffen
Präsident Dr. Norbert Lammert:
werden.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. Die Verbände werden es uns danken und sehen die
Regelung, die wir jetzt beschließen, als positiv an. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wird insgesamt 16 000 Fahrzeuge im Bestand betreffen.
Um den Einsatz dieser 16 000 Fahrzeuge abzusichern,
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): werden rund 80 000 Fahrer
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Wilms, ich glaube, diese Regierung wird Ih- (Kirsten Lühmann [SPD]: Und Fahrerinnen!)
nen auch viel Anlass geben, mit uns zu stimmen und un- – und Fahrerinnen; danke für den Hinweis, ich nehme
seren Anträgen zu folgen. ihn gerne auf, wobei „Fahrer“ die Mehrzahl ist und die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fahrerinnen mit einschließt – benötigt, die natürlich
Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht alle den Lkw-Führerschein C1 haben können. Sie
NEN]: Schauen wir mal, was da noch kommt!) können ihn auch deshalb nicht haben, weil er finanziell
nicht schulterbar ist, weil nicht jede Kommune in der
Ich bin überzeugt davon, dass die vielen freiwilligen Lage ist, den Fahrern diesen Lkw-Führerschein zu finan-
Helfer, aber auch die Verantwortlichen am Ende dieser zieren.
Debatte endlich wissen – das ist wichtig –, wie es mit
dem Transport ihrer schweren Rettungs- und Löschtech- Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir diese Rege-
nik auf Fahrzeugen bis 7,5 Tonnen weitergeht. Meine lung getroffen haben. Meine Kreisfeuerwehrverbände im
Vorredner haben bereits gesagt, dass diejenigen, die nach Altenburger Land und im Landkreis Greiz haben mir in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11713
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) den letzten 14 Tagen auf ihren Verbandstagungen ge- Dazu liegen mir eine Reihe von persönlichen Erklärun- (C)
sagt: Wir brauchen unbedingt Nachwuchs. Wir brauchen gen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll wie üb-
junge Leute im Ehrenamt, die uns auch in Zukunft zur lich beifügen.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
Verfügung stehen. wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
richtig!)
einstimmig angenommen.
Ich glaube, mit dieser Regelung haben wir einen viel-
Wir kommen zur
leicht kleinen, aber doch wichtigen Beitrag für das Eh-
renamt geleistet, für diejenigen, die jeden Tag bereitste- dritten Beratung
hen, um Menschen, die in Not geraten, zu helfen und um
Sachwerte, die in Gefahr geraten, zu retten. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu erheben. – Wer möchte sich der Stimme enthalten? –
neten der FDP) Wer möchte dagegen stimmen? – Dann ist der Gesetz-
Bei allen hehren Zielen – das möchte ich hier noch entwurf hiermit einstimmig angenommen.
einmal zum Ausdruck bringen – hat die Sicherheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
oberste Priorität. Frau Lühmann, ich habe unsere Ge- bei Abgeordneten der LINKEN)
spräche im Ausschuss sehr genau verfolgt; wir nehmen
das sehr ernst. Aber man muss auch eines beachten: Ein Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
junger Kraftfahrer, der den C1-Führerschein, den Lkw- Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
Führerschein, hat, ist nicht davor gefeit, leichtsinnig zu dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Ände-
sein oder fahrlässig zu handeln. Ich glaube, an der Stelle rung des Straßenverkehrsgesetzes ab. Der Ausschuss
ist wichtiger als alles andere, dass man dies immer im empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
Hinterkopf behält. Kameradschaft, gegenseitige Hilfe, lung auf Drucksache 17/5355, den Gesetzentwurf des
Besonnenheit im Einsatz, Respekt vor der Gefahr, aber Bundesrates auf der Drucksache 17/2766 für erledigt zu
auch, wenn es darauf ankommt, die Ermahnung unter- erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
einander sind allemal wichtiger als das, was wir hier ge- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieser
setzlich regeln können. Gesetzentwurf ist damit einvernehmlich angenommen.
Mein Appell an alle freiwilligen Helfer vom THW Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
und von der Feuerwehr ist, dass sie dies bei ihren Einsät- sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
(B) zen immer beachten. Wir wollen den gesetzlichen Rah- (D)
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
men schaffen, damit es einfach zu regeln ist. Meine Bitte Dörmann, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Garrelt
an die Bundesländer lautet, in ihren eigenen Bestimmun- Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
gen, die jetzt zu erlassen sind, nach Möglichkeit einfa- SPD
che, unbürokratische und kostengünstige Regelungen zu
finden, die, wenn es unter Beachtung der regionalen Be- Verbraucherschutz in der Telekommunikation
sonderheiten irgendwie geht, unter Umständen in mehre- umfassend stärken
ren Bundesländern Gültigkeit haben können.
– Drucksache 17/4875 –
Mir bleibt zum Schluss nur noch, zu sagen, dass es Überweisungsvorschlag:
mir ein Herzenswunsch ist, all denjenigen, die im Ret- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
tungswesen tätig sind, die freiwillig diesen Ehrendienst Rechtsausschuss
leisten, von dieser Stelle aus herzlich zu danken. Ich Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
wünsche ihnen, dass sie immer wohlbehalten und ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
sund von ihren Einsätzen zurückkehren. Weil ich selber Ausschuss für Kultur und Medien
Feuerwehrmann bin, rufe ich den Gruß – er ist von Feu-
erwehr zu Feuerwehr verschieden –: Gut Wehr! Gut b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Schlauch! Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Danke schön.
Telekommunikationsmarkt verbraucherge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) recht regulieren

Präsident Dr. Norbert Lammert: – Drucksache 17/5376 –


Jetzt müssen wir nur noch gut abstimmen. Das tun wir Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
zu dem eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände- Innenausschuss
rung des Straßenverkehrsgesetzes, nachdem wir die Aus- Rechtsausschuss
sprache geschlossen haben. Der Ausschuss für Verkehr, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt unter Buchstabe a Verbraucherschutz
seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/5355, Ausschuss für Kultur und Medien
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 17/4981 in der Ausschussfassung anzunehmen. 1) Anlage 2
11714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gentlich eine sehr positive Entwicklung. Anbieter von (C)
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Informationstechnik, Telekommunikation und Internet-
diensten sind mit mehr als 840 000 Beschäftigten der
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, zweitgrößte Arbeitgeber in der deutschen Industrie. Das
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer hätte 1998 niemand geglaubt.
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auch die Anzahl der Anbieter ist gestiegen, die An-
Unlautere Telefonwerbung effektiv verhin-
wendungen sind viel komplexer geworden, und ebenso
dern
sind die Tarife vielfältiger und komplexer geworden.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Wir, die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitieren
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weite- davon aufgrund niedriger Preise und leistungsfähiger
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Produkte. Eigentlich ist das toll; das kann man nicht an-
NIS 90/DIE GRÜNEN ders sagen. Aber die zunehmende Unübersichtlichkeit in
dieser Branche ist zu einer großen Herausforderung für
Unerlaubte Telefonwerbung wirksam be- den Verbraucherschutz geworden; darüber unterhalten
kämpfen wir uns heute.
– Drucksachen 17/3041, 17/3060, 17/3587 – Dies ist zum Teil deshalb der Fall, weil Verbrauche-
Berichterstattung: rinnen und Verbraucher damit überfordert sind, sich im
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Dschungel der Angebote und Tarife zurechtzufinden,
Marianne Schieder (Schwandorf) zum Teil aber auch deshalb, weil die Unübersichtlichkeit
Stephan Thomae ausgenutzt wird und Verbraucherinnen und Verbraucher
Halina Wawzyniak schlichtweg betrogen werden; so muss man das sagen.
Ingrid Hönlinger Wir als Gesetzgeber sind an dieser Stelle aufgefordert,
ganz genau zu beobachten: Wo gibt es Fehlentwicklun-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen? Wir müssen uns fragen: Wie kann man ihnen entge-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das ist of- genwirken? Wir müssen aufgreifen, was falsch läuft, wir
fensichtlich einvernehmlich. Dann können wir so ver- müssen nachjustieren, und wir müssen die Rechte der
fahren. Telefonkundinnen und -kunden wahren und stärken.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN)
(B) (D)
Dabei geht es um höchst unterschiedliche Probleme.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Da gibt es zum einen die Call-by-Call-Anbieter, die un-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und vorhersehbar ihre Preise erhöhen, ohne dass man Ein-
Kollegen! Alle, die den Saal verlassen, kann ich nur bit- fluss darauf nehmen kann. Dann gibt es Unternehmen,
ten, hierzubleiben, weil dieses Thema uns alle angeht. Es die Sie und uns alle mit unerwünschten Werbeanrufen
geht um den Schutz der Verbraucherinnen und Verbrau- belästigen. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher
cher im Bereich der Telekommunikation. bezahlen in Warteschleifen bei Hotlines – die Frage lau-
tet: Warum? Außerdem werden uns Verträge unterge-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie auf schoben. Mit Gewinnversprechen werden Kundinnen
der Zuschauertribüne sitzen und diese Debatte verfol- und Kunden auf teure 0900er-Nummern gelockt. All
gen, das ist ein Thema, das auch Ihnen zu Hause unter diese Probleme gilt es in den Griff zu bekommen. Wir
den Nägeln brennt. 19 Cent pro Minute für ein Fernge- als SPD-Fraktion haben einen hervorragenden Antrag
spräch innerhalb Deutschlands – heute klingt das absurd geschrieben, in dem ein ganzes Maßnahmenbündel die-
teuer. Aber 1998 war das ein Kampfpreis. Damit begann sen Problemen entgegenwirkt.
damals der Wettbewerb im deutschen Festnetz. Die rela-
tiven Kosten sind seitdem zwar drastisch gesunken; aber (Beifall bei der SPD – Andreas G. Lämmel [CDU/
in absoluten Zahlen ist das eigentlich nicht der Fall. Eher CSU]: Jeder Krämer lobt seine Ware!)
zahlen wir heute mehr. Aber wir alle müssen auch kon-
statieren: Heutzutage telefonieren wir nicht mehr nur mit Gleichzeitig liegt – endlich, muss man sagen – der
dem Telefon und nutzen nicht mehr nur diese Leitungen, Entwurf der Regierungsfraktionen für eine Novelle zum
sondern sind auch an ein neues Kommunikations- und Telekommunikationsgesetz vor. Kostenfreie Hotlines
Konsumsystem angeschlossen. – das werden uns auch die Kollegen von der Regierungs-
seite zugestehen – fordern alle Fraktionen. Der Gesetz-
Der Telekommunikationsmarkt ist einer der dyna- entwurf enthält bessere Vorgaben zur Preisangabe und
mischsten Märkte in Deutschland. Neue technische zur Beschreibung der Qualität der Angebote, und die
Möglichkeiten sorgen natürlich immer wieder für neue Verbraucherrechte beim Umzug und beim Anbieter-
Geschäftsmodelle. Die Telekommunikationsbranche ist wechsel werden gestärkt. Es ist eine gute Sache, dass das
zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutsch- in dem Gesetzentwurf steht. Sie als Bundesregierung ha-
land geworden. Sie ist ein wichtiger Motor für Innova- ben einen Aufschlag gemacht, und Bundesrat und die
tion, Wachstum und Beschäftigung. Sowohl die Zahl der Verbraucherzentralen haben schon ihre Stellungnahmen
Unternehmen als auch die Umsätze wachsen. Dies ist ei- dazu abgegeben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11715
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
(A) Auf dieser Grundlage sollten wir alle gemeinsam zu Zugenommen hat dagegen die Zahl der Anrufe von (C)
guten Lösungen kommen. Wir als SPD werden uns je- Telefonbetrügern, die vermeintliche Gewinnverspre-
denfalls ganz konstruktiv daran beteiligen. chen mit der Aufforderung machen, teure 0900er-Num-
mern anzurufen. Auch das Abgreifen von Kontaktdaten
(Beifall bei der SPD) ist durch die vorhandenen gesetzlichen Maßnahmen
Ich habe auch schon einen ganz konkreten Vorschlag, nicht ausreichend eingedämmt worden. Mit anderen
nämlich die Verpflichtung, dass die Call-by-Call-Anbie- Worten kann man sagen: Die Verbraucherinnen und Ver-
ter die Preise anzugeben haben. Das darf man nicht erst braucher werden jetzt zwar seltener belästigt, aber sie
irgendwann mit einer Verordnung regeln, sondern das werden schneller und mehr abgezockt. Darum müssen
gehört jetzt sofort ins Gesetz. wir hier gesetzlich eingreifen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Karin
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Binder [DIE LINKE])
GRÜNEN)
Wozu sollten wir denn warten? Wir kennen doch alle die Noch eines steht fest: Verbraucherrechte müssen
Abzocke durch unerwartete Preissprünge. Wenn Sie sich künftig besser durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit
dazu nicht durchringen können, sondern das auf dem dazu ist die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaf-
Verordnungsweg regeln wollen, muss es aber bitte schön ten. Dazu haben wir aus dem Bundesrat bereits positive
gleichzeitig mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs Signale vernommen. Ich glaube, dass wir es hier schaf-
geschehen. fen, konzertiert vorzugehen.
Meine Damen und Herren, wir haben hier zwar einen Meine Damen und Herren, wir haben eine sogenannte
guten Aufschlag der Bundesregierung; aber wenn man Button-Lösung eingebracht und hätten die Verbrauche-
sich den ganzen Bereich anschaut, muss man konstatie- rinnen und Verbraucher stärken können. Das hat die Re-
ren: Beim Verbraucherschutz in der Telekommunikation gierungskoalition abgelehnt. Sie haben sich darauf zu-
haben die Bundesregierung und die Regierungskoalition rückgezogen, dass das EU-weit geregelt werden muss.
total versagt; Heute trommelt der Buschfunk aber, dass Sie vielleicht
doch eine nationale Lösung haben wollen.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Erik Sie haben noch nichts vorgelegt.
Schweickert [FDP]: Oh!)
(Lachen des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
denn Ihr Gesetzentwurf sieht keine Hilfe bei Kostenfal- Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden weiter
(B) len, untergeschobenen Verträgen und der Abzocke bei abgezockt, und das ist nicht spaßig. (D)
Gewinnspielen vor.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist TKG und Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht UWG!) Frau Kollegin.
Zu diesen Themen brauchen Sie bloß einmal bei den
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Bürgerinnen und Bürgern nachzufragen. Da gilt es, von
uns aus etwas zu tun. Wir als SPD haben bereits in der Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Verbrau-
letzten Legislaturperiode ein Gesetz zur Bekämpfung cherschutz in der Telekommunikation ist mehr als das,
unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des was im Telekommunikationsgesetz geregelt wird. Wir
Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen haben die Lösungsansätze aufgezeigt. Stimmen Sie un-
auf den Weg gebracht. serem Antrag zu und lassen Sie uns konstruktiv im Sinne
aller Verbraucherinnen und Verbraucher daran arbeiten.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist aber Danke schön.
UWG!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
– Jawohl. – Mit diesem Gesetz haben wir die Rechte der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Verbraucherinnen und Verbraucher erheblich gestärkt,
insbesondere im Hinblick auf unerlaubte Telefonwer-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
bung und auf die untergeschobenen Verträge.
Andreas Lämmel von der CDU/CSU-Fraktion ist der
Gleichzeitig hat die SPD-Fraktion eine Evaluation nächste Redner.
dieses Gesetzes auf den Weg gebracht. Ich denke, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Evaluation vorzuziehen, war genau der richtige Weg;
denn die Zahl der Beschwerden ist in dieser Zeit nicht
zurückgegangen. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
Was sagen die nun vorliegenden Ergebnisse aus? Sie nen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wolff, ich habe Ih-
zeigen erstens, dass das Gesetz zum Teil greift. Zweitens rer Rede und der Kommentierung Ihres „hervorragenden
zeigen sie, dass die Unternehmen zwar weiterhin mit un- Antrages“ gelauscht. Ich denke, uns eint die Forderung
gewollten Initiativanrufen gegen das Gesetz verstoßen, nach dem Ausbau des Verbraucherschutzes und nach der
die Zahl dieser Anrufe aber deutlich zurückgeht. Stärkung der Rechte der Verbraucher.
11716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Andreas G. Lämmel
(A) Ich weiß aber nicht so recht, ob die Diskussion, die der alte Anbieter den Endkunden so lange weiter versor- (C)
wir jetzt führen, nicht völlig deplatziert ist; denn – Sie gen muss, bis der Anbieterwechsel innerhalb eines Tages
haben es selbst erwähnt – die Bundesregierung hat den gewährleistet ist. Ich denke, dass unsere Regelung besser
Gesetzentwurf schon am 2. März dieses Jahres verab- ist und auch wesentlich weiter geht als Ihre Forderung
schiedet. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme dazu nach Sanktionen.
geschrieben, und es wäre sinnvoll gewesen, in der ersten
Ein anderes Thema ist die zwölfmonatige Höchstver-
Lesung des Gesetzentwurfes hier im Deutschen Bundes-
tragslaufzeit für Telekommunikationsverträge. Das ist
tag, also im Mai, genau die Fragen, die Sie vorgetragen
ein leidiges Thema; das muss ich zugeben. Mir ist das
haben, zu erörtern.
auch schon oft passiert: Man wechselt den Anbieter und
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die muss einen Zweijahresvertrag unterschreiben. Wenn
trage ich schon seit Jahren vor!) man vergisst, diesen Vertrag innerhalb einer bestimmten
Frist zu kündigen, läuft er weiter, dann allerdings nur
– Ja, genau.
noch ein Jahr. Wir sind der Auffassung, dass eine zwölf-
Ich muss Ihnen auch sagen, dass Ihr Antrag ein biss- monatige Höchstvertragslaufzeit notwendig ist. Zumin-
chen spät vorgelegt worden ist; denn die CDU/CSU- dest muss die Möglichkeit dazu bestehen. Ob der Ver-
Fraktion hat schon lange ein Papier zu den verbraucher- braucher einen Vertrag über zwei, drei, fünf oder zehn
schutzrechtlichen Regelungen im Gesetzentwurf vorge- Jahre unterschreibt, bleibt ihm überlassen; aber er muss
legt. 80 Prozent Ihrer gesamten Regelungsvorschläge auch die Möglichkeit haben, einen Vertrag abzuschlie-
können Sie jetzt im Gesetzentwurf der Bundesregierung ßen, der nur ein Jahr läuft und entsprechend gekündigt
nachlesen. werden kann.
(Martin Dörmann [SPD]: Wir wollen Ein weiteres Thema sind die Verbraucherrechte beim
100 Prozent!) Umzug. Umzüge kommen im praktischen Leben oft vor;
die Menschen sollen schließlich mobil sein. Gefordert
Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich also wird, dass für den Fall eines Umzugs ein Sonderkündi-
sagen: Haken, Haken, Haken – alles eigentlich erledigt, gungsrecht im Gesetz verankert wird.
weil es im Gesetzentwurf steht.
Sie befürworten sogar, dass die Telekommunikations-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich unternehmen eine Kompensation für die überlassene
habe es doch gesagt: kein Haken, kein Haken, Hardware erhalten. Damit sind Sie sehr wirtschafts-
kein Haken!) freundlich. Über diesen Vorschlag werden wir diskutie-
Insofern ist die Diskussion heute eine kleine Spiegel- ren müssen. Wir sind der Auffassung, dass es eine ver-
(B) fechterei. Wir sollten das in den Ausschüssen debattie- traglich vereinbarte Abstandszahlung geben soll. Der (D)
ren. Es lohnt sich sicherlich, darüber zu diskutieren, Verbraucher muss wissen, worauf er sich bei einem Um-
wenn der Gesetzentwurf eingebracht ist. zug einlässt.
Deswegen möchte ich jetzt auch nur drei Punkte an- Ich denke, in den weiteren Themen, die Sie angespro-
sprechen, die uns hier wirklich sehr beschäftigen. chen haben, wie die Mitnahme von Mobilfunkrufnum-
mern und Preistransparenz bei Call-by-Call-Dienstleis-
Jeder hier im Raum hat sich in der vergangenen Zeit tungen, liegen wir nicht weit auseinander. Insofern
wahrscheinlich schon einmal sehr über Anrufe mit unter- denke ich, dass die Beratung, was den ersten Teil Ihres
drückter Nummer, über falsche Angaben von Bandbrei- Antrages angeht, in großer Gemeinsamkeit gelingen
ten bei Internetanschlüssen und über teure Warteschlei- kann. Beim zweiten Teil Ihres Antrags wird es schon
fen geärgert. Deswegen bestätige ich Ihnen ja auch, dass schwieriger. Das wissen Sie auch genau. Herr Dörmann
Handlungsbedarf besteht. lächelt schon insgeheim in sich hinein, weil er genau
Die Warteschleifen sind, glaube ich, im Moment eines weiß, dass verschiedene Regelungen, die darin gefordert
der größten Probleme. Ich denke, wir haben hier im werden, einen sehr hohen bürokratischen Aufwand nach
Hause und auch mit der Regierung eine große Einigkeit, sich ziehen. Da wir alle eigentlich für Bürokratieabbau
dass in Bezug auf kostenlose Warteschleifen Regelungen sind, werden wir uns dabei sicherlich kaum einig wer-
geschaffen werden müssen, und auch über die Wege sind den.
wir uns jetzt wohl einig, nachdem die Anbieter lange Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Sie
Zeit erklärt haben, was alles technisch nicht geht. Letzt- wird sicherlich sehr produktiv werden. Der Verbraucher
endlich geht vieles dann aber doch; das haben wir in der wird der Gewinner sein. Das ist unser Ziel.
politischen Praxis ja schon oft erlebt. Ich denke also, das
Thema wird sich regeln lassen. (Klaus Barthel [SPD]: Schauen wir mal!)
In Bezug auf den Anbieterwechsel innerhalb eines Es ist die Aufgabe der Politik, die Verbraucherrechte zu
Kalendertages gehen wir andere Wege als Sie. Sie for- stärken. Das werden wir mit dem Gesetzentwurf und den
dern Sanktionen, wenn ein Anbieterwechsel nicht inner- weiteren Diskussionen im Ausschuss auch tun.
halb eines Tages abgeschlossen wird. Was nützt es mir,
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
wenn der Anbieter, nachdem ich fünf Tage lang kein Te-
lefon hatte, vielleicht 100 Euro zahlen muss? Ich will (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
den Anbieterwechsel an einem Tag realisiert haben. Wir Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gesagt
sind der Meinung, dass es wesentlich besser ist, wenn haben Sie eigentlich nichts!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11717

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nehmen zubilligen möchte. Anstatt zu sagen, dass die (C)
Die Kollegin Caren Lay ist die nächste Rednerin für Warteschleifen kostenlos sein sollen, wollen Sie, dass
die Fraktion Die Linke. das nur bei Sondertelefonnummern gilt.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Die anderen
kosten ja eh nichts!)
Caren Lay (DIE LINKE): Insofern ist die Behauptung von Verbraucherministerin
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Aigner, das Problem kostenpflichtiger Warteschleifen
Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Lämmel, ich muss sei gelöst, sicher nicht die richtige Formulierung.
mich schon wundern. Ich denke, dass die Beratung der
Anträge der Linken, aber auch der anderen Oppositions- Auch wir als Linke haben hier einen Antrag vorge-
fraktionen zu dem wichtigen Thema Verbraucherschutz legt. Wir sagen zum Beispiel: Warteschleifen müssen
im Telekommunikationsbereich nun wirklich nicht de- komplett kostenlos sein. Auch die Wartezeit muss be-
platziert ist, wie Sie gesagt haben. Vielmehr ist es längst grenzt werden. Denn wer möchte schon viele Stunden
überfällig, dass die Bundesregierung handelt. Wieder mit Dudelmusik am Telefon verbringen? Ebenso fordern
einmal muss die Opposition Sie vor sich hertreiben. wir klare Preisobergrenzen und Preisinformationen. Was
für das Festnetz schon längst gilt, muss auch für das
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Handy gelten.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schließlich durch ungebetene Telefonanrufe, Kostenfal-
len im Internet und viele andere Dinge mehr jedes Jahr Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
sehr viel Geld. Ich denke, jeder von uns kennt dieses besser vor Kostenfallen im Internet geschützt werden. Es
Problem auch aus der eigenen Erfahrung. Man bekommt muss klar erkennbar sein, wie viel ein Kauf im Internet
zum Beispiel eine SMS auf das Handy mit der Mittei- kostet und wann der Kauf tatsächlich abgeschlossen ist.
lung: „Sie haben gewonnen! Rufen Sie uns bitte unter Deswegen fordern auch wir, ebenso wie in der letzten
folgender Nummer an.“ Dann landet man in einer Warte- Legislaturperiode, einen Internetbutton. Besonders be-
schleife, die am Ende sehr viel Geld kostet. Der Haupt- drückend finde ich, dass sich die Telekommunikations-
gewinn bleibt aber aus. branche in der Zwischenzeit eine goldene Nase verdient.
Im letzten Jahr hat die Branche in Deutschland einen
Ein anderes Beispiel sind die scheinbaren Billigtarife, Umsatz von 61 Milliarden Euro erzielt, einen Teil davon
bei denen die Telekommunikationsunternehmen beson- mit unseriösen Praktiken.
(B) ders preiswerte Anrufe ins Ausland oder in Mobilfunk- (D)
netze versprechen. Dann aber erhöhen die Anbieter Wir sagen als Linke: Verbraucherabzocke darf sich
kurzfristig und auch unbemerkt die Minutenpreise oft nicht länger lohnen. Die Zögerlichkeit von Schwarz-
um das Vielfache, und die Verbraucherinnen und Ver- Gelb ist Teil einer Politik zugunsten der Unternehmen.
braucher bleiben auf den Kosten sitzen. Verbraucherinteressen bleiben dabei auf der Strecke. Das
muss endlich ein Ende haben.
Insofern erleben viele Verbraucherinnen und Verbrau-
cher die Telekommunikationsbranche als einen Markt Vielen Dank.
der Abzocke. Wir als Linke sagen, dass diese Abzocke
im Internet und bei der Telekommunikation endlich ein (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
Ende haben muss. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert


Präsident Dr. Norbert Lammert:
[FDP]: Da sind Sie nicht allein, Frau Lay!)
Das Wort erhält nun die Kollegin Claudia Bögel für
– Dann bin ich auf Ihre Vorschläge gespannt. Denn das die FDP-Fraktion.
ist kein neues Problem. Seit Jahren sorgt der Telekom-
munikationsmarkt für den höchsten Beratungsbedarf bei Claudia Bögel (FDP):
den Verbraucherzentralen. Fast die Hälfte der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher hat Probleme mit Telefon- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
und Internetdiensten. Das Schlimmste ist, dass die be- Kollegen! Die Novelle zum Telekommunikationsgesetz
liebtesten Opfer dieser unseriösen Geschäftspraktiken setzt zwei große Schwerpunkte. Sie bringt den Verbrau-
sehr häufig Jugendliche und ältere Menschen sind. Des- chern besseren Schutz, und sie schafft einen sicheren
wegen ist es unsere soziale Verpflichtung, uns hier ein- Rahmen für den Ausbau modernster Internetinfrastruk-
zusetzen. tur. Ihre Vorschläge zu Änderungen im TKG, die ich in
Ihrem Antrag wiederfinde, hat das Kabinett bereits vor
Was macht aber die Bundesregierung? Ich habe in der gut einem Monat zu großen Teilen abgesegnet; Kollege
Tat aus den Reihen der Union immer wieder einmal eine Lämmel sagte das vorhin. Somit, liebe Opposition, ge-
Presseerklärung zum Thema „sauberes Telefon“ gelesen. hören Sie der Vergangenheit an. Aber wir kennen das ja:
Aber geändert hat sich die Gesetzeslage bislang nicht. Dort, wo Sie nur fordern – und das auch noch mit großer
Das gilt auch für den Gesetzentwurf der Bundesregie- Verspätung –, haben wir uns bereits gekümmert und um-
rung. Beispielsweise beim Thema Warteschleifen gibt es fassende Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bür-
nach wie vor Schlupflöcher, die die Koalition den Unter- ger erwirkt.
11718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Claudia Bögel
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wir uns auch künftig halten; denn gute Wettbewerbs- (C)
Martin Dörmann [SPD]: Sie haben doch noch politik – davon bin ich überzeugt – ist die beste Verbrau-
gar nichts beschlossen! – Caren Lay [DIE cherpolitik.
LINKE]: Was haben Sie denn schon ge-
macht?) Vielen Dank.

So wird die Bundesnetzagentur in Zukunft darüber (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren
wachen, ob die Angaben zu den Geschwindigkeiten von Lay [DIE LINKE]: Um Gottes willen!)
Breitbandanschlüssen mit den Fakten übereinstimmen.
Sie wird darüber wachen, ob die Preistransparenz bei so- Präsident Dr. Norbert Lammert:
genannten Call-by-Call-Gesprächen und mobilen Daten- Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion
diensten gewährleistet wird. Der Schutz vor Abrechnung Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
von Internetkostenfallen über die Handyrechnung wird
auch auf den Mobilfunk ausgeweitet. Ein ganz wesentli-
cher Faktor für Unternehmen ist die Verkürzung der Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wartezeit bei Anbieterwechsel auf einen Tag. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein ganz
wichtiges Feld, über das wir heute diskutieren; denn
(Martin Dörmann [SPD]: Das hat doch die EU ganz viele Menschen sind von großen Problemen betrof-
vorgeschlagen!) fen, die wir weiterhin bei der Telekommunikation haben.
Wir haben das Problem erkannt: Telefonanbieterwechsel Deshalb sage ich: Auch ein mündiger Bürger braucht ei-
und schon ist man unter Umständen mehrere Tage nicht nen bestimmten Schutz. Es reicht einfach nicht, nur auf
erreichbar. Für den Bürger ist das ärgerlich, für ein Un- Wettbewerb zu setzen, um das einmal sehr deutlich zur
ternehmen ist es von existenzieller Bedeutung. Mit der FDP zu sagen.
entsprechenden Regelung und vielen weiteren Regelun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen bietet das TKG zeitgemäßen Verbraucherschutz für und bei der SPD)
alle Formen der elektronischen Kommunikation, und das
auf höchstem Niveau. Wir haben Telefon, wir haben Handy, wir haben Inter-
net und wir haben neue Medien, die eine immer größere
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rolle spielen. In vielen Bereichen herrschen in der Tat
Das ist unsere Politik. Ihr folgen Taten statt warmer immer noch Wildwestmethoden. Deshalb müssen wir
Worte, verpackt in populistische Forderungen. dem Verbraucherschutz mehr Gewicht geben. Ich habe
den Eindruck, dass die Bundesregierung diesen Heraus-
(B) (Lachen bei der SPD – Caren Lay [DIE forderungen nicht gewachsen ist; denn sie braucht ex- (D)
LINKE]: Das ist ja unglaublich!) trem lange, um zu reagieren, und wenn sie reagiert,
springt sie zu kurz. Es ist wichtig, heute diese Debatte zu
Noch in diesem Jahr können wir die letzten weißen
führen, damit wir endlich im Verbraucherschutz bei der
Flecken in der flächendeckenden Grundversorgung mit
Telekommunikation vorankommen.
DSL-Internetanschlüssen und LTE beseitigen. Die Zu-
sage hierzu wurde von den TK-Unternehmen aktuell be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
kräftigt. bei der SPD und der LINKEN)
Wir wollen, dass auch in den ländlichen Räumen bis Angesichts der kurzen Zeit nenne ich drei Beispiele.
spätestens 2018 besonders schnelle Breitbandanschlüsse Das ganze Thema ist extrem breit. Ein Beispiel sind die
flächendeckend verfügbar sind. Telefonwarteschleifen. Wir von den Grünen haben das
(Martin Dörmann [SPD]: Sie tun nur nichts Thema 2009, als wir eine Studie vorgelegt haben, in die
dafür!) Diskussion gebracht und auf den Missbrauch und die
Abzocke hingewiesen – jetzt haben wir 2011. Wir haben
Der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbandes dieses Thema im März des letzten Jahres in den Bundes-
fordert deshalb eine kosteneffiziente und für die Ver- tag eingebracht. Ein Jahr später wird endlich ein Gesetz-
braucher auch bezahlbare Ausbaustrategie. Absolut rich- entwurf auf den Weg gebracht. Da kann man nun sagen:
tig. Augenmaß und nicht blinder Aktionismus ist hier Lieber spät als nie. – Aber man muss auch sagen: Er ist
von größter Wichtigkeit; noch nicht einmal gut geworden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Widerspruch der Abg. Claudia Bögel [FDP])
denn es geht um Investitionen in Höhe von immerhin Daher finde ich schon, dass man fragen muss, was Frau
40 Milliarden Euro. Der Ausbau soll mit dem Ziel erfol- Aigner dazu sagt. Frau Aigner hat sich gerühmt, sie habe
gen, für die Verbraucher die geringsten Kosten zu errei- das Problem der kostenpflichtigen Warteschleifen gelöst.
chen. Ohne den Wettbewerb als den wichtigsten Antrei- Sie hat gesagt: Wird vom Unternehmen keine Leistung
ber wird dies nicht gelingen. erbracht, dürfen auch keine Kosten berechnet werden. –
Das ist ein Zitat.
Allein der Wettbewerb, der allen Verbrauchern freie
Wahl unter den Anbietern gibt, hat den Telekommunika-
tionsmarkt zum erfolgreichsten Modell für die Liberali- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sierung staatlicher Monopole gemacht. Daran sollten Frau Kollegin Höhn, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11719

(A) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): so schnell sein. Das war nicht schnell in Ihrer Regie- (C)
Sofort. Ich möchte den kleinen Satz noch zu Ende rungsverantwortung.
bringen, und dann werde ich eine Zwischenfrage zulas-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
sen.
DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich komme zum nächsten Punkt: unerlaubte Telefon-
Aber sicher. werbung. Da dieses Problem schon lange bekannt ist, ha-
ben wir schon vor einiger Zeit einen entsprechenden An-
trag eingebracht. Die Bundesnetzagentur hat festgestellt:
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 2010 gab es 30 Prozent mehr Beschwerden als 2009.
Dann erhalte ich wieder ein bisschen mehr Zeit. Mittlerweile haben sich 130 000 Menschen bei der Bun-
desnetzagentur beschwert. Das lässt uns ahnen, wie viele
Präsident Dr. Norbert Lammert: Personen tatsächlich betroffen sind. Zwar wird nun eine
Das wollen wir dann sehen. Lösung des Problems vorgelegt, aber auch da muss man
sagen: späte Einsicht. Auch hier hätte viel früher eine
Lösung gefunden werden können. Wir als damalige Op-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
positionsfraktion haben Vorlagen mit Lösungen einge-
Wenn wir dieses Zitat von ihr – wird vom Unterneh- bracht. Damals haben Sie gegen uns gestimmt. Jetzt stel-
men keine Leistung erbracht, dürfen auch keine Kosten len Sie fest: Um den Verbraucher zu schützen, muss er
berechnet werden – jetzt auf seine Richtigkeit überprü- eine schriftliche Bestätigung abgeben. Um das zu verste-
fen, dann stellen wir fest: In der Tat werden immer noch hen, haben Sie Jahre gebraucht. Auch hier ist der Ver-
Kosten fällig, es gibt immer noch Schlupflöcher. Dieser braucherschutz bei Ihnen eine Schnecke.
Satz ist einfach falsch.
(Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜND-
Wenn die Ministerin am Weltverbrauchertag sagt, irre- NIS 90/DIE GRÜNEN])
führende Aussagen in der Lebensmittelwerbung dürfe es
nicht mehr geben, dann sagen wir: Sie sollte keine irre- Letzter Punkt: Kostenfallen im Internet. Verstehen
führende Werbung in eigener Sache machen. Auch das Sie endlich, dass Menschen, die über das Internet eine
ist verboten und sollte nicht geschehen. Leistung in Anspruch nehmen, sehen müssen, wie viel
diese Leistung kostet. Mit einem entsprechenden Button
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist das ganz einfach zu erreichen. Wir sind uns eigent-
bei der SPD und der LINKEN) lich einig, dass dafür gesorgt werden muss. Deshalb
(B) sage ich – Frau Ministerin ist nicht da –: Herr Bleser – (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie sind mir der beste Verbraucherschützer, den ich mir
Bitte schön. vorstellen kann
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dr. Erik Schweickert (FDP): der FDP)
Frau Kollegin Höhn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das Problem der Abzocke bei telefoni- – genau –; denn Sie sind nun für mehr als nur für Land-
schen Warteschleifen nicht erst seit der Regierungsüber- wirtschaft zuständig –, setzen Sie Ihr Vorhaben endlich
nahme durch Schwarz-Gelb, also 2009, als Sie die Um- um und reden Sie nicht immer nur darüber! Ich finde
frage durchgeführt haben, existiert, sondern schon viele diese von der SPD angestoßene Debatte gut. Die Regie-
Jahre früher existierte? Deswegen möchte ich Sie fragen: rung muss endlich etwas tun.
Warum widmen Sie sich diesem Thema erst seit 2009? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Warum haben Sie sich diesem Thema nicht schon zu der sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Zeit gewidmet, als Sie die Regierungsverantwortung KEN)
hatten? Da gab es das Problem nämlich schon.
(Beifall bei der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mechthild Heil ist die nächste Rednerin für die CDU/
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CSU-Fraktion.
Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Das ist nun wirk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
lich nicht logisch; denn wir waren hier im Bundestag im- der FDP)
merhin die Ersten, die den Antrag dazu eingebracht ha-
ben, und wir waren immerhin diejenigen, die dann Mechthild Heil (CDU/CSU):
wenigstens 2009 mit dieser Anfrage das Ganze an die
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Öffentlichkeit gebracht haben. Wenn ich sehe, dass die Kollegen! Die CDU/CSU hat den Verbraucherschutz fest
Franzosen heute schon in der Lage sind, kostenfreie im Blick. Wir freuen uns, dass die Opposition uns mit ih-
Warteschleifen zu garantieren, dann verstehe ich nicht,
ren Anträgen heute bei diesem Vorhaben unterstützen
warum die Ministerin das, was die Franzosen können, will. Vielen Dank!
hier in Deutschland nicht kann. Das ist das Problem.
Schnelles Handeln wäre möglich gewesen. Von 2009 bis In den letzten Jahren haben wir mit der Verschärfung
2011 ist eine lange Zeit. Sie von der FDP wollen immer des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwer-
11720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Mechthild Heil
(A) bung erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht: wollen auch, dass der Mobilfunkkunde in Zukunft seine (C)
Uns ist es gelungen, dass unlautere Anrufe strenger ge- Rufnummer zum neuen Anbieter mitnehmen kann. Das
ahndet werden. Außerdem haben wir ein deutlich höhe- ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Kundenser-
res Bußgeld durchgesetzt. Wir haben Rufnummernunter- vice.
drückungen verboten, und wir haben das Widerrufsrecht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgeweitet, auch bei Gewinnspielen.
Unser Ziel als CDU/CSU ist es nämlich, mehr Wett-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Auf un-
bewerb zu ermöglichen und damit für die Kunden die
seren Tipp hin!)
Kosten zu senken. Deshalb wird jeder Telefon- und In-
Darüber hinaus haben wir festgesetzt, dass Anbieter- ternetanbieter verpflichtet, auch Verträge mit zwölf an-
wechsel und Vertragsänderungen nur noch mit schrift- statt mit 24 Monaten Laufzeit anzubieten. Und: Handy-
licher Bestätigung des Kunden erlaubt sind. Das alles abrechnungen müssen so transparent und verständlich
war und ist ein großer Erfolg für Verbraucherinnen und erstellt werden, dass der Kunde erkennen kann, was wie
Verbraucher. Aber unsere Ideen und unsere Durchset- viel gekostet hat. Er muss auch Widerspruch gegen ein-
zungskraft gehen noch weiter. zelne Rechnungsposten einlegen können. Diese Vielzahl
von Verbesserungen im TKG bringt uns dem Ziel eines
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und „sauberen“ Telefons wesentlich näher. Damit ist der
der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] Unionsfraktion eine weitere Stärkung der Verbraucher
[SPD]: Da haben Sie noch von unserer Idee gelungen.
gelebt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Bundeskabinett hat am 2. März den Entwurf der
Novelle zum Telekommunikationsgesetz beschlossen. Auch mit dem Geschwindigkeitsschwindel bei DSL-
Damit setzen wir unsere verbraucherpolitischen Ziele Anschlüssen ist jetzt Schluss. Derzeit geben die Anbieter
konsequent weiter um. Mit überteuerten und endlosen die Geschwindigkeit von DSL-Anschlüssen mit „bis zu“
Warteschleifen, Frau Höhn, den Kunden das Geld aus an. In der Realität heißt das oft: Die Höchstgeschwindig-
der Tasche zu ziehen, ist mit uns nicht zu machen. Wir keit wird auch unter günstigsten Bedingungen nicht er-
sorgen dafür, dass ein Anrufer erst dann bezahlen muss, reicht. Oft entpuppt sich der Datenhighway als verkehrs-
wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der sich beruhigte Zone. Deshalb werden wir die DSL-Anbieter
seines Problems annimmt. Ja, Servicenummern dürfen verpflichten, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten
etwas kosten, aber erst ab der Sekunde, ab der dem Kun- anzugeben.
den auch wirklich geholfen wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) Ein weiteres Ärgernis für die Verbraucher sind einige der FDP) (D)
Call-by-Call-Anbieter. Mit unübersichtlichen Tarif-
Der zweite Schwerpunkt unseres Gesetzes, das wir
sprüngen werden Kunden bewusst in die Irre geführt.
vorlegen werden, ist der Breitbandausbau. Wir wollen
Die Folge kann eine massiv überhöhte Rechnung sein.
möglichst bis 2015 eine flächendeckende Verfügbarkeit
Dieses Problem wurde auf der europäischen Ebene er-
von Breitbandanschlüssen mit einer Bandbreite von
kannt, und Europa hat gehandelt. Deshalb können heute
50 Megabit pro Sekunde erreichen.
nationale Regulierungsbehörden – bei uns ist das die
Bundesnetzagentur – Transparenzvorgaben für die Tele- (Martin Dörmann [SPD]: Sie haben aber ein
kommunikationsunternehmen machen. Dazu gehört eine anderes Ziel formuliert! – Weiterer Zuruf von
Tarifansage zu Beginn jedes Gesprächs. Wechselte bis- der CDU/CSU: Wichtig für den ländlichen
her ein Kunde den Wohnort, musste er meist den alten Raum!)
Vertrag fortführen, auch wenn am neuen Wohnort die
Wir wissen, dass in ländlichen Regionen Breitbandnetze
Leistungen gar nicht angeboten wurden. Damit soll jetzt
ebenso wichtig sind wie in Ballungsräumen. Sie sind
Schluss sein. Wir wollen ein gesetzlich verankertes Son-
wichtig für die Ansiedlung von Unternehmen, die Schaf-
derkündigungsrecht bei Umzug. Wird die gleiche Leis-
fung von Arbeitsplätzen und auch für die Teilhabe aller
tung am neuen Wohnort angeboten, darf auch die verein-
an unserer Gesellschaft. Die CDU/CSU macht keine
barte Vertragslaufzeit nicht mehr geändert werden.
Qualitätsunterschiede zwischen Verbrauchern aus städti-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat schen und Verbrauchern aus ländlichen Räumen. Große
die EU vorgegeben! Das sind alles nicht Ihre Städte mit Internethochgeschwindigkeitsstrecken und
eigenen Ideen!) Dörfer auf dem Internetabstellgleis – das ist mit mir und
mit der CDU/CSU nicht zu machen.
Es soll Schluss sein mit endlosen automatischen Ver-
tragsverlängerungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Menschen im ländlichen Raum sind für mich keine Ver-
der FDP) braucher zweiter Klasse.
Auch der Wechsel zwischen den Telefongesellschaften Schnelle Internetanschlüsse sind heute mit der Ver-
muss vereinfacht werden. Wechselt man zur Konkur- sorgung von Wasser und Strom gleichzusetzen. Sie sind
renz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lang Teil der Daseinsvorsorge. Es gibt einen Wunsch nach
stillgelegt werden. So lange bleibt der alte Anbieter Ver- und ein Recht auf ungehinderten Informationszugang.
tragspartner. Dann muss alles wieder funktionieren. Wir Dafür kämpfe ich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11721
Mechthild Heil
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Trotzdem enthält der Antrag von der SPD einiges (C)
der FDP) Gute. Allerdings frage ich mich, warum das so ist. Ich
frage mich, ob das Guttenberg-Syndrom so langsam bei
Gerade als Verbraucherschützerin liegt mir dies sehr am Ihnen angekommen ist; denn die guten Sachen entstam-
Herzen. Ohne den freien Zugang zu Informationen gibt men dem Plagiieren.
es keine mündigen Bürger. Aus diesem Grund streben
wir eine flächendeckende Versorgung für Land und Stadt (Lachen bei der SPD – Christel Humme
an. [SPD]: Das war ein Eigentor!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben gesagt – das steht im Entwurf der TKG-
Novelle –: Ein Anbieterwechsel soll funktionieren. Wir
Mehr Rechte, weniger Abzocke, schnelleren Anbie- haben sogar die Rückfallmöglichkeit für den Fall vorge-
terwechsel, fairen Wettbewerb und besseren Durchblick sehen, dass es nicht funktioniert.
im Telekommunikationsdschungel – dies alles wollen
Verbraucher. Wir, die CDU/CSU, schaffen die gesetz- (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Genau!)
lichen Grundlagen dafür. Wenn Sie von der Opposition
Damit gehen wir über die Forderung hinaus, die Sie auf-
uns hierbei unterstützen wollen, sind Sie herzlich einge-
stellen.
laden.
Ich kann die Liste weiter durchgehen. Wir sehen die
(Caren Lay [DIE LINKE]: Halten Sie sich an garantierten Tarifvarianten, maximal zwölf Monate, vor;
unsere Anträge!) Seite 29, § 43 b.
Ich freue mich auf eine intensive Diskussion mit Ihnen. (Burkhard Lischka [SPD]: Alles von der EU
Vielen Dank. vorgegeben! Das ist nicht Ihre Idee!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber das kennen Sie ja. Sie haben es schließlich abge-
schrieben. Von daher sind Sie im Thema drin. Das gilt
auch für die Regelung im Umzugsfall.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Frau Wolff, zur Pflicht zur Tarifansage im Call-by-
Kollege Dr. Schweickert für die FDP-Fraktion. Call-Bereich: § 66 b TKG; ich habe es gerade noch ein-
mal nachgesehen. Das ist drin. Sie können nicht sagen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es sei nicht drin. Es ist drin, weil wir uns um die Ver-
braucher kümmern und genau wissen, wo der Schuh
(B) Dr. Erik Schweickert (FDP): drückt. (D)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Es ist schon interessant, wie die Debatte hier läuft. Es der CDU/CSU)
wird so getan, als ob wir Ewigkeiten brauchten, um zu
handeln. Außerdem haben wir als schwarz-gelbe Regierungs-
koalition die Evaluation vorgezogen, um in vielen Berei-
(Caren Lay [DIE LINKE]: Ist auch so!) chen überhaupt tätig werden zu können. Sie wissen, dass
Dabei hätten manche zwölf Jahre lang die Möglichkeit Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger handelt,
dazu gehabt, haben aber nichts getan. Dann wird uns vorzieht und die notwendigen Entwürfe vorlegt. Das ist
vorgeworfen, dass wir bestimmte Punkte nicht ins TKG richtige Politik. Das ist nicht nur Ankündigung. Ihre Kri-
aufgenommen hätten. Dabei weiß jeder von uns, der sich tik soll darüber hinwegtäuschen, dass Sie zwölf Jahre
im Verbraucherausschuss mit diesem Thema viele Stun- lang nichts gemacht haben.
den lang befasst hat, dass diese Punkte überhaupt nicht Denen, die lauthals rufen: „Was kann denn noch regu-
ins TKG gehören, sondern ins UWG, weil die unerlaubte liert werden, wo können wir uns noch einmischen?“,
Telefonwerbung im TKG gar nicht abgehandelt wird. muss ich sagen: Alle, die bei mir im Büro waren, haben
(Martin Dörmann [SPD]: Das steht in unserem mir gesagt: Das funktioniert nicht. Das könnt ihr nicht
Antrag so!) machen. – Wir waren diejenigen, die nicht eingeknickt
sind und die ganz klar gesagt haben: Es geht um die Ver-
Daher wünsche ich mir, dass wir über diese Themen an braucher. Wir werden die Verbraucherabzocke beenden. –
der richtigen Stelle diskutieren. Das können wir tun, Da finde ich schon interessant, wie manche Diskussio-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie nen in diesem Hause laufen.
brauchen nur unseren Antrag zu lesen und ihm Wir dürfen auch eines nicht vergessen, Kolleginnen
zuzustimmen!) und Kollegen. Wir haben mit Rainer Brüderle jemanden,
aber bitte werfen Sie uns nicht vor, dass wir fachfremde der das Thema der Telefonwarteschleifen aufgegriffen
Punkte einbringen. und die Lösung des Problems beschleunigt hat. Also,
nehmen Sie sich daran ein Beispiel! So kann es funktio-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nieren. So kann man das Notwendige gesetzlich umset-
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zen – zum Wohle der Verbraucherinnen und Verbrau-
Was ist das für eine Diskussion? Das hat doch cher. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen, dann
gar keiner gesagt!) werden Sie feststellen: Nicht nur abschreiben macht
11722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Erik Schweickert


(A) glücklich, sondern vielleicht auch einmal zustimmen, Auch für diese Aussprache ist nach einer interfraktio- (C)
wenn die Punkte, die da hingehören, tatsächlich umge- nellen Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
setzt werden. höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.
Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kollegen Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Frak-
der CDU/CSU) tion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
auf den Drucksachen 17/4875 und 17/5376 an die in der Herren! Wir erörtern hier in zweiter und dritter Lesung
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. die Novellierung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes,
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich wobei das Gesetz nicht grundsätzlich neu gefasst werden
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. soll; es geht um einige Anpassungen an aktuelle Ent-
Wir kommen nun unter dem Zusatzpunkt 4 zur wicklungen.
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf der Ich möchte grundsätzlich dazu sagen, in welchem
Drucksache 17/3587. Der Ausschuss empfiehlt unter Geist meine Fraktion diese Novelle beraten und be-
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh- schließen möchte. Wir glauben daran, dass sich die Be-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa- triebspartnerschaft in Deutschland bewährt hat, dass sie
che 17/3041 mit dem Titel „Unlautere Telefonwerbung ein Modell für gelebte Demokratie in einem Betrieb ist,
effektiv verhindern“. Wer stimmt für diese Beschluss- dass sie ein Erfolgsmodell ist, dass sie kein Wettbe-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält werbsnachteil ist, sondern dass sie für die Beteiligung
sich? – Das Erste war die Mehrheit. Damit ist die Be- von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sorgt, dass
schlussempfehlung angenommen. sie dafür sorgt, deren Engagement für den Betrieb zu
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die vergrößern, dass sie ein intelligentes Führungsinstru-
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/ ment für den Inhaber des Unternehmens ist und dass wir
Die Grünen auf Drucksache 17/3060 mit dem Titel „Un- insofern auch hier von einem Exportschlager Deutsch-
erlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen“. Wer lands sprechen können. Wir finden die Betriebspartner-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt schaft gut. Wir finden sie richtig. Wir wollen sie stärken,
(B) dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss- und wir wollen sie an die europäischen Gegebenheiten (D)
empfehlung ist mit Mehrheit angenommen. anpassen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten An zweiter Stelle geht es darum, europäisches Recht
Gesetzes zur Änderung des Europäischen Be- – also eine Richtlinie – umzusetzen. Das machen wir so,
triebsräte-Gesetzes – Umsetzung der Richtli- wie wir es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP
nie 2009/38/EG über Europäische Betriebsräte vereinbart haben. Wir setzen europäisches Recht eins zu
(2. EBRG-ÄndG) eins um. Wir denken uns nichts Zusätzliches aus und
wollen nicht europäischer sein als Europa. Herr
– Drucksache 17/4808 –
Juratovic, ich werde ergänzend zu Ihren Änderungsvor-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- schlägen und dem Zusatzantrag noch etwas sagen. Wir
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) sind der Auffassung, dass wir nicht immer wieder in
Sonntagsreden beklagen dürfen, dass es in Deutschland
– Drucksache 17/5399 –
einen Regelungswust gibt, dass uns Europa sozusagen
Berichterstattung: den Krümmungsgrad der Gurke vorschlägt
Abgeordneter Josip Juratovic
(Zuruf von der SPD)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und dass unsere Regelungen immer detaillierter werden.
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Das kann man nur dann einhalten, wenn man das euro-
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
päische Recht so umsetzt, wie es vorformuliert ist, näm-
ten Josip Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette
lich eins zu eins, und das tun wir.
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es
gibt aber auch Kann-Bestimmungen!)
Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von
Europäischen Betriebsräten umsetzen Deswegen werden die Begriffe Unterrichtung und
Anhörung erweitert und verbessert. Sie stellen eine Ver-
– Drucksachen 17/5184, 17/5399 –
pflichtung zur rechtzeitigen Unterrichtung und Anhö-
Berichterstattung: rung des Europäischen Betriebsrats vor einer endgülti-
Abgeordneter Josip Juratovic gen Entscheidung des Unternehmens über eine geplante
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11723
Dr. Johann Wadephul
(A) Maßnahme sicher. Es entspricht dem Geist des Betriebs- für uns selbstverständlich, dass der Europäische Be- (C)
verfassungsrechtes, dass der Unternehmer – bevor er triebsrat ein Zugangsrecht zum Betrieb haben soll. Was
eine Entscheidung trifft – den Betriebsrat hört und die man nicht normieren muss, sollte man auch nicht nor-
Anregungen, die Bedenken, die Sorgen, die Nöte und die mieren. Ich möchte hier ausdrücklich für die Koalitions-
Kritik, aber auch die Verbesserungsvorschläge der Ar- fraktionen im Protokoll festhalten: Selbstverständlich
beitnehmerschaft, die durch den Betriebsrat artikuliert hat der Europäische Betriebsrat ein Zugangsrecht zum
werden, in seine Entscheidung aufnimmt und insofern Betrieb. Das darf ihm nicht streitig gemacht werden.
eine noch bessere Entscheidung trifft.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir definieren die länderübergreifenden Angelegen-
heiten neu. Dies ist in den allgemeinen Teil der Richtli- Präsident Dr. Norbert Lammert:
nie übernommen worden und wird selbstverständlich Herr Kollege Wadephul, darf unmittelbar vor Schluss
auch in unseren deutschen Gesetzestext aufgenommen. Ihrer Rede der Kollege Dörflinger Ihnen zu zusätzlicher
Die Anhörung hat gezeigt, dass der Umsetzungsakt Redezeit verhelfen?
– wir als Koalitionsfraktionen wollen den vorliegenden (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetzentwurf redaktionell leicht verändern – übergrei- NEN]: Ein ganz billiger Trick!)
fende Anerkennung gefunden hat. Es kommt nicht jeden
Tag vor, dass sowohl die Arbeitgeber als auch die Ge-
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
werkschaften einen Entwurf begrüßen. Ich darf den
Gerne, selbstverständlich.
Deutschen Gewerkschaftsbund zitieren:
Aus gewerkschaftlicher Sicht wird begrüßt, dass Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
der GE überwiegend Änderungen und Ergänzungen Herr Kollege Dr. Wadephul, können Sie das Hohe
zu Vorschriften des bislang geltenden EBRG ent- Haus darüber aufklären, wie viele Finger Sie benötigen,
hält, mit denen die neue Richtlinie konform und um die Präsenz der SPD-Bundestagsfraktion bei diesem
umfassend umgesetzt wurde. Thema darzustellen?
So ein Lob hören wir gern. Da es auch von Arbeitgeber- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zwei! – Manuel
seite kommt, glaube ich, dass der Gesetzentwurf insge- Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er
samt gelungen ist. sieht doppelt!)
Ich will noch etwas zu zwei Kritikpunkten sagen:
Zum einen sind dies die Katalogtatbestände der soge- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
(B) nannten nicht wesentlichen Strukturänderung. Weshalb Das hohe Interesse der sozialdemokratischen Fraktion (D)
bleiben wir bei diesen Katalogtatbeständen? Erstens. findet seinen Ausdruck darin, dass besonders engagierte
Wir bleiben dabei, weil die Sozialpartner dies ausdrück- und qualifizierte Mitglieder dieser Fraktion heute bei
lich gewünscht haben. Wir sind als Gesetzgeber gut be- den Beratungen anwesend sind.
raten, darauf zu hören und den Sozialpartnern dann,
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU –
wenn sie sich einig sind und Rechtssicherheit haben wol-
Josip Juratovic [SPD]: Danke schön für die
len, auch Rechtssicherheit zu gewähren und diesen Kata-
Anerkennung!)
log von wesentlichen Betriebsänderungen aufzunehmen.
In diesem Sinne will ich auch die SPD-Fraktion bit-
Zweitens. Wenn wir das herausnähmen, dann würden
ten, noch einmal darüber nachzudenken, ob es ange-
wir nicht nur mehr Rechtsunsicherheit schaffen, sondern
sichts der doch in der Sache großen Einigkeit, Herr Kol-
wir würden gerade durch den Akt des Herausnehmens
lege Juratovic, nicht möglich ist, zuzustimmen, statt es
dafür sorgen, dass aus meiner Sicht wesentliche Be-
bei einer Enthaltung zu belassen.
triebsänderungen mit einem Mal nicht mehr mitbestim-
mungspflichtig wären, und das würde ich nicht wollen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Beispiel, das ein Sachverständiger genannt hat, ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Fusion zweier Tochtergesellschaften eines größeren
neten der FDP)
europäischen Konzerns. Diesen Zusammenschluss würde
er für eine nicht wesentliche Strukturänderung halten.
Ich sehe das anders. Ich bin der Meinung: Wenn zwei ju- Präsident Dr. Norbert Lammert:
ristische Personen, die durch ein Unternehmen verselbst- Nun erhält die eine Hälfte der anwesenden, besonders
ständigt wurden, fusioniert werden, dann sind das we- qualifizierten Mitglieder der SPD-Fraktion in Gestalt des
sentliche Strukturänderungen. Das sollte dann auch Kollegen Juratovic das Wort. Bitte schön.
aufgenommen werden. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der
Ein weiterer Punkt: Die Sozialdemokraten schlagen CDU/CSU: Für das Protokoll: Tosender Ap-
vor, ein Zugangsrecht aufzunehmen. Hierzu möchte ich plaus bei der SPD!)
nur sagen, was wir auch schon im Rahmen der Aus-
schussberatungen gesagt haben: In der Sache sind wir Josip Juratovic (SPD):
uns doch einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
SPD-Fraktion. Wir sind nur der Auffassung, dass dies nen und Kollegen! Die Basis unserer Wirtschaft ist, dass
nicht besonders gesetzlich geregelt werden soll. Es ist Arbeitnehmer und Arbeitgeber die meisten Entscheidun-
11724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Josip Juratovic
(A) gen im Betrieb gemeinsam treffen. Es gibt zahlreiche Wirtschaft, Finanzkrise und Euro reden. Mitbestimmung (C)
Studien, die belegen: Unternehmen mit Mitbestimmung hängt unmittelbar mit diesen Fragen zusammen und
sind erfolgreicher als Unternehmen, in denen der Arbeit- muss daher eine viel größere Aufmerksamkeit auf der
geber allein die Richtung vorgibt; denn die Mitarbeiter europäischen Ebene bekommen.
sind motivierter, wenn sie wissen, dass ihre Arbeit und
ihre Meinung Wertschätzung erfahren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Auch bei der Richtlinie zu den Europäischen Be-
Unser deutsches Wirtschaftswunder, zuletzt in der triebsräten müssen wir zeigen, dass uns europaweite
Wirtschaftskrise, beruht auch auf Mitbestimmung. Das Mitbestimmung ein wichtiges Anliegen ist. Die neuge-
vielgelobte Kurzarbeitergeld wäre ohne diese Zusam- fasste Richtlinie von 2009 war ein hartes Stück Arbeit.
menarbeit der Tarifpartner nicht möglich gewesen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Neben diesen wirtschaftlichen Gründen, die für mehr GRÜNEN]: Das stimmt!)
Mitbestimmung sprechen, sprechen auch gesellschaftli-
che Gründe dafür: In unseren Betrieben wird das hohe Die deutsche Wirtschaft und besonders der Arbeitgeber-
Gut der Demokratie lebhaft umgesetzt. Dieses Gut müs- verband haben bei der Neufassung der Richtlinie keine
sen wir erhalten, schützen und ausbauen. rühmliche Rolle gespielt. Es war harte Arbeit der euro-
päischen Gewerkschaften, unterstützt von den Betriebs-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie räten vor Ort, und des Europäischen Arbeitgeberverban-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE des, bis es zu einer Einigung kam und der destruktive
GRÜNEN) Widerstand der deutschen Arbeitgeber gebrochen war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass Die Richtlinie ist letztendlich ein Kompromiss ge-
die Mitbestimmung von den allermeisten oft lobend und worden. Der Europäische Gewerkschaftsbund konnte ei-
anerkennend in Reden erwähnt wird. Das ist wichtig; nige Verbesserungen durchsetzen, aber bei mehreren
denn Mitbestimmung braucht politische Unterstützung. Punkten sind wir als nationaler Gesetzgeber gefordert.
Auch die Kanzlerin spricht immer davon, wie wichtig
die Mitbestimmung für unsere wirtschaftliche Leistung Unsere Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Sozia-
ist. Aber das deutsche Mitbestimmungsmodell, das so les am Montag zur Umsetzung der Richtlinie in deut-
erfolgreich ist, darf nicht an den Grenzen haltmachen. sches Recht hat mir gezeigt: Wir brauchen nicht nur
Vielmehr brauchen wir europaweite Regeln für Mitbe- juristische Theorie, wenn es um die Umsetzung der
stimmung. Die Bundesregierung hat jetzt die Möglich- Richtlinie geht, sondern wir brauchen zuallererst wich-
(B) keit, sich auch auf europäischer Ebene für mehr Mitbe- tige Erfahrungen aus der Praxis; denn die Politik darf (D)
stimmung einzusetzen, wie sie es immer in Sonntags- sich nicht nur an der Theorie abarbeiten, sondern muss
reden verkündet. Besonders wichtig ist das bei der Um- sich am praktischen Bedarf orientieren.
setzung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte und (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei den Verhandlungen zur Europäischen Privatgesell- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
schaft. GRÜNEN)
In den Vorschlägen zur Europäischen Privatgesell- Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
schaft, die derzeit diskutiert werden, ist die Mitbestim- Ihr Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie mag
mung nämlich völlig unzureichend geregelt. Die vorge- rein juristisch gesehen korrekt sein, aber er geht am
sehene Möglichkeit, Satzungs- und Verwaltungssitz praktischen Bedarf der Europäischen Betriebsräte vor-
aufzuteilen, wird dazu führen, dass Unternehmen ihren bei. Ein Beispiel dafür ist das Zutrittsrecht. Es muss ge-
Satzungssitz problemlos in Länder mit wenig Mitbestim- währleistet sein, dass besonders ausländische Europäi-
mungsrechten verlegen können. Die Regeln des Sat- sche Betriebsräte, die nach Deutschland kommen, um
zungssitzes sollen dann auch für den Rest des Unterneh- die Mitarbeiter hier in einem Betrieb über Verhandlun-
mens gelten. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht gen im Europäischen Betriebsrat zu unterrichten, nicht
zulassen, dass das Erfolgsmodell Mitbestimmung auf daran gehindert werden, das Unternehmen zu betreten.
diese Weise ausgehebelt wird! Aus rein juristischer Sicht mag man sagen, dass das
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) wohl kein Problem geben dürfte. Aber die praktische Er-
fahrung von Arbeitnehmern sagt uns, dass wir das ge-
Ich fordere die Bundesregierung daher auf, in Brüssel setzlich regeln sollten.
im Sinne der Mitbestimmung und unserer Arbeitnehmer
tätig zu werden. Kolleginnen und Kollegen von Union (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
und FDP, ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihren Einfluss auf die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Bundesregierung, damit über Mitbestimmung nicht nur GRÜNEN)
geredet wird, sondern den Worten auch Taten folgen, die
Ein zweites Beispiel dafür, dass wir die Richtlinie
allen Arbeitnehmern helfen!
nicht nur streng juristisch umsetzen dürfen, sondern
Die Europäische Privatgesellschaft ist nur ein Bei- auch den praktischen Blick brauchen, sind die Sanktio-
spiel, um zu zeigen: Bei allen wirtschaftspolitischen nen. Die Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten
Überlegungen in Europa muss Mitbestimmung mitge- wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen
dacht werden. Es geht nicht, dass wir in Europa nur über festlegen müssen. Der Gesetzentwurf sieht dafür, recht-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11725
Josip Juratovic
(A) lich korrekt, 15 000 Euro vor. Aber Kolleginnen und sich hoffentlich auch auf ganz Europa. Dass sich das (C)
Kollegen von Union und FDP, das zahlen die allermeis- Wachstum in ganz Europa ausbreitet, dazu kann auch der
ten Unternehmen doch aus der Portokasse. Diese Sank- Europäische Betriebsrat beitragen;
tionen sind wirklich nicht abschreckend.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU)
LINKEN)
denn ihm fällt eine aktive und verantwortungsvolle Rolle
Wir brauchen aber Sanktionen, die Wirkung zeigen. zu. Er muss sich auch mit langfristig wirkenden Moder-
Deswegen appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem nisierungs- und Innovationsstrategien in den Unterneh-
Antrag zu, um Ihren Gesetzentwurf besser zu machen men auseinandersetzen, sie einbringen und mit voran-
und den Europäischen Betriebsräten mehr Chancen zu bringen.
echter Mitbestimmung zu geben! Wie ich schon am An-
Die neu gefasste EU-Richtlinie von 2009 stärkt das
fang gesagt habe: Mehr Mitbestimmung hilft allen Betei-
Recht des Europäischen Betriebsrates auf Unterrichtung,
ligten: wirtschaftlich und gesellschaftlich, aber auch rein
Anhörung und gestaltet Beteiligungsverfahren praxis-
rechtlich. Denn für alle Beteiligten ist es besser, klare
tauglicher. Es wird sichergestellt, dass der Europäische
Regeln zu haben, als nur unklare Bestimmungen.
Betriebsrat vor einer endgültigen Entscheidung der Un-
Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung der Richt- ternehmensleitung rechtzeitig beteiligt wird. Auch
linie ist wichtig für die Arbeit der Europäischen Be- wurde klar definiert, wofür der Betriebsrat zuständig ist.
triebsräte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt die EU-Richt-
die Richtlinie teils korrekt um. Jedoch fehlen einige
linie adäquat in nationales Recht um. Das haben in der
Dinge, die wir Sozialdemokraten in unserem Antrag for-
Anhörung am Montag auch die Experten bestätigt. Sie
dern. Wir müssen die Richtlinie nicht nur rechtlich kor-
haben bestätigt, dass der Umsetzungsvorgang sich wirk-
rekt umsetzen, sondern wir müssen das Recht auch ge-
lich an die Vorgaben aus Brüssel hält. Die Zustimmung
stalten. Ein gutes Gesetz schaffen wir also, wenn unser
kam auch von der Industriegewerkschaft Bergbau, Che-
Antrag in den Gesetzentwurf eingearbeitet wird.
mie und Energie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nur die SPD-Fraktion will mehr Regelungen, als er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten forderlich sind. Sie will draufsatteln.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Zuruf von der FDP: Das ist nichts Neues!)
GRÜNEN)
Wir werden in Diskussionen mit Bürgern immer wieder
(B)
Vizepräsidentin Petra Pau: mal gefragt, warum denn Deutschland bei der Umset- (D)
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das zung von EU-Recht immer so übereifrig sein muss.
Wort. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Deutschland
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist immer an der Untergrenze!)
Man sollte auf die Empfehlungen der Experten hören,
Gabriele Molitor (FDP): die sagen, dass die Umsetzung den Anforderungen der
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Richtlinie gerecht wird, auch wenn Sie, meine sehr ge-
Herren! International tätige Unternehmen treffen ihre ehrten Kollegen von den Oppositionsfraktionen, dies of-
Entscheidungen nicht nur aus einer nationalen, sondern fensichtlich anders sehen und wiederholt thematisieren,
auch aus einer europäischen und weltweiten Perspektive dass eine Zusammenarbeit ohne das Festschreiben von
heraus. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Mitbe- Sanktionen und Strafen im Gesetz nicht funktionieren
stimmung auf europäischer Ebene weiter gestärkt wird. wird. Sie arbeiten hier leider immer nur mit Drohungen.
Länder mit einer starken Mitbestimmungskultur wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Deutschland und die Niederlande zum Beispiel prakti- der CDU/CSU)
zieren die Einrichtung des Europäischen Betriebsrates
ganz selbstverständlich. Ein Unternehmen, das global Erkennen Sie doch einfach einmal an, dass ein Vorschlag
handelt und denkt und sich international weiterentwi- zur Umsetzung gelungen ist, anstatt Forderungen zu er-
ckeln möchte, wird das Potenzial dieses Gremiums zu heben, die über das Ziel hinausschießen.
schätzen wissen und es zum beiderseitigen Wohle auch Stattdessen legen Sie einen eigenen Antrag mit dem
nutzen wollen. rabiaten Titel vor: „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stär-
Die Internationalisierung von Firmen hat auch zu ei- kung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“.
ner Weiterentwicklung der klassischen Aufgaben von (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Ein richtig
Betriebsräten geführt. Dabei sollten wir nicht nur auf guter Titel!)
den Krisenfall schauen, wenn es zum Beispiel um Perso-
nalabbau geht. Das würde im Augenblick auch gar nicht Sie fordern ein Mehr an finanziellen Sanktionen zur Ab-
zur Lage passen; denn wir haben heute gerade vernom- schreckung. Sie fordern auch, bestimmte Rechte festzu-
men, dass die Wirtschaftsforscher die Wachstumspro- schreiben, damit Betriebsräte vor Gericht klagen kön-
gnose auf 2,8 Prozent angehoben haben. Das sind sehr nen. Das geht meilenweit an der Wirklichkeit vorbei;
gute Nachrichten. Diese guten Nachrichten beziehen denn die Praxis zeigt, dass die Zusammenarbeit funktio-
11726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Gabriele Molitor
(A) niert. Das zeigt sich auch an der Zahl von mittlerweile Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
960 Europäischen Betriebsräten, die arbeiten. Es zeigt Die Kollegin Krellmann hat für die Fraktion Die
sich auch an der sehr geringen Zahl von gerichtlichen Linke das Wort.
Streitigkeiten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Die sie
auch sammeln müssen, damit sie das bezahlen Jutta Krellmann (DIE LINKE):
können!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Alle großen deutschen Unternehmen sind
Es gab gerade einmal vier einschlägige Fälle vor Ge-
mittlerweile europaweit tätig. Von daher ist es absolut
richt, und die liegen wiederum Jahre zurück. Erstmals
richtig und notwendig, dass die Rechte der Arbeitneh-
klagte der Europäische Betriebsrat von Renault im Jahre
mer in diesen Unternehmen gestärkt werden. Auf der ei-
1997, als das Unternehmen eine Standortschließung ver-
nen Seite stehen die Profite der Unternehmen, die mitt-
kündete, ohne dass der Betriebsrat durch vorherige Un-
lerweile auch europaweit erwirtschaftet werden, und auf
terrichtung oder Anhörung Kenntnis davon hatte. Die
der anderen Seite die Beschäftigten, bei denen es darum
weiteren drei einschlägigen Fälle gab es ebenfalls vor
geht, ihre Einkommens- und Arbeitssituation zu schüt-
französischen Gerichten.
zen. Das passiert über Europäische Betriebsräte.
Die Regelungen im Gesetz lassen den Unternehmen Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Rechte von
viele Freiräume. Das ist auch wichtig und richtig. So Arbeitnehmern in diesen europaweit tätigen Betrieben
können beispielsweise die Partner selbst festlegen, wie massiv eingeschränkt und diese dadurch geschädigt wur-
groß der Betriebsrat sein soll und wie viele Mandate je- den. Ich will ein Beispiel nennen: Nokia. Es ist noch gar
des Land erhält. Erst wenn keine Einigung stattfindet, nicht so lange her, im Jahr 2008, da wurde ein Betrieb
greifen in einem zweiten Schritt die Regelungen des Ge- mit 2 300 Beschäftigten und 800 Leiharbeitnehmern
setzes. Allgemein verbindliche Vorgaben gibt es also – ich sage noch einmal: 800 Leiharbeitnehmern – in Bo-
nicht, dafür den großen Vorteil, unternehmensspezifisch chum geschlossen. Das geschah bei dem renommierten
handeln zu können. Handyhersteller Nokia – jeder Zweite hat ein Nokia-
Wir müssen schließlich anerkennen, dass die Einrich- Handy in der Hand –, und alle haben mitbekommen, was
tung eines Europäischen Betriebsrates einen zusätzli- da passiert ist.
chen Aufwand für Unternehmen bedeutet. Einge- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
schränkte Planungsfreiheit, ein großer zusätzlicher Keine Werbung, Frau Krellmann!)
Zeitaufwand und der Kostenfaktor sind hier zu nennen.
(B) Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Der Grund: In Rumänien waren die Löhne niedriger. Der (D)
Betriebsrat und auch der Europäische Betriebsrat hatten
(Josip Juratovic [SPD]: Dieser Aufwand hat zu dieser Zeit keine Informationen erhalten und waren
sich in Deutschland gelohnt!) nicht ausreichend an dem Verfahren beteiligt worden, in
dem es um viele Arbeitsplätze ging. Ebenfalls betroffen
Im Vorfeld gab es auch kritische Themen, wie bei- waren viele Personen aus dem Umfeld.
spielsweise das Zutrittsrecht für ausländische europäi-
sche Betriebsratsmitglieder. Die Richtlinie sieht ein sol- Immer wieder werden europaweit Arbeitnehmer ge-
ches Zutrittsrecht nicht vor. Es bedarf an dieser Stelle geneinander ausgespielt, und immer geht es um Arbeits-
auch keiner gesetzlichen Festlegung; denn dieses Recht plätze. Aktuell gibt es ein Beispiel aus Niedersachsen,
ergibt sich aus der Aufgabe des Betriebsrates heraus. das heißt ALSTOM LHB. LHB steht für Linke-
Hofmann-Busch. Das ist ein altes, renommiertes Unter-
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen kurzen nehmen hier in der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz
Ausflug in die Praxis machen. Ich war in der vergange- in Salzgitter.
nen Woche bei einem international tätigen Unternehmen
in meinem Wahlkreis. Dort ist ein Europäischer Be- (Zuruf von der FDP: Ist die Linke da auch
triebsrat selbstverständlicher Bestandteil des Unterneh- beteiligt?)
mens und als solcher gelebter Teil der Corporate Iden- In diesem Betrieb sollen 1 400 Stellen im Rohbau abge-
tity. baut werden. Das ist die Hälfte aller Beschäftigten. Der
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das kann man Standort in Salzgitter ist massiv gefährdet. Hier stellt
sich in die Haare schmieren!) sich die Frage: Wenn so viele Arbeitsplätze abgebaut
werden, kann dann der Rest des Betriebes noch bestehen
Insofern kann ich die Befürchtungen der Opposition, bleiben und weitergeführt werden?
ohne Sanktionen gehe nichts, nicht teilen. Stattdessen Deutschlandweit sollen bei dem französischen Unter-
rufe ich Ihnen zu: Vertrauen ist die Basis für gute Zu- nehmen ALSTOM 4 000 Beschäftigte in verschiedenen
sammenarbeit. Betrieben entlassen werden. Der Europäische Betriebs-
Vielen Dank. rat hat in dem Zusammenhang keine Möglichkeiten, zu
erzwingen, dass von ihm aufgezeigte Alternativen auf-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gegriffen und umgesetzt werden. Die Konzernleitung
Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das sieht verweigert bisher mit Hilfe von Ausflüchten, sich mit ei-
man an Ihrer Koalition!) ner Strategie zu befassen, die den Stellenabbau in den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11727
Jutta Krellmann
(A) Betrieben verhindert. Den Arbeitnehmern fehlt es an die Mitglieder haben endlich Anspruch auf Schulung (C)
rechtlichen Mitteln, Informationen zu erzwingen und die und Qualifizierung. Das alles ist notwendig und eine
Unternehmensleitung dazu zu bringen, auf ihre guten Korrektur, die wir begrüßen.
Angebote einzugehen. Eine Strafe in Höhe von
15 000 Euro, wie von der Regierung vorgeschlagen, ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pillepalle. Das zahlen die aus der Portokasse. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Wir wollen ein Gesetz, das bei drohender Standort-
verlagerung die Initiativrechte der Europäischen Be- Jetzt muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt
triebsräte zur Sicherung der Arbeitsplätze für die Be- werden. Die meisten Regelungen müssen eins zu eins
schäftigten stärkt. Wir wollen, dass nicht mehr gegen die umgesetzt werden. Diese Forderung erfüllt der vorlie-
Menschen entschieden wird. gende Gesetzentwurf weitgehend. Das ist allerdings eine
Selbstverständlichkeit. Es gibt auch nationale Spielräume
(Beifall bei der LINKEN) und Kannbestimmungen. Durch die Nutzung dieser Mög-
lichkeiten könnten die Arbeitnehmerrechte weiter ge-
Wir wollen eine Mitbestimmung darüber, was, wie und
stärkt werden, aber das war für die Bundesregierung dann
wo produziert wird, weil das im Interesse der Menschen
wohl doch zu viel. In der Expertenanhörung wurde deut-
an den verschiedenen Standorten ist. Die Europäische
lich, dass manche Regelungen nicht präzise genug und ei-
Linke will eine Mitbestimmung bei der Frage, was wo
nige Punkte zu ergänzen sind. Mein Fazit ist: Der Gestal-
produziert wird. Im Grunde fordern wir die Stärkung des
tungsspielraum wurde von der Bundesregierung nicht
Europäischen Betriebsrates, und zwar nicht nur durch
genutzt. Ich möchte drei Beispiele nennen:
die Revision einer Richtlinie. Wir wollen, dass grund-
sätzlich überlegt wird, was man tun kann, um die Arbeit- Erstens. In der Richtlinie werden die Mitgliedstaaten
nehmerrechte zu stärken. aufgefordert, wirksame, abschreckende und im Verhält-
nis zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessene
Die Unternehmen sind global tätig und werden das
Sanktionen festzulegen. Die Bundesregierung hat hier
auch weiterhin sein. Wir müssen den Arbeitnehmern
nichts verändert. Sie bleibt bei einer Obergrenze von
eine gleich starke Position verschaffen, damit sie in der
15 000 Euro Geldbuße.
Lage sind, mit den entsprechenden Unternehmensleitun-
gen auf Augenhöhe zu verhandeln. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Peinlich!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Seien Sie doch ehrlich: Für multinationale Konzerne
neten der SPD) sind das Peanuts.

(B) Wir als Linke werden dem Gesetzentwurf der Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D)
rung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir wer- bei der SPD und der LINKEN – Gabriele
den dem Antrag der SPD zustimmen, Lösekrug-Möller [SPD]: Die lachen darüber! –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE
eine Null dranhängen!)
GRÜNEN]: Wow!)
weil wir ihn richtig finden und der Meinung sind, dass – Eine Null dranhängen, genau.
das ein Schritt in die richtige Richtung ist. Zweitens. Wenn Europäische Betriebsräte nicht unter-
Vielen Dank. richtet und angehört wurden, brauchen sie, gerade weil
diese Sanktionen so schwach sind, zudem ein Unterlas-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sungsrecht, damit die Umsetzung von Beschlüssen ver-
neten der SPD) hindert werden kann.
Drittens. Wie soll in der Praxis die Unterrichtung der
Vizepräsidentin Petra Pau: örtlichen Arbeitnehmervertretungen durch die Europäi-
Die Kollegin Müller-Gemmeke hat für die Fraktion schen Betriebsräte aussehen? Dafür müssen sie Zutritt zu
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. den jeweiligen Betriebsstätten erhalten. Die Bundesre-
gierung meint, dies sei implizit geregelt. Ich meine, das
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist zu wenig. Die Regelung des Zutrittsrechts im Gesetz
NEN): ist notwendig. Ansonsten sind Rechtsstreitigkeiten vor-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- programmiert.
nen und Kollegen! Die Geschichte der Europäischen Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
triebsräte ist eine Erfolgsgeschichte. Heute existieren eu- und bei der SPD)
ropaweit etwa 900 Europäische Betriebsräte, davon circa
160 in Deutschland. Ihr Engagement ist enorm wichtig. In dem SPD-Antrag werden diese Punkte aufgegriffen.
Deswegen werden wir diesem Antrag zustimmen.
2009 trat die notwendige Neufassung der EU-Richtli-
nie in Kraft. Auch das ist ein Erfolg. Es stimmt: Das war In dem Gesetzentwurf hingegen erkenne ich weitere
harte Arbeit. Die Rechte auf Anhörung und Unterrich- Mängel. So macht die Bundesregierung beispielsweise
tung sind endlich klar definiert. Die Arbeitnehmerseite von einer Kannbestimmung zuungunsten der Arbeitneh-
kann zur Gründung eines Europäischen Betriebsrats merseite Gebrauch. In Tendenzbetrieben sollen die An-
Sachverstand aus den Gewerkschaften hinzuziehen, und hörungsrechte der Europäischen Betriebsräte einge-
11728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Beate Müller-Gemmeke
(A) schränkt werden. Das ist nicht gerechtfertigt und auch eine gute Vertretung der Rechte der Arbeitnehmerinnen (C)
nicht notwendig. Auch die Inhalte von Schulungen soll- und Arbeitnehmer. Kollege Wadephul hat bereits darauf
ten präzisiert werden, damit die Europäischen Betriebs- hingewiesen, dass dies in der Anhörung zum Ausdruck
räte ohne Probleme alle notwendigen Qualifizierungen gebracht worden ist und dass auch der DGB letztendlich
erhalten. lobende Worte gefunden hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Heute, in dieser abschließenden Debatte, wurden von
bei der SPD und der LINKEN) der Opposition Erweiterungen gefordert. Es wurde ge-
fordert, die Sanktionen zu verschärfen. Hier wird immer
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Re-
in den Vordergrund gestellt, die bestehenden Sanktions-
gierungsfraktionen, viele Unternehmen in der Europäi-
möglichkeiten würden nicht ausreichen. Dabei wird im-
schen Union sind grenzüberschreitend aktiv. Sie operie-
mer auf den Betrag von 15 000 Euro abgestellt. Leider
ren global, sind vernetzt und treffen über Staatsgrenzen
hat es die Opposition, in diesem Fall die SPD, versäumt,
hinweg Entscheidungen. Die Arbeitnehmerseite sitzt
einen in ihren Augen angemesseneren Betrag zu formu-
einfach am kürzeren Hebel. Es ist unsere Aufgabe, ihre
lieren. Welcher Geldbetrag wäre angemessen?
Mitwirkungsrechte zu stärken, und es ist unsere Auf-
gabe, auf nationaler Ebene das europäische Sozialmodell (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
weiterzuentwickeln. GRÜNEN]: Sind 15 000 Euro angemessen?)
Hier wäre mehr möglich gewesen, um die Sozialpart- Dies ist nämlich unterschiedlich zu bewerten. Hier ha-
ner besser auf Augenhöhe zu bringen. Deshalb werden ben Sie gekniffen. Auch die anderen Parteien, die diesen
wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf Antrag unterstützen, haben nicht gesagt, wie hoch eine
enthalten. Ich meine, die Europäischen Betriebsräte hät- angemessene Geldstrafe sein sollte. Sie alle verschwei-
ten mehr Unterstützung von der Bundesregierung ver- gen in der Debatte jedoch, dass es möglich ist, einen
dient. Verstoß gegen das Gesetz als Ordnungswidrigkeit mit ei-
Vielen Dank. ner Geldbuße oder auch mit einer Haftstrafe zu sanktio-
nieren. Das ist das schärfste Schwert bei der Sanktions-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, regelung. Dies ist Bestandteil des bestehenden Gesetzes.
bei der SPD und der LINKEN) Deshalb bedarf es in diesem Gesetzentwurf keiner Aus-
weitung der Sanktionsmöglichkeiten; das ist entschei-
Vizepräsidentin Petra Pau: dend.
Das Wort hat der Kollege Straubinger für die Unions- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
fraktion. neten der FDP – Brigitte Pothmer [BÜND-
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir wollen nicht
neten der FDP) gleich alle in den Knast bringen!)
Von der SPD-Fraktion wurde noch eine zweite Forde-
Max Straubinger (CDU/CSU): rung aufgestellt; diese wurde in den Redebeiträgen der
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kolleginnen Krellmann und Müller-Gemmeke unter-
Wir sind in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs stützt. Die SPD-Fraktion fordert, dass im Gesetz ein
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europäische Anspruch auf Unterlassung beteiligungswidriger Maß-
Betriebsräte-Gesetzes, durch das die Richtlinie über Eu- nahmen festgeschrieben wird. Das würde aber die Zu-
ropäische Betriebsräte umgesetzt werden soll. Ich ständigkeiten in einem Unternehmen verwischen.
glaube, dass es ein Erfolg ist – Kollege Wadephul hat be-
reits die Hauptschwerpunkte dargelegt – und eine Stär- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
kung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerinnen und GRÜNEN]: Sie müssen aber erst anhören!)
Arbeitnehmer in international tätigen Unternehmen be- Ich frage mich, warum dies bei der Novelle 2002 von
deutet. Darauf sollten wir hier gemeinsam stolz sein. SPD und Grünen nicht umgesetzt wurde.
Es ist entscheidend, dass die Arbeitnehmerinnen und (Zuruf von der FDP: Gute Frage!)
Arbeitnehmer gestärkt werden. Sie können bezüglich ih-
rer eigenen Anliegen tätig sein, werden über Betriebs- Sie haben dies nicht eingebracht; seinerzeit wurde darauf
entscheidungen rechtzeitig informiert, und vor allen verzichtet. Also kann es nicht so falsch gewesen sein. Es
Dingen können sie Mitwirkungsmöglichkeiten und An- geht eben auch um die Durchsetzung von unternehmeri-
hörungsmöglichkeiten ausschöpfen. Damit verbunden schen Entscheidungen. Das kann nicht nach dem Motto
sind umfassende Beratungs- und Bildungstätigkeiten der gehen, Frau Krellmann, das Sie vorhin in Ihrem Rede-
Betriebsräte; dies wird mit diesem Gesetz gestärkt. Es ist beitrag dargestellt haben. Natürlich ist eine Umstruktu-
notwendig, dass wir eine Übergangszeit schaffen. Zum rierung, die mit Arbeitsplatzverlusten verbunden ist, für
Teil wird ja beklagt, dass die bestehende Regelung bes- die Betroffenen immer schmerzlich.
ser sei als die neue Regelung. In der Übergangszeit kann
Wahrscheinlich wird es dazu nie die Zustimmung des
in eigener Zuständigkeit über alte Vereinbarungen neu
örtlichen Betriebsrates geben, ja nicht geben können.
verhandelt werden.
Aber es wäre fahrlässig, wenn, weil nicht umstrukturiert
Unter Betriebspartnerschaft in den Betrieben verste- wird, der gesamte Betrieb von der Bildfläche verschwin-
hen wir gute Betriebsratsarbeit und darüber hinaus auch den würde. Wollen Sie wirklich, dass alle Arbeitnehme-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11729
Max Straubinger
(A) rinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb die Leidtra- Fraktionen des Hauses in zweiter Beratung angenom- (C)
genden sind? Wäre es dann nicht besser, eine men.
Umstrukturierung, wenn sie notwendig ist, zur Rettung
Dritte Beratung
der noch verbleibenden Arbeitsplätze durchzuführen?
Dies muss möglich sein, verehrte Kolleginnen und Kol- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
legen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
(Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
[DIE LINKE]: Ach! Dann fallen doch sowieso FDP-Fraktion bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der
meistens alle Arbeitsplätze weg! Bei Nokia Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
waren alle Arbeitsplätze weg! – Harald Grünen angenommen.
Weinberg [DIE LINKE]: Das ist wirklich un-
glaublich, Herr Straubinger!) Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Ich möchte darauf hinweisen: Die Umstrukturierun- Fraktion der SPD mit dem Titel „Wirkungsvolle Sank-
gen, die in den vergangenen drei, vier Jahren in der deut- tionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten um-
schen Wirtschaft stattgefunden haben, haben in der Ge- setzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
samtbilanz letztendlich zu mehr und nicht zu weniger ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5399, den
Arbeitsplätzen in Deutschland geführt. Darauf sind wir Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5184
stolz. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
neten der FDP – Jutta Krellmann [DIE Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
LINKE]: Und was ist mit dem Thema Min- fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
destlohn?) SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Eines ist mir noch wichtig – darüber wurde immer
wieder diskutiert –: Das Zutrittsrecht ergibt sich aus der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
normalen Betriebsratstätigkeit. Dieses Thema wurde Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
auch auf europäischer Ebene andiskutiert, dann aber von Drobinski-Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Wilhelm
beiden Sozialpartnern im Einvernehmen nicht mehr auf- Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Frak-
gegriffen. Auch dies gehört mit zur Wahrheit. tion der SPD
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Für faire Lebensmittelpreise und transparente
(B) GRÜNEN]: Na ja! Das ist schon etwas kom- (D)
Produktionsbedingungen – Gegen den Miss-
plizierter gewesen!) brauch von Marktmacht
Deshalb glaube ich, dass die Umsetzung gelungen ist. – Drucksache 17/4874 –
Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Ho- Überweisungsvorschlag:
hen Hause nur die Zustimmung empfehlen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes. Von der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Kollegin Müller-Gemmeke liegt mir eine Erklärung gin Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sie entsprechend unseren Regeln zu Protokoll.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
sache 17/5399, den Gesetzentwurf der Bundesregierung legen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der
auf Drucksache 17/4808 in der Ausschussfassung anzu- Tribüne! „Ombudsmann wird Lieblingskind“, so lautete
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in vor drei Wochen eine Überschrift in der Lebensmittel
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Zeitung. Dies habe ich sehr erfreut gelesen und zur
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Kenntnis genommen. Denn darin waren wir uns alle
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfrak- nach der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Land-
tion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der übrigen wirtschaft und Verbraucherschutz im Juli des letzten Jah-
res einig.
1) Anlage 3 (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja!)
11730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Elvira Drobinski-Weiß
(A) Doch mittlerweile ist das neun Monate her – ich betone: teile gegenüber der schnell verderblichen Frischmilch (C)
neun Monate –, und bisher ist nichts passiert. Aber von bietet.
sich aus – das wissen wir allmählich – wird der Handel
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass un-
nicht bereit sein, etwas zu ändern.
ser Antrag an den Verbraucherausschuss als federführen-
Gestern erreichte mich beispielsweise eine Stellung- den Ausschuss überwiesen wird. Die von Ihnen bei die-
nahme des Einzelhandels. Zu unserer Forderung, die sem Thema beabsichtigte Verlagerung der Federführung
Praktikabilität des Verbots des Verkaufs unter Einstands- in den Wirtschaftsausschuss können wir nicht nachvoll-
preis zu prüfen, heißt es dort: Das Verbot des Verkaufs ziehen. Sie betonen doch auch immer die starke Stellung
unter Einstandspreis ist wettbewerbsökonomisch ver- des mündigen Verbrauchers und seine Mitverantwortung
fehlt und muss ersatzlos abgeschafft werden. – Wenig bei der Gestaltung des Marktes.
Bereitschaft also dort, wo es darum geht, die eigenen Der Handlungsbedarf geht weit über Ombudsstelle
Pfründe zu verteidigen. und Kartellrecht hinaus. Wir brauchen einen ganzen
Doch es muss endlich etwas getan werden. Deshalb Maßnahmenkatalog, um den Fehlentwicklungen am Le-
haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir haben Ihnen, bensmittelmarkt entgegenzuwirken. Deshalb sollten wir
werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs- die Kette vom Ende her denken und Verbraucherpolitik
fraktionen, die Arbeit abgenommen. Sie brauchen unse- endlich ernst nehmen. Wir bleiben dabei: Die Federfüh-
ren Vorschlägen nur zuzustimmen. rung gehört in den Verbraucherausschuss.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Mindestlohn!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
In einer Pressemitteilung vom 14. Februar dieses Jah-
res meldet das Bundeskartellamt eine Konzentration von Vizepräsidentin Petra Pau:
85 Prozent des Absatzmarktes auf die vier größten Han-
Der Kollege Dr. Nüßlein hat für die Unionsfraktion
delsunternehmen – 85 Prozent bei vier Handelsunterneh-
das Wort.
men! Das Bundeskartellamt hat inzwischen eine Sektor-
untersuchung im Bereich des Lebensmittelhandels (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eingeleitet. Das begrüßen wir sehr; denn das ist notwen-
dig, und das war auch eine unserer Forderungen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
(B) Die Situation am Lebensmittelmarkt ist extrem ange- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! „Für (D)
spannt. Die Konzentration bringt auch den Lebensmittel- faire Lebensmittelpreise und transparente Produktions-
einzelhandel in eine gefährliche Machtposition gegen- bedingungen – Gegen Missbrauch von Marktmacht“ lau-
über den Lieferbetrieben. Der Handel kann nämlich tet der geradezu Beifall und Zustimmung heischende Ti-
Bedingungen diktieren, zu denen die Produkte abgenom- tel Ihres Antrages. Ich gebe ganz offen zu, dass ich für
men werden. Unfaire Einkaufspraktiken wie Preisdrücke- das, was Sie in Teilen formuliert haben, insbesondere
rei bis unter Einstand, die Zahlung von Treueboni oder wenn es um die Problembeschreibung geht, ein hohes
willkürliche Auslistungen scheinen dabei keine Einzel- Maß an Sympathie habe. Ich habe mich zunächst einmal
fälle zu sein. über diesen Antrag gefreut, weil die Probleme, die Sie
gerade eben auch beschrieben haben, im Lebensmittel-
(Zuruf des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP]) handel evident sind. Es gibt in der Tat eine Marktmacht
des Handels, und wenn es eine solche Marktmacht gibt,
Das geht zulasten des fairen Wettbewerbs, aber auch ist Missbrauch nicht von der Hand zu weisen. Es stimmt
zulasten der Beschäftigten. Denn mit Verweis auf den auch, dass davon auf der einen Seite die Lieferanten und
Preisdruck vergeht in der Ernährungswirtschaft kaum auf der anderen Seite die noch verbliebenen mittelständi-
eine Verhandlung ohne Forderung der Unternehmens- schen Händler sowie natürlich auch deren Mitarbeiter
vertreter nach niedrigeren Löhnen und geringeren So- betroffen sind, die dadurch unter einen gewissen Druck
zialleistungen. Darauf wird Frau Hiller-Ohm nachher kommen.
noch eingehen.
Ich fand es nur ein bisschen schade, dass Sie in Ihrem
Am Ende der Kette stehen die Verbraucherinnen und Antrag in Richtung Ideologie abschweifen,
Verbraucher. Auch sie leiden unter dem Konzentrations-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Mindestlohn!)
prozess und dem Marktmachtmissbrauch. Für sie wird er
in Angebotseinschränkungen und Qualitätseinbußen von sozialen und ökologischen Verbesserungen weltweit
spürbar. Denn immer häufiger werden billigere Ersatz- schwärmen
stoffe in der Lebensmittelproduktion eingesetzt. Ich
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir haben
nenne da nur Klebeschinken, Analogkäse ohne Milch
einen globalen Markt!)
und Joghurt mit Aroma aus Holzspänen. Frischmilch ist
beispielsweise zur Rarität geworden – sicher nicht, weil und den Mindestlohn mit einbauen. Das, was Sie an die-
die Verbraucherinnen und Verbraucher keine Frisch- ser Stelle fabriziert haben, gehört wahrscheinlich auch
milch wollen. Sie ist nicht mehr im Angebot, weil die unter die Kategorie Analogkäse. Mit Verlaub: Es wäre
sogenannte ESL-Milch logistische und finanzielle Vor- schön gewesen, wenn Sie sich an dieser Stelle auf das ei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11731
Dr. Georg Nüßlein
(A) gentliche Thema konzentriert hätten; denn das ist durch- deutlich sehen. Wenn man die Lebensmittelpreise in un- (C)
aus wichtig. Weil Sie das nicht getan haben, finde ich es serem Land mit denen in Europa vergleicht, dann wird
durchaus richtig, dass die Federführung beim Ausschuss man feststellen, dass sie relativ niedrig geblieben sind,
für Wirtschaft und Technologie liegen wird. was auch die Monopolkommission in ihrem 47. Sonder-
gutachten zu Preiskontrollen in Energiewirtschaft und
(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ Handel ganz deutlich bestätigt.
CSU])
Das ist einem intensiven Wettbewerb geschuldet, der
Wir werden uns auf das Wesentliche konzentrieren. sich aber nur im Handel vollzieht und davon lebt, dass
„Konzentration“ ist dabei das Stichwort. Diese Konzen- auf die Lieferanten entsprechender Druck ausgeübt wird.
tration hat über viele Jahre hinweg zugenommen. Sehr Davon sind nicht nur mittelständische Lieferanten, son-
geehrte Frau Vorrednerin, Sie haben es deutlich be- dern ist auch unsere Landwirtschaft betroffen. Das
schrieben: Die vier größten Händler erwirtschaften in- möchte ich betonen.
zwischen 85 Prozent des Branchenumsatzes. Ich weiß,
dass man an dieser Stelle differenzieren muss, weil (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Und was ma-
REWE eine Mittelstandskooperation ist, aber natürlich chen Sie dagegen? – Friedrich Ostendorff
handelt es sich auch um eine Einkaufskooperation, so- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist die
dass auch hier natürlich Marktmacht auf den Beschaf- Antwort der CDU/CSU?)
fungsmärkten ausgeübt werden kann. Das ist etwas, was – Nur die Ruhe: Das kommt alles noch.
wir nicht wegschieben dürfen.
Sie haben am Rande das Qualitätsbewusstsein der
Es gibt eine Studie des Instituts für Handelsforschung Verbraucher angesprochen und darauf hingewiesen, was
und der BBE Retail Experts im Auftrag des Handelsver- ihnen alles vorgesetzt werde. Dazu sage ich offen: Dabei
bands Deutschland vom September 2009. Darin steht kommt es aber auch auf die Verbraucher selber an, die
folgendes Ergebnis: Es gibt keine generelle Nachfrage- gerade im Lebensmittelbereich offenkundig gern vor al-
macht des Handels. Ich betone das Wort „generelle“. lem billig einkaufen wollen,
Keine generelle Nachfragemacht heißt: Es gibt in be-
stimmten Konstellationen eben sehr wohl eine solche (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Geiz ist geil!)
Marktmacht. Diese wird teilweise auch missbraucht. nach dem Motto „Geiz ist geil“. Das halte ich geradezu
Seit zwei Jahren gibt es ein Kartellverfahren gegen für katastrophal. Diese Preissensibilität können wir als
Edeka, das Plus von Tengelmann übernommen hat. Hier Gesetzgeber aber sicherlich genauso wenig ändern wie
wird dem Verdacht nachgegangen, dass es den Versuch das Bewusstsein derjenigen, die sich in dieser Frage
falsch verhalten.
(B) gab, über Boni von Lieferanten der Plus-Märkte den (D)
Kaufpreis zu refinanzieren. (Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Sie haben die Instrumente angesprochen. Wie Sie
GRÜNEN]: Hochzeitsrabatt heißt das!) wissen, haben wir präventiv die Fusionskontrolle und re-
Das muss man sich einmal vorstellen: Es wird der Ver- pressiv die Missbrauchsaufsicht. Jetzt müssen wir die
such unternommen, das zu refinanzieren, was man ge- Frage erörtern, ob der Gesetzgeber etwas tun kann, da-
kauft hat, indem man die Lieferanten des aufgekauften, mit die Vielfalt des Einzelhandels wieder entsteht und
des akquirierten Unternehmens unter Druck setzt, Boni die Forderung Ludwig Erhards nach Wohlstand und
zu gewähren. Wenn sich das erhärtet – ich spreche aus- Teilhabe für alle auch in diesem Bereich wieder eine
drücklich von einem Verdacht –, dann ist das natürlich Rolle spielt. Das ist nicht trivial und auch nicht einfach
schon etwas, das uns alle miteinander bedenklich zu beantworten.
stimmt. Das zeigt, dass es hier offenkundig ein ganz Wir müssen bei der Achten Novelle dieses Gesetzes
deutliches Mittelstandsproblem gibt. aus meiner Sicht bei der Fusionskontrolle zu einem
Das Gegenargument ist, der Handel würde nur Spiel- Wechsel von der Voraussetzung der Marktbeherrschung
räume ausloten, und das sei ja eben gerade das Kennzei- hin zu der einer erheblichen Beeinträchtigung des Wett-
chen von Handel. Ich meine aber, hier stellt sich die bewerbs als Fusionshindernis kommen. Das ist aus mei-
Frage des Kräftegleichgewichts. Das ist schwer herzu- ner Sicht ein Kriterium, das an der Stelle etwas weiter-
stellen, eventuell auf der einen Seite durch Kooperatio- helfen könnte.
nen und auf der anderen Seite dadurch, dass diejenigen, Was die Missbrauchsaufsicht angeht, schneiden Sie in
die als Markenartikler die Finanzkraft haben, einen ent- Ihrem Antrag die Nachweisproblematik an, die auf die
sprechenden Pull-Effekt erzeugen können, sodass der Frage hinausläuft: Wer traut sich, seinen erpresserischen
Händler das Unternehmen letztendlich auch listen muss. Abnehmer anzugehen und eine Auslistung zu riskieren?
Ich gebe zu: Wir in der Politik haben lange zuge- Das ist insbesondere deshalb schwerwiegend, weil unab-
schaut. Das ist der Schwierigkeit dieses Themas, aber hängig davon, ob man bei einer Beschwerde obsiegt, die
auch dem intelligenten Einsatz von Marktmacht an der Abhängigkeit fortbesteht.
Stelle geschuldet, weil man sich eben nicht auf die Ab- Sie schlagen die Einrichtung einer Ombudsstelle vor,
satzmärkte bezieht, sondern weil der Druck auf der Be- die Beschwerden auch anonym aufnehmen sollte. Das ist
schaffungsseite aufgebaut wird, das heißt, die Verbrau- ein interessanter Gedanke. Ich befürchte aber, dass er
cherpreise sind natürlich niedrig. Das kann man ganz nur bis zu einem bestimmten Punkt trägt. Denn an ir-
11732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) gendeiner Stelle in einem Verfahren müssen Ross und Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Reiter genannt und gesagt werden, wem was widerfah- Das Wort hat die Kollegin Binder für die Fraktion Die
ren ist. Linke.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja!) (Beifall bei der LINKEN)
Deshalb wird das Problem dadurch nicht gelöst, wenn
ich auch zugebe, dass ich an der Stelle etwas ratlos bin, Karin Binder (DIE LINKE):
wie man das letztlich hinbekommt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft wird im-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, aber unse-
mer älter; die Menschen werden immer älter. Das ist si-
ren Antrag schlecht machen! Selbst nicht wis-
cherlich ein erfreulicher Umstand. Aber gleichzeitig
sen, wie es weitergeht!)
beobachten wir, wie ganze Regionen, insbesondere länd-
Der bürokratische Wust, den Sie vorschlagen – noch liche Gegenden und Dörfer, fast aussterben. Das hängt
mehr Informationspflichten, Herkunftsbezeichnungen unter anderem damit zusammen, dass nicht einmal mehr
und anderes –, ist mittelstandsfeindlich. Sie werden ge- ein Laden da ist. Es gibt in vielen Orten keinen Bäcker,
nau denen, für die Sie sich angeblich einsetzen, damit keinen Metzger und keinen Lebensmittelhändler. Warum
nicht helfen. Auch das muss in aller Klarheit gesagt wer- nicht? Weil sechs Supermarktketten in Deutschland
den. – damit komme ich auf das eigentliche Thema zu spre-
chen, das in engem Zusammenhang mit dem Antrag der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- SPD zu sehen ist – den Markt beherrschen. Dadurch
wie des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
hatte der kleine Händler schlichtweg keine Überlebens-
Es bringt auch nichts, dass Sie den Antrag mit Selbst- chance mehr. Es gibt den Tante-Emma-Laden nicht
verständlichkeiten erweitern, indem Sie schreiben, der mehr, weil die großen Sechs mit ihren Dumpingprakti-
Bund müsse soziale und ökologische Ausschreibungs- ken dafür sorgen, dass andere Läden nicht mehr überle-
kriterien anwenden. Das haben wir bei der letzten No- ben können. Das Dumping bezieht sich unter anderem
velle diskutiert und gemeinsam entschieden, dass die auf die Preisgestaltung. Die Dumpingpreise liegen teil-
eigentlich vergaberechtsfremden Aspekte mit aufge- weise unter den Erzeugerpreisen. Das kann nicht funk-
nommen werden, um den Ausschreibungsspielraum zu tionieren. Viele Lebensmittel sind nicht mehr preiswert,
erweitern. sondern billig. Das bedeutet letztendlich, dass zwangs-
läufig auch die Produktion billig wird. Kein Erzeuger
Was mir mehr am Herzen liegt, ist die Frage, wie wir
und keine Lebensmittelindustrie ist auf Dauer in der
mit § 20 Abs. 3 und 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbs-
Lage, zu den Dumpingpreisen, die die Supermarktketten (D)
(B) beschränkungen umgehen. Es gibt nämlich für be-
von ihnen erwarten, zu liefern. Das muss aufhören.
stimmte Instrumente Befristungen, die in naher Zukunft
auslaufen. Ich meine, wir sollten im Interesse des Gan- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sind Sie für
zen diese Befristungen aufheben und die Instrumente höhere Lebensmittelpreise, Frau Kollegin?)
weiter einsetzen. Insbesondere mit dem Verkauf unter
Einstandspreis müssen wir uns noch einmal intensiv be- Wir wollen qualitativ hochwertige Produkte; diese ha-
schäftigen. § 20 Abs. 4 des Gesetzes, der diesen regelt, ben ihren Preis. Letztendlich müssen die Menschen auch
ist in einem Punkt befristet. Aber das Bundeskartellamt von ihrer Arbeit leben können, die Erzeuger genauso wie
ist, als es gegen Rossmann ging, böse auf dem Bauch ge- die Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie oder der
landet. Wir werden daher im Rahmen der Novellierung Landwirtschaft.
des Gesetzes noch einmal darüber diskutieren müssen,
wie man dieses Schwert schärfen kann. Dazu finde ich in (Beifall bei der LINKEN)
Ihrem Antrag leider nichts. Es wäre sehr hilfreich gewe- Sie müssen Löhne bekommen, die deutlich höher sind
sen, wenn Sie hierzu einen Hinweis gegeben hätten. als das, was heutzutage in vielen Bereichen gezahlt wird.
Stattdessen fordern Sie eine ganze Reihe von Studien Die SPD plädiert in ihrem Antrag für einen Mindestlohn
ein. Ich glaube, die zentrale Studie ist – diese wird in Ih- in Höhe von 8,50 Euro. Das ist auf jeden Fall ein Schritt
rem Antrag nicht genannt, aber Sie haben sie vorhin an- in die richtige Richtung. Wir fordern 10 Euro. Ich be-
gesprochen – diejenige, die das Bundeskartellamt gerade gründe auch, warum. Bei einem Stundenlohn in Höhe
vorbereitet, nämlich eine Befragung der Unternehmen von 8,50 Euro kommt man auch bei 38 oder 40 Stunden
im Rahmen der Sektoruntersuchung. Das Ziel ist, die in der Woche höchstens auf 1 400 Euro im Monat. Wer
Abläufe auf dem Markt nachzuvollziehen und Miss- in der Stadt lebt, kann damit gerade die Miete und die
stände zu ermitteln. Das Bundeskartellamt rechnet – am- Nebenkosten begleichen. Aber dann bleibt zum Leben
bitioniert – mit einem Abschluss dieser Studie im Laufe nicht mehr viel übrig. Daher ist es dringend notwendig,
dieses Jahres. Wir sollten diese Studie abwarten und auch in der Lebensmittelwirtschaft und der Landwirt-
dann als Gesetzgeber, basierend auf den Ergebnissen schaft für Mindestlöhne einzutreten.
dieser Studie, entscheiden und dafür Sorge tragen, dass
das von Ihnen zu Recht angesprochene Problem zügig (Beifall bei der LINKEN)
einer Lösung zugeführt wird. Aber das ist nicht alles. Zu den Forderungen nach
Vielen herzlichen Dank. mehr Transparenz, die es den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern möglich machen sollen, ihren Einkauf nach
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sozialen und ökologischen Kriterien selbstbestimmt vor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11733
Karin Binder
(A) zunehmen, gehört, dass der Verbraucher weiß, woher ein Qualität, Effizienz und beschleunigt Innovationen. Da, (C)
Produkt kommt. Es ist wichtig, dass er weiß, dass die wo Auswahl ist, ist der Verbraucher König, und in dem
Rosen, die bei uns so billig für den Muttertag oder auch Moment, in dem der Verbraucher König ist, ist der Han-
für den Valentinstag verkauft werden, in Kenia von Ar- del gezwungen, sich an diesen Bedürfnissen der Ver-
beiterinnen für den Versand verpackt werden, die für braucher auszurichten. Dann hat der Verbraucher Markt-
56 Euro im Monat arbeiten. Diese Frauen arbeiten von macht, und ich muss sagen: Das ist eine Marktmacht, die
morgens 7 Uhr bis abends 18 Uhr, und in den Hauptzei- mir persönlich gefällt.
ten arbeiten sie möglicherweise bis zu 18 Stunden am
Tag. Jedem hier im Raum ist klar, dass auch in Kenia Wenn dieser Wettbewerb aber lahmt, dann dreht sich
niemand von 56 Euro im Monat existieren kann. Das al- die Marktmacht um, der Verbraucher bleibt auf der Stre-
les geschieht vor dem Hintergrund, dass diese Blumen cke. Aber nicht nur die Verbraucher – das ist ja ange-
so billig wie möglich sein müssen, damit die Super- sprochen worden –, sondern auch die Ernährungsindus-
märkte ihre Lockangebote finanziert bekommen. trie, die Landwirte und die Arbeitnehmer bleiben auf der
Strecke. Angesichts dessen bringt uns das derzeit nied-
Es gibt darüber hinaus viele Menschenrechtsverlet- rige Preisniveau, das wir im europäischen Vergleich ha-
zungen im Zusammenhang mit schlechten Arbeitsbedin- ben, erst mal nichts. Denn wenn das eine Folge von oli-
gungen in den Erzeugerländern. Deshalb tragen die Un- gopolen Händlerstrukturen mit Niedrigpreisstrategien
ternehmen hier in Deutschland die Verantwortung nicht ist, dann wird sich das irgendwann mal drehen, dann
nur für das, was sie hier anstellen – ich erinnere nur da- wird die Vielfalt zurückgehen, die Qualität sinken, und
ran, wie Lidl und Schlecker mit ihren eigenen Beschäf- die Verbraucherpreise werden anziehen.
tigten umgehen –
Deshalb ist es für uns wichtig, sich dieses Thema ge-
nau anzuschauen; denn wir wollen keine Strukturen ha-
Vizepräsidentin Petra Pau:
ben, in denen Oligopole oder gar Monopole vorhanden
Kommen Sie bitte zum Schluss. sind. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage: Ist
dies im Lebensmitteleinzelhandel der Fall?
Karin Binder (DIE LINKE):
– ja, letzter Satz –, sondern es geht auch um die Ver- Wir haben zu diesem Thema am 5. Juli des letzten
antwortung dieser Unternehmen für die gesamte Liefer- Jahres eine Anhörung durchgeführt. Da wurden zwei
kette. Hier müssen wir sie in die Pflicht nehmen. Des- Zahlen genannt: Fünf haben 75 Prozent, sechs haben
halb bin ich der SPD für diesen Antrag dankbar, und ich 85 Prozent Marktmacht in diesem Bereich; die dominie-
hoffe, dass die Beratung im Ausschuss mehr Zeit findet ren. Dann hat ein Hersteller praktisch keine Ausweich-
möglichkeit, wenn er eines von diesen großen Einzel-
(B) als hier in der 30-minütigen Plenardebatte. handelsunternehmen verliert. (D)
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen einmal so wie ich
(Beifall bei der LINKEN) über mehrere Jahre hinweg Jahresgespräche mit dem
Handel geführt haben. Ich weiß, wie sich da ein kleines
Vizepräsidentin Petra Pau: Herstellerunternehmen fühlt. Wenn man dort hineingeht,
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Schweickert ist das – das kann ich Ihnen sagen – nicht immer ganz
für die FDP-Fraktion. angenehm. Denn wenn eine Auslistung im Raum steht,
dann ist man vielleicht zu Zusagen bereit, die man unter
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten normalen Margengesichtspunkten nicht eingehen würde.
der CDU/CSU)
Aber ich sage Ihnen auch ganz offen: Wenn ich mit
Dr. Erik Schweickert (FDP): meinen Kollegen aus größeren Firmen, von Markenfir-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- men geredet habe, dann war es gerade umgekehrt. Es
gen! Frau Binder, Sie haben gerade das Thema „Der gibt auch eine Marktmacht von Herstellern. Ich nenne
Tante-Emma-Laden stirbt aus“ angesprochen. Dazu mal Coca-Cola.
muss man aber fairerweise sagen: Wenn die Verbraucher (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das sind die
immer zu den Märkten auf der grünen Wiese fahren und regionalen Produzenten! Das geht an der Sa-
nur dann, wenn sie den Zucker vergessen haben, dort che vorbei!)
mal kurz einkaufen gehen, dann können sich die kleinen
Einzelhandelsgeschäfte natürlich auch nicht halten. Man – Frau Drobinski-Weiß, es kann sich heute ein Händler
darf das Verbraucherverhalten in dem Bereich also nicht fast nicht mehr leisten, manche dieser Produkte nicht
außen vor lassen. mehr zu haben. Das muss man einfach sehen,
(Beifall bei der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber kleine
Das hat mit Dumpinglöhnen zu tun!) Obstbauern!)
Ich komme zum Antrag. Was sind denn faire Lebens- und deswegen ist es richtig, dass wir in diesem Bereich
mittelpreise? Ein fairer Preis entsteht eigentlich durch eine Sektoruntersuchung durchführen und nicht alles
funktionierenden Wettbewerb zwischen Angebot und über einen Kamm scheren, meine Damen und Herren.
Nachfrage, so weit die Theorie. Diese Theorie ist auch
ganz wichtig; denn funktionierender Wettbewerb steigert (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
11734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Erik Schweickert


(A) Nicht jede Auslistung ist nur mit Marktmacht zu begrün- Hier entlarvt sich wieder einiges. Es wurde einfach nicht (C)
den. Es gibt auch Sortiments- und Preisstrategien. Ich effizient genug an das Thema „Faire Lebensmittelpreise
glaube, der richtige Weg ist, dieses Thema detailliert, gut und transparente Produktionsbedingungen“ herangegan-
und ordentlich anzuschauen. Ich halte es für richtig, dass gen. Dieser Antrag ist Ausdruck einer Placebogesetzge-
wir diesen Weg gehen. bung. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Dieser
Antrag ist nichts als ein Sammelsurium von Einzelthe-
Ich halte es übrigens auch für richtig, einen Ombuds-
men.
mann für den Lebensmitteleinzelhandel einzurichten.
Was werden wir tun? Wir warten die kartellrechtliche
(Beifall bei der FDP)
Prüfung ab. Wir werden evidenzbasiert handeln, also auf
Im Gegensatz zum Kollegen Nüßlein bin ich diesbezüg- der Grundlage der Zahlen und Fakten, die dann vorlie-
lich gar nicht so negativ eingestellt. Natürlich ist es gen. Wir machen keine Placebogesetze, sondern Ge-
wichtig, erst einmal Anonymität herzustellen. Oftmals setze, die dem Verbraucher etwas bringen.
haben Händler nicht nur ein Produkt im Angebot, son- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dern mehrere. Häufig sind es die gleichen Konsorten, die
Druck ausüben. Davon betroffen sind nicht nur die je-
weiligen Hersteller, sondern auch andere. Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Kollege Kelber hat zu einer Kurzintervention das
Der große Vorteil eines Ombudsmannes ist es, dass er Wort.
Beschwerdefällen anonymisiert nachgehen kann. Fühlt
sich ein Hersteller in Preisverhandlungen ungerechtfer- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
tigt benachteiligt, hat dieser eine Anlaufstelle, ohne Ge-
fahr zu laufen, dass seine Produkte als Sanktion des Ulrich Kelber (SPD):
Handels ausgelistet werden. Allein die Institutionalisie- Diese Kurzintervention findet nur deswegen statt,
rung eines Ombudsmannes ist der richtige Weg. Damit weil der Kollege Professor Schweickert mich persönlich
greifen wir übrigens nicht in die Vertragsfreiheit ein, was angesprochen hat, noch bevor ich irgendetwas dazwi-
manche fordern. Vielmehr wird somit ein Weg eröffnet, schengerufen hatte. Ich möchte deutlich machen, worum
um aus diesem Dilemma herauszukommen. es mir ging.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ist Ihnen bekannt, dass sich der Arbeitsminister aus
der CDU/CSU) Schleswig-Holstein, Heiner Garg, FDP, heute für bun-
desweit einheitliche Mindestlöhne ausgesprochen hat?
Neben der Frage der Marktmacht behandeln Sie in Ih-
Ich darf zitieren:
rem Antrag noch andere Fragen. Dieser Antrag ist gera-
(B) (D)
dezu ein Sammelsurium von Einzelthemen, die meines Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit he-
Erachtens gar nichts mit der entscheidenden Frage, näm- ranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im
lich der Marktmacht und ihrer Begrenzung, zu tun ha- Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe …
ben, etwa Verbraucherinformationsgesetz, flächende- Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Men-
ckender Mindestlohn. Anscheinend darf es jetzt keinen schen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und
SPD-Antrag mehr geben, in dem der flächendeckende sich und ihre Familien davon nicht ernähren kön-
Mindestlohn nicht gefordert wird. Erklären Sie mir bitte nen.
einmal, inwiefern der flächendeckende Mindestlohn für
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Friseure – ich weiß, gleich ruft Herr Kelber dazwischen –
neten der SPD)
etwas mit Marktmacht im Lebensmitteleinzelhandel zu
tun hat. Nachdem wir heute im Bundestag dreimal von der FDP
eine Ablehnung der Mindestlöhne gehört haben, muss
(Ulrich Kelber [SPD]: Heute hat auch ein
ich feststellen: Auf dem Land sind sie schon ein bisschen
FDP-Minister den Mindestlohn gefordert! Das
schlauer.
haben Sie noch nicht mitbekommen!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich muss mich schon wundern, dass Sie in Ihrem An-
DIE GRÜNEN)
trag schreiben:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- Vizepräsidentin Petra Pau:
rung auf … zu prüfen, wie das Verbot des Verkaufs Herr Schweickert, Sie haben das Wort zur Erwide-
von Lebensmitteln unter Einstandspreis neu und rung.
praktikabel geregelt werden kann …
Das ist eigentlich eine Art verspäteter Offenbarungseid; Dr. Erik Schweickert (FDP):
denn bis 2012 gilt das Gesetz zur Bekämpfung von Herr Kollege Kelber, Sie haben recht: Ich hatte Sie
Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und angesprochen. Immer wenn ich rede, erwarte ich fast,
des Lebensmittelhandels. Es stammt aus dem Jahr 2007. dass Sie darauf mit einer Kurzintervention reagieren. Ir-
Wer hat 2007 regiert? Ich kann daher nur staunen, dass gendwie hatte ich Sie schon vermisst.
die SPD jetzt sagt, es müsse zu einer praktikablen Rege-
Herr Kelber, was das Thema Mindestlöhne angeht:
lung kommen.
Ich bin ganz sicher jemand, dem es fernliegt, zu sagen,
(Zurufe von der SPD) er stehe links. Ich bin der Meinung, dass jemand, der or-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11735
Dr. Erik Schweickert
(A) dentlich arbeitet, sprich: eine 40-Stunden-Woche hat, werden würden. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen (C)
sich einmal im Jahr einen Urlaub leisten und ein ordent- Preisen und Werten. Darin sind wir uns mit der SPD ei-
liches Auto fahren können muss. Mit anderen Worten: Er nig. Wir sind uns sicherlich auch darin einig, dass die
muss von seinem Gehalt ordentlich leben können. Da Regierungskoalition diesen Bewusstseinswandel in der
bin ich bei Ihnen. Bevölkerung nicht aufnimmt und ihren agrarindustriel-
len und exportorientierten Kurs weiter fortsetzt.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Das ist eines unserer Ziele. (Widerspruch bei der FDP)

Ich stelle mir allerdings die Frage: Sind Mindestlöhne Leider gerät der Antrag insgesamt zu allgemein, um
der richtige Weg, dieses Ziel zu erreichen? Ist es nicht zielgenau konkrete Verbesserungen zu erreichen. In den
vielmehr so, dass den Menschen durch Mindestlöhne et- Details werden wichtige aktuelle Entwicklungen nicht
was weggenommen wird, etwa weil Arbeitsplätze ins ausreichend berücksichtigt. Natürlich stimmen wir zu,
Ausland verlagert werden? Kommt man durch Mindest- wenn Sie die Verbraucherinteressen in der Anwendung
löhne diesem Ziel also womöglich nicht näher? des § 54 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
berücksichtigt sehen wollen. Auch die Abschaffung der
Lassen Sie uns darüber streiten, wie der Weg dahin EU-Agrarexportsubventionen bleibt richtig.
aussehen soll, dass die Menschen ein Mindesteinkom-
men haben. Es ist eine etwas zu verengte Sichtweise, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
glauben, dass die Mindestlöhne der richtige Weg dahin Insgesamt aber bleibt doch der Eindruck, dass Sie viele
sind. Politikbereiche nur streifen, ohne ein schlüssiges und
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die gibt es zielgerichtetes Maßnahmenpaket zu entwickeln. Bei ei-
überall außer bei uns!) nigen Ihrer konkreten Vorschläge teilen wir zwar die
Analyse, doch die Forderungen sind nicht zielführend.
Lassen Sie uns gemeinsam darüber streiten, wie die So schlagen Sie eine Ombudsstelle vor, um dem Miss-
Ziele, die ich Ihnen genannt habe, erreicht werden kön- brauch von Marktmacht zu begegnen. Das ist aus unse-
nen. Man sollte aber nicht einfach nur plakativ einen flä- rer Sicht ein viel zu bürokratischer Weg. Warum stärken
chendeckenden Mindestlohn fordern. Es ist genau wie Sie nicht stattdessen die Verbraucherzentralen in ihrer
bei der Sektorenuntersuchung: Man muss sich die Sekto- Marktwächterfunktion?
ren einzeln anschauen, um zu erkennen, was man im je-
weiligen Bereich zu tun hat. Ihre Maßnahmen in Bezug auf transparente und nach-
haltige Produktionsbedingungen sehen wir grundsätzlich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – als positiv an, auch wenn wir zum Beispiel beim Ver-
(B) Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Mit Hono- braucherinformationsgesetz weiter gehende Vorstellun- (D)
rarverordnungen für Juristen hat die FDP noch gen zum Informationsanspruch von Bürgerinnen und
nie Probleme gehabt!) Bürgern gegenüber Unternehmen haben.

Vizepräsidentin Petra Pau: Dem Antrag fehlt insgesamt der rote Faden, der klare
Der Kollege Ostendorff hat für die Fraktion Bünd- Kompass. Er entwickelt keine Leitidee zur ökologischen
nis 90/Die Grünen das Wort. und sozialen Fairness in den Lebensmittelmärkten. Uns
als Agrarpolitiker treibt die Frage um, wie wir den Er-
zeugern von Lebensmitteln, zum Beispiel den Milchbau-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ern, einen Rahmen für faire Produktionsbedingungen
NEN): schaffen können. Der Trend bei der Milch geht zurzeit in
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Richtung Monopol, vor allem in Norddeutschland. Hier
Herren! Wer sich heute in der Gesellschaft umschaut, be- müssen wir etwas tun und den Markt wiederherstellen.
merkt einen klaren Bewusstseinswandel: Die Menschen Die Regierung verzichtet leider vollständig auf jegliche
leben bewusster, planen bewusster und konsumieren Ordnungspolitik.
auch bewusster als vor 10 oder 20 Jahren. Das sagen Ih-
nen alle Studien. Wir müssen den Rahmen dafür setzen, dass Bäuerin-
nen und Bauern angemessene Preise für ihre Produkte
Im heutigen Charta-Prozess bei Ministerin Aigner erhalten, ohne dass wir sie weiter in die industrielle Pro-
sagte sogar der Chef des Vion-Fleischkonzerns, dass für duktion treiben, eine Produktionsweise, die weder um-
77 Prozent der Verbraucher artgerechte Tierhaltung welt- noch tierschutzgerecht ist, viele bäuerliche Exis-
wichtig sei. „Geiz ist geil“ und „Hauptsache billig“ ha- tenzen zerstört und in der Gesellschaft auf keine
ben zunehmend ausgedient. Akzeptanz mehr stößt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der vorliegende Antrag reißt viele richtige und wich-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
tige Fragen an, bleibt aber in seinen Maßnahmen zu
FDP)
allgemein und stößt an einigen Stellen in die falsche
Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass die Preis- Richtung vor. Lassen Sie uns in der weiteren parlamen-
schilder in den Supermärkten oft nicht die soziale und tarischen Beratung gemeinsam an der Stoßrichtung
ökologische Wahrheit abbilden. Viele Billigprodukte arbeiten! Denn eines ist klar: Die Regierung wird er-
wären viel teurer, wenn die gesellschaftlichen Folgekos- fahrungsgemäß nichts unternehmen, um den Lebensmit-
ten der agrarindustriellen Produktion mit eingerechnet telmarkt fair und transparent zu gestalten.
11736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Friedrich Ostendorff
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stunden harter Arbeit pro Tag. Damit, liebe Kolleginnen (C)
Dr. Erik Schweickert [FDP]: Nicht von NRW und Kollegen, muss Schluss sein.
sprechen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat die Letzte auf Leider bleibt die Bundesregierung hier untätig. Wie
unserer Rednerliste, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, die Antwort auf unsere Kleine Anfrage gezeigt hat, sieht
für die Sozialdemokraten das Wort. – Bitte schön, Frau sie keinen Handlungsbedarf. Dabei waren sich fast alle
Kollegin. Sachverständigen in der Anhörung einig: Wir brauchen
Regeln, um den Missbrauch von Marktmacht wirksam
(Beifall bei der SPD) einzudämmen. Die SPD legt deshalb – übrigens als ein-
zige Fraktion – einen umfassenden Maßnahmenkatalog
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): vor.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß ist schon auf
Lieber Herr Kollege Ostendorff, schade, dass Sie den ro- eine zentrale Forderung eingegangen: die Schaffung ei-
ten Faden nicht erkennen können. ner unabhängigen Ombudsstelle. Diese Stelle soll auch
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Im SPD- Ermittlungen einleiten, wenn bei Einkaufspraktiken ei-
Antrag!) nes Unternehmens negative Auswirkungen auf die Be-
schäftigten entlang der Lieferkette zu befürchten sind.
Ich glaube, das liegt daran, dass Sie ein Grüner und eben
kein Roter – so wie wir – sind. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Ach du
liebes bisschen!)
(Beifall bei der SPD)
Unternehmen wären dann auskunftspflichtig und die Er-
Es ist schon erschreckend, dass sich gerade einmal gebnisse der Untersuchungen öffentlich einsehbar.
vier Handelsriesen praktisch den gesamten Lebensmit-
telmarkt aufteilen. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]:
Planwirtschaft!)
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Sechs!)
Das führt zur zweiten zentralen Forderung: Insbeson-
Sie alleine bestimmen, wohin die Reise geht. dere große Unternehmen müssen verpflichtet werden,
(Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Das Parla- Berichte über die Wahrung der Menschen- und Arbeit-
(B) ment bestimmt, wohin die Reise geht!) nehmerrechte in der gesamten Wertschöpfungskette vor- (D)
zulegen. Denn klar ist: Die bestehenden Selbstverpflich-
In der Anhörung im letzten Juli ist sehr klar geworden, tungen von Unternehmen zur Einhaltung von fairen
was diese gigantische Monopolisierung im Einzelhandel Arbeitsbedingungen reichen nicht aus.
bedeutet: Qualitätsverfall und miese Löhne.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Natürlich sind Initiativen von Unternehmen wünschens-
Die Leidtragenden sind die Angestellten in den Super- wert, die sich freiwillig über das normale Maß hinaus für
märkten und Discountern. ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren. Des-
halb hatte Olaf Scholz als SPD-Arbeitsminister in der
Der Einzelhandel ist die größte Niedriglohnbranche
Großen Koalition die nationale CSR-Strategie auf den
in Deutschland. 12 Prozent der Beschäftigten erhielten
Weg gebracht. Wir müssen aber den Druck erhöhen, dass
2008 weniger als 5 Euro brutto. Besonders Frauen – sie
alle Unternehmen faire Arbeitsbedingungen einhalten.
stellen 70 Prozent der Beschäftigten – sind Opfer der
Wir müssen dafür sorgen, dass nur solche Unternehmen
miesen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie
öffentliche Aufträge erhalten, die soziale und ökologi-
arbeiten zu einem großen Teil in ungesicherten Mini-
sche Mindeststandards im eigenen Betrieb und in der
jobs. Altersarmut ist vorprogrammiert. Das, meine Da-
Zulieferkette einhalten.
men und Herren, werden wir nicht hinnehmen.
Stärken wir auch diejenigen, auf die es im Markt
(Beifall bei der SPD)
letztendlich ankommt, die Verbraucherinnen und Ver-
Wir fordern deshalb einen flächendeckenden gesetz- braucher! Wir fordern im Verbraucherinformationsge-
lichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Der würde schon setz einen Informationsanspruch zu der Frage, ob sich
enorm helfen. Unternehmen fair verhalten, auch entlang der Zuliefer-
kette. Dann können Kunden beim Einkauf schwarzen
Der gewaltige Preisdruck, den die Supermarktgiganten Schafen die Rote Karte zeigen.
ausüben, verläuft entlang der gesamten Lieferkette der
Konzerne. Die unabhängige Hilfsorganisation Oxfam (Beifall bei der SPD)
weist seit Jahren auf schockierende Arbeitsbedingungen
in Asien und Mittelamerika hin. Es ist beschämend, Vizepräsident Eduard Oswald:
wenn beim Handelsriesen Metro Lieferanten in Indien Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm.
den Landarbeiterinnen gerade einmal 85 Cent bezahlen,
und zwar nicht pro Stunde, sondern für zehn bis zwölf Jetzt schließe ich die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11737
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bürgerinnen und Bürgern als unangemessene Beschrän- (C)
Drucksache 17/4874 an die in der Tagesordnung aufge- kung ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten empfunden.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der (Mechthild Dyckmans [FDP]: Zu Recht!)
FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Deshalb haben die Innen- und Rechtspolitiker der
Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der Sozialde- CDU/CSU und der FDP schon bei den Koalitionsver-
mokraten wünscht die Federführung beim Ausschuss für handlungen eine Änderung dieser Vorschrift verabredet.
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir tätig
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss werden sollten. Die Statistik belegt, dass die Berufungs-
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, gerichte die Vorschrift im bundesweiten Vergleich sehr
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- unterschiedlich anwenden.
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Beispielsweise werden beim Oberlandesgericht Bremen
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der in 5,2 Prozent aller Fälle Berufungen durch Beschluss
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federfüh- zurückgewiesen. Beim Oberlandesgericht Rostock er-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, folgt dies in 27 Prozent aller Fälle. Auch diese unter-
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- schiedliche Handhabung in der Praxis ist ein Anlass für
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der ein Eingreifen des Gesetzgebers.
Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 5 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auf: Die Bundesregierung schlägt daher im vorliegenden
13 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Entwurf vor, bei Zurückweisungsbeschlüssen die gleiche
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Anfechtbarkeit wie bei den streitigen Berufungsurteilen
rung des § 522 der Zivilprozessordnung einzuführen. Künftig soll der Bundesgerichtshof auf die
Nichtzulassungsbeschwerde einen Zurückweisungsbe-
– Drucksachen 17/5334, 17/5388 – schluss ab einer Beschwer von 20 000 Euro in gleicher
Überweisungsvorschlag: Weise überprüfen wie jetzt schon ein Berufungsurteil.
Rechtsausschuss Wenn die Zulassungsgründe vorliegen, wird der Be-
schluss im Revisionsverfahren auf Rechtsfehler kontrol-
(B) ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid liert. Damit wird es für den Zugang zum Bundesge- (D)
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- richtshof unerheblich, ob das Berufungsgericht durch
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Beschluss oder durch Urteil entschieden hat.
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Meine Damen und Herren, das ist eine Verbesserung
Zivilprozessordnung des Rechtsschutzes, und das ist keine rein technische
– Drucksache 17/5363 – Angelegenheit; denn von vielen Betroffenen haben uns
Überweisungsvorschlag:
Beschwerden erreicht, dass das jetzt geltende System
Rechtsausschuss auch bei bedeutenden Rechtssachen nicht den vollen
Rechtsschutz bereitstellt, weil die beschlussmäßige Ver-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die werfung derzeit unanfechtbar ist.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Wir haben auch bedacht, ob die Berufungsgerichte
durch den Begründungsmehraufwand für die künftig an-
Erster Redner unserer Debatte ist der Parlamentari-
fechtbaren Zurückweisungsbeschlüsse im Übermaß be-
sche Staatssekretär Dr. Max Stadler. Ich gebe ihm das
lastet werden. Dies glauben wir nicht; denn die eigentli-
Wort. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Stadler.
che Begründungsarbeit wird bereits bei dem Beschluss
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geleistet, der dem Zurückweisungsbeschluss vorangeht
und die Parteien auf den voraussichtlichen Ausgang des
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Rechtsstreits hinweist.
ministerin der Justiz: (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ist seit In besonderen Fällen, zum Beispiel, wenn die Sache
längerer Zeit Gegenstand einer heftigen rechtspoliti- für den Berufungsführer existenzielle Bedeutung hat,
schen Debatte. Nach dieser Regelung, die im Jahr 2002 muss künftig wieder mündlich verhandelt werden. Das
eingeführt worden ist, muss das Berufungsgericht in war nämlich das zweite große Beschwernis aus der Pra-
aussichtslosen Fällen die Berufung ohne mündliche Ver- xis: Die Betroffenen hatten den Eindruck, sie würden
handlung durch einen unanfechtbaren Beschluss zurück- mit ihrem Anliegen nicht hinreichend gehört. Bürgerin-
weisen. Damit war seinerzeit eine Verfahrensbeschleuni- nen und Bürger haben nämlich oft den Eindruck, eine
gung beabsichtigt. Dieses Ziel ist durchaus erreicht bloß schriftliche Vortragsweise habe nicht denselben
worden. Die Regelung wird aber dennoch von vielen Wert wie die mündliche Verhandlung.
11738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) Mit der Neuregelung besteht nunmehr eine Möglich- Das Fehlen eines Rechtsmittels gegen diesen Be- (C)
keit, im wahrsten Sinne des Wortes wieder rechtliches schluss ist umso gravierender, als die Zurückweisungs-
Gehör zu gewähren. Eine mündliche Erörterung bietet praxis der Gerichte erheblich variiert. Einige Zahlen hat
im Übrigen auch die Chance für die vergleichsweise Lö- der Staatssekretär schon genannt. Ich will sie noch ein
sung eines Rechtsstreits, aber auch für Berufungsrück- bisschen vervollständigen, und ich muss gestehen:
nahmen, wenn im Rechtsgespräch dem Berufungsführer Mecklenburg-Vorpommern ist hier wirklich ganz weit
die mangelnde Erfolgsaussicht seines Rechtsmittels dar- hinten, warum auch immer. Bei den Landgerichten be-
gelegt worden ist. trägt die Zurückweisungsquote zum Beispiel beim Land-
gericht Karlsruhe 6,4 Prozent und beim Landgericht Ros-
Wir meinen daher, dass der Entwurf, den wir Ihnen tock 23,8 Prozent. Bei den Oberlandesgerichten sind die
vorlegen, einen ausgewogenen Kompromiss darstellt. regionalen Unterschiede ähnlich stark ausgeprägt: Sach-
Wir schaffen die Vorschrift nicht gänzlich ab, weil sie sen 10,5 Prozent, Hamburg 24,4 Prozent und Mecklen-
durchaus eine gewisse Beschleunigungswirkung hatte burg-Vorpommern 27,1 Prozent.
und auch künftig haben soll, sondern greifen einen Lö-
sungsansatz auf, den die FDP-Fraktion bereits in der Unverändert steht die Bestimmung des § 522 ZPO
letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hat. Wir glau- seitdem im Brennpunkt der rechtspolitischen Diskussion
ben, dass damit die aufgetretenen Probleme aus der Pra- und vor allem in der Kritik. Insbesondere die Anwalt-
xis und das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, stär- schaft hat sich in der Vergangenheit für die Abschaffung
keren Rechtsschutz zu erhalten, in einer sinnvollen der Vorschrift sehr stark gemacht. Der Präsident des
Weise einer Lösung zugeführt werden. Ich würde mich Deutschen Anwaltvereins, Wolfgang Ewer, hat dies erst
sehr freuen, wenn wir für unseren Entwurf eine breite kürzlich auf dem diesjährigen Neujahrsempfang des
parlamentarische Unterstützung erhalten würden. DAV erneut deutlich gemacht, indem er den vorliegen-
den Änderungsentwurf der Bundesregierung lediglich
Vielen Dank. als ersten Schritt bezeichnet hat. Eigentlich, so sagte er,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehöre die Vorschrift abgeschafft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Eduard Oswald: der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Jetzt als Nächste GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Rich-
auf unserer Liste aus der Fraktion der Sozialdemokraten tig!)
Frau Kollegin Sonja Steffen. – Bitte, Frau Kollegin
Steffen, Sie haben das Wort. Betroffene Kläger, denen eine mündliche Verhandlung
und der Gang zur Revisionsinstanz versperrt bleiben,
(B) (Beifall bei der SPD) fordern das ebenfalls. Dies wird beispielsweise auch an (D)
den vielen Petitionen deutlich, die dem Bundestag zum
Sonja Steffen (SPD): Thema § 522 vorliegen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Es wird mit dem neuen Formulierungsvorschlag der
nen und Kollegen! „Irrend lernt man“, hat Johann Bundesregierung nicht gelingen, die unterschiedliche
Wolfgang von Goethe einmal gesagt. Diese Weisheit Zurückweisungspraxis einzudämmen. Allein die Ände-
sollte sich in der geplanten Änderung der Vorschrift des rung des Wortlauts der Vorschrift von bisher „weist die
§ 522 Abs. 2 ZPO wiederfinden. Berufung … zurück“ zu „hat … zurückzuweisen“ wird
an der Praxis voraussichtlich nichts ändern.
Wir erinnern uns – der Staatssekretär Stadler hat ja
schon darauf hingewiesen –: Im Jahre 2001 beschloss Die mit dem Änderungsvorschlag der Bundesregie-
der Deutsche Bundestag eine praktisch sehr weitrei- rung nun vorgesehene Nichtzulassungsbeschwerde be-
chende Änderung des § 522 ZPO. Die Berufungsge- deutet in der Praxis eine für alle Beteiligten vermeidbare
richte wurden berechtigt und verpflichtet, eine Berufung Zusatzbelastung. Wenn der BGH zukünftig die Berufung
zurückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde an das
die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechts- Berufungsgericht zurückverweist, bedeutet dies für den
sache keine grundlegende Bedeutung hat und die Fort- Rechtsuchenden einen zusätzlichen zeit- und gebühren-
bildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitli- intensiven Umweg zum Erreichen des Ziels einer münd-
chen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungs- lichen Verhandlung. Herr Staatssekretär Stadler, das ist
gerichts nicht erfordert. keine Verbesserung des Rechtsschutzes. Ich meine auch,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat die SPD dass die Vorschrift insgesamt keine besondere Beschleu-
eingeführt!) nigungswirkung – zumindest unter diesem Aspekt – hat.

– Ich weiß. Ich komme auch noch darauf zu sprechen. Darüber hinaus ist ein weiterer entscheidender Punkt
zu nennen. Die meisten Kläger werden die Hürde der
Der entscheidende Punkt der Vorschrift ist folgender: Streitwertgrenze bei der geplanten Nichtzulassungsbe-
Der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 ZPO ergeht schwerde ohnehin nicht überwinden. Sie ist nur bei einer
ohne mündliche Verhandlung, und er ist unanfechtbar. Beschwer von mehr als 20 000 Euro eröffnet. Dies ha-
Den Rechtsuchenden ist also bislang der Weg zum Bun- ben Sie vorhin nicht dargestellt. Nach den Statistiken des
desgerichtshof gegen den Zurückweisungsbeschluss ver- BMJ weisen jedoch 80 bis 90 Prozent aller anhängigen
sperrt. Gerichtsverfahren Streitwerte von unter 6 000 Euro auf.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11739
Sonja Steffen
(A) Der Gang zum BGH wird also nach der geplanten Geset- solvenzordnung vor der Tür. Es wird daher auch zukünf- (C)
zesänderung ohnehin nur für 10 bis 20 Prozent der Fälle tig wieder Streitfragen geben, die höchstrichterlich ge-
möglich sein. Die bestehenden Gerechtigkeitslücken klärt werden müssen. Die generelle Rechtsschutzmög-
werden dadurch nicht geschlossen. lichkeit durch die uneingeschränkte Rechtsbeschwerde-
möglichkeit zum BGH muss daher erhalten bleiben.
Nun fordert der Bundesrat in seiner aktuellen Stel-
lungnahme sogar, von der Einführung eines Rechtsmit- Vielen Dank fürs Zuhören.
tels gegen den Zurückweisungsbeschluss ganz abzuse- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid
hen. In der Begründung heißt es, gewichtige Gründe für Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
eine Änderung seien nicht zu erkennen. Ignoriert werden
dabei die Gerechtigkeitsdefizite, die durch die Vorschrift
entstanden sind. Ignoriert wird auch die Rechtszersplit- Vizepräsident Eduard Oswald:
terung durch die unterschiedliche Anwendungspraxis Wir danken Ihnen, Frau Kollegin Steffen. – Als
der Gerichte. Nächster hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kol-
lege Dr. Jan-Marco Luczak das Wort. Bitte schön, Herr
Statt der Einführung eines Rechtsmittels schlägt der Kollege.
Bundesrat übrigens die Einführung einer Ausnahmevor-
schrift vor, nach der die mündliche Verhandlung aus An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gemessenheitsgesichtspunkten doch noch angeordnet
werden kann. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn das Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU):
Berufungsgericht durch einstimmigen Beschluss zu Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen des Kollegen! Wir diskutieren im Bundestag ja schon seit
§ 522 Abs. 2 ZPO vorliegen, dann wird es sich doch geraumer Zeit über die Regelung des § 522 Abs. 2 der
nicht im nächsten Schritt wieder umentscheiden und Zivilprozessordnung. In der letzten Legislaturperiode
eine mündliche Verhandlung nun doch für angemessen – Herr Staatssekretär hat das schon angeführt – hat die
und notwendig erachten. FDP dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Anfang des
Jahres haben wir über einen Antrag der SPD dazu debat-
Der Vorschlag des Bundesrates ist daher abzulehnen, tiert. Anfang der Woche haben nun auch die Grünen ei-
weil er den Anlass für das Änderungsbedürfnis nicht nen Vorstoß hierzu gemacht. Lassen Sie mich deswegen
zielführend berücksichtigt. Er geht an der Beseitigung mit einem ganz klaren Bekenntnis anfangen: Auch ich
der Gerechtigkeitslücken vorbei. halte den aktuellen Rechtszustand, den uns § 522 Abs. 2
Daher fordern wir in unserem Antrag die Abschaf- bietet, für wirklich unbefriedigend.
(B) fung des § 522 Abs. 2 ZPO, weil er sich in der Praxis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
nicht bewährt hat.
Besonders die tragischen Einzelschicksale, wie etwa
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid das der kleinen Deike – ich denke, wir kennen das alle –,
Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) führen uns allen vor Augen, dass die Zurückweisung ei-
Den Parteien steht ein fairer Instanzenzug zu. Die Grü- ner Berufung im Beschlussverfahren tatsächlich zu Er-
nen fordern dies in ihrem Antrag ebenfalls. Ich hoffe, gebnissen führen kann, die in der Sache falsch sind und
dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens auch die niemand von uns will. Deswegen ist es auch absolut
die Regierungskoalition von der Streichung der Vor- richtig, dass die christlich-liberale Koalition hier etwas
schrift überzeugen können. ändert.

Nun möchte ich zum Abschluss noch auf eine weitere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
geplante Regelung zu sprechen kommen. Das ist die Derzeit, meine Damen und Herren, sieht § 522 Abs. 2
beabsichtigte Streichung des § 7 der Insolvenzordnung. vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen – sie sind
Damit wären Rechtsbeschwerden gegen Entscheidungen hier schon genannt worden; das brauche ich nicht zu
des Insolvenzgerichts künftig nur noch statthaft, wenn wiederholen – eine Berufung im Beschlusswege zurück-
das Beschwerdegericht sie zulässt. Diese Abschaffung gewiesen werden kann. Das führt dazu, dass eine münd-
halten wir für ausgesprochen problematisch. Weder die liche Verhandlung nicht stattfindet. Vor allen Dingen ist
Anzahl der Verfahren noch die den Verfahren zugrunde der Zurückweisungsbeschluss für den Kläger nicht an-
liegenden Konflikte rechtfertigen diesen Schritt. Insol- fechtbar.
venzverfahren sind für die Betroffenen fast immer von
wesentlicher persönlicher und wirtschaftlicher Bedeu- Obwohl § 522 Abs. 2 die kumulativen Voraussetzun-
tung. gen abschließend und ohne die Eröffnung eines gericht-
lichen Ermessens darstellt, bestehen in der Praxis erheb-
Nach der geplanten Neuregelung werden zukünftig liche regionale Unterschiede in seiner Anwendung.
durch eine Vielzahl von Landgerichten rechtskräftige Auch hierzu haben wir die Zahlen schon gehört. Ich
Entscheidungen getroffen, wodurch eine Zersplitterung brauche sie nicht mehr im Einzelnen anzuführen. Es gibt
der Rechtsprechung droht. Die Einführung dieser Vor- in den einzelnen Gerichtsbezirken eine Spreizung von
schrift hatte seinerzeit den Sinn, mit der Umsetzung der bis zu 20 Prozent. Nun kann man vielleicht trefflich über
damals neu erlassenen Insolvenzordnung eine höchst- die Evaluierung der einzelnen Quoten streiten. Aber un-
richterliche Klärung durch den Gang zum BGH zu er- ter dem Strich bleibt es dabei, dass die Handhabung re-
möglichen. Jedoch steht nun eine weitere Reform der In- gional sehr unterschiedlich ist. Das führt dazu, dass – je
11740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) nachdem, wo ein Kläger gegen ein erstinstanzliches Ur- Der Vollständigkeit halber will ich hier nur noch ein- (C)
teil Berufung einlegt – ein Rechtsschutzsuchender ganz mal erwähnen, dass die Union 2001 gegen die Neurege-
unterschiedliche Chancen hat. Einmal kann er mündlich lung des § 522 war und das seinerzeit auch entsprechend
über das erstinstanzliche Urteil verhandeln und ein ge- kritisiert hat. Wir wollten durch die ZPO-Reform näm-
gen ihn ergehendes Berufungsurteil anfechten. Das an- lich mehr Bürgernähe und nicht weniger Rechtsschutz
dere Mal gibt es keine mündliche Verhandlung, und er erreichen. Das war damals richtig, und das ist auch heute
hat keine ordentlichen Rechtsmittel mehr. noch richtig.
Wir haben hier also eine Ungleichheit in der Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
anwendung. Das ist in der Tat ein Problem. Ich glaube
zwar, dass das kein verfassungsrechtliches Problem ist, Nun gut, jetzt sind wir zehn Jahre weiter. Das bedeu-
wie es hier zum Teil behauptet wird. Das Bundesverfas- tet, wir müssen uns einmal anschauen: Was in der Zwi-
sungsgericht hat sich ja mit der Frage des § 522 Abs. 2 schenzeit passiert ist? Wie hat sich die Einführung des
diverse Male beschäftigt und immer wieder bestätigt, Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 entwickelt? Wie
dass das Beschlussverfahren als solches nicht zu bean- hat sie sich ausgewirkt? Was hat sich bewährt, und was
standen ist. Was aber in jedem Fall bleibt, ist ein Gerech- konnte in der Praxis nicht überzeugen?
tigkeitsproblem. Da sage ich: Wenn es auch nicht verfas-
sungsrechtlich zwingend notwendig ist, dass wir hier Zu den Defiziten dieser Regelung habe ich bereits sel-
etwas machen, so ist es doch ein rechtsstaatlich gebote- ber einiges gesagt, und wir haben es auch schon an ande-
ner Auftrag an uns, hier etwas zu tun, hier zu handeln. rer Stelle gehört. Wahr ist: Wo Schatten ist, muss auch ir-
gendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) seriösen Diskussion, zu fragen, welche positiven As-
Es stellt sich nun die Frage: Wie handeln wir? Wie be- pekte das Beschlussverfahren bewirkt hat und welche
seitigen wir diesen unbefriedigenden Rechtszustand? Folgen dessen ersatzlose Streichung nach sich zöge. Es
Die SPD und seit wenigen Tagen ja nun auch die Grünen gibt durchaus einige Punkte, die man berücksichtigen
schlagen vor, das Beschlussverfahren ersatzlos abzu- muss.
schaffen. Das ist doch – das muss man auch einmal fest-
Die Reform der ZPO im Jahre 2001 war notwendig;
halten – einigermaßen erstaunlich. Meine Damen und
darüber besteht im Hause wohl Einigkeit. Menge und
Herren, hier lohnt sich einmal ein Blick in die Vergan-
Länge der Verfahren sollten auf ein gesundes Maß zu-
genheit. SPD und Grüne schlagen uns heute die Strei-
rückgeführt werden, um jedem Bürger den ihm zuste-
chung einer Regelung vor, die im Rahmen der ZPO-Re-
henden Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es
form 2001 geschaffen wurde.
so, dass auch solche Berufungen terminiert werden
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) mussten, die offensichtlich unbegründet waren und die
keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Das ist aber nicht
Sie schlagen also die Streichung einer Regelung vor,
effizient und bindet richterliche Arbeitskraft, die dann an
die unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung,
anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung steht. Das ver-
also in ihrer eigenen Verantwortung, ins Werk gesetzt
zögert nicht nur das konkrete Verfahren, sondern mittel-
wurde.
bar auch alle anderen, für die dann keine oder jedenfalls
(Zuruf von der SPD: Wir können ja schlauer weniger Zeit zur Verfügung steht. Guter, effizienter
werden!) Rechtsschutz setzt aber auch voraus, dass er in angemes-
sener Zeit gewährleistet wird.
Meine Damen und Herren, es ist noch keine zwei
Jahre her, da hat die SPD-Justizministerin Zypries hier Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Ministe-
im Plenum vehement diese rot-grüne Reform, die Rege- rin Zypries hat im Jahr 2009 hier im Deutschen Bundes-
lung der Zurückweisung durch Beschluss, als – wörtlich – tag ausgeführt, dass es vor der Möglichkeit einer Zu-
ordentliche Reform, die voll akzeptiert werde, verteidigt. rückweisung durch Beschluss kein gutes, weil nur
Jetzt sagen Sie einfach: Abschaffen! langsames Recht gab. Im Kern ist das durchaus richtig.
Die Kollegin Steffen – wir haben es gerade gehört; Die Daten zeigen uns, dass das Beschlussverfahren tat-
wir hatten die Diskussion Anfang des Jahres auch schon sächlich zu einer Verfahrensbeschleunigung geführt hat.
einmal – stellt auf einmal verwundert fest, dass die rot- Deswegen wollen wir – im Interesse aller Rechtsuchen-
grüne Vorschrift des § 522 Abs. 2 besonders anfällig für den – diese positiven Effekte nicht wieder völlig aufge-
Verletzungen des verfassungsrechtlichen Anspruchs der ben.
Parteien auf rechtliches Gehör sei und dass sich der
Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen, dass
Rechtsuchende der Willkür und der alleinigen Entschei-
es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichtigen
dungsbefugnis der Richter ausgeliefert sehe. Meine Da-
gilt: das Interesse des weiterhin Rechtsschutzsuchenden,
men und Herren, ich sehe nicht, welche bahnbrechenden
also des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des
Rechtserkenntnisse Sie auf einmal in den letzten Jahren
Berufungsbeklagten. Dieser hat in der ersten Instanz ob-
gewonnen haben, die nicht schon bei der Debatte im
siegt und daher verständlicherweise ein Interesse daran,
Jahre 2009 vorlagen und die Sie jetzt zu einer 180-Grad-
dass das erstrittene Urteil möglichst schnell durchgesetzt
Wendung veranlassen. Das hat mit glaubwürdiger und
werden kann. Dafür benötigt er aber die Rechtskraft des
konsistenter Politik nichts mehr zu tun.
Urteils, die unmittelbar durch den Zurückweisungsbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schluss herbeigeführt wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11741
Dr. Jan-Marco Luczak
(A) Ich glaube, es ist richtig, den Zurückweisungsbe- dung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer (C)
schluss, also die schnelle Rechtskraft, für die Fälle zu er- einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist, dann wird
halten, in denen die Berufung tatsächlich ohne Aussicht das Revisionsverfahren eingeleitet. Hier kann der BGH
auf Erfolg ist. dann vollumfänglich die Verletzung formellen und sach-
lichen Rechts prüfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damit gewährleisten wir eine bundesweit einheitliche
Denn sonst stünde zu befürchten, dass vermehrt Beru- Handhabung der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 der
fung wieder nur deswegen eingelegt würde, um das Ver- Zivilprozessordnung und stellen so die rechtsstaatlich
fahren zu verzögern und die Vollstreckung eines zu gebotene Rechtsanwendungsgleichheit sicher.
Recht titulierten Anspruchs zu vereiteln. Dazu wollen
wir aber keine Anreize setzen. Wir wollen, dass die in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
erster Instanz erfolgreiche Partei möglichst schnell Klar-
Die Einführung eines Rechtsmittels ist aber noch aus
heit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens und damit
einem zweiten Grund richtig und wichtig. Vereinzelt
Rechtssicherheit hat. Die christlich-liberale Koalition
mussten wir in der Vergangenheit feststellen, dass
verfolgt deshalb einen anderen Weg als SPD und Grüne,
Spruchkörper in einer fehlsamen, manchmal an der
einen Weg, der die Schwächen des jetzigen §-522-Ver-
Grenze zum Missbrauch liegenden Weise § 522 Abs. 2
fahrens beseitigt, gleichzeitig aber die Vorteile der ZPO-
ZPO angewendet haben. Die Folge war, dass mitunter
Reform bewahrt. Unsere Lösung schafft einen Ausgleich
Anhörungsrügen oder gar Verfassungsbeschwerden er-
zwischen den Interessen von Kläger und Beklagtem und
hoben werden mussten, damit Kläger zu ihrem Recht ka-
nimmt zudem auch Rücksicht auf die Belastung der Ge-
men. Diese Gerichte müssen jetzt sorgsamer sein. Sie
richte.
wissen jetzt, dass zukünftig über ihnen mehr ist als nur
Mit unserem Gesetzentwurf stellen wir zunächst klarer der blaue Himmel.
den zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO heraus; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
denn wenn seine Voraussetzungen vorliegen, muss das
Berufungsgericht einen Zurückweisungsbeschluss erlas- Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass die Beru-
sen. Unterschiede bei der Anwendung, die daraus resul- fungsgerichte und der Bundesgerichtshof gewissen
tieren, dass ein Gericht vermeintliches Ermessen ausübt, Mehrbelastungen ausgesetzt werden. Die Berufungsge-
werden so in der Praxis gemindert. Zugleich ermöglichen richte werden dadurch mehr belastet, dass Zurückwei-
wir die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in sungsbeschlüsse zukünftig nur dann zulässig sind, wenn
den Fällen, wo dies angemessen ist. Nach meiner Über- eine mündliche Verhandlung nicht angemessen ist. Man
(B) zeugung ist eine mündliche Verhandlung immer dann an- muss aber sehen, dass bereits nach geltendem Recht der (D)
gemessen, wenn deren rechtsstaatliche Funktion, nämlich Aufwand für einen ordentlich begründeten Hinweisbe-
die Befriedung der Parteien, die Schaffung von Akzep- schluss und die Berücksichtigung der darauf eingehen-
tanz für gerichtliche Entscheidungen oder die Gewährung den Stellungnahme des Berufungsführers nicht eben ge-
rechtlichen Gehörs, dies erfordert. Das ist unter anderem ring ist. Ich glaube aber, dass diese Mehrbelastung
dann der Fall, wenn es um existenzielle Fragen geht, in wegen der herausgehobenen Bedeutung des individuel-
Arzthaftungssachen zum Beispiel. Ich hatte den Fall len Rechtsschutzes in unserer Verfassung vertretbar ist.
„Deike“ vorhin schon erwähnt. Dieser wird zukünftig
mündlich zu verhandeln sein. Aber auch wenn ein erstins- In welchem Umfang der Bundesgerichtshof letztlich
tanzliches Urteil zwar in der Sache, also im Ergebnis, zusätzlich belastet wird, lässt sich zahlenmäßig noch
richtig sein mag, aber die Begründung nicht hinreichend nicht definitiv absehen. Ich jedenfalls glaube, dass auch
oder vielleicht sogar falsch ist, wird in diesen Fällen die Mehrbelastung des Bundesgerichtshofs einen vertret-
mündlich zu verhandeln sein. Ich habe großes Vertrauen baren Umfang nicht überschreiten wird; denn über eine
in unsere Richterschaft – Vertrauen, dass sie um diesen Nichtzulassungsbeschwerde kann man ohne mündliche
rechtsstaatlichen Wert, den eine mündliche Verhandlung Verhandlung entscheiden, und diese braucht regelmäßig
darstellt, weiß und entsprechend großzügig mit der Rege- auch nicht begründet zu werden.
lung des § 522 Abs. 2 ZPO umgehen wird.
Dennoch sehen wir, dass es eine Mehrbelastung geben
Schließlich lassen wir für Zurückweisungsbeschlüsse wird. Deswegen werden wir den BGH an anderer Stelle
mit einer Beschwer über 20 000 Euro die Nichtzulas- entlasten. Wir haben vorgesehen, dass § 7 der Insolvenz-
sungsbeschwerde zu. Damit stellen wir sicher, dass bei ordnung, der die Erhebung einer zulassungsfreien Rechts-
höheren Streitwerten die Spruchpraxis der Berufungsge- beschwerde zum BGH vorsieht, abgeschafft wird. Der
richte einer höchstrichterlichen Kontrolle unterliegt. Hintergrund ist, dass wir glauben, dass die Insolvenzord-
nung nach zehn Jahren durch die höchstrichterliche
Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen jetzt die Rechtsprechung hinreichend konturiert ist, dass es auf
prozessualen Details. Im Kern aber kann der BGH zu- dem Gebiet Klarheit gibt und es kein praktisches Bedürf-
künftig über die Nichtzulassungsbeschwerde überprüfen, nis für diese zulassungsfreie Rechtsbeschwerde mehr
ob das Berufungsgericht § 522 Abs. 2 ZPO und auch die gibt. Ob und in welchem Umfang der BGH darüber hi-
darin festgelegten Voraussetzungen für den Erlass eines naus entlastet werden muss, werden wir in Zukunft genau
Zurückweisungsbeschlusses richtig angewendet hat. beobachten. Wenn es notwendig sein sollte, könnten wir
Wenn das Berufungsgericht verkannt hat, dass eine Sache über weitere Kompensationsmaßnahmen miteinander re-
grundsätzliche Bedeutung hat oder dass eine Entschei- den.
11742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) Ich komme zum Schluss. Es bleibt festzuhalten: Der turen vorgenommen, indem höhere Anforderungen an (C)
Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition behält den Zurückweisungsbeschluss gestellt werden.
die positiven Effekte der ZPO-Reform bei. Wir beseiti-
gen aber die Schwachstellen der rot-grünen Reform. Wir Statt bisher drei sind nun vier Bedingungen für die
verbinden die Ziele individueller Rechtsschutz, Entlas- Zurückweisung der Berufung vorgesehen. Als kleines
tung der Gerichte und eine schnellere Rechtskraft in ei- Bonbon sollen den Betroffenen nun Rechtsmittel gegen
nem wirklich ausgewogenen Kompromiss. Dafür bitte den ablehnenden Beschluss zugestanden werden. Das ist
ich Sie herzlich um Ihre Zustimmung. aus unserer Sicht nicht genug.

Danke schön. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der anderen Seite schränken Sie die Rechte der
Rechtsschutzsuchenden weiter ein, indem Sie § 26 Nr. 8
des Einführungsgesetzes der ZPO ändern wollen. Ob-
Vizepräsident Eduard Oswald: wohl die Revision grundsätzlich vom Streitwert losge-
Vielen Dank, Herr Kollege. löst betrachtet werden soll, verlängern Sie die bis Ende
2011 vorgesehene Befristung der Mindesthöhe des
Als nächster Redner spricht von der Fraktion Die Streitwertes für Revisionen von 20 000 Euro bis Ende
Linke unser Kollege Raju Sharma. – Bitte schön, Herr 2013. Damit übernehmen Sie die früheren Fehler von
Kollege Sharma. Rot-Grün. Wir finden das falsch.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Raju Sharma (DIE LINKE): Gerade in Arzthaftungsfällen ist die derzeitige An-
wendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belas-
Heute ist schon mehrfach gesagt worden, dass dies ein
tung der Geschädigten eine Zumutung. Wir dürfen nicht
wirklich spannendes rechtspolitisches Thema ist. Es geht
zulassen, dass Kosteneinsparungen im Justizsektor dazu
um § 522 ZPO, der es erlaubt, dass eine Berufung ohne
führen, dass die Bürgerinnen und Bürger den Glauben an
mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewie-
Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit verlieren.
sen werden kann, und dieser Beschluss ist dann noch
nicht einmal anfechtbar. Fertig! Wieder wurde ein SPD und Grüne haben erkannt, dass die damalige Re-
Rechtsstreit einfach und ohne großen Aufwand für im- form ihr Ziel verfehlt hat und dass das Problem nur
mer erledigt. Kurzer Prozess! durch eine Abschaffung gelöst werden kann. Diese Ein-
(B) sichtsfähigkeit verdient Anerkennung. (D)
Alle Fraktionen sehen hier Handlungsbedarf; denn
diese Vorgehensweise widerspricht dem Interesse der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Bürgerinnen und Bürger an einem effektiven Rechts- neten der SPD)
schutz.
Deshalb sollten Union und FDP nicht die Fehler vergan-
(Beifall bei der LINKEN) gener Wahlperioden wiederholen. Tun Sie das Richtige,
und wickeln Sie die verkorkste Reform ab. Streichen Sie
Entschiede das Gericht in dem gleichen Rechtsstreit nicht die Absätze 2 und 3 in § 522 ZPO!
durch einen Beschluss, sondern durch ein Urteil, wäre ge-
gen die Zurückweisung der Berufung wenigstens eine Danke schön.
Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Mehr als 100 Jahre
kamen wir ohne diese Regelung aus. Doch im Jahr 2001 (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
– das wurde schon gesagt – versuchte Rot-Grün, die neten der SPD)
Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Ge-
richte zu entlasten. Das haben wir neun Jahre lang auspro- Vizepräsident Eduard Oswald:
biert. Jetzt müssen wir feststellen: Das Ziel wurde ver- Vielen Dank, Herr Kollege Sharma.
fehlt. Für alle, die bei den Gerichten Rechtsschutz
suchen, ist § 522 ZPO ein Fluch und kein Segen. Auch die Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gewünschte Entlastung der Gerichte trat nicht ein. Da- unsere Kollegin Ingrid Hönlinger. – Bitte schön, Frau
rüber hinaus – auch das wurde heute schon gesagt – wird Kollegin.
diese Vorschrift ungleich angewandt. Je nach Bundesland
erledigen manche Oberlandesgerichte 4 Prozent ihrer Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Verfahren nach § 522 ZPO und andere über 27 Prozent. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Das ist nicht in Ordnung. Das ist ungerecht. Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben
(Beifall bei der LINKEN) schon viel Bedenkenswertes zu § 522 ZPO gesagt. Wir
alle wissen: Im Jahr 2002 wurde die Vorschrift einge-
Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das führt, um die Gerichte zu entlasten und Rechtsmittelver-
ist in der Regel nicht schlimm. Wir müssen nur daraus fahren zu beschleunigen. In den letzten Jahren haben wir
lernen. Mit dem Regierungsentwurf wird aber lediglich verschiedene Erfahrungen damit gemacht. Auf der
versucht, die gröbsten Patzer etwas zu glätten. Dafür Grundlage dieser Erfahrungen nehmen auch wir Grünen
werden an § 522 Abs. 2 und 3 ZPO kosmetische Korrek- eine Neubewertung der Vorschrift vor.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11743
Ingrid Hönlinger
(A) Wir alle wissen: Für Betroffene endet der Rechtsweg eine Einigung hinwirken, vielleicht auch darauf hinwir- (C)
abrupt, wenn sie durch schriftlichen Beschluss mitgeteilt ken, dass die Berufung zurückgenommen wird. Wir ge-
bekommen, dass ihre Berufung zurückgewiesen wird, währleisteten den Bürgerinnen und Bürgern damit um-
weil es keine Aussicht auf Erfolg gibt, weil die Rechts- fassenden Zugang zu einer zweiten Instanz und damit
sache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weil kein Er- zum Recht. Im Klartext: Eine wirkliche Verbesserung
fordernis einer Fortbildung des Rechts vorliegt oder der rechtlichen Situation bietet nur die ersatzlose Strei-
keine Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung chung einer Vorschrift, die sich weder bewährt noch zur
erforderlich ist. Es findet keine mündliche Verhandlung Gleichbehandlung beigetragen hat.
statt. Der Rechtsweg ist endgültig beendet und damit
Vielen Dank.
auch der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum
Recht. Diese Rechtspraxis ist bedenklich. Deswegen dis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kutieren wir heute zu Recht über diese Vorschrift. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ein weiteres Problem ist – das wurde schon gesagt –, Gestatten Sie noch eine Frage der Frau Kollegin
dass § 522 ZPO von den Berufungsgerichten sehr unter- Dyckmans?
schiedlich angewandt wird. Die Diskrepanz liegt bei un-
gefähr 22 Prozent; der Herr Staatssekretär hat das Bei- Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
spiel schon angeführt. Das Oberlandesgericht Bremen Aber gern.
weist 5,2 Prozent der Berufungsverfahren durch schrift-
lichen Beschluss zurück, während das Oberlandesgericht
Rostock sehr viel überschwänglicher damit umgeht und Vizepräsident Eduard Oswald:
27,1 Prozent der Verfahren durch schriftlichen Beschluss Bitte schön, Frau Kollegin.
beendet. Diese Diskrepanz besteht, obwohl § 522 Abs. 2
zwingenden Charakter hat und es keinen Spielraum bei Mechthild Dyckmans (FDP):
der Anwendung gibt. Für die Betroffenen, aber auch für Frau Kollegin, Sie haben gesagt, es sei eine Unge-
juristische Expertinnen und Experten wie auch für uns rechtigkeit, eine Nichtzulassungsbeschwerde bei einem
ist es unbegreiflich, dass eine zwingende Vorschrift eine Betrag von über 20 000 Euro einzuführen. Können Sie
derart unterschiedliche Handhabung erfährt. mir erklären, wieso Sie meinen, dies sei eine Ungerech-
tigkeit? Können Sie mir erklären, wie es sich bei einem
Wir diskutieren heute auch über den Gesetzentwurf Urteil verhält, wann also bei einem Urteil die Nichtzu-
(B) der Bundesregierung. Er beinhaltet unter anderem Fol- (D)
lassungsbeschwerde gegeben ist?
gendes:
Erstens. Eine mündliche Verhandlung findet nicht Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
statt, wenn sie nicht angemessen ist. Das Wort „ange- Das ist bei einem Urteil genau dasselbe. Aber das Ur-
messen“ ist aus unserer Sicht ein weiterer unbestimmter teil setzt die mündliche Verhandlung voraus. Hier gehen
Rechtsbegriff, der wieder dazu einlädt, dass die Beru- wir von dem Fall aus, dass der schriftliche Beschluss
fungsgerichte die Vorschrift unterschiedlich handhaben. vorliegt. Nach unserer Auffassung ist es notwendig, im
Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung zu er-
Zweitens. Die Nichtzulassungsbeschwerde, mit der
möglichen, um umfassendes rechtliches Gehör zu ge-
die Betroffenen gegen den zurückweisenden Beschluss
währleisten.
vorgehen können, wird eingeführt; dies ist aber erst ab
einem Beschwerdewert von 20 000 Euro möglich. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mit ändert sich für einen Großteil der Betroffenen nichts. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ihr Rechtsweg ist nach wie vor beendet, wenn der
schriftliche Beschluss vorliegt. Wir führen den Bürgerin- Vizepräsident Eduard Oswald:
nen und Bürgern damit vor, dass wir uns um ihre finan- Vielen herzlichen Dank. – Ich schließe die Ausspra-
ziellen Angelegenheiten nur dann vollumfänglich küm- che.
mern, wenn es sich um einen relativ hohen finanziellen
Betrag handelt. Dies ist aus unserer Sicht nicht ausrei- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
chend, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. würfe auf den Drucksachen 17/5334 und 17/5363 an den
Rechtsausschuss vorgeschlagen. Die inzwischen vorlie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gende Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stel-
und bei der SPD) lungnahme des Bundesrates auf Drucksache 17/5388 zu
Der Änderungsvorschlag greift also aus unserer Sicht dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll wie der
zu kurz. Wir meinen: Alleinige Abhilfe bietet eine voll- Gesetzentwurf überwiesen werden. Gibt es dazu ander-
ständige Abschaffung von § 522 Abs. 2 ZPO. Dann weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind
würde in jedem Fall eine mündliche Verhandlung statt- die Überweisungen so beschlossen.
finden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Der Richter bzw. die Richterin kann sich ein persönli- Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
ches Bild von den Parteien machen, eventuell noch auf Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
11744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!) (C)
LINKE
Durch den verspäteten Beginn sind Vorher-Nachher-Ver-
Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in gleiche nicht mehr möglich. Auch dies wird in dem Be-
Krankenhäusern richt durchaus angemerkt. Dort heißt es – ich zitiere wie-
der –:
– Drucksache 17/5119 –
Überweisungsvorschlag: Die Trennung zwischen einem spezifischen „G-
Ausschuss für Gesundheit (f) DRG-Effekt“ und anderen plausiblen Einflussfak-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend toren ist zumeist nicht möglich.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Es können also Veränderungen in dem Zeitraum darge-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre stellt werden, aber der Nachweis einer Kausalität, eine
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Zurückführung der Veränderungen auf die Einführung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der dieses neuen Vergütungssystems ist kaum möglich. Auf
Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. – jeden Fall kommen die Autoren des Forschungsberichts
Bitte schön, Herr Kollege Weinberg. zu dem Schluss:
(Beifall bei der LINKEN) Eine engmaschige wissenschaftliche Analyse der
Veränderungsprozesse des Gesundheitssystems
muss auch in Zukunft gewährleistet werden, um
Harald Weinberg (DIE LINKE):
diesen Prozess für Versicherte und Patienten, Be-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schäftigte, Akteure und die Legislative vor dem
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema, um Hintergrund der Ziele möglichst objektiv bewertbar
das es jetzt geht, ist sicherlich kein Thema für politische zu machen und somit steuerbar zu gestalten.
Fensterreden – vielleicht behandeln wir es auch deshalb
um diese Uhrzeit –: die Begleitforschung zur Einführung Dem können wir uns nur anschließen. Aber das heißt mit
der Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung. anderen Worten auch: Die Autoren des Forschungsbe-
richts sind sich selbst durchaus bewusst, dass erstens
Mit der Einführung der Fallpauschalen in der Kran- diese Forschungsphase eigentlich zu spät eingesetzt hat
kenhausfinanzierung zwischen 2003 und 2005 wurden und zweitens nur ein erstes Schlaglicht auf einen kom-
die Leistungen im Krankenhaus nicht mehr nach der Lie- plexen Veränderungsprozess wirft.
gezeit, sondern pauschal nach Diagnosen vergütet, auf
Englisch DRGs genannt. Das war ein vollkommener In unserem Antrag greifen wir das auf und schlagen
vor, die Begleitforschung zu den Fallpauschalen nun
(B) Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung und an- (D)
gesichts eines Volumens von immerhin 34 bis 35 Pro- fortzuentwickeln, sodass die methodischen und inhaltli-
zent der gesamten GKV-Ausgaben ein dicker Brocken, chen Defizite des bisherigen Ansatzes überwunden wer-
der bewegt worden ist. den können und bei der Begleitforschung zur Einführung
eines analogen Vergütungssystems in psychiatrischen
Die Begleitforschung, die gesetzlich vorgeschrieben und psychosomatischen Einrichtungen vermieden wer-
war, sollte die Einführung dieses neuen Vergütungssys- den können. Wir sollten den Fehler, den wir damals ge-
tems begleiten. Es sollte um die Wirkungen der DRG- macht haben, dort nicht wiederholen, sondern jetzt durch
Einführung gehen: auf die Verweildauer in den Kranken- eine frühzeitig einsetzende Begleitforschung einen Vor-
häusern, das Aufnahme- und Entlassungsverhalten, die her-Nachher-Vergleich ermöglichen.
Aufbau- und Ablauforganisation, die Wirtschaftlichkeit
der Einrichtungen, mögliche Verlagerungen von Leis- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
tungen auf andere Leistungserbringer, die Auswirkungen Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
auf die Qualität der Leistungen, aber auch die Auswir- DIE GRÜNEN])
kungen auf die Arbeitsbedingungen der im Krankenhaus
Unsere Vorschläge dazu sind, einen Sachverständigenrat
Beschäftigten und die Zufriedenheit der Patientinnen
einzurichten oder, wie Herr Braun in der Anhörung ge-
und Patienten sowie der Beschäftigten.
sagt hat, eine Untergruppe des bestehenden Sachverstän-
Als Begleitforschung hatte sie den Anspruch, ein digenrats zu bilden, um die methodischen Voraussetzun-
Frühwarnsystem zu sein. Der erste Forschungsbericht gen zu schaffen, Hypothesen und Fragestellungen unter
wurde im März 2010, also im letzten Jahr, vorgelegt. Er Einbeziehung der von mir genannten Aspekte zu entwi-
ist über 800 Seiten dick und umfasst als Untersuchungs- ckeln, und eine Geschäftsstelle im BMG einzurichten,
zeitraum die Zeit von 2004 bis 2006, also die erste Phase die den Prozess überwacht und auf die Einhaltung der
der Einführung dieses Vergütungssystems. Allerdings er- Fristen achtet.
folgte die Ausschreibung zu dieser Begleitforschung erst
Ich denke, es ist ein nur wenig politisch aufgeladenes
2008. Das beauftragte Institut, das IGES, konnte erst im
Thema. Es hat bereits bestimmte andere Forschungsbe-
Januar 2009 mit der Arbeit beginnen. Daher verwundert
richte gegeben. Wir als Linke haben durch die Ergeb-
folgende Aussage aus dem Forschungsbericht nicht – ich
nisse in Berichten anderer Forschungsinstitute durchaus
zitiere –:
zur Kenntnis nehmen müssen, dass einige unserer An-
Die Funktion eines „Frühwarnsystems“ kann die nahmen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem
Begleitforschung sechs Jahre nach Systemeinfüh- Fallpauschalensystem so nicht eingetreten sind. Ich
rung nicht mehr wahrnehmen. denke da beispielsweise an das Thema „blutige Entlas-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11745
Harald Weinberg
(A) sungen“. Das hat sich nicht bestätigt, und das ist auch um ein lernendes System handelt. Wir haben ins Gesetz (C)
gut so. implementiert, dass eine wissenschaftliche Begleitfor-
schung stattfinden muss. Sie findet auch statt. Der erste
(Beifall bei der LINKEN)
Bericht liegt nun vor, und zwar für die Zeit von 2004 bis
Nun werden wir dadurch nicht gleich zu Fans eines 2006. Ich räume ein, dass dies relativ spät ist. Mir wäre
DRG-Systems; aber wir haben dazugelernt. Wir lernen es auch lieber, wenn es schneller gegangen wäre. Der
gern immer weiter dazu, aber bitte, wenn es irgend geht, Bericht für die Zeit bis 2008 liegt auch schon weitge-
auf einer validen, gründlich erhobenen und soliden Da- hend vor. Er soll uns noch in diesem Jahr zur Kenntnis
tenbasis. gebracht werden. Dann wären wir wieder einigermaßen
à jour.
Vielen Dank.
In Ihrem Antrag unterstellen Sie, dass innerhalb des
(Beifall bei der LINKEN)
Fallpauschalensystems eine Differenzierung zwischen
den verschiedenen Diagnosen nicht möglich ist. Das ist
Vizepräsident Eduard Oswald: so nicht richtig. Es gibt Zusatzentgelte für bestimmte
Wir danken Ihnen, Herr Kollege Weinberg. Diagnosen und auch für neue Untersuchungs- und Be-
Als Nächster auf unserer Rednerliste steht unser Kol- handlungsmethoden. Das ist also durchaus einbezogen
lege Lothar Riebsamen für die Fraktion der CDU/CSU. und mit bedacht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass im Bericht keine Belege dafür gefunden werden,
dass eine Neuausrichtung dieser Fallpauschalen notwen-
dig ist, kann man auf der einen Seite kritisieren. Auf der
Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
anderen Seite kann man aber auch sagen – und das sage
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
ich –, dass das ein Beleg dafür ist, dass wir auf dem rich-
und Kollegen! Mit einem Umsatz von 65 Milliarden
tigen Weg sind und dass eine Neuausrichtung nicht not-
Euro und 1,1 Millionen Beschäftigten in 2 000 Kranken-
wendig ist.
häusern in unserem Land ist das Krankenhauswesen
nicht nur der bedeutendste Faktor im Bereich des Ge- Die entscheidende Aussage in diesem Bericht ist, dass
sundheitswesens, sondern ein sehr bedeutender Faktor die Verweildauer deutlich verkürzt werden konnte, und
insgesamt in unserer Wirtschaft – national, aber auch lo- zwar – Sie haben das angesprochen – ohne dass es zu
kal, wenn es um Arbeitsplätze in den Landkreisen und „blutigen Entlassungen“ gekommen ist. Die Verweil-
den Städten geht, in denen diese Krankenhäuser stehen. dauer konnte verkürzt werden, obwohl die Kurzlieger
Es ist richtig und gut, dass wir eine gute medizini- durch die Einführung der Fallpauschalen in den Kran-
(B)
sche, bauliche und personelle Ausstattung in diesen kenhäusern in den ambulanten Bereich abgewandert (D)
Häusern haben. Deswegen ist es aber auch wichtig, dass sind. Aufgrund des statistischen Moments hätte es im
wir ein zeitgemäßes Abrechnungssystem und eine zeit- Gegenteil zu einer Verlängerung der Verweildauer kom-
gemäße Kalkulation haben. Das war mit der alten Bun- men müssen. Das ist aber eben nicht der Fall. Die Fall-
despflegesatzverordnung aus dem Jahr 1972 nicht der pauschalen haben also dazu geführt, dass die Verweil-
Fall. Diese wurde dem Anspruch an diese komplizierten dauern verkürzt worden sind, und zwar trotz der
Einrichtungen bei weitem nicht mehr gerecht. Es war demografischen Entwicklung, die in diesen Jahren zu-
nicht vernünftig, einfach nur Übernachtungen zu zählen sätzlich zu bewerten ist.
wie in einem Hotel Sie kritisieren auch, das Aufnahme- und Belegverhal-
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Liegezei- ten sei zweifelhaft. Dem kann ich nicht folgen. In diesem
ten!) Bericht wird deutlich, dass keine Risikoselektion stattge-
funden hat.
und die Patienten, wenn die vereinbarten Berechnungs-
tage nicht erreicht wurden, über das Wochenende dazu- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
behalten. Das war einfach nicht zeitgemäß. Das kann man ausdrücklich nachlesen. Auch das ist ein
Wir haben mit den DRGs erstmals ein differenziertes weiterer entscheidender Beleg dafür, dass wir auf dem
Preissystem, das Transparenz schafft – Transparenz nach richtigen Weg sind.
innen für die Kalkulation und das interne Rechnungswe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sen, aber auch nach außen für die Kostenträger und die
Patienten. Die Einführung dieses Systems war wichtig Ich räume ein, dass ich selber in den zukünftigen Be-
zur Finanzierung und Sicherung des GKV-Systems; richten noch etwas mehr Aufschluss über die Lenkungs-
denn durch die Einführung der Fallpauschalen hat auch funktion insbesondere innerhalb des stationären Berei-
Wettbewerb im deutschen Krankenhaussystem Einzug ches erwarte. Mir geht es hier um die Frage, wie
gehalten. Nun haben wir – Herr Weinberg, Sie haben das Krankenhausstandorte im ländlichen Raum mit diesem
angedeutet – vielleicht noch nicht ganz eine gemeinsame System durch eine Steigerung des CMI und durch Spe-
Sprache gefunden; aber ich denke, wir haben durchaus zialisierungen gesichert werden können. Es besteht die
eine gemeinsame Grammatik, was diese Punkte anbe- Gefahr, dass Anreize dafür geschaffen werden, in ver-
langt. Wir haben nie behauptet, dass das DRG-System dichteten Räumen besserbezahlte Fälle ins Haus zu ho-
eine Patentlösung bzw. ein Königsweg ist. Wir haben len, wodurch Doppelstrukturen aufgebaut werden. Das
immer gesagt – so steht es auch im Gesetz –, dass es sich erschließt sich mir noch nicht. Im normalen Marktge-
11746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Lothar Riebsamen
(A) schehen müsste es als Folge daraus nämlich zu Preissen- wahrheitet haben. Hierzu gehörte die Angst vor den (C)
kungen kommen, die im System der DRGs aber natür- sogenannten blutigen Entlassungen, der selektiven Aus-
lich nicht vorgesehen sind. wahl von Patientinnen und Patienten durch die Kranken-
häuser oder vor deren sinkender Behandlungsqualität.
Eine wichtige Erkenntnis ist sicher auch, dass die Man kann einfach sagen, dass sich das DRG-System bei
durchschnittliche Preissteigerung im Krankenhausbe- den unterschiedlichsten Trägern des Gesundheitssystems
reich im Berichtszeitraum lediglich bei 1,4 Prozent jähr- etabliert hat.
lich gelegen hat. Das kann man dem Bericht entnehmen.
In den Jahren 1991 bis 2002 lag sie dagegen bei durch- Diagnosebezogene Fallpauschalen, um den Begriff,
schnittlich 3,7 Prozent im Jahr. Das ist ein Beleg dafür, den wir kurz DRG nennen, auch einmal in Gänze auszu-
dass die Kosten im Krankenhausbereich mit den Fall- sprechen, werden anhand medizinischer Diagnosen und
pauschalen deutlich eingedämmt werden konnten. Behandlungen wie auch anhand von demografischen
Daten, Alter und Geschlecht, für Zwecke der Abrech-
Ihr Vorschlag, einen Sachverständigenrat einzufüh- nung klassifiziert. Leistung wird also auf einer Kosten-
ren, bedeutet mehr Bürokratie. Ich sehe keinen Mehr- ebene anders abgebildet.
wert darin. Es kann auch nicht weiterhelfen, jetzt von ei-
ner wissenschaftlichen Begleitforschung auf einen Sach- Unser hier in Deutschland praktiziertes System kann
verständigenrat umzustellen. so schlecht nicht sein. Denn die Schweizer haben sich
entschieden, ab dem Jahr 2012 das deutsche DRG-Sys-
Ich halte es für vernünftig, die Lehren aus einem ler- tem als Grundlage für ein eigenes Abrechnungs- und
nenden System zu ziehen. Darum geht es, um nicht mehr Finanzierungssystem im Krankenhaus zu wählen.
und nicht weniger. Wir sind noch nicht ganz am Ziel.
Das erwartet heute auch niemand. Wir sind aber auf dem Der Antrag der Linksfraktion fordert unter anderem
richtigen Weg. die Einsetzung eines Sachverständigenrates zur Evaluie-
rung des Fallpauschalensystems in der Krankenhaus-
Herzlichen Dank. finanzierung. Dieser Forderung können wir nicht zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmen. Zu Recht ist vorhin schon gesagt worden, dass
es Kritik an der Begleitforschung in der Vergangenheit
gibt, die in den Berichten auch schon benannt worden
Vizepräsident Eduard Oswald:
ist.
Wir haben zu danken, Herr Kollege Riebsamen. – Als
Nächste hat unsere Kollegin Mechthild Rawert von der Es gibt also auch Möglichkeiten, Themen der gesund-
Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, heitlichen Versorgung genauer zu untersuchen. Hierzu
Frau Kollegin Rawert. wurden vielfältige Prüfanfragen verfasst, anhand derer
(B) (D)
derzeitig evaluiert wird. Unter anderem befasst sich das
(Beifall bei der SPD) renommierte IGES-Institut damit. Es wurde 1980 ge-
gründet und hat in über 1 000 Projekten zu Fragen des
Mechthild Rawert (SPD): Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzie-
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- rung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich
legen! Liebe Zuhörende im Saal! Wir beraten heute den der Gesundheit geforscht. Der schon erwähnte erste
Antrag der Linksfraktion „Ergebnisoffene Prüfung der „Endbericht zum ersten Zyklus der G-DRG-Begleitfor-
Fallpauschalen in Krankenhäusern“. Wer glaubt, dass schung“ hat die Jahre 2004 bis 2006 begleitet und wurde
das ein aufregendes, ein Thema mit Exotik ist, hat sich 2010 vorgelegt.
getäuscht. Aber vorhin sind zu Recht die immensen
Geldsummen genannt worden, die in dem System der Die Kritik habe ich bereits angesprochen. Begleitfor-
Fallpauschalen bewegt werden. Insofern ist das Thema schung darf nicht wie mit dem ersten Bericht verspätet
sehr wichtig für das Gesundheitswesen. erfolgen, sondern muss von Anfang an stattfinden. Auch
die Hoffnung, dass es mit dem zweiten Bericht nun bes-
Es geht um die Finanzierung der Krankenhausleistun- ser klappt, wurde schon formuliert.
gen und darum, dass wir damit eine hochwertige medizi-
nische Versorgung für die Patientinnen und Patienten mit Das Ergebnis ist Folgendes: Ein pauschaliertes Vergü-
einem motivierten und gut bezahlten Gesundheits- und tungssystem führt weder zu frühzeitigen Entlassungen
Pflegepersonal sichern wollen. noch zu einer systematischen Patientenauswahl und auch
nicht zu einer Verlagerung von Behandlungen in andere
Fallpauschalen existieren seit einigen Jahren. Der bis- Versorgungsbereiche. Wir werden in den Diskussionen,
herige Weg, die Besonderheiten in den Versorgungs- die wir unter anderem über das Versorgungsgesetz füh-
strukturen und Behandlungsweisen immer besser im ren werden, sehen, welche neuen Steuerungsfunktionen
Fallpauschalen-Katalog zu berücksichtigen, wird konse- in Zukunft auf uns zukommen werden. Diese Funktio-
quent beschritten. Insofern ist es richtig, dass wir von nen sind auf jeden Fall noch genauer auszurichten.
einem lernenden System reden. Die Abbildungsgenauig-
Ich möchte auf einen anderen Punkt, der in der Praxis
keit wird immer besser, wie sich auch im Fallpauscha-
nur indirekt mit dem DRG-System zu tun hat, zurück-
len-Katalog 2011 längst erwiesen hat.
kommen, und zwar auf die Situation der Beschäftigen im
Zu Recht – dafür danke ich – wird darauf Bezug ge- Gesundheitswesen. Ich bin genau zu dem Zeitpunkt, als
nommen, dass sich einige der Befürchtungen, die bei der das DRG-System eingeführt wurde, Zentrale Frauen-
Einführung der DRGs geäußert worden sind, nicht be- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité gewesen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11747
Mechthild Rawert
(A) Gerade im Pflegebereich hat das DRG-System tatsäch- meinsam unter Qualität verstehen wollen. Sie wollen in (C)
lich zu einem massiven Abbau von Beschäftigten ge- den Mittelpunkt der Überlegungen des von Ihnen gefor-
führt. Ein solcher Abbau kann und darf in Zukunft nicht derten Sachverständigenrates die Interessen der Patien-
mehr erfolgen. Deswegen sind die Prüffragen zur Situa- ten und Beschäftigten der Krankenhäuser stellen und
tion der Versorgung im Gesundheitswesen im Interesse umschreiben damit, wenn ich Sie da richtig verstanden
der Beschäftigten von uns als Parlamentarier und Parla- habe, dass es seit der Einführung der DRGs Veränderun-
mentarierinnen genau zu analysieren. gen von Handlungslogiken im Krankenhausbereich gibt,
die bisher aber nicht in den Blick der Begleitforschung
(Beifall bei der SPD) genommen wurden. Somit konnten daraus auch keine
Auf Fragen der sogenannten Mengenerweiterung will Ableitungen folgen. Um es deutlich zu sagen: Wenn es
ich nicht näher eingehen. als eine gemeinsame Herausforderung verstanden wird,
dass sich menschliche Zuwendung und der dafür not-
Mein Vorschlag für eine gemeinsame Kontrolle ist: wendige Faktor Zeit bei den Beschäftigten nur schwer in
Nehmen wir die auch durch das InEK implementierte eine stückkostenorientierte Abrechnungswelt einbauen
Steuerungsfunktion durch den Fallpauschalen-Katalog lassen, dann muss dies in die Untersuchung einbezogen
wahr! Kontrollieren wir die Wirkungen und Auswirkun- werden. Wir alle – da, denke ich, sind wir uns einig –
gen für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die vermuten nicht nur, dass die DRG-Einführung eine Leis-
Beschäftigten im Gesundheitswesen! Kontrollieren wir tungsverdichtung mit sich gebracht hat, die natürlich
den hoffentlich in naher Zukunft vorliegenden zweiten auch Druck auf die Personalkostenblöcke erzeugt hat.
Evaluierungsbericht!
Nun möchten meine Fraktion und ich aber nicht, dass
Danke für die Aufmerksamkeit. wir ein neues Gremium schaffen, das da selbst evaluiert.
(Beifall bei der SPD) Wir haben die Möglichkeit, die offenen Fragestellungen
im Rahmen der auch mit der Einführung der Psych-
DRGs durchzuführenden Begleitforschung mit aufzu-
Vizepräsident Eduard Oswald:
nehmen und dort auch gleich beide Bereiche untersu-
Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. – Jetzt hat Kol- chen zu lassen.
lege Lars Lindemann das Wort für die FDP-Fraktion.
Bitte schön, Kollege Lars Lindemann. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die Begleit-
forschung mit dem BMG abzustimmen ist. Darunter ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stehe ich hier auch das Evaluationsdesign. Meine Bitte
geht darum an den zuständigen Parlamentarischen
Lars Lindemann (FDP): Staatssekretär, nach Überweisung des Antrags an den
(B) (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ausschuss dort darüber zu berichten, wie die Abstim-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor acht Jahren mung in Bezug auf die im Jahr 2010 vorgelegten Unter-
wurde in den somatischen Krankenhäusern in Deutsch- suchungen ausgesehen hat. Wir wollen dann unsererseits
land begonnen, die DRGs einzuführen. Diese Einfüh- im Ausschuss darüber beraten, welche Punkte wir als
rung sollte – so hat es der Bundestag hier beschlossen – Parlamentarier dann über das BMG mit in die Untersu-
auch forschend begleitet werden. Der Bundestag hat chung eingebracht sehen wollen.
auch Vorgaben gemacht, was dabei besonders in den
Blick zu nehmen ist. Es sollte untersucht werden, ob Vielen Dank.
durch die Einführung der DRGs sich Veränderungen der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Versorgungsstrukturen ergeben, sich die Qualität der
Versorgung verändert und Auswirkungen auf die ande-
Vizepräsident Eduard Oswald:
ren Versorgungsbereiche zu verzeichnen sind. Schließ-
lich sollten auch Art und Umfang von Leistungsverlage- Vielen Dank, Kollege Lindemann. – Jetzt folgt für die
rungen untersucht werden. Nach Vorlage des Berichtes Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
des IGES-Institutes im März 2010 erklärten alle beteilig- Elisabeth Scharfenberg. Bitte schön, Frau Kollegin
ten Vertragspartner, dass die Einführung weder zu früh- Scharfenberg.
zeitigen Entlassungen noch zu einer systematischen
Patientenauswahl geführt habe. Dies waren, so erinnere Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ich mich, die wesentlichen Einwände, die damals vorge- NEN):
bracht wurden. Auch konnte eine Leistungsverlagerung Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
in andere Bereiche nicht festgestellt werden. gen! Wir halten den von der Linken vorgeschlagenen
Sachverständigenrat zur Evaluierung des DRG-Systems
Der Antrag der Linken, über den wir heute debattie- für den falschen Weg. Gleichwohl sind auch wir natür-
ren, fordert nun, einen Sachverständigenrat einzuberu- lich der Auffassung, dass bei einer solch weitreichenden
fen, der anstelle des bisherigen Vorgehens selbst und im Veränderung, wie es gerade die Einführung der DRGs
Auftrag des BMG evaluieren soll. Man kann, so meine zweifellos war, eine umfassende Evaluation zwingend
ich, heute nicht generalisierend sagen, dass die Behand- dazugehört. Genau dies haben wir ja auch getan.
lungsqualitäten durch die Einführung der DRGs an sich
gelitten haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen Unter Rot-Grün haben wir parallel zur Einführung der
von der Linken – da haben wir eine Schnittmenge –, wir DRGs einen umfassenden Auftrag zur Begleitforschung
müssen in eine Überlegung eintreten, was genau wir ge- beschlossen. Die DRGs sind ein lernendes System. Wir
11748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Elisabeth Scharfenberg
(A) erleben aber, dass einige Akteure im Gesundheitswesen rung sowohl in der Bundesregierung als auch in der (C)
gerade nicht aus Erfahrungen lernen wollen. Sie wollen Selbstverwaltung endlich ein Ende hat.
möglichst wenig darüber wissen, wie sich die DRGs in
Vielen Dank.
der Praxis auswirken und wo gegengesteuert werden
muss. Das ist nicht nur das Versagen der Selbstverwal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tung, sondern vor allem auch der schwarz-roten und nun
natürlich der schwarz-gelben Bundesregierung. Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Frau Kollegin Scharfenberg. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max
So wurde die Begleitforschung mit etlichen Jahren Straubinger. – Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
Verspätung ausgeschrieben. Deshalb wurden die ersten
Ergebnisse auch nicht, wie vorgeschrieben, 2005, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dern erst 2010 vorgelegt.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Aber sind wir denn nach der Lektüre der nun vorlie-
genden Ergebnisse der Begleitforschung eigentlich wirk- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
lich schlauer geworden? Erfahren wir, welche Auswir- Frau Kollegin Scharfenberg, es gibt keine Erkenntnisver-
kungen es auf andere Versorgungsbereiche gibt? weigerung der Bundesregierung und auch nicht der sie
Erfahren wir, ob es tatsächlich sogenannte blutige Ent- tragenden Fraktionen; vielmehr nehmen wir diese Be-
lassungen gibt? Oder erfahren wir, wie sich die Situation richte natürlich ernst. Es ist richtig, dass Berichte und Un-
der stationären Pflegekräfte durch die DRG-Einführung tersuchungen letztendlich fundiert sein müssen. Es be-
entwickelt hat? Nein, muss ich sagen, dazu erfahren wir durfte eines längeren Zeitraums, bis die Ausschreibung
nichts. Es wäre aber die Aufgabe der Bundesregierung, sachgerecht vollendet war. Gute Grundlagen gehören
dafür zu sorgen, dass der gesetzliche Auftrag zur Be- dazu. Es darf nicht sein, dass etwas sozusagen hoppladi-
gleitforschung erfüllt wird. Das hat die Bundesregierung hopp zusammengeschrieben wird. Da wir für „Gründlich-
aber weder getan, als die Ausschreibung der Begleitfor- keit vor Schnelligkeit“ stehen – das hat sich im Leben im-
schung über Jahre verschleppt wurde, noch tut sie es mer wieder bewährt –, kann ich hier keine Kritik üben.
jetzt angesichts dieser völlig unzureichenden Ergebnisse. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg.
Kürzlich hatten wir im Gesundheitsausschuss auf Ini- Mechthild Rawert [SPD])
tiative der Grünen eine Anhörung zur ambulanten Ver- – Das gilt für alle Bereiche der Politik, Frau Kollegin
sorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt. Dort wurde Rawert.
(B) insbesondere von den Krankenkassen vertreten, dass es (D)
keine Belege für eine solche Versorgungslücke gebe. Die Verehrte Damen und Herren, hier wurde bereits dar-
Mehrheit der geladenen Sachverständigen hat das aber gelegt: Mit der Einführung des Systems der DRG waren
ganz anders gesehen. Befürchtungen verbunden. Es hat sich gezeigt, dass es
ein selbstlernendes System ist. Dem ist nichts hinzuzufü-
Das zeigt doch, dass es hier einen Erkenntnisbedarf gen. Ich bin dem Kollegen Weinberg dankbar, dass er
gibt. Haben die Kassen, hat irgendein anderer Akteur da- dargelegt hat, dass die Befürchtungen, die gehegt wor-
rauf gedrängt, diese Frage zu klären? Ich bin der Auffas- den sind, so nicht eingetreten sind, dass wir somit auf ei-
sung: Nein, denn dieses Problem wurde im Rahmen der nem guten Weg sind und dass es überall Verbesserungs-
Begleitforschung gar nicht untersucht. Deswegen fehlt möglichkeiten gibt. Bereits ein altes Sprichwort besagt,
mir auch der Glaube, dass eine Sachverständigenkom- dass das Bessere der Feind des Guten ist. Es gilt, in die-
mission, wie sie die Linke fordert, an diesen Mängeln sem Sinne weiterhin die Arbeit zu leisten. Ich möchte
grundsätzlich etwas ändern würde. dem nicht mehr unendlich viel hinzufügen.
Dabei kann niemand leugnen, dass es Probleme gibt. Ich möchte darauf verweisen, dass weitere Strukturen
Das zeigen zahlreiche Studien außerhalb der gesetz- – die Fraktion Die Linke schlägt vor, einen weiteren
lichen Begleitforschung. So wissen wir doch, dass es nicht Sachverständigenrat zu schaffen – nicht notwendiger-
erst seit Einführung der DRGs zu einem erheblichen Ab- weise eine Verbesserung bedeuten. Letztendlich sind alle
bau von Pflegepersonal gekommen ist. Die DRGs bilden Phasen in Begleitung der Bundesregierung zu untersu-
den Pflegeaufwand nicht ausreichend ab. Deswegen chen. Der Kollege Lindemann hat auf Folgendes hinge-
hoffe ich sehr, dass die nunmehr entwickelten Kriterien wiesen: Wenn wir diesen Antrag im Ausschuss beraten,
zur Berücksichtigung des Pflegeaufwandes, der Pflege- dann werden uns auch die bisherigen und die neuen Er-
komplexmaßnahmen-Score, die Pflegequalität wirksam kenntnisse der Bundesregierung dargelegt. Es gilt dann
verbessern werden. natürlich, auch den letzten Schritt zu begleiten. Die ge-
samte Phase der Einführung der DRGs muss wissen-
Auch in der stationären psychiatrischen Versorgung
schaftlich begleitet werden.
wird ein stärker pauschalisiertes Entgeltsystem einge-
führt. Wir müssen dabei von den Erfahrungen der DRG- Bereits heute Vormittag, in der Kernzeit, haben wir
Einführung lernen und hier eine bessere Begleitfor- über das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
schung erreichen. Bundesregierung beraten. Hier kann ein wichtiger Bei-
trag dazu geleistet werden.
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Beratung dieses
Antrags Konsequenzen hat und die Erkenntnisverweige- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11749
Max Straubinger
(A) Es geht darum, dass in der Gesundheitsökonomie die Pa- Politik zuvörderst. Wir haben die nötigen Maßnahmen (C)
tientenorientierung und die Patientensicherheit einen der Regulierung zu treffen, dass so etwas, wie es in der
großen Stellenwert haben. Unter diesem Gesichtspunkt Finanz- und Wirtschaftskrise geschehen ist, nicht noch
bin ich überzeugt, dass die notwendigen Erkenntnisse er- einmal möglich ist. Wir haben dies zu tun aus der Ver-
arbeitet werden. Ebenso überzeugt bin ich, dass die For- antwortung für unser Land und aus der Verantwortung
schungsstrukturen und die Studien auch in diesem Be- für die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren Steuern
reich einen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten Schlimmeres für das Allgemeinwohl in dieser Krise ver-
werden. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass das hindert haben.
Ganze auch in finanzieller Hinsicht mit einem gewalti-
gen Forschungsaufwand verbunden ist: Die Bundesre- (Manfred Zöllmer [SPD]: Geht es auch eine
gierung ist bereit, hier 1 Milliarde Euro einzusetzen. Nummer kleiner?)

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) Vor allem die Kreditinstitute selbst haben jedoch die
Verantwortung für die Stabilität des Finanzmarktes zu
Es wird sichtbar, dass wir größten Wert auf die Patien- übernehmen. Wir haben Instrumente geschaffen, um
tensicherheit und vor allen Dingen auf die Patientenori- Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, in einem
entiertheit unseres Gesundheitssystems legen. geordneten Verfahren zu sanieren oder abzuwickeln. Die
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Erfahrungen mit der Insolvenz der Investmentbank
Lehman Brothers haben gezeigt, dass gerade auch mit-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) telgroße, aber stark vernetzte Banken Einfluss auf das
Finanzsystem und die gesamte Stabilität haben können.
Vizepräsident Eduard Oswald: Durch staatliche Stabilisierungsmaßnahmen, die die
Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Weitere Wort- Fortführung des Geschäftsbetriebs ermöglichen, wurden
meldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. negative Folgen für die Stabilität des Finanzmarktes
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf wirksam vermieden. Die Erfahrungen haben gezeigt,
Drucksache 17/5119 an die in der Tagesordnung aufge- dass Restrukturierung und geordnete Abwicklung sys-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- temrelevanter Banken regelmäßig finanzielle Mittel er-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung fordern werden. Diese Mittel sollen nicht allein – wie in
so beschlossen. der Vergangenheit – durch die öffentliche Hand, sondern
vorrangig durch den Finanzsektor selbst bereitgestellt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: werden.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir haben im Zuge der sogenannten Bankenabgabe (D)
(B)
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu im letzten Jahr das Restrukturierungsfondsgesetz be-
der Verordnung der Bundesregierung schlossen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde ein
Verordnung über die Erhebung der Beiträge Restrukturierungsfonds als Sondervermögen des Bundes
zum Restrukturierungsfonds für Kreditinsti- errichtet, der von der Bundesanstalt für Finanzmarktsta-
tute (Restrukturierungsfonds-Verordnung – bilisierung verwaltet wird. Aus dem Fonds werden die
RStruktFV) künftigen Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnah-
men bei systemrelevanten Banken finanziert.
– Drucksachen 17/4977, 17/5122 Nr. 2, 17/5401,
17/5405 – Das Gesetz sieht vor, die Mittel des Fonds durch Jah-
resbeiträge und gegebenenfalls Sonderbeiträge der bei-
Berichterstattung: tragspflichtigen Kreditinstitute anzusammeln. Es regelt
Abgeordnete Ralph Brinkhaus die wesentlichen Eckdaten für die Erhebung der Bei-
Manfred Zöllmer träge. Die weitere Ausgestaltung wird in der heute zur
Björn Sänger Debatte stehenden Rechtsverordnung geregelt, die der
Dr. Barbara Höll Finanzausschuss in seiner gestrigen Sitzung ohne Ände-
Dr. Gerhard Schick rungen übernommen hat und die jetzt zur Abstimmung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die steht.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Bei der Ausgestaltung der Bankenabgabe gibt es nicht
keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. nur verfassungsrechtliche Gründe zu beachten, dass die
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster Lasten unter den Kreditinstituten auch angemessen und
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter gerecht verteilt werden. Auch die Europäische Kommis-
Aumer. – Bitte schön, Kollege Peter Aumer. sion achtet genau darauf, ob einzelne Banken bei der
Bankenabgabe bevorzugt werden; denn das könnte eine
(Beifall bei der CDU/CSU) unzulässige Beihilfe sein. Vor diesem Hintergrund ist
auch die Nacherhebungsregelung zu sehen, die einen
Peter Aumer (CDU/CSU): Ausgleich zwischen Banken mit volatilen und Banken
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Da- mit stabilen Erträgen schafft. Änderungen bei dieser Re-
men und Herren! Verantwortung übernehmen, das ist vor gelung müssen daher gut begründet werden, um einsei-
allem die Lehre, die wir aus der Finanz- und Wirtschafts- tige Begünstigungen bestimmter Banken und Geschäfts-
krise gezogen haben. Diese Verantwortung haben wir als modelle zu vermeiden.
11750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Peter Aumer
(A) Generell können wir festhalten, dass Deutschland in ich mir die vorliegende Verordnung genauer anschaue, (C)
diesem Punkt Maßstab für Europa ist. Die EU-Kommis- dann glaube ich: Dieser Satz wird bald genauso der Ver-
sion hat unser Modell aufgegriffen und plant, einen EU- gangenheit angehören wie das Versprechen der Kanzle-
weiten Krisenmechanismus nach deutschem Vorbild ein- rin, die Banken zur Finanzierung der Krise heranzuzie-
zuführen. Das zeigt, dass die christlich-liberale Koalition hen. Dieses Versprechen hat sich inzwischen in heiße
auf dem richtigen Weg ist und ihrer Verantwortung für Luft aufgelöst, wie so vieles, was von dieser Bundesre-
unser Land gerecht wird. gierung versprochen wurde. Herr Aumer hat eben noch
einmal bekräftigt, dass die Koalitionsfraktionen ihre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verantwortung für die Banken wahrnehmen wollen.
Darüber hinaus können wir der Forderung der Oppo- (Björn Sänger [FDP]: Und für die Menschen! –
sition nicht folgen, die eine Bankenabgabe in Höhe von Peter Aumer [CDU/CSU]: Genauer aufpas-
20 bis 25 Prozent des Bankengewinns einführen will. sen!)
Wir haben auch Verantwortung für die Kreditinstitute in
unserem Land, denn auch sie sind eine tragende Stütze Liebe Kolleginnen und Kollegen, Basis der Verord-
und ein tragender Pfeiler für unser Wirtschaftssystem. nung, über die wir jetzt diskutieren, ist das Restrukturie-
rungsgesetz, das bereits von der Mehrheit des Bundesta-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die haben es ges verabschiedet worden ist. Mit diesem Gesetz sollte
ausgelöst!) die „Too big to fail“-Problematik angegangen werden
– Die haben es ausgelöst, das stimmt; aber trotzdem sind und die Banken an den Kosten der Krise beteiligt wer-
sie wichtig, damit das ganze Wirtschaftssystem am Lau- den. Der erste Teil des Gesetzes beruht auf den Arbeiten
fen gehalten werden kann. Man muss sie natürlich mit von Frau Zypries, der damaligen Justizministerin, und
heranziehen, aber man darf sie auch nicht über Gebühr des damaligen Finanzministers Steinbrück.
strapazieren. (Beifall bei der SPD)
Nicht der Steuerzahler soll in Zukunft für das Miss- – Das ist, glaube ich, wirklich noch einen Beifall wert.
management der Banken aufkommen, so wie dies vor
zwei Jahren der Fall war, sondern die Kreditinstitute Das Bundeskabinett hat am 2. März 2011, basierend
müssen ihrer Verantwortung nachkommen und ihren auf einer entsprechenden Ermächtigung im Restrukturie-
Beitrag für die Stabilität des Finanzmarkts leisten. Nie- rungsfondsgesetz, die Restrukturierungsfonds-Verordnung
mand kann genau sagen, wie die Wirkung der Bankenab- beschlossen. Auf dieser Grundlage soll zukünftig die
gabe ausfallen wird. Deswegen ist es auch absurd, Maxi- Bankenabgabe erhoben werden. Ziel der Bundesregie-
malforderungen zu stellen, wie Sie das tun, meine sehr rung war – so wurde es formuliert –, die Steuerzahlerin-
(B) geehrten Damen und Herren in der Opposition. Wir wer- nen und Steuerzahler davor zu schützen, bei zukünftigen (D)
den die Wirkungen der heute zu beschließenden Verord- Krisen zahlen zu müssen.
nung beobachten und schauen, ob Änderungen notwen-
dig sind. Wenn dies der Fall ist, werden wir Änderungen Wird nun alles gut?
vornehmen. (Björn Sänger [FDP]: Ja!)
Wir sichern durch diese Verordnung die weitere Sta- Können wir Entwarnung geben?
bilität der Finanzmärkte und teilen die Kosten auf 1 990
beitragspflichtige Kreditinstitute anteilsmäßig und ge- (Björn Sänger [FDP]: Ja!)
recht auf. Das glauben Sie doch selber nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi- (Björn Sänger [FDP]: Doch!)
tion, werden auch Sie Ihrer Verantwortung gerecht und
stimmen Sie der vorliegenden Restrukturierungsfonds- Wir haben doch eben gehört: Die Banken sollen ge-
Verordnung zu! schützt werden, nicht die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD – Peter Aumer [CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CSU]: Sie sollten wirklich schlauer sein! Das
ist ja billig!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Die vorliegende Verordnung führt auf absehbare Zeit
Vielen Dank, Kollege Peter Aumer von der Fraktion nicht dazu, den Steuerzahler zu entlasten. Die vorgese-
CDU/CSU. – Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokra- hene Bankenabgabe ist viel zu gering, um dieses politi-
ten unser Kollege Manfred Zöllmer. – Bitte schön, Kol- sche Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung geht bei der
lege Manfred Zöllmer. Bankenabgabe von circa 1 Milliarde Euro an Einnahmen
(Beifall bei der SPD) pro Jahr aus. Das bedeutet, dass man 70 bis 100 Jahre
warten muss, bis eine entsprechende Summe zur Verfü-
gung steht, um eine mögliche neue Finanzkrise zu finan-
Manfred Zöllmer (SPD):
zieren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Regierung will nicht mehr für Banken einspringen“, so (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wol-
titelte Spiegel-Online am 31. März dieses Jahres. Wenn len auch nichts überstürzen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11751
Manfred Zöllmer
(A) – Ja, das scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. – hobenen Bankenabgabe reicht bei weitem nicht aus, um (C)
Für diesen langen Zeitraum bleiben nach wie vor der eine angemessene Belastungsverteilung zu gewährleis-
Steuerzahler und die Steuerzahlerin in der Verantwor- ten.
tung.
(Frank Schäffler [FDP]: Was wäre denn Ihr
Die Restrukturierungsfonds-Verordnung präzisiert die Vorschlag?)
Vorgaben des Gesetzes für die Erhebung der Bankenab-
gabe hinsichtlich der Abgabesätze und der Zumutbar- – Wir sind nicht in der Regierung. Wir sprechen über Ih-
keitsgrenze. Die Abgabesätze werden gestaffelt. Je grö- ren Vorschlag.
ßer das Geschäftsvolumen einer Bank ist, desto höher ist
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP:
der Jahresbeitrag, in entsprechenden Stufen. Außerdem
Ah! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann ist
werden bestimmte Termingeschäfte berücksichtigt.
es auch besser, dass Sie nicht in die Regierung
Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze. Der Jahresbeitrag kommen!)
wird bei 15 Prozent des Jahresüberschusses gekappt.
Auf jeden Fall soll aber ein Mindestbeitrag in Höhe von – Ja, nun mal ganz ruhig bleiben. Wir haben unseren
5 Prozent des regulären Jahresbeitrags erhoben werden. Vorschlag in der letzten Sitzung des Finanzausschusses
Banken, die in einem Jahr aufgrund der Zumutbarkeits- gemacht, und ich werde gleich noch darauf eingehen. Sie
grenze keinen vollen Jahresbeitrag oder nur den Min- waren bei der Sitzung nicht dabei, deswegen können Sie
destbeitrag gezahlt haben, müssen die gekappten Bei- das auch nicht wissen.
träge nachzahlen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ich bin ja auch
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Hauptkritik- nicht Mitglied des Finanzausschusses!)
punkt bleibt: Das zu erwartende Aufkommen der Ban-
Die Deckelung von 15 Prozent schwächt die eigent-
kenabgabe ist zu gering, um den Finanzbedarf bei der
lich vorgesehene Ausrichtung der Beitragserhebung am
Restrukturierung systemrelevanter Banken decken zu
systemischen Risiko einer Bank in deutlichem Maße und
können.
begrenzt damit sehr stark das Aufkommen der Banken-
(Beifall bei der SPD) abgabe. Die Zumutbarkeitsgrenze bevorzugt Institute
mit hochvolatilen Geschäftsmodellen und damit verbun-
Das politische Ziel wird verfehlt. denen starken Ergebnisschwankungen. Damit werden in-
Sie haben darüber hinaus das Ziel einer verursacher- ternational tätige Großbanken mit hohen Renditezielen
gerechten Belastung von Banken nicht erreicht. deutlich bevorzugt. Sie werden nicht in der erforderli-
chen Weise zur Beitragserhebung herangezogen.
(B) (Zuruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]) (D)
Wir Sozialdemokraten wollen Risiken begrenzen und
– Die haben diese Bankenabgabe nicht konzipiert.
die Beiträge an der Risikogeneigtheit der Banken orien-
Schauen Sie doch einfach einmal in die Geschichte. –
tieren, wie es auch der IMF gefordert hat.
Diese Bankenabgabe schont große Banken mit ihren risi-
koreichen Geschäftsmodellen, weil die Bemessungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
grundlage zu einem ganz überwiegenden Teil nur an die
Passivseite der Bilanz anknüpft und damit lediglich die Wir haben deshalb im Finanzausschuss den Antrag ge-
Verbindlichkeiten der Bank berücksichtigt. stellt, die Zumutbarkeitsgrenze von 15 auf 25 Prozent
des Jahresergebnisses zu erhöhen.
Eine risikoorientierte Bankenabgabe, die eine stabile
und langfristig orientierte Geschäftspolitik begünstigen (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war selbst
würde, müsste auch den Risikogehalt der Forderungen den Grünen zu viel!)
einer Bank angemessen berücksichtigen. Um dies zu er-
reichen, müssten die risikobehafteten außerbilanziellen Diesen Antrag haben Sie ebenso abgelehnt wie die Än-
Geschäfte einer Bank stärker als bisher vorgesehen be- derungsanträge der Grünen zur Veränderung des Berech-
lastet werden. nungsverfahrens und zur Beteiligung des Parlaments so-
wie zu einigen anderen Punkten.
(Beifall bei der SPD)
Dieses Verhalten von Schwarz-Gelb ist aus unserer
Große Banken werden außerdem durch die in der Ver- Sicht unklug. Wir sind nicht die Einzigen, die Kritik an
ordnung enthaltene Zumutbarkeitsgrenze bevorteilt, da dem Inhalt der Verordnung haben. Es gibt eine Reihe
die Höhe der Bankenabgabe auf maximal 15 Prozent des von Bundesländern, die mit den Regelungen, die Sie
Jahresüberschusses gedeckelt ist. Nach Expertenschät- vorgeschlagen haben, nicht zufrieden sind, und das sind
zungen hätte die Deutsche Bank ohne diese Zumutbar- nicht nur rot-grün regierte Länder.
keitsgrenze etwa im Jahre 2009 eine um einen mittleren
dreistelligen Millionenbetrag höhere Bankenabgabe ent- Den Ländern wurde von Ihnen eigentlich ein Mitspra-
richten müssen. cherecht eingeräumt. Sie haben es aber versäumt, im
Vorfeld eine Abstimmung mit den Ländern vorzuneh-
(Frank Schäffler [FDP]: Was wollen Sie denn
men. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie glauben immer
machen?)
noch, Sie würden allein regieren und hätten die Mehrheit
Die nunmehr in der Verordnung vorgesehene Nach- im Bundesrat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass dies
zahlung der aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze nicht er- nicht der Fall ist.
11752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Manfred Zöllmer
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Ihnen mit die- keine Auswirkungsstudien – manche würden vielleicht (C)
ser Verordnung leider nicht gelungen, ein in sich konsis- von Impact Studies sprechen; ich wähle lieber das deut-
tentes und belastbares System einer Bankenabgabe vor- sche Wort – machen konnten. Wir alle wissen ja, wie
zulegen. Wir bedauern das. viele Studien beispielsweise zum Thema Basel II oder
auch zum Thema Basel III gemacht worden sind. Da ist
(Beifall bei der SPD) jahrelang untersucht worden, welche Auswirkungen das
jeweils auf die Branche hat.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege Manfred Zöllmer. – Jetzt Wir wissen ja noch gar nicht, was da alles kommt. Wir
für die FDP-Fraktion Kollege Björn Sänger. – Bitte haben Basel III. Wir haben Kapitalaufschläge für sys-
schön, Kollege Sänger. temrelevante Institute. Wir haben eine Finanzmarkt-
steuer. Wir haben eventuell höhere Kosten aus der Einla-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gensicherung. Wir wissen auch noch gar nicht, welche
der CDU/CSU) Auswirkungen sich aus anderen Regulierungen auf die
Branche ergeben, zum Beispiel Solvency II. Die Summe,
Björn Sänger (FDP): die dabei unterm Strich herauskommt, kennen wir nicht.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wir befinden uns also in einer Situation der Unsicherheit.
ren! Was hier vorliegt, ist der zweite Schritt nach dem Was macht man, wenn man unsicher ist? Man agiert vor-
Bankenrestrukturierungsgesetz. Die Verordnung regelt sichtig. Kein Autofahrer würde auf die Idee kommen, bei
technische Details. Die grundsätzlichen Entscheidungen Nebel voll aufs Gas zu drücken. Diejenigen, die das den-
wurden bereits im Gesetz getroffen. Ich sage das hier so noch tun, machen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr
deutlich, weil es von interessierter Seite immer wieder schnell Bekanntschaft mit einem Helfer. Im glimpflichs-
den Versuch gab, über den Verordnungsweg Dinge zu re- ten Fall ist es der Gelbe Engel vom ADAC, im schlimme-
geln, die eigentlich im Gesetz abschließend geregelt ren Fall ist es die Feuerwehr oder auch der Notarzt. Über-
sind. Das betrifft insbesondere die Frage der Bemes- tragen auf die Finanzbranche bedeutet das: Der Staat
sungsgrundlage der Bankenabgabe. muss wieder eingreifen, wenn wir die Unternehmen über
Gebühr belasten. Es hilft uns nichts, wenn wir sie mit der
Das Bankenrestrukturierungsgesetz – ich denke, das Bankenabgabe am Ende des Tages erdrosseln.
kann man hier auch einmal mit einem gewissen Selbst-
bewusstsein sagen – ist ein Vorbild für die gesamte EU. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Deswegen sind auch die Forderungen nach einer höhe-
(B) ren Zumutbarkeitsgrenze, zum heutigen Tag zumindest, (D)
Wir sind hier Vorreiter. Eine Nachahmung auf europäi-
nicht angebracht. Wir müssen vielmehr schauen, welche
scher Ebene ist, was man so hört, durchaus angedacht
Auswirkungen diese Bankenabgabe auf die Branche ha-
und auch wünschenswert. Darauf können wir sicherlich
ben wird. Wir von den Koalitionsfraktionen – Kollege
alle gemeinsam stolz sein. Sollte es auf EU-Ebene zu ei-
Aumer hat es schon gesagt – sind die Garanten dafür, dass
ner Regelung kommen, die sich der deutschen Regelung
man sich das sehr genau anschaut, und stellen auch sicher,
anpasst, wird damit auch das Problem einer eventuellen
dass hier in die eine oder andere Richtung nachgesteuert
Doppelbelastung von international agierenden Finanzun-
wird. Daher ist das von den Grünen vorgesehene Trans-
ternehmen gelöst. Man muss nämlich fairerweise sagen,
parenzgebot an dieser Stelle überhaupt nicht notwendig.
dass wir, auch wenn die Bundesregierung dankenswer-
terweise schon intensiv daran arbeitet, dieses Problem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
noch nicht direkt im Griff haben. der CDU/CSU)
Was ich bei unserer Regelung ausgesprochen gut Herr Kollege Zöllmer, es ist natürlich richtig, dass wir
finde, ist, dass die Mittel nicht im allgemeinen Haushalt eine Verantwortung für die Banken übernehmen. Es
verschwinden, sondern in einen Fonds eingezahlt wer- wundert mich aber, dass Sie trotz Ihrer stattlichen Kör-
den, sodass dann die Branche in der Tat für mögliche pergröße nicht in der Lage sind, über den sozialdemo-
Probleme selber zahlt. Hier ist Deutschland Vorreiter, kratischen Tellerrand hinauszublicken. Für ein Finanz-
und das ist auch gut so. unternehmen ist es doch von entscheidender Bedeutung,
Aber diese Vorreiterrolle bringt auch eine gewisse Gewinne zu erwirtschaften; denn ein Gewinn bedeutet,
Unsicherheit mit sich, weil wir noch nicht genau wissen, dass man Geld zurücklegen und damit die Eigenkapital-
welche Auswirkungen diese Abgabe am Ende des Tages basis stärken kann. Ein Gewinn bedeutet ferner, dass
auf die Finanzunternehmen haben wird. Wir haben hier man für Investoren attraktiv wird, wodurch die Eigenka-
schnell reagiert. Das war allgemein gewünscht. Diese pitalbasis ebenfalls gestärkt wird. All das bedeutet unter
Regierung ist handlungsfähig dem Strich Krisenprävention.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
CDU/CSU) der CDU/CSU)
und hat in einer ausgesprochen guten Geschwindigkeit Deswegen ist es wichtig, dass die Unternehmen der Fi-
ein gutes Gesetz mit einer entsprechend guten Verord- nanzbranche in Deutschland weiterhin Gewinne machen
nung vorgelegt, aber natürlich zu dem Preis, dass wir können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11753
Björn Sänger
(A) Wenn die Banken Gewinne machen, dann sind sie tung von Banken zu machen. Letztlich werden die Kos- (C)
auch in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen, näm- ten der nächsten Krise wieder bei den Steuerzahlerinnen
lich ihre Finanzierungsfunktion zu erfüllen und Unter- und Steuerzahlern hängen bleiben.
nehmen entsprechende Dienstleistungen anzubieten. Sie
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Skandalös!)
müssen die Unternehmen, insbesondere den Mittelstand,
dabei unterstützen, globale Geschäfte zu tätigen. So kön- Das Verursacherprinzip wird auch branchenintern ver-
nen Arbeitsplätze in der Realwirtschaft gesichert wer- letzt: Sparkassen und Genossenschaftsbanken werden
den. Die Erfüllung dieser Aufgaben müssen wir von den mit der Verordnung in einen Haftungsverbund gezwun-
Banken letzten Endes fordern. gen, von dem sie wegen ihrer Institutssicherung nicht
Dieses gemeinsame Ziel hat die Koalition mit dem wirklich profitieren. Das ist wie eine verbindliche kollek-
Bankenrestrukturierungsgesetz und mit der vorliegenden tive Brandschutzversicherung, in die auch Iglubewohner
Verordnung erreicht. Die Verordnung ist sinnvoll. Sie einzahlen müssen.
können deswegen der Beschlussempfehlung des Aus- (Beifall bei der LINKEN)
schusses getrost zustimmen.
Zudem verfehlt die Bankenabgabe auch ihre Len-
Herzlichen Dank. kungswirkung. Kurzfristige spekulative Aktivitäten, die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris sich nicht über den Bilanzstichtag erstrecken, werden
Gleicke [SPD]: Es geht aber nur um Kenntnis- nicht erfasst. Langfristige Absicherungsgeschäfte werden
nahme! Wir stimmen nicht einer Verordnung dagegen mit Sicherheit erfasst. Eine Lenkungswirkung
zu!) zugunsten realwirtschaftlich geerdeter Bankgeschäfte
sieht doch ganz anders aus.
Vizepräsident Eduard Oswald: (Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Jetzt spricht für
Darüber hinaus ist die Progression der Beitragssätze
die Fraktion Die Linke unser Kollege Axel Troost. –
viel zu gering, um die Vorteile aufzuwiegen, die aus der
Bitte schön, Kollege Axel Troost.
günstigeren Refinanzierung systemrelevanter Banken er-
(Beifall bei der LINKEN) wachsen. Überhaupt sind wir gespannt, zu erfahren, wie
letztendlich dieses Fondsvermögen angelegt werden soll,
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): damit es im Falle einer Finanzkrise ohne erhebliche Wert-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verluste abgerufen werden kann. Es müssen immerhin
lehnen die Verordnung ab, da sie keine ausreichenden 70 Milliarden Euro irgendwo angelegt werden.
(B) Mittel für die Abwicklung systemrelevanter Banken be- Der Internationale Währungsfonds schreibt völlig zu (D)
reitstellt und schon das zugrunde liegende Bankenre- Recht – ich zitiere –:
strukturierungsgesetz praxisuntauglich war.
Das Finanzsystem ist immer noch krisenanfällig,
(Beifall bei der LINKEN) aber die Finanzinstitute sind noch größer und kom-
Mit ihrer Versicherungslösung will die Bundesregie- plexer geworden.
rung den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. Die logi- Auch in Deutschland ist die Anzahl der Kreditinsti-
sche Antwort auf die Krise wäre aus unserer Sicht doch tute seit Jahren rückläufig. Die Größe der Institute nimmt
gewesen, erstens die Finanzbranche für die Kosten der dagegen zu. Mit der Finanzkrise hat sich die Konzentra-
jüngsten Krise zahlen zu lassen, zweitens zugleich die tion im Bankenwesen durch zahlreiche Übernahmen
Systemrelevanz einzelner Banken ganz aufzuheben oder noch einmal sprunghaft erhöht.
zumindest deutlich zu verringern und erst dann drittens
über eine Versicherungslösung für Restrisiken nachzu- Die Lehre aus der Vergangenheit ist, dass man umfal-
denken. lende Großbanken nicht durch ein Insolvenzregime ret-
ten kann, ohne dabei erhebliche Kollateralschäden in
(Beifall bei der LINKEN) Kauf zu nehmen. Die logische Konsequenz daraus ist,
Die vorgelegte Verordnung kann dagegen nur die Basis stattdessen große Banken zu schrumpfen, entweder auf
für einen unzulänglich ausgestatteten Krisenfonds legen. direktem oder auf indirektem Weg. Das heißt, das Re-
Zu allem Ärger wird dieser noch nicht einmal risikoge- strukturierungsgesetz und die dazugehörende Verord-
recht finanziert. nung sind aus unserer Sicht überhaupt kein geeignetes
Mittel, und alle hierzu gemachten Vorschläge der Bun-
Die Zielgröße des Restrukturierungsfonds liegt bei desregierung greifen viel zu kurz.
70 Milliarden Euro. Wir haben es schon gehört: Bei Ein-
zahlungen in Höhe von 1 Milliarde Euro pro Jahr wäre (Beifall bei der LINKEN)
der Fonds frühestens kurz vor Ende des Jahrhunderts ge- Wir lehnen deshalb die vorgelegte Verordnung als
füllt. Der Fonds ist also auf absehbare Zeit nicht voll. völlig unzureichend ab. Die Linke ist aber gerne bereit,
Selbst dann wäre die angesammelte Summe zu gering, an entsprechenden Schritten zur Lösung der wirklichen
um eine systemrelevante Bank aufzufangen. Letzteres Probleme mitzuarbeiten.
räumt sogar die Bundesregierung ein.
Danke schön.
Gleichzeitig sträubt sich die Bundesregierung hart-
näckig, Vorschläge für eine Schrumpfung oder Aufspal- (Beifall bei der LINKEN)
11754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Der dritte Punkt bei der Steuerung ist die Frage: Wie (C)
Vielen Dank, Herr Kollege Axel Troost. – Jetzt hat für gehen wir mit den Derivaten um? Wir haben im Aus-
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege schuss extra erfragt, wie hoch deren Anteil bei der Be-
Dr. Gerhard Schick das Wort. Bitte schön, Kollege messungsgrundlage ist. Es gibt zwei Bemessungsgrund-
Dr. Gerhard Schick. lagen. Die eine ist im Grunde genommen die Größe der
Bilanz, und die andere ist die Menge der Derivate. Der
Satz auf Derivate führt nach Berechnungen der Deut-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen Bundesbank für die letzten Jahre dazu, dass im
NEN): Durchschnitt nur etwa 6 Prozent des Aufkommens auf
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir den Derivatebereich entfallen. Wir wissen aber, dass bei
haben hier vor einigen Monaten das Restrukturierungs- der Abwicklung gerade Derivate eine besondere Schwie-
gesetz diskutiert. In diesem Rahmen ist die Grundlage rigkeit darstellen. Wir wissen, dass es da zu Konstruktio-
dafür geschaffen worden, dass der Bundestag jetzt aus- nen kommt, die die Finanzmärkte in Schwierigkeiten
nahmsweise über eine Verordnung diskutieren kann. Es bringen. Deswegen sagen wir: Wir müssen den Satz auf
geht jetzt nur noch um die Ausgestaltung der Bankenab- die Derivatepositionen deutlich anheben.
gabe, die den Fonds füllen soll, mit dem Banken gerettet
Dazu nur ein Beispiel: Bei der WestLB beläuft sich
werden sollen.
das Derivatevolumen insgesamt auf 2 300 Milliarden
Die Grundproblematik, dass es irgendwie nicht stim- Euro. Das führt nach Ihrer Berechnung jetzt lediglich zu
mig ist, wer einbezogen ist und wer nicht, haben wir da- einem Beitrag zur Bankenabgabe in Höhe von 3,4 Mil-
mals thematisiert. Was man aber heute noch ändern lionen Euro. Das halten wir für zu gering.
könnte, sind die Höhe des Aufkommens und die Len- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kungswirkung, die von der Bankenabgabe ausgeht. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen haben wir Änderungsvorschläge gemacht. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt
Sie von der Koalition haben die Vorschläge abgelehnt, eingehen, damit ganz klar wird, welche Frage nach die-
durch die genau diese zwei Defizite geheilt werden ser Verordnung noch offen ist.
könnten. Das Defizit „zu gering“ ließe sich dadurch hei-
len, dass man die Zumutbarkeitsgrenze anhebt, sich also Am Anfang hieß es: Die Bankenabgabe dient dazu,
fragt, wie viel von dem Gewinn eine Bank insgesamt ab- dass die Banken für die Kosten der jetzigen Finanzkrise
geben muss. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass Sie in zahlen. Diese Bankenabgabe leistet das nicht. Sie füllt
Sorge sind, dass trotz der inzwischen teilweise schon einen Fonds für die Zukunft. Deswegen ist die Frage,
(B) wieder erreichten Milliardengewinne hier eine zu große wer die Kosten dieser Krise trägt, nach wie vor offen. (D)
Belastung entsteht. Wir teilen das nicht. Wir glauben, Auf diese Frage muss die Bundesregierung noch eine
dass es notwendig ist, diese Grenze anzuheben, um das klare Antwort geben. Denn wir haben die Befürchtung,
Aufkommen zu erhöhen. Nach den Berechnungen der dass es sonst die kleinen Leute in diesem Land trifft, die
Bundesregierung wären das bei unserem Vorschlag bis schon in Form von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder
zu 20 Prozent. Das würde die Frist verkürzen, die wir Verlusten bei ihren Geldanlagen schwer an dieser Krise
brauchen, um diesen Fonds wirklich einsatzfähig zu ma- zu tragen hatten. Deshalb darf das nicht passieren.
chen. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das Zweite ist: Wir wissen, dass das zentrale Problem
die besonders großen Banken sind. Am Anfang hieß es Vizepräsident Eduard Oswald:
noch, alle Banken könnten mit diesem Restrukturie- Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Jetzt für
rungsgesetz gerettet werden. Inzwischen geben auch Sie die Fraktion der CDU/CSU Kollege Ralph Brinkhaus. –
zu, dass das bei den großen Banken nicht funktioniert. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
Deswegen wollen wir hier einen Schritt in die Richtung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
machen, dass wir eine Größenbremse für besonders
große Banken schaffen. Wir wollen, dass große Banken
überproportional belastet werden; denn sie stellen auf- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
grund der Systemrelevanz besonders große Risiken dar. Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Wir schlagen vor, die Abgabe progressiv ansteigen zu ren! Zur Frage von Herrn Schick, wer die Kosten der
lassen, damit besonders große Banken stärker belastet vergangenen Krise trägt: Am besten ist es natürlich,
sind. Das tun Sie nur bis zu einem geringen Maße, näm- wenn es so abläuft wie jetzt mit der Commerzbank,
lich bis zu der 100-Milliarden-Schwelle. Wir wollen das wenn also das Geld, das der Staat eingelegt hat, wieder
weiter anheben. Dadurch steigern wir das Aufkommen zurückgezahlt wird. Das hat geklappt, und das muss man
und bremsen die Größenentwicklung bei Banken, weil an dieser Stelle auch einmal anerkennen.
große Banken dann teurer sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Ich bin sehr dankbar für den Hinweis, dass wir heute
bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) über die Verordnung reden und nicht über das Gesetz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11755
Ralph Brinkhaus
(A) Die eine oder andere Diskussion hätten wir uns dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
sparen können. Die hätten wir vor einem halben Jahr
führen müssen oder können, aber nicht an dieser Stelle. Zurück zu meiner Rede. Im Allgemeinen ist kritisiert
Jetzt geht es einzig und allein um das Feintuning, wie die worden, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz an
Bankenabgabe tatsächlich erhoben und wie das Ganze Grenzen stößt. Das wissen wir. Wir haben das genau dis-
ausgesteuert wird. kutiert. Wir wissen, dass wir international tätige Banken
mit diesem Restrukturierungspaket nicht stützen können.
Deswegen finden wir es sehr spannend, dass ein europäi-
Vizepräsident Eduard Oswald: scher Krisenmechanismus entsteht. Wir werden diese
Herr Kollege, geben Sie dem Kollegen Dr. Schick die Diskussion begleiten. Der europäische Krisenmechanis-
Chance, eine Zwischenfrage zu stellen? mus ist eine logische Fortsetzung des Bankenrestruktu-
rierungspakets.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich gebe dem Kollegen Dr. Schick gerne eine Chance.
Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, dass eine Megakrise natürlich nicht durch die-
Vizepräsident Eduard Oswald: ses Restrukturierungspaket abgedeckt werden kann. Zu-
Dann wird er sie ergreifen. – Bitte schön, Kollege sammen mit Ihrem damaligen Finanzminister haben wir
Dr. Gerhard Schick. ein Paket von 500 Milliarden Euro aufgelegt. Das wer-
den wir nie füllen können. Deswegen wissen wir zu ge-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nau, dass die ganze Sache begrenzt ist. Das haben wir
NEN): auch immer kommuniziert.
Herr Brinkhaus, Sie haben in der Vorbemerkung kurz Nun im Einzelnen zu der Kritik, die Sie vorgebracht
gesagt, dass alles Geld zurückgezahlt worden sei. Wir haben. Die Kritik der Linken ist besonders einfach zu
sind beide Ökonomen und wissen, dass man bei der widerlegen. Ich greife nur einen Punkt heraus: Die Tat-
Commerzbank genau rechnen und genau hinschauen sache, dass Sie kritisieren, dass Sparkassen und Volks-
muss. Ich möchte Sie bitten, mir folgende Frage zu be- banken einbezogen werden sollen, obwohl sie nicht ge-
antworten: Sind die Zinsen, die auch auf Korrektur der rettet werden können, offenbart das grundlegende
EU-Kommission festgelegt worden sind, für die Jahre Unverständnis der Linken bei diesem gesamten Gesetz-
2009 und 2010 in voller Höhe gezahlt worden, oder sind gebungspaket. Es geht nicht darum, eine einzelne Bank
sie nicht gezahlt worden, und hat es dadurch eine Wett- zu retten, sondern darum, ein System zu retten, und die
bewerbsverzerrung gegeben zulasten derjenigen Banken Rettung des Systems nutzt auch den Sparkassen und (D)
(B) und Institute, die sich am Markt finanzieren müssen,
Volksbanken. Um bei Ihrer Argumentation zu bleiben:
oder nicht? Wenn Sie die Sparkassen und Volksbanken in diesem
Meine Position dazu ist klar, weil man das errechnen Zusammenhang erwähnen, müssten Sie auch die kleinen
kann: Die Zinsen sind nicht in voller Höhe gezahlt wor- Privatbanken nennen. Aufgrund Ihres gespaltenen Ver-
den, und dadurch hat es eine Wettbewerbsverzerrung ge- hältnisses zum Privateigentum ist das aber natürlich
geben. Deswegen ist es nicht aufrichtig, zu sagen, aus nicht möglich.
dieser Lage sei der Steuerzahler so herausgekommen, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!)
wie es sich gehört.
Als Lösungsansätze haben Sie im Grunde doch nur die
Zerschlagung und die Enteignung vorgebracht.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Herr Kollege Schick, Sie wissen auch, dass im Falle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der Commerzbank Folgendes passiert ist: Das Geld, das der FDP)
nominal eingelegt worden ist, wird jetzt hoffentlich zu Die eine oder andere Fraktion in diesem Haus sollte sich
einem großen Teil zurückgezahlt. Es wird eine Sonder-
einmal überlegen, ob die Linke, die in dieser Marktwirt-
zahlung geleistet, die zumindest die Refinanzierungs- schaft so mit dem Eigentum umgehen will, ein geeigne-
kosten des Steuerzahlers aller Voraussicht nach abde- ter Koalitionspartner ist.
cken wird. Insofern entsteht dem Steuerzahler in dieser
Sache unmittelbar kein Schaden. Es handelt sich eher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
um ein erfreuliches Beispiel. derspruch bei der SPD und der LINKEN)
Zu der Tatsache, dass die 9-prozentige Verzinsung in Jetzt will ich auf die Kritikpunkte eingehen, die von
den Krisenjahren nicht geleistet worden ist: Das Ganze den Rednern der Grünen und der SPD vorgebracht wor-
ist damals aus gutem Grund so angelegt worden, um der den sind. Da wurde gesagt, dass die Bankenabgabe nicht
Commerzbank die Chance zu geben, überhaupt wieder hoch genug ist. Ich denke, diese Kritik sollte man ernst
auf den richtigen Weg zu kommen. Im Übrigen partizi- nehmen. Man sollte aber auch dies ernst nehmen: Wenn
pieren wir an diesem Erfolg der Commerzbank, weil wir Sie bis zu 25 Prozent des Gewinns einkassieren wollen,
noch ein nicht unbeträchtliches Aktienpaket halten. Es zuzüglich einer 30-prozentigen Ertragsteuer – die Ban-
hätte sicherlich besser laufen können; aber so, wie es ge- kenabgabe ist nicht als Betriebsausgabe steuerlich ab-
laufen ist, ist es gut, zumindest besser als bei der Hypo setzbar –, dann werden 55 Prozent des Gewinns abge-
Real Estate oder bei anderen Geldinstituten. schöpft.
11756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Ralph Brinkhaus
(A) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was haben die Wir hatten zwei Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit (C)
uns gekostet?) war, jahrelang sogenannte Auswirkungsstudien durchzu-
führen, wie das bei Basel II und Basel III der Fall gewe-
Das kann man gut finden – das ist überhaupt keine Frage –; sen ist. Die andere Möglichkeit war, einfach anzufangen.
aber wenn man das gut findet, dann muss man auch sa- Wenn das erwartete Aufkommen nicht erzielt wird, wer-
gen, wie das gehen soll. Die Banken sollen im Normal- den wir nachjustieren. Ich denke, das ist der bessere
jahr 1,2 Milliarden Euro Bankenabgabe zahlen. Außer- Weg.
dem sollen sie 2 Milliarden Euro zum Sparpaket
beitragen. Darüber hinaus sollen sie gemäß Basel III die Deswegen ist die Kenntnisnahme richtig. Es ist rich-
Eigenkapitalquote erhöhen, was circa 50 bis 100 Milliar- tig, dass der Bundesrat jetzt Gelegenheit bekommt, dazu
den Euro kosten wird, und sie sollen die Wirtschaft, die Stellung zu nehmen. Da ich weiß, dass der Bundesrat ge-
dank der guten Politik der Bundesregierung floriert, mit nauso wie wir daran interessiert ist, dass noch in diesem
Kapital und Krediten versorgen. An dieser Stelle muss Jahr die ersten Zahlungen geleistet werden, gehe ich da-
ich einen alten westfälischen Spruch anbringen: Die von aus, dass der Bundesrat zügig einen guten Beschluss
Kuh, die man melkt, kann man nicht gleichzeitig fassen wird.
schlachten.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die christlich-liberale Koalition hat mit diesem Banken-
Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE restrukturierungspaket einen Mechanismus entwickelt
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- – wir sind die erste Nation auf der Welt, die das gemacht
frage) hat, vielleicht zusammen mit den Briten –, mit dem man
strategisch wichtige Banken abwickeln kann, ohne dass
das ganze System zusammenfällt.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Brinkhaus, ich hätte – – (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das behaup-
ten Sie!)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Sie können das kritisieren und sagen, dass man das an
Ich glaube, diese Zwischenfrage lassen wir jetzt ein- der einen oder anderen Stelle hätte besser machen kön-
mal aus. nen, und Sie können auch die eine oder andere zusätzli-
che Idee vortragen. Aber Sie sollten bitte anerkennen,
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer zahlt das dass wir uns vorangewagt haben, dass wir den ersten
Futter, und wer trinkt die Milch?) Schritt gewagt haben,
(B) Vor diesem Hintergrund könnte man eigentlich sagen, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
dass Ihre Kritik ins Leere läuft. Das sage ich aber be- NEN]: Das stimmt doch nicht!)
wusst nicht. Wir machen uns genauso wie Sie Sorgen
und eingestehen, dass das am Ende des Tages dazu füh-
und fragen uns, wie hoch das Aufkommen aus dieser
ren wird, dass sich der Mechanismus, den wir auf euro-
Bankenabgabe am Ende des Tages sein wird. Wir bewe-
päischer Ebene erarbeiten werden, an den deutschen
gen uns auf unsicherem Terrain. Die Referenzgröße war
Prinzipien orientieren wird. Das ist gut, das ist richtig,
das Jahr 2006. Im Jahr 2006 hätten wir rund 1,3 Milliar-
das ist beispielhaft, und das sollte man auch zu dieser
den Euro zusammenbekommen. Das Jahr 2006 war aber
späten Stunde an dieser Stelle einmal sagen.
vor der Krise. 2006 hatten wir eine komplett andere Ban-
kenlandschaft. Im Jahr 2006 hatten wir im Übrigen – das Danke schön.
wird uns auch noch treffen – noch kein Bilanzrechtsmo-
dernisierungsgesetz. Insofern ist unklar, in welcher Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Bankenabgabe in den nächsten Jahren gezahlt wer-
den wird. Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie können
Aussprache.
doch für 2007, 2008 und 2009 die Zahlen nen-
nen! Die haben wir doch!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu der Verordnung der Bundesregierung
Wir werden in den nächsten Jahren zusammen mit Ih- über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungs-
nen genau beobachten, wie hoch die Beiträge sind. Wir fonds für Kreditinstitute. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
haben das übrigens durch eine Verordnung geregelt, weil ner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/5401
die leichter zu ändern ist. Wir werden genau beobachten, und 17/5405, die Verordnung der Bundesregierung auf
ob diese Bankenabgabe krisenverschärfend wirkt oder Drucksache 17/4977 – dort hieß es zunächst „einver-
nicht. Wir werden auch genau beobachten, wie es mit nehmlich“; das wird jetzt in Klammern gesetzt – zur
der Nacherhebungsfrist aussieht. Ich denke, das ist gut Kenntnis zu nehmen und keine Änderungen vorzuneh-
und richtig. men. Jetzt lasse ich – das ist mit den Geschäftsführern so
An dieser Stelle kann ich nur den Kollegen Sänger vereinbart – über diese Beschlussempfehlung abstim-
von der FDP zitieren. men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Guter Mann!) ist damit angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11757
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Politiker, den
Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn, wei- wir alle gut kennen, zitieren:
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN Der Klimawandel wird sich zunehmend auf das
Bauwesen und die dazugehörige Infrastruktur aus-
Klimaschutz in der Stadt
wirken. Die Städte müssen sich deshalb frühzeitig
– Drucksache 17/5368 – auf klimatische Veränderungen vorbereiten und die
Überweisungsvorschlag: nun vorliegenden Erkenntnisse nutzen. Frischluft-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) schneisen sowie innerstädtische Grünflächen als
Innenausschuss Ausgleichs- und Entlastungsflächen werden immer
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
wichtiger.
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Haben Sie eine Idee, wer dies gesagt hat? Unser Bau-
Technikfolgenabschätzung minister Ramsauer hat das Anfang dieses Jahres bei der
Haushaltsausschuss Vorstellung einer Studie gesagt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Patrick Döring [FDP]: Guter Mann! – Peter
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Götz [CDU/CSU]: Er hat ja recht! Wo der
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Minister recht hat, hat er recht!)
Erste Rednerin ist Frau Kollegin Bettina Herlitzius
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Jetzt könnte man meinen, dass er das Problem erkannt
Frau Kollegin, Sie haben das Wort. hat. Aus seinen Aussagen könnte man diesen Schluss
ziehen. Aber wo ist das Handeln? Das Handeln fehlt.
Hier zeigen sich die großen Defizite dieser Regierung.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident, danke schön. – Meine Damen und Nach den Kürzungsorgien des letzten Jahres bei den
Herren! Nach dem großen Thema „Finanzkrise“ könnte Mitteln für die Städtebauförderung und für die KfW-För-
man meinen, dass wir jetzt zu einem ganz kleinen derung sieht es im diesjährigen Haushaltsentwurf nicht
Thema kommen, dass es bei „Klimaschutz in der Stadt“ besser aus. Auch jetzt will die Bundesregierung das
vielleicht um ein paar Büsche, ein paar Bäume und um CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW wieder auf
Fassadenbegrünung, also Lieblingsthemen der Grünen, fast null setzen, und das, obwohl die Internetseite des
(B) geht. Ich muss Sie leider enttäuschen. Klimaschutz in Ministeriums nur so strotzt vor guten Tipps, wie man (D)
der Stadt ist ein Problem, das jetzt noch ganz klein ist, energetisch saniert, und vor allen Dingen vor Hinweisen,
das aber in 10, 20, 30 Jahren zu einem immensen Pro- wie wichtig die energetische Sanierung ist.
blem für unsere Städte und Kommunen werden wird.
Dasselbe passiert im Bereich der Städtebauförderung.
50 Prozent der Bevölkerung leben aktuell in urbanen Die Mittel werden halbiert. Hier muss ich mich beson-
Räumen. 2050 werden es fast 80 Prozent sein. Der ders an den Parlamentarischen Staatssekretär Mücke
Drang in die Großstädte, in die urbanen Zentren wird wenden, der die Dreistigkeit hat, die Opposition an die-
immer größer. Das hat viele Gründe, zum Beispiel das ser Stelle aufzufordern: Jetzt kümmert euch doch einmal
intensivere soziale und kulturelle Leben und die Ver- darum, jetzt bemüht euch doch einmal, damit wir diese
wirklichung von eigenen Lebensträumen. Aber auch die Mittel wieder erhöhen können.
Arbeitssituation zwingt Menschen vermehrt in die
Städte. (Patrick Döring [FDP]: Als Parlamentarier
Unsere Städte sind die größten Energieschleudern. sind wir alle gleich!)
Sie verursachen fast 75 Prozent der jährlichen Emissio- Wer ist hier Regierung, und wer ist hier Opposition?
nen von Öl, Gas und Kohle. Sie sind der Hauptverursa-
cher des Klimawandels. Aber unsere Städte sind auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die ersten Opfer des Klimawandels. Steigende Meeres-
spiegel und große Hitze im Sommer werden zu großen Wir verdanken Herrn Mücke eine weitere Täuschung.
Katastrophen führen und haben das zum Teil auch schon Auch das Programm „Energetische Städtebausanie-
getan. Nehmen wir Frankfurt als Beispiel. Im rung“, das jetzt ganz neu über die KfW initiiert wird,
Sommerhalbjahr 2050 – das ist im Moment noch weit verheißt viel Gutes; schließlich geht es um energetische
weg, aber für unsere nachfolgende Generation sehr nah – Städtebausanierung. Aber wo ist die Finanzierung? Auf
wird die Temperatur an durchschnittlich jedem dritten der einen Seite soll die Finanzierung über die KfW bzw.
Tag über 25 Grad Celsius betragen. Was das bedeutet, den neuen Klima- und Energiefonds der Regierung er-
können Sie sich gut vorstellen. folgen. Auf der anderen Seite hören wir vom Herrn Par-
lamentarischen Staatssekretär Mücke, dass er für die
(Patrick Döring [FDP]: Dass es heiß wird!)
energetische Gebäudesanierung kein Geld mehr hat. Wir
Da reicht es nicht aus, ein paar Alleebäume zu pflanzen. wissen nicht, wie es mit der Brennelementesteuer wei-
Wir müssen unsere Städte grundsätzlich umbauen, um tergeht. Sie initiieren hier also ein Programm, ohne zu
diesen Herausforderungen gerecht zu werden. wissen, wie Sie es finanzieren wollen.
11758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Bettina Herlitzius
(A) (Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Und Sie in der Stadt“ ist ein wichtiges Zukunftsthema. Darüber (C)
fordern ein Verfahren aus Steuern, die Sie ab- sind wir uns in diesem Haus, wie ich denke, alle einig.
ziehen!) Deshalb wollen wir den Klimaschutz, liebe Frau Kolle-
gin Herlitzius, bei der anstehenden Novellierung des
Das heißt, das ganze Programm ist eine riesige Luftnum-
Baugesetzbuches im Bau- und Planungsrecht verankern;
mer.
genauso ist es übrigens auch in unserem Koalitionsver-
Mit unserem Antrag „Klimaschutz in der Stadt“ wol- trag festgeschrieben.
len wir auf die wichtigen Voraussetzungen aufmerksam
machen, die wir unbedingt erfüllen müssen, um unsere (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ja!)
Städte im Hinblick auf den Klimawandel richtig aufzu- In unseren Städten und Gemeinden wird bereits heute
stellen. Wir brauchen eine bessere Verankerung des Kli- viel für einen besseren Klimaschutz getan. Dafür sage
maschutzes im Baurecht. Wir müssen die Förderung ich ein herzliches Dankeschön an alle kommunalpoli-
kontinuierlich, vor allen Dingen verlässlich und auch für tisch Verantwortlichen vor Ort.
die Kommunen berechenbar aufbauen. Es darf kein stän-
diges Auf und Ab geben, wie es im Moment der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Vor- Ohne konkretes Handeln vor Ort sind unsere hochge-
schläge!) steckten Klimaziele nicht erreichbar. Mit dem neuen
Förderprogramm der Bundesregierung mit dem Titel
– Wenn Sie sich für unsere Vorschläge interessieren, „Energetische Städtebausanierung“, das Sie angespro-
müssen Sie nur unseren Antrag lesen, Herr Kollege. In chen haben, werden gerade im Stadtquartier umfassende
unserem Antrag steht dazu ganz viel. Maßnahmen bezüglich der Energieeffizienz der Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bäude, aber auch der Infrastruktur angestoßen. Inzwi-
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen liegen die Eckpunkte dieses KfW-Förderpro-
NEN]: Genau! Lesen müssten Sie doch wohl gramms des Bundes vor.
können!) (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die energetische Städtebausanierung muss weiter NEN]: Aber selbst Minister Ramsauer
ausgebaut werden, aber nicht mit solchen Luftnummern, schreibt, dass die Finanzierung nicht gesichert
wie Sie sie im Moment produzieren. ist!)
Entgegen der sonst üblichen Programme zur Städte-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bauförderung – da gibt es einen Unterschied; das ist rich-
(B) Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon lange abgelau- tig –, (D)
fen.
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN]: Ja!)
Danke schön, Herr Solms. Ich dachte, Sie hätten es bei denen sich Bund, Länder und Kommunen die För-
nicht gemerkt. dermittel teilen müssen, finanziert der Bund das Pro-
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gramm „Energetische Städtebausanierung“ zu
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- 100 Prozent, also allein.
KEN) Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat ferner – auch
Außerdem müssen wir uns stärker mit dem Flächenver- dies sei gesagt – zu Beginn dieses Monats mit Geldern
brauch und der Qualifizierung der am Bau Beteiligten des Bundes ein neues Förderangebot hinsichtlich einer
beschäftigen. Ich fordere Sie auf: Lesen Sie unseren An- günstigen Finanzierung energieeffizienter kommunaler
trag! Dort finden Sie viele Tipps. Sie dürfen auch ab- Beleuchtungen gestartet. Energiesparende Straßenbe-
schreiben. Wir nehmen es Ihnen nicht übel. Vielleicht leuchtung verbessert auch den Klimaschutz in der Stadt
können Sie in unserem Antrag Argumente finden, um ganz konkret und vor allen Dingen schnell.
die Regierung zu überzeugen. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Danke schön. NEN]: Aber das sind Peanuts!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Viele Kommunen beschreiten diesen Weg schon heute.
sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) Sie profitieren davon durch geringere Energiekosten
ganz erheblich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Um zum Antrag der Grünen, der zur Debatte steht
Das Wort hat der Kollege Peter Götz von der CDU/ und den wir lesen sollten, zu kommen – ich habe ihn ge-
CSU-Fraktion. lesen –: In diesem Antrag wimmelt es geradezu von For-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derungen nach neuen Vorschriften, Regulierungen und
neuen Statistiken.
Peter Götz (CDU/CSU): (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Entwickeln Sie sich aber nicht zur Da-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Klimaschutz gegen-Partei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11759
Peter Götz
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten zurück- klar und deutlich, dass dieses erfolgreiche CO2-Gebäu- (C)
haltender sein, wenn es darum geht, zu sehr in die Pla- desanierungsprogramm weiter ausgebaut werden muss,
nungshoheit der Kommunen einzugreifen. wenn wir die großen Energieeinsparpotenziale im Ge-
bäudebereich aktivieren wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unnötige bürokratische Zwänge nehmen den Kommu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen die Möglichkeit, lokal angepasste, bestmögliche Lö- Herr Kollege Götz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
sungen vor Ort zu finden. Die engagierten Akteure vor der Kollegin Herlitzius?
Ort benötigen flexible Instrumente und keine Zwangsbe-
glückung. Peter Götz (CDU/CSU):
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Sehr Ich erlaube, Herr Präsident.
richtig!)
Wenn wir wollen, dass Deutschland, wie der Bauminis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ter formulierte, zum Weltmeister im Energiesparen wird, Bitte schön, Frau Herlitzius.
ist es wichtig, unnötige Gängelei zu vermeiden. (Zuruf von der FDP: Sie hat doch gerade ge-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sprochen!)
Machen Sie also wieder gar nichts?)
Peter Götz (CDU/CSU):
Freiwilligkeit und finanzielle Anreize sind allemal bes- Sie will halt noch einmal sprechen.
ser als irgendwelche Zwänge. Das gilt für die Bürger, für
die Kommunen, für die Wirtschaft – egal ob für Eigen-
heimbesitzer, für Mieter oder für Vermieter. Wir brau- Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
chen vor Ort nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Ener- Herr Kollege Götz, nur eine Zwischenfrage.
gieeffizienz. (Zuruf von der SPD: Ist das abgesprochen?)
Durch das Konjunkturpaket II wurde die energetische Herr Ramsauer hat in seinem jetzigen Haushalt eine
Sanierung kommunaler Gebäude – von Schulen und Haushaltserleichterung. Er hat dadurch knapp
Kindergärten – mit all den vielen positiven Auswirkun- 700 Millionen Euro mehr für den Haushalt 2012 zur Ver-
gen auch für die Städte, Kreise und Gemeinden angesto- fügung. Warum steckt er diese Mittel in den Straßenbau
ßen. Auch das war übrigens ein wichtiger Beitrag für und nicht in Programme für die energetische Sanierung
den Klimaschutz. oder für den Städtebau?
(B) (D)
Außerdem haben wir das von Ihnen kritisierte CO2-
Gebäudesanierungsprogramm mit inzwischen über Peter Götz (CDU/CSU):
7 Milliarden Euro angesetzt. Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie jetzt den Haus-
halt 2011 meinen. Oder reden Sie vom Haushalt 2012?
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie kürzen da immer nur! – Bettina (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Nein, ich meine den Entwurf für 2012!)
addieren alles auf!) – Sie reden jetzt vom Jahr 2012. – Die Beratungen für
– Die 7 Milliarden Euro sind ausgegeben und haben In- den Haushaltsplan 2012 beginnen erfahrungsgemäß im
vestitionen in einer Größenordnung von 78 Milliarden Laufe des Sommers. Das Kabinett trifft seine Entschei-
Euro ausgelöst. dung in der Regel kurz vor der Sommerpause. Die parla-
mentarischen Beratungen für den Haushalt 2012 begin-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen im September. Sie werden im November dieses
NEN]: Die Vorgängerregierung!) Jahres abgeschlossen, und wenn ich richtig informiert
Neben diesen konjunkturellen Effekten für das heimi- bin, haben wir jetzt gerade April.
sche Handwerk und für die Mieter, aber auch für die Ver- Was vorgelegt worden ist, ist ein Eckpunktekatalog,
mieter haben wir erreicht, dass dadurch der CO2-Aus- und ein Eckpunktekatalog ist für mich kein Haushalts-
stoß alljährlich um 4,7 Millionen Tonnen reduziert plan.
worden ist.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie kürzen beim Straßenbau!)
NEN]: Reicht Ihnen das?)
Deshalb habe ich gerade eben gesagt: Wir müssen,
Ich frage Sie von den Grünen: Warum nehmen Sie das um die Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich zu
nicht einfach einmal zur Kenntnis? nutzen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter
ausbauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie werden initia-
Wir alle wissen – Sie vielleicht nicht oder vielleicht
tiv?)
auch doch, ich weiß es nicht –, dass die öffentlichen Mit-
tel knapp sind und dass auch der Bundeshaushalt Spar- Das war eine klare, deutliche Ansage. Da ist null zu we-
zwängen unterliegt. Trotzdem sage ich an dieser Stelle nig, um die Frage konkret zu beantworten.
11760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Peter Götz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe ders gewürdigt und ein Ausblick in die Zukunft der (C)
Beckmeyer [SPD]: Da das Parlament die Städtebauförderung gegeben.
Haushaltshoheit hat, werden Sie jetzt initia-
Auf diesen Ausblick bin ich gespannt, meine Damen und
tiv!)
Herren von den Koalitionsfraktionen, nachdem Sie die
Ich nenne einen weiteren Punkt: Wir sollten außer- Mittel für die Städtebauförderung im Haushalt zusam-
dem zur Motivation der Gebäudeeigentümer auch mengestrichen haben.
verstärkt die steuerlichen Aspekte von energetischen
(Iris Gleicke [SPD]: Wohl wahr! – Uwe
Sanierungsmaßnahmen einbeziehen. Klimaschutz und
Beckmeyer [SPD]: Ja!)
Energieeffizienz waren uns in der Vergangenheit wichtig
und sind heute wichtig. Sie werden auch bei der Weiter- Wir hören: Es soll weitere drastische Kürzungen im
entwicklung des Energiekonzepts eine ganz bedeutende nächsten Haushalt geben. Kollege Götz, so einfach, wie
Rolle spielen. Sie das gerade gemacht haben, können Sie sich nicht he-
rausreden, weil die Eckwerte immerhin vom Kabinett
Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, diese klimapoliti- beschlossen worden sind.
schen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die
kommende Novellierung des Baugesetzbuches und die (Patrick Döring [FDP]: In dieser Koalition haben
Novellierung des Bau- und Planungsrechts bieten dazu auch die Parlamentarier etwas zu sagen!)
ausgezeichnete Möglichkeiten.
– Ja, das ist natürlich richtig. Wir haben das gehört und
Herzlichen Dank. nehmen das zur Kenntnis.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dass sie etwas zu sagen haben, ist ja
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das Neueste!)
Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der – Das ist wirklich das Neueste. Ich danke den Kollegen
SPD-Fraktion. für die Zwischenrufe.
(Beifall bei der SPD – Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit einer Städtebauförderung, für die 2012 gemäß
Guter Mann! – Gegenruf von der CDU/CSU: den Eckwerten nur noch 266 Millionen Euro zur Verfü-
Er hat es nötig, dass das gesagt wird! – Weitere gung stehen könnten,
Zurufe von der CDU/CSU – Heiterkeit bei der
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: „Könnten“!)
CDU/CSU)
(B) ist der notwendige ökologische Stadtumbau und die zu- (D)
Sören Bartol (SPD): gleich notwendige soziale Integration in den Städten und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Gemeinden nicht zu leisten.
merke schon, dass die Stimmung noch gut ist. Es ist ein (Peter Götz [CDU/CSU]: Eckwerte sind nicht
wirklich wichtiges Thema, das die Grünen heute auf die in Stein gemeißelt!)
Tagesordnung gebracht haben. Klimaschutz ist eine der
großen Herausforderungen für die Städte. Zusammen Laut Ihrem eigenen sogenannten Energiekonzept will
mit dem demografischen und wirtschaftlichen Wandel die Bundesregierung die Quote für energetische Gebäu-
und den wachsenden sozialen Differenzen in und zwi- desanierung verdoppeln. Gleichzeitig streichen Sie aber
schen Städten ist Klimaschutz eine zentrale Aufgabe die Mittel für die KfW-Programme zusammen – übri-
nachhaltiger Stadtentwicklungspolitik. gens auch schon in dem von Ihnen beschlossenen letzten
Haushalt. Nun hören wir, dass in den kommenden Haus-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ halt überhaupt kein Geld mehr eingestellt werden soll,
DIE GRÜNEN) sondern dass der Energie- und Klimafonds eine wichtige
Rolle bei der Finanzierung der Gebäudesanierung spie-
Gemeinsam mit den Ländern und mit den Städten und
len soll.
Gemeinden trägt der Bund Verantwortung für die um-
welt- und klimafreundliche sowie sozialintegrierende (Patrick Döring [FDP]: So ist es!)
Entwicklung von Städten und Gemeinden, eine Verant-
wortung, der diese Bundesregierung, allen voran das zu- Dass das eine sichere Finanzierung ist, haben im Ok-
ständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- tober schon die Experten bezweifelt.
entwicklung, leider in keiner Weise gerecht wird. (Iris Gleicke [SPD]: Das bezweifelt auch der
Minister!)
(Patrick Döring [FDP]: Falsch!)
Inzwischen glaubt das doch selbst Ihr eigener Minister
Für Oktober lädt das Ministerium zum 5. Bundes-
nicht mehr.
kongress Nationale Stadtentwicklungspolitik ein. In der
Einladung heißt es so schön: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
2011 ist das Jahr, in dem die Städtebauförderung,
ein wichtiger Baustein der Nationalen Stadtent- Peter Ramsauer schreibt in dem Liebe-Freunde-Brief
wicklungspolitik, 40 Jahre alt wird. Die Leistungen – ich muss jetzt einmal zitieren –: Wie sich angesichts
dieser Programme … werden deswegen … beson- der neuen Sachlage diese Fondszuschüsse tatsächlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11761
Sören Bartol
(A) entwickeln, ist angesichts der aktuellen Situation kaum (Patrick Döring [FDP]: 7,5 Milliarden Euro (C)
absehbar. Zudem sind in dem Sondervermögen aus- Regionalisierungsmittel!)
schließlich Mittel für Zinsverbilligungen eingestellt, so-
Wir brauchen an dieser Stelle doch einen Masterplan
dass ab 2012 keine investiven Zuschüsse mehr vergeben
Personenverkehr!
werden könnten.
Dass eine solche umwelt- und klimafreundliche Ver-
(Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!) kehrspolitik in Peter Ramsauer keinen Fürsprecher hat,
Dies würde insbesondere die Häuslebauer treffen. – Das zeigt sich doch anhand von zwei Beispielen:
ist ein Originalzitat des Briefes von Bundesminister Erstes Beispiel. Noch vor 2014 steht nicht nur die Re-
Ramsauer. So verunsichert man doch Investoren und Ei- vision der ehemaligen Gemeindeverkehrsfinanzierung,
gentümer, liebe Koalition. sondern auch die Revision der Regionalisierungsmittel
an.
(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)
(Patrick Döring [FDP]: Das läuft aus! Das
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der darf die wird nicht revidiert!)
Energieeinsparpotenziale bei Gebäuden nicht so sträflich
vernachlässigen, wie diese Regierung das tut. Bisher vermisse ich jegliche Aussage der Regierung
dazu, wie sie eine ausreichende Finanzierung kommuna-
(Beifall bei der SPD) ler Verkehrsinvestitionen und des öffentlichen Nahver-
kehrs nach 2014 sichern wird.
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss
die Kraft-Wärme-Kopplung und quartiersbezogene Lö- (Patrick Döring [FDP]: Entflechtungsgesetz!
sungen der Energie- und Wärmeversorgung in nennens- Dem habt ihr auch zugestimmt!)
wertem Umfang fördern. Sie und wir alle sollten die No-
velle zum Baugesetzbuch nutzen, um den Kommunen Dem öffentlichen Nahverkehr fehlt nicht nur eine si-
klimaschützende Maßnahmen zu erleichtern. chere finanzielle Basis, sondern auch ein sicherer
Rechtsrahmen. Nun endlich hat das Ministerium einen
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss Entwurf für die Novelle zum Personenbeförderungsge-
die Energieeffizienz deutlich erhöhen. Wenn Sie es nur setz vorgelegt, der den Anforderungen hinsichtlich einer
wollten, dann könnten Sie die Energieeffizienz bis 2020 rechtssicheren Umsetzung der Verordnung jedoch in kei-
verdoppeln. Unser Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch. ner Weise genügt. Was noch schwerer wiegt: Die kom-
Wir wollen einen Energieeffizienzfonds schaffen, der es munale Verantwortung für die Daseinsversorgung wird
zum Beispiel Haushalten mit einem geringen Einkom- durch diesen Entwurf untergraben. Ich hoffe nur, dass
(B) men ermöglicht, alte, stromschluckende Geräte durch dieser Entwurf am Ende des Tages so nicht in das Ge- (D)
neue, energiesparende zu ersetzen. setzblatt kommt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Iris Gleicke [SPD]: Schauen wir einmal, was
DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Eine die Parlamentarier dazu sagen!)
Abwrackprämie für Fernseher und Kühl- Das zweite Beispiel ist mein Lieblingsbeispiel, weil
schränke!) ich seit Jahren dafür kämpfe. Seit Jahr und Tag fordern
Wer es ernst meint mit der Energiewende, Kollege wir, den Kommunen die Einrichtung von Carsharing-
Döring, der muss die Energieversorgung in kommunaler Parkplätzen zu ermöglichen. So gut wie alle vom Städte-
Hand stärken; denn es sind doch die Stadtwerke, die die tag bis zum ADAC sind dafür. Das war das eindeutige
erneuerbaren Energien mit vorangebracht haben. Ergebnis der Anhörung im Verkehrsausschuss im De-
zember. Bisher gibt es immer noch keine Initiative der
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Regierungsfraktionen, um diese kleine, aber sehr wich-
Sehr wettbewerbsorientiert!) tige ordnungspolitische Maßnahme auf dem Weg in die
Mobilität der Zukunft umzusetzen.
– Ja, das sagen die Richtigen. – Stattdessen hat die Re-
gierung einen teuren und immer teurer werdenden Deal (Beifall bei der SPD)
mit den Stromkonzernen gemacht, durch den diese Be- Wenn wir ehrgeizige Ziele wie die im EU-Verkehrs-
mühungen ausgebremst werden. Geben Sie den Stadt- weißbuch geforderte völlige Abschaffung der mit kon-
werken doch Planungssicherheit für ihre Investitionen in ventionellem Kraftstoff betriebenen Pkws in Städten bis
erneuerbare Energien und faire Wettbewerbsbedingun- 2050 erreichen wollen,
gen.
(Patrick Döring [FDP]: Das macht ihr euch zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) eigen, ja?)
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss brauchen wir einen breitangelegten Ideenwettbewerb für
aber auch eine umwelt- und klimaverträgliche Mobilität städtische Mobilitätskonzepte. Ob Shared Space, wie es
fördern. Ein Finanzierungskreislauf Straße dient dem ge- im Grünenantrag steht, hier das beste Mittel der Wahl ist,
wiss nicht. Wir brauchen eine konsequente Förderung weiß ich nicht. Ich denke, es muss darum gehen, mit Be-
von öffentlichem Nahverkehr, Fahrradfahren, Zu-Fuß- teiligung der Menschen vor Ort integrierte Konzepte für
Gehen, innovative Formen der Automobilität und deren Mobilität und Wohnen zu entwickeln. Aus der sozialen
intelligente Verknüpfung. Stadtentwicklung haben wir schon Erfahrungen mit der
11762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Sören Bartol
(A) Bewohnerbeteiligung und vor allen Dingen auch mit der medienwirksamen Anträge vor der Baden-Württemberg- (C)
ressortübergreifenden Kooperation. Diese Erfahrungen Wahl zur Intensivtierhaltung im Außenbereich und zu
lassen sich übrigens auch gut für eine integrierte Ver- Spielhallen in Innenstädten –, oder Sie fordern Änderun-
kehrs- und Stadtentwicklungsplanung nutzen. gen am Baugesetzbuch in zusammenhangloser Fülle wie
heute. Damit machen Sie eine konzentrierte Sachdebatte
Nicht nur das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“,
zu wichtigen Themen leider unmöglich.
wie es die Grünen fordern, muss in die Köpfe und Pro-
gramme Eingang finden, sondern auch eine fachüber- Wir, die christlich-liberale Koalition, haben die No-
greifend angelegte Siedlungs- und Wirtschaftsentwick- vellierung des Baugesetzbuches in den Koalitionsvertrag
lung, die möglichst wenig Verkehr produziert. geschrieben,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Und seitdem tun Sie nichts mehr! Wann
Die von uns begonnene Stärkung der Innenentwicklung fangen Sie denn mal an? Die Halbzeit ist
muss fortgesetzt werden. Voraussetzung ist der politi- schon um!)
sche Wille, integriert zu denken, vor allen Dingen end- und wir setzen es um. Wir werden Planungsrecht und
lich auch wieder im Bundesministerium für Verkehr, Planungsziele weiterentwickeln. Wir werden die Innen-
Bau und Stadtentwicklung. stadtentwicklung stärken, Genehmigungsverfahren ent-
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den bürokratisieren, den demografischen Wandel berück-
Grünen, ist eine lange Liste überwiegend bedenkenswer- sichtigen und den Klimaschutz verankern.
ter Vorschläge. Ich würde mich dann aber auch freuen, (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aber
wenn Sie uns zu Ihren zahlreichen Spiegelstrichen wie wann?)
der Forderung nach einer Grundsteuerreform auch Um-
setzungsvorschläge machen würden. Daran arbeiten wir längst.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schö- In der zweiten Jahreshälfte werden wir in diesem Ho-
nen Abend. hen Hause mit den Beratungen zur Novellierung des
Baugesetzbuches beginnen. Bis Anfang 2012 soll der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Prozess abgeschlossen sein. Im Ausschuss und im Ple-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) num werden Sie alle die Möglichkeit haben, sich einzu-
bringen. Ich denke, damit ist das Thema dann endgültig
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: abgeschlossen.
(B) Das Wort hat die Kollegin Petra Müller von der FDP- (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Fraktion.
der CDU/CSU – Bettina Herlitzius [BÜND-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist Ihr Pro-
blem! Klimaschutz in der Stadt ist mehr!)
Petra Müller (Aachen) (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen, die energetische
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im bzw. die dynamische Stadtentwicklung ist ein erklärtes
vorliegenden Antrag wird eine Reihe von Themenkreisen Ziel liberaler Politik. Wir müssen die Förderprogramme
aufgegriffen: Städtebauförderung, Energiesparfonds, Bau- verstetigen – ich wiederhole mich zum x-ten Male –, ins-
nutzungsverordnung, Flächennutzungsplan. Es geht um besondere das Programm zur CO2-Gebäudesanierung.
Nahwärmenetze, Frischluftschneisen und Wärmerückge- Wir werden aber nicht beim einzelnen Gebäude stehen
winnung, Radverkehrsbenutzungspflichten, Emissions- bleiben. Nein, die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich für
werte, Tempo 30 innerorts, City-Maut, Weiterbildung den Schritt hin zu quartiersbezogenen Betrachtungen
von Bauleuten und Studiencurricula für Architekten und ein.
Bauingenieure.
(Sören Bartol [SPD]: Da sind wir gespannt! –
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das haben wir Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit mehr Geld!)
alles verstanden!)
Dazu legt die Koalition das neue KfW-Programm „Ener-
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist kein getische Städtebausanierung“ auf. Damit haben wir den
Antrag, sondern ein Forderungskatalog. Es ist ein Forde- Nagel genau auf den Kopf getroffen.
rungskatalog ohne Konzept, völlig überfrachtet und
ohne jedes Maß. Es ist eine Zumutung für die Kommu- (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nen. NEN]: Aber zu spät! Ohne Geld ist das eine
Luftnummer!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Als hätten Sie mir das Stichwort gegeben: An erster
NEN]: Das sagt genau die Richtige!) Stelle steht natürlich die Haushaltskonsolidierung. Dazu
haben sich CDU/CSU und FDP verpflichtet. Ich glaube,
– Das stimmt, nicht?
der Schuldenbremse haben auch Sie zugestimmt. Das
Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge greifen Sie ent- war doch so, oder? Angesichts der Notwendigkeit zur
weder Einzelaspekte aus dem Baugesetzbuch heraus – ich Haushaltskonsolidierung ist es umso wichtiger, Förder-
erinnere nur an die denkenswerten und selbstverständlich programme so zu gestalten, dass Eigeninitiative und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11763
Petra Müller (Aachen)
(A) Engagement der Bürgerinnen und Bürger angeregt wer- lichkeiten hier sicherlich begrenzt, jedenfalls im Verhält- (C)
den, dass sich Private und Privatwirtschaftliche einbrin- nis zur Einwohnerzahl.
gen können.
Weil 40 Prozent der Endenergie im Gebäudesektor
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verbraucht werden, liegen unserer Ansicht nach hier die
NEN]: Förderprogramme für Hoteliers!) größten Einsparmöglichkeiten, allerdings aus sozialer
Sicht auch die größten Konfliktpotenziale. Die Rech-
Ein Programm ist eben nur ein Instrument. Aber so aus-
nung, dass sich energetische Sanierungen im Bestand
gestaltet ist es ein urliberales Instrument.
durch die Energieeinsparung von selbst rechnen, geht
In Ihrem Antrag wird die Polarisierung von Stadt und nach dem, was wir wissen, nur bei sehr alten, bis dato
Land hervorgehoben. Besondere Beachtung verdient der unsanierten Gebäuden auf. Kein Wunder, wer bis heute
ländliche Raum. Kleine Städte und Gemeinden dürfen vor allem die Umwelt heizt, hat enorme Energierechnun-
nicht gegen große, urbane Ballungszentren ausgespielt gen, die sich bei guter Dämmung und effizienten Hei-
werden. Aus den spezifischen Problemen der Städte darf zungen extrem verringern. Solche Häuser machen aber
keine baurechtliche oder förderpolitische Bevorzugung nur circa 15 Prozent des Gebäudebestands aus. Bei der
abgeleitet werden, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Mehrzahl der Gebäude haben wir ein wirtschaftliches
Dilemma. Die Häuser sind zwar schlechter isoliert, als es
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nötig wäre, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Durch
NEN]: Das Baurecht stärkt die Kommunen!) sie pfeift aber auch nicht der Wind. Die Heizkosten sind
Mit dem Bundesprogramm „Kleine Städte und Gemein- vielfach überschaubar, jedenfalls noch. Eine Sanierung
den“ sorgen wir auch zukünftig für Daseinsvorsorge und ist jedoch fast ebenso aufwendig wie bei einer Bruch-
urbane Weiterentwicklung in dünnbesiedelten Räumen. bude.
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unter dem Strich könnten auf Familien Kostensteige-
NEN]: Die Städtebauförderung hat immer rungen in Höhe von mehreren Hundert Euro pro Monat
auch die kleinen Städte berücksichtigt! – Sören zukommen. Das wäre aber nicht akzeptabel. Bei Eigen-
Bartol [SPD]: Ihr habt einfach alles gekürzt!) heimbesitzern mit 800 Euro Rente ist auch nichts mehr
mit Eigeninitiative. Das heißt, öffentliche Fördermittel
In dem vorliegenden Antrag finden sich viele, viel- sind dringend erforderlich, um Klimaschutz- und Sozial-
leicht zu viele Ideen auf einmal. Wir müssen uns nicht ri- politik zueinanderzubringen. Aber genau hier hat die
tuell bekämpfen. Wir als liberale Fraktion Bundesregierung den Rotstift gezückt. Die Mittel für das
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- KfW-Gebäudesanierungsprogramm wurden halbiert.
(B) NEN]: Sie stimmen zu?) (Sören Bartol [SPD]: Genau!) (D)
sehen einen inhaltlichen Konsens in vielen Punkten. Gleichzeitig wurde angekündigt, die mögliche Umlage
Aber wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Heute für Investitionen auf die Kaltmiete der Mieter von
geht es auch nicht um Zustimmung, sondern um Über- 11 Prozent der Kosten zu erhöhen.
weisung. Schauen Sie einmal in die Tagesordnung!
Es ist also kein Wunder, dass das Klimaschutzgesetz
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und be- in Berlin scheitern musste. Konsequente Vorschriften für
danke mich für die Aufmerksamkeit. den Klimaschutz im Gebäudebereich würden nach jetzi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris ger Rechtslage sowie bei jetziger Subventionspraxis
Gleicke [SPD]: Wir können Ihnen die Freude nichts anderes bedeuten als Sozialabbau in Größenord-
machen und gleich Abstimmung beantragen!) nungen. Das aber wird die Linke nicht mitmachen; denn
es ist nicht alternativlos.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der LINKEN)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke. Es geht darum, drei Seiten zu einem Dreieck zueinan-
derzubringen: erstens die sozialen Interessen der Miete-
(Beifall bei der LINKEN) rinnen und Mieter, zweitens die Vorgaben für Sanierung
und Neubau, die es möglich machen, anspruchsvolle
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Klimaschutzziele zu erreichen, und drittens die berech-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der tigten wirtschaftlichen Interessen der Vermieter.
Antrag der Grünen gibt eine gute Übersicht über die (Beifall bei der LINKEN)
Dinge, die im städtischen Klimaschutz anzupacken wä-
ren. Wir finden es gut, wo die Schwerpunkte liegen, Dieses Dreieck zu bilden, gelingt dem Antrag von
nämlich bei Energieeffizienz im Gebäudebestand und Bündnis 90/Die Grünen nicht. Dies ist aber die eigentli-
bei Neubauten, bei Anpassungsmaßnahmen wie Frisch- che Herausforderung, für die es nicht nur mehr Mittel
luftschneisen, bei der Verringerung des Flächenver- aus dem Bundesetat geben muss, sondern auch Innova-
brauchs – das ist ganz wichtig – und natürlich bei nach- tionen im Mietrecht und im BGB. Ehrlich gesagt sind
haltiger Mobilität. Erneuerbare Energien werden in die meisten Experten ziemlich ratlos, wenn es darum
Städten eine wichtige Rolle spielen. Aber im Unter- geht, das sogenannte Vermieter-Mieter-Dilemma aufzu-
schied zu Gemeinden im ländlichen Raum sind die Mög- lösen.
11764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Eva Bulling-Schröter
(A) Da der Vermieter alle Heizkosten auf die Mieter um- Er entspricht in weiten Teilen dem, was wir bereits im (C)
legen kann, hat er kein ökonomisches Interesse an Sanie- Energiekonzept festgelegt haben und woran wir bereits
rungen. Andererseits werden gesetzliche Verpflichtun- arbeiten.
gen zu energetischen Sanierungen, wie bereits erwähnt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mieterinnen und Mieter vielfach überfordern. Bei Zu-
Sören Bartol [SPD]: Das ist aber frech! Das
schüssen oder Kreditprogrammen der öffentlichen Hand
Energiekonzept, das Makulatur ist?)
wiederum ist nur schwer zu verhindern, dass ungerecht-
fertigte Mitnahmeeffekte für die Hauseigentümer entste- Wenn ich das vergleiche, dann muss ich sagen: Ja, auch
hen. wir sagen natürlich, der Gebäudebereich ist ein wichti-
ger Faktor bei der gesamten Energieeffizienzsteigerung;
In den Ausschüssen sollten wir uns für dieses Thema ja, wir müssen die Programme verstetigen, wir müssen
genügend Zeit nehmen und es sehr ernsthaft diskutieren, sie ausbauen und verzahnen.
um dann auch wirklichen Klimaschutz zu erreichen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Sören Bartol
(Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Deswegen habt ihr erst einmal gekürzt! –
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NEN]: Verstetigen und kürzen!)
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Wir sagen Ja zur Vorbildwirkung des öffentlichen Be-
der Kollege Volkmar Vogel von der CDU/CSU-Fraktion reichs, vor allen Dingen für den Bereich des Bundes, für
das Wort. den wir zuständig sind. Wir sagen auch Ja zu weiterer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) besserer Beratung sowie zu weiterer besserer Fortbil-
dung und fachlicher Anleitung.
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Ist ja toll!)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Hast du die richtige Wir sagen natürlich auch Ja zu differenzierten Betrach-
Rede dabei?) tungen der unterschiedlichen Strukturen.

Die Debatte eben war natürlich nicht so harmonisch wie Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, alles
die, die wir zum Feuerwehrführerschein geführt haben. das ist nichts Neues.
Das ist aber auch ganz klar, es handelt sich hier ja nicht (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
um eine Vorlage von uns, die wir die Zusammenhänge NEN]: Warum machen Sie es dann nicht?)
(B) immer ganzheitlich darstellen und bei denen auch große (D)
Mehrheiten möglich sind. Ich muss an der Stelle aber auch sagen – Kollegin Müller
und auch Peter Götz haben es bereits angesprochen –:
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir sagen auch Nein. Wir sagen vor allen Dingen Nein,
DIE GRÜNEN) wenn es um die Vernachlässigung von kleinstädtischen
und ländlichen Strukturen geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn
man all Ihren Vorschlägen nachkommen und Ihre Forde- (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Richtig! –
rungen erfüllen will, kommt das einem Ausbremsen der Zuruf von der SPD: Aha!)
Schuldenbremse schon ziemlich nahe.
Und wir sagen Nein, wenn es um Benachteiligung oder
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht angemessene gleichwertige Behandlung von klein-
NEN]: Ich glaube, Sie haben die falsche Vor- teiligen privaten Gebäudestrukturen geht, die ja immer-
lage! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE hin über 80 Prozent des gesamten Gebäudebestandes
GRÜNEN]: Das ist ein Antrag von den Grü- ausmachen.
nen!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wer fordert das
Noch eines muss ich dazu sagen: Vieles von dem hätten denn?)
Sie ja auch mit Minister Tiefensee verwirklichen kön- Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen auch
nen. Nein, wenn es – auch das steht im Antrag – um die Un-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Herr Vogel, das ist gleichbehandlung der Verkehrsträger geht.
ein Antrag der Grünen!) Die Union will – ich denke, da sind wir uns mit den
– Kommt gleich! – Ich glaube, bei vielen Dingen hätten Kollegen von der FDP einig – breit aufgestellte Struktu-
wir wahrscheinlich nur eine geringe Gegenwehr an den ren in allen Bereichen.
Tag gelegt, und wir wären heute schon ein Stück weiter. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Aha!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der Das macht uns krisensicher, das haben die letzten Mo-
Antrag, den Sie heute vorlegen, ist eigentlich nichts nate gezeigt.
Neues.
In der Wohnungspolitik sind wir immer gut mit einem
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mix aus Kommunal-, Genossenschafts- und Privateigen-
NEN]: Aha!) tum gefahren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11765
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte daran erinnern, dass dieses Programm ei- (C)
NEN]: Darüber reden wir doch gar nicht!) gentlich im Jahr 2011 auslaufen sollte. Unser Bestreben
ist, es zu verstetigen und weiterzuentwickeln. Ab diesem
In der Infrastrukturpolitik müssen wir Straße, Schiene Monat werden über das KfW-Programm wieder hoch-
und Wasserstraße sinnvoll ergänzen, je nachdem, welche effiziente Einzelmaßnahmen gefördert. Das ist ein wich-
Vorteile der einzelne Verkehrsträger mit sich bringt. tiger Schritt, um Förderung in der Breite zu betreiben.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die förderfähige Gebäudekulisse in den KfW-Program-
NEN]: Wir reden über Klimaschutz in der men wird im kommunalen Bereich auf Nichtwohnge-
Stadt!) bäude erweitert.

Wir müssen in unserem Handeln den Bedürfnissen der (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Menschen folgen und nicht umgekehrt. NEN]: Alles richtig! – Oliver Krischer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nehmen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie das Geld aber her?)
neten der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Das
ist ja wunderbar, dieser Platzhalter gehört in Das ist ein weiteres Beispiel für den Ausbau.
jede Rede!) Außerdem werden wir die energetische Städtebausanie-
Ich sage das deswegen, weil uns das Ordnungsrecht rung auf den Weg bringen. Wir haben dafür im Baubereich
nicht in jedem Fall, sondern immer nur bedingt weiter- federführend die Instrumente mit dem Baugesetzbuch, der
hilft. Städtebauförderung, dem CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm und der Energieeinsparverordnung als Ord-
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nungsrahmen. Diese Instrumente ergänzen sich. Wir
NEN]: Das erzählen Sie den Kommunen!) können und werden sie sinnvoll verzahnen. Auch das
werden wir machen. Es wird einen Fahrplan zur energe-
Wir brauchen einfache, nachvollziehbare, planbare tischen Sanierung von Bundesbauten geben. Damit wer-
klimapolitische Prinzipien, die ihre Wirkung in der Stadt den wir auch der Vorbildwirkung des Bundes und des öf-
und auf dem Land sowohl auf dem großen gemeinschaft- fentlichen Bereiches insgesamt gerecht.
lichen Wohnungsmarkt als auch auf dem privaten Woh-
nungsmarkt entfalten können. Der Gebäudebereich hat Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was wir
ein riesiges Energieeinsparpotenzial, das es zu aktivieren mit dem Energiekonzept auf den Weg gebracht haben,
gilt, ohne die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen jemals und dafür, was wir noch umsetzen wollen. Das heißt
aus dem Auge zu verlieren. konkret, wir sind schon weiter als das, was in Ihrem heu-
(B) tigen Antrag gefordert wird. (D)
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie denn? – Sören Bartol [SPD]: Soll (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ich den Ramsauer noch einmal vorlesen?)
Wir machen Angebote an alle Akteure, nicht nur an die
Die Potenziale sind im ländlichen wie im städtischen Stadt, nicht nur an bestimmte Eigentümerstrukturen,
Bereich immens. Für uns gelten folgende Prämissen: nicht nur im Hinblick auf das Ordnungsrecht. Wir han-
Wir geben die Standards und die zu erreichenden Ziele deln vielmehr technologieoffen und wirtschaftlich, wir
vor; aber wir lassen die Technologien, die zur Umset- schaffen Anreize zur Eigeninitiative, um tatsächlich eine
zung dieser Standards und zur Erreichung dieser Ziele Breitenwirkung zu erzielen.
notwendig sind, weitgehend offen. Technologieoffenheit
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist gut gedacht,
ist also eines unserer Prinzipien.
aber ohne Moos nichts los! Sie müssen Haus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haltsmittel dazugeben!)

Wir folgen konsequent dem Wirtschaftlichkeitsgebot Nur wenn uns das gelingt, können wir unsere klimapoli-
und respektieren damit die Eigentumsgarantie. Beides tischen Ziele erreichen. Wir werden den Antrag der Grü-
kann man ordnungspolitisch nicht außer Kraft setzen. nen nicht mittragen. Ich freue mich schon auf die Dis-
kussion im Ausschuss.
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass eine CDU/CSU-
geführte Regierung schon in der letzten Legislatur- Vielen Dank.
periode Prioritäten gesetzt hat, zum Beispiel mit den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Konjunkturprogrammen. In diesen Programmen waren
Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die in Ihrem Antrag geforderten und bei uns nach wie
NEN]: Wenn Sie schon weiter sind, dann kön-
vor auf der Agenda stehenden energetischen Maßnah-
nen Sie auch zustimmen!)
men bei öffentlichen Gebäuden – Schulen, Turnhallen,
Kindergärten – und die kommunalen Strukturen insge-
samt im Fokus. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
hat ein großes Stück vom Konjunkturprogrammkuchen Ich schließe die Aussprache.
abbekommen – zu Recht!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drucksache 17/5368 an die in der Tagesordnung aufge-
NEN]: Deshalb beenden Sie es jetzt!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
11766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tische Leistungen erhalten müssen. Im Falle der Grund- (C)
so beschlossen. renten von Anspruchsberechtigten aus osteuropäischen
EU-Mitgliedstaaten wurde mit der Umsetzung bereits
Jetzt haben wir noch eine Reihe von Tagesordnungs- begonnen. Mithilfe dieses Änderungsgesetzes soll nun
punkten, bei denen die Reden zu Protokoll gegeben wer- die europaweite Angleichung erfolgen. Das Recht der
den. Ich bitte Sie, so lange hierzubleiben, bis das Ganze Auslandsversorgung und -fürsorge würde damit maß-
formal abgewickelt ist. geblich vereinfacht und entbürokratisiert.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Dass in Zukunft Leistungen gekürzt oder in ihrem bis-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- herigen Umfang beschnitten werden, verhindert eine in
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- den Gesetzentwurf integrierte Besitzstandsregelung.
rung des Bundesversorgungsgesetzes und
In Übereinstimmung mit meinen Kollegen in der
anderer Vorschriften
Fraktion halte ich den Gesetzentwurf für ein gelungenes
– Drucksache 17/5311 – Beispiel für eine Vereinfachung bestehender gesetzlicher
Überweisungsvorschlag: Regelungen. Damit liefern wir einen weiteren Baustein
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) für das in unserem Koalitionsvertrag festgehaltene Ziel,
Rechtsausschuss Bürokratieabbau, gesetzliche Vereinfachungen und
Verteidigungsausschuss Transparenz voranzubringen.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Heute beraten wir in erster Lesung den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesver-
Frank Heinrich (CDU/CSU): sorgungsgesetzes. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein
Das Ziel des in erster Lesung zur Beratung anstehen- wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der al-
den Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsge- ten und neuen Bundesländer. Damit setzt er ein klares
setzes und anderer Vorschriften ist es, die Rentenleistun- Zeichen für Gerechtigkeit in unserem Land.
gen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte Personen
– zum Beispiel Wehr- und Zivildienstopfer, Gewaltopfer, Handlungsbedarf entstand, da Leistungshöhen im So-
SED-Opfer – nach dem Bundesversorgungsgesetz so an- zialen Entschädigungsrecht bis heute – über 20 Jahre
zupassen, dass sie ab dem 1. Juli 2011 in gleicher Höhe nach der Wiedervereinigung – in den alten und neuen
in ganz Deutschland gezahlt werden. Mit Ausnahme der Bundesländern nicht gleich sind. Ausgenommen davon
(B) Grundrentenbezieher der Kriegsbeschädigten und SED- sind die Grundrenten für Kriegsbeschädigte und (D)
Opfer erhielten die Anspruchsberechtigen in den neuen SED-Opfer. Zudem sind die für die Berechnung des Be-
Ländern bislang nur 88,71 Prozent der in den alten Län- rufsschadensausgleichs nach dem Bundesversorgungs-
dern gewährten Leistungen. Daher möchte ich mich der gesetz erforderlichen Vergleichseinkommen kaum noch
Bewertung meiner Kollegen anschließen, dass wir mit nachvollziehbar festzustellen.
der Gesetzesänderung einen wichtigen Beitrag zur ge- Der Gesetzentwurf der Bundesregierung präsentiert
rechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von Re- hierfür eine gerechtere, transparentere und einfachere
gierungsregimen und Gewalttaten leisten, Unterschiede Lösung: Zunächst wird die Höhe der Rentenleistungen
zwischen Ost und West bereinigen und damit konkret zur nach dem Bundesversorgungsgesetz in den neuen Län-
Gerechtigkeit in unserem Land beitragen. dern angepasst. Damit erhalten Berechtigte nach dem
Die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenen Än- Sozialen Entschädigungsrecht in den neuen Ländern
derungen setzen den Beschluss des Bundesrates vom nicht wie bisher nur geminderte Rentenleistungen – sie
18. März 2011 um. Auf Bitten des Bundesrates soll si- erhielten bisher nur 88,71 Prozent der in den alten Län-
chergestellt werden, dass die Ost-West-Anpassung allen dern erbrachten Leistungen –, sondern Leistungen in
Berechtigten zugutekommt. Gerade für die Bestandsfälle voller Höhe. Diese werden voraussichtlich ab dem
sind dafür Gesetzesänderungen nötig. Um den Berufs- 1. Juli 2011 in ganz Deutschland einheitlich sein.
schadensausgleich bei Bestandsfällen zu gewährleisten, Dies ist ein wichtiger Schritt, der für Kriegsopfer in
ist eine ergänzende Klarstellung im Bundesversorgungs- den neuen Ländern für mehr Gerechtigkeit sorgt und für
gesetz vorgesehen. Gleichzeit muss im Unterstützungs- das widerfahrene Leid entschädigen soll. Vom neuen
abschlussgesetz, das auf das BVG verweist, noch eine Gesetz profitieren in den neuen Ländern etwa
Änderung erfolgen. Schließlich soll mittels des heute in 40 000 Menschen.
erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzes zu-
sätzlich auch der Bitte des Bundesrates entsprochen Die neuen Regelungen sind – neben den Kriegsopfern
werden, den Stichtag für den zeitlichen Geltungsbereich und den Opfern des SED-Regimes – auch auf Wehr-
des Opferentschädigungsgesetzes in den neuen Ländern dienst- und Zivildienstopfer und auf Opfer von Gewalt-
korrekt zu benennen. taten anzuwenden und führen damit zu einer zumindest
finanziellen Besserstellung dieser Menschen und zu ei-
Die Bundesregierung kommt mit dem vorliegenden ner gerechteren Entschädigung.
Gesetzentwurf auch dem Urteil des Europäischen Ge-
richtshofes nach, wonach alle Bezieher von Leistungen Mit dem Gesetzentwurf kommt die Bundesregierung
aus dem Bundesversorgungsgesetz im EU-Ausland iden- auch dem EuGH-Urteil nach. Demnach müssen alle Be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11767
Paul Lehrieder
(A) zieher von Leistungen aus dem Bundesversorgungsge- ger befürchten, dass der § 87 mit Bezugnahme auf den (C)
setz im EU-Ausland identische Leistungen erhalten. Das § 56 BVG dazu führen kann, dass die Leistungen des Be-
BMAS hat mit einem Rundbrief vom 17. Juni 2009 be- rufsschadenausgleichs nach Entwicklung des allgemei-
reits mit der Umsetzung begonnen, sodass die Grund- nen Rentenwerts und des allgemeinen Rentenwerts Ost
renten von Berechtigten in osteuropäischen EU-Staaten unterschiedlich angepasst werden könnten. Das würde
bereits angeglichen werden konnten. Der vorliegende dem Ansinnen des Gesetzes zuwiderlaufen, und hier
Gesetzentwurf stellt nun eine vollständige Umsetzung sollte eine Klarstellung im Wege des parlamentarischen
dar. Damit wird das Recht der Auslandsversorgung und Verfahrens erfolgen.
-fürsorge maßgeblich vereinfacht und entbürokratisiert.
Als Behindertenbeauftragte meiner Fraktion begrüße
Das neue Gesetz umfasst darüber hinaus wesentliche ich auch die zusätzlichen Klarstellungen zum persönli-
Verbesserungen beim Berufsschadenausgleich. So wurde chen Budget. Weiterhin ist auch die Regelungsabsicht zu
die Berechnung des Ausgleichs, den Berechtigte nach begrüßen, das von SPD und Union auf den Weg ge-
dem Sozialen Entschädigungsrecht erhalten, erheblich brachte Assistenzpflegebedarfsgesetz zu erweitern. Es
vereinfacht. soll klargestellt werden, dass auch Berechtigte nach dem
Bundesversorgungsgesetz ihre Pflegekräfte mitnehmen
Eine Besitzstandsregelung gewährleistet, dass nie-
können, wenn eine stationäre Behandlung im Kranken-
mand in Zukunft geringere Leistungen bekommt als bis-
haus nötig sein sollte. Wenn Sie diese Regelung treffen,
her. Damit die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten
um eine Gleichbehandlung herbeizuführen, frage ich
zugutekommt und dies bei Bestandsfällen auch für den
mich allerdings, warum Sie nicht gleich auch den
Berufsschadenausgleich gewährleistet ist, muss im Bun-
Rechtskreis auf Menschen ausweiten, die von einem
desversorgungsgesetz eine Klarstellung eingefügt wer-
Pflegedienst versorgt werden. Es ist keinem Menschen
den und im Unterstützungsabschlussgesetz, das auf das
mehr zu erklären, warum er seinen Pflegeassistenzbe-
Bundesversorgungsgesetz verweist, noch eine Änderung
darf nur dann im Krankenhaus erhalten soll, wenn er die
erfolgen. Diese Anregungen des Bundesrates sollen zu-
Pflegekräfte selbst beschäftigt. Mittlerweile ist die Pra-
sätzlich berücksichtigt werden.
xiswirkung der Regelung bekannt, und es ist überfällig,
Der Gesetzentwurf ist ein gelungenes Beispiel für zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten eine
eine erfolgreiche Vereinfachung bestehender gesetzli- geeignete Lösung zu finden. Weiterhin besteht die Frage,
cher Regelungen. Die christlich-liberale Koalition hält warum nicht auch auf den Bereich stationäre Reha aus-
sich damit an das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel, geweitet wird. Was unterscheidet denn am Ende den Auf-
für Bürokratieabbau, Vereinfachungen und Transparenz enthalt ohne Assistenz im Krankenhaus vom Aufenthalt
zu sorgen. in der stationären Reha? In beiden Fällen sind die Ein-
(B) richtungen finanziell und personell nicht in der Lage, (D)
Erlauben Sie mir, die entsprechende Passage aus dem bedarfsgerechte Assistenz und Pflege zu erbringen.
Koalitionsvertrag zu zitieren:
Hier bedarf es also aus behindertenpolitischer Sicht
Regeln sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht noch einmal eines größeren Wurfes, der den tatsächli-
mehr Regeln geben soll als erforderlich. Notwen- chen Bedarf in den Blick nimmt.
dige Regelungen müssen schlank und verlässlich,
Verwaltungs- und gerichtliche Verfahren zügig
sein. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Wir debattieren heute das Gesetz zur Änderung des
Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften.
gerechten Entschädigung von Opfern aus Kriegen, von Der vorliegende Gesetzentwurf berührt einen der Kern-
Regierungsregimen und Gewalttaten, bereinigt Unter- punkte des deutschen Sozialversicherungsrechts. Zwar
schiede zwischen Ost und West und leistet einen wichti- betreffen die vorliegenden Änderungen zahlenmäßig
gen Beitrag zum Bürokratieabbau und zur Gerechtig- nicht außerordentlich viele Menschen, sie zeigen aber
keit. sehr deutlich das Verständnis unserer sozialen Siche-
rungssysteme in Deutschland. Geprägt von der Grund-
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): idee der Solidarität – dass derjenige, der der Hilfe der
20 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt es sich Gemeinschaft bedarf, die ihm zustehende Unterstützung
politisch nicht mehr vermitteln, dass unterschiedliche erhält – zeigt sich die Stärke unserer Gesellschaft auch
Rentenberechnungssysteme in Ost und West existieren. in dieser Frage.
Ebenso wenig kann man den Leuten vermitteln, dass die
Leistungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht noch Da dies die erste Lesung ist, möchte ich gerne ein we-
immer unterschiedlich sind. Die Initiative der Bundes- nig genauer auf den vorliegenden Gesetzentwurf einge-
regierung ist hier also richtig, denn sie sorgt dafür, dass hen, der im Wesentlichen drei Punkte betrifft. Erstens.
Opfer in Ost und West nicht länger benachteiligt wer- Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung werden wir
den, und stellt auch klar, dass es in diesem Land keine endlich die Höhe der Rentenleistungen nach dem Bun-
Wertigkeit von Opfern gibt und geben darf. desversorgungsgesetz in den neuen Bundesländern an
die der alten Bundesländer angleichen. Die bisherige
Allerdings stelle ich fest, dass es Missverständnisse Ungleichbehandlung hat in dieser Bundesrepublik kei-
über die Wirkung einzelner Regelungen gibt; so haben nen Platz mehr. Die Angleichung entspricht auch einer
mich Schreiben erreicht, wonach Bürgerinnen und Bür- langjährigen Forderung von Betroffenen, Verbänden

Zu Protokoll gegebene Reden


11768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) und Ländern. Damit sollen die circa 40 000 meist hoch- desversorgungsgesetz, BVG, endlich angeglichen wer- (C)
betagten Kriegsopfer in den neuen Bundesländern den. Warum dies erst jetzt geschieht, bleibt das Geheim-
dieselben Leistungen wie die Kriegsopfer in den alten nis der Bundesregierung. Es wird höchste Zeit, die
Bundesländern erhalten. Dies ist ein weiterer Schritt zur Leistungshöhen auch im Rentenrecht sowie bei Löhnen
Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz und Gehältern zwischen Ost und West anzugleichen und
Deutschland und so zur Verwirklichung der Deutschen so bestehendes Unrecht zu verringern. In diesem Zusam-
Einheit. menhang erinnere ich nochmals an die 19 Anträge der
Linken zu verschiedenen Bereichen der Rentenüberlei-
Zweitens. Die Auslandsversorgung und -fürsorge tung, welche der Bundestag am 24. Februar 2011 mit
nach dem Bundesversorgungsgesetz wird reformiert. Mehrheit erneut ablehnte.
Dies war nach der Entscheidung des Europäischen Ge-
richtshofs vom 4. Dezember 2008 notwendig geworden, Da der heute vorliegende Gesetzentwurf direkt Le-
da bisherige Regelungen des Bundesversorgungsgeset- bensbedingungen von Menschen mit Behinderungen be-
zes zur (Teil-)Versorgung von Kriegsopfern in ost- und einflusst, muss er sich auch an der UN-Behinderten-
südeuropäischen EU-Mitgliedstaaten gegen EU-Recht rechtskonvention messen lassen. Dies schließt ein, dass
verstoßen. Die in diesen Staaten gezahlten Leistungen der Bundesbehindertenbeauftragte sowie die betroffe-
müssen die gleiche Höhe haben wie die Leistungen an nen Menschen mit Behinderungen und ihre Interessen-
Berechtigte mit Wohnsitz in anderen EU-Mitgliedstaa- vertretungen in das Gesetzgebungsverfahren aktiv ein-
ten. Durch unsere Änderungen wird das Recht der Aus- bezogen werden.
landsversorgung und -fürsorge zugleich wesentlich ver-
einfacht und entbürokratisiert mit dem Ziel einer Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbinden sich
einheitlichen Auslandsversorgung und -fürsorge für alle für mich jedoch noch weitere Fragen: Wer sind eigent-
Berechtigten im Ausland – auch außerhalb der EU. lich die Bezieher von Leistungen nach dem Bundesver-
sorgungsgesetz? Warum erhalten Menschen mit ver-
Drittens. Berechtigte nach dem sozialen Entschädi- gleichbaren Behinderungen nicht auch Leistungen nach
gungsrecht, die durch erlittene gesundheitliche Schäden diesem, sondern nach anderen Gesetzen? Das BVG sieht
Nachteile haben, erhalten einen Berufsschadenaus- laut § 7 BVG Leistungen für Deutsche und deutsche
gleich. Ebenfalls eine Frage der Entbürokratisierung Volkszugehörige sowie für andere Kriegsopfer vor, wenn
war die Entscheidung, für die circa 20 000 Berechtigten sie ihren Wohnsitz in Deutschland haben und ihre ge-
als Vergleichseinkommen bei der Berechnung neuer sundheitliche Schädigung im ursächlichen Zusammen-
Berufsschadenausgleiche zukünftig nur noch die Ein- hang mit dem Dienst in der deutschen Wehrmacht oder
kommen des öffentlichen Dienstes heranzuziehen. Somit einem militärähnlichen Dienst in einer deutschen Organi-
wird auch an eine bereits seit vielen Jahrzehnten be- sation bzw. in Deutschland oder einem deutsch besetzten
(B) (D)
währte Systematik in diesem Bereich angeknüpft, die Gebiet durch unmittelbare Kriegseinwirkung eingetreten
den das Gesetz ausführenden Behörden bekannt ist. ist. Insgesamt sind heute noch laut Bundessozialministe-
Durch eine Besitzstandsregelung wird sichergestellt, rium rund 250 000 Personen bzw. deren Angehörige ver-
dass niemand in Zukunft eine geringere Leistung als bis- sorgungsberechtigt, darunter 8 000 aus dem Ausland.
her erhält. Die über 80 Prozent aus der ehemaligen BRD kommen-
den Personen erhalten durchschnittlich 400 Euro pro
Im Übrigen werden in dem Gesetz Klarstellungen und Monat, die aus der DDR kommenden Versorgungsbe-
redaktionelle Änderungen, die aufgrund höchstrichterli- rechtigten 240 Euro.
cher Rechtsprechung und als Folge von Änderungen an-
derer Gesetze erforderlich geworden sind, vorgenommen. Warum gilt das Bundesversorgungsgesetz eigentlich
An der ein oder anderen Stelle besteht möglicherweise nicht für alle Menschen mit Behinderungen? In einer
noch Beratungsbedarf. Mir ist bekannt, dass es aus dem Kleinen Anfrage zum Contergan-Skandal – dies ist die
Bundesrat möglicherweise noch Nachbesserungsbedarf Bundestagsdrucksache 17/2915 vom 14. September
gibt, und entsprechende Beiträge werden wir selbstver- 2010 – fragte die Linke die Bundesregierung: „Wodurch
ständlich in die Debatte einbeziehen. unterscheiden sich die Leistungen an Contergangeschä-
digte qualitativ und quantitativ von Leistungen gemäß
Dieser vorliegende Gesetzentwurf enthält wichtige dem Bundesversorgungsgesetz, BVG, und was spräche
Änderungen für Kriegsopfer und ihnen gleichgestellte aus Sicht der Bundesregierung dafür bzw. dagegen, die
Personen. Daher würde ich mich freuen, wenn über die Versorgung von Contergangeschädigten auf der Grund-
Parteigrenzen hinweg diese Regelungen breite Zustim- lage des BVG zu gewährleisten?“ Die Antwort der Bun-
mung finden würden. desregierung lautete: „Leistungen aus dem Bereich der
Sozialen Entschädigung kann gemäß § 5 des Ersten Bu-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): ches Sozialgesetzbuch erhalten, ‚wer einen Gesund-
Die Bundesregierung hat recht, wenn sie in ihrem Ge- heitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche
setzentwurf als Problem konstatiert: „Auch 20 Jahre Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers
nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es immer oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen
noch Unterschiede zwischen den alten und den neuen Grundsätzen‘ einzustehen hat. Erforderlich ist daher ein
Ländern in Bezug auf die Leistungshöhen im Sozialen Sonderopfer, wie es zum Beispiel Kriegsopfer erbracht
Entschädigungsrecht.“ Deswegen – hier sind sich Bun- haben, oder das Vorliegen eines Aufopferungstatbestan-
desregierung und die Linke einig – sollte die Höhe der des, wie zum Beispiel bei Menschen, die während des
Entschädigungs- und Rentenleistungen nach dem Bun- Wehr- oder Zivildienstes oder durch eine Gewalttat ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11769
Dr. Ilja Seifert
(A) sundheitlich geschädigt worden sind. Beides ist bei con- parechtskonform auszugestalten. Auch diese Regelung (C)
tergangeschädigten Menschen nicht der Fall.“ Ich halte ist zu begrüßen.
das für problematisch. Das ist das klassische Denken
Klärungsbedarf besteht von unserer Seite allerdings
nach dem Kausalitätsprinzip: Die Ursache der Beein-
noch bezüglich der Änderung der Regelungen zum Be-
trächtigung ist ausschlaggebend für die Leistung. Wäre
rufsschadenausgleich. So sieht der Berufsschadenaus-
es nicht überfällig, endlich dem Finalitätsprinzip zu fol-
gleich vor, in Zukunft wie bei selbstständig tätigen Be-
gen? Das hieße: gleicher Leistungsanspruch bei ver-
schädigten berechnet zu werden. Berechtigte nach dem
gleichbarer Beeinträchtigung.
Sozialen Entschädigungsrecht, die durch die erlittene
Notwendig ist meines Erachtens auch die gründliche gesundheitliche Schädigung berufliche Nachteile haben,
Prüfung der Einwände des Bundesrates. Dazu gehört, erhalten einen Berufsschadenausgleich, zu dessen Be-
sicherzustellen, dass von der im Gesetzentwurf vorgese- rechnung vom BMAS jährlich Vergleichseinkommen be-
henen Anhebung auf die Leistungshöhen in den alten kanntgegeben werden, die auf Erhebungen des Statisti-
Ländern auch alle bisher in den neuen Ländern noch ab- schen Bundesamtes beruhen. Die Bundesregierung sieht
gesenkten Entschädigungs- und Rentenleistungen nach hier Änderungsbedarf, weil viele Berufe heute in dieser
dem BVG oder den Nebengesetzen – insbesondere nach Form nicht mehr existierten. Auch die statistische Er-
dem Gesetz über den Abschluss von Unterstützungen der mittlung der Einkommen habe sich durch EU-Vorschrif-
Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bei Ge- ten verändert. Allein durch solche statistischen Effekte
sundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen – seien die Vergleichseinkommen zum Teil um mehrere
erfasst werden. hundert Euro gestiegen.

Des Weiteren ist die für den Berufsschadenausgleich Zum 1. Juli 2011 soll die Berechnung – für Neuan-
und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene träge – auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die
Übergangs- und Besitzstandsregelung noch einmal mit Höhe soll in Zukunft wie bei Selbstständigen ermittelt
Blick auf die beabsichtigte Gewährung gleicher Leis- werden; Grundgehälter der Besoldungsgruppen der
tungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht in den Bundesbesoldungsordnung A. Die Beträge sollen im ein-
neuen und alten Ländern zu überprüfen, damit mit dem zelnen Fall zum 30. Juni 2011 festgestellt und dann in
Gesetz nicht Regelungen eingeführt werden, die zu einer den Folgejahren wie die gesetzlichen Renten angepasst
substanziell erheblichen Verschlechterung bei den Leis- werden. Hierfür bedarf es einer Änderung der Berufs-
tungen aus dem Berufsschadenausgleich für betroffene schadenausgleichsverordnung. Es ist zum jetzigen Zeit-
Geschädigte führen. In diesem Sinne wird die Fraktion punkt unsererseits nicht absehbar, welche unmittelbaren
Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf in den Aus- Folgen eine solche Regeländerung mit sich bringt. Dies
werden wir im Laufe des parlamentarischen Verfahrens
(B) schüssen konstruktiv diskutieren. (D)
klären müssen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum Schluss möchte ich noch kurz auf eine weitere
Im Großen und Ganzen begrüßen wir den vorgelegten Änderung bzw. Ergänzung eingehen. Der vorgelegte Ge-
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversor- setzentwurf schreibt explizit fest, welche Leistungen des
gungsgesetzes und anderer Vorschriften, stellt doch die BVG Teil eines persönlichen Budgets im Sinne des § 17
volle Angleichung der Höhe der Entschädigungs- und SGB IX sein können. Vorbehaltlich der Prüfung, ob da-
Rentenleistungen in den neuen Ländern ab 1. Juli 2011 mit auch alle budgetfähigen Leistungen abgedeckt wer-
an die Leistungshöhen in den alten Ländern einen den, ist es durchaus positiv, wenn Leistungsgesetze den
wichtigen Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechts- rehabilitationsträgerübergreifenden Rechtsanspruch auf
verhältnisse in ganz Deutschland dar. Es ist zudem er- ein persönliches Budget entsprechend abbilden.
freulich, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäuße-
rung zur Stellungnahme des Bundesrates ankündigt, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dort geäußerten Änderungen zu berücksichtigen. Hier- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
bei geht es insbesondere um die Erfassung aller bisher wurfs auf Drucksache 17/5311 an die in der Tagesord-
in den neuen Bundesländern noch abgesenkten Entschä- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
digungs- und Rentenleistungen nach dem BVG oder den einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos-
Nebengesetzen. Wir werden die Bundesregierung beim sen.
Wort nehmen und in den kommenden Ausschussberatun-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
gen darauf dringen, insbesondere die für den Berufsscha-
denausgleich und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vor- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
gesehene Übergangs- und Besitzstandsregelung darauf Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
zu überprüfen, ob die beabsichtigte Gewährung gleicher Täterverantwortung
Leistungshöhen in Ost und West auch wirklich eintritt.
– Drucksache 17/1466 –
Darüber hinaus hat das Gesetz zum Inhalt, die Aus- Überweisungsvorschlag:
landsversorgung im Nachgang zum Urteil des EuGH Rechtsausschuss (f)
vom 4. Dezember 2008, wonach Berechtigte nach dem Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BVG mit Wohnsitz in osteuropäischen Ländern der
Europäischen Union keine abgesenkten Leistungen im Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
Vergleich zu anderen EU-Staaten erhalten dürfen, euro- werden.
11770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Ansgar Heveling (CDU/CSU): wird § 153 a StPO um die Möglichkeit der Auflage er- (C)
Gewalt in den eigenen vier Wänden gehört für viele weitert, dass Staatsanwaltschaft und Gericht das Ver-
Frauen und Kinder in Deutschland noch immer zum All- fahren vorläufig einstellen und den Be- bzw. Angeschul-
tag – sicherlich eine unvorstellbare Tatsache für die digten anweisen können, an einem Täterprogramm
meisten von uns. Jährlich flüchten circa 45 000 phy- teilzunehmen. Die vorgesehene Frist zur Erfüllung die-
sisch, sexuell oder psychisch misshandelte Frauen mit ser Auflage wird auf bis zu ein Jahr erweitert. Der Kata-
ihren Kindern in eines der circa 400 Frauenhäuser oder log bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 a
in vergleichbare Zufluchtswohnungen. Da längst nicht StGB wird in dessen Absatz 2 um die Möglichkeit der
alle häuslichen Gewalttaten gemeldet werden, haben Weisung erweitert, dass der Täter an einem Täterpro-
wir es in diesem Kontext mit einer hohen Dunkelziffer zu gramm teilnimmt.
tun.
Auch die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellung-
Nach über zwanzigjähriger intensiver Arbeit der nahme positiv zu dem Entwurf des Bundesrates geäußert
Frauenhäuser, die dem enormen Andrang von Gewalt- und misst der Gewaltprävention und dem Opferschutz
opfern kaum gewachsen sind, liegt der Fokus schon seit eine hohe Bedeutung zu. Es kann nur in unser aller Inte-
einiger Zeit darauf, vermehrt mithilfe interdisziplinärer resse sein, die häusliche Gemeinschaft und die partner-
Interventionsprojekte das Problem häuslicher Gewalt in schaftlichen Konflikte zu befrieden und so weit wie mög-
den Griff zu bekommen. Ein Schwerpunkt des Gewalt- lich aus der öffentlichen Strafverfolgung auszunehmen.
interventionsprozesses soll dabei vor allem auch auf der Durch die Teilnahme an qualifizierten sozialen Trai-
sogenannten Täterarbeit liegen. Da häusliche Gewalt ningsprogrammen werden den Tätern Handlungsalter-
oftmals nicht mit Freiheitsentzug bestraft wird und eine nativen zur Gewalt eröffnet. Erfahrungsgemäß leugnen
Geldbuße häufig auch das mit dem Täter zusammenle- diese Täter zunächst ihre Gewaltbereitschaft. In den
bende Opfer zusätzlich schädigt, erweisen sich Täter- Fällen jedoch, in denen sie sich dem Druck eines Straf-
programme als geeignete Alternative im Umgang mit verfahrens ausgesetzt sehen, müssen sie sich auch dieser
Gewaltstraftätern. Verantwortung stellen. Oftmals kann der Konflikt nicht
gelöst werden, solange sich der Täter nicht aktiv mit sei-
Täterarbeit steht dabei für Maßnahmen in Form so-
ner Gewaltbereitschaft auseinandersetzt. Weigert er
zialer Trainingskurse, in denen sich gewalttätige oder
sich, an einem Täterprogramm teilzunehmen, bricht er
potenziell gewaltbereite Männer mit ihren Taten aus-
es ab oder wird er rückfällig, droht ihm die Konsequenz
einandersetzen, die Verantwortung für ihre Gewalthand-
der strafrechtlichen Verfolgung.
lungen übernehmen und alternative, nicht gewalttätige
Verhaltensweisen erlernen sollen. Diesbezüglich hat die Demgegenüber steht die Bundesregierung der Frist-
(B) Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Ge- verlängerung von sechs Monaten auf ein Jahr im Rah- (D)
walt e. V. bundesweite Standards für qualifizierte Täter- men der Auflage des § 153 a StPO kritisch gegenüber,
programme erarbeitet. Langfristig sollen Täter durch da diese im Spannungsfeld des Grundgedankens stehe,
Verantwortungsübernahme und Selbstkontrolle von der innerhalb einer überschaubaren Frist eine Entschei-
Wiederholung ihrer Taten abgehalten werden. Täter- dung herbeizuführen, um das Verfahren dann endgültig
arbeit kann damit ein wichtiges Element der Gewaltprä- einzustellen. Hier sollten wir doch nochmals genau hin-
vention und des Opferschutzes sein. schauen. Zum einen ist bereits jetzt im Rahmen des
Wie die Forschungsergebnisse der wissenschaftli- § 153 a StPO eine Fristverlängerung von drei weiteren
chen Begleitung der Interventionsprojekte gegen häusli- Monaten vorgesehen; das heißt, sie ist bereits jetzt schon
che Gewalt in Deutschland zeigen, ist die Täterarbeit im auf faktisch neun Monate möglich. Des Weiteren ist bei
Kontext von Interventionsprojekten eine sinnvolle und der Auflagenweisung der Unterhaltspflichtverletzung
richtige Maßnahme. Zwei Drittel der in der Studie eine Frist von einem Jahr bekannt. Demnach ist die
berücksichtigten Männer haben das Programm abge- Frist des § 153 a StPO von der Art der Weisung abhän-
schlossen. Besonders interessant ist in diesem Zusam- gig. Auf das Täterprogramm bezogen handelt es sich
menhang folgende Erkenntnis: Diejenigen Täter, die nun aber um eine Auflage, bei der sich erweist, dass der
aufgrund einer justiziellen Weisung oder Auflage – die Erfolg nicht binnen einer kurzen Frist von sechs Mona-
in den letzten Jahren in Fällen häuslicher Gewalt durch ten erzielbar ist. Der Täter unterzieht sich einem lang-
Staats- oder Amtsanwaltschaft in der Praxis bereits an- wierigen Prozess sozialer Verhaltensänderung. Dies
gewandt wurden – an einem Programm teilgenommen kann nicht von heute auf morgen passieren, sondern es
haben, schließen dieses signifikant häufiger ab als die nimmt viel Zeit in Anspruch. Daher erscheint aus meiner
anderen Teilnehmer. Dass sich gewalttätige Männer aus Sicht die Frist von einem Jahr im Hinblick auf die im
eigener Initiative heraus zu einem Täterprogramm an- Gesetzentwurf des Bundesrates in Rede stehende Täter-
melden, ist äußerst selten der Fall. Der Druck von außen gruppe durchaus ausgewogen.
trägt also nicht nur zur Absolvierung, sondern auch zum
Abschluss eines Programms bei. Die Bundesregierung kritisiert ferner, den Begriff
„Täterprogramm“. Er sei nicht sachkonform gewählt,
Der Gesetzentwurf zur Täterverantwortung des Bun- da die Weisung, an einem Programm teilzunehmen, be-
desrates trägt dieser Erkenntnis Rechnung und schlägt reits während des Ermittlungsverfahrens erfolgen kann.
vor, mit einigen Änderungen die Möglichkeiten, Straftä- Der Begriff „sozialer Trainingskurs“ sei die bessere
ter durch staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Wei- Wahl. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob diese Be-
sungen Täterprogrammen zuzuweisen, zu erweitern. So grifflichkeit der beabsichtigten Verantwortungsüber-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11771
Ansgar Heveling
(A) nahme des Täters gerecht werden kann, wenn man ledig- kennen, zu übernehmen und sich besser zu kontrollieren. (C)
lich von einem „Training“ spricht. Die Täterarbeit verbreitert somit zugunsten des Opfer-
schutzes die Möglichkeiten, insbesondere Ersttäter vor
Abschließend darf ich einen weiteren Punkt anspre- dem Begehen weiterer Straftaten zu bewahren, und er-
chen, der im Gesetzentwurf des Bundesrates bislang höht die Chance, dass sich anbahnende kriminelle Kar-
keine Berücksichtigung findet, über den wir allerdings rieren erst gar nicht verfestigen.
in der weiteren Debatte ebenfalls beraten sollten. Oft
bagatellisieren die Täter ihre Tat und weisen die Schuld Richtig ist, dass es dieses Instrument grundsätzlich
von sich. Für die begleitenden Trainer wäre es daher auch schon heute gibt. Bei geringer Schuld kann ein
von großem Vorteil, den gesamten Sachverhalt zu ken- Strafverfahren gegen Auflagen oder Weisungen einge-
nen, um ihn in ihre Arbeit einbeziehen zu können. Da- stellt werden, und eine solche Weisung kann auch schon
raus ergibt sich unter Umständen die Notwendigkeit, heute lauten, an einem speziellen Programm teilzuneh-
personenbezogene inhaltliche Daten aus den Ermitt- men, zum Beispiel an einem Antigewalttraining. Nicht
lungs- bzw. Strafakten zugänglich zu machen. Schließ- nur, aber gerade auch zur Bekämpfung von häuslicher
lich wären daraus folgende Ergebnisse auch für die Aus- Gewalt und Beziehungsdelikten wird die Täterarbeit
wertung der Erfahrungsberichte von Bedeutung. Eine schon seit etlichen Jahren als Teil einer Interventions-
entsprechende Regelung könnte, wie auf Länderebene kette eingesetzt, weil die Gewalthandlungen von Tätern
bereits diskutiert wird, in § 155 b StPO eingefügt wer- gegenüber ihrem Partner bzw. Expartner gezielt und
den. strukturiert bearbeitet werden. Erfüllt der Täter die Wei-
sung nicht, drohen ihm Anklage oder Verurteilung. Dies
In der Sache sehen wir den Gesetzentwurf des Bun- motiviert namentlich solche Täter zur Teilnahme, die
desrates grundsätzlich positiv. Eine Erweiterung der zu- bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getre-
vor angesprochenen notwendigen personenbezogenen ten sind.
inhaltlichen Datenübermittlungen für die Arbeit im so-
zialen Trainingsprogramm in § 155 b StPO sollte für die Allerdings schreibt die Strafprozessordnung bislang
Zukunft überlegt werden. Insgesamt ist der Gesetzent- vor, dass eine Weisung innerhalb von sechs Monaten er-
wurf ein weiterer richtiger Schritt auf dem langen Weg füllt sein muss. Demgegenüber sind sich die Fachleute
der Bekämpfung häuslicher Gewalt. und Praktiker einig, dass ein strukturiertes Programm
mindestens sechs Monate dauert. Dazu kommen das
Christine Lambrecht (SPD): Aufnahmeverfahren und etwaige Folgetermine. In der
gesetzlichen 6-Monate-Frist liegt somit das Problem in
Die SPD begrüßt den Gesetzentwurf. Der Schutz der
der Praxis. Sie ist schlicht zu kurz.
Opfer von Straftaften ist eine wichtige Aufgabe der
(B) Strafjustiz. Grundlage ist das Straf- und Strafverfahrens- Der vorliegende Entwurf bietet hier eine einfache wie (D)
recht, und hier hat der Gesetzgeber vor allem im letzten gute Lösung an: Die Frist von sechs Monaten wird auf
Jahrzehnt zur Verbesserung des Opferschutzes schon eine Frist von bis zu einem Jahr verlängert. Dadurch
viel getan. Der Vorschlag des Bundesrates, der auf die können Staatsanwälte oder Gerichte künftig Ermitt-
Initiative von Rheinland-Pfalz zurückgeht, ist nun ein lungs- bzw. Strafverfahren einstellen und zugleich die
weiterer Baustein, der das Regelwerk verdichten wird. Weisung erteilen, dass der Beschuldigte innerhalb eines
Er dient dem vorbeugenden Opferschutz, weil er darauf Jahres an einem qualifizierten Täterprogramm teil-
abzielt, Gewalttäter künftig verstärkt in Verantwortung nimmt.
nehmen und auf Verhaltensänderungen hinwirken zu
können. Ebenfalls eine gute Lösung hält der Entwurf dafür
parat, dass künftig auch bei einer Verwarnung mit Straf-
Konkret geht es darum, den Rahmen dafür zu schaf- vorbehalt die Teilnahme an einem Täterprogramm ange-
fen, dass Staatsanwälte und Gerichte, die Ermittlungs- ordnet werden kann. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt
bzw. Strafverfahren einstellen, besser als bisher einem nach dem Strafgesetzbuch ist praktisch der richterliche
Täter qua Weisung die Pflicht auferlegen können, an „Schuss vor den Bug“ des Angeklagten: Das Gericht
speziellen sozialen Trainingskursen oder Täterprogram- stellt die Schuld des Täters fest und bestimmt die Strafe,
men teilzunehmen. Zweck solcher Kurse und Pro- wobei die Verhängung der Strafe vorbehalten bleibt; be-
gramme ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderun- steht der Täter die Bewährungszeit, bleibt er unbestraft.
gen auf der Seite des Täters zu bewirken und ihm die Die Verwarnung mit Strafvorbehalt hat gegenüber der
Fähigkeit zu vermitteln, Verantwortung zu übernehmen Einstellung des Verfahrens den Vorteil, dass sie eine ge-
und Selbstkontrolle auszuüben. richtliche Schuldfeststellung enthält. Das kann Opfern
eine gewisse Genugtuung verschaffen.
Grundgedanke ist, dass die Bestrafung der Täter
durch Geldbußen, Geldstrafen bzw. Haftstrafen nicht Wünschenswert wäre es, wenn in den anstehenden
automatisch zu einer kritischen Auseinandersetzung der Ausschussberatungen für den Begriff „Täterprogramm“
Täter mit ihrem Gewaltverhalten und zur Beendigung eine Alternative gefunden würde. Wie schon das Bundes-
des gewalttätigen Verhaltens führt. Mit solchen Pro- justizministerium der 16. Legislaturperiode weist auch
grammen können Täter lernen, ihre Wahrnehmungen das jetzige zutreffend darauf hin, dass der Begriff „Tä-
und Verhaltensweisen zu ändern. Im Rahmen von struk- terprogramm“ auf einen Vorschlag der Bundesarbeits-
turierten Täterprogrammen finden Gruppensitzungen, gemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ zurück-
aber auch Einzelgespräche mit den Tätern statt. Sie sol- geht und mittlerweile feststehender Fachbegriff konkret
len befähigt werden, Verantwortung für ihr Tun zu er- für diesen Täterkreis ist, und schlägt daher vor, statt des

Zu Protokoll gegebene Reden


11772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Christine Lambrecht
(A) Begriffs „Täterprogramm“ den Begriff „sozialen Trai- Verhaltensänderungen beizutragen. Wir sind uns auch (C)
ningskurs“ zu verwenden. alle einig, dass häusliche Gewalt gesellschaftlich geäch-
tet gehört. Ich will aber an dieser Stelle darauf hinwei-
Jörg van Essen (FDP): sen, dass beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe
Wir beraten heute eine Initiative aus den Ländern zur erst seit 1997 strafbar ist und dass die Dunkelziffer im
stärkeren Betonung der Täterverantwortung nach Fäl- Bereich der häuslichen Gewalt immer noch ausgespro-
len häuslicher Gewalt. Wir greifen damit im Sinne des chen hoch ist. Häusliche Gewalt gilt bedauerlicherweise
Opferschutzes einen Bundesratsbeschluss aus dem Jahr immer noch zu häufig als Kavaliersdelikt.
2008 auf, der in der letzten Wahlperiode nicht mehr be- Wir sind uns einig darin, dass Betroffenen häuslicher
raten wurde. Mit dem Entwurf sollen die Möglichkeiten Gewalt schnell und unbürokratisch geholfen werden
verbessert werden, Straftäter über staatsanwaltschaftli- muss. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf
che oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täter- Frauenhäuser? Die Linke fordert eine bundesweit ein-
programmen zuweisen zu können. Es sollen bei den heitliche Finanzierung der Frauenhäuser und einen un-
Tätern Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen er- gehinderten Zugang für alle betroffenen Frauen und de-
reicht und dadurch neuerliche Gewalttaten vermieden ren Kinder, unabhängig von sozialer oder ethnischer
werden. Ziel sind damit zugleich Kriminalitätsverhinde- Herkunft. Täterprogramme sind notwendig und wichtig,
rung und vorbeugender Opferschutz. aber die Opfer sollten nicht unberücksichtigt gelassen
Aus liberaler Sicht ist die aus dem Gesetzesvorschlag werden. Wenn der Rechtsanspruch auf eine Zufluchts-
sprechende Forderung an Straftäter zu begrüßen, Ver- möglichkeit in allen Fällen von Gewalt als freiwillige
antwortung zu übernehmen und sich selbst besser zu Leistung gewährt wird, führt das, auch wegen der Steuer-
kontrollieren. Mit dieser Ausrichtung ergeben sich ge- politik der Regierung zulasten der Kommunen, häufig zu
rade für nicht vorbelastete Personen Anreize zur Teil- weitreichenden Kürzungen und damit zur Einschränkung
nahme an entsprechenden Programmen. Dass wir mit von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten.
dem Aufgreifen des Länderentwurfes auf einem guten
Unser Problem mit dem Gesetzentwurf ist zunächst
Weg sind, zeigt auch die Unterstützung durch den Deut-
ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschrei-
schen Richterbund. Der Ausbau der Täterprogramme
bung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die Ver-
als Auflage stärkt den Opferschutz deutlich. Es ist nach-
längerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StPO
gewiesen, dass Geldstrafen zwar die Opfer mittelbar
vorgeschlagen wird. Mein Kollege Nešković hat bereits
selbst treffen, jedoch das Verhalten des Täters nicht ent- am 16. Februar 2009 in der „taz“ alles Wesentliche
scheidend verändern. Hier würde dann eine pädago- dazu gesagt: „Nötig ist nicht die Legalisierung des
gisch-therapeutische Maßnahme eher greifen, um neue Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht (D)
(B) Gewalttaten zu verhindern.
geringfügigen Straftaten.“ Worum geht es genau: Wir
Lassen Sie mich dennoch in der ersten Lesung einige sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige
kritische Bemerkungen machen. Jeder, der aus der poli- Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung
zeilichen und staatsanwaltlichen Praxis kommt, weiß, einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns
dass häusliche Gewalt in nahezu gleichem Umfang einig sind, dass in Fällen häuslicher Gewalt zum Opfer-
Frauen wie Männer trifft. Dies ist ein Tabu in der De- schutz und zur Prävention Täterprogramme mit dem Ziel
batte, weil das Gewaltthema gerne ausschließlich bei durchzuführen sind, Verhaltens- und Wahrnehmungsver-
Männern abgeladen wird. Gewalt wird aber nicht nur änderungen zu erreichen, dann ist nicht nachvollziehbar,
körperlich, sondern auch psychisch ausgeübt. Wir soll- dass bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfah-
ten uns deshalb in den Beratungen mit der Frage befas- ren eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als:
sen, wie auch dieser Form von Gewaltanwendung bes- Du darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterpro-
ser begegnet werden kann. Die Gesetzesänderungen gramm besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein.
müssen den Opfern jedweder Gewalt zugutekommen. Das ist ein Skandal. Insofern geht der Gesetzesentwurf
an dieser Stelle in die falsche Richtung. Solange der
Die Bundesregierung hat auch zu Recht darauf hinge- Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird,
wiesen, dass sich im Strafgesetzbuch die Bezeichnung können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
„Täter“ für noch nicht verurteilte Personen verbietet.
Wir sollten hier nach einer besseren Formulierung su- Dem Gesetzentwurf hätte es aber auch gut zu Gesicht
chen. Insgesamt ist es aber eine begrüßenswerte Initia- gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und
tive, die wir in den nun beginnenden Beratungen unter- gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Tä-
stützen werden. terprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass es
keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Fest-
Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundes- schreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend
rates zur Stärkung von Täterverantwortung zu eigen ge- Täterprogramme vorhanden sind. Das erscheint uns zu-
macht, und deshalb debattieren wir ihn heute. Wir sind mindest als ein mindestens ebenso großes Problem. Vor
uns alle einig darin, dass häusliche Gewalt ein sehr ernst diesem Hintergrund fordern wir ein umfassendes Kon-
zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch einig darin, zept im Umgang mit häuslicher Gewalt, zu dem neben
dass die Täterverantwortung gestärkt und vor allem die der Ächtung derselben die Ausfinanzierung von Frauen-
Präventionsarbeit verbessert werden muss. Wir sind uns häusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen
einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu gehörten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11773

(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach § 153 a StPO ist schon jetzt die Verhängung ei- (C)
Das Sanktionenrecht im deutschen Strafrecht ist ner solchen Weisung möglich, was sich aus dem Wort
immer noch zentral ausgerichtet auf Geld- und Frei- „insbesondere“ ergibt. Die Aufzählung der Weisungs-
heitsstrafen. Weitere und effektivere Einwirkungs- und möglichkeiten im Gesetz ist nicht abschließend. Aller-
Ahndungsmöglichkeiten wurden bisher immer nur als dings bleibt richtig, dass die regelmäßige Frist von
Einzelmaßnahmen und wenig systematisch ins Sanktio- sechs Monaten zur Weisungserfüllung kontraproduktiv
nensystem eingefügt. Zu erwähnen ist hier an erster kurz ist. Deshalb wird im Verlauf der parlamentarischen
Stelle die Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Seit Jahr- Beratungen zu prüfen sein, ob es sich nicht anbietet, die
zehnten wird über eine Generalrevision diskutiert, es Frist von sechs Monaten generell auf ein Jahr anzuhe-
gibt viele Vorschläge – nur leider liegen sie nicht auf ben. Für die Weisung, Unterhaltsverpflichtungen nach-
dem Tisch, sondern in den Schubladen des Justizministe- zukommen, ist dies bereits jetzt geltendes Recht.
riums und der Rechtspolitik. Auch in Fällen der Weisung der Wiedergutmachung
des verursachten Schadens oder der Zahlung eines
Die rot-grüne Koalition hat zweimal – 2002 und 2004 –
Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung in Ra-
Gesetzentwürfe vorgelegt, die letztlich am Widerstand
ten sind viele Beschuldigte überfordert, die jeweiligen
der Union, der Länder und einer zaudernden SPD ge- Weisungen innerhalb von sechs Monaten zu erfüllen.
scheitert sind. Die damalige Kritik aus den Reihen der Unter Umständen würde eine solche generelle Verlänge-
CDU/CSU, alle Ansätze zur Diversion würden auf eine rung der Frist auf ein Jahr ausreichend sein, um der
Straflosigkeit von Straftätern und auf ein täterfreundli- Forderung des Bundesrates nach einer Ausweitung der
ches Strafrecht hinauslaufen, wird – so hoffe ich – heute Weisung nachzukommen.
nicht mehr so vorgetragen werden. Zu klar und deutlich
ist inzwischen, dass entpönalisierende Maßnahmen sehr Wenn allerdings eine ausdrückliche Erwähnung der
wohl eine messbare spezial- und generalpräventive Wir- Weisung im § 153 a StPO in Betracht gezogen wird, um
kung haben können und einen Beitrag zum zukünftigen ihre gewollte erweiterte Verhängung deutlich zu ma-
Opferschutz leisten. Auch die Bundesländer sehen – hof- chen, dann ist jedenfalls der Auffassung der Bundesre-
fentlich – inzwischen ein, dass die Kosten der Diversion gierung zu folgen, wonach es sich verbietet, Beschul-
sich doppelt auszahlen, denn nichts ist teurer als die digte ohne eine rechtskräftige Verurteilung als „Täter“
Geldeintreibung und der Strafvollzug als einzige Ant- zu bezeichnen. Auch die Formulierung des Bundesrates,
worten des Strafrechts auf strafwürdiges Verhalten. den Begriff „Täterprogramm“ zu verwenden, engt die
Möglichkeiten der Nutzung dieser Weisung eher ein.
Der heute zu diskutierende Vorschlag des Bundes- Denn dieser Begriff ist für Männer, die im häuslichen
rates geht in die richtige Richtung. Allerdings ist das nur Umfeld gewalttätig werden, eingeführt. Deshalb wird
(B) eine minimale Korrektur oder, besser gesagt, Ergänzung auch im Rahmen von § 59 a StGB eine ähnliche Formu- (D)
des Sanktionensystems, was ein weiteres Nachdenken lierung, wie sie schon im Jugendstrafrecht vorliegt, vor-
und Arbeiten an einer Reform des Sanktionensystems zuziehen sein.
nicht ersetzen kann. Aber immerhin: Damit signalisieren Wir Grüne werden uns an der parlamentarischen De-
auch die Länder, dass sie den Elementen der Diversion batte mit eigenen Vorschlägen beteiligen und erwarten
nicht mehr apodiktisch negativ entgegenstehen. von der Koalition, insbesondere von der Fraktion der
In der Sache geht es darum, ein aus dem Bereich der CDU/CSU, dass der Vorschlag des Bundesrates kon-
Verfolgung von häuslicher Gewalt entwickeltes Instru- struktiv aufgenommen wird.
ment der Einwirkung auf gewalttätige Männer zu einer
allgemeinen Maßnahme im Sanktionensystem zu etablie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ren. Konkret geht es um sogenannte Täterprogramme, Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit wurfs auf Drucksache 17/1466 an die in der Tagesord-
Häusliche Gewalt“ entwickelt und mit Erfolg eingesetzt nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
werden. Diese Täterprogramme sind ein gewaltzentrier- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
tes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungs- sung so beschlossen.
angebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Män-
ner, bei dem vielfältige pädagogisch-therapeutische Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Ansätze, Konzeptionen und Methoden verfolgt werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Solche Programme als Ersatz oder Vorstufe zur Geld- Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
oder Freiheitsstrafe sind richtige und längst notwendige Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Sanktionsmaßnahmen eines modernen Strafrechts. In DIE LINKE
der Sache ähneln sie sicher den bereits im Jugendstraf-
recht eingeführten „sozialen Trainingskursen“ als Wei- Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen –
sungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG. Ursachen bekämpfen
Der Bundesrat schlägt vor, solche Täterprogramme – Drucksache 17/5377 –
ausdrücklich als Weisungen in Fällen der Einstellung ei- Überweisungsvorschlag:
nes Strafverfahrens nach § 153 a StPO und als Anwei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
sungen bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt nach Verbraucherschutz (f)
§§ 59, 59 a StGB aufzuführen und dabei die Frist zur Er- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
füllung der Weisung nach § 153 a StPO auf ein Jahr zu
verlängern. Die Reden nehmen wir zu Protokoll.
11774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergan- (C)
Erst vor drei Wochen haben wir über das Thema Dio- gen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene
xin debattiert. Nun liegt heute ein Antrag der Linken vor, Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde
der sich des Themas erneut annimmt. Doch neu ge- dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundes-
schrieben ist nicht neu gedacht, werte Kolleginnen und institut für Risikobewertung die wenigen geringen
Kollegen von der Linken. Aber gern lege ich Ihnen noch Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebens-
einmal die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich ein-
zu den Dioxinvorfällen dar: gestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass
die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland – gut
Im vergangenen Jahr, genauer: am 21. Dezember, zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Mutter-
drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastun- milch – seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen ist und
gen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Ja- heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten liegt.
nuar – nur 24 Tage später – stellte Bundesagrarministe-
rin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie be-
Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am treiben politischen Missbrauch auf dem Rücken der Ver-
2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen braucher mit dem Ziel, Ihre sogenannte ökologische
zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetzli- Agrarwende zu erreichen.
che Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans.
Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ers- Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus:
ten Dioxinmeldungen! Ich wiederhole: anderthalb Mo- Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Land-
nate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung wirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in die-
kennt, der weiß, was dieser Zeitraum bedeutet. ser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD
und Linke eigentlich sind.
Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wie-
der einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie De facto ist es doch so: Die moderne, arbeitsteilige
und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untä- und intensive Landwirtschaft ist dafür verantwortlich,
tigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein dass die Menschen heute nur 11 Prozent ihres Einkom-
Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere mens für Lebensmittel ausgeben müssen. Die moderne
Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert. Landwirtschaft ist unter anderem dafür verantwortlich,
CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert. Das ist ver- dass die Lebensmittel heute qualitativ so hochwertig
antwortungsvoller Verbraucherschutz! sind wie nie zuvor. Die moderne Landwirtschaft produ-
Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal ziert für die Verbraucher Lebensmittel gut und preis-
(B) wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die wert. Das nenne ich wirklich nachhaltig! Verschonen Sie (D)
Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese uns also bitte mit Ihrem Gerede von der Agrarwende!
sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in
Niemand will die Situation schönreden. Es hat die
der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein di-
Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben.
ckeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregie-
Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminel-
rung kann ich mir kaum vorstellen.
len Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um indivi-
Bevor ich zu der heute in erster Lesung zu beratenden duelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswir-
Novelle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches kungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende
komme, lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den bäuerliche Familien.
Dioxinvorfällen sagen. Ich denke, das ist, auch wenn wir
darüber schon debattiert haben, bitter nötig. Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkom-
men als Folge der Dioxinpanscherei lassen sich schon an
Die Rolle, die die Opposition und ein Teil der Medien den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den ver-
hier gespielt haben, war höchst verantwortungslos. An- gangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte
statt zur sachlich-fachlichen Aufklärung beizutragen, deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Ge-
überschlug man sich in immer hysterischeren Über- flügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt
schriften. Und während der Agrarausschuss des Deut- sich, was von der von der Opposition propagierten öko-
schen Bundestages die Vorfälle um das dioxinver- logischen Systemwende und den darin verborgenen An-
schmutzte Futtermittel diskutierte, hatte die Opposition schuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden
nichts Besseres zu tun, als den Sitzungssaal zu verlassen Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und
und der Presse angebliche neue Skandale in die Feder ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter!
zu diktieren. Wir hätten uns eine konstruktive Zusam-
menarbeit mit der Opposition gewünscht. Doch von die- Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die
ser kam, wie so häufig in der Vergangenheit, nur ein de- Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die
struktives Skandalisieren. Ihr Antrag spiegelt diese intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft.
oppositionelle Unsachlichkeit beispielhaft wider – und Wir müssen vorwärtsschauen und vorwärtshandeln. Was
das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition wir, was die Bundesregierung und – das darf nicht ver-
scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher gessen werden – was auch die EU plant, sind Maßnah-
zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben. men, um Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion
Dann kann man eigene politische Ziele am besten um- so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher
setzen. für Betrüger noch kleiner werden.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11775
Franz-Josef Holzenkamp
(A) Am 24. März wurde die 41. Verordnung zur Änderung können. Und dies muss auch europaweit gelten. Wir (C)
der Futtermittelverordnung dem Bundestags zugeleitet. brauchen im Lebensmittelbereich die gläserne Produk-
Hierin wird eine Zulassungspflicht für bestimmte Futter- tion vom Acker bis auf die Teller der Verbraucherinnen
mittelhersteller sowie eine Trennung der Produktions- und Verbraucher, denn nur so kann Vertrauen in die Si-
ströme von Fetten und Ölen, die als Futtermittel verwen- cherheit von Lebensmitteln wiederhergestellt werden.
det werden, geregelt. Zudem wird vorgeschrieben, dass Darin sind wir uns mit der Linken einig.
diese Betriebe Eingangsuntersuchungen auf Dioxine
und dioxinähnliche Stoffe durchzuführen haben. Damit Wir freuen uns auch darüber, dass die Linke in ihrem
werden die Punkte 1 bis 3 des Aktionsplanes der Bun- Antrag unsere Forderung nach einem Informanten-
desregierung und der Länder umgesetzt. schutz aufgreift. Auch wir wollen, dass Zivilcourage ge-
fördert wird, und kritisieren die Bundesregierung, die
Des Weiteren sind Änderungen im Lebens- und Fut- den Informantenschutz nicht regeln will.
termittelgesetzbuch in der Umsetzung. Diese betreffen
insbesondere die Punkte 4 und 8 des Aktionsplanes, also Wir fordern, dass Insider, die die zuständigen Behör-
die Meldepflicht von privaten Laboren, wenn sie erhöhte den über Missstände bei ihren Arbeitgebern informie-
Werte bei ihren Untersuchungen von Futtermittelproben ren, gesetzlich vor Kündigung geschützt werden. Auch in
feststellen, sowie die Meldepflicht bei internen Untersu- der Vergangenheit wurden Lebensmittelskandale nur
chung von Unternehmen, bei denen erhöhte Werte fest- durch Insider aufgedeckt. Eine Regelung für die soge-
gestellt worden sind. Sie sehen, die Bundesregierung ist nannten Whistleblower sollte bereits als Konsequenz
auf einem guten Weg. aus dem Gammelfleischskandal im Jahre 2008 gezogen
werden. Der damalige Verbraucherschutzminister
Seehofer konnte sich aber nicht gegenüber der CDU
Kerstin Tack (SPD):
durchsetzen. Und Frau Aigner hat eine Regelung beim
Vor mehr als drei Monaten, am 23. Dezember 2010, jetzigen Dioxinskandal gar nicht erst in Erwägung gezo-
wurde bekannt, dass ein skrupelloses Futtermittelunter- gen. Also werden wir als SPD zeitnah einen entspre-
nehmen dioxinbelastetes Futter in Umlauf gebracht chenden Gesetzentwurf vorlegen.
hatte. In der Folge wurden erhöhte Grenzwerte in Eiern,
in Geflügel- und Schweinefleisch nachgewiesen. Meh- In dem vorliegenden Antrag der Linken steht auch zu
rere Tausend landwirtschaftliche Betriebe wurden ge- Recht, dass das Verbraucherinformationsgesetz, VIG,
sperrt, und Verbraucherinnen und Verbraucher waren endlich zu verbessern ist. Das VIG muss unverzüglich
zutiefst verunsichert. novelliert und an die neuen Anforderungen angepasst
werden. Sämtliche Untersuchungsergebnisse der be-
Die SPD-Bundestagsfraktion legte daraufhin umge-
(B) hend einen Forderungskatalog vor, um Konsequenzen trieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Unter- (D)
suchungsergebnisse sollen in einer Datenbank veröf-
aus diesem Skandal zu ziehen. Diese wurden dann weit-
fentlicht werden. Dies hat unabhängig davon zu
gehend in den Aktionsplan des Bundes und der Länder
geschehen, ob Grenzwerte eingehalten oder unterschrit-
„Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel,
ten wurden.
Transparenz für den Verbraucher“ aufgenommen.
Auch im vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke Auch auf EU-Ebene muss die Bundesregierung umge-
„Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ursachen be- hend die Initiative ergreifen, damit eine Positivliste für
kämpfen“ finden sich unsere Forderungen wieder; das Futtermittel europaweit verbindlich eingeführt wird.
freut uns. Aber auch die Bundesländer sind gefragt. Sie müssen
Insofern liegt uns aber hier nichts Neues vor, und ei- die notwendigen Maßnahmen ergreifen und ihre Kon-
nige der geforderten Maßnahmen befinden sich bereits in trollsysteme auf den Prüfstand stellen. Ein bundesweit
der Umsetzung bzw. werden beraten, wie zum Beispiel im einheitliches Niveau der Lebensmittelüberwachung
Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- muss erarbeitet werden, und verstärkte Kontrollen in
und Futtermittelgesetzbuches, LFGB, die Meldepflichten den Betrieben sind nötig.
für private Labore und Planungen für ein Dioxin-
Die bundesweite Internetplattform mit Lebensmittel-
monitoring.
warnungen muss endlich freigeschaltet werden. Ver-
Natürlich ist es aber generell richtig, dass aus dem braucherinnen und Verbraucher wollen wissen, wohin
Dioxinskandal die nötigen Lehren gezogen werden müs- belastete Lebensmittel geliefert wurden, und müssen
sen und das Thema weiter auf die Tagesordnung gehört. sich rechtzeitig informieren können.
Alle Beteiligten müssen die geplanten Maßnahmen zügig
abarbeiten, und wir als Opposition müssen immer wie- Um jetzt nicht noch einmal alle SPD-Forderungen zu
der darauf hinweisen und nachfragen. wiederholen, möchte ich abschließend nur noch einmal
grundsätzlich feststellen: Es darf bei allen Beteiligten,
So liegen zum Beispiel auch heute noch keine Planun- die für die Konsequenzen aus dem Dioxinskandal ver-
gen für den von uns geforderten weiteren Ausbau der antwortlich sind, nicht bei bloßen Absichtserklärungen
Rückverfolgbarkeitssysteme vor. Verbraucherinnen und bleiben, sondern Taten müssen folgen. Verbraucherin-
Verbraucher müssen die Herkunft von Lebensmitteln nen und Verbraucher erwarten zu Recht Ergebnisse, um
und auch Futtermitteln über alle Produktions-, Verar- wieder auf die Qualität der Lebens- und Futtermittel
beitungs- und Vertriebsstufen lückenlos nachverfolgen vertrauen zu können.

Zu Protokoll gegebene Reden


11776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Warum also dieser Antrag? Ganz klar, Sie möchten (C)
Wir sind sehr dafür, Lehren aus dem Dioxinvorfall zu gar nicht in der Sache weiterkommen. Ihr Antrag soll
ziehen, und wir haben dies längst getan. Der Antrag suggerieren, dass unsere Lebensmittel nicht sicher
kommt also zu spät. seien. Das trifft nicht zu. Mit Ihren unrealistischen For-
derungen verunsichern Sie Konsumenten und Produzen-
Als Erstes sollten wir uns bewusst sein, dass die Ur- ten, vertreiben Unternehmen ins Ausland, verteuern die
sache des Dioxinvorfalls nach bisheriger Kenntnis auf Produktion in Deutschland und schaden letztendlich
kriminelles Handeln zurückzuführen ist. Das bewusste dem Verbraucher mehr, statt ihn zu stärken.
Fehlverhalten des Betriebes hat zu dem überhöhten Ge-
Sie bedienen die Sorgen und Ängste der Verbrauche-
halt an Dioxin in Fettsäuren geführt, die Futtermischun-
rinnen und Verbraucher, statt ihnen Orientierung zu ge-
gen beigemengt und verfüttert wurden. Für Schweine
ben. Gefährdungen durch Lebensmittel passieren zu-
und Geflügel ist das Beimengen von Futterfetten zum
meist dann, wenn Hygienevorschriften nicht beachtet
Getreidefutter für eine gesunde Ernährung wichtig. Ge-
werden. Letztes Jahr sind Menschen an mit Listerien
gen bewusstes Fehlverhalten helfen keine Gesetze. Die kontaminiertem Käse gestorben, in diesem Jahr wurde
Erwartung, dass es nie wieder einen Dioxinfall geben wiederum in Nordrhein-Westfalen vor Käse gewarnt, der
wird, geht ins Leere. mit Listerien belastet war. Die Thematisierung von
Die intensive Beschäftigung mit Dioxin hat auch Schadstoffen verursacht eine verzerrte Risikowahrneh-
deutlich gemacht, dass in den letzten 20 Jahren viel er- mung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
reicht wurde: Die Hintergrundbelastung mit dem Um- Gemeinsam sind jetzt der Bund und die Länder in der
weltgift Dioxin ist auf ein Drittel gesunken. Das ist ein Pflicht, entsprechend dem 14-Punkte-Programm „Unbe-
großer Erfolg. Er wurde erzielt durch eine bessere Fil- denkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transpa-
tertechnik, durch eine verbesserte Steuerung von Ver- renz für den Verbraucher“, dem alle zugestimmt haben,
brennungsprozessen. Dennoch müssen wir den Men- zu handeln. Dabei gilt es, mit Augenmaß zu handeln,
schen sagen, dass Dioxine vorhanden sind, die sich nur keine bürokratischen Monster zu errichten und nicht Da-
langsam abbauen, und dass immer wieder auch neue tenmengen anzuhäufen, die niemand überblicken kann.
entstehen. Durch die im Januar aufgefundenen erhöhten Wir wollen Transparenz, und wir wollen gleichfalls, dass
Gehalte von Dioxinen in Tierfutter sowie auch in tieri- die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum Nut-
schen Produkten wurde zu keinem Zeitpunkt die Gesund- zen stehen.
heit der Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Eines zum Schluss: Bei aller Pflicht zur Vorsorge, wir
Opfer des Dioxinvorfalls sind insbesondere kleinere dürfen unsere Verantwortung für die eigentlich Geschä-
(B) landwirtschaftliche Betriebe, die das Futter für ihre Tiere digten, die Landwirte der gesperrten Betriebe, welche (D)
selbst mischen. Wer den Dioxinvorfall jetzt noch thema- ohne eigenes Verschulden in existenzielle Notlage gera-
tisiert, nachdem die Bundesregierung ihr 14-Punkte- ten sind, nicht vergessen.
Programm beschlossen und auf den Weg gebracht hat
– die Gesetzesberatung beginnt nächste Woche –, hat da- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
her kaum den Schutz der Verbraucherinnen und Verbrau-
Agrarpolitik könnte so schön sein: Wiesen, Wälder
cher im Auge, sondern will denen schaden, die bisher
und Traktoren. Das sind Themen, mit welchen ich mich
schon unter dem Vorfall am meisten gelitten haben: die
gerne beschäftigen würde. Stattdessen müssen die Mit-
landwirtschaftlichen Betriebe.
glieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, dafür und Verbraucherschutz, ELV, in regelmäßigen Abstän-
zu sorgen, dass Fehlverhalten erschwert, Verstöße den Skandale aufarbeiten. Erinnern wir uns an BSE
schneller entdeckt werden. Deshalb soll eine Zulas- oder die Berge von brennenden Tierkadavern in der
sungspflicht für alle Betriebe eingeführt werden sowie MKS-Krise oder ans Gammelfleisch oder eben an den
eine Trennung der Produktionsströme von Fettsäuren, Futtermittelskandal Anfang des Jahres 2011: Kaum war
die für Futtermittel verwendet werden sollen, und denen, die letzte Silvesterrakete explodiert, platzte die Dioxin-
die technisch verwendet werden. Wir wollen eine Positiv- Bombe!
liste für Futtermittel. Die Betriebe werden verpflichtet, Illegale Panscherei in der Futtermittelindustrie er-
ihr Haftungsrisiko abzusichern. Wir brauchen verbindli- schütterte das politische Berlin. Belastetes Industriefett
che Vorgaben für Eigenkontrollen, eine Meldepflicht bei war mindestens über Monate hinweg ins Tierfutter ge-
Gefahr, die Absicherung der Rückverfolgbarkeit. Bund mischt worden, und keiner hatte es gemerkt. Das hoch-
und Länder müssen zusammenarbeiten, um Qualitäts- gelobte QS-Prüfsystem – unter Renate Künast als All-
managementsysteme flächendeckend zu evaluieren, eine heilmittel eingeführt – hat dieses kriminelle Handeln
verbesserte risikoorientierte Futtermittelkontrolle auf nicht eindämmen können. – Das ist die eine Schwach-
den Weg zu bringen und ein Dioxinmonitoring zu instal- stelle im System.
lieren.
Die andere ergibt sich aus der hochriskanten Art und
Bereits am kommenden Montag findet die Anhörung Weise, wie heutzutage Futtermittel hergestellt werden.
des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Das Risiko ergibt sich zunächst aus der offensichtlich
Verbraucherschutz zum Gesetz zur Änderung des Le- kriminellen Motivation einiger Manager zur Profitmaxi-
bens- und Futtermittelgesetzbuches statt. mierung durch Kostenminimierung bei Rohstoffen, oft

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11777
Dr. Kirsten Tackmann
(A) genug auch auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitar- ballte Lobby durchzusetzen. Wettbewerbsverzerrungen (C)
beiter. werden befürchtet und ein nationaler Alleingang abge-
lehnt – am besten solle alles fast so bleiben, wie es war,
Und es gibt drei weitere wesentliche Risiken: erstens
findet die Industrie. Aber ein „Weiter so“ darf es aus
Kenntnislücken über Eintragsrisiken des Umweltgiftes
meiner Sicht auf gar keinen Fall geben.
Dioxin in die Lebensmittelkette, zweitens die hohe An-
zahl von Futtermittelzusätzen, drittens die sehr komple- Aus Sicht der Linken sind Aigners Vorschläge nicht
xen Lieferbeziehungen in der Futtermittelbranche, die ausreichend. Es müssen weitergehende Konsequenzen
zur Folge haben, dass Tausende Höfe in mehreren Bun- gezogen werden. Wir meinen, der Dioxinskandal darf
desländern vorsorglich gesperrt werden mussten, weil nicht nur Änderungen kosmetischer Natur zur Folge ha-
ein Futtermittelhersteller kriminell gehandelt hat. Diese ben, sondern muss an die Basis der Futtermittelproduk-
Betriebe hatten keinerlei Chance, diesem Risiko zu ent- tion und -kontrolle heran. Darum bringen wir heute un-
gehen. Der Schweinemarkt brach zusammen, gegensei- seren Antrag „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen –
tige Schuldzuweisungen füllten wochenlang die Medien. Ursachen bekämpfen“ in den Bundestag ein.
Eine ganze Branche stand unter Verdacht.
Wir fordern, die strukturellen Defizite in der Lebens-
Die Linke meint, der Dioxinskandal wäre vermeidbar mittel- und Futtermittelkontrolle zu beseitigen. Wir wol-
gewesen, wäre bereits nach den Erfahrungen aus frühe- len, dass Landwirtinnen und Landwirte genauso wie
ren Skandalen ein wirklich wirksames, bundesweites Verbraucherinnen und Verbraucher vor schädlichen
Kontrollsystem installiert worden. Hier haben alle Bun- Umwelteinflüssen und Giften geschützt werden. Der un-
desregierungen der jüngeren Vergangenheit versagt. ter Rot-Grün begonnene zunehmende Ersatz staatlicher
Die Bundesregierung will nun konsequent handeln – Kontrollen durch Eigenkontrollen der Betriebe – nach
leider aber wieder unzureichend, weil nicht strategisch deren eigenen Regeln – hatte verheerende Folgen. Aus
und strukturverändernd. Bundesagrarministerin Aigner unserer Sicht wird ein strategischer Ansatz zur Lösung
legte einen 10-Punkte-Plan vor und verständigte sich des Problems gebraucht. Das heißt, die gesamte Produk-
mit den zuständigen Ministerinnen und Ministern der tionskette mit den Stoffkreisläufen vom Acker bis zum
Länder auf einen 14-Punkte-Plan. Das war ein erster Teller muss wirksam unter Kontrolle genommen werden.
Schritt, dem nun aber Taten folgen müssen. Der Bund- Wir schlagen ein betriebliches Zertifizierungssystem
Länder-Plan enthält Maßnahmen und Gesetzesvorha- nach strengen gesetzlichen Vorgaben – das ist sehr wich-
ben, die eine Wiederholung des Dioxinskandals verhin- tig – für die gesamte Erzeugungskette vom Stall bis in
dern sollen. Einiges davon hat auch Die Linke gefordert, die Ladentheke vor. Das wurde uns übrigens schon mal
und das unterstützen wir natürlich; aber insgesamt wird in der Anhörung zum Gammelfleischskandal vor einigen
(B) das nicht ausreichen. Zum Beispiel fehlen dringend not- Jahren empfohlen, und wir greifen das jetzt auf. Die da- (D)
wendige Forschungsvorhaben zu Einschleppungsrisiken raus entstehenden Mehrkosten sollten branchensolida-
von Umweltgiften in die Lebensmittelkette. Auch eine risch umgelegt werden. Das Zertifikat muss auf strengen
systematische Überprüfung der Kontrollsysteme ist eine gesetzlichen Regeln basieren und die einzelnen Markt-
Fehlstelle, mal abgesehen davon, dass an den strukturel- teilnehmer und ihr Handeln überwachen. Für jede Fut-
len Ursachen in der Branche kaum gerüttelt wird. Aber termittelcharge sollte vor der Verarbeitung zu einem
genau hier muss aus Sicht der Linken ein strategisches Mischfutter die Unbedenklichkeit nachgewiesen werden.
Handlungskonzept ansetzen. Labore sollten verpflichtet werden, über auffällige Be-
Leider werden von den 14 Bund-Länder-Vorhaben funde den Behörden zu berichten, das heißt in Ver-
nur ganze zwei im Deutschen Bundestag als Gesetzent- dachtsfällen oder bei Grenzwertüberschreitungen in
würfe behandelt: das Lebensmittel- und Futtermittelge- Futtermitteln. Die Berliner Verbrauchersenatorin der
setzbuch, LFGB, zu dem in der kommenden Woche eine Linken, Katrin Lompscher, hält die von der Bundesregie-
Anhörung des ELV-Ausschusses stattfindet, und eine rung vorgesehene Meldepflicht nicht für weitgehend ge-
Novelle des Verbraucherinformationsgesetzes. Die nug, wie sie in ihrer Stellungnahme zur LFGB-Anhörung
Linke sieht es als wenig nachvollziehbar an, dass we- am 11. April 2011 schreibt. Sie fordert eine Ausweitung
sentliche Entscheidungen – zum Beispiel Trennung der der Meldepflicht auf jede Person, die beruflich mit Le-
Produktionsströme, verbindliche Anforderungen an das bens- oder Futtermitteln zu tun hat und Unstimmigkeiten
Eigenkontrollsystem der Unternehmen und die Zulas- dabei feststellt. Aigner will sie auf Laboratorien be-
sungspflicht für die Futtermittelbetriebe – in Rechtsver- schränken. Die Linke will die staatlichen Kontrollen
ordnungen geregelt und damit nicht im Parlament be- stärken, indem zum Beispiel die Zusammenarbeit der
handelt werden sollen. Das sind wesentliche Fragen, die Länder weiter verbessert und der Zugang zu allen Be-
wegen ihrer Bedeutung für die Verbraucherinnen und triebsdaten der Erzeugerkette ermöglicht wird.
Verbraucher vom Parlament entschieden werden soll-
Der Dioxinskandal hat nicht nur Verbraucherinnen
ten.
und Verbraucher verunsichert – der Run auf Bio-Eier
Der Entwurf einer Änderung der Futtermittelverord- war ein deutliches Signal, denke ich –, sondern auch
nung liegt mittlerweile auch auf dem Tisch. Die Futter- viele Landwirtinnen und Landwirte hart getroffen. Ihre
mittellobby hat bereits Protest angemeldet und kritisiert wirtschaftliche Existenz wurde bedroht. Der Lieferstopp
angeblichen politischen Aktionismus. Ministerin Aigner sorgte für fehlende Einnahmen auf vielen Bauernhöfen.
wird also Schwierigkeiten haben, selbst die meiner Mei- Hinzu kommt noch der Vertrauens- und Kundenverlust
nung nach wenig ambitionierten Vorhaben gegen die ge- durch jeden weiteren Lebensmittelskandal. Einzig der

Zu Protokoll gegebene Reden


11778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Dr. Kirsten Tackmann


(A) kriminellen Gier und Skrupellosigkeit einiger Weniger besserungen. Da machen die Verwaltungen gute Arbeit. (C)
ist es zu verdanken, dass eine ganze Branche so schwer Der politische Skandal ist, dass die Koalition politisch
erschüttert werden konnte. überhaupt keine Konsequenzen gezogen hat, sondern
mehr denn je auf ein „Weiter so!“ setzt, was früher oder
Dabei sind die meisten Landwirtinnen und Landwirte später in den nächsten Lebensmittelskandal führen wird.
völlig unschuldig in diese Situation geraten. Die Linke Das große Versagen der Bundesregierung im Dioxin-
fordert, die betroffenen Betriebe mit ihren finanziellen skandal besteht darin, dass sie die Zeichen der Zeit nicht
Schwierigkeiten nicht alleinzulassen und Entschädi-
erkannt hat, dass sie einmal mehr den Ruf aus der Bevöl-
gungsleistungen zu ermöglichen, beispielsweise über die
kerung nach einem radikalen Systemwandel ignoriert
Landwirtschaftliche Rentenbank. Per Gesetz sollte für
und die überfällige Agrarwende verpasst. Dabei lautet
zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichsfonds geschaf-
fen werden. Dieser muss von der Futtermittelindustrie die entscheidende Frage doch, ob wir in der Landwirt-
finanziert werden. Haftpflichtregelungen reichen nicht, schaft eigentlich noch auf dem richtigen Weg sind mit
weil sie bei vorsätzlichem Handeln nicht greifen. der Industrialisierung, Exportorientierung und industri-
alisierten Massentierhaltung oder ob uns nicht dieses
Abschließend noch ein Wort zum Thema Forschung. System der Agrarfabriken in die Sackgasse geführt hat.
Die wird ja immer gern vergessen, ist jedoch die Grund-
lage für die Politikberatung, also für unser Handeln im Die Bürgerinnen und Bürger haben diese Frage be-
Deutschen Bundestag. Wir brauchen ein veterinärepide- reits beantwortet. Sie sind informiert; sie sind auf den
miologisches Zentrum, das sich zum Beispiel auch mit Stand der Dinge, und sie sagen eindeutig: Dieses System
den Eintragsrisiken von Umweltgiften in die Nahrungs- vergiftet unsere Nahrung und macht uns als Konsumen-
mittelkette befasst, und wir brauchen die Entwicklung ten zur Müllkippe, zerstört unsere Umwelt, hält das Mit-
von zuverlässigen und schnelleren Diagnostikmethoden. geschöpf Tier in unerträglichen Verhältnissen und
Aber statt die politikberatende Forschung zu stärken, degradiert es zum Produktionsfaktor, das man mit dem-
wird die Bundesressortforschung seit Jahren und seit selben Müll füttern kann wie ein Kraftwerk.
mehreren Bundesregierungen immer weiter zusammen-
gestrichen. Das kritisiert die Linke schon seit Jahren. „Hauptsache billig!“ – das ist die Logik der Agrar-
Gemeinsam mit den Bundesländern muss eine Strategie industrie, und da braucht man sich nicht wundern, wenn
zur Sicherung der Futtermittelsicherheit erarbeitet und wir alle Jahre wieder Lebensmittel als Sondermüll ent-
ständig weiterentwickelt werden. Gesetzgeberische Lü- sorgen müssen. Dieser Logik der Agrarindustrie ist die
cken müssen identifiziert und konsequent geschlossen schwarz-gelbe Koalition vor dem Dioxinskandal gefolgt,
werden. und dieser Logik folgt sie jetzt immer noch. Dabei hat
(B) Frau Aigner durchaus einige positive Versuche gestar- (D)
tet. Aber wo immer die Ministerin versucht, etwas anzu-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
packen, und sei es auch nur symbolisch, stehen die
Der Dioxin-Skandal, der im Januar Deutschland be- Bremser und Saboteure aus den eigenen Reihen schon
wegte, ist inzwischen aus der Presse verschwunden. bereit: Verbot des Kleingruppenkäfigs – von der FDP
Ausgestanden ist er damit noch lange nicht. Noch immer blockiert. Verbot des Schenkelbrands bei Pferden – vom
kämpfen Betriebe mit den Folgen des Skandals und noch Tierschutzbeauftragten der CDU/CSU-Fraktion Stier
immer sind die Quellen des Dioxins nicht restlos aufge- mit zweifelhaften Mitteln und einer Lobbykampagne be-
klärt. Die Verwaltungen von Bund und Ländern bringen kämpft. Aigners Kampagne „Wahrheit und Klarheit“ –
nach und nach den 14-Punkte-Dioxinaktionsplan in von der Koalition im Agrarausschuss unter Demütigung
Rechtsform, und der Bundestag wird die Beratungen
der anwesenden Ministerin zerrissen. Die Charta für
über die Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetz-
Landwirtschaft – vom Bauernverband mit seinen zahl-
buches am Montag mit einer öffentlichen Anhörung be-
reichen CDU/CSU-Mehrfachfunktionären auf das Hef-
ginnen. Das alles geschieht nicht wirklich im Eiltempo,
und vieles, was die Bundesregierung bisher vorgelegt tigste bekämpft. Eine ökologische EU-Agrarreform –
hat, bedarf noch der Konkretisierung und muss sich erst einstweilen aus Rücksicht auf den CSU-Kollegen Deß
noch als praxistauglich erweisen. Dennoch haben Bund abgesagt. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Am Ende
und Länder da, wo sie tätig werden, unsere Unterstüt- steht die Ministerin nicht zu ihren Ankündigungen, son-
zung. dern erklärt pflichtgemäß: Keine Agrarwende!

Was fehlt, sind die politischen Konsequenzen aus der Wir sagen: Die Agrarwende in die Zukunft muss kom-
Dioxinkrise. „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – men, und die Zeichen in Brüssel stehen nicht schlecht.
Ursachen bekämpfen“ lautet die Überschrift des hier Die EU-Agrarreform wird zeigen, ob Ilse Aigner am
debattierten Antrags der Linken. Genau daran mangelt Ende als Reformerin oder als Requisite des Bauernver-
es nach wie vor, und auch der Antrag der Linken hat bands dastehen wird.
dazu nicht viel anzubieten. Im Antrag der Linken fehlt,
was die Bundesregierung von Anfang an versäumt hat: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die politischen Konsequenzen aus dem Dioxinskandal zu
ziehen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5377 an die in der Tagesordnung aufge-
Der politische Skandal im Dioxinskandal ist doch führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
nicht der Mangel an technischen und juristischen Nach- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11779
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: bände, Kammern und Vereinigungen sowie in Fragen (C)
der Stadtentwicklungspolitik fachlich profilierte Einzel-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina persönlichkeiten. Die Bundesregierung hat bei den Ver-
Herlitzius, Monika Lazar, Winfried Hermann, bänden und Kammern keinen Einfluss auf die Benennung
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
der Vertreter. Gegenwärtig sind 10 von 42 Mitgliedern
NIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen.
Frauenquote bei Gremienbesetzungen durch
das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Der Anteil der Frauen an dem unabhängigen Fach-
Stadtentwicklung konsequent einhalten gutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen
Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im
– Drucksache 17/5257 – Rahmen des ESF-Bundesprogramm „Soziale Stadt –
Überweisungsvorschlag: Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“ be-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) trägt 53 Prozent. Die Forderung ist daher hier bereits
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erfüllt. Zudem mussten alle Gutachterinnen und Gutach-
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll. ter ihre spezifischen Kompetenzen im Bereich der
Gleichstellung darlegen. Darüber hinaus berücksichtigt
die im Rahmen der zweiten Förderrunde überarbeitete
Patrick Schnieder (CDU/CSU): Förderrichtlinie zum Programm BIWAQ den Gleichstel-
Zunächst möchte ich feststellen: Die Bundesregie- lungsaspekt umfassend. So wird die Chancengleichheit
rung ist bei der Berufung und Entsendung von Frauen in von Frauen und Männern im Zuge aller verfahrensbezo-
Gremien ein gutes Stück vorangekommen. Dies belegt genen, fachpolitischen und zielgruppenspezifischen Ak-
der Fünfte Gremienbericht für den Zeitraum 30. Juni tivitäten besonders berücksichtigt. Zudem wird analog
2005 bis 30. Juni 2009. Wir wollen aber hier nicht ste- zum Operationellen Programm des Bundes für den ESF
hen bleiben. Denn trotz erheblicher Fortschritte ist eine – die Gesamtkoordination aller ESF-Bundesprogramme
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in
liegt übrigens beim BMAS – angestrebt, Frauen und
Gremien noch nicht gegeben.
Männer zu jeweils 50 Prozent an den Projektteilnahmen
Um weitere Verbesserungen zu erreichen, will die und am Budget zu fördern.
Bundesregierung das Bundesgremienbesetzungsgesetz
novellieren. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen Die Forderung, dass bei der Benennung von Mitglie-
und Männern ist Ziel dieses Gesetzes. Eine starre Frau- dern für projektgebundene Fachjurys, Arbeits- und Aus-
enquote – wie in Norwegen – sieht das Gesetz für die wahlgremien durch das BMVBS mindestens zur Hälfte
(B) Gremien des Bundes nicht vor. Das Bundesministerium Frauen zu berücksichtigen sind, ist bereits erfüllt. Ge- (D)
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat bei seinen mäß den §§ 1 und 2 Bundesgremienbesetzungsgesetz
Gremienbesetzungen aber bereits jetzt versucht, darauf unterliegen grundsätzlich alle Gremien im Einflussbe-
hinzuwirken, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von reich des Bundes dem Bundesgremienbesetzungsgesetz.
Frauen und Männern in Gremien geschaffen und erhal- Für diese Gremien gilt das Ziel einer gleichberechtigten
ten wird. Teilhabe von Frauen und Männern.
Das BMVBS hat im Gleichstellungsplan für die Jahre Zudem will die Bundesregierung prüfen, welche Me-
2010 bis 2013 eine ganze Reihe von Maßnahmen festge- chanismen geeignet sind, um die Umsetzung des Geset-
halten. Nach dem Bundesgremienbesetzungsgesetz ist zesziels in den vom Geltungsbereich betroffenen wesent-
jede vorschlagsberechtigte Stelle bei der Besetzung von lichen Gremien transparenter zu machen und zu kon-
Gremien im Bundesbereich grundsätzlich verpflichtet, trollieren.
für jeden ihr zustehenden Gremiensitz jeweils eine Frau
und einen Mann gleicher Eignung zu benennen. Die Eine Verpflichtung zur Erstellung und Führung einer
Verpflichtung zur Doppelbenennung entfällt nur in eini- Liste aller Gremien sieht das Bundesgremienbeset-
gen Ausnahmefällen; die Gründe hierfür müssen schrift- zungsgesetz nicht vor. Der Fünfte Gremienbericht der
lich angegeben werden. Das jeweils zuständige Fachre- Bundesregierung empfiehlt in seinen Schlussfolgerun-
ferat bemüht sich darum, Frauen für Gremienfunktionen gen jedoch, dass künftig „in allen Ressorts an zentraler
zu gewinnen. Der alleinige Hinweis auf die Beachtung Stelle Listen aller Gremien geführt werden, die unter
der Vorschriften des Gremienbesetzungsgesetzes reicht den Anwendungsbereich des Bundesgremienbesetzungs-
nicht aus. Die Gleichstellungsbeauftragte ist bei den gesetzes fallen“. Dies beträfe damit auch das BMVBS.
Gremienbesetzungen zu beteiligen. Im Rahmen einer Ressortarbeitsgruppe soll unter Fe-
Die im Antrag angesprochenen Gremien muss man derführung des Bundesfamilienministeriums darüber hi-
differenziert betrachten. naus eine Liste mit allen wesentlichen Gremien erstellt
werden.
Das Kuratorium Nationale Stadtentwicklungspolitik
zielt auf eine breite Verankerung der nationalen Stadt- Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Antrag
entwicklungspolitik in der Fachöffentlichkeit. Mitglie- der Grünen ist in der Sache nicht falsch, er ist gut ge-
der sind: die Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Baumi- meint, aber er ist überflüssig, denn die Bundesregierung
nisterkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände, die hat alle genannten Forderungen längst schon erfüllt
für die Belange der Stadtentwicklung relevanten Ver- bzw. auf den Weg gebracht.
11780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Christel Humme (SPD): sonderer Bedeutung: Die Novellierung muss dazu bei- (C)
Das Thema Frauenquote in der Wirtschaft wird zur- tragen, dass die Gremienbesetzung transparent gestaltet
zeit intensiv diskutiert. Wir Sozialdemokratinnen und So- wird, dass es verbindliche Zielvorgaben gibt – auch hier
zialdemokraten fordern mindestens 40 Prozent für Auf- fordern wir 40 Prozent –, wie in der Wirtschaft, und dass
sichtsräte und Vorstände. Das muss aber auch für die Kontroll- und Sanktionsmechanismen eingeführt wer-
Gremien des Bundes gelten. Werfen wir doch einmal ei- den, weil sonst alle Vorgaben nichts weiter als ein zahn-
nen Blick in die Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn loser Tiger bleiben. Dabei ist es natürlich wichtig, dass
AG: Der Bund hat in den meisten Fällen keine einzige die Forderungen zur Novellierung des Gremienbeset-
Frau in den Aufsichtsrat entsandt. Das ist nicht hinnehm- zungsgesetzes nicht nur für das Verkehrsministerium,
bar. Wir können nicht auf der einen Seite die Wirtschaft sondern für alle Bundesministerien gelten.
auffordern, mehr für Frauen in Führungspositionen zu
tun, und auf der anderen Seite bei Gremienbesetzungen, Auch aus Europa kommt immer mehr Druck, den
die im Einflussbereich des Bundes liegen, untätig blei- Blick auf die Frauenförderung zu erweitern: Mithilfe ei-
ben. Das nimmt uns doch keiner ab! ner Frauenquote soll endlich mehr Geschlechtergerech-
tigkeit in Aufsichtsräten erreicht werden. Auch die EU
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz hat zwar zu hat es begriffen. An der Quote führt kein Weg vorbei –
kleinen Erfolgen geführt – der Frauenanteil in den Gre- nicht in der Wirtschaft und auch nicht im Bund.
mien des Bundes ist im Jahr 2009 auf 24,5 Prozent ge-
stiegen –, jedoch verläuft die Entwicklung zu langsam. Petra Müller (Aachen) (FDP):
Das geht auch aus dem Fünften Gremienbericht der
Bundesregierung zum Bundesgremienbesetzungsgesetz Die Forderung, den Frauenanteil zu heben – ob in
hervor: „15 Jahre nach Verabschiedung des BGremBG Gremien des Bundes oder in der Wirtschaft, ob in Ver-
liegt das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von waltungen oder öffentlichen Ämtern –, diese Forderung
Frauen und Männern noch immer in weiter Ferne. Ge- ist gesamtgesellschaftlich richtig und erhält die volle
rade einmal jede vierte Gremienposition ist mit einer Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Dass hier
Frau besetzt. Gut jedes zehnte Gremium ist weiterhin in den zurückliegenden 14 Jahren seit Bestehen des Bun-
rein männlich.“ (Seite 34) desgremienbesetzungsgesetzes, BGremBG, auch in die-
sem speziellen Bereich zu wenig passiert ist und die An-
Dieses Gesetz ist zwar gut gemeint, aber die geringen hebung des Frauenanteils von anfänglich 12,4 Prozent
Fortschritte machen deutlich, dass das Gesetz viel zu im Jahre 1997 auf heute 24,5 Prozent bei Weitem nicht
schwach ist. Es fehlen verbindliche Zielgrößen, Kon- befriedigen kann, ist richtig. Trotzdem bietet das Gesetz
troll- und Sanktionsmechanismen. Hier muss dringend in seiner Zielstellung, den Bund und andere an der Be-
nachgebessert werden. Ansonsten können wir uns in den setzung von Gremien Beteiligte anzuhalten, auf eine
(B) (D)
nächsten fünf Jahren wieder nur über einen Zuwachs gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
von knapp 5 Prozent freuen. Angesichts der vielen gut hinzuwirken, eine solide und konsistente Grundlage zur
ausgebildeten Frauen in unserem Land ist das ein Hohn. Umsetzung dieser Forderung, die es weiterzuentwickeln
Wir vergeuden wichtige Potenziale. gilt.
Besonders deutlich werden diese Defizite am Beispiel Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent- BGremBG aus dem Jahre 2010, den Sie als Beleg für Ih-
wicklung. Das Verkehrsministerium hat den drittgrößten ren Antrag heranziehen, kommt selbst zu den Ergebnis,
Anteil an Gremien aller Ressorts, belegt jedoch mit ei- dass weder die gesetzlichen Rahmenvorgaben noch die
ner Frauenbeteiligung von 17 Prozent einen der hinters- bisher erzielten Resultate bei der Förderung der gleich-
ten Ränge. berechtigten Teilhabe von Frauen ausreichend sind. Die
Ebenso traurig sieht es beim Frauenanteil in Lei- Bundesregierung kommt daher auf Seite 36 ihres Be-
tungsfunktionen aus: Mit einem Frauenanteil von nur richts zu der Schlussfolgerung, dass eine gesetzliche No-
20 Prozent belegt das Verkehrsministerium innerhalb vellierung notwendig sei. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe
der obersten Bundesbehörden einen der hintersten Ränge. Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
Alle fünf Staatssekretärsposten sind fest in Männerhand, präzisiert die Bundesregierung jedoch diese Forderung
und unter den neun Abteilungsleitern ist nur eine Frau. und füllt sie mit einer Reihe konkreter Vorschläge. Hier
Hier liegt einiges im Argen. bleibt es nicht nur bei einer rituellen Handlung, die
christlich-liberale Koalition macht Nägel mit Köpfen:
Die Unterrepräsentanz von Frauen in leitenden Präzisierung der Zielbestimmung in § 1 des BGremBG,
Funktionen setzt sich in den Gremien fort. Forcieren einer möglichst flächendeckenden Umsetzung
der gleichberechtigten Teilhabe sowie klare Identifizier-
Wo keine Frauen in den unteren Ebenen sind, können
barkeit der Gremien, auf die die gesetzlichen Regelun-
nur schwer welche in den Gremien sein. Andersherum
gen Anwendung finden. Das meint das Führen von Gre-
gilt auch: Fehlen Frauen in den Gremien, so fehlen auch
mienlisten. Weiterhin wird auch das von Ihnen kritisierte
die Vorbilder und der Druck, in den unteren Ebenen – an
Doppelbenennungsverfahren als ineffizient moniert,
den Strukturen – etwas zu verändern. Daher sind wir So-
ebenso wie das Reißverschlussverfahren. Stattdessen
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch hier für
empfiehlt die Bundesregierung, auf komplizierte Verfah-
eine verbindliche Quote von 40 Prozent.
rensregelungen zu verzichten und Neuregelungen durch
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend Kontrollmechanismen zu flankieren. Schließlich solle im
novelliert werden. Dabei sind folgende Punkte von be- Zuge einer solchen Novellierung die Zusammenlegung

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11781
Petra Müller (Aachen)
(A) des BGremBG mit dem Bundesgleichstellungsgesetz ge- Sabine Leidig (DIE LINKE): (C)
prüft werden. Das entspräche auch der Koalitionsforde- Seit dem 1. September 1994 gilt das Gesetz über die
rung nach Entbürokratisierung. Berufung und Entsendung von Frauen und Männern in
Gremien im Einflussbereich des Bundes, Bundesgre-
All diese Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen mienbesetzungsgesetz. Ziel des Gesetzes ist die gleich-
der Opposition, finden sich auf den Seiten 36 bis 39 des berechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in diesen
Gremienberichts der Bunderegierung, und noch einige Gremien. Tatsächlich aber liegt der durchschnittliche
mehr. Weshalb der Bundestag hier und heute also die Frauenanteil in allen Gremien im Einflussbereich des
Novellierung eines Gesetzes fordern soll, ist mehr als Bundes bei 24,5 Prozent und im Bereich des Bundes-
fraglich. Offenbar ist doch die Bundesregierung längst ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nur
weiter, als von der Opposition gefordert. bei 17 Prozent. Diese wichtigen Zukunftsfelder werden
zu 83 Prozent von Männern gestaltet. Damit wird nicht
Ein nächster Punkt: Warum begrenzen Sie Ihre For-
nur der grundgesetzliche Anspruch auf Gleichberechti-
derungen auf ein Ministerium? Sie fordern das Bundes- gung missachtet, es fehlen auch die weiblichen Perspek-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, tiven. Und die sind, was die Lebenswelt in Städten, die
BMVBS, zur Einhaltung der durch das BGremBG gefor- Bauwerke oder den öffentlichen (Schienen-)Verkehr be-
derten Frauenquote auf. Müsste diese Forderung nicht trifft, eben anders als die männlichen. Wir unterstützen
für alle Ministerien gelten? Und tut sie es nicht längst, deshalb den Antrag der Grünen.
qua Gesetz? Ministerien zur Einhaltung von Gesetzen
aufzufordern, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Darüber hinaus schlagen wir vor, dass gleich ein kon-
kreter Schritt unternommen wird, der längst überfällig
Im Übrigen bleiben Sie auch hier wieder im Unkon- ist. Ich möchte daran erinnern, dass wir vor einem Jahr
kreten. Den mahnenden Zeigefinger zu heben, ist ja einen Antrag eingebracht haben mit dem Titel „Den
schön und gut, reicht aber nicht aus. Nehmen wir also Aufsichtsrat der Deutschen Bahn kompetent und demo-
die in Ihrem Antrag angesprochenen Gremien des kratisch besetzen!“ Darin haben wir den Verkehrsminis-
BMVBS: Im Kuratorium Nationale Stadtentwicklung ter aufgefordert, die Eigentümerseite im Aufsichtsrat
sind folgende Mitglieder tätig: die Vorsitzenden bzw. der Deutsche Bahn AG, die sich zu 100 Prozent im
Präsidenten der Bauministerkonferenz, die kommunalen Eigentum der Bundesrepublik befindet, so zu besetzen,
Spitzenverbände, für die Stadtentwicklung relevante dass dort zu 100 Prozent das allgemeine öffentliche In-
Verbände, Kammern und Vereinigungen sowie fachlich teresse vertreten wird. Die Regierung soll Aufsichtsrats-
profilierte Einzelpersönlichkeiten. Sie können sich vor- mitglieder benennen, die das Ziel verkörpern, den Schie-
stellen, dass bei der Auswahl der Vertreter der Verbände nenverkehr in Deutschland sozial, sicher und nachhaltig
(B) und Kammern die Bundesregierung nicht mitbestimmen zu entwickeln. „Dabei muss die Besetzung geschlechter- (D)
kann. Demzufolge sind die Einflussmöglichkeiten gerecht werden – auch im Aufsichtsrat sollen 50 Prozent
zwangsläufig begrenzt. Oder nehmen Sie das Fachgut- Frauen sitzen, so wie es in den Zügen zumindest im Nah-
achtergremium zur Beurteilung der eingegangenen Inte- verkehr der Fall ist.“
ressenbekundungen für die zweite Förderrunde im Rah-
men des ESF-Förderprogramms. Hier beträgt der Ich bin der Meinung, dass es heute sehr konkreten
Frauenanteil 53 Prozent. Grund zur Beanstandung kann Anlass gäbe, zumindest zwei dieser zehn Aufsichtsrats-
das nicht sein. Die Vorgaben des Gesetzes werden hier posten – die alle mit Männern besetzt worden sind – so-
fort umzubesetzen:
voll erfüllt.
Dr. Jürgen Großmann, der ein großer Propagandist
Sie fordern weiterhin die mindestens hälftige Beset- der Atomkraft war und ist, außerdem unter anderem
zung mit Frauen in Fachjurys, Arbeits- und Wahlgre- Vorstandsvorsitzender von RWE, und Christoph Dänzer-
mien. Diese Forderung ist völlig unverständlich, weil all Vanotti, Mitglied des Vorstands der E.on AG, Mehrheits-
die Gremien schon jetzt dem Geltungsbereich des eigentümer unter anderem des umstrittenen Bahnkohle-
BGremBG unterliegen. Ich sage nur noch einmal: Eule kraftwerks Datteln.
und Athen.
Als das Unternehmen mit dem höchsten Stromver-
Die christlich-liberale Koalition hat sich die Hebung brauch in Deutschland und als größter Staatskonzern
des Frauenanteils und die praktische Umsetzung der müsste die Deutsche Bahn eine ökologische Vorbildfunk-
gleichberechtigten Partizipation von Frauen längst zum tion wahrnehmen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wäh-
Thema gemacht. Das zeigt nicht nur der Fünfte Gre- rend Wind bundesweit einen Anteil von rund 8 Prozent im
mienbericht der Bundesregierung zum BGremBG, das Strommix hat, liefern die 25 Windräder der Bahn gerade
zeigen auch die Bemühungen der Bundesministerinnen einmal 0,6 Prozent des Stroms für die Züge. 45 Prozent
von der Leyen und Schröder zur Frauenquote in Füh- des Bahnstroms stammen aus Kohlekraftwerken. Atom-
rungspositionen in der Privatwirtschaft. Ihr Antrag zur kraft hatte zuletzt im Bahnstrommix einen Anteil von
Einhaltung der Frauenquote bei Gremienbesetzungen rund 25 Prozent. Und Bahnchef Rüdiger Grube gehörte
durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und im August 2010 zu den 40 Erstunterzeichnern des Ener-
Stadtentwicklung ist in sich inkonsistent und verknüpft giepolitischen Appells an Bundeskanzlerin Angela
Forderungen ganz verschiedener Handlungsebenen. Merkel. Damit hat er sich persönlich für längere Lauf-
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt diesen Antrag daher zeiten von Atomkraftwerken eingesetzt. Ein Kenner der
ab. Verhältnisse hat mir kürzlich berichtet, dass das Auf-

Zu Protokoll gegebene Reden


11782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Sabine Leidig
(A) sichtsratsmitglied Großmann ihn massiv gedrängt hat, quent in allen Gremien, Aufsichtsräten und Jurys gleich- (C)
diese Position zu beziehen. berechtigt vertreten sind. Denn eine Mitwirkung in
Gremien beinhaltet die Möglichkeit, wichtige politische
Angesichts des atomaren Super-GAU in Fukushima sowie fachliche Entscheidungen zu beeinflussen. Der
und der aktuellen Energiedebatte wäre es ein doppelt Frauenanteil in Gremien ist insgesamt ein guter Indika-
gutes Signal, jetzt beim Bahnaufsichtsrat mit den kon- tor für die Teilhabe von Frauen an gesellschaftlichen
kreten Taten zu beginnen, die den Reden und der Besorg- Entscheidungsprozessen und für praktizierte Gleichstel-
nis der Bundesregierung folgen müssen. lung.
Anstelle der Atom- und Kohlerepräsentanten könnten Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung be-
Vertreterinnen von Umweltverbänden in den Bahnauf- stätigt: Es bleibt viel zu tun. Das Bundesgremienbeset-
sichtsrat. Wir brauchen dort qualifizierte und profilierte zungsgesetz muss dringend novelliert und effektiver
Frauen, die dazu beitragen, die Bahn auf besseren Kurs gestaltet werden. Transparente und einheitliche Gre-
zu bringen. mienbesetzungsverfahren sowie die Führung von voll-
ständigen Gremienlisten in den Ministerien – ich schaue
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hier insbesondere auf das BMVBS – wären ein erster
Seit nunmehr 15 Jahren ist in der Bundesrepublik das und wichtiger Schritt, um der Unterrepräsentanz von
Bundesgremienbesetzungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz Frauen in Gremien, Fachjurys und Aufsichtsräten ent-
soll die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gre- gegenzuwirken – und ein längst überfälliges Signal für
mien sicherstellen. Das damals verfolgte Ziel, nämlich praktizierte Gleichstellung.
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
bei Gremienbesetzungen im Einflussbereich des Bundes, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist jedoch noch immer in weiter Ferne. Während der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
durchschnittliche Frauenanteil in Gremien im Einfluss- Drucksache 17/5257 an die in der Tagesordnung aufge-
bereich des Bundes bei 24,5 Prozent liegt, verzeichnet führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
der Bericht im Geschäftsbereich des Bundesministe- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
riums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen
Frauenanteil von nur 17 Prozent – und das, obwohl der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
sich gerne als Frauenförderer sehen möchte. Herr Korte, Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, wei-
Minister, Frauen sind im Zuständigkeitsbereich des Bun- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(B) in wichtigen Zukunftsfeldern – und das geht weit über Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten – (D)
die Gremienbesetzungen hinaus – noch immer erheblich Kormoranmanagement einführen
unterrepräsentiert. – Drucksache 17/5378 –
Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen De- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
batte um die Frauenquote in Aufsichtsräten ist die ge- Verbraucherschutz (f)
schlechterparitätische Besetzung von Gremien im Ein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
flussbereich des Bundes von besonderer Relevanz. Der Ausschuss für Tourismus
Bund sollte in puncto Frauenförderung mit gutem Bei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
spiel vorangehen. Wir fordern Sie deshalb auf, die Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien,
Kommissionen, Fachjurys und Aufsichtsräten konse-
quent sicherzustellen. Dieses Anliegen ist kein Selbst- Carola Stauche (CDU/CSU):
läufer, das erfordert schon einige Bemühungen. Wir beschäftigen uns heute auf Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Kormoran, besser gesagt: mit der
Noch immer ist etwa jedes zehnte Gremium rein Forderung, ein Kormoranmanagement einzuführen. Für
männlich besetzt. Das Bundesministerium für Verkehr, dieses Vorgehen spricht sehr viel; die Gründe wurden
Bau und Stadtentwicklung führt zum Beispiel die im Zu- von den Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag ge-
ständigkeitsbereich des BMVBS gegebene erhebliche nannt. Auch wir, das heißt die Koalitionsfraktionen von
Unterrepräsentanz von Frauen in Gremien und in Füh- CDU/CSU und FDP, fordern ein solches Kormoran-
rungspositionen auf die überwiegend technisch-natur- management. Wir lehnen jedoch den vorliegenden An-
wissenschaftliche Ausrichtung des BMVBS zurück. trag ab.
Dabei belegt der aktuelle Bundesgremienbesetzungsbe-
richt, dass Ministerien auch bei technisch-naturwissen- Das geschieht nicht, wie im Antrag behauptet, auf-
schaftlicher Ausrichtung die paritätische Besetzung von grund eines Abschiebens von Verantwortung in Richtung
Gremien sicherstellen könnten, wenn der entsprechende Europa. Es ist vor allem kein Votum gegen ein Kormo-
politische Wille vorhanden ist. ranmanagement, wie es ebenfalls im Antrag zu lesen ist.
Vielmehr ist es Ausdruck von verantwortungsbewusster
Wir fordern in unserem Antrag daher insbesondere Politik. Auch in unseren Fraktionen steht ein bundesein-
das BMVBS auf, zukunftsorientierte Politik – weg von heitliches Kormoranmanagement weit oben auf der
den männlich dominierten Strukturen in Gremien – zu Agenda. Beim Lesen Ihres Antrages konnte ich erken-
machen und dafür Sorge zu tragen, dass Frauen konse- nen, dass Sie das auch wissen. Die Kolleginnen und Kol-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11783
Carola Stauche
(A) legen der FDP-Fraktion haben ja einen ähnlich lauten- und schnelles politisches Handeln einer Koalition in Re- (C)
den Antrag bereits im Jahr 2006 gestellt. gierungsverantwortung erforderten. Themen wie die eu-
ropäische Finanzkrise, der Dioxinskandal oder nicht zu-
Bevor entsprechende Einwände kommen – ja, ich letzt die dramatischen Ereignisse in Japan haben viel
weiß, auch meine Fraktion hat diesen Antrag damals ab- Raum im politischen Geschäft der letzten zehn Monate
gelehnt. Das wurde mit den Verweisen auf die verschie- eingenommen. Das hat dazu geführt, dass wichtige The-
denen Zuständigkeiten bei den gestellten Forderungen men, wie beispielsweise das Kormoranmanagement, zu-
begründet. Auch Ihr Antrag ist alleine aus Zuständig- rückgestellt werden mussten.
keitsgründen abzulehnen. Anträge auf finanzielle Förde-
rung müssen die Bundesländer bei der Europäischen Ich möchte es abschließend noch einmal wiederho-
Union einreichen, und die einheitlichen Maßgaben zur len: Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Ermittlung der Schäden müssen diese ebenfalls – zum Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vo-
Beispiel im Rahmen der Agrarministerkonferenz – fest- gelschutz oder der Tierschutz allgemein. Wir lehnen den
legen. Das BMELV kann und sollte – unserer Meinung gestellten Antrag der Linken ab, sprechen uns aber für
nach – solche Abspracheprozesse natürlich moderierend ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement aus. Die
begleiten. Ausgestaltung eines solchen muss aber an die Realität
angepasst werden.
Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vo-
gelschutz oder der Tierschutz allgemein. Die Koalitions- Holger Ortel (SPD):
fraktionen haben deshalb bereits einen eigenen Antrag „Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche
zu diesem Thema vorbereitet, da uns die Notwendigkeit aufhören“ – unter dieses Motto möchte ich meine Rede
eines bundeseinheitlichen Kormoranmanagements be- stellen. Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgs-
wusst ist. Gerade Frau Dr. Happach-Kasan bringt die- geschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten han-
ses Anliegen seit Jahren positiv voran, und auch unser delt vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unter-
Koalitionsvertrag beinhaltet auf Seite 49 eine Passage halb der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte –
zum Thema Kormoranmanagement. bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten, und es gibt
für diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese
Sie sehen also, dass gerade wir als Koalition dieses
Artenschutzprogramme drohen zu scheitern.
Thema vorangetrieben haben, und zwar nicht mit abge-
kupferten Anträgen wie Sie, sondern mit Gesprächen Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige
hinter den Kulissen. Wir freuen uns deshalb natürlich, Gründe. Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer
wenn Sie zu ähnlichen Schlüssen kommen wie wir. und der teilweise noch schlechte ökologische Zustand
(B)
Dass es Ähnlichkeiten zwischen dem, was Sie wollen, der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer we- (D)
und dem, was wir wollen, gibt, soll jedoch nicht über sentlicher Grund ist nach meiner Auffassung der Kor-
grundlegende Unterschiede hinwegtäuschen. So legen moran. Auch in meiner Fraktion gibt es unterschiedliche
wir uns bei der Bestandsregulierung nicht auf eine Form Auffassungen zu diesem Thema. Ich möchte meine Sicht
der Regulierung fest, wie Sie das mit der Regulierung der Dinge hier kurz darstellen: Um den Kormoran stand
der Reproduktion erreichen wollen. Hier muss genau be- es Anfang der 1980er-Jahre schlecht. Deshalb wurde er
obachtet werden, welche Maßnahmen in welcher Region auch unter Schutz gestellt. Aber mittlerweile geht es dem
helfen und welche eben nicht. In Dänemark wurden Kor- Kormoran nicht mehr schlecht. Es geht ihm so gut, dass
morane beispielsweise beim Brüten durch grelles Licht es mittlerweile allein in Deutschland rund 140 000 Kor-
gestört. Diese haben ihre Brutplätze verlassen, die Eier morane gibt. In Europa sind es gar rund 2 000 000 Kor-
sind ausgekühlt, und der Kormoranbestand wurde regu- morane. Wegen dieser positiven Bestandsentwicklung
liert. Dieses Vorgehen hatte in Baden-Württemberg hin- wurde der Kormoran bereits 1997 aus dem Anhang I der
gegen keinen messbaren Erfolg zu verzeichnen. Welche Vogelschutzrichtlinie gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt
Form der Bestandsregulierung sich am besten eignet, war der Bestand bereits 20-mal so groß wie 1980. Seit-
sollte unserer Meinung nach vor Ort entschieden und dem hat sich der Bestand bis heute weiter vergrößert.
nicht vonseiten des Bundes festgelegt werden. Es handelt sich hier eindeutig um einen Erfolg für
Dass bei allen Anstrengungen, die der Bund in diese den europäischen Vogelschutz. Aber dieser Erfolg für
Richtung unternimmt, ein gemeinsames europäisches den Artenschutz gefährdet nun den Artenschutz an ande-
Kormoranmanagement weiter zwingend notwendig ist, rer Stelle – und dies nicht, weil sich etwa die Population
bedarf nicht der Aufklärung durch die Opposition. des Kormorans wieder verkleinert, sondern ganz im Ge-
genteil: Der Erfolg gerät in Gefahr, weil die Kormorane
Die Frage, warum – wenn wir das eben Geschilderte einige Fischarten bedrohen. Wissenschaftlich heißt das:
doch alles wissen – unser Antrag noch nicht eingegan- Die aquatische Artenvielfalt ist bedroht. Ganz praktisch
gen ist, hat ganz einfache Gründe: Politik lässt sich, wie bedeutet das: Artenschutzprogramme für bedrohte Arten
das Leben, nur bedingt voraussagen und dementspre- wie Lachs, Meerforelle, Äsche und Aal geraten ernsthaft
chend schlecht planen. Auch die Koalition aus CDU/ in Gefahr, und das stellt eine ernsthafte Gefahr für die
CSU und FDP wäre beim Punkt Kormoranmanagement Biodiversität dar. Der Bundesumweltminister ist im ver-
gerne weiter. Jedoch haben sich seit Juni vergangenen gangenen Jahr mit Verweis auf das Jahr der Biodiversi-
Jahres auch einige Dinge ereignet, die in dieser Form tät in Sachen Kormoran untätig geblieben. Er muss sich
nicht vorhersehbar waren und die verantwortungsvolles also den Vorwurf gefallen lassen, dass bei ihm der Ar-

Zu Protokoll gegebene Reden


11784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Holger Ortel
(A) tenschutz an der Wasseroberfläche aufhört. Welche Aus- Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsver- (C)
rede er dieses Jahr finden wird, wissen wir noch nicht. trag geschrieben, dass sie auf europäischer Ebene auf
die Erstellung eines Managementplans für Kormorane
Wir müssen beim Kormoran sehen, dass es Menschen drängen will. Bislang war von diesen Bemühungen
gibt, deren berufliche Existenz durch den Kormoran zu- nichts zu spüren. Wir werden nun sehen, wie ernst es der
nichte gemacht wird. Es mussten schon einige Teich- Regierungskoalition mit ihren Bemühungen für ein euro-
wirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals über meh- paweites Kormoranmanagement ist.
rere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt
am Rande der Existenz stehen. Passive Abwehrmaßnah- Ein Wort noch zu dem Antrag der Linken: In Ihrem
men gibt es, sie sind aber sehr teuer. Außerdem ist der Antrag vernachlässigen Sie die Rolle der Länder mit ih-
Kormoran sehr intelligent. Er findet meist einen Weg ren Kormoranverordnungen. Insoweit sollten Sie Ihre
durch die Abspannungen hindurch. Passive Abwehr- Überlegungen hinsichtlich der Handlungsempfehlun-
maßnahmen sind also wenig erfolgversprechend. gen, die sie beschreiben, noch einmal überprüfen. Ich je-
Man muss sich einmal anschauen, was passiert wenn denfalls freue mich auf intensive Diskussionen in den
die Teichwirte den Betrieb einstellen. Denn die Teich- einzelnen Fachausschüssen, um dann hoffentlich eine
wirte übernehmen wichtige Aufgaben bei der Pflege der für die beteiligten Gruppen zufriedenstellende Regelung
Kulturlandschaft. Teichwirtschaften haben eine heraus- zu finden.
ragende ökologische Bedeutung. Es kann doch niemand
ernsthaft wollen, dass diese Lebensgemeinschaften der Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Teichgebiete verschwinden. Ohne Teichwirte wird es Die Beschreibung der Bestandssituation des Kormo-
keine Fischteiche geben, und mit den Fischteichen ver- rans in Deutschland und der Folgen für Biodiversität
schwindet einer der hochwertigsten Lebensraumkom- und Fischerei im vorliegenden Antrag der Linken sowie
plexe der mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Der die Ziele, die verfolgt werden sollen, um die Biodiversi-
Schutz der Teichwirte und der Schutz der biologischen tät in Seen und Flüssen zu stärken und die Situation der
Vielfalt der Teichgebiete sind daher zwei Seiten einer Binnenfischerei zu verbessern, decken sich weitgehend
Medaille. mit denen unseres Antrages, den wir in der vergangenen
Das musste übrigens auch der Naturschutzbund Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag einge-
Deutschland NABU feststellen. Der NABU ist der Ver- bracht haben. Die Linke hatte sich damals enthalten, in-
band, der den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des zwischen teilt sie unsere Erkenntnisse. Inzwischen hat
Jahres gemacht hat. Dieser NABU hat eine Teichwirt- auch die CDU im Landtag in Nordrhein-Westfalen einen
schaft gekauft und versucht nun, diese extensiv zu be- Antrag eingebracht, in dem sie auf ein europaweites
(B) wirtschaften. Er musste aber feststellen, dass wegen des Kormoranmanagement setzt. (D)
Kormorans eine Bewirtschaftung nicht lohnenswert ist. Die überaus erfolgreichen Schutzmaßnahmen der
Dort akzeptiert der NABU sogar den Abschuss des Kor- letzten beiden Jahrzehnte für den Kormoran haben dazu
morans – den Abschuss des von ihm selbst ernannten Vo- geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren,
gels des Jahres. Das ist doch ein bemerkenswerter Vor- dass eine Bestandsregulierung erforderlich wurde. Es
gang – und das Eingeständnis, dass der Kormoran wohl gibt keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war
doch eine Gefahr ist. wie der Kormoranschutz. Anfang der 90er-Jahre wurde
Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europa- der Kormoran wieder bei uns heimisch. Inzwischen ist
weit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt nicht er Bestandsvogel nicht nur an der Küste, sondern auch
auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben sei- in den südlichen Bundesländern, wo er in den letzten
nerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die Pro- Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen
bleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa lokal gewesen ist.
lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die
Obwohl es zahlreiche Vogelarten in Deutschland gibt,
durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran An-
die eines intensiven Schutzes bedürfen – über 30 Vogel-
fang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert
arten sind in der Kategorie I, der vom Aussterben be-
war, so ist er nun überrepräsentiert. Das Europäische
drohten Vögel, darunter Arten wie das Auerhuhn, die
Parlament hat sich im sogenannten Kindermann-Be-
Haubenlerche, die Sumpfohreule oder die Zwergsee-
richt für ein europaweites Kormoranmanagement aus-
schwalbe –, hat der Naturschutzbund Deutschland e. V.,
gesprochen, aber seitdem ist nichts passiert. Die Euro-
NABU, den gefiederten Fischjäger zum Vogel des Jahres
päische Kommission sieht keinen Handlungsbedarf.
2010 gemacht. Dies ist umso bemerkenswerter, als der
Die Diskussion um den Kormoran wird äußerst emo- NABU selbst eigene Erfahrungen mit dem Kormoran
tional geführt. Das kann nicht gut sein. Das geht schon hat. Er ist Besitzer der Blumenberger Mühle in Branden-
in der Bundesregierung los. Da erklärt sich der Bun- burg, einer Karpfenteichwirtschaft. Die Teiche besetzt
desumweltminister nicht zuständig, weil der Kormoran der NABU mit Fischen aus einer tschechischen Satz-
nicht in seiner Art gefährdet ist. Deutsche Angler und fischaufzucht, die so groß sind, dass Kormorane sie
Fischer haben kürzlich über 100 000 Unterschriften für nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 wer-
ein europäisches Kormoranmanagement gesammelt. den jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche
Die wollte der Herr Bundesumweltminister gar nicht an- der Blumenberger Mühle gesetzt. Ein mit Spenden finan-
nehmen, die Frau Bundeslandwirtschaftsministerin zierter Verband kann sich das leisten, für einen Binnen-
ebenso wenig – sie sei ja nicht zuständig. fischer ist ein solches Verfahren viel zu teuer. Außerdem

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11785
Dr. Christel Happach-Kasan
(A) ließen sich diese Transporte leicht durch ein sinnvolles eine Koordinierung dieser Maßnahmen vor allem mit (C)
Kormoranmanagement vermeiden. unseren Nachbarländern, also ohne ein europäisches
Kormoranmanagement, können wir keinen sicheren und
Wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken dauerhaften Artenschutz gewährleisten und Schaden
– Drucksache 17/980 – eingeräumt hat, ist die Anzahl von unseren heimischen Gewässern abwenden.
der heimischen Brutpaare auf etwa 25 000 gestiegen.
Die europäische Population des Kormorans wird auf Ich freue mich, dass unsere Initiative der letzten Le-
rund 700 000 erwachsene Brutvögel bzw. eine Gesamt- gislaturperiode Nachahmung gefunden hat. Die überaus
zahl von insgesamt etwa zwei Millionen Vögel geschätzt. erfolgreichen Schutzmaßnahmen für den Kormoran ha-
Damit ist es zwangsläufig an der Zeit, über eine Regulie- ben dazu geführt, dass sich die Kormorane so stark ver-
rung nachzudenken, damit die Artenvielfalt in den Ge- mehren, dass eine Bestandsregulierung erforderlich
wässern nicht unter dem enormen Fraßdruck des Kor- wird.
morans zu leiden hat.
Die Regierungskoalition ist sich der Wichtigkeit eines
Als reiner Fischfresser ist der Kormoran nicht nur für Kormoranmanagements zum Wohle der Biodiversität
die Artenvielfalt in den Gewässern, sondern auch für die und des Artenschutzes unter der Wasseroberfläche be-
Fischerei ein Problem. Ein ausgewachsener Kormoran wusst. Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und FDP
frisst täglich bis zu 500 Gramm Fisch. Anders als der vereinbart, auf europäischer Ebene auf die Erstellung
Graureiher kann er nicht auf Mäuse oder andere Beute eines Managementplanes zu drängen. Dieses Ziel ver-
ausweichen. Die Verluste in der Teichwirtschaft durch folgen wir weiterhin. Der entsprechende Antrag hierzu
Kormoranfraß – zum Beispiel Aal und Karpfen – betra- befindet sich bereits in der Abstimmung. Wir würden es
gen bis zu 90 Prozent. Für die bedrohten Fischarten Aal begrüßen, wenn die Linke unserem Antrag diesmal zu-
und Äsche können vergleichbare Schäden nachgewiesen stimmt.
werden. In Teichwirtschaft und Binnenfischerei machen
die wirtschaftlichen Schäden nach Angaben der Bran-
chenverbände bis zu einem Viertel des Gesamtumsatzes Jan Korte (DIE LINKE):
aus. Einigen Fischern und Teichwirten hat der Kormo- Seitdem der Kormoran vor über 40 Jahren durch die
ranfraß ein Wirtschaften unmöglich gemacht. Europäische Vogelschutzrichtlinie unter Schutz gestellt
wurde, ist dessen Population in Europa und in der Bun-
Es besteht ein allgemeines Einverständnis, dass auch desrepublik extrem stark gewachsen. Dass es gelungen
aufgrund des Fehlens von Wolf und Bär, Raubtieren, die ist, eine fast ausgestorbene Art wieder heimisch zu ma-
früher einmal bei uns heimisch waren, der Mensch Reh-, chen, ist ein Erfolg für den Artenschutz. Das verdient
Rotwild- und Damwildbestände beschränken muss, um Anerkennung, und das macht Mut für andere Schutz-
(B) im Wald Schäden durch winterlichen Verbiss zu min- und Wiederansiedlungsmaßnahmen. (D)
dern. Genauso müssen wir jetzt durch ein nachhaltiges
Bestandsmanagement für Kormorane verhindern, dass Wenn wir allerdings eine Tierart besonders schützen,
die durch verschiedene Faktoren bedrohte Fischfauna müssen wir auch die Folgen im Blick haben, die ein ge-
durch Kormoranfraß irreparabel in Mitleidenschaft ge- wachsener Bestand dieser Art auf andere Tierarten hat,
zogen wird. und wir müssen Konsequenzen ziehen, um negative Fol-
gen kontrollieren zu können. Deshalb stellen wir heute
Die Äsche, der Fisch des Jahres 2011, ist dafür ein hier im Bundestag den Ihnen vorliegenden Antrag.
Beispiel. Ihre Bestände haben sich drastisch in dem Um-
fang gemindert, in dem die Kormoranbestände gewach- Die Kormoranpopulation ist in manchen Regionen so
sen sind. Die sehr informative Broschüre, die der Ver- stark gewachsen, dass sie mittlerweile ein Risiko für den
band der Deutschen Sportfischer herausgegeben hat, Bestand von Fischarten in natürlichen und künstlichen
dokumentiert die Gefährdungssituation dieser Fischart. Gewässern darstellt. Um hier keine Missverständnisse
Das Heft ist sehr ansprechend gestaltet. Allerdings ver- aufkommen zu lassen: Selbstverständlich sind Kormo-
misse ich ein Grußwort der Präsidentin des Bundesam- rane nicht der Grund, weshalb es in den bundesdeut-
tes für Naturschutz, Frau Professor Beate Jessel, die in schen Gewässern nicht mehr so viele Fische gibt wie vor
den Vorjahren in solchen Heften, die sehr eindeutig dem hundert Jahren; das hat der Mensch mit der Verunreini-
Naturschutz verpflichtet sind, ein Grußwort geschrieben gung, Verbauung und Kanalisierung von Gewässern
hat. Offensichtlich ist sie nicht frei, in einem Heft, in dem schon selber geschafft. Dass hier etwas passieren muss,
selbstverständlich auch der vom Kormoran verursachte hat heute selbst die Union verstanden. Trotzdem werden
Fraßdruck angesprochen wird, ein Grußwort zu schrei- immer noch Projekte realisiert, die sich auf die Fisch-
ben. population und die Durchgängigkeit von Gewässern ne-
gativ auswirken, wie das von den Grünen mitgetragene
Es gibt im Rahmen der Kormoranverordnungen der Kohlekraftwerk in Hamburg-Moorburg.
Bundesländer bereits viele Beispiele für regionale Akti-
vitäten, die eine Regulierung des Kormorans bezwecken. Neben den begrüßenswerten Maßnahmen zu Renatu-
Der Kormoran ist allerdings ein Wandervogel, und im rierung von Gewässern oder zur Verbesserung von Was-
Laufe des Jahres kommt es zu einem massenhaften serkraftanlagen darf eine nachhaltige Strategie zum Er-
Durchzug von Vögeln aus den nordeuropäischen Staa- halt und zur Wiederansiedlung von Fischarten die
ten, die zusätzlichen Druck auf bedrohte Fischbestände Regulierung des Kormoranbestandes nicht ausschlie-
ausüben. Zwar sind regionale und nationale Maßnah- ßen. Seit Jahren häufen sich die Beschwerden von
men gegen den Kormoran richtig und wichtig, aber ohne Fischern und Anglern, denen die Bejagung ihrer Gewäs-

Zu Protokoll gegebene Reden


11786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Jan Korte
(A) ser durch Kormorane erhebliche Verluste bereitet. Dass Das Europaparlament hat mit der Annahme des Be- (C)
die Fischentnahme durch Kormorane zu erheblichen richts des Europaparlamentariers Heinz Kindermann
ökonomischen Einbußen für Teichwirte führt, bestreitet das Problem der gewachsenen Kormoranpopulation in
übrigens selbst der Naturschutzbund NABU nicht. Europa anerkannt. Leider haben das nicht alle Mit-
gliedsländer der EU getan, sodass es bis heute kein
Ich möchte einmal zwei Beispiele anführen. Vor europäisches Kormoranmanagement gibt und die Bun-
20 Jahren rechneten Teichwirte im letzten Aufzuchtjahr desregierung – das hat sie in der Antwort auf eine Kleine
für Karpfen mit Verlusten von circa 5 bis 10 Prozent. Anfrage meiner Fraktion geschrieben – in absehbarer
Nach einer Erhebung des Landesfischereiverbandes Zeit nicht mit einem gemeinsamen Kormoranmanage-
Brandenburg liegen die Verluste im letzten Aufzuchtjahr mentplan rechnet.
mittlerweile bei fast 30 Prozent. Die Teichwirtinnen und
-wirte in Brandenburg mussten dieser Erhebung nach – Die Bundesländer können seit einiger Zeit in Kormo-
zusätzlich zu den natürlichen Verlusten bei der Aufzucht ranverordnungen regeln, welche Schutzmaßnahmen für
– im Jahr 2009 außerordentliche Verluste von über einer Gewässer ergriffen werden können. Auch wenn es wie in
Million Euro verbuchen – und das bei einem Gesamtjah- Schleswig-Holstein durchaus Erfolge zu verzeichnen
resumsatz von 3,6 Millionen Euro. Sie können sich aus- gibt, sind die Auswirkungen der Länderverordnungen
rechnen, dass Teichwirte bei dem resultierenden Ein- oft nur auf lokaler Ebene spürbar. Hinzu kommt, dass
kommen darüber nachdenken müssen, ihr Unternehmen Abschüsse als in den meisten Verordnungen erlaubte
aufzugeben. Wenn in der Folge die Teiche verlanden, Vergrämungsmethode oft nur zu einer Verlagerung des
verlieren etliche Tierarten ihren Lebensraum. Problems führen und kein Instrument einer nachhaltigen
Bestandskontrolle sein können. Weder der passive
Ein zweites Beispiel aus einer anderen Region. In ei- Schutz von Teichen mithilfe von Überspannungen noch
nem Abschnitt der Nagold, einem Fluss in Baden- die Renaturierung von Gewässern oder das Einbringen
Württemberg, wurden Anfang der 90er-Jahre regelmä- von Totholz als Unterstand haben bisher zum Schutz von
ßig zwischen 160 und 240 Äschen gefangen. Das hat der Fischen beitragen können.
Landesfischereiverband Baden-Württemberg dokumen-
tiert. Nachdem im Winter 1996/1997 circa 400 Kormo- In unserem Antrag schlagen wir deshalb vor, ein bun-
rane dort überwinterten, sank der jährliche Ertrag auf desweites Kormoranmanagement einzuführen, das auf
unter 25 Äschen, und er ist bis 2008 auf diesem Niveau Basis von belastbaren Zahlen und konsensfähigen Be-
geblieben. Für Fließgewässer – die für überwinternde standszielen eine bundesweit koordinierte Bestands-
Kormorane oftmals das letzte Jagdrevier darstellen, kontrolle ermöglicht und vorrangig durch die Regulie-
weil sie nicht zufrieren – gibt es etliche dieser Fälle, fast rung der Reproduktion erfolgen soll, wie es bereits in
(B) alle Fischarten betreffend. Der Artenerhalt an diesen Mecklenburg-Vorpommern erprobt wurde. Ein bestands- (D)
Gewässern ist zum Teil nur noch den Besatzmaßnahmen regulierendes Management dieser Art wird nicht von
der Fischereiberechtigten zu verdanken, den kommer- heute auf morgen umsetzbar sein und kann zunächst nur
ziellen Fischern oder den Anglervereinen. Die verspü- auf dem Gebiet der Bundesrepublik erfolgen, was ein
ren nach dem vierten Kormoranbesuch aber verständli- Management der Zugvögel nicht ermöglicht. Daher
cherweise keine Lust mehr, nur noch Kormoranfutter in schlagen wir vor, Entschädigungszahlungen an Teich-
die Flüsse zu kippen; dafür ist auch kein Geld da. wirte und Fischereirechtsinhaber und die Methoden zur
Ermittlung von Schäden zu vereinheitlichen und dafür
Für die kommerzielle Binnen- und Küstenfischerei Mittel aus der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU
und auch für die Anglerverbände, deren Mitglieder in einzufordern. Zudem schlagen wir, als ersten Schritt zu
ehrenamtlicher Arbeit ihre Gewässer pflegen und damit einem Kormoranmanagement in Europa, vor, ein ge-
einen aktiven Beitrag zum Naturschutz leisten, ist der meinsames Kormoranmanagement mit unseren Nach-
unkontrollierte Kormoranbestand ein Problem, das die barstaaten vor allem im Nord- und Ostseeraum anzu-
Politik nicht vernachlässigen darf. Wir dürfen die wirt- streben.
schaftliche Bedeutung der kommerziellen und Freizeit-
fischerei nicht ignorieren, die in strukturschwachen Re- Gemessen an den Aussagen verschiedenster Politiker
gionen Arbeitsplätze sowohl in der Fischereiwirtschaft in diesem Hause sollte einem gemeinsamen Vorgehen
selbst als auch im Tourismus sichert, der gerade im des Bundestags nichts im Wege stehen. Gerade die FDP
Osten der Republik ein großes Entwicklungspotenzial hat in der Opposition – zumindest was das Kormoran-
darstellt. Und wir dürfen dem Fischartenschutz keinen management angeht – auch mal gute Vorschläge ge-
geringeren Stellenwert einräumen als dem Vogelschutz. macht, die wir glatt übernehmen können. Bei dieser
Sachfrage, in der es nicht um Kalten Krieg oder ideolo-
Am 4. Dezember 2008 hat das Europäische Parla- gische Grundsatzdebatten geht, hätte der Bundestag
ment die Europäische Kommission und die Mitglied- einmal die Möglichkeit, über die Parteigrenzen hinweg
staaten der EU mit großer Mehrheit aufgefordert, einen konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei
europäischen Kormoranmanagementplan zu erarbeiten und für über drei Millionen Anglerinnen und Angler in
und umzusetzen. Ziel dieses Kormoranmanagements der Bundesrepublik zu finden. Wir sind zu einem kon-
sollte es sein, die Kormoranbestände in Europa langfris- struktiven Dialog bereit.
tig in die Kulturlandschaft zu integrieren und damit
Schäden an den Beständen von Wildfischarten an der Im Bundestag reden wir oft über nachhaltiges Wirt-
Küste und in den Binnengewässern zu reduzieren sowie schaften, über regionale Wirtschaftskreisläufe und öko-
Schäden von der Fischereiwirtschaft abzuwenden. logisch vertretbare Produktion. Weit über drei Viertel

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11787
Jan Korte
(A) des Fischs, der in der Bundesrepublik konsumiert wird, nach sich zieht. Das gilt insbesondere in Natura-2000- (C)
wird importiert. In manchen Teilen der Welt fischen in- Gebieten. Jede Maßnahme mit dem Ziel der Begrenzung
ternationale Fangflotten ihn der Bevölkerung praktisch der Bestände oder der Reduktion des Nachwuchses gilt
vor der Nase weg, damit wir sie billig im Discounter rechtlich als „Projekt“ gemäß § 38 Bundesnaturschutz-
kaufen können. Die Fischerei ist ein Beispiel dafür, das gesetz und erfordert damit eine Verträglichkeitsprüfung.
wir regionale Potenziale besser nutzen können. In dieser wird geprüft, ob eine erhebliche Beeinträchti-
gung der Lebensräume des Kormorans zu gewärtigen ist
Um ein Kormoranmanagement kommen wir nicht he- oder der günstige Erhaltungszustand der Bestände ge-
rum, vor allem auch weil sämtliche passive Schutz- fährdet wird. So viel zu den rechtlichen Voraussetzungen
methoden an natürlichen Gewässern und Teichen nicht eines möglichen Kormoranmanagements.
funktionieren. Das hat übrigens auch der NABU, der
den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des Jahres erho- Bevor ich auf den Antrag der Fraktion Die Linke nä-
ben hat, bei seinen eigenen Teichen an der Blumberger her eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass der
Mühle in Brandenburg feststellen müssen. Der RBB hat europäische Artenschutz für uns Grüne ein hohes Gut
berichtet, dass der NABU seit Jahren für seine dortige ist, das es zu verteidigen gilt. Nur durch diesen Arten-
Karpfenzucht tonnenweise Satzfische aus Tschechien schutz wird garantiert, dass es für jegliche Eingriffe
importiert, in einer Größe, die der Kormoran nicht mehr hohe Hürden gibt und somit der Schutz von nach euro-
bewältigen kann. Damit Gäste des NABU-Besucherzen- päischem Recht geschützten Pflanzen und Tieren eine
trums nicht mit Vergrämungsabschüssen konfrontiert reelle Chance hat, sich in Abwägungsentscheidungen zu
werden, wird das Problem einfach ausgelagert. Ob es behaupten. Das am 16. März 2011 verkündete Urteil des
über den tschechischen Zuchtteichen aussieht wie nach Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg zur Durch-
einer Kissenschlacht, ist dem NABU dabei offensichtlich führung von sogenannten Vergrämungsaktionen an Kor-
egal. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass morangelegen hat hierzu wichtige Argumentationslinien
wir mehr Ehrlichkeit in der Diskussion um den Arten- entwickelt. Maßnahmen, wie sie im Naturschutzgebiet
schutz in der Bundesrepublik und in Europa brauchen. „Radolfzeller Aachried“ im April 2008 durchgeführt
Zu einem konstruktiven Dialog fordere ich an dieser wurden, sind rechtswidrig. Ähnlichen Aktionen ist in Zu-
Stelle ausdrücklich auch den NABU auf. Artenschutz kunft ein starker Riegel vorgeschoben.
darf weder an der Wasseroberfläche enden, noch sollte
er sich auf Tiere mit hübschen Knopfaugen beschränken. Nun zum Antrag der Linken. Der vorliegende Antrag
verkennt in wesentlichen Punkten die Rechtslage. Ers-
Wenn wir die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtli- tens. Die Aufforderung, „die Vorgaben der EU-Wasser-
nie einhalten wollen, wenn wir wollen, dass Wiederan- rahmenrichtlinie einzuhalten“, ist sicherlich nicht falsch.
(B) siedlungsprojekte für den Lachs oder den Stör erfolg- Allerdings ist die Wasserrahmenrichtlinie geltendes (D)
reich sind, und wenn wir Arten wie den Aal und die europäisches Recht und insofern ist die Aufforderung an
Äsche – genauso wie den Kormoran – weiterhin erhalten die Bundesregierung, geltendes Recht einzuhalten, ge-
wollen, können wir nicht auf Europa warten, sondern linde gesagt befremdlich. Zweitens. Die Forderung nach
müssen jetzt etwas tun. Ich bitte Sie daher um Zustim- einem bundesweiten Kormoranmanagement unter Betei-
mung zu unserem Antrag. ligung von Fischerei-, Naturschutz- und Anglerverbän-
den müsste zumindest um die Länder ergänzt werden,
denn diese sind es, die die Vogelschutzrichtlinie konkret
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
umsetzen. An ihnen vorbei ist keine Lösung denkbar.
GRÜNEN):
Zweifelsfrei nimmt der Kormoran überall dort, wo er Der Antrag verkennt vor allem das Wesen der Arten-
lebt, Einfluss auf die Fischbestände. Das ergibt sich lo- schutzgesetzgebung. Ein konkretes Reglement zum Bei-
gisch aus seinen Ernährungsgewohnheiten. Und wenn spiel kann es gar nicht geben, denn die Vogelschutzricht-
man denn diese Ernährungsgewohnheiten, also das linie gilt uneingeschränkt; es steht nicht im Belieben der
natürliche Verhalten des Kormorans, als „Beeinträchti- EU-Mitgliedstaaten zu definieren, ab wie vielen Exem-
gung der Natur“ ansieht, dann liegt eine solche Beein- plaren der Schutz des Kormorans „überflüssig“ ist und
trächtigung tatsächlich auch vor. Sicher kann es dort, aufhören kann. Schon gar nicht kann das mit Nutzer-
wo durch intensive Teichwirtschaft den Kormoranen in gruppen diskutiert werden, denn der Artenschutz orien-
einer ansonsten „ausgeräumten“ Wasserlandschaft ein tiert sich einzig und allein an artenschutzrechtlichen
besonders verlockendes Nahrungsangebot gemacht Kriterien, und dabei wird es hoffentlich auch bleiben.
wird, zu Nutzungs- und damit zu Interessenkonflikten Wir Grünen jedenfalls werden uns allen Bemühungen
kommen. Wir müssen uns aber abgewöhnen, diese Nut- entgegenstellen, das europäische Recht an dieser Stelle
zungskonflikte immer und quasi automatisch mit Ausrot- abzuschwächen.
tung oder Vertreibung der tierischen Konkurrenten zu
beantworten. Das genau ist das erklärte Ziel des Arten- Ich bin einigermaßen entsetzt, dass sich die Linke mit
schutzes. diesem Antrag dazu hergibt, die Bundesregierung aufzu-
fordern, das europäische Artenschutzrecht aufzuwei-
Maßnahmen zur Reduktion des Drucks auf fischerei- chen und es unter die Maßgabe der „ausgewogenen
wirtschaftliche Fischbestände unterliegen daher hohen Balance“ mit den Interessen von Fischereiwirtschaft
Restriktionen, denn der Kormoran ist nach europäi- und Freizeitfischern zu stellen. Das ist abenteuerlich
schem Naturschutzrecht geschützt und unterliegt damit und zeigt, dass sie in Fragen des Artenschutzes bis heute
einem strengen Schutz, der erhebliche Zugriffsverbote nichts verstanden hat.

Zu Protokoll gegebene Reden


11788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Undine Kurth (Quedlinburg)


(A) Es ist sicher auch vernünftig und richtig, zu prüfen, Ausgleich für Radargeschädigte der Bundes- (C)
ob und wie nachteilige Auswirkungen des Fressverhal- wehr und der ehemaligen NVA voranbringen
tens der Kormorane – so sie sich eindeutig verifizieren
– Drucksache 17/5365 –
lassen – durch Entschädigungszahlungen ausgeglichen
werden können. Wir Grünen werden uns in den Ländern Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
einer solchen Regelung sicherlich nicht verschließen. Rechtsausschuss
Allerdings werden auch diese Regelungen ausschließ- Ausschuss für Arbeit und Soziales
lich dort beschlossen – und nicht von der Bundesregie- Ausschuss für Gesundheit
rung. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Das Verwaltungsgericht in Baden-Württemberg zum ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Beispiel hat die Zahlen geprüft und keine Korrelation Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Ab-
feststellen können; die höchsten Fangerträge wurden in geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Radolfzell dann erzielt, als dort die Kormoranbestände GRÜNEN
am größten waren. Vielleicht wäre es erst einmal ange-
bracht, Untersuchungen dazu auf den Weg zu bringen, Umfassende Entschädigung für Radarstrah-
wie sich Verluste beziffern lassen, um anerkannte lenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen
Grundlagen für mögliche Entschädigungszahlen oder NVA
regulierende Maßnahmen zu haben. Ertragsschwankun- – Drucksache 17/5373 –
gen – darauf habe ich vor diesem Hohen Hause schon
Überweisungsvorschlag:
2008 hingewiesen – haben vielfältige Ursachen. Diese Verteidigungsausschuss (f)
monokausal auf die Kormorane zurückzuführen, ist Rechtsausschuss
nicht haltbar. Klimaabläufe, sinkender Phosphorgehalt Ausschuss für Arbeit und Soziales
der Gewässer, Undurchlässigkeit der Gewässerkörper Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
usw. spielen insofern eine Rolle. Haushaltsausschuss
Ich wiederhole es hier gerne: Wer die Fischbestände Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
nachhaltig stärken will, der muss die naturnahe Bewirt-
schaftung von Teichen und Seen fördern, die Gewässer Karin Strenz (CDU/CSU):
renaturieren, Laich- und Lebensräume erhalten, anstatt Mancher, der die Sicherheits- und Verteidigungspoli-
die Schuld für Ertragseinbußen dem Kormoran in den tik beobachtet, mag den Eindruck haben, wir kümmerten
Schnabel zu schieben. uns vor allem um Gegenwart und Zukunft. Da geht es um
(B) (D)
die Ausrüstung für unsere Soldaten, um den Umbau der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundeswehr zu einer Einsatzarmee und um Nachwuchs-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf werbung, um Mandate, um Standorte und um sicher-
Drucksache 17/5378 an die in der Tagesordnung aufge- heitspolitische Konzepte.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Dieser Eindruck ist richtig – und zugleich nicht wahr.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Denn seit mehr als elf Jahren beschäftigen sich Sicher-
so beschlossen. heits- und Verteidigungspolitiker auch mit einem Pro-
blem, das uns aus der Vergangenheit bis heute begleitet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 sowie die Zu- Dass in den 60er- und 70er-Jahren Soldaten in Ost und
satzpunkte 6 und 7 auf: West durch Radarstrahlen gesundheitliche Schäden er-
23 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge litten haben, ist heute unumstritten.
Höger, Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, wei- Ich erinnere auch daran, dass es der Verteidigungs-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE ausschuss war, der für die Einsetzung einer unabhängi-
gen Radarkommission gekämpft hatte. In ihrem Ab-
Umfassende Entschädigung für Radarstrah- schlussbericht kam die Kommission 2003 zwar zu dem
lenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusammenhang zwi-
NVA und ziviler Einrichtungen schen der Arbeit am Radargerät und späteren Erkran-
– Drucksache 17/5233 – kungen gebe. Gleichwohl war dies keine Vorlage, um
finanzielle Hilfe zu verweigern. Im Gegenteil: Die Kom-
Überweisungsvorschlag: mission empfahl vielmehr vereinfachte Kriterien, um
Verteidigungsausschuss (f) Versorgungsanträge anzuerkennen.
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales Bis heute sind mehr als 3 800 Anträge eingegangen –
Ausschuss für Gesundheit
von Berufs- und Zeitsoldaten, Wehrpflichtigen, Beamten
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss und Arbeitnehmern. Darunter waren auch fast 1 500 ehe-
malige NVA-Soldaten. Jeder fünfte Antrag – bislang
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer etwa 770 – wurde anerkannt. Dies mag auf den ersten
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Blick wenig erscheinen, denn 68 Prozent der Anträge
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der wurden nicht anerkannt. Man hat die Anträge gleich-
SPD wohl sehr großzügig geprüft – wissend, wie schwierig
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11789
Karin Strenz
(A) für den Betroffenen der Nachweis sein kann, dass seine ten, dass wir den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (C)
heutige Erkrankung mit der Arbeit an Radargeräten vor noch einmal aufbohren müssten – nach fast 21 Jahren.
Jahrzehnten zusammenhänge. Die Anerkennungskrite-
rien der Radarkommission sind vielfach weit ausgedehnt Dennoch sind wir dafür, dass der Bundestag die Ent-
worden – im Zweifel für das Opfer, gewissermaßen. So schädigungsfrage noch einmal aufgreift. Ich halte das
wurden etwa trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos auch aus ethischen Gründen für geboten. So wie wir
– Beispiel: starkes Rauchen – Ansprüche anerkannt. eine Fürsorge für aktive Soldaten haben, so haben wir
Man hat bei der Entscheidung über die Anträge auf den sie für ehemalige Angehörige von Bundeswehr und NVA.
eigentlich vom Gesetz geforderten Kausalitätsnachweis Es bedrückt mich, wenn ich in Gesprächen höre, wie
im Sinne eines Vollbeweises verzichtet, wenn eine soge- enttäuscht Radaropfer von NVA und Bundeswehr heute
nannte qualifizierte Tätigkeit und eine qualifizierte sind. Ich bedauere es, dass diese Männer keine guten
Erkrankung vorlagen. Man ging vielmehr von diesem Erinnerungen an ihre Armeezeit haben, weil das Heute
Zusammenhang aus – und zwar gleichermaßen bei frü- alles überlagert, was sie damals erlebt und geleistet ha-
heren Angehörigen der NVA und der Bundeswehr. ben.

Es wäre deshalb falsch, Verschwörungstheorien zu Es ist so, dass sich das Bild des Kameraden seit der
stricken. Niemand – weder im Verteidigungsministerium Gründung der Bundeswehr gewandelt hat – zum Glück.
noch anderswo – hat das Ziel, die Fälle auszusitzen. Eine seelische Wunde ist heute kein Stigma mehr, und
Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt wer sich zu seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwäch-
wurden, bisweilen ungerecht behandeln fühlen, ist ling. Ich kann mir vorstellen, dass das einst anders war
menschlich nachvollziehbar. Ich nehme aber ausdrück- und dass Schmerzen nicht vorgesehen waren. Man hat
lich die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet sich weniger Gedanken gemacht um das Wohlergehen
haben und weiter begleiten. Sie handeln nach Recht und der Soldaten, auch um ihren Gesundheitszustand. Hinzu
Gesetz. kommt, dass man bis in die 60er-Jahre hinein bisweilen
eher unbedarft mit der Strahlengefahr umgegangen ist.
Nun können wir sicher nicht davon ausgehen, dass
mit den bewilligten Anträgen auf ewig alle Probleme aus Wie schwer der Kampf für ihre Rechte ist, auch davon
der Welt geschafft wären. Die gesundheitlichen Beein- können die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit
trächtigungen im Alltag bleiben häufig. Und mehr noch: ihren Forderungen – um das einmal vorsichtig zu sagen –
Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter – leider bei der Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer
wohl eher selten zum Besseren. Eine Stiftung, wie sie im- offene Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück
mer wieder vorgeschlagen wird, hätte auf den ersten geändert. Vergessen wir nicht, dass sich die Folgen von
Blick Charme. Allerdings sind diese Überlegungen kei- Strahlen nicht sofort zeigen, sondern oft erst Jahre und
(B)
neswegs neu. Das Verteidigungsministerium hat eine Jahrzehnte später. Es fehlte damals letztlich auch das (D)
solche Idee seinerzeit unter Beteiligung anderer Res- Wissen, ja das Bewusstsein. Radar ist bis heute ein
sorts verworfen, weil es erstens für die betroffenen Thema, für das es nur wenige Fachleute in Deutschland
Gruppen bereits gesetzliche Bestimmungen als Grund- gibt.
lage für Versorgungsanträge gibt und weil zweitens – so Allen werden wir es trotzdem nie Recht machen kön-
das Ergebnis der Prüfung – eine Stiftung einseitig Men- nen. Wer von der Politik absolute Gerechtigkeit und die
schen begünstigen würde, bei denen auch bei wohlwol- Zufriedenheit aller Betroffenen verlangt, ist blauäugig.
lender Betrachtung ein Zusammenhang zwischen Ge- Das ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit
sundheitsschaden und früherer Arbeit an Radargeräten ganz unterschiedlichen Schicksalen zu tun haben – und
unwahrscheinlich ist. Auch eine Stiftung braucht natür- eben nicht mit einer Art Standarderkrankung, die alle
lich Kriterien, um Ansprüche zu prüfen; schließlich geht betrifft. Es kann aber darum gehen, sich noch einmal in-
es um Steuergeld. Wegen einer Behauptung allein kann tensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Das werden wir
keine Unterstützung gezahlt werden. Überdies müsste tun. Bereits morgen gibt es auf Arbeitsebene eine neues
auch diese Stiftung zunächst mit Geld gefüttert werden, Gespräch.
um überhaupt helfen zu können. Natürlich spricht prin-
zipiell wenig dagegen, die Radargerätehersteller an der Die Entschädigung von Radaropfern ist ohne Zweifel
Entschädigung zu beteiligen. Dies wäre sogar wün- ein sperriges Thema, das uns an Grenzen führt. Einfache
schenswert, aber ob es auch machbar ist, werden wir se- Lösungen bieten sich nicht an, auch weil das, was in den
hen. 60er- und 70er-Jahren geschehen ist, kaum dokumen-
tiert ist. Juristische Hürden kommen hinzu. Ich sehe al-
Manches, was die Fraktion Die Linke fordert, wird lerdings im Bundestag den politischen Willen, bei der
bereits gemacht. Auch deshalb werden wir dem Antrag Entschädigung noch einmal aktiv zu werden – und zwar
nicht zustimmen. So erhält der Verteidigungsausschuss dort, wo es nötig ist. Meine Fraktion wird sich dem nicht
einmal im Jahr einen schriftlichen Sachstandsbericht; verschließen. Wir werden versuchen, interfraktionell
und die Vorschläge der Radarkommission werden schon eine unbürokratische Lösung zu finden.
lange eins zu eins umgesetzt. Andere Forderungen klin-
gen prima – bis man sich mit den Konsequenzen be-
schäftigt. Natürlich wollen wir nicht, dass sich ehema- Florian Hahn (CDU/CSU):
lige NVA-Soldaten als Opfer zweiter Klasse fühlen. Aber Uns liegen heute sowohl der Antrag der SPD als auch
wer eine Gleichbehandlung fordert, sollte auch wissen, der Antrag der Linken vor. Es wird ein möglichst zügiger
was uns dann laut Juristen erwartet: Es könnte bedeu- und unbürokratischer Ausgleich für Radargeschädigte

Zu Protokoll gegebene Reden


11790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Florian Hahn
(A) der Bundeswehr und der ehemaligen NVA gefordert. dienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Regelungen (C)
Dabei wird unter anderem eine Stiftungslösung in Erwä- für Wehrdienstleistende der Bundeswehr resultieren aus
gung gezogen. Weiterhin wird gefordert, dass die Ent- den vom Gesetzgeber als angemessen erachteten Rege-
schädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr lungen. Ansprüche, die frühere Wehrpflichtige wegen
und der früheren NVA angeglichen werden. Der Antrag Unfällen bei der NVA nach den Gesetzen der DDR aus
der Linken fordert zur Aufklärung und Dokumentation der allgemeinen Sozialversicherung hatten, wurden in
der Verstrahlung sowie zur Verbesserung der Strahlen- die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet. Diese
sicherheit darüber hinaus eine erneute Einsetzung einer Unfälle waren in der DDR Arbeitsunfällen gleich-
Expertenkommission, wie wir sie im Jahre 2002 einge- gestellt; die Überleitung ist also sachgerecht. Die Hin-
richtet hatten. terbliebenen bleiben nicht unversorgt, sondern haben
gleiche Ansprüche wie Hinterbliebene der Opfer von Ar-
Anfang Juli 2003 hat die Expertenkommission ihren beitsunfällen. Bei der Frage, inwieweit Soldaten durch
Abschlussbericht vorgelegt. Bis heute werden die ent- Radargeräte Gesundheitsschäden erlitten haben und
haltenen Empfehlungen konsequent umgesetzt. Bei wie mit diesen Gesundheitsschäden umzugehen ist, han-
Vorliegen einer qualifizierten Erkrankung und einer delt es sich jedoch um eine schwierige und komplexe
qualifizierenden Tätigkeit wird auf den individuellen Thematik, die weit über die gesetzlichen Versorgungs-
Kausalitätsnachweis verzichtet. Das bedeutet, dass im vorschriften hinausgeht.
Einzelfall nicht nachgewiesen werden muss, dass die Er-
krankung tatsächlich auf die Beschäftigung an und mit Die Frage, ob die Gründung einer Stiftung in diesem
Radargeräten hervorgerufen worden ist. Diese Regelung Fall sinnvoll ist, lässt sich richtigerweise nur mit Nein
halte ich so nach wie vor für sinnvoll und richtig. Im beantworten. Genau wie zur Schaffung eines Sonderge-
Übrigen wurde den Betroffenen in vielen Fällen bei der setzes ist insofern zu sagen, dass alle eingehenden Ver-
Auslegung der Anerkennungskriterien entgegengekom- sorgungsanträge auf gesetzlicher Grundlage entschie-
men. Einzelfälle und Vorgehensweisen wurden in der den werden. Eine Stiftung zur Unterstützung derjenigen,
Vergangenheit an sogenannten runden Tischen zusam- deren Anträge auf dieser Grundlage und trotz der erheb-
men mit Vertretern des Bundes zur Unterstützung Radar- lichen Erleichterungen abgelehnt wurden, wäre mit den
geschädigter beraten. Bislang wurden etwa 20 Prozent Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts nicht
der Anträge positiv beschieden, circa 68 Prozent wurden vereinbar. Es kann nun mal nicht sein, dass ein Antrag-
abgelehnt. Eine erneute Einrichtung einer Experten- steller lediglich aufgrund einer Behauptung eine Leis-
kommission halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für nicht er- tung erhält.
forderlich. Der Bericht der Radarkommission entspricht
nach wie vor dem Stand von Wissenschaft und Technik. Ich weiß, dass dieses Thema immer wieder zu Recht
(B) Sollten zukünftig neue wissenschaftliche Erkenntnisse viele Emotionen hervorruft. Die damalige Regierung hat (D)
eine Ergänzung dieser Regelung nötig machen, so wird eine Regelung getroffen, die den Opfern so gerecht wie
die Bundesregierung das selbstverständlich berücksich- möglich wird. Leider kann es niemals eine Lösung ge-
tigen. ben, die von allen Betroffenen als gerecht empfunden
wird. Ich bin jedoch nach wie vor der Ansicht, dass die
Die SPD fordert die Angleichung der Entschädi- vorhandenen gesetzlichen Regelungen und die im
gungssysteme für Angehörige der Bundeswehr und der Abschlussbericht der Radarkommission enthaltenen
früheren NVA. Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinne- Empfehlungen eine geeignete Grundlage für die Ent-
rung rufen, dass wir uns seit der Jahrtausendwende mit scheidung über die Entschädigung von Radaropfern
dem Thema der Radarstrahlenproblematik beschäftigen. darstellen und dass somit die Einrichtung einer Stiftung
2001 wurde umfassend geprüft, ob es eines neuen Geset- nicht erforderlich ist. Der Antrag der Fraktion Die
zes für die Opfer von Radarstrahlen bedarf. Letztlich Linke ist daher umfassend abzulehnen. Dem Antrag der
wurde jedoch davon Abstand genommen, da für die be- Fraktion der SPD vermag ich nur in einzelnen Aspekten
troffenen Personen bereits Rechtsvorschriften bestehen, zuzustimmen, wobei ich davon ausgehe, dass die meisten
die Leistungen bei einer durch dienstliche Tätigkeiten dieser Punkte, die ich ja eben auch angesprochen habe,
bedingten gesundheitlichen Schädigung vorsehen. Da- bereits umgesetzt wurden bzw. bald berücksichtigt wer-
bei handelt es sich um Versorgungsansprüche wegen ei- den.
ner strahlenbedingten Beschädigung – für Soldaten der
Bundeswehr nach den Bestimmungen des Soldatenver-
sorgungsgesetzes, für Beamte nach den Regelungen des Ullrich Meßmer (SPD):
Beamtenversorgungsgesetzes und für Arbeitnehmer Bis in die 80er-Jahre sind Angehörige der Bundes-
nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversiche- wehr und der ehemaligen NVA mit ionisierender Strah-
rung. Ehemalige Soldaten der NVA können einen An- lung und Radarstrahlung in Berührung gekommen und
spruch nach dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz haben Partikel inkorporiert. Einige sind daraufhin zum
geltend machen. Teil schwer erkrankt. Da aufgrund des fehlenden Gefah-
renbewusstseins genaue Aufzeichnungen über Dauer
Dass ehemalige Angehörige der NVA nicht in der Ver- und Art der Exposition fehlen, können Betroffene häufig
sorgung durch das Soldatenversorgungsgesetz mit ein- nur auf unzureichendes „Beweismaterial“ für ihre Schä-
bezogen wurden, steht im Einigungsvertrag und wurde digung zurückgreifen.
um Zuge der Gesetzgebung zur Überleitung von Ansprü-
chen nach dem Recht der DDR beschlossen. Die unter- Der Deutsche Bundestag hat sich daher seit dem Jahr
schiedlichen Regelungen bei geschädigten Grundwehr- 2000 mit der Frage der Entschädigung dieser Soldaten

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11791
Ullrich Meßmer
(A) beschäftigt. Im Jahr 2002 wurde eine Kommission mit Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): (C)
der Untersuchung dieser Fälle beauftragt. 2003 hat die Die Suche nach einer geeigneten Lösung bei der Ent-
„Radarkommission“ in ihrem Abschlussbericht Krite- schädigung der Radaropfer beschäftigt den Bundestag
rien erstellt, die festlegen, in welchen Fällen eine schon seit mehr als zehn Jahren. Ich möchte meinen Kol-
Krankheit auf Strahleneinwirkung zurückzuführen ist. leginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss,
Die Beschreibung qualifizierender Tätigkeiten und qua- sowohl aus den Oppositionsfraktionen, als auch den Re-
lifizierender Erkrankungen sollte die Anerkennungsver- gierungsfraktionen, für die gute Zusammenarbeit und
fahren beschleunigen und erleichtern. In diesem Zusam- das gemeinschaftliche Engagement für die Radarge-
menhang wurde von der Radarkommission auch die schädigten danken. Die sachorientierte gemeinsame Ar-
Umkehr der Beweislast in Teilbereichen zugunsten der beit mit Ihnen, meine lieben Kolleginnen Malczak,
Betroffenen empfohlen. Höger und Strenz und lieber Kollege Meßmer, zeigt, dass
die Suche nach einer geeigneten Lösung für die Opfer
Von 3 803 gestellten Anträgen wurden 19,7 Prozent von Radarstrahlen ein gemeinsames Anliegen aller
zugunsten der Antragsteller entschieden, 68 Prozent der Fraktionen des Bundestages ist.
Anträge wurden abgelehnt, der Rest befindet sich im Der grundsätzliche Konsens, der schon in der letzten
laufenden Verfahren. Die Interessenvertreter der jewei- Legislaturperiode bei diesem Thema leitend war, sollte
ligen Betroffenengruppen – Bundeswehr und ehemalige für uns auch in dieser Legislaturperiode weiterhin die
NVA – gehen davon aus, dass die Anerkennungskriterien Richtschnur unseres Handelns sein.
des Radarberichts nicht umfassend im Sinne der Antrag-
steller auslegt werden, was die Bundesregierung ent- Auch wenn wir alle ein gemeinsames Ziel verfolgen,
schieden zurückweist. sind unsere Wege, wie wir es erreichen wollen, momen-
tan noch unterschiedlich.
In der 16. Wahlperiode waren sich alle im Parlament
Die aktuellen Zahlen, vorgelegt in der Antwort der
vertretenen Fraktionen einig, dass es zeitnah eine Lö-
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
sung des Problems im Sinne der Betroffenen geben
Die Linke in Drucksache 17/3137, zeigen, dass sich die
muss.
Zahl der Entschädigungen zugunsten der Antragsteller
In Umsetzung der Ergebnisse der Radarkommission erhöht hat. Auch wenn die Entschädigungspraxis in Tei-
und vor dem Hintergrund des hohen Alters der Betroffe- len stärker zum Vorteil der Antragsteller ausgelegt wird,
nen fordern wir als SPD die Bundesregierung daher auf, zeigt die Zahl von 68 Prozent abgelehnter Anträge, dass
zeitnah eine praktikable Lösung im Sinne der Betroffe- das von uns allen gewünschte Ziel der „Eins-zu-eins-
nen vorzulegen. Wir streben vorzugsweise eine Stif- Umsetzung“ der Empfehlung der Radarkommission bis-
(B) tungslösung an, die den unterschiedlichen Betroffenen- her nicht erreicht wurde. (D)
gruppen gerecht wird. Diese Stiftungslösung ermöglicht Aus meiner Sicht brauchen wir daher eine umfassen-
darüber hinaus die Einbeziehung der Gerätehersteller dere Lösung. Und – dies ist mir dabei besonders wich-
sowie die Erschließung weiterer Stiftungsgelder. tig –: Es darf hier nicht nur bei warmen Worten bleiben,
sondern wir müssen nun konkrete Maßnahmen ergreifen
Eine weitere Angleichung der unterschiedlichen An- und Taten folgen lassen. Wir sind bereit, die notwen-
erkennungs- und Entschädigungsverfahren von ehemali- digen Mittel aus dem Verteidigungshaushalt zur Verfü-
gen Bundeswehrangehörigen und NVA-Soldaten muss gung zu stellen.
ebenfalls weiter vorangebracht werden. Die Entschei-
dungsspielräume sollen dabei zugunsten der Betroffenen Der Ausgleich für Radargeschädigte ist aber nicht
ausgelegt werden. nur eine finanzielle Frage, sondern es geht hierbei auch
um die Würdigung der Lebensleistung dieser Menschen
Darüber hinaus werden wir uns dafür einsetzen, dass zugunsten unseres Vaterlandes.
die Ergebnisse der Radarkommission – wie vom Vertei- Ich habe mich daher sehr gefreut, dass sich Ende letz-
digungsausschuss einstimmig beschlossen und vom Ver- ten Jahres der Verteidigungsminister mit den Vertretern
teidigungsministerium zugesagt – eins zu eins umgesetzt der Opferverbände zu einem Gespräch getroffen hat.
werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass auch nach Dieses persönliche Gespräch war für die Betroffenen
Vorliegen eines Gesetzes weiterhin neue Erkenntnisse besonders wichtig, da ihnen erstmalig in den vielen
der medizinischen und biologischen Forschung in die Jahrzehnten ihrer Arbeit die Möglichkeit gegeben
Entscheidungen mit einfließen. Hier ist ein dynamisches wurde, ihr Anliegen dem Verteidigungsminister direkt
Vorgehen notwendig. darzustellen, und Ihnen so Achtung erwiesen wurde.
Für die Vermittlung in Zweifelsfällen fordern wir ein Die Gleichbehandlung der Radargeschädigten in Ost
– auch von der Radarkommission befürwortetes – unab- und West, der NVA und der Bundeswehr, ist aus meiner
hängiges Gremium zur Entscheidungsfindung einzube- Sicht geboten. Seit dem Mauerfall ist die Bundeswehr
ziehen. Dem Verteidigungsausschuss muss zu den Bemü- zur Armee der Einheit zusammengewachsen. Es darf da-
hungen und den weiteren Schritten der Bundesregierung her keine Opfer zweiter Klasse geben, auch wenn die
jährlich ein Evaluierungsbericht vorgelegt werden. Bundesrepublik gemäß BGH-Urteil nicht für die Ver-
bindlichkeiten der NVA haftet und der Einigungsvertrag
Lassen Sie uns im Sinne der Betroffenen zügig han- differenziert. Dieser besagt nämlich, dass wir NVA und
deln und entscheiden! Bundeswehr nicht gleich behandeln müssen. Er lässt uns

Zu Protokoll gegebene Reden


11792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Burkhardt Müller-Sönksen
(A) aber im Jahre 2011 die Möglichkeit, dass wir nun aus tiengesellschaft Wismut oder von Atomkraftwerken, eine (C)
übergeordneten politischen Gründen gleich behandeln. angemessene Anerkennung und Entschädigung zuteil-
Das ist unser politischer Wille. werden zu lassen. Gerade die Nuklearkatastrophe in
Fukushima zeigt, dass in diesem Bereich die Gefahren
Wir als FDP-Fraktion setzen uns schon seit Anfang immens sind. Wer weiß, was da in den nächsten Jahren
2001 für eine großzügigere Entschädigung der Radar- auf uns zukommt! Wenn strahlengeschädigte Menschen
strahlenopfer ein und haben dieses immer wieder, so- – aus Ost oder West, militärisch oder zivil beschäftigt –
wohl im Verteidigungsausschuss als auch im Plenum, zu ihrem Recht kommen sollen, müssen für alle Strahlen-
zum Ausdruck gebracht. Wir laden daher alle Fraktio- geschädigten dieselben gesetzlichen Regelungen gelten.
nen ein, mit uns eine geeignete Lösung zu finden und un- Alles andere schafft nur wieder neue Spaltungen und
seren breiten Konsens in einer gemeinsamen Initiative
Ungerechtigkeiten.
zum Ausdruck zu bringen.
Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Stiftung, die die
Inge Höger (DIE LINKE): Anerkennung und Entschädigung in die Hand nehmen
Seit vielen Jahren kämpfen radargeschädigte ehema- soll. Diese Forderung ist nicht falsch und kann nicht
lige Soldaten aus Ost und West für eine angemessene schaden. Allerdings hatte eine interfraktionelle Anfrage
Anerkennung und für eine Entschädigung für Erkran- an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erge-
kungen, die auf ihre Tätigkeit an Radaranlagen zurück- ben, dass es im Sinne der Betroffenen zielführender ist,
geführt werden können. Es ist dringend notwendig, dass von der Bundesregierung ein Radarstrahlenopfergesetz
die Bundesregierung hier schnell Abhilfe schafft, da die zu fordern. Dies Gesetz soll den genannten Kriterien
Betroffenen immer älter und kränker werden. In ein paar entsprechen. Es bleibt dann der Bundesregierung über-
Jahren ist es für viele zu spät. In der Vergangenheit ent- lassen, ob dafür die Gründung einer Stiftung notwendig
stand der Eindruck, die jeweiligen Bundesregierungen ist oder nicht. Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kom-
spielen auf Zeit und drücken sich um eine umfassende plex und vielschichtig. Ich befürchte, dass diese Forde-
Lösung des Problems. Damit muss nun endlich Schluss rung erneut auf Bürokratisierung und Verzögerung
sein. hinausläuft. Die Strahlengeschädigten haben diese Zeit
aber nicht mehr.
In der vergangenen Legislaturperiode waren sich
Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien ei- Ich möchte Sie bitten, in den Ausschussberatungen
nig, dass es zeitnah eine umfassende Lösung des Pro- über den parteipolitischen Tellerrand hinauszuschauen
blems geben muss. Allerdings hapert es bei der Umset- und sich dafür einzusetzen, zügig die Rechte der Betrof-
zung durch die verschiedenen Bundesregierungen. Der fenen zu stärken. Es ist fünf vor zwölf. Die Strahlenge-
(B) Prozess der Aufarbeitung stagniert seit Jahren. Das ist schädigten können nicht länger warten. (D)
angesichts des Alters der Betroffenen und der ernsthaf-
ten Erkrankungen unerträglich. Die Linke fordert eine
schnelle, unbürokratische und umfassende Anerkennung Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und Entschädigung der Strahlengeschädigten. Dabei Ehemalige Soldaten der Bundeswehr und der NVA
dürfen die Ermessensspielräume für das Vorliegen der sind bis in die 80er-Jahre hinein während ihrer
Anerkennungskriterien nicht zu eng gefasst sein. Dienstausübung nachhaltig geschädigt worden. Viele
von ihnen waren Wehrpflichtige. Verursacht wurde diese
Ehemalige Angehörige der NVA und der Bundeswehr Schädigung durch Strahlungsquellen in Geräten, die in
müssen gleich behandelt werden. Bislang sind radarge- der täglichen Dienstausübung zum Einsatz kamen. War-
schädigte Bundeswehrsoldaten wegen der seltenen nungen vor diesen Strahlenquellen kamen zu spät oder
Anerkennung ihrer Krankheit Bürger zweiter Klasse. wurden zu lange banalisiert. Die betroffenen Menschen
Ehemalige Soldaten der NVA sind sogar Bürger dritter sind auch Jahre später als Folge dieser Verstrahlung
Klasse. Sie unterliegen laut Einigungsvertrag dem schwer erkrankt.
Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz. Dies ist aus
Sicht der Betroffenen noch „strenger“ als das Soldaten- Seit 2001 ist dieser Umstand bekannt, seit 2003 liegt
versorgungsgesetz, das für ehemalige Bundeswehrsol- mit dem Abschlussbericht einer unabhängigen Exper-
daten gilt. Die Bundesregierung erklärt, dass diese tenkommission eine umfassendere Erfassung der Zu-
Ungleichbehandlung politisch gewollt ist. Das ist aus sammenhänge und eine Empfehlung für eine wohlwol-
unserer Sicht unerträglich. lende Entschädigungs- und Versorgungspraxis vor.
Doch die damals vom ehemaligen Verteidigungsminister
Die Linke fordert auch, dass neben dem Staat als Ar-
Scharping zugesagte „streitfreie und großherzige Lö-
beitgeber auch die Radargerätehersteller als Mitverant-
wortliche an den Entschädigungskosten zu beteiligen sung“ ist auch heute nicht wirklich in Sicht. Der Staat
sind. Außerdem brauchen wir mehr Transparenz und nutzt stattdessen juristische Spielräume aus, die sich aus
mehr Mitbestimmung durch den Bundestag. Deshalb dem Umstand ergeben, dass der direkte Zusammenhang
soll es erneut eine Radarkommission geben, die dem zwischen Erkrankung und Einsatz an den Geräten oft
Bundestag regelmäßig einen Bericht vorlegt. nicht nachzuweisen ist. Die zuständigen Behörden füh-
ren mit den Betroffenen endlose bürokratische Aus-
Die Linke ruft die Bundesregierung außerdem dazu einandersetzungen über Beweismittel und Gutachten.
auf, strahlengeschädigten Angestellten ziviler Einrich- Am Ende steht in der überwiegenden Zahl eine Entschei-
tungen, wie zum Beispiel der Sowjetisch-Deutschen Ak- dung gegen die Interessen der Betroffenen. Das ist wirk-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11793
Agnes Malczak
(A) lich ein Armutszeugnis für die Fürsorgepflicht gegen- Überweisungsvorschlag: (C)
über aktiven und ehemaligen Soldaten. Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Seit Jahren setzen sich der Bund zur Unterstützung Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Radargeschädigter, als Interessenvertretung ehemaliger Entwicklung
Bundeswehrsoldaten, und der Bund zur Unterstützung
Strahlengeschädigter, die Interessenvertretung ehemali- Die Reden nehmen wir zu Protokoll.
ger NVA-Angehöriger, für eine verbesserte Entschädi-
gungspraxis ein. Für ihr Engagement, ihren Mut und Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
ihre Ausdauer gebührt ihnen Dank und Anerkennung Im Namen der in Afghanistan eingesetzten Polizistin-
dieses Hauses. Nur reicht die Erklärung dieses Dankes nen und Polizisten bin ich dankbar dafür, dass wir uns
nicht mehr aus. Die größte Anerkennung zeigen wir, in- im Deutschen Bundestag mit dem Einsatz der deutschen
dem wir endlich diese traurigen Zustände beenden. Polizei im bilateralen Polizeiprojekt wie auch bei der
Wir alle sind uns darüber einig, dass den betroffenen EUPOL-Mission beschäftigen. Ziel dieses Einsatzes ist
Menschen geholfen werden muss. Dabei geht es nicht es, der afghanischen Polizei die Fähigkeit zu vermitteln,
einmal um die abschließende Klärung von Schuld; es die öffentliche Sicherheit und Ordnung in ihrem Land in
geht vielmehr um die Übernahme von Verantwortung. den kommenden Jahren selbstständig zu gewährleisten.
Und eine besondere Verantwortung haben wir für die Dabei orientieren wir uns an afghanischen, nicht an
ehemaligen Angehörigen beider Armeen – der Bundes- deutschen Maßstäben.
wehr und der NVA. Die heutige Debatte gibt uns Gelegenheit, die Ergeb-
Die Probleme bei den Anerkennungsverfahren sind nisse in einem Zwischenfazit zu würdigen. Das kann man
schon oft thematisiert worden; sie müssen aber auch an- in unterschiedlicher Form tun: Von uns, der CDU/CSU-
gegangen werden. Dabei spielt Zeit eine ganz entschei- Fraktion, werden die unter schwierigen Bedingungen
dende Rolle. Zehn Jahre, nachdem die Problematik erst- erarbeiteten guten Ergebnisse unserer Beamtinnen und
mals bekannt wurde, ist es allerhöchste Zeit für Beamten gewürdigt, von den Linken in ihrem Antrag
Lösungen. Wer sich hier weiter hinter der Komplexität eher entwürdigt.
der Frage versteckt, wird unglaubwürdig und fügt den Wichtige Akteure beim Polizeiaufbau in Afghanistan
Betroffenen unnötigerweise weiteres Leid zu. Denn wäh- sind die europäische Polizeimission EUPOL Afghanis-
rend Formen der Entschädigung hin und her diskutiert tan, die NATO Training Mission in Afghanistan und in
werden und Parlament und Bundeswehrverwaltung, Re- einem besonderen Maße unser bilaterales deutsches Po-
gierung und Opposition ihre Konkurrenzen austragen, lizeiprojektteam GPPT.
(B) leiden Menschen und ihre Angehörigen. Zu viele der Be- (D)
troffenen erleben das Ende der lang gezogenen Verwal- Was haben wir bisher erreicht? Nach Beendigung der
tungsverfahren nicht mehr. Seit geraumer Zeit mahnen terroristischen Talibanherrschaft sind wir dabei, ein für
alle Fraktionen hier Verbesserungen an. Aber wenn wir afghanische Verhältnisse beachtliches demokratisch
uns dabei in parteipolitisches Gezänk verstricken, wer- orientiertes Polizeisystem mit aufzubauen. Deutschland
den zu viele der betroffenen Menschen die Lösung für sorgt dabei in erheblichem Maß für eine allgemeine Po-
die offenen Verfahrensfragen nicht mehr erleben. Dieser lizeiinfrastruktur und den Bau und Ausbau von Trai-
Gedanke sollte uns alle innehalten lassen. ningszentren, in denen jährlich etwa 5 000 afghanische
Polizisten aus- und fortgebildet werden können. In Ka-
Dieses Thema eignet sich nicht dazu, die Grenzen bul sowie den Außenstellen in Masar-i-Scharif, Kunduz
zwischen den Parteien, zwischen Koalitionsfraktionen und Faizabad wurden Polizeitrainingszentren errichtet,
und Opposition zu betonen. Stattdessen sollten wir bei deren Kapazität derzeit erweitert wird. Das Polizeitrai-
dieser Frage über unseren Schatten springen – zuguns- ningszentrum Kabul wird dabei ausschließlich für das so-
ten der Betroffenen – und gemeinsam für eine vor allem genannte „Train the Trainer“-Programm genutzt. Die
schnelle Lösung arbeiten. ursprüngliche Zielstärke von 500 ausgebildeten afgha-
nischen Trainern bis Ende 2012 wird voraussichtlich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: deutlich übertroffen. Im Rahmen des bilateralen deut-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen schen Engagements ist das „Train the Trainer“-Modul
auf den Drucksachen 17/5233, 17/5365 und 17/5373 an neben der Aus- und Fortbildung und der Beteiligung am
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Focused-District-Development-Programm, kurz FDD-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Programm, ein wesentlicher Bestandteil der deutschen
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Unterstützungsleistung. Von afghanischen Trainern so-
wie von deutschen Polizisten und Feldjägern wurden al-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: lein in diesem Jahr über 1 100 Polizisten erfolgreich
ausgebildet, circa 2 000 weitere werden folgen. Gerade
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla die Aus- und Fortbildung von Führungskräften, vor al-
Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeord- lem auch durch Weitergabe von politischer Bildung und
neter und der Fraktion DIE LINKE Defizitabbau beim Lesen und Schreiben, war und ist ein
Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan wesentlicher Beitrag zur Professionalisierung der af-
ghanischen Polizei. Daher möchte ich an dieser Stelle
– Drucksache 17/4879 – ganz besonderes unseren deutschen Polizistinnen und
11794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Armin Schuster (Weil am Rhein)


(A) Polizisten danken, die diese harte Arbeit Tag für Tag mit hende internationale Aufgaben in diesen Bereichen zu- (C)
Stolz verrichten. kunftsfähig aufgestellt?
Zugegebenermaßen gab es auch Probleme, so zum Bei diesen Missionen, wie zum Beispiel im Kosovo, in
Beispiel bei der Rekrutierung mangels Teilnehmer und Moldawien oder dem Sudan, handelt es sich um Einsätze
einer hohen Verlustrate bei den ausgebildeten afghani- unter ganz besonderen Bedingungen. Das ist uns sehr
schen Sicherheitskräften. Das Ziel der Londoner Konfe- wohl bewusst. Betonen möchte ich daher, dass die deut-
renz von 134 000 Polizisten bis Oktober 2011 war ge- schen Polizistinnen und Polizisten freiwillig diesen au-
fährdet. Aber gerade in solch schwierigen Situationen ßergewöhnlichen Dienst leisten. Durch eine handverle-
muss man seiner Führungsverantwortung gerecht wer- sene Auswahl, durch besonderes Training und spezielle
den und Probleme bewältigen, statt vor ihnen davonzu- Ausstattung tun wir alles dafür, dass diese robusten Ein-
laufen, wie es uns die Linken in ihrem Antrag empfehlen. sätze zwar nicht ungefährlich, aber verantwortbar blei-
Und wie weit Sie mit Ihren Empfehlungen danebenlie- ben.
gen, könnten Sie am besten vor Ort erfahren. Ich bin
sehr beeindruckt, dass unsere deutschen Polizistinnen Aus diesen Gründen lehnen wir alle Forderungen im
und Polizisten mir vor Ort regelmäßig das Vertrauen mit Antrag der Linken ab. Im Gegenteil, wir werden erstens
auf den Weg geben, diese Schwierigkeiten lösen und die dem zivilen Aufbau durch EUPOL und die GPPT in be-
Projekte erfolgreich zu Ende bringen zu wollen, Mit die- sonderem Maße nachkommen, zweitens konzeptionelle
ser Motivation kommen wir auch politisch Schritt für Standards setzen, die mittlerweile von vielen Nachbar-
Schritt voran: Durch Anreizprogramme, wie einer bes- projekten übernommen wurden, drittens die Ergebnisse
seren Bezahlung und einer Weiterverpflichtungsprämie, weiterhin evaluieren, um die Erfolge klar belegen zu
haben sich zum Beispiel wieder deutlich mehr Polizei- können, und viertens mit absoluter Sicherheit nicht jetzt
schüler beworben. polizeilich in Afghanistan aussteigen, wenn die Früchte
unserer Arbeit sichtbar werden und wir den Eindruck
Vor allem werden wir aber für unser nachhaltiges und gewinnen, dass wir eine Übergabe mit Verantwortung,
ganzheitliches Schulungskonzept bei den Afghanen wie also unser Kernziel, schrittweise umsetzen können.
auch bei den Bündnispartnern hoch geschätzt: Nicht nur
eine angepasste Staatsbürgerkunde zeigt Wirkung, unser
Alphabetisierungsangebot gilt als Auszeichnung und Wolfgang Gunkel (SPD):
sorgt für ein hervorragendes Bild über uns, nicht nur in Mehrmals habe ich Afghanistan bereist, um mir dort
der arabischen Welt. Wem es hier an Zuversicht fehlt, in erster Linie den Polizeiaufbau vor Ort anzusehen.
was diesen Einsatz anbelangt, dem empfehle ich eine Schon seit Langem wird in den Diskussionen um die
(B) Reise nach Afghanistan. Die Motivation, die Sie vor Ort richtige Afghanistan-Strategie der Aufbau der Sicher- (D)
bei unseren Leitern, Ausbildern und den afghanischen heitskräfte als Schlüssel für eine dauerhafte Stabilisie-
Auszubildenden erleben, würde ganz sicher dazu führen, rung des Landes beschworen. Die Durchdringung des
dass ein Antrag der Linken, wie wir ihn heute diskutie- Gewaltmonopols der Zentralregierung bis in die Provin-
ren müssen, so nicht geschrieben würde. zen soll Voraussetzung für den Aufbau einer modernen
Zivilgesellschaft in Afghanistan sein. So weit, so gut.
Auch im Bereich der polizeilichen Infrastruktur gibt
es mutmachende Erfolge: Im Jahr 2010 wurde der Bau Offiziell stehen der afghanischen Regierung zurzeit
der Grenzpolizeifakultät an der Polizeiakademie in Ka- 113 000 Polizisten zur Verfügung. Tatsächlich werden es
bul abgeschlossen. Eine Außenstelle der Polizeiakade- aber wohl nur etwa 90 000 einsatzfähige Kräfte sein, wo-
mie in Masar-i-Scharif befindet sich noch im Bau. Die bei freilich die Aussagen über die Stärke der afghani-
Hauptquartiere der Verkehrs-, Bereitschafts- und Grenz- schen Polizei zwischen 70 000 bis hin zu 113 000 Kräften
polizei in Kabul sowie eine Reihe von Hauptquartieren variieren. Allein solch vage Schätzungen und Aussagen
in den Provinzen, etwa in Faizabad, und Distrikten geben genug Eindruck vom Zustand der afghanischen
konnten bereits übergeben werden. Zahlreiche für die Polizei. Es fällt mir überhaupt sehr schwer, diese be-
örtliche Sicherheit besonders wichtige feste Checkpoints waffneten Kräfte „Polizei“ zu nennen. Was ist das für
wurden fertiggestellt, andere sind noch im Bau. Das eine Polizei, von der niemand genau weiß, wer ihr jetzt
spricht für Taten und Perspektiven! gerade angehört und wer nicht oder nicht mehr? Wie
wird eine solche Polizei bezahlt, wenn nicht einmal klar
Nicht ohne Grund verhält sich Deutschland über alle ist, wer im Augenblick bei ihr auf der Gehaltsliste steht?
Fraktionen hinweg sehr sensibel, wenn es darum geht,
mit den Bündnispartnern in militärische Einsätze zu ge- Der Antrag, über den wir hier sprechen, hat folglich
hen. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber die in seiner Bestandsaufnahme und in seiner Analyse recht.
Chance, seinen Bündnisverpflichtungen im Schwerpunkt Denn es stimmt, die sogenannte afghanische Polizei ist
insbesondere auf dem Sektor der Demokratisierung und zum größten Teil eine Bürgerkriegstruppe im Kampf ge-
des zivilen Wideraufbaus, also zum Beispiel der polizei- gen die Aufständischen. Es stimmt, Korruption und mili-
lichen Aufbauhilfe nachzukommen. Wir haben das tärischer Ansatz prägen das Bild dieser Einheiten. Es
Know-how, die Infrastruktur und eben ein weltweit her- stimmt, die sogenannten Polizisten werden vielerorts als
vorragendes Image, das wir uns in vielen internationa- „Kanonenfutter“ im Bürgerkrieg eingesetzt; bislang
len Polizeieinsätzen erarbeiten konnten. Daher stellt wurden in Afghanistan doppelt so viele „Polizeikräfte“
sich für mich nicht die Frage des Ausstiegs, sondern getötet wie afghanische und ISAF-Soldaten zusammen.
eher die Frage: Sind wir bei der Polizei für bevorste- Und es stimmt auch, dass die sogenannte afghanische

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11795
Wolfgang Gunkel
(A) Polizei in der Bevölkerung einen extrem schlechten Ruf cher „Polizeiaufbau“ macht keinen Sinn. Dafür sollten (C)
genießt. und dürfen wir keine deutschen Polizisten einsetzen.
Um zu verstehen, worüber wir sprechen, wenn wir Richtig ist auch, dass unsere Polizisten auf gar keinen
den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte meinen, Fall unmittelbar im Krieg eingesetzt werden dürfen. Die
müssen wir zuallererst unser gewohntes Bild von „Poli- Bundesregierung hat zugesichert, dass deutsche Polizis-
zei“ aus dem Kopf streichen. Wenn wir Polizei meinen, ten im Zuge der neuen Strategie des „Focused District
denken wir an bestens ausgebildete Sicherheitskräfte, Development“-Programms nicht in umkämpfte Regio-
die allein dem staatlichen Gewaltmonopol unterstellt nen entsandt werden. Wir werden sehr genau darauf
und in den Rechtsstaat eingebunden sind und die ihre achten müssen, dass dies tatsächlich so bleibt.
klar definierte exekutive Rolle im staatlichen Gleichge-
wicht aus Legislative, Exekutive und Judikative einneh- Aber nicht alles am Polizeiaufbau in Afghanistan ist
men. schlecht. Es sind auch einige richtige Ansätze für den
Aufbau einer Polizei in Afghanistan zu finden. Das deut-
Davon kann beim weitaus größten Teil der sogenann- sche Polizeitrainingszentrum Kundus und das Schu-
ten Polizei in Afghanistan nicht einmal im Ansatz die lungszentrum in Masar-i-Scharif stehen für vorbildliche
Rede sein. Die von den US-Streitkräften in Afghanistan Ausbildung, insbesondere in Hinblick auf die Fortbil-
ausgebildeten sogenannten Polizisten werden innerhalb dung der Bereitschafts- bzw. Grenzpolizei. Gleiches gilt
einer Woche einsatzbereit gemacht, bei den meisten an- für die Mission EUPOL Afghanistan. Die Stärkung der
deren sind es auch gerade einmal sechs Wochen. Man afghanischen Nationalpolizei könnte mithilfe der ge-
muss nicht erklären, dass in dieser kurzen Zeit allenfalls nannten Projekte und EUPOL durchaus Erfolg verspre-
der halbwegs ordentliche Umgang mit der Waffe und an- chen, sofern sie mit entsprechenden Mitteln ausgestattet
derer Ausrüstung erlernt werden kann. Weil die meisten würden. Doch diese Vorhaben sind hoffnungslos unter-
der rekrutierten Männer Analphabeten und dabei oft in finanziert, weshalb es noch Jahre für einen Polizeiauf-
schlechter körperlicher Verfassung sind, kommt jegliche bau bräuchte, der diesen Namen auch verdient. Denn
weitere Ausbildung – geschweige denn rechtsstaatliche während 2010 etwa 700 Millionen Euro allein in den
Unterrichtung – ohnehin von vornherein nicht infrage. Militäreinsatz der Bundeswehr geflossen sind, liegt das
Um es kurz zu machen: In Afghanistan werden diejeni- EUPOL-Budget für ganz Afghanistan weit unter dieser
gen Männer, die bereit sind, mit den Streitkräften gegen Summe.
die Taliban zu kämpfen, unter Waffen gestellt und unter
dem Gesamtbegriff „Polizei“ zusammengefasst. Dass es Wenn wir parallel zur Forderung, die Bundeswehr
dabei in erster Linie um die Quantität statt Qualität der aus Afghanistan abzuziehen, die Bedeutung ziviler Auf-
Sicherheitskräfte geht und dass der Überblick über die bauprojekte hervorheben und hier größere Anstrengun-
(B)
Gesamtstärke dieser Kräfte dann schon einmal verloren gen der westlichen Welt verlangen, dann gehört zum (D)
gehen kann, versteht sich von selbst. Aufbau einer Zivilgesellschaft neben einer funktionie-
renden Verwaltung und einem Justizwesen, das frei von
Ein derart vollzogener Polizeiaufbau macht aus ver- Korruption ist, auch eine gut ausgebildete und funktio-
schiedener Hinsicht nicht nur keinen Sinn, sondern ist nierende Polizei. Dass Afghanistan hier noch ganz am
sogar gefährlich für die ohnehin schon kaum vorhan- Anfang steht und dass die Erfolgsaussichten, so wie sich
dene innere Sicherheit Afghanistans. Eine solche „Poli- die Lage jetzt darstellt, sehr gering sind, habe ich be-
zei“ wird von der Bevölkerung natürlich nicht aner- tont. Nur wäre es sehr wohl ein Fehler, die kleinen An-
kannt, geschweige denn respektiert. Diese sogenannten sätze, wie sie zum Beispiel in EUPOL zu finden sind,
Polizisten sind auch nicht in der Lage, mit dem erst im auch noch durch den kompletten Abzug aller Polizei-
Aufbau befindlichen Verwaltungs- und Justizwesen zu experten und Ausbilder zu zerstören. EUPOL birgt durch-
kooperieren. Sie agieren also quasi in einem staatlich aus Chancen und verdient größere Unterstützung. Des-
leeren Raum. Wem sie ihre Loyalität schulden – westli- halb können wir einen Antrag nicht unterstützen, der die
chen Streitkräften, lokalen Stammesfürsten, der Zentral- Bundesregierung unter anderem auffordert, „EUPOL
regierung in Kabul oder erst einmal nur ihren ureigenen Afghanistan einzustellen“ und alle Polizeibeamtinnen
persönlichen Interessen – hängt von der jeweiligen und Polizeibeamten unverzüglich abzuziehen. Denn eine
Situation und den örtlichen Umständen ab. Ob sie im zukünftige afghanische Zivilgesellschaft – so ihr Aufbau
Ernstfall tatsächlich ihre Gesundheit oder ihr Leben in denn gelingt – braucht eine Polizei, die den Namen
der Auseinandersetzung mit Taliban, Drogenbossen „Polizei“ auch verdient.
oder einfachen Verbrechern riskieren, ist sehr oft zwei-
felhaft. Das zeigt die hohe Fluktuation und die Unmög-
lichkeit, die Stärke dieser Sicherheitskräfte genau zu be- Gisela Piltz (FDP):
ziffern. Ein Staat ist mit diesen Kämpfern definitiv nicht Der Antrag der Linken verdient im Grunde genau ein
zu machen. Und was wird in Zukunft aus diesen Kräften, Wort: Unerträglich! Da schreiben Sie in der Begrün-
wenn die westlichen Verbündeten abgezogen sind? Die dung zu Ihrem Antrag: „Es wird deutlich, dass das En-
Gefahr ist sehr groß, dass sich dann aus diesen Kämp- gagement deutscher Polizeiausbilder der Führung eines
fern paramilitärische Einheiten bilden und dass sie den Bürgerkrieges dient.“ Was denken Sie sich eigentlich?
Bürgerkrieg verschärfen. Anstatt – wie es ursprünglich In welcher Realität leben Sie denn? Ich kann dazu nur
ja ihr Auftrag sein sollte – das Gewaltmonopol des sagen: So etwas macht mich fassungslos. Wie eine Bun-
afghanischen Staates aufzubauen, werden sie diesen oh- destagsfraktion derartige Behauptungen aufstellen
nehin schwachen Staat noch weiter schwächen. Ein sol- kann, ist wirklich nicht zu fassen.

Zu Protokoll gegebene Reden


11796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Gisela Piltz
(A) Diese unerträgliche Tatsachenverdrehung kann man Akzeptanz erhalten, wenn sich darin auch eigene Vor- (C)
nicht so stehen lassen. Der Einsatz deutscher Polizistin- stellungen und Rechtstraditionen des Landes wiederfin-
nen und Polizisten in Afghanistan ist ein wesentlicher den. Uns muss es aber darum gehen, die Grundsätze, die
Beitrag zum zivilen Wiederaufbau des Landes, zum jedem Rechtsstaat immanent sein müssen, felsenfest zu
Aufbau eines Rechtsstaates, zur Schaffung geordneter verankern, auch und gerade bei der Durchsetzung des
Strukturen und zur langfristigen Stabilisierung der Re- staatlichen Gewaltmonopols.
gion. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass vor al-
Der FDP-Fraktion war und ist die Sicherheit der in
lem der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützt
Afghanistan eingesetzten deutschen Polizistinnen und
wird, damit die internationale Gemeinschaft in ein paar
Polizisten ein zentrales Anliegen. Den Vorwurf der Lin-
Jahren ein Land verlassen kann, das nicht wieder in die
ken, die Bundesregierung entsende Polizistinnen und
Hände von Extremisten und Terroristen fällt. Die Polizei
Polizisten aus Deutschland in einen Krieg, weist die
Afghanistans muss hier einen zentralen Beitrag leisten,
FDP-Fraktion zurück. Afghanistan ist derzeit noch nicht
damit ein wirklicher Rechtsstaat entstehen kann.
so stabil, dass dort ein gefahrloses Leben möglich ist.
In unserem Antrag in der letzten Legislaturperiode Aber wir sehen deutliche Fortschritte. Zudem haben die
haben wir festgestellt: in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten
Konsequenzen aus der Gefährdungslage gezogen und
Der Aufbau eines funktionierenden Polizei-, Justiz- ihre eigenen Schutzvorkehrungen entsprechend ange-
und Strafvollzugswesens ist eine wesentliche Vo- passt, unter anderem auch durch Änderungen bei der
raussetzung für die Herstellung der Sicherheit und Ausbildung der afghanischen Kollegen vornehmlich in
Ordnung und damit die Herstellung stabiler Ver- den gesicherten Lagern.
hältnisse in Afghanistan. Ziel ist es, dass die afgha-
nische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwor- Die FDP-Fraktion unterstützt die Bundesregierung
tung wahrnehmen und perspektivisch selbst für die nachdrücklich in ihrem Engagement beim Polizeiaufbau
Sicherheit im Lande sorgen kann (Afghan Owner- in Afghanistan und wird sich weiterhin für eine konti-
ship). Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in Af- nuierliche Verbesserung und für konstruktive Lösungen
ghanistan, zum Beispiel im Rahmen der Internatio- von Problemen sowie selbstverständlich für die Sicher-
nal Security Assistance Force (ISAF), an der heit der deutschen Polizistinnen und Polizisten einset-
Deutschland als drittstärkster Truppensteller mit zen.
der Bundeswehr maßgeblich beteiligt ist, darf nicht
über Gebühr ausgedehnt werden. Von zentraler Be- Ulla Jelpke (DIE LINKE):
deutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse in Seit neun Jahren werden deutsche Polizisten nach
(B) Afghanistan ist der Aufbau einer funktionstüchtigen Afghanistan geschickt, angeblich, um beim Aufbau eines (D)
sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflich- Rechtsstaates zu helfen. Wir sprechen den über
teten Polizei. 1 000 Beamten, die seit 2002 am Hindukusch waren,
Diese Haltung vertritt die FDP-Fraktion auch heute. nicht die ehrliche Motivation ab. Aber es ist Zeit für eine
Gerade vor dem Hintergrund der Abzugsperspektive für Bilanz, und die sieht erschreckend aus: Der Polizeiauf-
die Bundeswehr aus Afghanistan ist die Polizeiausbil- bau am Hindukusch hat nicht zu einer Verbesserung,
dung von besonderer Bedeutung. sondern zu einer Verschlechterung der Lage beigetra-
gen. Es wird höchste Zeit, nicht nur die deutschen Solda-
Die Haltung der Linken hingegen ist verantwortungs- ten, sondern auch die deutschen Polizisten abzuziehen.
los. Die Linke will die Bundeswehr umgehend aus Das fordert die Fraktion Die Linke in dem Antrag, den
Afghanistan abziehen, lehnt aber zugleich jede Verant- wir heute beraten.
wortung für den Wiederaufbau ab, insbesondere für den
Aufbau eines Rechtsstaats mit einer funktionierenden Die „Fortschritte“, welche die Bundesregierung ver-
Polizei. meldet, reduzieren sich bei genauem Hinsehen auf einen
rein zahlenmäßigen Anstieg der afghanischen Polizei.
Es ist unbestritten, dass es auch Probleme beim Poli-
Ihre Ausbildung dauert gerade mal sechs Wochen.
zeiaufbau in Afghanistan gibt. Diese aber damit zu be-
Fast 90 Prozent der unteren Dienstgrade sind nach An-
antworten, das Land sehenden Auges nicht mehr beim
gaben der NATO-Ausbildungsmission Analphabeten.
Aufbau eines Rechtsstaates zu unterstützen, ist unver-
Und wer einen Alphabetisierungskurs mitmacht, der
antwortlich. Die Antwort kann doch nicht sein, die
kommt gerade mal auf das Niveau der dritten Klasse,
Flinte ins Korn zu werfen, sondern die Antwort muss
womit er weder Gesetzestexte lesen und verstehen noch
vielmehr sein, die bestehenden Probleme anzupacken.
Protokolle aufsetzen kann.
Dazu gehört natürlich vor allem, die Ausbildung zügig,
aber zugleich möglichst solide zu gestalten. Warum, muss man fragen, bildet die NATO diese an-
geblich so wichtigen Polizisten so hastig aus? Die Ant-
Dass das in Afghanistan be- und entstehende Rechts- wort ist: Weil sie nichts weiter als ein schnell verfügba-
system nicht eins zu eins das Rechtssystem Deutschlands
res Kanonenfutter haben will, um es in den Kampf gegen
abbildet, auch nicht im Bereich des Polizeirechts, ist
die Aufständischen zu werfen.
nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig und gut.
Afghanistan kann nur dann als Rechtsstaat funktionie- Afghanische Polizisten führen Seite an Seite mit Mili-
ren, ein an Demokratie und Menschenrechten orientier- tärverbänden Gefechte gegen Aufständische. Ihre Aus-
tes Rechtssystem und eine Polizei können nur dann bildung wird fast ausschließlich von Mitarbeitern des

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11797
Ulla Jelpke
(A) US-Pentagon oder der NATO verantwortet, die auch den dürfen deutsche Polizisten nicht länger mitwirken. Des- (C)
Lehrplan festlegen. Das Oberkommando liegt bei einer wegen fordert Die Linke: Die Konsequenzen aus dem
Dienststelle der US-Armee. Die Bundesregierung kennt Desaster in Afghanistan ziehen und Soldaten wie Poli-
den militärischen Charakter dieser Polizei, und sie zisten abziehen.
rechtfertigt ihn sogar: Afghanische Polizisten sollten
eine „modulare Ausbildung im militärischen Sinne“ er- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
halten, beschied sie in ihrer Antwort auf eine Große An-
frage der Fraktion Die Linke (17/2878). Das Thema Ihres Antrages ist ein wichtiges, und auch
die einzelnen Fragen, die Sie ansprechen, sind die rich-
Die Linke hingegen sagt: Deutsche Polizisten haben tigen. Aber Ihre Begründung und Ihre undifferenzierten
in einem Kriegsgebiet nichts zu suchen – zum einen, weil Analysen entwerten diese richtigen Ansätze.
das lebensgefährlich ist, zum anderen, weil wir feststel-
len: So verfehlt der Militäreinsatz in Afghanistan ist, so Sie weisen darauf hin, dass die deutsche Polizei nicht
verfehlt ist auch der Polizeieinsatz, der nur die andere in einem völlig instabilen und höchst unsicheren Gebiet
Seite der gleichen Medaille darstellt. eingesetzt werden sollte. Das sehe ich ganz ähnlich: Wir
haben deutsche Polizeibeamte mit einem Ausbildungs-
Ein Nutzen für den Rechtsstaat ist weit und breit nicht auftrag nach Afghanistan geschickt. Dieser ist nicht um-
zu erkennen, im Gegenteil. Die Bundesregierung kann setzbar, wenn sie sich täglich ihrer Haut erwehren müs-
keine Zahlen dazu angeben, wie viele afghanische Poli- sen. Deswegen ist es richtig, aus Sorge um die Sicherheit
zisten es überhaupt gibt. Klar ist nur, dass die offiziellen der Beamten diesen Einsatz ständig kritisch zu begleiten
Angaben weit übertrieben sind. Die britische Botschaft und die Situation vor Ort zu bewerten. Dabei muss auch
schätzt den Anteil sogenannter Geisterrekruten, die nur gesagt werden: Ein Teil des Polizeieinsatzes – ich denke
auf dem Papier existieren und deren Sold in die Taschen an die deutschen Ausbilder in der Polizeiakademie in
korrupter Vorgesetzter fließt, auf ein Viertel („The Inde- Kabul – findet übrigens keineswegs mitten im Gefahren-
pendent“, 28. März 2010). gebiet statt.
Keine verlässlichen Zahlen gibt es auch darüber, wie Ebenso richtig bemängelt der Antrag, dass in Afgha-
viele der ausgebildeten Polizisten nach ihrer Ausbildung nistan Korruption weit verbreitet ist und die Polizei, zu
im Dienst verbleiben. Etliche von ihnen, nach Schätzun- deren Ausbildung die deutschen Polizistinnen und Poli-
gen 20 Prozent, quittieren ihren Dienst und nehmen da- zisten beitragen, allzu oft nicht die rechtsstaatliche Kraft
bei häufig ihre Waffen mit. ist, die wir uns wünschen und die wir anstreben. Sie wei-
Das größte Problem ist aber nicht etwa, dass der sen auf die teilweise problematische Verbindung zwi-
Polizeiaufbau ineffektiv ist. schen Polizei und Militär hin. Nun hat jedes Land seine
(B) eigene Sicherheitsstrategie, und die afghanische Regie- (D)
Die Frage, was dabei herauskommt, wenn man jun- rung hat sich für eine deutlich stärker militärisch inspi-
gen Männern eine Uniform überstreift, ein Gewehr in rierte Polizei entschieden, als wir das – mit guten Grün-
die Hand drückt und einen Schnellkurs verpasst, hat der den – in der Bundesrepublik getan haben. Natürlich
frühere stellvertretende UNO-Sonderbeauftragte in Ka- würde es unseren Wünschen entsprechen, wenn wir lan-
bul Peter Galbraith in einem Interview mit „CNN“ wie desweit weniger unterschiedliches Vorgehen und weni-
folgt beantwortet: „Was dabei herauskommt, ist kein ger unterschiedliche Leitbilder und stattdessen eine
Polizist, sondern jemand, der von seinen Mitmenschen vorrangige Orientierung an einem zivilpolizeilichen Be-
noch ein bisschen effektiver Geld erpresst“ (Interview rufsbild hätten. Aber all das kann doch nicht heißen: Ab-
mit „CNN“, November 2011). zug! Die deutschen Ausbilderinnen und Ausbilder sollen
Genau dieser Eindruck wird auch von deutschen ja eben nicht zur Militarisierung der afghanischen Poli-
Polizisten und Soldaten, die aus Afghanistan zurückkeh- zei beitragen. Im Gegenteil: Sie sollen gerade helfen, ein
ren, bestätigt. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter Verständnis für eine zivile rechtsstaatliche Polizeiarbeit
berichtet von systematischer Wegelagerei und Straßen- zu entwickeln und Korruption und Klientelismus zu
räuberabzocke. Selbst der Chef der NATO-Ausbildungs- überwinden. Um das durchzusetzen, hilft eben kein Ab-
mission, General Caldwell, räumt ein, dass die große zug. Vielmehr würde es helfen – und das fordern wir von
Mehrheit der Afghanischen Nationalpolizei die Gesetze, der Bundesregierung –, bessere Konzepte zu entwickeln
die sie angeblich durchsetzen soll, überhaupt nicht und entsprechend auf die Verbündeten einzuwirken.
kennt, und er kommt zum Schluss, die meisten Afghanen
Der einzige Grund, aus dem man einen Abzug oder
sähen in der Polizei „gesetzlose bewaffnete Männer“.
einen zeitweisen Rückzug fordern könnte, ist die Sicher-
Das ist die offizielle Bilanz von neun Jahren sogenann-
heitslage. Wenn der angestrebte Auftrag wegen der
ter Aufbauarbeit. Der afghanischen Bevölkerung wurde
Sicherheitslage nicht erfüllbar ist und wenn ständig Ge-
nicht zu mehr Demokratie verholfen, sondern es wurde
fahr für Leib und Leben der eingesetzten Beamten be-
ihr ein weiterer Unterdrückungsapparat beschert, der
steht, dann muss man eine Lösung finden. Dann könnte
sie in die Zange nimmt.
man zum Beispiel über eine entsprechend stärkere Rolle
Es ist unverantwortlich, diese Politik fortzusetzen. Im der Feldjäger nachdenken. Doch mir scheint nach Lek-
Falle Afghanistan muss man klar sagen: Lieber keine türe Ihrer Antragsbegründung, dass Sie als Antragstel-
Polizei als solch eine. Denn diese Polizei dient nicht ler nicht durch Sorge um die deutschen Polizisten und
dem Recht, nicht der Bevölkerung, sondern sie lässt den Polizistinnen motiviert sind oder ernsthaft darüber
Krieg und die Gewalt nur noch weiter eskalieren. Dabei nachdenken, wie man die Ziele dieses Einsatzes besser

Zu Protokoll gegebene Reden


11798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Wolfgang Wieland
(A) erreichen könnte. Sie haben einfach ein grundsätzliches Einsätzen der Bundespolizei und stellt ein ausgewoge- (C)
Problem damit, dass sich Deutschland in Afghanistan nes Mittel zur Wahrung der Interessen der Öffentlich-
engagiert, und deshalb wollen Sie den Abzug. Wir sind keit, der Polizeibeamten und deren Anverwandten sowie
weiterhin der Auffassung, dass wir eine Pflicht haben, ihres jeweiligen Dienstherrn dar. Dass dadurch das Ver-
zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens in trauen der Bevölkerung in die Bundespolizei ge-
Afghanistan beizutragen. Weil das eine höchst gefähr- schwächt wird, war bislang nicht zu bemerken.
lich Aufgabe ist, interessieren wir uns für die Sicherheit
und den Schutz der deutschen Polizistinnen und Polizis- In Bundesländern wie Berlin, in denen bereits eine
ten, die vor Ort eine notwendige Aufgabe mit großem Kennzeichnungspflicht für die Polizistinnen und Polizis-
Einsatz zu erfüllen versuchen. Ihnen schulden wir gute ten besteht, wird diese entgegen den Pressedarstellun-
Ausstattung und bessere Konzepte für den Aufbau, nicht gen von den Betroffenen nicht als positiv empfunden.
politische Instrumentalisierung. Zu einem Antrag nach Den Beamten zufolge häufen sich dort bereits jetzt unge-
dem Motto „Die Lage ist schwierig, deshalb führen wir rechtfertigte Vorwürfe und Beschwerden, denen durch
die Katastrophe gleich herbei“ können wir nur Nein sa- die Kennzeichnung Tür und Tor geöffnet wurde.
gen. Wenn Sie nun Ihr bekanntes Beispiel von Demonstra-
tionen oder Fußballspielen ins Feld führen, dann müsste
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihnen doch auch bekannt sein, dass die Beamtinnen und
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Beamten der Bundespolizei besonders in derartigen Si-
Drucksache 17/4879 an die in der Tagesordnung aufge- tuationen unter äußerst komplizierten Umständen, die
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- zudem sehr gefährlich sein können, agieren müssen. Wie
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beispielsweise der 19. Februar 2011 in Dresden zeigte,
so beschlossen. wo bei einer Demonstration 82 Polizisten verletzt wur-
den, sehen sich die Beamtinnen und Beamten einer stetig
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber. Insbeson-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla dere diese Menschen, die sich in ihrem Beruf so engagie-
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite- ren und sich auf eigene Gefahr zum Schutze anderer in
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE eine bedrohliche Lage begeben, haben einen unumstöß-
lichen Anspruch darauf, dass ihre persönlichen Rechte
Einführung einer Kennzeichnungspflicht für
gewahrt werden. Durch die namentliche Kennzeichnung
Angehörige der Bundespolizei
der Polizeibeamten würde die Gefahr von Angriffen auf
– Drucksache 17/4682 – Beamtinnen und Beamte jedoch erheblich ansteigen,
(B) Überweisungsvorschlag: und es wäre nicht länger möglich, ihnen und ihren Ange- (D)
Innenausschuss (f) hörigen Schutz zu gewähren. Es kann nicht ausgeschlos-
Rechtsausschuss sen werden, dass eine Kennzeichnung zu ungerechtfer-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
tigten Anschuldigungen und Druckausübung bis hin zu
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll. Gewaltanwendung gegenüber den Polizistinnen und
Polizisten sowie ihren Angehörigen führen kann. Das
Günter Baumann (CDU/CSU): bestätigen auch die entsprechenden Experten- und
Bevor ich auf den haltlosen Antrag der Fraktion Die Fachkreise der Polizei auf Bundes- und Länderebene.
Linke eingehe, möchte ich all den engagierten Bundes- Darüber hinaus ist es auch rein menschlich betrach-
polizistinnen und Bundespolizisten danken, die tagtäg- tet diesen Bundesbeamten gegenüber nicht gerecht, sie
lich für den Schutz der Bevölkerung höchste Einsatzbe- von vornherein unter Generalverdacht zu stellen und ih-
reitschaft aufbringen. nen zum Dank für ihren aufopfernden Dienst eine grund-
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, be- sätzliche Bereitschaft zu Gewaltverbrechen zuzuspre-
haupten in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die Bundesre- chen, zumal die Zahlen für sich sprechen: Weniger als
gierung mit dem Verzicht auf die Kennzeichnungspflicht 3 000 Strafanzeigen hat es im vergangenen Jahr gegen
der Bundespolizisten Spielraum für polizeiliche Strafta- Polizistinnen oder Polizisten gegeben, wovon lediglich
ten einräumt und die Möglichkeit gibt, sich außerhalb 3 bis 5 Prozent eine Anklage nach sich zogen. In diesen
der Gesetze, in der Anonymität zu bewegen. Diese Aus- Fällen wiederum wird nur etwa ein Drittel der Beschul-
sage ist schlicht und ergreifend haltlos und wird von mir digten verurteilt. Demgegenüber stehen täglich Hun-
strengstens abgelehnt. derttausende pflichtgetreu ausgeführte und rechtlich
nicht zu beanstandende Einsätze, die nicht selten unter
Seit vielen Jahren hat die Regelung Bestand, dass schwierigen und gefährlichen Umständen durchgeführt
sich Beamte der Bundespolizei mittels Dienstausweis werden müssen. Generell ist also eine Pflicht zur indivi-
gegenüber einer von polizeilichen Maßnahmen betroffe- duellen Bezeichnung des einzelnen Polizeibeamten in je-
nen Person legitimieren müssen, sofern der Sinn der dem Falle als nachrangig anzusehen, wenn die Sicher-
Amtshandlung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Im heit eines oder mehrerer Menschen und der Schutz von
Falle eines von Ihnen so oft genannten Einsatzes in ge- Persönlichkeitsrechten auf dem Spiel stehen.
schlossenen Einheiten besteht außerdem die Möglich-
keit, über taktische Kennzeichnungen oder Einsatzbe- Bezüglich Ihrer Behauptungen, eine Nichtkennzeich-
richte etwaige Ausweisungen vorzunehmen. Dieses nung sowie das vermeintlich anonyme Auftreten in Ein-
Vorgehen ist heute gängige und bewährte Praxis bei satzkleidung beeinträchtige Ermittlungen bei Gesetzes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11799
Günter Baumann
(A) verstößen seitens der Polizisten, liegen uns keinerlei weise ein Namensschild oder ein Schild mit einer Identi- (C)
belastbare Aussagen oder Beweise vor. Nur um Ihnen fikationsnummer tragen. Bei Einsätzen in geschlossenen
das noch einmal mit Nachdruck zu verdeutlichen: Die Einheiten bin ich nicht der Meinung, dass Namensschil-
Kleidung der Bundespolizisten wird ausschließlich unter der das Mittel der Wahl sind. Zum einen kann es bei glei-
der Maßgabe der Zweckmäßigkeit und Sicherheit der chen oder auch ähnlichen Einheiten zu Verwechslungen
Beamtinnen und Beamten ausgewählt und nicht, um eine kommen.
Anonymisierung herzustellen. Ebenso unterliegen straf-
rechtliche Untersuchungen gegen Mitglieder der Bun- Ich bin nach der Lektüre des Gutachtens der Wissen-
despolizei den geltenden Rechtsvorschriften. Ein Ab- schaftlichen Dienste des Bundestages „Kennzeich-
schluss eines Verfahrens, erfolgt nur, wenn die nungspflicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in
umfassenden Ermittlungen und Prüfungen der Staatsan- den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ durchaus
wälte und Richter dies rechtfertigen. Die Behauptung, nicht der Ansicht, es würde keine unberechtigten An-
dass dadurch das Vertrauen der Bürger in die Bundesre- schuldigungen oder Übergriffe auf Polizeibeamte auf-
publik Deutschland als Rechtsstaat zerstört wird, ist grund der Kennzeichnungspflicht geben. In Spanien sind
meiner Ansicht nach völlig widersinnig und nicht nach- Einzelfälle dokumentiert.
vollziehbar, meine Damen und Herren von der Linken. Wir dürfen die Augen vor dem Gewaltpotenzial eini-
ger Demonstranten aus dem bekannten Milieu nicht ver-
Zusammengefasst besteht nachweislich kein Erfor-
schließen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass mit
dernis, eine Kennzeichnungspflicht für die Beamtinnen
den Recherchemöglichkeiten, die das Internet bietet, das
und Beamten der Bundespolizei einzuführen. Misstrauen
persönliche Umfeld meiner Kolleginnen und Kollegen
gegenüber den Polizistinnen und Polizisten sowie eine
ausgeforscht wird und sich daraus eine Gefährdung der
hohe persönliche Gefährdung wären eine unabdingbare
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ergibt. Vielmehr
Folge dessen. Dies kann von unserer Seite nicht hinge-
schlage ich bei solchen Einsätzen eine Kennzeichnung
nommen werden. Darum ist der Antrag der Linken ein-
vor, die eine individuelle Zuordnung ermöglicht. Eine
deutig abzulehnen.
solche Zuordnung gibt es bei „geschlossenen“ Einhei-
ten bereits, weshalb der Antrag der Fraktion Die Linke
Wolfgang Gunkel (SPD): an dieser Stelle ins Leere läuft.
Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für
Vielleicht kommt Ihnen mein Vorschlag bekannt vor.
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wird auch in der
Ich habe mich an der Kennzeichnungspflicht orientiert,
SPD-Bundestagsfraktion schon länger diskutiert. In ei-
die der Berliner SPD-Innensenator in diesem Jahr für
nem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch
die Landespolizei eingeführt hat. Diesen Vorschlag halte
(B) die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und ich für überzeugend, und ich freue mich, dass Berlin (D)
Beamte sind umgehend strafrechtliche Konsequenzen zu
eine ausgewogene Entscheidung getroffen hat und damit
ziehen.
hoffentlich auch Vorbild für andere Bundesländer und
Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell auf- für die Bundespolizei ist.
kommenden Eindruck, jede Demonstration werde sei-
tens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsab- Gisela Piltz (FDP):
bau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht An gleicher Stelle debattierten wir in der vergange-
um ein gesamtpolizeiliches Phänomen! nen Woche über einen anderen Antrag der Fraktion Die
Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wo- Linke, in dem sie auch schon so tat, als litte der Rechts-
chenenden in der gesamten Republik unterwegs, in un- staat vor allem an exzessiver Gewaltausübung durch
terschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder Polizistinnen und Polizisten. In dem heute zu beratenden
Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungs- Antrag behauptet die Linke nun gar, dass Polizistinnen
vollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus. Diese und Polizisten „das Gefühl“ hätten, „in voller Einsatz-
wichtige Arbeit möchte ich an dieser Stelle auch einmal montur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch au-
ganz ausdrücklich würdigen. ßerhalb des Gesetzes“ zu stehen.

Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert Ich habe mal eine Ahnung, welches „Gefühl“ Polizis-
nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Ande- tinnen und Polizisten haben, wenn sie in eine Situation
rerseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt sind. geschickt werden, bei der sie nur dann eine Chance ha-
Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, eine Kennzeich- ben, mit halbwegs heiler Haut wieder rauszukommen,
nungspflicht für die Bundespolizei einzuführen, aber sofern sie sich mit Helmen und Schutzkleidung gegen
nicht per se für jede Beamtin und jeden Beamten in jeder Steinewerfer und Randalierer vom Schwarzen Block
Dienstsituation. Hier muss schon differenziert werden. wappnen. Es ist ja mitnichten so, wie es die Linke hier
darzustellen versucht, als würden Polizistinnen und
Meiner Meinung nach sollte eine nach Tätigkeiten Polizisten sich hinter Helmen und Schutzschilden ver-
abgestufte Kennzeichnungspflicht eingeführt werden: stecken, um unerkannt tun und lassen zu können, was
Im Innendienst sollte es für jede Beamtin und jeden Be- ihnen einfällt. Vielmehr ist die Kausalitätskette doch
amten verpflichtend sein, ein Namensschild zu tragen. genau umgekehrt: Erst und nur, wenn eine so gefährli-
Ebenso wäre im Sinne einer bürgerfreundlichen Polizei che Situation von Leuten, die Recht brechen und Gewalt
auf dem Schreibtisch ein Namensschild anzubringen. Im ausüben oder dies befürchten lassen, hervorgerufen
Einzeldienst sollten die Beamtinnen und Beamten wahl- wird, müssen sich die Polizistinnen und Polizisten schüt-

Zu Protokoll gegebene Reden


11800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Gisela Piltz
(A) zen, um ihre Arbeit zu tun. Ihre Arbeit im Übrigen, die Akzeptanz und zugleich besonders hohe Aggressivität (C)
darin besteht, Recht und Gesetz durchzusetzen. Mit All- gegenüber der Polizei in der Bevölkerung klagen.
machtsfantasien, wie die Linke sie hier behauptet, hat
das nämlich ganz gewiss gar nichts zu tun. Ich kann nur sagen: Angesichts der hier wieder de-
monstrierten Geringschätzung der Linken gegenüber
Es ist selbstverständlich, dass Polizistinnen und Poli- der Polizei ist es ein Wunder, dass in Berlin überhaupt
zisten, die im Dienst Grenzen überschreiten und sich noch engagierte Polizistinnen und Polizisten ihren
strafbar machen, wie jeder andere zur Rechenschaft ge- Dienst verrichten. Diesen Männern und Frauen gilt
zogen werden müssen. Es ist auch selbstverständlich, mein Respekt und mein Dank!
dass in solchen Fällen genauso sorgfältig ermittelt wer-
den muss wie in allen anderen Fällen. Damit die Identi- Die FDP-Fraktion ist gerne bereit, sich ernsthaft mit
tät eines Täters aufgeklärt werden kann, ist ein Namens- den Phänomenen der Akzeptanz der Polizei in unserer
schild aber nun wirklich nicht erforderlich. Es bestehen Gesellschaft ebenso wie mit der kriminologischen For-
die ganz normalen Möglichkeiten der Ermittlung von schung zu Körperverletzung im Amt und deren Vermei-
Tätern. Und sie werden ja auch genutzt; es ist ja nicht dung sowie Verfolgung zu befassen. Aber bitte nicht auf
so, als ginge die Polizei Straftaten, die in den eigenen diesem Niveau!
Reihen begangen werden, nicht mit den Mitteln des
Strafrechts wie auch des Disziplinarrechts nach. Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Fordern Sie von den Linken eigentlich konsequenter- Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die
weise auch, dass der Schwarze Block nur noch mit Na- Linke, eine Kennzeichnungspflicht für Angehörige der
mensschildern, wahlweise „Nummernschildern“, verse- Bundespolizei einzuführen.
hen an Demonstrationen teilnehmen darf, damit die
Ermittlungen nachher leichter fallen, wer die Flasche Warum halten wir solch eine Kennzeichnung für not-
auf den Polizisten geworfen hat? Nein, natürlich nicht. wendig?
Denn Ihnen von der Linken geht es nur darum, die Poli-
Im Mai 2005 stürmte ein Sondereinsatzkommando
zistinnen und Polizisten in Misskredit zu bringen, und
der Berliner Polizei die Diskothek Jeton. Es kam zu mas-
nicht darum, dass das wirklich eine zielführende Maß-
siven Übergriffen seitens der Beamten. Die Opfer trugen
nahme zur Aufklärung von tatsächlichen Vergehen und
zahlreiche Knochenbrüche und Kopfverletzungen da-
Verbrechen ist.
von. Die Staatsanwaltschaft Berlin nannte die Polizeige-
Natürlich ist eine bürgernahe Polizei ein wichtiges walt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, das
Anliegen, auch, weil unser Rechtsstaat von dem Ver- Land leistete Entschädigungszahlungen an die Opfer.
(B) trauen der Menschen in ihre Polizei lebt. Polizistinnen Aber die Täter wurden nicht verurteilt: Die Polizisten (D)
und Polizisten sind die Gesichter unseres Rechtsstaates. trugen allesamt Gesichtsmasken und verhinderten damit
Anträge wie der von der Linken vorgelegte leisten hier ihre individuelle Identifizierung.
aber einen Bärendienst, wenn sie die Polizei so verzerrt
darstellen. Die Forderung der Linken ist nicht davon ge- Vor vier Monaten stellte die Generalstaatsanwalt-
tragen, dass die Menschen auf der Straße den Streifen- schaft München ein Verfahren gegen Polizisten ein, die
polizisten nach Blick auf dessen Namensschild ein 2007 rechtswidrig auf Fußballfans eingeprügelt hatten.
freundliches „Guten Tag, Herr Müller!“ entgegnen kön- Grund für die Einstellung: Die Schläger konnten nicht
nen, sondern davon, dass sie unterstellt, es könne im einwandfrei identifiziert werden. Die „Frankfurter
Grunde jederzeit von jedem Polizisten zum unberechtig- Rundschau“ kommentierte dies mit den Worten, wieder
ten Angriff kommen. einmal habe der Rechtsstaat vor der Polizei kapituliert.

Es ist – wie ich schon in der vergangenen Woche an- Bei zahlreichen Demonstrationen erleben wir immer
merken musste – wirklich ausgesprochen bedauerlich, wieder, dass uniformierte und behelmte Polizisten mit
dass die Linken eigentlich diskussionswürdige Themen Schlagstöcken, Pfefferspray oder Faustschlägen unver-
auf ein Niveau herunterzieht, auf dem man nicht mehr hältnismäßig gegen Demonstranten vorgehen. Sie wer-
ernsthaft über die Sache sprechen kann. den dabei zwar häufig gefilmt, manchmal lösen diese
Bilder sogar eine gesellschaftliche Debatte aus, aber zu
Diskussionswürdig wäre beispielsweise ja durchaus, Verurteilungen der Beamten kommt es nur selten: Mit
ob die, selbst nach Abzug der zahlreichen Anzeigen auch ihren Uniformen und Helmen sehen sie alle gleich aus,
bei legitimer Gewaltanwendung durch die Polizei, rela- sie sind praktisch vermummt und können im Schutz die-
tiv geringe Zahl von Gerichtsverfahren wegen Körper- ser Anonymität Straftaten begehen.
verletzung im Amt manchmal auch Zeichen eines falsch
verstanden Korpsgeistes sein könnte, und wie man hier Nach einer Untersuchung an der FU Berlin, die sich
etwas verbessern kann. Diskussionswürdig wäre aber weit über 100 Fälle von Polizeigewalt vorgenommen
ebenso, in wie vielen Fällen die vermeintlichen Opfer hat, ist in jedem zehnten Fall die mangelnde Identifizier-
von Polizeigewalt schon von vornherein aggressiv und barkeit eines Beamten zumindest mitverantwortlich
mit Gewaltdrohung auf die Polizistinnen und Polizisten dafür, dass ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird.
zugegangen sind. Wenn die Linke hier auf Berlin ver- Dabei ist natürlich der Aspekt noch gar nicht berück-
weist, so muss sie doch auch darauf verweisen, dass ge- sichtigt, dass viele Betroffene gar nicht erst Anzeige er-
rade in dieser von der Linken mitregierten Stadt Polizis- statten, weil sie von vornherein wissen, dass sie damit
tinnen und Polizisten über eine ganz besonders geringe nicht durchkommen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11801
Ulla Jelpke
(A) Die Linke meint: Wenn der Rechtsstaat sich selbst zeichnung wäre daher ein Gewinn für ehrliche Polizis- (C)
ernst nehmen will, muss er dieses Problem anpacken. ten wie für die Bürger.
Eine Kennzeichnungspflicht kann zwar nicht Polizeige-
walt verhindern, aber sie kann das Problem der fehlen-
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den Identifizierung lösen.
Polizistinnen und Polizisten sind vom Staat beauf-
Gegner der Kennzeichnung behaupten immer wieder, tragt, das Recht durchzusetzen. Sie sind befugt, dazu
sie ermuntere Gewalttäter zu falschen Beschuldigungen auch unmittelbaren Zwang auszuüben. Sie üben dabei
oder gar zu persönlichen Nachstellungen. das staatliche Gewaltmonopol aus, und das heißt im
Wir wollten das mal genauer wissen und haben zu- Konfliktfall eben auch: Sie üben Gewalt aus. Diese An-
nächst die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage wendung von Gewalt durch die Polizei muss immer ver-
dazu befragt. Die Regierung antwortete, es lägen ihr hältnismäßig sein, und sie muss immer auf klarer recht-
keine eigenen Informationen vor. licher Grundlage geschehen. Sonst ist sie rechtswidrig.

Daraufhin haben wir den Wissenschaftlichen Dienst Um die Fälle rechtswidriger Gewalt geht es hier.
des Bundestages um eine Untersuchung gebeten. Und Dass es sie gibt, kann niemand ernsthaft bestreiten.
siehe da: In fast der gesamten Europäischen Union ist Dass sie nicht der Regelfall sind, sei auch klar gesagt.
die Kennzeichnungspflicht bereits umgesetzt. Deutsch- Die Zeiten der Leberwursttaktik eines Polizeipräsiden-
land ist, neben Österreich, der einzige Verweigerer. Und ten Duensing sind zum Glück Vergangenheit. Aber Ge-
nirgends gibt es Belege für eine damit verbundene Ge- waltexzesse kommen eben gelegentlich vor, gerade bei
fährdung von Polizisten. Lediglich aus Spanien werden Großlagen wie Demonstrationen. Da gibt es die Fälle,
„in einigen wenigen Einzelfällen“ unberechtigte An- in denen Bürgerinnen und Bürger, die lediglich ihr De-
schuldigungen oder Übergriffe vermeldet, ansonsten lä- monstrationsrecht ausüben, zur Zielscheibe von Gewalt
gen jedoch „keine relevanten Informationen vor, ob die durch Polizeibeamte werden. Es bringt nichts, hier jetzt
Einführung der Kennzeichnungspflicht zu einem Anstieg zu streiten, wie es dazu in der Situation jeweils gekom-
unberechtigter Anschuldigungen gegen Polizeibeamte men ist. Was zählt, ist: Ein Bürger sieht sich als Opfer
oder gar zu persönlichen Übergriffen auf diese geführt exzessiver Gewalt und damit als das Opfer einer Straf-
hat“. tat. Er muss die Möglichkeit haben, diesen Vorfall einer
justiziellen Überprüfung zuzuführen. Doch ein solcher
Amnesty International zog daraus die Bilanz: Es lä- Bürger steht heute vor einem Problem: Er muss seine
gen keine wirklichen Gründe gegen eine Kennzeich- Anzeige gegen Unbekannt stellen, denn er kann nicht
nungspflicht vor. identifizieren, wer ihn da unverhältnismäßig attackiert
(B) Dennoch stemmen sich gerade die Polizeigewerk- hat. Denn Beamte tragen Uniform und sehen deshalb, (D)
schaften noch immer vehement dagegen. das sagt das Wort Uniform schon, alle mehr oder weni-
ger gleich aus – erst recht, wenn sie Helm tragen.
Der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch hat
hierzu in einer Anhörung im Brandenburger Landtag Die Anonymität der Uniform aufzuheben, um den
Anfang Januar das Notwendige gesagt: Die Polizisten Bürgerinnen und Bürgern nach einem ganz konkreten
hätten vielfach „emotionale Vorbehalte“, die sich aber Gewaltakt eine rechtsstaatliche Ermittlung zu ermögli-
nicht auf Tatsachen stützten. chen – darum geht es. Dazu brauchen wir eine indivi-
Berlin hat mittlerweile eine Kennzeichnung beschlos- duelle Kennzeichnung der Polizistinnen und Polizisten,
sen, Brandenburg steht kurz bevor. Dort hat interessan- gerade wenn sie in geschlossenen Einheiten im Einsatz
terweise die CDU die Initiative ergriffen – und die steht sind. Das ist kein Generalverdacht gegen die Polizei;
wohl genauso wenig im Verdacht, angeblichen linken das ist Vorsorge für den Problemfall. Dadurch wird kein
Gewalttätern nahezustehen wie der Berliner Polizeichef. Beamter gefährdet. Denn es muss ja nicht der echte
Die Brandenburger CDU führt in ihrem Gesetzentwurf Name sein, der da auf der Uniform klar lesbar steht; es
völlig zu Recht aus, eine namentliche Kennzeichnung reicht eine einprägsame Zahl oder Buchstabenkombina-
könne das Vertrauen in die Polizei durch Transparenz tion, und die kann auch von Einsatz zu Einsatz neu ver-
und Bürgernähe stärken. Das sagen wir auch den Poli- geben werden.
zeigewerkschaften: Sie haben nichts zu verlieren, im Ge- Zum Abschluss: Der Antrag der Linkspartei will das
genteil. Wenn die Bürger wissen, mit wem sie es zu tun Richtige. Dies allerdings von der Bundesregierung zu
haben, werden sie eher mehr als weniger Vertrauen in erwarten, verwundert etwas. Ein Innenminister von der
die Rechtsstaatlichkeit polizeilichen Handelns haben. CSU bekommt vielleicht die Kennzeichnungspflicht für
Die Kennzeichnung dient, so schreibt es auch die Demonstranten hin, schwerlich aber Erkennungszei-
Brandenburger CDU, der Sicherstellung der Rechts- chen für die Polizei. Wenn das im Gesetz stehen soll,
schutzgarantie für die Bürger und gewährleistet eine müssen wir das als Bundestag schon selbst in die Wege
schnelle Aufklärung von Fällen von Polizeigewalt. leiten.
Die Linke zieht hieraus das Fazit: Eine Kennzeich-
nung kostet nichts, sie richtet keinen Schaden an, sie ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
aber geeignet, Schaden abzuwenden, indem sie Opfern Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
polizeilicher Übergriffe die Möglichkeit gibt, die Täter Drucksache 17/4682 an die in der Tagesordnung aufge-
zu identifizieren und belangen zu lassen. Eine Kenn- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
11802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (C)
schlossen. destages auf morgen, Freitag, den 8. April 2011, 9 Uhr,
ein.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung. Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 21.43 Uhr)

Berichtigung
101. Sitzung, Seite 11604 (C), erster Absatz, die Inter-
netadresse lautet: „http://grs.de/content/erlaeuterungen-
zum-Stresstest“.

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11803

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Herzog, Lars Klingbeil, Angelika Krüger-


Leißner, Caren Marks, Ullrich Meßmer, Florian
Liste der entschuldigten Abgeordneten Pronold, Mechthild Rawert, Ulla Schmidt
(Aachen) und Rolf Schwanitz (alle SPD) zur
entschuldigt bis
Abstimmung über den Entwurf eines Siebten
Abgeordnete(r) einschließlich Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsge-
setzes (Tagesordnungspunkt 9)
Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
DIE GRÜNEN rung und des Bundesrates zu, obwohl noch nicht ab-
schließend von der Europäischen Kommission geklärt
Brinkmann (Hildesheim), SPD 07.04.2011 ist, ob die vorgeschlagenen Regelungen mit den Vorga-
Bernhard ben des europäischen Rechts vereinbar sind. Bereits in
der Vergangenheit hat es intensive Diskussionen über
Dr. Danckert, Peter SPD 07.04.2011 eine deutsche Sonderregelung im Fahrerlaubnisrecht für
Mitglieder von Freiwilligen Feuerwehren und Organisa-
Friedhoff, Paul K. FDP 07.04.2011
tionen des Katastrophenschutzes gegeben.
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 07.04.2011 In einer Stellungnahme vom 12. Dezember 2008 hat
die Europäische Kommission in diesem Zusammenhang
Golze, Diana DIE LINKE 07.04.2011
deutlich gemacht, dass auf der Grundlage der Richtlinie
Griese, Kerstin SPD 07.04.2011 91/439/EWG (2. EG-Führerscheinrichtlinie) für das
Fahren eines Fahrzeuges über 3,5 Tonnen zwingend eine
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 Fahrerlaubnis der Klasse C1 zu erwerben ist. Darüber hi-
DIE GRÜNEN naus hat sie festgestellt, dass auch nicht aufgrund von
Art. 4 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2006/126/EG (3. Füh-
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 rerscheinrichtlinie) des Europäischen Parlaments und
DIE GRÜNEN des Rates vom 20. Dezember 2006 eine Ausnahmerege-
lung für Freiwillige Feuerwehren, die nach Landesrecht
(B) Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 anerkannten Rettungsdienste, das Technische Hilfswerk (D)
DIE GRÜNEN und den Katastrophenschutz möglich ist.

Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 07.04.2011 Diese Bedenken hat die Bundesregierung nun ohne
Karl Begründung – und ohne das abschließende Prüfungs-
ergebnis der Europäischen Kommission zu kennen – bei-
Lange (Backnang), SPD 07.04.2011 seitegeschoben. Die SPD-Bundestagsfraktion hat be-
Christian reits in der Parlamentarischen Aussprache zur ersten
Lesung des Gesetzentwurfs die Regierungskoalition auf-
Liebich, Stefan DIE LINKE 07.04.2011 gefordert, das Ergebnis der Überprüfung abzuwarten.
Wir sind der Überzeugung, dass der deutsche Gesetzge-
Lips, Patricia CDU/CSU 07.04.2011 ber eine Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes nur
im Einklang mit dem europäischen Recht beschließen
Ludwig, Daniela CDU/CSU 07.04.2011 sollte. Das sind wir den vielen ehrenamtlichen Helfern in
den Freiwilligen Feuerwehren, den Rettungsdiensten,
Petermann, Jens DIE LINKE 07.04.2011 dem Technischen Hilfswerk und dem Katastrophen-
schutz schuldig. Ansonsten entsteht eine rechtlich un-
Steinke, Kersten DIE LINKE 07.04.2011
klare Situation, die für Unsicherheit bei den Betroffenen
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 sorgt. Die Bundesregierung muss aus diesem Grund ge-
DIE GRÜNEN gebenenfalls erneut gesetzgeberisch reagieren, wenn die
Kommission bei ihrer noch laufenden Prüfung zum Er-
gebnis kommt, dass der vorliegende Entwurf mit euro-
päischem Recht nicht vereinbar ist.
Anlage 2
Außerdem wäre es ein wichtiger Beitrag zur Ver-
Erklärung nach § 31 GO
kehrssicherheit gewesen, wenn die Regierungskoalition
der Abgeordneten Sabine Bätzing- unserer Forderung im federführenden Ausschuss für
Lichtenthäler, Sören Bartol, Bärbel Bas, Uwe Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, bundeseinheitliche
Beckmeyer, Martin Burkert, Elvira Drobinski- Vorgaben zur Einweisung sowie den obligatorischen
Weiß, Petra Ernstberger, Hans-Joachim Einsatz von staatlich anerkannten Prüfenden bei den
Hacker, Dr. Barbara Hendricks, Gustav Prüfungsfahrten einzuführen, zugestimmt hätte.
11804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011

(A) Die Zustimmung zum sogenannten Feuerwehrführer- derungen sind wichtig, aber die nachfolgenden Regelun- (C)
schein ist dennoch richtig, weil die Neuregelung eine gen fehlen.
kostengünstige und unbürokratische Lösung ist. Ohne
diese Erleichterung für die Freiwilligen Feuerwehren, Erstens. Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und
Rettungsdienste und technischen Hilfsdienste würden das Gesetz zu präzisieren, ist die Aufnahme eines aus-
durch den Generationenwechsel bei den Ehrenamtlichen drücklichen Zugangs- und Zutrittsrechtes zu den jeweili-
künftig zu wenige Inhaber der Fahrerlaubnisklasse C1 gen nationalen Betrieben für Mitglieder Europäischer
zur Verfügung stehen, um die Einsatzbereitschaft im Betriebsräte im EBRG notwendig. Damit wird geklärt,
Sinne der Sicherheit unserer Gesellschaft zu gewährleis- wie die vorgesehene Unterrichtung der örtlichen Arbeit-
ten. nehmervertretung durch den Europäischen Betriebsrat in
der Praxis erfolgen soll.
Zweitens. Das EBRG muss dahin gehend geändert
Anlage 3 werden, dass die vorgesehenen Sanktionen bei Zuwider-
Erklärung nach § 31 GO handlungen wirksam, abschreckend und im Verhältnis
zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessen sind.
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke Dies sieht die Richtlinie in Erwägungsgrund 36 vor, der
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- die Mitgliedstaaten verpflichtet, abschreckende Sanktio-
mung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes nen zu verankern. Insbesondere die Bußgeldvorschriften
zur Änderung des Europäische Betriebsräte- in § 45 EBRG müssen angepasst werden. Die dort
Gesetzes – Umsetzung der Richtlinie 2009/38/ vorgesehene Geldbuße mit einer Obergrenze von
EG über Europäische Betriebsräte (2. EBRG- 15 000 Euro ist für multinationale Konzerne weder ab-
ÄndG) (Tagesordnungspunkt 11 a) schreckend noch wirksam und sollte daher im Sinne der
Viele Unternehmen in der Europäischen Union sind Richtlinie deutlich erhöht werden.
grenzüberschreitend aktiv und global vernetzt. Sie ope-
Drittens. Maßnahmen, die gesetzeswidrig ohne Betei-
rieren und entscheiden über Staatsgrenzen hinweg. Die
ligung des Europäischen Betriebsrates beschlossen wur-
Transnationalisierung in der Unternehmenswelt nimmt
den, dürfen nicht umgesetzt werden. Dem Europäischen
weiter zu. Die 1994 in der Richtlinie für die Gründung
Betriebsrat ist daher ein Anspruch auf Unterlassung be-
Europäischer Betriebsräte (94/45/EG) geschaffene Mög-
teiligungswidriger Maßnahmen einzuräumen.
lichkeit einer europaweiten und grenzüberschreitenden
Arbeitnehmervertretung war deshalb ein wichtiger Viertens. In § 1 Abs. 2 EBRG muss die Voraussetzung
Schritt und ein Kernstück des Europäischen Sozialmo- für Unterrichtungen und Anhörungen der Europäischen
(B) dells. Mittlerweile existieren europaweit über 900 Euro- Betriebsräte konkretisiert werden, um die Rechtssicher- (D)
päische Betriebsräte, rund 160 davon in Deutschland. heit zu erhöhen. „Grenzüberschreitende Angelegenhei-
Die Richtlinie von 1994 war jedoch mangelhaft und ten“ liegen dann vor, wenn die zentrale Leitung Entschei-
an einigen Stellen revisionsbedürftig. Die zum 5. Juni dungen trifft, die Auswirkungen auf Arbeitnehmerinnen
2009 verabschiedete Neufassung der Richtlinie erfüllt und Arbeitnehmer in Unternehmen oder Unternehmens-
jetzt die Minimalanforderungen an eine Anpassung an gruppen in anderen Mitgliedstaaten haben.
die veränderte Unternehmenssituation in Europa. Zur Fünftens. § 31 EBRG sollte ersatzlos gestrichen wer-
Umsetzung der Europäischen Richtlinie in nationales den. Die Einschränkung der Unternchtungs- und Anhö-
Recht ist Deutschland bis zum 5. Juni 2011 verpflichtet. rungsrechte in Tendenzunternehmen ist weder sachlich
Der vorliegende Gesetzentwurf für ein Zweites Gesetz erforderlich, noch ist sie im Rahmen der nationalen Um-
zur Änderung des Europäischen Betriebsräte-Gesetzes, setzung der Europäischen Betriebsräterichtlinie zwin-
EBRG, übernimmt viele notwendige und begrüßenswerte gend notwendig.
Korrekturen aus der EU-Richtlinie. Dem Gesetzgeber
Sechstens. In § 38 EBRG sollte ein exemplarischer
bleiben jedoch über die expliziten Umsetzungsverpflich-
Katalog von Themen aufgenommen werden, die in
tungen hinaus nationale Spielräume, die zur Stärkung
Schulungen des Europäischen Betriebsrats behandelt
der Arbeitnehmerrechte genutzt werden sollten. Der vor-
werden können. Dieser muss insbesondere „interkultu-
liegende Gesetzentwurf lässt diesen Spielraum an vielen
relle Kommunikation“, „Arbeitsbeziehungen in den
Stellen ungenutzt.
Ländern der Europäischen Union“, „Umgang der Euro-
Deshalb enthalte ich mich bei diesem Gesetzentwurf päischen Betriebsrats-Mitglieder mit Managementinfor-
der Stimme. Die aus der Richtlinie übernommenen Än- mationen“ und Sprachschulungen umfassen.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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