Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
102. Sitzung
Inhalt:
Wahl der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt in Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11630 B
den Gemeinsamen Ausschuss . . . . . . . . . . . 11623 A
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Wahl der Abgeordneten Petra Müller DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11631 C
(Aachen) in den Stiftungsrat der Bundesstif-
tung Baukultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11623 B Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11632 D
Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11678 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 11705 A
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 11776 D Bundeswehr und der ehemaligen NVA vo-
ranbringen
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/5365) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11778 B
in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 21:
Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Zusatztagesordnungspunkt 7:
Monika Lazar, Winfried Hermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak,
NIS 90/DIE GRÜNEN: Frauenquote bei Gre- Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Abgeord-
mienbesetzungen durch das Bundesminis- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
terium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- GRÜNEN: Umfassende Entschädigung für
lung konsequent einhalten Radarstrahlenopfer der Bundeswehr und
(Drucksache 17/5257) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11779 A der ehemaligen NVA
(Drucksache 17/5373) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 C
Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11779 A
Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 C
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11780 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11789 D
Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . 11780 C
Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11790 D
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11781 C
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 11791 C
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11782 A Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11792 A
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11792 D
Tagesordnungspunkt 22:
Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Dr.
Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer Tagesordnungspunkt 24:
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhal- Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und
ten – Kormoranmanagement einführen der Fraktion DIE LINKE: Abzug deutscher
(Drucksache 17/5378) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11782 C Polizisten aus Afghanistan
Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11782 D (Drucksache 17/4879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11793 B
Holger Ortel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11783 C Armin Schuster (Weil am Rhein)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11793 C
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 11784 C
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11794 C
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11785 C
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11795 D
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11787 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11796 C
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11797 C
Tagesordnungspunkt 23:
Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul
Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 25:
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Umfassende Entschädigung für Radar- Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge-
strahlenopfer der Bundeswehr, der ehema- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ein-
ligen NVA und ziviler Einrichtungen führung einer Kennzeichnungspflicht für
(Drucksache 17/5233) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11788 B Angehörige der Bundespolizei
(Drucksache 17/4682) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11798 A
in Verbindung mit Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11798 B
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11799 A
Zusatztagesordnungspunkt 6:
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11799 D
Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr.
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11800 C
Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
SPD: Ausgleich für Radargeschädigte der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11801 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 VII
(A) (C)
Redetext
102. Sitzung
Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Hasselfeldt in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt. Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Der Kollege Joachim Günther ist aus dem Stiftungs-
rat der Bundesstiftung Baukultur ausgeschieden. Die Netzneutralität im Internet gewährleisten –
Fraktion der FDP schlägt an seiner Stelle die Kollegin Diskriminierungsfreiheit, Transparenzver-
Petra Müller vor. Sind Sie auch damit einverstanden? pflichtungen und Sicherung von Mindestquali-
(Heiterkeit bei der FDP) täten gesetzlich regeln
– Wir halten den spontanen Jubel im Protokoll fest. Da- – Drucksache 17/5367 –
mit ist die Kollegin Müller zum Mitglied des Stiftungs- Überweisungsvorschlag:
rates der Bundesstiftung Baukultur gewählt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Rechtsausschuss
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
geführten Punkte zu erweitern: Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Ausschuss für Kultur und Medien
SPD:
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Gründe des Bundeswirtschaftsministers ge- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
gen ein Verbot von Klonfleisch
(siehe 101. Sitzung) – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Unlautere Telefonwerbung effektiv verhin-
tion der SPD dern
11624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- merksam:
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Der am 24. März 2011 überwiesene nachfolgende Ge-
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der setzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss
Zivilprozessordnung (7. Ausschuss) und dem Ausschuss für Arbeit und Sozia-
– Drucksache 17/5363 – les (11. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen wer-
Überweisungsvorschlag:
den:
Rechtsausschuss
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. Gernot Vereinfachung des Austauschs von Informa-
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tionen und Erkenntnissen zwischen den Straf-
SPD verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
Ausgleich für Radargeschädigte der Bundes-
wehr und der ehemaligen NVA voranbringen – Drucksache 17/5096 –
(B) (D)
– Drucksache 17/5365 – Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss (f) Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
Haushaltsausschuss
sen.
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer Ab- Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 3 sowie
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE den Zusatzpunkt 2 auf:
GRÜNEN 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
Umfassende Entschädigung für Radarstrah- gierung
lenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
NVA Bundesregierung
– Drucksache 17/5373 – – Drucksache 17/4243 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Rechtsausschuss
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sportausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Deutschland im VN-Sicherheitsrat – Impulse Röspel, Dr. Carola Reimann, Dr. Ernst Dieter
für Frieden und Abrüstung Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
– Drucksache 17/4863 –
Überweisungsvorschlag: Gesundheitsforschung an den Bedarfen der
Auswärtiger Ausschuss (f) Patientinnen und Patienten ausrichten – Rah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11625
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) menprogramm Gesundheitsforschung der In den vergangenen Jahren sind viele Analysen durch- (C)
Bundesregierung überarbeiten geführt worden, in denen immer wieder darauf hinge-
wiesen wurde, dass die Trennung der Hochschulmedizin
– Drucksache 17/5364 – von den Forschungsinstituten den Weg erschwert. Es
Überweisungsvorschlag: braucht eine Bündelung der Kräfte, es braucht Verbin-
Ausschuss für Bildung, Forschung und dungen, und es braucht, damit zusammenhängend, hö-
Technikfolgenabschätzung (f) here Investitionen in die Hochschulmedizin. Das Rah-
Sportausschuss
Rechtsausschuss menprogramm ist übrigens auch ein großer Beitrag des
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundes – und somit Konsequenz aus der Entscheidung
Ausschuss für Gesundheit des Parlamentes – zur finanziellen Unterstützung der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hochschulmedizin. Es ist Zeit, dass das große Potenzial,
Haushaltsausschuss
das in unseren Universitäten vorhanden ist, finanziell
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für entsprechend unterstützt wird. Das Rahmenprogramm
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Gesundheitsforschung wird hierfür in den nächsten Jah-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. ren die Voraussetzungen schaffen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nächst der Bundesministerin Frau Dr. Schavan. Im April dieses Jahres wird die Auswahl der Stand-
orte stattfinden. Ich werde schon Ende dieses Monats die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschlandkarte präsentieren können, die Ihnen zeigen
wird, an wie vielen Standorten wir in Zukunft mit sehr
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- viel intensiverer Forschung im Bereich der Gesundheit
dung und Forschung: und mit der Verwirklichung der Schwerpunkte, die in
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diesem Programm enthalten sind, rechnen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Rahmen- Ich nenne drei zentrale Schwerpunkte.
programm Gesundheitsforschung der Bundesregierung
ist ein Schwergewicht bei den Rahmenprogrammen für Erstens: die individualisierte Medizin. Dazu sind er-
die kommenden Jahre. Dies ist aus gutem Grund so. hebliche weitere Forschungsanstrengungen notwendig.
Denn die demografische Entwicklung in Deutschland Dies ist aber auch eine große Herausforderung für die
– 2050 wird bereits jeder dritte Bürger älter als 65 sein – Versorgungssysteme.
macht eine Konzentration auf damit verbundene Verän- Zweitens: die Präventions- und Ernährungsforschung,
(B) derungen notwendig; diese müssen in der Gesundheits- auch die Versorgungsforschung, die insgesamt eine Ver- (D)
versorgung, im Gesundheitssystem und vorausgehend in bindung zwischen der Forschung, unserem Gesundheits-
der Gesundheitsforschung vorgenommen werden. Des- system und der Gesundheitsversorgung herstellt. Es geht
halb ist das neue Rahmenprogramm für die kommenden dabei um mehr individuelle Zugangswege und eine bes-
acht Jahre von neuen Schwerpunkten, struktureller Wei- sere Versorgung vor allem der multimorbiden Patienten.
terentwicklung und Internationalisierung geprägt. Das
sind die drei zentralen Merkmale des neuen Rahmenpro- Drittens: das Aktionsfeld internationale Kooperation
gramms. Seitens des BMBF werden bis zum Jahre 2014 mit dem Schwerpunkt bei vernachlässigten Krankheiten
rund 6 Milliarden Euro investiert werden. oder, anders gesagt, Volkskrankheiten in den Entwick-
lungsländern.
Wenn ich von Schwergewicht spreche, dann hat das
natürlich auch mit der herausragenden Kompetenz und Wir haben über diese Themen sowohl im Fachaus-
dem herausragenden Potenzial in der Gesundheitsfor- schuss für Bildung und Forschung als auch im Gesund-
schung zu tun, die in unseren großen Forschungsorgani- heitsausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sationen stecken. Ich denke nur an die Institute der sammenarbeit und Entwicklung diskutiert. Ich messe
Helmholtz-Gemeinschaft, aber auch – das ist die ent- dem Aktionsfeld internationale Kooperation eine heraus-
scheidende strukturelle Weiterentwicklung – an das, was ragende Bedeutung bei. Die Gesundheitsforschung muss
an zahlreichen Universitätsinstituten in Deutschland in den nächsten Jahren angesichts der Möglichkeiten, die
schon geleistet wird. Deshalb ist in meinen Augen die wir in Deutschland haben, aber auch angesichts der
größte Veränderung – übrigens auch die größte Verände- Möglichkeiten, die wir auf europäischer Ebene haben,
rung in der Gesundheitsforschung, die es in Deutschland noch stärker genutzt werden, um internationale Verant-
bislang überhaupt gegeben hat – die Gründung von na- wortung wahrzunehmen. Sie ist ein wichtiges Aktions-
tionalen Gesundheitsforschungszentren. Dies ist eine feld der internationalen Verantwortung, auch in der in-
neue Art der Zusammenarbeit zwischen universitärer ternationalen Entwicklungszusammenarbeit.
und außeruniversitärer Forschung und führt, damit ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bunden, zu einer größeren Nähe zu den Erkenntnissen,
die in der Forschung gewonnen werden, was den Patien- Meine Damen und Herren, ich werde nicht auf wei-
ten zugutekommt. Der Grundgedanke ist: Die Erkennt- tere Einzelheiten eingehen; denn das Rahmenprogramm
nisse müssen schneller und wirksamer zum Patienten. Gesundheitsforschung liegt Ihnen vor. Ich will auf den
Antrag der SPD eingehen, der heute in diesem Hause
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie eingebracht worden ist. Mich hat dieser Antrag insofern
des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) verwundert, als er die Tatsachen im Hinblick auf das
11626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
René Röspel
(A) Kapitel: „Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch- (Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer (C)
ses“. Darin verweisen Sie darauf, dass mehr Lehrstühle [CDU/CSU]: Da waren Ihre Anträge noch
für Versorgungsforschung geschaffen werden müssen. qualitätsvoll!)
Das ist Länderaufgabe. Wo ist die Verantwortung des
Wir wollen auch Gender- und Kinderaspekte einbe-
Bundes?
ziehen. Das sind nur einige Beispiele aus unserem An-
Welche Vorschläge bieten Sie zur Gesundheitsfor- trag.
schung für die Menschen? Sie wollen in den nächsten fünf Jahren 5,5 Milliarden
Euro einsetzen. Auch darauf sind wir sehr gespannt. Wo
(Ulla Burchardt [SPD]: Keine!) sind eigentlich neue Mittel? Denn Sie zählen For-
Das Programm ist eine inhaltliche Enttäuschung für uns. schungsmittel dazu, die längst bewilligt sind. Entschei-
Sie machen keine Gesundheitsforschung, sondern dend ist aber nicht das Geld oder die Höhe der Summe,
Krankheitenerforschung. Das greift zu kurz. sondern die Frage: Was nutzt letzten Endes den Men-
schen? Dafür ist die Forschung da.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Gesundheitsforschungsprogramm erfüllt diesen
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Einige Kolle- Anspruch nicht. Bedienen Sie sich gerne aus unserem
gen haben gestern an einer Veranstaltung zur Komple- Antrag. Das tut den Menschen im Lande sicherlich gut.
mentärmedizin teilgenommen, bei der es auch um Natur- Danke schön.
heilkunde und alternative medizinische Verfahren ging.
90 Prozent der Menschen, die auf diese Weise behandelt (Beifall bei der SPD)
werden, sind sehr zufrieden. Das spielt also gesellschaft-
lich eine Rolle. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Dr. Peter Röhlinger für die
In der „Roadmap Gesundheitsforschung“ von 2007 CDU/CSU-Fraktion, Entschuldigung: für die FDP-Frak-
wird die Komplementärmedizin im Kapitel „Krebser- tion, das Wort.
krankungen“ berücksichtigt. Es wird ernsthaft vorge-
schlagen, sich damit zu befassen. In dem vermeintlichen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
Schwergewicht Gesundheitsforschungsprogramm findet kann heutzutage schon mal passieren, Herr
sich kein Wort dazu. Man findet nicht einmal das Wort Präsident!)
„Behinderung“. Aber zu einem Gesundheitsforschungs- – Mögliche Fraktionswechsel sollten schon subjektive
programm gehört, wie ich finde, auch Gesundheitsfor- individuelle Entscheidungen bleiben. Sie werden nicht
(B) schung für Menschen mit Behinderung. durch das Präsidium veranlasst. – Bitte schön, Herr Kol- (D)
lege.
Das alles ist sehr enttäuschend. Sie hatten drei Jahre
Zeit für das Gesundheitsforschungsprogramm, die Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht genutzt haben. Wir als SPD hatten drei Wochen der CDU/CSU)
Zeit, als wir erfuhren, dass die Debatte sehr schnell auf
die Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben einen Antrag Dr. Peter Röhlinger (FDP):
erarbeitet. Er mag nicht vollständig oder auch verbesse- Herr Präsident, ich freue mich, dass wir in dieser
rungswürdig sein; aber wir sagen ausdrücklich: Wir wol- fröhlichen Stunde auch ein fröhliches Wort übrig haben.
len Gesundheitsforschung, die von den Bedarfen der
Menschen ausgeht. Ich begrüße Sie herzlich, Frau Ministerin, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Ich widme mich im Fol-
(Beifall bei der SPD) genden dem von Ihnen genannten tatsächlichen Schwer-
gewicht. Ich empfinde es als Veterinärmediziner und
Damit stehen wir nicht alleine. Das Institut für Qualität Bürger, der 40 Jahre lang das Gesundheitswesen der
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sieht das DDR kennengelernt hat, auch persönlich als eine große
genauso. Die Frage ist: Was hat der Patient davon? Das Freude, dass wir nun die Chance haben, der Spitze der
gilt auch für die Forschung. europäischen medizinischen Forschung zu zeigen: Wir
sind hier und wollen unseren Beitrag leisten.
Wir wollen einen Aktionsplan Präventions- und Er-
nährungsforschung. Sie kündigen ihn seit Jahren an. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sagen: Legen Sie ihn endlich vor! der CDU/CSU)
Ich gehe davon aus, dass das Rahmenprogramm Ge-
Wir wollen die Stärkung der Patientenautonomie, und
sundheitsforschung der Bundesregierung die strategi-
wir wollen die klinische Forschung stärken. Was Sie
sche Ausrichtung der medizinischen Forschung für die
eben an bereits existierenden Maßnahmen aufgeführt ha-
kommenden Jahre darstellt. Es bildet die Grundlage für
ben, Frau Schavan, ist doch auf eine Initiative der SPD
die Finanzierung medizinischer Forschung an Hoch-
zur Förderung nicht kommerzieller und klinischer For-
schulen, Universitätskliniken, außeruniversitären For-
schung zurückzuführen, die wir in guter Zusammenar-
schungseinrichtungen und in Unternehmen.
beit, Herr Kretschmer, gemeinsam in der Großen Koali-
tion auf den Weg gebracht haben. Sonst wäre nichts Die Bundesregierung ist einer der wichtigsten Ak-
passiert. teure auf dem Gebiet der Gesundheitsforschung, denn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11629
Dr. Peter Röhlinger
(A) sie finanziert anteilig Wissenschaftsorganisationen wie neue Qualität der Zusammenarbeit in der Wissenschaft (C)
die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, entstehen kann; das muss auch so sein. Erstmals werden
die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesell- hier universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen
schaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. mit ihren jeweils besten Forscherinnen und Forschern
gleichberechtigt und gemeinsam wissenschaftliche Fra-
(René Röspel [SPD]: Nicht die Bundesregierung
gestellungen definieren und bearbeiten. Bei den Vorge-
hat das getan, sondern der Bundestag!)
sprächen zum Wissenschaftsfreiheitsgesetz ist mir ans
Sie unterhält Ressortforschungseinrichtungen, und sie Herz gelegt worden: Wir brauchen nicht mehr Geld, son-
fördert medizinische Forschungsprojekte. Daraus er- dern neue Strukturen. Wir brauchen Kooperation, auch
wachsen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei wird hoffent- mit den Unternehmen.
lich ein Großteil dessen, was Sie, Herr Röspel, angespro-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chen haben, integriert werden.
Das ist ein neuer Aspekt, der sich in diesem Rahmenpro-
(René Röspel [SPD]: Wir hoffen immer, ge-
gramm wiederfindet.
rade in diesem Fall!)
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Er-
Wir haben als Parlamentarier Zeit, das zu kontrollieren
krankungen, zum Beispiel Parkinson, Demenz und Alz-
und gegebenenfalls zu ergänzen.
heimer, und das Deutsche Zentrum für Diabetesfor-
Dieses Programm setzt für die institutionelle Förde- schung sind bereits gegründet.
rung und für die Projektförderung des BMBF einen ge-
(René Röspel [SPD]: Aber die Forschung hat
meinsamen Rahmen und richtet beide Förderarten neu
es vorher schon gegeben!)
aus. Das Ziel ist, dass Forschungsergebnisse in Zukunft
schneller aus der Grundlagenforschung und der klini- Vier weitere Zentren werden eingerichtet, zu Herz-
schen Forschung in die medizinische Regelversorgung Kreislauf-Erkrankungen, zu Krebs, zu Infektions- und zu
und damit zu den Patienten kommen. Dieser Prozess, der Lungenkrankheiten. Hier werden sicherlich – darüber
in der Vergangenheit manchmal Jahrzehnte gedauert hat, sind wir uns alle einig – die Kliniken und Einrichtungen
soll durch neue Strukturen und neue Formen der Zusam- mit großem Interesse dabei sein. Sie werden sich fragen:
menarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- Sind wir dabei, oder gehören wir zu den Einrichtungen,
lern beschleunigt werden. Dafür sind – die Zahlen haben die aus diesen oder jenen Gründen nicht einbezogen
wir zum Teil schon gehört – für das Jahr 2011 insgesamt werden? – Da können wir uns auf schwierige Diskussio-
mehr als 1 Milliarde Euro in den Haushalt eingestellt, für nen gefasst machen. Frau Ministerin, Sie plädierten für
den Zeitraum 2011 bis 2014 über 5,5 Milliarden Euro. eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Ich sehe da
(B) durchaus Spannungsfelder. Aber auch dafür sind wir da. (D)
(René Röspel [SPD]: Keine neuen Mittel,
Sonst würden das andere schon längst gemacht haben.
oder?)
Beim Aktionsfeld 2 geht es um die Forschungshe-
Die Laufzeit ist auf acht Jahre angelegt. Auf der Veran-
rausforderung. Das Stichwort heißt individualisierte Me-
staltung, die wir gestern gemeinsam besucht haben, hatte
dizin. Dieses Aktionsfeld ist der ganzheitlichen Behand-
ich den Eindruck, dass wir überfraktionell, gerade was
lung gewidmet; denn durch die großen Fortschritte der
die Komplementärmedizin angeht, durchaus überein-
medizinischen Forschung in den vergangenen Jahren ist
stimmende Ansichten haben.
das Verständnis der grundlegenden Krankheitsmechanis-
Die Tatsache, dass die Laufzeit auf acht Jahre ange- men inzwischen stark gewachsen. Dabei ist deutlich ge-
legt ist, gibt uns die Möglichkeit, nicht im Raster von worden, dass individuelle Unterschiede, zum Beispiel
vier Jahren denken zu müssen, sondern in längeren Zeit- Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund und genetische
räumen. Das sind wir den Bürgern schuldig, und dieser Disposition, eine große Rolle spielen. Die Erforschung
Zeithorizont macht uns Abgeordneten Hoffnung, in den dieser Aspekte muss forciert werden, um Diagnose und
nächsten Jahren etwas mehr Kraft zu investieren. Therapie künftig stärker als heute auch auf individuelle
Bedürfnisse und Voraussetzungen einzelner Menschen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
oder einzelner Gruppen von Menschen auszurichten.
Die Patienten stehen – so geht es aus dem Text her-
Mir sagen die Chefs in Heidelberg und an anderen
vor – im Mittelpunkt. Partner der Regierung sind in ers-
Orten: Wenn die Patienten künftig mit ihrem Chip zum
ter Linie die Forschungseinrichtungen. Aber wir haben Arzt oder in die Klinik kommen und eine Fülle von In-
auch – darin unterscheiden wir uns vielleicht, Herr
formationen mitbringen, dann kann der Mediziner Kos-
Röspel – ein ungestörtes Verhältnis zu den Unternehmen
ten auf dem einen oder anderen Gebiet vermeiden, weil
als Partner bei der Lösung außerordentlich komplizierter er sehr speziell reagieren und auf die Anwendung von
Vorhaben. Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung
diesem oder jenem Diagnostikum oder Therapeutikum
sind sechs Aktionsfelder definiert. Ich möchte an dieser
verzichten kann.
Stelle nur auf einige eingehen, die mir besonders interes-
sant erscheinen. (René Röspel [SPD]: Die elektronische Ge-
sundheitskarte hat nichts mit individualisierter
Zunächst geht es um die Erforschung von Volks-
Medizin zu tun!)
krankheiten. Diese Forschung wird gebündelt. Es wer-
den sechs deutsche Zentren der Gesundheitsforschung Die Bundesregierung unterstützt die Entwicklung von
gegründet. Diese Zentren sind so aufgestellt, dass eine Diagnostika und Therapeutika und spannt in der Förde-
11630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Krista Sager
(A) einem nationalen Gesundheitsforschungsprogramm die fahrung. Sie braucht die Überprüfung ihrer eigenen Er- (C)
Pflegewissenschaften einen sehr viel stärkeren Stellen- wartung in der klinischen Praxis. Sie braucht aber auch
wert brauchen, als das in Ihrem Programm der Fall ist, die Nähe zum ärztlichen Nachwuchs; denn wir müssen
gerade die jungen Ärzte auch für die medizinische For-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schung und für die Kooperation mit der medizinischen
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Forschung interessieren und gewinnen. Das heißt, wenn
LINKEN)
man Translation als Ziel ernst nimmt, dann müssen
und zwar nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Herzstück und Schnittstelle der Deutschen Zentren ei-
Erkenntnisse, sondern auch, was die akademische Pro- gentlich die Universitätskliniken sein.
fessionalisierung des Fachkräftepotenzials angeht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Stärkung der Versorgungsforschung war – gerade Was ist aber passiert? Wir sind wieder von den Be-
vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Möglichkei- sonderheiten der föderalen Forschungsförderung einge-
ten – für uns immer ein besonders wichtiges Anliegen. holt worden. 90 Prozent der Mittel sollen vom Bund
Der medizinische Fortschritt muss auch bei denen an- kommen. Also wurden, um die Länder im Boot zu hal-
kommen, die es am nötigsten haben und bei denen er am ten, die Helmholtz-Zentren in die Mitte gerückt; sie wur-
meisten bewirkt – nicht nur bei denen, die es sich leisten den als Partner gesetzt. Sie mussten sich im Gegensatz
können. Deswegen ist gerade die Stärkung der Versor- zu den Universitäten dazu keinem qualitativen Wettbe-
gungsforschung unter dem Gesichtspunkt von Gerechtig- werb stellen. Sie sind von vornherein privilegiert, weil
keit, aber auch unter dem Gesichtspunkt von Qualität und sie Geförderte und Förderer zugleich sind. Es ist kein
Effizienz für uns Grüne ein ganz besonderes Anliegen. Wunder, dass der Verband der Universitätskliniken, der
Männer und Frauen werden in unserem System unter- Medizinische Fakultätentag und die Hochschulrektoren-
schiedlich unterversorgt und überversorgt. Man muss konferenz protestiert haben. Durch ihren Protest und
sich da nur die Herzkrankheiten und die psychischen durch ihren Druck gibt es jetzt verschiedene Zentrenmo-
Krankheiten anschauen. Zum Teil kommen Medika- delle und eine Entwicklung in Richtung einer Netzwerk-
mente auf den Markt, die nur an männlichen Probanden struktur.
getestet worden sind. Deswegen muss die Bundesregie- Damit sind aber nicht alle Probleme und Ängste be-
rung dafür sorgen, dass genderspezifische Aspekte in die seitigt. Werden die Helmholtz-Zentren forschende junge
Gesundheitsforschung systematischer integriert werden, Ärzte, Publikationen und Drittmitteleinwerbung aus den
als das in der Vergangenheit der Fall war. Universitätskliniken und aus den Unis zu sich herüber-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziehen? Werden die Länder Komplementärmittel, die sie
(B) und bei der SPD) jetzt brauchen, bei der Grundfinanzierung der Uniklini- (D)
ken abziehen? Das alles sind offene Fragen. Die Frage
Wir begrüßen – auch Frau Sitte hat das angespro- „Wird es Kooperation auf Augenhöhe geben?“ ist bisher
chen –, dass die Bundesregierung jetzt mehr gegen ar- nicht beantwortet.
mutsbedingte Krankheiten tun will. Das ist in der Tat
nicht nur ein Thema, das Solidarität und globale Verant- Ich finde es nicht unproblematisch, so viel Geld auf
wortung betrifft, es hat auch etwas mit Selbstschutz zu Dauer in eine Struktur hineinzustecken, die bisher noch
tun. Resistente Formen der Tuberkulose können auch so wenig erprobt ist. Wir brauchen ganz dringend nicht
ganz schnell bei uns ankommen. nur eine Evaluation der Ergebnisse, sondern beizeiten
auch eine Evaluation der Strukturen sowie der Folgen
Bei den geförderten Produktentwicklungspartnerschaf- und Risiken dieser Strukturen, bevor wir auf Dauer so
ten muss jetzt dafür gesorgt werden, dass die Kriterien für viel Geld in diese stecken. Das ist eine Sache, zu der ich
Lizenzierung und Erfolg transparent entwickelt werden. von Ihnen, Frau Schavan, eine Zusage erwarte, und das
Unsere Entwicklungspolitiker werden ganz besonders erwarten auch die Universitätskliniken von Ihnen.
darauf achten, dass dabei in Zukunft in Zusammenarbeit
mit den NGOs Fortschritte erzielt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michael Kretschmer [CDU/CSU])
und bei der SPD)
Der größte Teil der Mittel aus diesem Rahmenpro- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gramm geht in die Deutschen Zentren der Gesundheits- Der Kollege Michael Kretschmer erhält als Nächster
forschung. Ich sage ausdrücklich: Fokussierung auf die das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
großen Volkskrankheiten und Bündelung von Kräften
und Ressourcen zur Erforschung der großen Volkskrank- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heiten finden wir im Prinzip richtig. Zur Erreichung des
Ziels der schnelleren Translation, also der schnelleren Michael Kretschmer (CDU/CSU):
Überführung der medizinischen Forschungsergebnisse Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
in die klinische Praxis bzw. in die Patientenbehandlung, Herren! Über 5,5 Milliarden Euro, nahezu 6 Milliarden
müssen aber eigentlich die Universitätskliniken ins Zen- Euro, wird der Bund zwischen 2011 und 2014 für die
trum gerückt werden. Warum? Die medizinische For- Gesundheitsforschung ausgeben. Über nicht weniger
schung braucht unbedingt die Nähe zu den Patientinnen Geld sprechen wir heute. Das ist ein gewaltiger Kraftakt.
und Patienten. Sie braucht die Nähe zur klinischen Er- Das macht klar, welche Bedeutung wir der Medizin und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11633
Michael Kretschmer
(A) der Gesundheitsforschung beimessen. Es ist nicht weni- Diabetes, Neurodegeneration und Infektion zwei weitere (C)
ger als knapp die Hälfte des Geldes, das das Bundes- Einheiten errichten will. Die Abgeordneten des Deut-
ministerium für Bildung und Forschung jährlich als Etat schen Bundestags haben gesagt: Wir wollen, dass die Er-
zur Verfügung hat. Es ist ein gewaltiger Kraftakt und, krankungen von Herz und Kreislauf sowie der Lunge
wie ich finde, ein deutliches Zeichen in die richtige auch in diesen Zentren ein Thema sind. Jetzt ist dies auf
Richtung. dem Weg. Ich finde, die Kritik ist an den Haaren herbei-
gezogen, und sie ist auch ein bisschen verletzend.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Helmholtz-Gemeinschaft ist eine der größten
Es reicht in diesem Zusammenhang nicht, über Geld deutschen Wissenschaftsorganisationen. Sie hat eine
zu sprechen; wir müssen auch über Strukturen und über große Exzellenz und ist international anerkannt. Wir ha-
Qualität sprechen. Ganz wichtig ist, auch im Hinblick ben sie damit beauftragt, diese Deutschen Zentren zu or-
auf das 8. Forschungsrahmenprogramm und andere Dis- ganisieren. Natürlich gibt es einen Wettbewerb bei den
kussionen, die derzeit laufen: In der Forschung muss es Projekten, die in den Deutschen Zentren verfolgt wer-
zuallererst um Exzellenz gehen. Es ist alles nichts ohne den. Dabei muss sich auch eine Gruppe, die in der Helm-
Exzellenz. holtz-Gemeinschaft mitarbeitet, im Rahmen dieses Wett-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bewerbs bewerben. So ist es auch passiert. Wir haben im
Übrigen eine große Gemeinsamkeit zwischen Klinikern
Diese Erkenntnis hatte vor Jahren auch schon eine an- und außeruniversitären Forschern. Man sollte nicht ver-
dere Bundesforschungsministerin. Sie hatte festgestellt, suchen, diese durch eine kleinteilige Diskussion in die-
dass Deutschland bei der klinischen Forschung weit zu- sem Bereich kaputtzumachen.
rück lag, und deswegen versucht, mit Zentren für klini-
sche Studien und ähnlichen Dingen die Qualität zu he- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben. Vieles davon ist gut gelungen. Deswegen empfinde Ich will die Frage aufwerfen, wie es sich mit den Bun-
ich nicht alle Reden, die wir heute gehört haben, als ziel- desländern, denen die Kliniken gehören, der Hochschul-
führend. Wir können nämlich gemeinsam auf das stolz medizin und der außeruniversitären Forschung verhält.
sein, was wir auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, wir haben auch hier in den vergangenen Jah-
Wir haben heute gehört, das Programm sei zu nahe an ren deutliche Maßnahmen ergriffen, um zu helfen. Ich
der Umsetzung, zu nahe an den Unternehmen, die später bin aber nach wie vor der Meinung, dass wir die Univer-
die Medikamente herstellen. Das ist erstens falsch, und sitätskliniken nicht übernehmen sollten. Das würde völ-
zweitens widerspricht der Vorwurf dem, was die SPD, lig an der Sache vorbeigehen.
als sie in der Regierung war, einmal selber mit vorange- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(B) trieben hat. (D)
Das hat auch niemand gewollt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir haben die für Forschung und Entwicklung zur
René Röspel [SPD]: Nichts gegen Gesund- Verfügung stehenden Mittel deutlich erhöht. Wir haben
heitswirtschaft!) versucht, mit den Zentren für klinische Forschung die
Translation ist ein ganz zentrales Thema in der Ge- Qualität zu erhöhen. Dies ist uns in großen Teilen gelun-
sundheitsforschung. Was nutzt es uns, wenn wir im La- gen. Zuletzt haben wir in der Frage von Programmpau-
bor, im Forschungsinstitut die größten Dinge erforschen schalen und der Overheadfinanzierung – es werden in
und Fortschritte erzielen, wenn die Ergebnisse nicht um- Zukunft 20 Prozent sein – dafür gesorgt, dass diejenigen,
gesetzt werden, nicht zum Patienten kommen? Es ist die wirklich gut sind und sich im Wettbewerb bewähren,
richtig, so wie es hier angelegt ist: Translation, also die am Ende keine Probleme bekommen, weil dies zulasten
Überführung des Wissens in die klinische Anwendung, ihrer Gemeinkostenfinanzierung geht. Nein, meine Da-
muss zentrales Thema eines jeden Gesundheitsfor- men und Herren, wir haben die Strukturen geändert. Wir
schungsprogramms sein. haben dies so gemacht, dass Wettbewerb stattfindet und
dass am Ende wirklich die Besten erfolgreich sein kön-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen, sodass es am Ende in Gänze zu einer Erhöhung von
Exzellenz und Qualität kommt. Ich glaube, der Weg ist
Wenn Sie die Menschen fragen, was Allensbach und
richtig.
andere Forschungseinrichtungen ab und an machen, was
sie sich von der Forschung am meisten wünschen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
was die wichtigsten Themen sind, dann wird das Thema René Röspel [SPD]: Die besten Forscher ha-
Gesundheit genannt. Der Grund ist ihre Sorge um die ben nicht unbedingt die Lösungen für die Pa-
schweren Krankheiten Demenz oder Krebs. Deswegen tienten!)
glaube ich, dass wir mit diesem Programm vollkommen
richtig liegen. Die großen Volkskrankheiten und die Seu- Es ist die Frage angesprochen worden, ob alle The-
chen der Gegenwart gehen wir an. Wir versuchen, dies men richtig bearbeitet worden sind und ob man sich
in Zusammenarbeit mit den Deutschen Zentren der Ge- nicht noch mehr vorstellen könnte. Man kann sich im-
sundheitsforschung mit einer neuen Struktur zu bewälti- mer mehr vorstellen. Aber auch die Mittel der Bundesre-
gen. publik Deutschland und dieses Ministeriums, das einen
hohen Etat hat, sind begrenzt. Deswegen ist erstens die
Dabei hat das Parlament einen deutlichen eigenen Konzentration auf die großen Volkskrankheiten wichtig.
Akzent gesetzt, indem es neben den Zentren für Krebs, Zweitens kommen eine Missionsorientierung und eine
11634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Michael Kretschmer
(A) Methodenorientierung hinzu. Ich denke, es ist ein großer Auch wenn unser Gesundheitssystem zweifelsohne (C)
Schritt, dass wir Qualität in der Breite und Vergleichbar- zu einem der besten der Welt gehört, stehen wir doch vor
keit organisieren und neben der klinischen Studie die großen Herausforderungen, denen wir uns auch stellen
präklinische Phase und am Ende auch die Markteinfüh- müssen. Vieles in unserem System ist nach wie vor zu
rung mit bedenken. Das heißt, vom Menschen her zu unkoordiniert, zu intransparent und viel zu wenig am Pa-
denken. Das heißt, den Patienten in den Mittelpunkt zu tienten orientiert.
stellen. Ich finde die Kritik, die hier geäußert worden ist,
völlig falsch. Sie ist in der Sache absolut daneben. (Beifall bei der SPD)
Das führt im Übrigen nicht nur zu unnötigen zusätzlichen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kosten, sondern hat auch Einfluss auf die Qualität der
Der Kollege Röspel hat einen Antrag angesprochen, Versorgung von Millionen von Versicherten. Allein im
den wir in der vergangenen Legislaturperiode gemein- Bereich der Versorgung sind noch ganz viele Fragen un-
sam gefertigt haben. Ich finde, das ist ein großartiges geklärt: Wie überwinden wir das isolierte Nebeneinander
Werk. verschiedener Institutionen? Wie schaffen wir eine stär-
kere Patientenorientierung bei den Versorgungsabläu-
(René Röspel [SPD]: Gute Zusammenarbeit, fen? Wie entwickeln wir neue Versorgungsformen, und
Herr Kretschmer!) wie beschleunigen wir deren Einführung dann in der
– Es gab eine gute Zusammenarbeit und kluge Ideen. – Praxis?
Vieles von dem realisieren wir jetzt, weil die frühere Ge- Angesichts der demografischen Entwicklung und der
sundheitsministerin Ulla Schmidt die Ideen einfach nicht vielen offenen Fragen nicht nur im Bereich der Versor-
umgesetzt hat. Das gehört zur Wahrheit dazu. gung, sondern auch in anderen Teilbereichen des Ge-
(Zuruf von der FDP: Genau, das gehört auch sundheitssystems bedarf es eines breit aufgestellten, gut
zur Wahrheit!) vernetzten Gesundheitsforschungsbereichs in Deutsch-
land. Grundsätzlich begrüßen wir es daher sehr, dass
Ich glaube, mit dem jetzigen Gesundheitsminister haben sich die Bundesregierung dieses Themas annimmt.
wir jemanden, der die Dinge mit uns gemeinsam voran-
bringen will. Wirft man nun aber einen Blick in das von Ihnen vor-
gelegte Rahmenprogramm Gesundheitsforschung, so
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René stellt man leider fest, dass es der herausragenden Bedeu-
Röspel [SPD]: Der sitzt ja nicht mal da!) tung der Gesundheitsforschung und damit dem selbst ge-
stellten Anspruch nicht gerecht wird.
Ich finde, die Ministerin hat vollkommen recht, wenn
(B) (Beifall bei der SPD) (D)
sie sagt, dieses Thema sollte zu Gemeinsamkeit führen.
Wir sollten gemeinsam für die Gesundheit in diesem
Wer gehofft hat, dass die ständigen Verschiebungen und
Land arbeiten. Die Menschen haben so große Hoffnun-
Überarbeitungen letztlich genutzt wurden, um hier ein
gen, und wir können in diesem Bereich wirklich so viel
Programm mit Substanz vorzulegen, der wurde ent-
gemeinsam bewegen: Lassen Sie uns nicht über Kleinig-
täuscht.
keiten reden und parteitaktisch das Ganze betrachten,
sondern stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt (René Röspel [SPD]: So ist das!)
und tun wir etwas für die Gesundheit in diesem Land!
Ihr Papier bleibt in überwiegenden Teilen abstrakt, vage,
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) unbestimmt. Weitgehend richtigen Problemdarstellun-
gen folgen leider keine konkreten Lösungsansätze, keine
Wir haben gemeinsam die Möglichkeit. klaren konkreten Maßnahmen und auch keine konkreten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Forschungsprojekte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Besonders enttäuschend finde ich, dass das Rahmen-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola programm einem Hauptproblem der Gesundheitsfor-
Reimann für die SPD-Fraktion. schung, nämlich der nach wie vor viel zu geringen Pa-
(Beifall bei der SPD) tientenorientierung, viel zu wenig Beachtung schenkt.
Auch der Kollege Röspel hat das schon ausgeführt. Das
finde ich sehr bedauerlich.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Kolleginnen und Kollegen, damit hier kein Zweifel
gen! Wohl kaum ein Bereich ist so komplex und solch aufkommt: Wir brauchen eine starke Gesundheitswirt-
starken Veränderungen unterworfen wie unser Gesund- schaft im Bereich der Pharmaindustrie genauso wie in
heitssystem. Die aus dem demografischen Wandel, der der Medizintechnik und der Telemedizin.
hier schon angesprochen worden ist, resultierende Not- (Beifall bei der SPD)
wendigkeit der Versorgung älterer und multimorbider
Patientinnen und Patienten erfordert fortlaufend Anpas- Öffentlich geförderte Gesundheitsforschung muss sich
sungen und in vielen Bereichen auch mutige Struktur- aber immer an den Hilfebedürftigen und an den Kranken
reformen. orientieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11635
Dr. Carola Reimann
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Seit Jahren diskutieren wir im Rahmen des von uns im- (C)
der LINKEN) mer wieder geforderten Präventionsgesetzes über die
Orientierung an den Lebensverhältnissen.
Die Fragen, die im Rahmenprogramm gestellt werden
müssen, dürfen nicht lauten: „Wie können wir der phar- (Beifall der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE
mazeutischen Industrie am besten helfen?“, oder: „Wie LINKE])
können wir wissenschaftliche Erkenntnisse schneller Bislang werden mit gängigen Präventionsangeboten ge-
ökonomisch verwerten?“, sondern die Fragen müssen nau diejenigen nicht erreicht, die wir aber vor allem er-
lauten: „Was hat der Patient davon?“, und: „Wie können reichen müssen. Lieber Kollege Röhlinger, damit sind
wir mit den neuen Erkenntnissen Patienten besser, um- nicht sich schlecht ernährende und bewegungsarme Ab-
fassender und systematischer versorgen?“. Das muss der geordnete gemeint,
Leitgedanke eines Gesundheitsforschungsprogramms
sein. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
(Beifall bei der SPD) geordneten der LINKEN – Dr. Peter Röhlinger
Liebe Ministerin, wären Sie diesem Gedanken gefolgt [FDP]: Aber auch!)
– Sie haben heute Morgen noch einmal betont, dass Sie sondern Menschen mit niedrigem Einkommen, mit nied-
den Weg zum Patienten kürzer machen wollen –, dann rigem Bildungsstand und Migrationshintergrund.
hätten Sie sich stärker mit der Gesundheitsforschung und
den eingangs gestellten Fragen befasst. Gesundheitsfor- (Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Ach so!)
schung und Versorgungsforschung sind enthalten, aber All diese Menschen haben schlechtere Gesundheitschan-
deren Anteil ist eigentlich marginal. Die gegenwärtige cen in unserem Land.
Gesundheitsforschung konzentriert sich schwerpunkt-
mäßig immer noch zu sehr an medizinischen Produkten; Die Erforschung und Bekämpfung ungleicher Ge-
viel zu wenig sind die Prozesse, die Behandlungsketten sundheitschancen in Deutschland gehört mit zu den
und die Abläufe bei der Therapie des Patienten im Blick. größten Herausforderungen, vor denen wir in der Ge-
Dazu, wie Sie diesem Problem konkret begegnen wol- sundheitsversorgung stehen.
len, findet sich im Papier gar nichts. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD) Auch hier schweigt die Bundesregierung; denn dazu fin-
Ebenso wenig befasst sich das Programm mit der det sich nichts im Rahmenprogramm Gesundheitsfor-
Frage der Stärkung der Patientenautonomie in einem im- schung. Allein das zeigt schon, dass dieses Programm
(B) mer komplexer werdenden Gesundheitssystem. Bei ei- von der Versorgungsrealität weit entfernt ist und sich (D)
ner gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft ist das eine nicht an dem Bedarf der Betroffenen orientiert. Hier
der ganz großen Herausforderungen. müssen Sie dringend nachbessern, wenn Sie den Kampf
gegen ungleiche Gesundheitschancen in unserem Land
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr rich- wirklich ernst nehmen.
tig!)
Das von Ihnen vorgelegte Rahmenprogramm ist ein
Wirtschaftsminister – Pardon! – Gesundheitsminister Papier der schönen Worte, ein Papier des kleinsten ge-
Rösler meinsamen Nenners, auf den sich BMBF und BMG ge-
rade noch haben einigen können. Es bleibt deutlich – auch
(Heiterkeit bei der SPD – René Röspel [SPD]: das wurde hier schon angesprochen – hinter der bereits
Das weiß man in diesen Zeiten nie!) 2007 vorgelegten Roadmap zurück, die wesentlich klarer,
– da hat die Berichterstattung der vergangenen Tage Wir- konkreter und substanzieller war. Da wurde im Zusam-
kung gezeigt – spricht ja gerne vom mündigen, eigenver- menhang mit der Definition des Begriffs „Gesundheits-
antwortlichen Patienten. Bislang beschränkte sich das bei forschung“ sehr klar ausgeführt:
Schwarz-Gelb allerdings auf finanzielle Eigenverantwor- Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen für
tung in Form von Zusatzbeiträgen und Kostenerstattun- das ärztliche Handeln nutzbar gemacht werden und
gen. Wenn Sie es mit dem mündigen Patienten wirklich – umgekehrt – Beobachtungen und Fragen aus der
ernst meinen würden, dann würden sich in diesem Pro- Versorgungspraxis in die Grundlagenforschung ein-
gramm Möglichkeiten zur Stärkung der Patientenautono- gebracht werden.
mie wiederfinden. Aber auch hier leider Fehlanzeige.
Da wurde also an prominenter Stelle die Frage angespro-
Eines der sechs Aktionsfelder im Rahmenprogramm chen, was Gesundheitsforschung eigentlich leisten soll.
Gesundheitsforschung befasst sich mit Präventions- und Das vermisse ich jetzt.
Ernährungsforschung. Das ist ohne Frage zu begrüßen;
denn gerade im Zusammenhang mit der demografischen Dass das, was hier jetzt vorgelegt wurde, etwas mager
Entwicklung und der Zunahme chronischer Erkrankun- ist, müssen Sie inzwischen wohl selbst gemerkt haben.
gen wird die Bedeutung der Prävention weiter zuneh- Wenn man sich anstatt der Hochglanzbroschüre die ent-
men. Doch auch hier geht das Rahmenprogramm nicht sprechende Bundestagsdrucksache ansieht, dann erkennt
über Altbekanntes und Bewährtes hinaus. man, dass nach 18 Seiten schöner Worte und Situations-
beschreibung darauf hingewiesen wird, dass das Pro-
(René Röspel [SPD]: Ja!) gramm in den kommenden Jahren natürlich ausgefüllt
11636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Birgitt Bender
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hand nehmen. Frau Ministerin, es geht übrigens nicht (C)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nur, wie Sie im Ausschuss angedeutet haben, um die chi-
nesische Medizin. Die ist auch ein Ansatz. Aber wir soll-
Frau Ministerin Schavan, Sie haben vorhin davon ge- ten auch etwa die Homöopathie und die Anthroposophie
sprochen, dass Sie sich beim Rahmenprogramm Ge- in den Blick nehmen, die Heilweisen mit deutschen
sundheitsforschung Gemeinsamkeit wünschen. Ich will Wurzeln. Auch diese haben hier einen ganz hohen Stel-
ausdrücklich begrüßen, dass – nach jahrelangem Drän- lenwert.
gen der Grünen – nun endlich ein Aktionsfeld Versor-
gungsforschung integriert ist. Was Sie dazu an Prosa (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schreiben, findet teilweise auch unsere Zustimmung, so sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
etwa die Aussage, dass in Bezug auf Psychotherapie, Stattdessen ist leider viel von Genetik die Rede. Im-
Ergo- und Logopädie geforscht werden muss. Das ist merhin habe ich da die kritischen Anmerkungen von Frau
richtig. Aber insgesamt sehe ich in diesem Programm Flach gehört. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
sehr viel Produktorientierung. Da geht es um Arzneimit- sehr nebulös bleibt, was Sie da eigentlich erforschen wol-
tel, Diagnostik und Medizinprodukte. Was praktisch völ- len. Ich erinnere daran, dass jüngst noch Geld in ein Pro-
lig fehlt, ist der Blick auf Verfahren des Gesamten. Das jekt geflossen ist – inzwischen ist es eingestellt –, in dem
Wort „Gesundheitssystemforschung“ kommt nicht ein- es um die Forschung an geistig behinderten Kindern, um
mal vor. Ich sehe überhaupt nicht, dass es hier entspre- fremdnützige Forschung ging. Das ist etwas, was als me-
chende Ansätze gibt. Aber wir brauchen einen Blick auf dizinische Untersuchung gar nicht zulässig wäre. Als
das Gesamte, darauf, was den Menschen nützt und sie Forschung haben Sie es aber zunächst unterstützt. Da
am Ende gesünder macht. Darauf werden wir achten. kann ich nur sagen: Hier ist überfällig, dass der Schutz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Probanden, Datenschutz und Transparenz in der For-
sowie bei Abgeordneten der SPD) schung gewährleistet werden. Frau Ministerin, da haben
Sie noch Hausaufgaben zu machen.
Stattdessen sehen wir im Haushalt 2011, dass das
BMBF mit gut 5 Millionen Euro ein Projekt zur Ma- Danke schön.
gnetresonanztomografie fördert. Brauchen wir aus ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sundheitspolitischer Sicht ein solches Projekt? Deutsch- sowie des Abg. René Röspel [SPD])
land ist Weltmeister bei der MRT-Diagnostik. Im
Jahre 2009 wurde sie bei fast 6 Millionen Personen an-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
gewendet. Anders gesagt: Jeder 15. Bürger wurde inner-
halb eines Jahres in die Röhre geschoben. Kassen und Das Wort erhält nun der Kollege Florian Hahn für die
(B) Wissenschaft stellen die therapeutische Notwendigkeit CDU/CSU-Fraktion. (D)
in vielen Fällen infrage. Was wir im Bereich der Versor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gungsforschung brauchen, ist die Beantwortung der
Frage, wann eine MRT-Untersuchung sinnvoll ist und Florian Hahn (CDU/CSU):
wann nicht. Daran, dass dies bei Ihnen geschieht, habe Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ich Zweifel. ren! Alle Menschen wünschen sich ein langes und vor al-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lem gesundes Leben. Auch wenn wir uns zu vielen An-
lässen wie zum Geburtstag oder zum neuen Jahr
Nach dem, was Sie, Frau Flach, vorhin gesagt haben, gegenseitig Gesundheit wünschen, spielt gesundheitsbe-
müssten Sie daran eigentlich interessiert sein. Denn im- wusstes Leben und Verhalten im Alltag oftmals keine
merhin – das begrüße ich sehr – haben Sie betont, dass ausreichende Rolle. Spätestens jedoch, wenn man im Be-
nicht alles, was neu ist, den Menschen nützt und dass wir kannten- oder Familienkreis mit schwerer Krankheit
mehr Verfahren brauchen, mit denen der Nutzen über- konfrontiert wird, erkennt man auf ganz persönliche
prüft werden kann. Weise, welchen enorm hohen Stellenwert ein unbe-
Was ich in diesem Rahmenplan auch vermisse, ist die schwertes und gesundes Leben einnimmt.
Komplementärmedizin, also die alternativen Heilweisen, Aus diesem Grund stellt die Gesundheitsforschung ei-
die die klassischen Verfahren ergänzen können. Dazu nen der wichtigsten Bereiche für uns alle dar. Das Ziel
braucht es Forschung, aber wir sehen davon so gut wie des Gesundheitsforschungsprogramms der Bundesregie-
nichts. rung ist es, dass alle Menschen schnell von den For-
(René Röspel [SPD]: Gar nichts!) schungsergebnissen profitieren können.
In der Gesundheitsforschung werden neue oder bes-
Es hat ein Vierteljahr gedauert, bevor mir das BMBF
sere Diagnoseverfahren und Therapien entwickelt, um
überhaupt mitteilen konnte, wie viele Fördermittel denn
kranken Menschen effektiver zu helfen. Für uns als
dafür in den letzten fünf Jahren geflossen sind. Es waren
christlich-liberale Koalition steht dabei der erkrankte
zusammengerechnet gerade einmal 1,2 Millionen Euro.
Mensch mit seinen Nöten im Mittelpunkt, dem wir Hand
Im Gegensatz dazu fördert in den USA das National In-
in Hand mit der Wissenschaft helfen wollen.
stitute of Health die komplementärmedizinische For-
schung jährlich mit mindestens 120 Millionen Dollar. Was uns die Patienten und deren Gesundheit wert
Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und sind, das zeigen auch die enormen finanziellen Mittel,
Geld zur Erforschung der Komplementärmedizin in die die hierfür aufgewendet werden: Fast 6 Milliarden Euro
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11641
Florian Hahn
(A) werden insgesamt zur Verfügung gestellt. Es handelt Ich möchte Ihnen nun ein aktuelles Beispiel dafür (C)
sich damit um das größte Förderungsprogramm für Ge- nennen, wie die Förderung direkt dort ankommt, wo sie
sundheitsforschung in der Geschichte der Bundesrepu- benötigt wird. Eines von 100 Kindern leidet an einem
blik Deutschland. angeborenen Herzfehler. Viele von ihnen müssen rasch
operiert werden. Der sogenannte RepliCardio ist ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neues Instrument zur Herstellung eines Herzmodells und
Die Schwerpunkte beim Gesundheitsförderungspro- hilft den Ärzten bei der Entscheidung, ob und wie ope-
gramm setzen wir bei der Erforschung von Volkskrank- riert werden kann. Dieses Verfahren wurde vom Kompe-
heiten sowie der Gesundheitswirtschaft. Doch auch die tenznetz Angeborene Herzfehler in Kooperation mit dem
individualisierte Medizin und die globale Zusammenar- Deutschen Krebsforschungszentrum entwickelt und vom
beit sind wichtige Themen des Programms. Wir wollen BMBF gefördert. Das individuelle Herzmodell kann ins-
die Fähigkeiten der Wissenschaft bündeln und Transla- besondere dazu beigetragen, die Dauer der Operationen
tion beschleunigen. Dazu werden sechs deutsche Gesund- drastisch zu verkürzen. Oft entscheiden Minuten da-
heitszentren geschaffen. Letztes Jahr wurde beispiels- rüber, ob der Eingriff erfolgreich abgeschlossen werden
weise mit dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung kann oder ob es zu irreparablen Spätfolgen kommt.
in München-Oberschleißheim bereits das zweite eröffnet. Wie wichtig und weitsichtig die Überlegungen inner-
halb des Forschungsförderungsprogramms sind, kann
Präsident Dr. Norbert Lammert: man darüber hinaus an der Alzheimerforschung erken-
nen. Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland sind
Herr Kollege Hahn, darf Ihnen der Kollege Röspel derzeit von der unheilbaren Krankheit betroffen. Statisti-
eine Zwischenfrage stellen? ken gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 rund 3 Millionen
Menschen sein werden. Mit dem Alois Alzheimer Research
Florian Hahn (CDU/CSU): Center, in dem die Ludwig-Maximilians-Universität
Nein. München, die Technische Universität München, das Zen-
trum für Neurodegenerative Erkrankungen und das Insti-
(René Röspel [SPD]: Schade!) tut für Schlaganfall- und Demenzforschung integriert
sind, ist ein weiterer Leuchtturm in der Forschungsland-
Das kann er danach machen. – Allein in Deutschland schaft geschaffen worden.
sind rund 8 Millionen Menschen von der Zuckerkrank-
heit betroffen, fast genauso viele Personen haben einen Insgesamt stellt das neue Förderungsprogramm einen
bislang unerkannten Diabetes oder ein hohes Erkran- Meilenstein in der Gesundheitsforschung dar. Wir sor-
gen mit dem enormen Mitteleinsatz von fast 6 Milliar-
(B) kungsrisiko. Es ist daher wichtig und notwendig, dass den Euro dafür, dass Innovationen schneller bei den Pa- (D)
wir mit dem Zentrum neue Perspektiven für Prävention,
Therapie und Diagnose des Diabetes schaffen. Durch die tienten im Alltag ankommen. Wir lassen der Forschung
Kooperation mit Pharmaunternehmen können so For- aber auch genug Spielraum, um innovativ arbeiten zu
schungsergebnisse schneller in die Praxis übertragen können; denn das größte Innovationshemmnis – das wis-
werden. Wir bringen die Forschung quasi „ans Bett der sen wir – ist unter anderem die Bürokratie. Die Ände-
Patienten“. rungswünsche und der Antrag der SPD sind gerade auch
deshalb abzulehnen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einer glo-
Herzlichen Dank.
balisierten Welt dürfen nicht nur Wirtschaftsaktivitäten
global betrachtet werden, sondern ganz besonders auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Gesundheitsforschung. In diesem Zusammenhang ist
es mir wichtig, auf die vernachlässigten Krankheiten hin- Präsident Dr. Norbert Lammert:
zuweisen, mit denen wir uns in dem Programm ebenfalls Das Wort erhält nun der Kollege Michael Gerdes für
beschäftigen. Sie erzeugen in den Entwicklungsländern die SPD-Fraktion.
großes Leid und sind für den Tod vieler Menschen verant-
wortlich. Leider war die staatliche Forschungsförderung (Beifall bei der SPD)
lange Zeit auf Krankheiten beschränkt, die hauptsächlich
unsere Bürger im eigenen Land betreffen. Vor diesem Michael Gerdes (SPD):
Hintergrund stellen wir uns mit dem Gesundheitsfor- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kol-
schungsprogramm neu auf. Wir machen nicht an den na- lege René Röspel und meine Kollegin Carola Reimann
tionalen Grenzen halt, sondern helfen auch den Men- haben die Sicht der SPD-Fraktion auf das Rahmenpro-
schen in anderen Teilen der Welt. Dazu sind wir allein gramm der Bundesregierung bereits deutlich gemacht.
schon durch unser christliches Menschenbild verpflich- Wir sehen große Lücken im Gesundheitsforschungspro-
tet. gramm, besonders mit Blick auf sozialpolitische Fragen.
Vor allem fehlt uns Sozialdemokraten der Blickwinkel
Noch in diesem Jahr wird die Fördermaßnahme für
der Patientinnen und Patienten. Mir persönlich fehlt
Produktionspartnerschaften anlaufen. Dabei handelt es
auch der Blickwinkel der Beschäftigten im Gesundheits-
sich um internationale Non-Profit-Organisationen, deren
wesen. Im Rahmenprogramm finde ich keinen Hinweis
Aufgabe es ist, Medikamente gegen vernachlässigte
darauf.
Krankheiten zu günstigen Preisen auf den Markt zu brin-
gen. (Beifall bei der SPD)
11642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Michael Gerdes
(A) Frau Ministerin Schavan, Sie räumen der Gesundheits- Kurzum: Ihrem Programm fehlt das Aktionsfeld, das (C)
wirtschaft eine äußerst prominente Stellung ein und be- sich den Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
gründen dies mit dem Wachstumspotenzial der Branche. mer widmet.
Mit moderner Medizintechnik und innovativen Medika-
Gesundheitsforschung muss sich auch ganz konkret
menten kann man offensichtlich viel Geld verdienen. Da-
mit den Bedürfnissen der Patienten auseinandersetzen.
gegen habe ich im Grundsatz nichts einzuwenden. Ich
Haben wir überhaupt genügend Erkenntnisse darüber,
habe aber ein Problem damit, wenn die wirtschaftlichen
was sich Patienten wünschen bzw. welche Anforderun-
Interessen von Forschung fast wichtiger erscheinen als
gen sie an das Gesundheitssystem stellen? Finden sich
der medizinische Fortschritt und die Gesundheit der Men-
Patienten in einem System zurecht, das immer komple-
schen in diesem Land.
xer wird und ständig neue Behandlungsmethoden her-
(Beifall bei der SPD) vorbringt? Wer heute gesund werden will, braucht im
Zweifel einen Case-Manager, der durch das System
Ganz deutlich wird diese Auffassung der schwarz- führt, um medizinische und soziale Dienstleistungen op-
gelben Regierung auf Seite 4 der Unterrichtung. Dort timal zu koordinieren. Von Patientenautonomie ist da
steht schwarz auf weiß: nicht mehr viel zu spüren.
Des Weiteren soll die Gesundheitsforschung auf (Beifall bei der SPD)
eine wirtschaftliche Verwertbarkeit ihrer Erkennt-
nisse hinarbeiten … schon in der Grundlagenfor- Auf diese Systemfragen müssen wir Antworten fin-
schung und der präklinischen Forschung. den. An dieser Stelle sind mir die Ausführungen der
Bundesregierung zu abstrakt. Das Aktionsfeld der Ver-
Aus meiner Sicht darf nicht nur erforscht werden, wie sorgungsforschung muss dringend erweitert werden.
wir neue Technologien schneller oder besser implemen- Denn ohne Verbesserungen im System nützt uns die er-
tieren und vermarkten können; vielmehr muss es darum folgreichste Forschung nichts. Neue und verbesserte Ge-
gehen, welche gesundheitlichen Vorteile die Menschen räte machen keinen Sinn, wenn der Patient nicht weiß,
daraus ziehen können. ob er die richtige Therapie bekommt oder wie er den
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten richtigen Weg durch das Gesundheitslabyrinth findet.
der LINKEN) Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, steht das
Der Mensch und seine Gesundheit gehören an die erste diesjährige Wissenschaftsjahr unter dem Motto „For-
Stelle, nicht der mögliche Profit. schung für unsere Gesundheit“. Das BMBF ruft die Bür-
gerinnen und Bürger zum Dialog auf und fragt nach den
Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich freue mich über jede Erwartungen an die Gesundheitsforschung. Diese He- (D)
(B) Branche, die wirtschaftlich erfolgreich ist. Aber wir soll-
rangehensweise wünsche ich mir auch für das vorlie-
ten auch darüber diskutieren, für wen Arbeitsplätze in gende Rahmenprogramm: Erforschen Sie nicht in erster
der Gesundheitswirtschaft entstehen, welche Anforde- Linie die Wirtschaftlichkeit der Medizin,
rungen die Beschäftigten erfüllen müssen, wie sich Be-
rufsbilder verändern und unter welchen Bedingungen (René Röspel [SPD]: Sehr gut!)
heute und in Zukunft gearbeitet werden muss. sondern orientieren Sie sich an den Bedürfnissen der
Gibt es Ideen, wie die Arbeitsbelastung von Ärzten Menschen!
und Pflegepersonal gesenkt werden kann? Was muss (Beifall bei der SPD)
eine Pflegerin künftig können? Wie schafft sie es, in ei-
ner alternden Gesellschaft immer mehr Patienten zu ver- Lassen Sie sich nicht davon leiten, was der Gesund-
sorgen? Wie kann sie Familie und Beruf vereinbaren? heitsindustrie hilft, sondern orientieren Sie sich daran,
was für die Beschäftigten gut ist und was die Patienten
Insbesondere im Bereich der Pflege- und Dienstleis- gesund macht.
tungsforschung sehe ich Lücken in dem Programm von
Ministerin Schavan. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald
Weinberg [DIE LINKE])
Die Pflegebranche braucht wissenschaftlich fundierte
Antworten auf den steigenden Pflegebedarf.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich habe kürzlich Praxistage in der Seniorenpflege Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
und im Krankenhaus durchgeführt. Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der SPD – Dr. Ernst Dieter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Rossmann [SPD]: Wir alle!)
– Wir alle, jawohl. – Dabei ist wahrscheinlich uns allen Rudolf Henke (CDU/CSU):
aufgefallen, dass die Ärzte und Pfleger eine sehr gute Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeit leisten. Aber sie alle bewegen sich am Rande der Verehrte Damen und Herren! Opposition ist ein schwie-
Leistungsgrenze. Hohe Fallzahlen und viel Dokumentie- riges Tun. Ich glaube, es ist doppelt schwierig, wenn
rung rauben ihnen in vielen Fällen die Zeit für die Pa- man an einem Teil der Vorbereitungen für das Gesund-
tienten. Diese Probleme müssen erforscht werden. heitsforschungsprogramm teilgenommen hat, damals so-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11643
Rudolf Henke
(A) gar in einer gemeinsamen Koalition mit der CDU/CSU- Primäres Ziel der Gesundheitsforschung ist es, (C)
Fraktion in der ersten Regierung Merkel, Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung
der Patientinnen und Patienten weiter zu steigern.
(René Röspel [SPD]: Das ist nie parlamenta-
risch diskutiert worden!) Das ist das primäre Ziel, um das es geht. Die Frage, ob
die Wirtschaft dabei mitwirkt, ist eine Frage des Instru-
und jetzt erlebt, dass in der zweiten Regierung Merkel mentes. Wir wären doch töricht und dumm, wenn wir
ein großer Teil eigener Forderungen umgesetzt wird. nicht bereit wären, die Produktivkraft der Wirtschaft
Deswegen findet sich auch in dem von Ihnen vorgeleg- zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu nutzen.
ten Antrag an sehr vielen Stellen ein Lob. Sie machen
sogar Vorschläge, was alles der Deutsche Bundestag an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dem Programm begrüßen soll. In mehreren Spiegelstri- Deswegen sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kolle-
chen wird das ausgeführt. Trotzdem müssen Sie hier ir- gen: Lassen Sie die Tassen im Schrank!
gendwie Nöligkeit verbreiten,
Ich zitiere aus dem gemeinsamen Vorwort von Frau
(Widerspruch bei der SPD) Schavan und Herrn Rösler zum Rahmenprogramm Ge-
– doch –, damit der Eindruck entsteht, als wäre alles kri- sundheitsforschung:
tisch zu bewerten. Aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Wissenschaftlern entstehen die Ansätze, die bei
der FDP) entsprechender Weiterentwicklung und erfolgrei-
cher Übertragung in die medizinische Praxis den
Sie setzen darauf, dass die Menschen das Programm Menschen in unserem Land ein beschwerdefreies,
nicht gelesen haben, und tragen dann in Ihrem Antrag selbstbestimmtes und langes Leben ermöglichen.
Dinge vor, die im Programm bereits enthalten sind, und
Das ist die Zielsetzung. Sie versuchen jetzt, es umzu-
tun so, als wären Sie die einzigen Erfinder dieser Punkte.
münzen und einen Teil des Publikums mit den bei der
Ein plastisches Beispiel dafür ist das, was gerade ge- SPD und den Linken üblichen und weitverbreiteten Res-
schehen ist. Sie haben behauptet, im Programm befinde sentiments über die schwarz-gelbe Koalition zu bedie-
sich kein Hinweis auf die Verbesserung der Situation der nen. Das ist der Ansatz, den Sie praktizieren. Das ist
Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Liebe nicht in Ordnung. Dagegen wehren wir uns.
Kollegen, Sie sollten sich vergegenwärtigen, dass auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Grundlage des Haushalts der Bundesregierung
(B) In einer Zeit, in der um die finanzielle Stabilität ge- (D)
(Michael Gerdes [SPD]: Sie finden es jetzt rungen werden muss, ist es ein deutliches Zeichen des
auch nicht!) Bundes, für die Gesundheitsforschung in den Jahren
– ich wollte darauf eigentlich nicht an dieser Stelle, son- 2011 bis 2014 mehr als 5,5 Milliarden Euro allein aus
dern zu einem späteren Zeitpunkt eingehen – das Wis- dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und
senschaftsfeld Versorgungsforschung allein im Jahr Forschung vorzusehen.
2010 mit einer Ausschreibung in Höhe von 54 Millionen
Euro für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen für Präsident Dr. Norbert Lammert:
das Gesundheitssystem bedacht worden ist. Ich bin be- Herr Kollege Henke, Sie lassen doch jetzt sicherlich
reit, darüber zu diskutieren, ob das reicht und ob zum gerne den Kollegen Röspel, der vorhin mit seiner Wort-
Beispiel die DFG das im Rahmen ihrer Förderung hin- meldung nicht zum Zuge gekommen ist, zu Wort kom-
reichend ergänzt. Wenn sie das nicht täte, müsste man men.
noch einmal über die Summe diskutieren. Aber Sie tun
so, als geschähe hier nichts, und wollen die Leute für Rudolf Henke (CDU/CSU):
dumm verkaufen. Das ist nicht in Ordnung.
Ja, sehr gerne.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
René Röspel (SPD):
Sie sagen außerdem, das alles sei wirtschaftskonzen-
triert. Das ist es nicht. Frau Bunges Zählerei mit dem Vielen Dank, Herr Henke, dass das möglich ist. – Die
Wortzählautomaten nutzt dabei nichts. Zahl 5,5 Milliarden Euro auf fünf Jahre wird ständig her-
vorgehoben. Sie schreiben im Gesundheitsforschungs-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das programm, dass sich diese 5,5 Milliarden Euro auf fünf
macht es sehr deutlich!) Jahre aus den Geldern für die institutionelle Förderung,
Projektförderung und dem Bundesanteil an der DFG-
Was ist denn das für ein Niveau? Das ist ja kleinstes Pe- Förderung, jeweils bezogen auf die Gesundheitsfor-
pita: Worte zählen durch ihre Bedeutung, nicht durch schung, zusammensetzen. Es handelt sich also um nichts
ihre Zahl. anderes als die Aufzählung dessen, was in den letzten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren bereits gemacht bzw. etatisiert worden ist. Des-
halb lautet meine konkrete Frage: Sie suggerieren
Ich zitiere Seite 4 der Unterrichtung durch die Bundesre- 5,5 Milliarden Euro. Wie viele Mittel werden wirklich
gierung: zusätzlich bzw. neu bereitgestellt?
11644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): Da haben wir lieber mehr Vertrauen in die Wissen- (C)
Lieber Herr Kollege Röspel, diese Frage werden Sie schaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus der Motiva-
sich doch schon beantwortet haben, als Sie den Bundestag tion des Gesundheitsforschungsprogramms die Beiträge
aufgefordert haben, zu begrüßen, dass sich die Bundesre- leisten werden, die dann Patientinnen und Patienten zum
gierung im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung für Wohl gereichen. Deswegen bin ich sehr dafür, über man-
eine Stärkung der krankheitsbezogenen Projektforschung ches zu diskutieren.
bzw. Projektförderung ausspricht. Das haben Sie an die Ich finde es zum Beispiel falsch – –
erste Stelle gesetzt. Ob Sie dieses Geld jetzt zusätzlich ha-
ben oder ob Sie dieses Geld bloß ausgeben oder in den
Haushalt schreiben Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, „zum Beispiel“ nicht mehr.
(René Röspel [SPD]: Ist das neu?)
(Lachen bei der SPD)
oder ob Sie dieses Geld in dieses Programm stecken: Der
entscheidende Punkt ist doch, dass es zur Verfügung Rudolf Henke (CDU/CSU):
steht.
Nicht mehr? – Also: Ich finde es etwa falsch, dass zur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wertung individualisierter Medizin in diesem Programm
Lachen des Abg. René Röspel [SPD]) steht – Zitat –:
Der entscheidende Punkt ist, dass es genutzt werden Erste Schritte auf dem Weg zur individualisierten
kann. Medizin sind das Verständnis grundlegender Krank-
heitsmechanismen und die Identifizierung moleku-
(René Röspel [SPD]: Also, Sie wissen es larer Schaltstellen für die Ausprägung einer Erkran-
nicht! – Weitere Zurufe von der SPD) kung.
Dann – das verstehe ich gar nicht – sagen Sie, Frau Das halte ich für falsch.
Reimann und andere aus Ihrer Gruppe, das sei alles zu
abstrakt und zu unbestimmt. – Ja, klar, es kommen jetzt Nein, erste Annäherung an individualisierte Medizin
Ausschreibungen. An diesen Ausschreibungen nimmt ist, dass der Arzt dem Patienten begegnet, ihn nach sei-
natürlich die Wissenschaftsgemeinde teil. Da gibt es nen Beschwerden befragt, sich ihm so weit nähert, dass
Projektträger, die diese Ausschreibungen betreiben. Was eine körperliche Befunderhebung stattfindet, und er
hätten Sie denn gern? Wenn ich mir Ihren Katalog von dann ein individuelles diagnostisches und therapeuti-
Forderungen zur Konkretisierung ansehe, dann habe ich sches Konzept daraus macht. Das findet seit Hippokrates
(B) statt. (D)
das Gefühl, Sie wollen schon die 200 000 Adressen und
Geburtsdaten derer wissen, die dann in der Bevölke- (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])
rungskohorte erfasst sein sollen. Das möchten Sie wahr-
scheinlich offenlegen. Deswegen ist das, was im Programm steht, nicht die
erste Annäherung an individualisierte Medizin. Indivi-
(Widerspruch des Abg. René Röspel [SPD]) dualisierte Medizin ist mehr als bloß molekulargenetisch
begründete Medizin. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Ich habe manchmal das Gefühl, dass Sie hier davon träu- Kollegen –
men, einen wissenschaftlichen Fünf- oder Zehnjahres-
plan vorgelegt zu bekommen. Das ist aber ein falsches
planwirtschaftliches Verständnis des Wissenschaftspro- Präsident Dr. Norbert Lammert:
zesses auch in der Gesundheitsforschung. Herr Kollege!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rudolf Henke (CDU/CSU):
Zurufe von der SPD)
– ist mein Satz, mit dem ich dann gern enden möchte:
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lei- Dieses Gesundheitsforschungsprogramm als Ganzes
der findet man zurzeit in meinem Heimatland Nord- nimmt den Menschen in den Blick und dient einer indivi-
rhein-Westfalen, wo eine schwarz-gelbe Koalition dualisierten Medizin in allen Ausprägungen des Mensch-
seins.
(René Röspel [SPD]: Abgewählt worden ist!)
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
dadurch für eine große Stimulation der wissenschaftli-
chen Entwicklung gesorgt hat, dass sie ein Hochschul- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
freiheitsgesetz verabschiedet hat, eine aus Ihrer Partei
stammende Philosophie, die diese neu geschaffene Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hochschulautonomie wieder in eine Welt zurückführen Ich schließe die Aussprache.
will, in der der Staat den Wissenschaftsprozess steuert.
Genau diesen Anspruch, nämlich die Steuerung des Wis- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
senschaftsprozesses durch den Staat, atmet Ihr Antrag. auf den Drucksachen 17/4243 und 17/5364 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
(René Röspel [SPD]: Das steht doch im Pro- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
gramm der Bundesregierung, oder nicht?) sind die Überweisungen so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11645
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: len Frauen die große Mehrheit der Beschäftigten im (C)
Niedriglohnsektor dar. Der von uns seit langem zu Recht
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel geforderte gesetzliche Mindestlohn würde also einen
Humme, Caren Marks, Petra Crone, weiterer Ab-
wichtigen Beitrag zu mehr Lohngerechtigkeit für Frauen
geordneter und der Fraktion der SPD
in unserem Land leisten.
Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen
gesetzlich durchsetzen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Drucksache 17/5038 –
Doch selbst wenn alles gleich ist – Qualifikation, Tä-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) tigkeit, Alter, Betrieb –, liegt der Durchschnittslohn von
Innenausschuss Frauen bei etwa 8 bis 12 Prozent unter dem der Männer.
Rechtsausschuss Dies ist nichts anderes als Diskriminierung von Frauen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in unserem Land.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
Wenn sowohl von der Frauenministerin als auch von
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
der Kanzlerin so kluge Sprüche wie „Frauen müssten
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
beim Gehalt einfach nur besser verhandeln“ zu hören
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin sind, so ist das erstens zynisch und zweitens lebens-
Caren Marks für die SPD-Fraktion das Wort. fremd. Wie gut, dass weder Frau Schröder noch Frau
Merkel ihr Gehalt bisher wirklich verhandeln mussten.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate
Caren Marks (SPD): Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und NEN])
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Statt die Verantwortung bei den Frauen einseitig ab-
Schon auf dem ersten Internationalen Frauentag 1911 zuladen, sollte diese Bundesregierung ihr Nichthandeln
forderten Frauen gleiche Rechte. Sie kämpften für ihr als Gesetzgeber infrage stellen. Es helfen keine Appelle
Wahlrecht, aber auch für bessere Bezahlung und für gute an die Freiwilligkeit von Unternehmen; der Gesetzgeber
Arbeit. Was hat sich in 100 Jahren getan? Das Wahlrecht ist bei der Beseitigung der Entgeltungleichheit klar ge-
für Frauen wurde 1918 durchgesetzt. Die formalrechtli- fordert. Vielleicht sollte die Bundesregierung wieder
(B) che Gleichstellung mit den Männern wurde 1949 im einmal einen Blick in unser gutes Grundgesetz werfen. (D)
Grundgesetz verankert. Unser Recht hier in Deutschland So heißt es in Art. 3 Abs. 2:
sowie das EU-Recht verbieten Diskriminierung auf-
grund des Geschlechts auch beim Lohn. So weit zum Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
geltenden Recht. fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
Doch wie sieht die Arbeitswirklichkeit von Frauen in rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
diesem Land aus? Trotz guter Bildungsabschlüsse haben die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Frauen nach wie vor schlechtere Chancen in der Arbeits- Da müsste doch auch bei dieser schwarz-gelben Bun-
welt, haben seltener Führungspositionen inne, und sie er- desregierung etwas klingeln. Wenn es erwartungsgemäß
halten deutlich weniger Lohn als Männer. Zur Durchset- bei der Frauenministerin nicht klingelt, so vielleicht
zung von gleichem Lohn für gleiche und gleichwertige beim Finanzminister; denn laut EU-Kommissarin
Arbeit fordern wir, die SPD-Bundestagsfraktion, in un- Reding würde die Beseitigung der Lohnunterschiede das
serem Antrag die Bundesregierung auf, einen Gesetzent- Bruttoinlandsprodukt um rund 30 Prozent steigern. Das
wurf zur Herstellung von Entgeltgleichheit vorzulegen. klingt doch auch für einen Finanzminister durchaus inte-
(Beifall bei der SPD) ressant.
Denn eines ist klar: Frauen haben mehr verdient als un- Die Lohndiskriminierung von Frauen werden wir nur
verbindliche Sonntagsreden der Frauenministerin und mit einem Gesetz beseitigen können. Die Erfahrung hat
der Arbeitsministerin sowie der Kanzlerin. gezeigt, dass die Verantwortlichen aus eigenem Antrieb
nicht tätig werden. Also müssen die Arbeitgeber durch
Traurig, aber wahr: Erwerbstätige Frauen erhalten in ein Gesetz verbindlich dazu aufgefordert und gegebenen-
unserem Land nach wie vor im Schnitt 23 Prozent weni- falls auch gezwungen werden, Entgeltgleichheit herzu-
ger Lohn als Männer. Damit liegen wir deutlich über stellen. Ein solches Gesetz muss folgende Kernelemente
dem Durchschnitt in der Europäischen Union mit enthalten: Es muss zuerst einmal Transparenz über die
18 Prozent Lohndifferenz. Wir haben hier im Deutschen Entlohnung in den Betrieben hergestellt werden. Die Ge-
Bundestag mehr als nur ein Mal über die wirklichen Ur- heimniskrämerei hinsichtlich der Bezahlung in den Be-
sachen der Entgeltungleichheit zwischen Männern und trieben ist zu beenden; denn sie begünstigt vor allem
Frauen diskutiert. So haben Frauen vor allem aufgrund Lohndiskriminierung mit den entsprechenden Auswir-
fehlender Kinderbetreuungsangebote längere Erwerbs- kungen.
unterbrechungen, und sie sind auch deswegen vermehrt
in Teilzeitarbeit beschäftigt. Mit knapp 70 Prozent stel- (Beifall bei der SPD)
11646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Caren Marks
(A) Also müssen die Arbeitgeber verpflichtet werden, Ent- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): (C)
geltberichte zu erstellen. Diese sind von einer staatlichen Ich hoffe aber nicht, dass wir auch die Empfindlich-
Behörde entsprechend zu prüfen. Datenschutz ist natür- keit beim Mikro gesetzlich regeln müssen. Das klappt
lich zu gewährleisten. Wird Entgeltungleichheit festge- wohl auch so. – In Deutschland beträgt die Entgeltun-
stellt, muss das Gesetz einen Prozess zur Beseitigung der gleichheit 23 Prozent. Das ist eine Zahl, die wir nicht
Lohndifferenz einleiten und natürlich auch festlegen. hinnehmen dürfen. Es lohnt sich, sich die Ursachen der
Auch muss es wirksame Instrumente der Kontrolle und Entgeltungleichheit anzuschauen; denn das Thema ist
Durchsetzbarkeit enthalten. sehr komplex.
Mit dem Gesetz wollen wir, die SPD-Bundestagsfrak- Die erste Ursache ist der Grad der Qualifikation von
tion, die Unternehmen zum Tätigwerden verpflichten. Frauen. Glücklicherweise sind die jungen Frauen heute
Dabei wollen wir auch die Rolle der Gewerkschaften in der Regel genauso gut qualifiziert wie die Männer;
und Betriebsräte stärken. Weigert sich der Arbeitgeber, aber noch gibt es Unterschiede. Und niedrigere Qualifi-
für Transparenz und Entgeltgleichheit zu sorgen, so ist kation führt selbstverständlich zu niedrigeren Löhnen.
auch der Klageweg, der im Gesetz zu regeln ist, ein not- Problematisch ist auch die Art der Qualifikation, die Be-
wendiger Schritt. Die Verbandsklage wird hier unum- rufswahl. Mädchen entscheiden sich häufig für schlecht
gänglich sein. bezahlte Dienstleistungsberufe. Zu selten wählen sie
Da zu erwarten ist, dass diese Bundesregierung – auch technische und mathematisch-naturwissenschaftliche
gerade leider diese Frauenministerin; schade, dass sie Ausbildungsgänge und Studienfächer. Aber genau die
nach wie vor dieser Debatte nicht beiwohnt – gesetzge- lassen relativ hohe Löhne erwarten. Die Konsequenz:
berisch wohl nicht handeln wird, kündige ich Ihnen an: Wir haben zwar viele sehr gut ausgebildete Frauen mit
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden ein Entgelt- im Schnitt besseren Abschlüssen als die Männer. Im
gleichheitsgesetz vorlegen. Denn wo sich Schwarz-Gelb Geldbeutel macht sich das aber leider fast nie bemerk-
vor der Wirtschaft wegduckt, werden wir handeln und bar.
die Lohndiskriminierung von Frauen endlich wirksam (Beifall bei der CDU/CSU)
gesetzlich bekämpfen.
Ein weiterer Grund ist die Position im Unternehmen.
(Beifall bei der SPD) Wir wissen: Nur selten besetzen Frauen die hohen, gut
Worthülsen und leere Versprechungen à la Merkel, bezahlten Positionen; nur selten sind Frauen in Führungs-
Schröder und von der Leyen haben Gleichstellungspoli- positionen. Die Folgen sind: wenig Führungspositionen,
tik in diesem Land noch nie vorangebracht. Frauen ha- geringer Gehaltsdurchschnitt, hohe Entgeltungleichheit.
Dieser Zusammenhang ist einfach nachzuvollziehen.
(B) ben endlich mehr verdient. (D)
Vielen Dank. Ein weiterer Grund für die Lohnlücke liegt im Le-
bensverlauf vieler Frauen: Schwangerschaft, Erzie-
(Beifall bei der SPD) hungszeit und Pflegezeiten. Bei Frauen findet man mehr
Brüche im beruflichen Lebensverlauf und mehr Er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werbsunterbrechungen. Das verhindert eine Karriere und
Die Kollegin Nadine Schön hat das Wort für die ein kontinuierliches Aufsteigen in höhere Gehaltsklas-
CDU/CSU-Fraktion. sen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Besonders verantwortlich für den Einkommensknick
ist die hohe Teilzeitquote. Frauen arbeiten überdurch-
Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): schnittlich oft – etwa zu 35 Prozent – in einem Teilzeit-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und job, bei den Männern sind es gerade einmal 5 Prozent.
Kollegen! Am 25. März war der diesjährige Equal Pay Entsprechend geringer ist das Einkommen bei Frauen.
Day. Der Durchschnittsmann hätte am 25. März anfan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Gründe – Art
gen können, zu arbeiten, und hätte am Ende des Jahres und Grad der Qualifikation, Position, Erwerbsunterbre-
das gleiche Geld auf dem Konto wie die Durchschnitts- chungen und vor allem die hohe Teilzeitquote – sind die
frau, die seit Beginn des Jahres gearbeitet hat. harten Faktoren, die erwiesenermaßen zum großen Teil
(Zurufe: Lauter!) zur Entgeltungleichheit beitragen. Ich sage das deshalb
so ausführlich, weil die Zahl von 23 Prozent oft so uner-
Das kann ja wohl nicht wahr sein. klärlich hoch erscheint.
Rechnet man diese Faktoren heraus, so gelangt man
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zu einer Lohnlücke von 6 bis 10 Prozent. Das ist wesent-
Einen kleinen Moment, Frau Kollegin, wir müssen lich weniger als die genannten 23 Prozent, aber natürlich
erst einmal sehen, dass der Ton verstärkt wird, damit Sie immer noch 6 bis 10 Prozent zu viel.
nicht schreien müssen. Die Techniker werden sich da-
rum kümmern. Auch das ist eine Frage der Gleichbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
rechtigung.
Versucht man, diese 6 bis 10 Prozent zu erklären,
(Beifall im ganzen Hause – Rita Pawelski dann wird es noch schwieriger; denn dann kommt man
[CDU/CSU]: Sehr gut!) in den subjektiven Bereich. Zwei Gründe kann man aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11647
Nadine Schön (St. Wendel)
(A) machen. Erstens müssen wir feststellen: Es ist sicher sie leider Gottes einen frauenspezifischen und damit au- (C)
eine Mentalitätsfrage. Studien haben ergeben – das hat tomatisch schlechter bezahlten Beruf gewählt haben?
nicht die Ministerin erfunden, liebe Kollegin Marks –, Nein! Wir müssen uns fragen: Muss die Bezahlung in
dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen bescheidener diesen Berufen zwingend so schlecht sein? Liebe Kolle-
sind als ihre männlichen Kollegen. Wir fordern weniger ginnen und Kollegen, den Lohn bestimmen bei uns in
und bekommen deshalb auch weniger. Das ist wohl eine Deutschland die Tarifparteien.
falsche Bescheidenheit. Hier sind wir Frauen selbst ge-
(Christel Humme [SPD]: Nein, nicht nur!)
fragt, etwas zu ändern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Deshalb appelliere ich an die Tarifparteien:
Caren Marks [SPD]: Okay!) (Caren Marks [SPD]: Alles wieder nur Ap-
Ich glaube allerdings nicht, dass das der entscheidende pelle! Wie lange wollen wir denn noch war-
Grund für die Lücke von 6 bis 10 Prozent ist. ten?)
Den zweiten Grund Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Bewerten Sie
frauenspezifische Berufe in den Lohnrunden besser!
(Caren Marks [SPD]: Schlechte Frauensolida- Sorgen Sie dafür, dass es auch in diesen Branchen bran-
rität!) chenspezifische Mindestlöhne gibt! Man kann nicht im-
halte ich für viel wesentlicher, und das ist schlicht und mer nur mit dem Finger auf andere zeigen und nach der
einfach Diskriminierung, nämlich Diskriminierung, die Politik schreien. Hier haben auch die Tarifparteien Ver-
sich darin äußert, dass Frauen weniger zugetraut wird, antwortung, und die müssen sie auch wahrnehmen.
dass eine mögliche Schwangerschaft schon beim Berufs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einstieg mit eingepreist wird und Frauen deshalb trotz
gleicher Qualifikation schlechter bezahlt werden. Das Aber auch die Politik kann einiges tun. Wir müssen
gibt es, und das muss genannt werden, und das, liebe weiter daran arbeiten, die Vereinbarkeit von Familie und
Kolleginnen und Kollegen, ist der eigentliche Skandal. Beruf zu verbessern. Wir sind hier auf dem richtigen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weg.
neten der FDP) (Caren Marks [SPD]: In hundert Jahren wird
Insgesamt kann man festhalten: Die Ursachen der es passen!)
Entgeltungleichheit sind sehr unterschiedlich, aber hin- Der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur, der Rechtsan-
nehmbar ist die Lohnlücke von 23 Prozent deswegen spruch auf einen Kitaplatz, das Elterngeld mit den Part-
(B) noch nicht. Wir müssen uns fragen: Welche Schlussfol- (D)
nermonaten, die Familienpflegezeit, die Initiativen zur
gerungen ziehen wir daraus? Was tun wir? Die SPD hat familienbewussten Arbeitszeit und die Programme zum
sich in ihrem Antrag dafür entschieden, die vermeint- Wiedereinstieg – all das trägt dazu bei, dass beide Part-
liche Allzweckwaffe auszupacken, nämlich die staatli- ner – ich betone: beide Partner – Beruf und Familie ver-
che Regulierung. einbaren können. Alles das sind Schritte zu einer konti-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nuierlichen Erwerbsbiografie auch von Frauen.
Ja, wenn alles andere nichts nützt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da soll es gesetzliche Fristen, eine neue Entgeltgleich-
heitskommission und ein Verbandsklagerecht für Anti- Es ist aber auch klar – ich denke, das muss uns allen
diskriminierungsverbände geben. In Anbetracht der vie- bewusst sein –: Ganz ohne Unterbrechungen wird es
len verschiedenen Ursachen, die wir ausgemacht haben, nicht gehen. Gerade weil das so ist, weil wir immer Brü-
meine ich, dass Sie bei diesen Forderungen zu staats- che im Lebensverlauf und immer Auszeiten haben wer-
gläubig und vor allen Dingen zu undifferenziert sind. den, ist es wichtig, dass wir das nicht immer als Nachteil
Wirksamer erscheinen mir von den Ursachen hergelei- sehen. Solche Unterbrechungen sind doch positiv zu be-
tete Gegenmaßnahmen. Wir müssen bei einem so kom- werten. Sie bringen neue Erfahrungen und neue Kompe-
plexen Thema doch an die Wurzeln, an die Ursachen des tenzen mit sich. Deshalb kann ich nur an die Unterneh-
Übels, und genau das tun wir, men appellieren: Nutzen Sie diese Kompetenzen und
berücksichtigen Sie diese auch in der Gehaltsstruktur!
(Beifall bei der CDU/CSU) Ermutigen Sie auch die Männer, sich auf solche Auszei-
zum Beispiel mit Maßnahmen gegen das eingeschränkte ten, beispielsweise bei der Elternzeit oder bei der Pflege-
Berufswahlverhalten. Von wegen: Die Mädchen interes- zeit, einzulassen! Denn Lebenskompetenz ist doch auch
sieren sich nicht für Technik! Schauen Sie sich all die im Unternehmen oft viel wichtiger als dröges Fachwis-
MINT-Initiativen, den Girls’ Day, Roberta an! Es ge- sen.
lingt, mehr Frauen für technisch geprägte Berufe zu inte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ressieren, und der Frauenanteil in diesen Berufen steigt. neten der FDP)
(Mechthild Rawert [SPD]: Langsam!)
Ein weiteres Thema für Politik und Wirtschaft glei-
Was ist aber mit denen, die nach wie vor kein Inte- chermaßen: Sorgen wir endlich dafür, dass mehr Frauen
resse an solchen Berufen haben? Wollen wir hinnehmen, in Führungspositionen kommen! Die Debatte über Wege
dass alle anderen dann halt schlecht bezahlt werden, weil dorthin führen wir derzeit.
11648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Sibylle Laurischk
(A) Beitrag zur Überwindung der Entgeltdiskriminierung wertige Arbeit“ begleitet uns schon lange. Wir finden sie (C)
leisten. in den Römischen Verträgen von 1957, und Art. 3 Abs. 2
des Grundgesetzes haben Sie gerade angesprochen, zu
Auffällig in Bezug auf das unterschiedliche Lohnge- Recht. Sie haben ja das Zitat gebracht, in dem steht, dass
füge zwischen Männern und Frauen ist, dass ein deutli- sich der Staat dafür einsetzen soll. Er hat also eine ent-
ches Gefälle zwischen West- und Ostdeutschland be- sprechende Verpflichtung. Von daher gebe ich den Hin-
steht. Frauen, die in Ostdeutschland arbeiten, verdienen weis, dass wir nicht allein auf Freiwilligkeit setzen soll-
zwar ebenfalls weniger als ihre männlichen Kollegen, ten. Wir als Gesetzgeber, im Parlament, haben durchaus
aber die Lohnlücke ist dort deutlich geringer als im Wes- die Aufgabe, entsprechende Rahmenbedingungen zu set-
ten. Dies wird wohl mit der besseren Kinderbetreuungs- zen.
infrastruktur zusammenhängen. Deswegen ist für uns
der Ausbau der Kinderbetreuung mit dem Ziel, bis 2013 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
für bundesweit durchschnittlich 35 Prozent der unter sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
dreijährigen Kinder Betreuungsplätze zu haben, eine der Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
wesentlichen Maßnahmen, die wir zur Überwindung des
Gender Pay Gap verfolgen. Es gibt ferner das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Wir könnten also der Meinung sein, wir hätten genug
(Beifall bei der FDP) Gesetze. Aber wir kennen die Zahlen: Seit Jahren beträgt
der durchschnittliche Lohnunterschied 23 Prozent. Da-
Ein weiteres wichtiges Instrument zur Beseitigung
mit sind wir im EU-Vergleich auf einem hinteren Platz.
der Lohnlücke ist die Einführung des Logib-D-Verfah-
Es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir uns von dort weg-
rens. Dies eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, in ei-
bewegen.
nem freiwilligen Selbsttest zu untersuchen, inwieweit
Entgeltgleichheit im Unternehmen sichergestellt ist. Die- Wir wissen – das wurde schon ausgeführt –: Es handelt
ses Verfahren wurde gut angenommen. Es ist ein Instru- sich hierbei um eine komplexe Materie. Beim Gender Pay
ment, das im Rahmen der Selbstverpflichtung, auf die Gap kommt einiges zusammen: die hohe Teilzeitquote
wir setzen, Wirkung zeigt. bei Frauen, die häufigeren und längeren Erwerbsunter-
Darüber hinaus haben wir zur Bekämpfung des Gen- brechungen wegen der Erziehung der Kinder oder der
der Pay Gap das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Pflege von Angehörigen, die geringere räumliche Mobi-
Familie“ zur Durchsetzung einer familienbewussten Per- lität von Frauen. Dazu gehört aber auch die sogenannte
sonalpolitik und das Aktionsprogramm „Perspektive vertikale Polarisation auf dem Arbeitsmarkt. Das bedeu-
Wiedereinstieg“ auf den Weg gebracht, welches Frauen tet nichts anderes, als dass Frauen in Führungspositionen
unterrepräsentiert sind und selbst dort dramatisch weni-
(B) nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung die ger verdienen als ihre männlichen Kollegen. (D)
Reintegration ins Berufsleben erleichtert.
Die Überwindung der Lücke zwischen den Löhnen Natürlich ist es immer noch so, dass junge Frauen und
von Frauen und Männern ist ein wichtiges gleichstel- Mädchen schlecht bezahlte Berufe wählen und sich auf
lungspolitisches Signal. Dafür ist ein Umdenken in der deutlich weniger Berufe und Branchen als Männer kon-
Gesellschaft genauso erforderlich wie das Aufbrechen zentrieren. Nun könnten wir, wie es Ministerin Schröder
von Rollenbildern und das Selbstverständnis eines mo- gerne macht, sagen: Selber schuld! Die jungen Frauen
dernen Familienbildes. können ja Maschinenbau studieren und den Beruf in den
Vordergrund stellen. – Aber so einfach ist das nicht. Wir
Wir haben in diesem Jahr den 100. Internationalen brauchen durchaus vieles: bessere Kinderbetreuung,
Frauentag gefeiert. Ich verweise nochmals darauf, dass mehr Männer, die ihre Vaterrolle auch zeitlich stärker
unser Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 ausführt: ausfüllen,
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und SES 90/DIE GRÜNEN)
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin. flexible Arbeitszeiten gerade für Eltern und selbstver-
ständlich eine andere Arbeitskultur. Ich denke, darin sind
Meine Damen und Herren, daran arbeiten wir. wir uns im ganzen Hause einig.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rufe von der SPD: Oh! – Caren Marks [SPD]:
Ihre Rede war ein Tritt gegen die Frauen in un- Aber das ist nicht alles. Der verschieden hohe Lohn-
serem Land! Schade! Schade!) unterschied in Ost- und Westdeutschland wurde schon
angesprochen. In Westdeutschland beträgt er 25 Prozent,
in Ostdeutschland 6 Prozent. Das liegt unter anderem da-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ran, dass die ostdeutschen Männer weniger verdienen.
Monika Lazar hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Es gibt sicherlich auch einige westdeutsche Männer, die
Grünen. weniger verdienen würden. Der geringere Unterschied
im Osten ist aber nicht nur der besseren Kinderbetreuung
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geschuldet. Es ist nämlich auch so, dass die große Mehr-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! heit der ostdeutschen Frauen wirtschaftlich für sich
Die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche und gleich- selbst verantwortlich ist; das ist für sie eine Selbstver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11651
Monika Lazar
(A) ständlichkeit. Die Hausfrauenehe spielt keine Rolle herzlich dazu ein, mit uns gemeinsam den Weg zu ge- (C)
mehr; es gibt sie nur zu einem geringen Prozentsatz. Bei hen, nicht nur auf Freiwilligkeit zu setzen, sondern den
knapp drei Vierteln aller Paare in Ostdeutschland sind Rahmen selber vorzugeben.
beide Partner erwerbstätig. Auch der Anteil der Teilzeit-
Vielen Dank.
arbeit ist wesentlich geringer als in Westdeutschland.
Die Frauen im Osten sind also aufgrund ihrer Ausbil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dung hochqualifiziert, und sie wollen mehr und auch und bei der SPD)
eher Vollzeit arbeiten.
Interessant ist auch, dass es einen Unterschied zwi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schen Stadt und Land gibt. In ländlichen Regionen ist Ewa Klamt hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das
die Lohnlücke um fast 10 Prozent größer als in der Stadt. Wort.
Auch wenn die Ursachen noch nicht ausreichend er-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
forscht sind – entsprechende Forschungen laufen –, gibt
neten der FDP)
es einige Auffälligkeiten: Die Frauen auf dem Land neh-
men noch häufiger Minijobs an, sind häufiger Hinzuver-
dienerinnen, und die Vereinbarkeit von Familie und Be- Ewa Klamt (CDU/CSU):
ruf ist wegen der größeren räumlichen Entfernungen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
meistens noch schwieriger zu bewerkstelligen. legen! Gleichberechtigung ist keine sich selbst erfül-
lende Prophezeiung. Sie muss – immer noch – in unserer
Zu den Führungspositionen – das habe ich vorhin Gesellschaft ausgebaut und gelebt werden. Frauen mei-
schon angesprochen – gibt es eine aktuelle Studie vom ner Generation können bei diesem Thema aufgrund
WSI, nach der der Lohnunterschied 18 bis 24 Prozent langjähriger Erfahrungen mitreden. Wir wissen, was wir
beträgt. Er ist also kein bisschen geringer, obwohl die hier einfordern wollen.
Frauen sicherlich genauso qualifiziert sind.
Die existierende Lohnungleichheit in Deutschland ist
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir eine der ungelösten Herausforderungen. Die entschei-
sind uns in vielem einig, was Ihren Antrag und auch die dende Frage ist: Was sind die Ursachen der Lohnlücke,
Eckpunkte betrifft, die Sie jetzt für ein Entgeltgleich- und wie können wir sie bekämpfen? Wir wissen, dass die
heitsgesetz vorlegen. Viele dieser Forderungen finden unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen
Sie auch in unserem Antrag „Frauen verdienen mehr“, drei Kernursachen hat: Erstens. Frauen sind in bestimm-
den wir im März hier im Plenum diskutiert haben. Auch ten Berufszweigen und Branchen unterrepräsentiert.
wir wollen den Ausbau der Verbandsklage. Ich denke, Zweitens. Qualifikationen, die Frauen in das Erwerbsle-
(B) das ist wirklich ganz wichtig. Wir wollen die Tarifpar- ben einbringen, werden häufig schlechter bewertet. Drit- (D)
teien zu einer diskriminierungsfreien Arbeitsbewertung tens. Frauen steigen öfter und länger aus dem Erwerbsle-
verpflichten. Wir brauchen endlich Transparenz bei den ben aus.
Entgelten. Wir möchten auch erreichen, dass sich die
Beschäftigten über ihr Arbeitsentgelt und dessen Zusam- Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen aus circa
mensetzung austauschen dürfen. Ich denke, das ist sehr 350 Ausbildungsberufen im Wesentlichen nur zehn aus
wichtig. Klauseln in Arbeitsverträgen, die das verbieten, dem Dienstleistungs- und Sozialbereich auswählen.
sind nicht rechtmäßig.
Die Wahl der Studiengänge zeigt ein ähnliches Bild:
Notwendig ist in diesem Zusammenhang selbstver- Männer fokussieren sich auf die technisch-naturwissen-
ständlich auch ein flächendeckender Mindestlohn. Dass schaftlichen Zweige, Frauen wählen vermehrt sprach-
Frauen einen Anteil von knapp 70 Prozent an den Nied- oder sozialwissenschaftliche Studiengänge. Frauen und
riglohnbeschäftigten haben, hat die Kollegin bereits aus- Männer gehen also bereits zu Beginn ihrer beruflichen
geführt. Laufbahn unterschiedliche Wege; sie richten ihre Be-
rufswahl nach unterschiedlichen Kriterien aus. Das Pro-
Neben den gesetzlichen Regelungen für die Entgelt- blem ist jedoch, dass jeder Einzelne individuell entschei-
gleichheit brauchen wir dringend ein Gleichstellungsge- det. Wir als Gesetzgeber können vom Kindergarten bis
setz für die Privatwirtschaft. Ich denke, da sind wir auch hin zur allgemeinen schulischen Bildung versuchen,
sehr nahe beieinander. Frauen frühzeitig für technische oder naturwissenschaft-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Berufe zu begeistern.
und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Der Equal Pay Day war in diesem Jahr der 25. März. neten der FDP)
Ich würde mich sehr freuen, wenn es an diesem Tag Deshalb sind die Programme des Familienministeriums
mehr als nur warme Worte geben würde, warme Worte,
wie „Komm, mach MINT“, der Girls’ Day, aber auch
wie sie unter anderem in der lauen Pressemitteilung der „Neue Wege für Jungs“ der richtige Ansatz, das Berufs-
Ministerin Schröder standen. Ich würde mich freuen, wahlspektrum von jungen Frauen und Männern zu er-
wenn wir da gemeinsam vorankommen, damit es mehr
weitern.
gibt als nur warme Worte oder Selbstverpflichtungen.
Ich denke, wir sollten auch unserem Anspruch als Ge- Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass nach wie vor
setzgeber gerecht werden und die Rahmenbedingungen Frauen und ihre Qualifikationen im Berufsleben schlech-
vorgeben. Deshalb lade ich die Koalitionsfraktionen ter bewertet werden.
11652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Ewa Klamt
(A) (Caren Marks [SPD]: Das werden Sie auch bei Der Unterschied in der Lohnlücke zwischen Deutsch- (C)
gleicher Qualifikation!) land Ost und Deutschland West zeigt eines: Die Rah-
menbedingungen von Kinderbetreuung und Vereinbar-
So sehen Unternehmen Frauen häufig als Unsicherheits- keit von Familie und Beruf sind entscheidend; eine
faktor, da sie dem Arbeitgeber durch Elternzeit und Er- Kollegin hat das bereits genannt. Weil in Ostdeutschland
ziehungspausen nur bedingt zur Verfügung stehen. Ihre 61 Prozent der Frauen nach einer Kinderpause in eine
Tätigkeit wird, bewusst oder unbewusst, nach dem Aus- Vollzeitbeschäftigung zurückkehren, beträgt der Lohn-
fallrisiko bewertet. Entscheidend ist daher in den Betrie- unterschied zwischen Frauen und Männern hier nur
ben ein Bewusstseinswandel dahin gehend, 6 Prozent, während er im Westen bei 24 Prozent liegt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das zeigt, dass ein gut ausgebautes Kinderbetreuungs-
system die Rückkehr in die Vollbeschäftigung ermög-
das Potenzial und die Fähigkeiten von Frauen besser zu licht und für mehr Entgeltgleichheit sorgt.
nutzen. Der Fachkräftemangel und der demografische
Wandel zeigen vielen Unternehmen bereits heute die Der Antrag, den die SPD heute vorlegt, wird keiner
richtige Weichenstellung auf. Wer dringend benötigte der genannten Herausforderungen gerecht. Ihre Forde-
Fachkräfte haben und halten möchte, muss das Potenzial rungen, von denen ich nur einige wenige zitieren
von Frauen nutzen. Gleiche Bezahlung für gleiche Ar- möchte, sehen folgendermaßen aus:
beit wird darüber entscheiden, wer zukünftig in diesem … die Unternehmen werden aufgefordert, einer be-
Land über genügend Fachkräfte verfügt. hördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezi-
(Beifall bei der CDU/CSU) fisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
Form eines betrieblichen Entgeltberichts in regel-
Der dritte Aspekt ist die familienbedingte Unterbre- mäßigen Abständen vorzulegen;
chung der Erwerbstätigkeit. Es sind nach wie vor mehr-
heitlich junge Frauen, die sich der Kindererziehung wid- – ich zitiere weiter –
men und dafür ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Nach die behördliche Stelle prüft den Entgeltbericht auf
ihrer Rückkehr ins Berufsleben reduzieren sie verstärkt Verdachtsmomente, die auf eine geschlechtsspezifi-
ihre Stundenzahl; sie nehmen besonders häufig Teilzeit- sche Ungleichbehandlung hinweisen. Das Ergebnis
modelle in Anspruch. Statistiken und Studien belegen, ist betriebsöffentlich zugänglich zu machen;
dass insbesondere in Deutschland die Erwerbsunterbre-
chung ein maßgeblicher Faktor der ungleichen Entloh- (Christel Humme [SPD]: Das sind gute Vor-
nung ist. Insofern trifft der Satz des SPD-Antrages zu, schläge! – Caren Marks [SPD]: Sie sollten
dass es Aufgabe der Politik ist, Prozesse in Gang zu mehr aus unserem Antrag vorlesen!)
(B) setzen und bei der Überwindung typischer Blockaden zu (D)
die Unternehmen stellen sicher, dass bei der Erstel-
helfen. Das von der CDU vorgeschlagene „audit beruf- lung des Berichts Betriebs- und Personalräte,
undfamilie“ ist ein richtiger Ansatz. Die Politik zeigt Gleichstellungsbeauftragte und Beschäftigte sowie
hier den Unternehmen Lösungswege auf. So kann sich Tarifvertragsparteien einbezogen werden.
ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel entfalten.
Unternehmen mit einem großen Frauenanteil nehmen (Sibylle Laurischk [FDP]: Bürokratie pur! –
dies heute in hohem Maße an. Sie verzichten schon aus Christel Humme [SPD]: Was haben Sie gegen
ökonomischen Gründen nicht mehr auf gut ausgebildete Mitbestimmung?)
Frauen. Fakt ist: Wir sind keine Erziehungsdiktatur. – Liebe Frau Humme, wenn ich mir vorstelle, was das an
Auch wenn wir uns wünschen, dass sich mehr Männer in bürokratischem Aufwand für die rund 3,4 Millionen
Familienarbeit und Kinderbetreuung einbringen, bleibt kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die Selbst-
die Entscheidung, welcher Partner sich der Kindererzie- ständigen bedeutet, stellt sich mir die Frage, ob sie dem-
hung widmet, eine individuelle Entscheidung. nächst überhaupt noch Frauen einstellen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Beide!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Die Hoheit über die Kinderbetten zu erlangen, wie es der Sibylle Laurischk [FDP]: Sehr richtig! – Caren
ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz verlangte, ist Marks [SPD]: Das ist ja wohl dreist!)
nicht Ziel unserer CDU/CSU-Politik. Ich sage Ihnen: Wir brauchen weder neue Behördenmit-
(Beifall bei der CDU/CSU) arbeiter, die unzählige Daten sammeln und verarbeiten,
noch brauchen wir neue Berichtspflichten, die zualler-
Für mich sind alle drei geschilderten Problembereiche erst unseren Mittelstand treffen.
komplex miteinander verknüpft. Klar ist, dass wir die
Ungleichheit in der Entlohnung ursachengerecht ange- Die Quintessenz einer lösungsorientierten und realis-
hen müssen. Fest steht auch, dass gesellschaftlicher tischen Gleichstellungspolitik muss sein
Wandel nicht per Gesetz verordnet werden kann. Aber (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, dem Rechtsan-
spruch auf einen Kitaplatz, dem Projekt „Perspektive – Schreien macht nichts besser; Sie können für Ihre
Wiedereinstieg“ und dem Elterngeld für beide Eltern- Fraktion reden –, die sozialen Risiken in den Lebensläu-
teile hat die CDU die Weichen richtig gestellt. fen und Erwerbsbiografien der Menschen zu erkennen
und familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche
(Beifall bei der CDU/CSU) Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann erreichen wir,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11653
Ewa Klamt
(A) dass Frauen der Wiedereinstieg in sozialversicherungs- einer der größten sozialpolitischen Skandale in dieser (C)
pflichtige Vollzeitjobs gelingt und die wesentlichen Ur- Republik.
sachen für eine fehlende Entgeltgleichheit beseitigt wer-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den. DIE GRÜNEN – Sibylle Laurischk [FDP]: Sa-
Statt immer neue Gesetze zu erfinden, sollten auch gen Sie das auch den Gewerkschaften?)
Sie, liebe Kollegen von der SPD, erkennen, dass wir uns Damit wir uns hier verstehen: Wir haben diesen An-
auf unsere Kernaufgabe konzentrieren müssen, nämlich trag schon zur Zeit der Großen Koalition eingebracht.
auf die Schaffung von Grundlagen und Rahmenbedin- Frau Merkel und die nicht anwesende Familienministe-
gungen. rin bzw. ihre Vorgängerin haben ihn im Duett abgelehnt.
Ich danke Ihnen. Für uns ist das keine neue Erkenntnis. Es ist übrigens
spannend, wie wichtig die zuständigen Kabinettsmitglie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der diese Debatte offensichtlich finden.
Caren Marks [SPD]: Ach, Gleichstellung ist Leistung lohnt sich nicht für Frauen in Deutschland.
keine Kernaufgabe?) Es geht darum, Frau Kollegin Schön, dass wir der sozia-
len Marktwirtschaft Geltung verleihen und dass sich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Leistung lohnt. Es ist übrigens ein interessanter Mei-
Sigmar Gabriel gebe ich jetzt als erstem Mann in der nungswandel, dass Sie das für die Aufgabe der Tarifver-
Debatte das Wort. Sollte sich die Entgeltgleichheit bei tragsparteien halten; denn ich habe noch gut in Erinne-
uns in Redezeit ausdrücken, haben die beiden Männer rung, dass CDU/CSU und FDP die Tarifvertragsfreiheit
sehr gut verhandelt. Er spricht für die SPD-Fraktion. infrage stellen und den Flächentarifvertrag abschaffen
wollten. Aktuell verhindern Sie im Kabinett ein Gesetz
(Beifall bei der SPD) über die Tarifeinheit. Sie zerstören die Tarifverträge und
sagen gleichzeitig, dass sich die Tarifvertragsparteien
Sigmar Gabriel (SPD): um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Wir sind uns aber si- kümmern sollen. Das kennzeichnet Ihre Politik in die-
sem Bereich.
cher einig, dass die Herstellung von Gleichberechtigung
keine alleinige Aufgabe der Frauen ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Sibylle Laurischk [FDP]:
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Markus Das ist reine Polemik!)
Grübel [CDU/CSU] und Volker Beck [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Wenn das reine Polemik ist, dann beschließen Sie end-
(B) lich die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Sie (D)
Meine Damen und Herren! Ich will den Argumenten wissen, dass 70 Prozent der Niedriglöhner in Deutsch-
begegnen, dass das nur für mehr Bürokratie sorgen land Frauen sind. Machen Sie das doch endlich!
würde, dass dies eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien
sei und die Politik sich herauszuhalten habe. Ich lese Ih- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nen einen Satz vor, um den es hier eigentlich geht: DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W.
Birkwald [DIE LINKE] – Volker Kauder
Niemand darf wegen seines Geschlechts … benach- [CDU/CSU]: 7,50 Euro sind die Lösung? Da
teiligt oder bevorzugt werden. lachen doch die Hühner!)
Das ist einer der fundamentalen Sätze der Verfassung der – Herr Kollege Kauder, ich weiß, dass Sie wenig Zugang
Bundesrepublik Deutschland. Recht und Gesetz in zu diesem Lohnsektor haben. Nein, es geht darum, dass
Deutschland durchzusetzen, ist nicht die Aufgabe von für Männer und Frauen eine Untergrenze eingeführt
Privatpersonen, auch nicht von Tarifvertragsparteien, wird. Wenn wir wissen, dass in weiten Teilen Deutsch-
sondern die Aufgabe des Gesetzgebers, der Exekutive, lands keine Tarifverträge gelten, weil sich die Arbeitneh-
des Staates. Deswegen geht es hier um staatliches Han- merinnen und Arbeitnehmer gar nicht mehr trauen, sich
deln und nicht um Fragen der Bürokratie oder um Auf- zu organisieren, dann muss der Staat eine untere Grenze
gaben von Privatpersonen. einführen. Das wussten Ihre Vorgänger Ludwig Erhard
und andere besser als Sie heute.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
[DIE LINKE]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Es geht auch nicht um Bewusstseinsbildung. Es geht um Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und um die der Regierungskoalition, es geht nicht an, dass die Bun-
Durchsetzung unserer Verfassung. Es geht nicht darum, deskanzlerin das zum Privatproblem der Frauen macht.
dass den Unternehmen ein Lernauftrag erteilt werden Ich zitiere einmal aus einem Interview mit der Emma.
soll. Frau Schön, es geht auch nicht um ein Privatver- Dort rät die Bundeskanzlerin Frauen, die weniger als
gnügen. Es ist nicht egal, ob man das macht oder nicht. ihre männlichen Kollegen verdienen, „selbstbewusst
Es geht darum, dass wir der Verfassung unseres Landes zum Chef zu gehen und zu sagen: Da muss sich was än-
Geltung verleihen. Es ist einer der gröbsten Verstöße ge- dern!“
gen die Verfassung, dass Frauen und Männer in diesem
Land für gleiche Arbeit ungleich bezahlt werden. Das ist (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
11654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Sigmar Gabriel
(A) Wo sind wir eigentlich hingekommen? Es geht doch Zumindest müssen sie sich darüber bewusst sein, (C)
nicht darum, dass die betroffenen Frauen aufgefordert dass mit bestimmten Berufswünschen gewisse Ein-
werden, etwas zu tun. Es ist die Aufgabe der Politik, ei- kommensperspektiven verbunden sind.
nen Missstand, der Millionen von Frauen betrifft, zu be-
seitigen. Das ist unsere Aufgabe. Das geht auch Sie an. Das würde bedeuten, dass es an der Berufswahl liegt,
Sie können sich nicht ständig vor der Verantwortung dass Frauen in Teilzeit arbeiten und schlechter bezahlt
drücken. werden. Es liegt aber daran, dass sie häufig keine ausrei-
chenden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder ha-
Ich sage hier ganz offen: Lernen Sie doch auch von ben. Deswegen müssen sie in Teilzeit gehen.
den Fehlern der Sozialdemokratie. Wir haben auch ein- (Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist reine Pole-
mal gedacht, dass Selbstverpflichtungen helfen. Heute mik!)
wissen wir: Sie helfen nicht.
Es liegt auch daran, dass Sie nicht bereit sind, dafür zu
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sorgen, dass in Deutschland vernünftige Löhne gezahlt
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der werden. Deshalb werden Frauen in diese Bereiche ge-
LINKEN) drängt.
Sie möchten jetzt eine freiwillige Frauenquote in Auf- (Beifall bei der SPD – Sibylle Laurischk
sichtsräten und Vorständen einführen. Ich stelle mir ein- [FDP]: Sie haben die ganze Zeit nicht zuge-
mal vor, wie wir zu den DAX-Vorständen und Aufsichts- hört!)
räten sagen: Jungs, ihr müsst jetzt zu 40 Prozent
freiwillig auf den Millionenjob verzichten, damit Platz Wenn Sie sagen, dass es an der Wahl des falschen Be-
für die Frauen ist. – Wenn Sie glauben, dass das funktio- rufs liegt, dann schauen Sie doch einmal typische Frau-
niert, dann glauben Sie auch, dass man mit Gänsen über enberufe, in denen nur oder im Wesentlichen Frauen be-
Weihnachten diskutieren kann. schäftigt sind, an. Drei Viertel der Bürokaufleute sind
Frauen; das ist also deutlich die Mehrheit. Bürokauf-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der frauen verdienen trotzdem 15 Prozent weniger als ihre
SPD) männlichen Kollegen. Oder schauen wir ins Bankge-
werbe. Bankkauffrauen bekommen im Monat im Durch-
Das kann man nicht ohne den Gesetzgeber durchsetzen. schnitt 700 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen.
Es ist schlimm, dass die Kanzlerin diese Entwicklung, Bemerkenswert ist auch ein Blick in die soziale Wirk-
die bei Ihnen durch Frau von der Leyen in Gang gekom- lichkeit der oberen Gehaltsgruppen. Die Zahlen zeigen,
men war, wieder gestoppt hat. Es gibt immer nur Win- dass auch Frauen in Führungspositionen für die gleiche
(B) dow Dressing in der CDU/CSU und FDP. Wenn es da- Tätigkeit deutlich weniger Geld bekommen. Auf der (D)
rauf ankommt, schlagen Sie sich in die Büsche. Ebene der Hauptabteilungsleiter verdienen Frauen ein
Vielleicht hilft es Ihnen ja, sich die Realität in den un- Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Da sagen
terschiedlichen Lohnsegmenten in Deutschland anzu- Sie: Fangen wir mit der Bewusstseinsbildung an! Warten
schauen; es geht dabei nicht nur um den Niedriglohn- wir auf die Bewusstseinsbildung in den Unternehmen! –
sektor. Sie scheinen auch in diesen Bereichen ein Nein, wir sagen ganz klar: Das ist eine Aufgabe, der sich
Wahrnehmungsproblem zu haben. Ihre Familienministe- die Politik stellen muss. Wir sind dafür verantwortlich,
rin sagte in einem Interview: dass Recht und Gesetz in Deutschland eingehalten wer-
den. Das ist keine Frage der Freiwilligkeit.
Wir können den Unternehmen nicht verbieten,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Elektrotechniker besser zu bezahlen als Germanis-
DIE GRÜNEN)
ten.
Immer wenn es konkret wird, ist von Ihren Schau-
Darum geht es aber nicht. Erklären Sie Ihrer Familien- fensterreden nichts mehr zu hören. Sie fallen den Frauen
ministerin bitte, dass es nicht darum geht, unterschied- regelmäßig in den Rücken, wenn es konkret wird.
liche Gehälter zu nivellieren, sondern dass man etwas
dagegen tun muss, dass Ingenieure besser bezahlt wer- (Caren Marks [SPD]: Ja! So ist es!)
den als Ingenieurinnen. Das muss doch die Politik inte-
Das war übrigens auch bei den Hartz-IV-Verhandlungen
ressieren.
der Fall. Als wir gefordert haben, die Beschäftigten in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Leih- und Zeitarbeit genauso zu behandeln wie die
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert Stammbelegschaften, wussten wir doch, dass davon
[DIE LINKE]) viele Frauen betroffen wären, die dann vernünftig be-
zahlt worden wären. Sie haben sich dagegen gewehrt.
Der Lohnunterschied im Beruf der Ingenieure beträgt
zwischen den Männern und Frauen 17 Prozent. Wie er- Vielleicht haben auch noch nicht alle mitbekommen,
klären Sie das einer fleißigen und gut qualifizierten wie Ihre Definition von Equal Pay ist. Sie haben zu-
Frau? nächst einen Equal-Pay-Day ausgerufen. Nächtens hat
dann die FDP mit Zustimmung der Union folgendes Mo-
Nun komme ich zum Größten, das Sie sich bisher ge- dell erarbeitet: Equal Pay – gleicher Lohn für gleiche Ar-
leistet haben. Ihre Frauenministerin sagte über die beit – soll schon ab dem ersten Tag gelten, wenn der Be-
Frauen: trieb, in den ein Leiharbeitnehmer verliehen wird,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11655
Sigmar Gabriel
(A) schlechter bezahlt, als es der Tarifvertrag in der Zeitar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
beit vorsieht. Wenn der Betrieb besser bezahlt als in der bei der SPD und der LINKEN)
Zeitarbeit vorgesehen, dann – so war Ihr Vorschlag – soll
das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ erst nach
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
neun Monaten gelten. Wissen Sie, wie ich das nenne?
Solche Vorschläge nenne ich asozial, meine Damen und Wir kommen zur Abstimmung über diesen Geschäfts-
Herren. ordnungsantrag.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – reicht nicht! – Zuruf von der SPD: Ihr seid zu
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Beschä- wenige!)
mend ist das! Was sagen Sie denn da?)
Wer dem Antrag auf Herbeizitierung zustimmen möchte,
– Nein. Beschämend ist, sich immer vor der Verantwor- den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Wer ist dage-
tung zu drücken und immer nur von anderen zu fordern, gen? – Gibt es Enthaltungen? –
sich zu kümmern.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach was! war sehr eindeutig! – Zuruf von der SPD: Hier
Ihre Rede ist beschämend! – Holger Krestel ist die Mehrheit! – Caren Marks [SPD]: Alles
[FDP]: Geben Sie sich doch mal ein bisschen andere wäre wirklich fatal! – Zuruf von der
Mühe, Herr Gabriel!) FDP: Seien Sie objektiv!)
– Ja, passen Sie auf. Dann gebe ich mir Mühe und zitiere Wir sind uns nicht einig.
die von Ihnen offensichtlich immer noch, jedenfalls zeit-
weise, geschätzte Kanzlerin. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Widerspruch bei der SPD, der LIN-
(Heiterkeit bei der SPD – Caren Marks [SPD]:
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Ja! Zeitweise!) Caren Marks [SPD]: Das ist wirklich ein
Sie sagt: Über Frauenpolitik darf man nicht nur reden. Skandal! Das ist für Männer ein Skandal!
Man muss handeln. – Peinlich! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ham-
melsprung! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) GRÜNEN: Mehrheit ist Mehrheit!)
Na, dann handeln Sie einmal, meine Damen und Herren! Deswegen können wir die Mehrheit nur auf andere (D)
(B)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weise feststellen. Wir werden jetzt einen Hammelsprung
DIE GRÜNEN) durchführen.
(Norbert Geis [CDU/CSU], an das BÜND-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Auch das
Der Kollege Beck erhält das Wort, und zwar, wie ich noch! Warum müsst ihr denn auch so einen
annehme, zu einer Kurzintervention. Antrag stellen? Wir wissen doch, warum die
Frau nicht da ist! Das ist eigentlich eine Un-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verschämtheit! – Gabriele Molitor [FDP]: Das
ist Frauensolidarität!)
Nein, ich möchte einen Geschäftsordnungsantrag stel-
len. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Plenar-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich saal zu verlassen.
finde, in dieser Debatte zum Thema „Entgeltgleichheit Wir würden auch noch ein paar Stühle herausstellen
zwischen Frauen und Männern“ geht es um eine zentrale lassen für den Fall, dass Sie gern weiter sitzen wollen.
Frage der Frauenpolitik. Aber vielleicht begeben Sie sich nach und nach hinaus.
(Caren Marks [SPD]: Ja!)
Es sind im Verhältnis zu allen anderen noch übermä-
Ich vermisse nicht nur viele Kolleginnen und Kollegen ßig viele FDP-Kolleginnen und -Kollegen im Saal.
aufseiten der Koalition,
Sind alle Türen mit Schriftführern besetzt? – Noch
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ach, Herr Beck! nicht. Es fehlen noch zwei Schriftführer von der Regie-
Bitte nicht schon wieder!) rungskoalition. – Jetzt sind alle Türen besetzt. Dann er-
öffne ich die Abstimmung.
sondern vor allen Dingen auch die Bundesfrauenministe-
rin. Gibt es immer noch Kolleginnen und Kollegen, die
(Caren Marks [SPD]: Ja!) vor der Tür stehen und nicht hereinkommen können,
weil das Gedränge so groß ist? Ich frage das in Richtung
Wir möchten sie zu dieser Debatte herbeizitieren, weil der Schriftführerinnen und Schriftführer. – Jetzt scheint
wir finden: Eigentlich müsste sie dem Haus in dieser außer den Besucherinnen und Besuchern niemand mehr
Diskussion Rede und Antwort stehen. vor der Tür zu sein.
11656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Rita Pawelski
(A) lich auch in der Bilanz bemerkbar, und es ist eine Image- terpräsident? Das wechselte damals in Niedersachsen bei (C)
förderung auch für das Unternehmen. der SPD sehr häufig. Da gab es einen größeren Ver-
schleiß. Zumindest hätte er das Thema über den Bundes-
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
rat einbringen können. Das ist nicht passiert.
SPD sagen. Erst einmal möchte ich daran erinnern, dass
in der hier schon oft zitierten Vereinbarung, die 2001 Wie ging es mit dem Thema weiter? Hier wurde viel
zwischen Kanzler Schröder und der Wirtschaft geschlos- davon geredet, dass das Ganze asozial sei und dass man
sen wurde, das Thema Entgeltgleichheit – man höre: das sich vor der Verantwortung drücke. Herr Gabriel hat
Thema Entgeltgleichheit – als eine von vier Zielgrößen noch einmal auf das Grundgesetz hingewiesen.
verankert wurde. Aber auch hier, wie bei der Quote:
Nichts als weiße Salbe! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
„Herr Gabriel“ ist ein gutes Stichwort. Der möchte Ih-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen nämlich gern eine Zwischenfrage stellen.
Frau Pawelski, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Fischbach zulassen? – Anscheinend ja. Bitte Rita Pawelski (CDU/CSU):
schön. Wir wollen nicht an frühere Diskussionen im Landtag
anknüpfen; lassen wir das lieber.
Rita Pawelski (CDU/CSU):
(Sigmar Gabriel [SPD]: Jetzt hast du aber
Ja, selbstverständlich. Angst!)
Rita Pawelski (CDU/CSU): Mit anderen Worten: Die SPD wird immer dann mutig,
In der Tat, mich hat schon sehr gewundert, dass die wenn sie in der Opposition ist. Ihr seid eine tolle Opposi-
Generalsekretärin einer großen Volkspartei in den letzten tionspartei, bleibt da, wo ihr seid.
Schwangerschaftsmonaten Angst davor haben musste, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass andere ihr den Job wegnehmen. Mechthild Rawert [SPD]: Wir werden das än-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dern, und Sie werden demnächst auf der Oppo-
sitionsbank sitzen!)
Das war ein verdammt schlechtes Beispiel oder gibt ei-
nen tiefen Einblick in die Frage, wie es in der SPD wirk- – Entschuldigung, Sie haben den Mund ganz schön voll
lich zugeht. genommen. Die Wahlergebnisse sehen bei Ihnen wesent-
lich schlechter aus als bei uns. Man sollte sich ein biss-
Wenn das die Personalpolitik der SPD ist, dann muss chen in Bescheidenheit üben.
ich sagen: Sigmar, schämt euch, das war nicht in Ord-
nung! (Caren Marks [SPD]: Wer verliert denn gerade
die Mehrheit im Bundesrat? – Mechthild
(Zuruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) Rawert [SPD]: Aber nicht frau! Man, ja!)
Wo war Sigmar Gabriel 2001? Ich weiß es nicht mehr. Jetzt komme ich noch einmal zu dem Antrag. Sie ha-
War er Fraktionsvorsitzender? Oder war er schon Minis- ben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sorgfältig zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11661
Rita Pawelski
(A) recherchieren. Ich helfe kurz nach: Der Grundsatz des Rita Pawelski (CDU/CSU): (C)
gleichen Entgelts bei gleicher Arbeit bzw. bei gleichwer- Wir machen das, aber Sie müssen erst einmal Ihren
tiger Arbeit ist nicht mehr in Art. 141 des EG-Vertrags Antrag überarbeiten. Da stehen Forderungen drin, die
verankert, wie es in dem Antrag steht; denn den gibt es mit uns so nicht zu machen sind.
seit dem 1. Dezember 2009 nicht mehr. Seitdem gibt es
nämlich den Vertrag von Lissabon. Sie meinen wohl (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Art. 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi- Caren Marks [SPD]: Das war eher ein biss-
schen Union. Da ist dies jetzt enthalten. Der Antrag chen neben der Kappe! – Weitere Zurufe von
der SPD)
muss also sowieso noch einmal umgeschrieben werden.
Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag darüber, „dass es Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der Respekt vor der Tarifautonomie gebietet, die gesetz- Die Nächste ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
lichen Eingriffe des Staates so gering wie möglich zu für Bündnis 90/Die Grünen.
halten“. Trotzdem fordern Sie – das ist mir überhaupt
nicht klar und ist für mich auch nicht nachvollziehbar –, Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dass zivilgesellschaftliche Akteure von außerhalb der NEN):
Betriebe, also außerhalb der Betriebsräte, auf die wir
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
großen Wert legen, mit Einflussmöglichkeiten ausgestat-
nen und Kollegen! Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist
tet werden, um staatliches Eingreifen auf ein Minimum
eine Selbstverständlichkeit, und Frauen arbeiten natür-
zu reduzieren. Was das außerhalb der Betriebsräte soll,
lich in allen Branchen. Dass beispielsweise Pilotinnen
ist mir ein Rätsel.
sich nicht mehr lange so kluge Männersprüche anhören
Sie wollen eine behördliche Stelle, die Entgeltbe- müssen wie: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen flie-
richte von Unternehmen entgegennimmt und auswertet. gen, dann wäre der Himmel rosa geworden“, dafür wer-
Wollen Sie eine neue Behörde? Wollen Sie mehr Büro- den wir auch noch sorgen.
kratie und mehr Aufgaben? Ist es das, was Sie wollen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nein, wir wollen das nicht. Sie fordern wieder einmal
das Verbandsklagerecht und den gesetzlichen Mindest- Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-
lohn. wertige Arbeit“ ist gesetzlich festgeschrieben. Grund-
sätzlich ist das ja auch gesellschaftlicher Konsens; aber
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: leider sieht die Realität anders aus. Die Erklärungen für
Das sind zwei wichtige Forderungen!) die ungleiche Entlohnung von Frauen sind natürlich viel-
(B) fältig – wir haben ja auch heute schon viele gehört –, wie (D)
Auch hier grüßt täglich das Murmeltier. zum Beispiel unterschiedliche berufliche Präferenzen
oder berufliche Unterbrechungen wegen Kindererzie-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hung. Das sind aber nur Erklärungen. Eine zentrale Ur-
sache ist die unterschiedliche und somit diskriminie-
Frau Pawelski, das Murmeltier hält jetzt auch Ihre rende Behandlung von Frauen im Berufsleben. Wir
Zeit an. sehen es also genauso wie die SPD: Das Verbot der Ent-
(Heiterkeit – Caren Marks [SPD]: Eine Mur- geltdiskriminierung ist vorhanden, was fehlt, ist ein Ver-
meltierrede!) fahren, wie die Entgeltgleichheit durchgesetzt werden
kann, und vor allem der politische Wille, etwas zu verän-
dern.
Rita Pawelski (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Danke, Frau Präsidentin. und bei Abgeordneten der SPD)
Ich denke, es ist wichtig, dass sich hier etwas entwi- Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung bringen keinen
ckelt. Dass sich etwas entwickelt hat, zeigt übrigens der Erfolg, liebe FDP. Wir wollen zwar die Betriebsräte und
Staat – es gibt hier ausnahmsweise einmal ein Lob an Personalräte stärken, aber auch in die Pflicht nehmen;
den Staat –: Im öffentlichen Dienst ist der Lohnunter- denn sie haben eine wichtige Schlüsselrolle inne. Vor al-
schied auf unter 8 Prozent zurückgegangen. lem aber brauchen wir gesetzliche Regelungen, damit
endlich Schluss ist mit der Lohndiskriminierung von
Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiges Frauen.
Thema. Ich glaube, das weiß jeder von uns.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Ko-
(Zurufe von der SPD) alitionsfraktionen, warum verdienen Teilzeitbeschäftigte
weniger als ihre Kollegen in Vollzeit? Natürlich deswe-
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Mur- gen, weil dort häufig Frauen arbeiten. Bei wem fransen
meltierschleife entzerrt und dass wir auch für Frauen an- die Löhne im Niedriglohnbereich besonders nach unten
ständige Löhne haben. aus? Natürlich bei den Frauen. In Ihrem Koalitionsver-
trag steht, Sie wollen die Lohnlücke zwischen Männern
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Frauen abschaffen. Dann tun Sie doch etwas.
Frau Kollegin! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
11662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Beate Müller-Gemmeke
(A) Machen Sie endlich den Weg frei für einen gesetzlichen Viele Frauen studieren gern Germanistik und (C)
Mindestlohn, für mehr branchenspezifische Mindest- Geisteswissenschaften, Männer dagegen Elektro-
löhne, für mehr allgemeinverbindlich erklärte Tarif- technik – und das hat dann eben auch Konsequen-
löhne, und reformieren Sie insbesondere die Minijobs! zen beim Gehalt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN So einfach ist das für die Ministerin.
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
Das fordert auch der Gleichstellungsbericht „Neue NISSES 90/DIE GRÜNEN – Markus Kurth
Wege – Gleiche Chancen“. Auch wenn die Ministerin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unmöglich! –
das Gutachten nicht persönlich entgegengenommen hat: Zurufe von der LINKEN)
Lesen sollte sie die Handlungsempfehlungen schon, und Das ist aber blanker Hohn in den Ohren vieler gut ausge-
vor allem sollte sie endlich tätig werden. bildeter und motivierter Frauen. Nicht die Frauen ent-
scheiden sich für die falschen Berufe, vielmehr muss der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“
sowie bei Abgeordneten der SPD)
durchgesetzt werden,
Die mittelbare Diskriminierung von Frauen ist kein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
einfaches Thema. Aber genau das geht die SPD zu Recht bei der SPD und der LINKEN)
an. Auch wir Grünen arbeiten an einem Konzept. Es geht
um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und um die damit die sogenannten Frauenberufe endlich aufgewertet
Kriterien, wie Arbeit bewertet wird. Fakt ist, dass hinter werden. So wird ein Schuh daraus, Frau Ministerin; denn
vermeintlich geschlechtsneutralen Formulierungen viel Frauen verdienen mehr.
zu häufig Kriterien stehen, die eindeutig zu Einkom- Vielen Dank.
mensunterschieden und somit zu Benachteiligungen von
Frauen führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
So wird beispielsweise bei frauendominierten Tätig-
keiten die Anforderung „soziale Kompetenz“ nicht be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wertet, in klassischen Männerberufen, zum Beispiel auf
Claudia Bögel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
dem Bau, wird aber die notwendige Muskelkraft beson-
ders hoch bewertet, hingegen werden die körperlichen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und psychischen Belastungen der Pflege wiederum igno- der CDU/CSU)
(B) riert. (D)
(Christel Humme [SPD]: Genau!) Claudia Bögel (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
Hier finden wir unsere Geschlechterrollen wieder, die di- nen und Kollegen! Verehrte Antragsteller der SPD!
rekt und indirekt in die Bewertung von Arbeit auf be-
(Caren Marks [SPD]: Antragstellerinnen!)
trieblicher Ebene und ebenso in Tarifverträgen einflie-
ßen. Die schlecht bezahlten Berufe sind eindeutig noch Ja, es stimmt: Der Grundsatz des gleichen Entgelts bei
immer Frauensache. Das muss endlich durch eine ge- gleicher Arbeit für Frauen und Männer ist seit 1957 in
schlechtsneutrale Arbeitsbewertung verändert werden. der Europäischen Union verankert. Meine Fraktion
würde dieser Tatsache nie widersprechen. Unser Gesell-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaftssystem steht hinter dieser Forderung, und sie ist
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Gesetz.
KEN)
Ihr Antrag lässt zwischen den Zeilen vermuten, dass
Warum bekommen Männer, die Baumaterial tragen, in Deutschland geltendes Recht verletzt wird. Das
mehr Lohn als Erzieherinnen, die quirlige Kinder tra- stimmt aber nicht.
gen? Warum verdienen in Bayern Kraftfahrer, die Bier
fahren, um die 2 600 Euro, Kellnerinnen aber, die Bier (Caren Marks [SPD]: Doch!)
schleppen, nur 1 900 Euro? Warum werden Hochschul- So erkennt der werte Leser Ihres Manuskripts sehr
sekretärinnen, obwohl von ihnen häufig die Kenntnis schnell, worum es geht. Sie möchten nämlich durch die
von zwei Fremdsprachen verlangt wird, wie Schreib- Hintertür einen flächendeckenden Mindestlohn ins Spiel
kräfte eingestuft? Ich frage also die Ministerin, die ja lei- bringen. Wir haben uns im Koalitionsvertrag zur Tarif-
der heute nicht da ist, wie sie den jungen Frauen erklären autonomie bekannt. Sie ist ein hohes Gut und ein unver-
möchte, dass sie sich zwar um die Jungs in der Gesell- zichtbarer Ordnungsrahmen.
schaft kümmern möchte, dass sie allerdings nichts, aber
auch gar nichts macht, um diese Einkommenslücke zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
verkleinern. der CDU/CSU)
Wir werden davon nicht abrücken. Ein einheitlicher ge-
Stattdessen schiebt sie sogar den Frauen selbst die
setzlicher Mindestlohn ist mit uns nicht zu machen.
Schuld in die Schuhe, dass sie so wenig verdienen. Ich
zitiere aus dem Spiegel-Interview vom 8. November (Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Na
2010: ja! Das hätte uns sonst auch enttäuscht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11663
Claudia Bögel
(A) Zurück zum vermeintlich eigentlichen Thema Ihres Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was (C)
Antrags: die Entgeltgleichheit. Frauen arbeiten häufiger Sie fordern, ist nichts weiter als die Schaffung einer
in Bereichen, in denen das Entgeltniveau niedriger ist. neuen bürokratischen Hürde.
(Caren Marks [SPD]: Aber warum?) (Zurufe von der SPD: Oh! – Caren Marks
[SPD]: Das Wort fehlte noch!)
Wir haben es heute schon häufiger gehört. Selbst bei
gleicher Qualifikation – so ist es halt im Moment noch – Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren:
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- … die Unternehmen werden aufgefordert, einer be-
NEN]: So ist es halt? Etwas ändern! – Zurufe hördlichen Stelle anonymisierte, geschlechtsspezi-
von der SPD) fisch aufgeschlüsselte betriebliche Entgeltdaten in
verdienen Frauen durchschnittlich 8 Prozent weniger als Form eines betrieblichen Entgeltberichts … vorzu-
ihre männlichen Kollegen; das ist richtig. Aber man legen …
muss sagen: Frauen arbeiten häufiger in Bereichen, in Na bravo!
denen das Entgeltniveau niedriger ist.
(Caren Marks [SPD]: Wir können das verste-
(Caren Marks [SPD]: Weil sie Frauen sind!) hen – im Gegensatz zu Ihnen! – Weitere Zu-
Man muss immer wieder feststellen, dass typische Frau- rufe von der SPD)
enberufe schlechter bewertet und bezahlt werden.
Sie fordern eine detaillierte expertengestützte Prüfung
(Caren Marks [SPD]: Hört! Hört!) mittels eines Lohnmessverfahrens. Sie wollen außerdem
eine Prüfung auf Verdachtsmomente.
Ich möchte hier alle Frauen aufrufen: Zeigen Sie
mehr Selbstbewusstsein! (Caren Marks [SPD]: Ja, zu Recht!)
(Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Allein das Wort „Verdacht“ sagt alles. Dies wäre ein
GRÜNEN und der LINKEN: Oh!) weiteres bürokratisches Monster. Gerade kleine und mit-
telständische Unternehmen würden darunter leiden.
Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel! Verhan-
deln Sie geschickt, damit Sie für gleiche Arbeit auch (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert
gleichen Lohn erhalten! [SPD]: Wir merken wenigstens, wo Ungerech-
(Mechthild Rawert [SPD]: Fragen Sie mal Ihre tigkeit herrscht!)
(B) Fraktion!) Zu unrühmlicher Popularität in 2011 könnte Ihre (D)
Seien Sie nicht mit niedrigen Löhnen einverstanden, und Wortkreation „Entgeltgleichheitskommission“ kommen.
orientieren Sie sich nicht an niedrigen Löhnen! Sie hätte große Chancen, zum Unwort des Jahres 2011
gekürt zu werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Da muss (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
man sich als Frau ja fremdschämen!) NEN]: So ein Unsinn! – Dagmar Ziegler
[SPD]: Das Unwort heißt „FDP“! – Caren
Gute Verdienstmöglichkeiten zeigen sich in den na- Marks [SPD]: Bei 3 Prozent!)
turwissenschaftlich-technischen Bereichen. Genau das
ist der Punkt. Schule, Wirtschaft und Verbände müssen
für jungen Frauen Anreize schaffen, Berufe wie bei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
spielsweise den des Ingenieurs zu erlernen. Gefordert Frau Kollegin.
sind hier vor allem die Unternehmen dieser Bereiche. Es
ist an ihnen, ihre Vorzüge und Chancen richtig zu ver- Claudia Bögel (FDP):
mitteln und im wahrsten Sinne des Wortes an die Frau zu
Ich bin sofort fertig. – Was sich aber dahinter verbirgt,
bringen.
ist nur wieder eine weitere Kontrollstelle, die die Unter-
Im Hinblick auf den demografischen Wandel geht es nehmen Unmengen an Geld kostet, frei nach dem Motto
dabei nicht um Sympathiepunkte. Hier zählen knallharte „Kontrollieren und Abkassieren“. Das machen wir nicht
ökonomische Gründe. Die Wirtschaft muss durch fle- mit.
xible Arbeitszeitmodelle und Möglichkeiten der betrieb-
lichen Kinderbetreuung ihren Beitrag dazu leisten, damit Vielen Dank.
Beruf und Familie zu vereinbaren sind. Dies wird zu ei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nem echten Faktor im Wettbewerb, dem sich die Unter- der CDU/CSU)
nehmen in Deutschland stellen müssen – aber freiwillig.
(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
glaube, die FDP war damals auch gegen die Christel Humme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
Abschaffung von Kinderarbeit! – Monika tion.
Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
löst aber das Problem nicht!) (Beifall bei der SPD)
11664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Christel Humme (SPD): – Sie sagen Nein, aber Sie sagen nicht, was Sie dagegen (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- tun wollen.
nen! Liebe Frau Pawelski, in den letzten Jahren haben
(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Da hätten Sie ein-
wir leider feststellen müssen, dass die Lohnlücke in
fach mal zuhören müssen!)
Deutschland größer geworden ist, dass sie in West-
deutschland sogar auf 25 Prozent angewachsen ist. Ich Wenn ich mir anschaue, was die Frauenministerin an-
gebe zu: Auch ich habe einmal geglaubt – so auch im bietet, dann stelle ich fest: Sie hat tatsächlich 4,5 Mil-
Jahre 2001 –, wir könnten mit den Unternehmen eine lionen Euro in den Haushalt eingestellt. 4,5 Millionen
freiwillige Vereinbarung für mehr Lohngleichheit schlie- Euro – wofür? Für eine Homepage, von der man sich
ßen. Sie können auch gerne meine Äußerungen aus dem freiwillig ein Lohnmessverfahren herunterladen kann,
Jahr 2005 zitieren. Ich war immer davon überzeugt: Ja, das man freiwillig anwenden kann, und für ein Pro-
wenn wir mit denen eine Vereinbarung treffen, dann be- gramm für den ländlichen Raum, das vielleicht gar nicht
wegen die sich. – Aber genau das Gegenteil ist eingetre- so schlecht ist; denn da sind die Lohnunterschiede in der
ten. Von daher bin ich froh, dass wir jetzt den Beweis da- Tat größer.
für haben, dass Freiwilligkeit eigentlich nichts bringt.
Wir brauchen ein Gesetz. Aber warum hat sie ein solches Programm nicht auch
für andere Branchen aufgelegt, in denen die Lohnunter-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schiede größer als 23 Prozent sind? Schauen Sie sich die
DIE GRÜNEN) gesamte Kreativwirtschaft an. Da gibt es Lohnunter-
Frau Pawelski, Sie haben gesagt, Entgeltgleichheit ja; schiede von bis zu 38 Prozent. Ich denke, das können
das Murmeltier, das Sie jeden Tag grüßt, seien Sie schon wir letztlich nicht zulassen.
leid. Erschlagen wir es doch endlich. Sie haben gesagt, Wir können auch nicht zulassen, dass die Frauenmi-
Sie machen das. nisterin sagt, sie möchte in den nächsten zehn Jahren
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das ist Tierquäle- – man höre genau zu: in den nächsten zehn Jahren – die
rei!) Lohnlücke von 23 Prozent auf 10 Prozent senken. Die
freiwillige Vereinbarung ist zehn Jahre alt. Wir haben
Aber ich bezweifle, dass Sie wirklich einen Gestal- gerade gehört, wozu sie geführt hat.
tungswillen haben. Ich bezweifle das allen Ernstes; denn
wer zulässt, dass Frauen mit Niedriglöhnen abgespeist (Caren Marks [SPD]: Zu nichts!)
werden, und noch nicht einmal einen flächendeckenden Ich glaube, wenn wir solch ein zögerliches Ziel formu-
gesetzlichen Mindestlohn hinbekommt, dem fehlt doch lieren, Absenkung der Lohnlücke, dann kann daraus
(B) jeder Mut für weitere Regelungen und Veränderungen in nichts werden. Wir wollen die Abschaffung der Lohnlü- (D)
dieser Gesellschaft. cke und gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Ar-
(Beifall bei der SPD) beit.
Wir wollen uns mit den Ungerechtigkeiten, die es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gibt, nicht mehr abfinden. Sie haben in epischer Breite in der LINKEN)
verschiedenen Reden immer wieder erklärt, warum es Mit der Unverbindlichkeit, die Sie da an den Tag legen,
diese Ungerechtigkeiten geben müsse. Sie haben dabei schaffen Sie es noch nicht einmal, die Lohnlücke in den
auch die Teilzeitarbeit angeführt. Sagen Sie einmal: Fin- nächsten 100 Jahren um 1 Prozent zu senken.
den Sie es wirklich gerecht, wenn der Unterschied beim
Stundenlohn von Frauen und Männern in Teilzeitarbeit Frau Schön, Sie haben von der Staatsgläubigkeit der
knapp 4,40 Euro beträgt? SPD gesprochen. Das ist ja immer schnell ein Argument
gegen uns Sozialdemokraten: Sie wollen mehr Staat, und
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, das finde damit ist das alles schlecht. – Gleichzeitig sprechen Sie
ich nicht in Ordnung!) von Bürokratieaufbau. Ich wundere mich immer, gerade
Das hat mit Teilzeit und Vollzeit gar nichts zu tun, son- was die FDP angeht. Ich möchte Sie an Ihre Gesund-
dern das ist echte Diskriminierung von Frauen. heitsreform erinnern, an das Bürokratiemonster, was den
Sozialausgleich und die Berechnung der Zusatzbeiträge
Finden Sie es gerecht, dass eine Buchhalterin durch- betrifft.
schnittlich 816 Euro weniger verdient als ein Buchhal-
ter? (Beifall bei der SPD)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, das finde Da haben Sie alle zugestimmt. Wenn es um die Gleich-
ich auch nicht in Ordnung!) stellung von Frauen und Männern geht, dann bemühen
Sie das Argument der Bürokratie. Ich verstehe das nicht
Und – was viel schlimmer ist –: Finden Sie es gerecht, mehr.
dass Frauen im Laufe ihres Lebens 58 Prozent weniger
Einkommen haben als Männer und dass die Frauen es (Zurufe von der FDP)
sind, die das Armutsrisiko im Alter tragen? Finden Sie
das wirklich gerecht? Frau Schön, noch einmal ein Hinweis zur Staatsgläu-
bigkeit: Lesen Sie unseren Antrag sehr genau. Dann
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein, ich finde es werden Sie feststellen, dass wir eine Vorstellung haben
ungerecht!) von einem Gesetz, das nicht den Staat in den Vorder-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11665
Christel Humme
(A) grund stellt, sondern die Akteure selbst, sprich: die Un- men, in die Familienphase gehen und dass sie in dieser (C)
ternehmen und Tarifvertragsparteien. Familienphase einen Erwerbsnachteil erleiden.
Wir wollen, dass mehr Transparenz herrscht. Wie (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
kann denn eine Frau etwas ändern wollen, wenn sie noch Auch Männer dürfen in die Familienphase ge-
nicht einmal weiß, wie die Bezahlung und die Ent- hen!)
geltstruktur ist? Und wie kann man das beseitigen? Man Gleichzeitig nehmen sie in Kauf, dass ihr berufliches
kann das doch nur über Mitbestimmung, über die Betei- Fortkommen nicht mehr wettgemacht werden kann. Das
ligung von Betriebsrat, Mitarbeitern und Mitarbeiterin- halte ich im Grunde für einen Skandal; denn das darf
nen machen. Anders wird es nicht gehen. Das hat doch doch wohl nicht sein. Eine Frau, die daheim bleibt, um
mit Bürokratie und Staatsgläubigkeit nichts zu tun. ihre Kinder zu erziehen, erbringt eine große Leistung,
Wenn auf diesem Gebiet nichts passiert, wenn dieser nicht nur für die eigene Familie, sondern für die gesamte
Prozess nicht stattfindet, dann müssen die Frauen ein Gesellschaft. Trotzdem wird sie benachteiligt. Die Leis-
Recht haben, zu klagen, und zwar als Verbandsklage, tung der Mutter wird von unserer Gesellschaft nicht ge-
nicht als Individualklage. bührend anerkannt.
Norbert Geis
(A) nämlich eine große Leistung. Deshalb müssen wir uns uns hierzu einiges einfallen lassen. Es muss möglich (C)
Gedanken darüber machen, wie wir die Nachteile aus- sein, dass die Frau trotz Beruf genug Zeit hat, sich ihren
gleichen können, die die Frau hat, die in die Familien- Kindern zu widmen.
phase geht und dadurch Nachteile im Erwerbseinkom- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
men und auch im Beruf hat. NEN]: Und auch der Vater! Die meisten Kin-
(Beifall bei der CDU/CSU) der haben auch einen Vater! – Caren Marks
[SPD]: Warum vergessen Sie den Vater im-
In diesem Zusammenhang ist das Elterngeld sicher- mer?)
lich eine große Hilfe. Wenn eine Frau aber länger in der
Familienphase bleibt und während dieser Familienphase In diesem Zusammenhang müssen wir uns überlegen
ein zweites Kind bekommt, dann bezieht sie Elterngeld – darauf kommt es an, auch wenn Ihnen das nicht gefal-
auf dem Niveau der untersten Stufe, dann bekommt sie, len mag –, ob die haushaltsnahen Dienstleistungen nicht
um in Ihrem „Wortgehege“ zu bleiben, einen Mindest- in größerem Maße absetzbar sein sollten. Warum soll
lohn von 300 Euro. Das ist zu wenig. Trotzdem haben eine Familie nicht einem kleinen Betrieb gleichgestellt
Sie sich dagegen gesperrt, dass die Frau das bekommt. werden? Der Betrieb kann die Kosten absetzen, die Fa-
milie aber nicht. Ich meine, dass dazu eine steuerrechtli-
Das finde ich schon sehr bemerkenswert. Dieser Aus-
che Regelung gefunden werden muss.
gleich für die Familienphase erscheint mir zu gering.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Außerdem möchte ich betonen, dass beim Wiederein- der FDP – Zuruf der Abg. Mechthild Rawert
stieg nach der Familienphase viel zu hohe Hürden zu [SPD])
überwinden sind. Die Kita ist in diesem Zusammenhang
sicher eine gute Einrichtung. Die Frau kann das Kind, Wenn Frauen in den Beruf zurückkehren – auch das
wenn es ein Jahr alt ist, in die Kita geben und kann ihrem ist zu sagen –, werden sie oft schlecht behandelt, weil
Beruf nachgehen. man ihnen vorwirft, dass sie nicht mehr das gleiche Wis-
sen wie ihre Kolleginnen und Kollegen haben, die nicht
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in der Familienphase waren. Das kann es aber nicht sein.
NEN]: Und der Mann kann das Kind auch in
die Kita geben!) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es geht um die Bezahlung!)
– Darauf komme ich noch zu sprechen.
Ich meine, an dieser Stelle muss man ein Benachteili-
Wir haben es aber noch nicht geschafft, dass Beruf gungsverbot vorsehen.
und Familie in Deutschland besser vereinbart werden
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
(B) können, was in anderen Ländern der Fall ist. GRÜNEN]: Das gibt es schon!) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wir haben ein solches Benachteiligungsverbot zum Bei-
der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE spiel im Betriebsverfassungsgesetz. Die Betriebsräte dür-
GRÜNEN]: Herr Geis, Sie reden am Thema fen, wenn sie in ihren normalen Beruf zurückkehren,
vorbei! – Caren Marks [SPD]: Thema ver- nicht benachteiligt werden. Das steht in § 78 des Betriebs-
fehlt!) verfassungsgesetzes. Eine ähnliche Regelung könnte ich
Ein Grund dafür ist, dass wir eine im internationalen mir für die Mütter vorstellen.
Vergleich niedrige Geburtenrate haben. Da nehme ich (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
durchaus Ihren Vorwurf auf: Ich bin der Meinung, dass NEN]: Und für die Väter!)
die Frau, die einen Beruf erlernt hat, das gute Recht ha-
ben muss, ihrem Beruf mit Familie nachzugehen. Darüber sollte man nachdenken.
(Caren Marks [SPD]: Und der Mann?) Danke schön.
Ich bin auch der Meinung, dass sich die Männer dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
partnerschaftlich verhalten müssen, was in einer guten Caren Marks [SPD]: Tosender Applaus!)
Ehe sicherlich der Fall ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich schließe die Aussprache.
Caren Marks [SPD]: Partnerschaften gibt es
auch außerhalb von Ehe!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5038 an die in der Tagesordnung aufge-
Sie müssen ihren Anteil dazu beitragen, dass Beruf und führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu sehe und
Familie auch für die Frau möglich sind. Das kann nicht höre ich keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
nur für den Mann gelten, sondern muss auch für die Frau so beschlossen.
gelten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 31 a bis f so-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sehr gut!) wie Zusatzpunkt 3 auf:
Viele Frauen, die Kinder haben, arbeiten nicht Voll- 31 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
zeit, weil sie Angst haben, dann keine Zeit mehr für die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
Kinder zu haben. Das behindert den Wiedereinstieg. Das serung des Austauschs von strafregisterrecht-
kann es nicht sein. Meiner Meinung nach müssen wir lichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11667
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Europäischen Union und zur Änderung regis- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin (C)
terrechtlicher Vorschriften Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/5224 –
Netzneutralität im Internet gewährleisten –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f) Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflich-
Innenausschuss tungen und Sicherung von Mindestqualitäten
gesetzlich regeln
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den – Drucksache 17/5367 –
Handel mit illegal eingeschlagenem Holz Überweisungsvorschlag:
(Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
– Drucksache 17/5261 – Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
zung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäi- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
schen Parlaments und des Rates vom 6. Mai überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der
2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für Fall. Dann ist das so beschlossen.
die innergemeinschaftliche Verbringung von
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis h auf. Es
Verteidigungsgütern
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
– Drucksache 17/5262 – denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 32 a:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Verteidigungsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
(B)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- zu den Streitverfahren vor dem Bundesverfas- (D)
rung des Übereinkommens vom 11. Oktober sungsgericht 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10
1985 zur Errichtung der Multilateralen Inves-
– Drucksache 17/5398 –
titions-Garantie-Agentur
Berichterstattung:
– Drucksache 17/5263 – Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
Überweisungsvorschlag: Schwenningen)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lung auf Drucksache 17/5398, in den Verfahren eine Stel-
lungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten,
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevoll-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
mächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschluss-
kommen vom 1. Dezember 2009 zwischen der
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Bundesrepublik Deutschland und der Islami-
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Fraktion
schen Republik Pakistan über die Förderung
Die Linke hat sich enthalten, die übrigen Fraktionen ha-
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla-
ben zugestimmt.
gen
Tagesordnungspunkte 32 b bis 32 h. Wir kommen zu
– Drucksache 17/5264 – den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Tagesordnungspunkt 32 b:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Sammelübersicht 242 zu Petitionen
rung gewerberechtlicher Vorschriften – Drucksache 17/5211 –
– Drucksache 17/5312 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Überweisungsvorschlag: tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nommen.
11668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Derzeit wird uns durch die Freiheitsbewegungen in (C)
Vielen Dank, Herr Präsident! – Noch einmal herzli- der arabischen Welt ganz deutlich vor Augen geführt,
chen Glückwunsch von dieser Stelle aus, dass Sie jetzt wie enorm wichtig die Rolle einer vom Staat unabhängi-
unser neuer Präsident sind! gen Öffentlichkeit für die Entwicklung dieser Gesell-
schaften ist. Smartphones, Twitter und Facebook, aber
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: vor allem die mutigen Menschen in den arabischen Län-
Ja! Auch von uns! Das hat er verdient!)
dern tragen dazu bei, dass sich Freiheitsideen und Ge-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir erle- danken über Demokratie verbreiten können. Medien wie
ben heute täglich: Nichts ist globaler als der Austausch der Deutschen Welle kommt dabei eine ganz bedeutende
von Informationen und Nachrichten. Weil das so ist, ha- und wichtige Funktion zu. Wir vergessen zu leicht, dass
ben auch die Auslandsmedien eine ganz wichtige Auf- zwei Drittel der Menschen auf dieser Welt in Ländern le-
gabe: als Botschafter, als Wertevermittler und als Infor- ben, in denen es keine Informations-, Meinungs- und
mationsträger. Unsere Deutsche Welle spielt im großen Pressefreiheit gibt, wie sie für uns alltäglich sind. Diese
globalen Wettbewerb mit. Die internationale Medienpo- Menschen brauchen Unterstützung, und wir haben im
litik erfährt große Wertschätzung. Das sehen wir an der Ausschuss deutlich gemacht, dass wir sehr froh darüber
Zunahme der Zahl der Auslandssender. Ob der Iran, sind, dass wir durch die Präsenz der Deutschen Welle in
Russland, China, die USA oder eines von vielen weite- vielen Ländern, in denen es eine Pressezensur gibt,
ren Ländern: Heute versucht jeder, in dieser globalen durch die Möglichkeit einer umfassenden und pluralisti-
Welt, in der Weltöffentlichkeit seinen Platz zu finden schen Berichterstattung und durch Initiativen wie den
und für sein Land und seine Werte zu kämpfen, damit
Weblog Award „The BOBs“ und besonders auch durch
wir uns als Freunde in dieser Welt darstellen können.
die Deutsche-Welle-Akademie mit dazu beitragen kön-
Hillary Clinton hat in ihrem Parlament engagiert für nen, dass Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus
mehr Geld geworben und gesagt: Wenn wir nicht han- gefördert werden.
deln und wieder versuchen, eine Rolle zu spielen, sind
wir einem War of Information ausgesetzt. – Das hat Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem Inten-
nichts mit Krieg zu tun, sondern es geht einfach darum, danten Dank sagen, dass er gegen Zensur und gegen Ein-
im Kampf um die öffentliche Weltmeinung, im Kampf schränkungen der Pressefreiheit immer wieder das Wort
um Werte und um Demokratie seinen Einfluss geltend zu ergriffen hat. Das halten wir für richtig, und deshalb vie-
machen. Wenn man das so betrachtet, ist die Deutsche len Dank dafür!
Welle für uns eine ganz wichtige Stimme in dieser Welt-
öffentlichkeit. Sie ist das Instrument in diesem Spek- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
trum, das dazu beiträgt, dass wir ein wirklich positives und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
Deutschlandbild fördern können. Dafür herzlichen Dank
an die Deutsche Welle! Ich begrüße es, dass wir uns in der Stellungnahme da-
rauf einigen konnten, die Deutsche-Welle-Akademie
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP weiter zu fördern und uns gemeinsam dafür einzusetzen,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass notwendige ODA-Mittel dafür zur Verfügung ge-
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: stellt werden; denn ihr Wirken ist auch ein wichtiger
Auch von uns!) Beitrag zur auswärtigen Politik.
Die Stärkung dieses Instruments ist der Konsens un-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Welle
serer gemeinsamen Stellungnahme, und ich möchte
mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. hat einen schwierigen Reformprozess hinter sich, und sie
Wir haben eben vom Staatsminister gehört, dass bei der hat noch viele Herausforderungen vor sich. Es ist nicht
Deutschen Welle ein enormer Reformprozess notwendig einfach, Kostensteigerungen zu bewältigen, wenn der
ist, um in diesem globalen Wettbewerb mithalten zu Haushalt nicht wächst. Wir alle wissen, dass durch Re-
können. Es ist gut, wenn der Bundestag dahintersteht formen, wie sie in der Deutschen Welle notwendig sind,
und klarmacht, dass wir auf diese für uns wichtige auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen großen Verän-
Stimme in der Außenpolitik auch zukünftig nicht ver- derungsprozessen unterworfen werden. Das geschieht
zichten wollen. allein schon durch die Zusammenlegung von Online-,
Fernseh- oder Radioredaktionen.
Wenn wir unsere Beschlussempfehlung heute verab-
schiedet haben, sollten wir den Worten Taten folgen las- Deshalb hat die Sozialdemokratie, auch unsere Frak-
sen. Herr Staatsminister, ich kann Ihnen sagen, dass Sie tion, immer – auch in dieser gemeinsamen Stellung-
von unserer Seite die volle Unterstützung haben, wenn nahme – großen Wert darauf gelegt, dass diese Reform
es darum geht, die Deutsche Welle zu stärken. Sie haben sozialverträglich und transparent gestaltet wird, dass die
es gesagt: Sie ist unsere Visitenkarte in der Welt. Es ist Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle in
eine Visitenkarte in doppelter Hinsicht. In den Ländern, diesem Prozess als Partner auf Augenhöhe gesehen wer-
in denen es Nutzer der Deutschen Welle gibt, ist das Bild den und agieren können, dass sie ausreichend informiert
von Deutschland positiver und differenzierter. Aber die werden und dass es ausreichend Angebote zur Fort- und
Deutsche Welle hat auch eine andere Funktion. Sie ist
Weiterbildung gibt, um die Mitarbeiterinnen und Mitar-
Botschafterin gesellschaftlicher und kultureller Werte
wie Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit. beiter zu befähigen, auch in anderen Feldern weiterar-
beiten zu können; denn unser Ziel ist, dass betriebsbe-
(Beifall bei der SPD) dingte Kündigungen vermieden werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11671
Ulla Schmidt (Aachen)
(A) Ich fordere auch von dieser Stelle aus den Intendanten möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt erreicht. (C)
und die Gremienmitglieder, von denen einige im Deut- Dabei ist es egal, ob sie Meinungsmacher, Multiplikato-
schen Bundestag sitzen, auf – ich sehe den Kollegen Fritz ren aus der Bildungselite erreichen will, ob sie Unter-
Rudolf Körper aus meiner Fraktion dort sitzen, der ein nehmer erreichen will, die in Deutschland investieren,
sehr engagierter Verfechter der Rechte der Mitarbeiterin- ob sie junge Menschen erreichen will, die sich für
nen und Mitarbeiter ist; herzlichen Dank dafür –, dass sie Deutschland interessieren und vielleicht zu uns kommen
in diesem Prozess darauf achten, dass die notwendigen wollen, ob sie Touristen informieren oder mutige Frei-
Veränderungsprozesse sozialverträglich gestaltet werden. heitskämpfer unterstützen will.
Ich glaube, das sind wir, auch nach der gemeinsamen
Wir wollen, dass die Deutsche Welle auch weiterhin
Stellungnahme, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
uneingeschränkt den von ihr eingeschlagenen Weg ver-
der Deutschen Welle schuldig.
folgen und ihre Aufgabe der Unterstützung von Men-
An dieser Stelle danke ich der Deutschen Welle für schen, die für Freiheit kämpfen, gerade in den Transfor-
ihr Engagement in der Hinsicht, dass die Reform bzw. mationsstaaten, wahrnehmen kann. Deswegen sage ich
Umgestaltung der Deutschen Welle zukunftsgerecht auf der Deutschen Welle hier die uneingeschränkte Unter-
den Weg gebracht wird, um dem technologischen Wan- stützung durch die SPD-Fraktion zu.
del und dem veränderten Nutzerverhalten gerecht wer-
den und auch im internationalen Wettbewerb um die Ich bedanke mich.
Weltöffentlichkeit bestehen zu können. Ich nenne hier (Beifall bei der SPD, der FDP und dem
nur einige Stichworte: Zielgruppenausrichtung auf Infor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
mationssuchende und Multiplikatoren, mehrsprachige
Programme, Ausbau der Multiplattformstrategie, trime-
Vizepräsident Eduard Oswald:
diale Redaktionen. Ich glaube, das ist eine riesige Auf-
gabe, für die wir unseren Auslandssender stärken müs- Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. – Als
sen. Nächster steht unser Kollege Burkhardt Müller-Sönksen
von der Fraktion der FDP auf der Rednerliste.
An dieser Stelle deshalb ein klares Wort: Für diese
Aufgaben – Herr Staatsminister, Sie haben es angespro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
chen und Ihre Bereitschaft erklärt – braucht die Deutsche
Welle eine sichere finanzielle Basis. Sonst kann sie in Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
diesem Reformprozess nicht bestehen. Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister
Neumann! Sehr geehrter Herr Intendant Bettermann!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine russische Teil-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(B) nehmerin des Internationalen Parlaments-Stipendiums (D)
CDU/CSU)
erzählte mir, Herr Kollege Börnsen, neulich begeistert,
Herr Staatsminister, deshalb haben Sie unsere Unterstüt- wie sie die Programme der Deutschen Welle im
zung, wenn Sie nicht nur in Ihrem Haushalt, sondern Deutschunterricht ihrer Schule kennen- und schätzen ge-
auch gemeinsam mit den Ministern Westerwelle und lernt hat. Inzwischen spricht sie die deutsche Sprache
Niebel dafür Sorge tragen, dass das notwendige Geld da längst fließend und schätzt umso mehr die journalisti-
ist – schen Angebote der Deutschen Welle wie DW-TV und
das Internetportal DW-World.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr gut!)
Ihr Beispiel zeigt: Die Deutsche Welle wirkt, und sie
auch dann, wenn manche Reformen zunächst einmal
lebt, und das seit über 50 Jahren. Die Deutsche Welle er-
mehr Geld kosten, als sie einsparen –, damit langfristig
reicht mit ihren verschiedenen Angeboten wöchentlich
Synergieeffekte erzielt werden können. Das Geld dafür
86 Millionen Menschen – das ist mehr als die Einwoh-
muss da sein, wenn sich die Deutsche Welle langfristig
nerzahl Deutschlands – und gilt in Umfragen als vielfäl-
behaupten können soll.
tig und glaubwürdig. Darauf können wir stolz sein. Mit
In der kommenden Zeit müssen die Koalitionsfraktio- ihrem Auftrag zur Wertevermittlung orientiert sie sich an
nen ihren Worten deshalb auch Taten folgen lassen. Wir unseren außenpolitischen Interessen und bewahrt gleich-
werden darauf bestehen, dass die Deutsche Welle nach zeitig durch eine staatsferne Organisation ihre journalis-
dem Deutsche-Welle-Gesetz finanziert wird und dass die tische Glaubwürdigkeit.
Forderung, mehr ODA-Mittel zur Verfügung zu stellen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
umgesetzt wird.
Die Deutsche Welle ihrerseits hat mit ihrer Aufgaben-
Dabei kann man die Verantwortung nicht auf einzelne
planung und den darüber hinausreichenden Konzepten
Haushaltspolitiker schieben, sondern Sie müssen mit der
auf die veränderte Medienlandschaft reagiert und wird
Mehrheit, für die Sie sorgen müssen, entscheiden. Dabei
sich zukünftig noch mehr auf ihre Kernkompetenz und
haben Sie auf jeden Fall unsere Unterstützung.
ausgewählte Zielgruppen konzentrieren. Nach wie vor
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform und die besteht ein großes Finanzierungsdefizit – das wollen wir
entsprechende finanzielle Ausstattung sind ein Muss für nicht verheimlichen –, dem die Deutsche Welle mit Kon-
die Deutsche Welle, damit sie den gesamtgesellschaftli- solidierungsmaßnahmen wirksam begegnet und begeg-
chen Auftrag für Deutschland wahrnehmen und unsere nen wird. Da kaum weiterer Spielraum besteht, ist nun-
gesellschaftlichen Werte vermitteln kann und damit sie mehr eine umfassende Strukturreform erforderlich.
11672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Burkhardt Müller-Sönksen
(A) Die von der Deutschen Welle vorgeschlagene Neu- ihr ein zeitgemäßes Programm und zeitgemäße Übertra- (C)
ausrichtung ist zukunftsweisend und verdient unser aller gungswege!
Unterstützung und Respekt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Sie wird nicht von uns aufgezwungen, sondern stammt Vizepräsident Eduard Oswald:
aus dem eigenen Hause. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht un-
Meine Bitte um Unterstützung richte ich an dieser sere Kollegin Kathrin Senger-Schäfer von der Fraktion
Stelle aber auch an die Abgeordnetenkollegen in den Die Linke. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Bundesländern, damit schnellstmöglich ein Modell für (Beifall bei der LINKEN)
die lizenzkostenfreie Nutzung von Produktionen der öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entwickelt wird. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr gut! Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Richtig!) Kollegen! Die Deutsche Welle ist eine gemeinnützige
Anstalt des öffentlichen Rechts für den Auslandsrund-
Hier werden der Deutschen Welle nach meiner Meinung funk. Gesetzlich ist sie dazu verpflichtet, alle vier Jahre
völlig unnötig hohe Kosten aufgebürdet. eine Aufgabenplanung zu erstellen. Genau deshalb sind
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier,
dazu verpflichtet, zu dieser Planung selbst Stellung zu
Der Weg, den die Deutsche Welle mit ihren Reform- nehmen.
vorschlägen beschritten hat, ist noch lang und vor allem
Was bedeutet das nun für das Parlament bis 2013? Für
steinig. Damit der Umbau hin zu schlankeren und effek-
das Parlament waren – das ist schon öfter angesprochen
tiveren Strukturen gelingt, müssen alle Bereiche einbe-
worden – die Unabhängigkeit des Journalismus und die
zogen werden. Die erfolgreiche Programmarbeit beweist
Staatsferne des Rundfunks bislang zu Recht das Funda-
das Vertrauen zwischen der Senderführung – ich meine
ment für die Meinungsbildung mündiger Bürgerinnen
damit nicht nur die Intendanz, sondern alle Leitungs-
und Bürger. Beides soll nun allerdings auf einmal nicht
funktionen – und den Mitarbeitern. Wir haben deswegen
mehr gelten. Sie, meine Damen und Herren der Koali-
keine Sorge, Frau Kollegin Schmidt, bezüglich der So-
tion, fordern, dass die Deutsche Welle mit den Ministe-
zialverträglichkeit der notwendigen Maßnahmen. Aber
rien zusammenarbeitet, die für die deutsche Außenpoli-
(B) darauf sollte man in jedem Fall achten. Zur Qualität ge- tik zuständig sind, mit dem Auswärtigen Amt sowieso, (D)
hört auch, dass alle Mitarbeiter zufrieden sind.
aber auch mit dem Verteidigungs- und mit dem Wirt-
Auch bei dem Reformkurs bei der Programmgestal- schaftsministerium. Die Bedürfnisse der deutschen Au-
tung braucht die Deutsche Welle starken Rückenwind. ßenpolitik sollen sich mit den Möglichkeiten des Sen-
Wir Liberalen begrüßen dabei vor allem die Konzentra- ders verbinden. Bei den Schwerpunkten der medialen
tion auf Kernaufgaben. Wir wollen der Deutschen Welle Präsenz sollen außenpolitische Interessen beachtet wer-
sowohl in der Programm- als auch in der Verbreitungs- den. Im Klartext heißt das doch, dass die Journalistinnen
strategie einen Gestaltungsspielraum einräumen, damit und Journalisten augenscheinlich ihre Sendemanuskripte
sie die jeweilige Zielgruppe, auf die es uns ankommt, den genannten Ministerien vorlegen sollen.
bestmöglich erreichen kann. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war
Für uns ist das Angebot von 30 Sprachen kein früher so!)
Dogma. Ausgangspunkt soll immer die Erreichbarkeit Was aber hat das mit unabhängigem Journalismus zu
der avisierten Zielgruppe sein. Wichtig ist für uns die tun? Das fasse ich nicht. Erklären Sie es mir bitte! Zu-
Zielgruppe in den Kernregionen. Hier ist meiner Mei- sammenarbeit mit Ministerien, Verbindung von Bedürf-
nung nach eine neue Schwerpunktsetzung notwendig. nissen, Beachtung von Interessen, das ist doch nichts an-
Die Deutsche Welle bietet Hörfunk auf Griechisch an, deres als ein Eingriff in die journalistische Freiheit.
musste aber die Fernsehnachrichten für Afghanistan (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth
trotz sehr erfreulicher Quoten einstellen. Ich glaube, die- [Kyffhäuser] [FDP]: Ein interessantes Gesell-
ses Sprachregime gehört außenpolitisch auf den Prüf- schaftsbild haben Sie!)
stand.
Ich sage: Wenn Ministerialbeamte den Journalistinnen
Entsprechendes gilt für die Einstellung von Übertra- und Journalisten den Griffel führen, ist von journalisti-
gungswegen. Frau Kollegin Schmidt, Sie hatten gerade scher Freiheit keine Rede mehr. Frau Schmidt, journalis-
von Nutzern statt von Zuhörern oder Zuschauern gespro- tische Freiheit sieht für uns anders aus. Pressefreiheit und
chen. Durch diesen Versprecher – oder vielleicht war es unabhängiger Journalismus lassen sich nicht mit außen-
ja auch Absicht – haben Sie die neue Strategie der Deut- politischen Aufgaben, die von Ministerien diktiert wer-
schen Welle vorweggenommen. den, verbinden.
Die Deutsche Welle ist unsere Visitenkarte, unser (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Schaufenster über Deutschland in die Welt. Erlauben wir Burkhardt Müller-Sönksen [FDP])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11673
Kathrin Senger-Schäfer
(A) Wenn ich außerdem lesen muss, dass die Bundesregie- (Beifall bei der LINKEN) (C)
rung die Deutsche Welle als „mediales Instrument zur
Positionierung Deutschlands angesichts veränderter Rah- Vizepräsident Eduard Oswald:
menbedingungen auf den internationalen Medienmärk- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächste hat unsere
ten“ betrachtet, dann kann ich kaum davon ausgehen, Kollegin Tabea Rößner von der Fraktion Bündnis 90/Die
dass es sich hier um einen sprachlichen Lapsus handelt. Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Rößner.
Sie reden wirklich davon, dass der Auslandsrundfunk ein
mediales Instrument ist. Sie reden darüber so, als hätten
Sie inzwischen Eingriffsrechte, als wäre es selbstver- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ständlich, den Journalistinnen und Journalisten staatli- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen
cherseits vorzuschreiben, was sie über das deutsche Aus- und Herren! Lieber Herr Bettermann! Der Staatsminister
landsbild zu berichten haben. Das finde ich unglaublich. hat schon das Bild von der „modernen medialen Visiten-
karte Deutschlands in der Welt“ gezeichnet. Eine Visi-
(Beifall bei der LINKEN) tenkarte, die alles leistet, was die Deutsche Welle als
Ich frage Sie: Welche Auffassung von Staatsferne Auslandssender laut Gesetz leisten soll, müsste ungefähr
schwebt Ihnen denn hier vor? Ich erinnere in diesem Zu- so aussehen: gedruckt auf schwerem Diplomatenkarton
sammenhang an den Fall Nikolaus Brender, der auf- mit schicker Prägung und Goldrand, Hologramm wo-
grund politischen Drucks vonseiten der CDU seinen Hut möglich, und auf Knopfdruck spricht sie den Text in
als ZDF-Chefredakteur nehmen musste. 30 Sprachen.
So ungefähr sehen die Aufgabenplanung der Deut-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir reden schen Welle und ihr Auftrag aus: Sie soll die Medienprä-
aber über die Deutsche Welle!) senz Deutschlands im Ausland sicherstellen, sie soll die
– Dazu komme ich gleich. – Ich erinnere auch daran, Positionen und Werte Deutschlands vermitteln, demo-
dass Ulrich Wilhelm, der Pressesprecher von Angela kratische Entwicklungen, einen rechtsstaatlichen Staats-
Merkel war, heute Intendant des Bayerischen Rundfunks aufbau in der Welt sowie die deutsche Sprache und Kul-
ist. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass das politische tur fördern. Zusätzlich soll sie auch noch einen wesent-
Geschrei 2008 um die angeblich tendenziöse China-Be- lichen Beitrag zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit leis-
richterstattung der Deutschen Welle nicht dazu beigetra- ten sowie den Tourismus fördern. Das ist ein ganz schön
gen hat, die Unabhängigkeit des Senders zu stärken. breites Portfolio. Natürlich ist das ein legitimer Wunsch
der Politik; aber die Deutsche Welle ist nicht der
Das, was die Bundesregierung hier auf den Tisch ge- Wunschbrunnen der Nation, sondern sie ist unser Aus-
legt hat, wird von SPD und Bündnis 90/Die Grünen un- landssender und trotz ihrer schwierigen Lage ein sehr
(B) terstützt. Das verstehe ich überhaupt nicht. guter. (D)
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Meine Fraktion fordert dagegen in ihrem Änderungsan-
CDU/CSU)
trag, dass der Deutschen Welle die journalistische Unab-
hängigkeit ohne Wenn und Aber garantiert wird. Das Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten hervor-
heißt konkret: keinerlei Vorschriften zur Zusammenar- ragende Arbeit, um alle Anforderungen zu erfüllen. Re-
beit mit Ministerien, keine Vorschriften zur Beachtung gelmäßig werden Programmbeiträge der Deutschen
von außenpolitischen Interessen, von niemandem. Welle mit Preisen ausgezeichnet. Die Journalistenausbil-
dung dort hat einen ganz ausgezeichneten Ruf. Aber die
Der Vorschlag von Schwarz-Gelb verstößt eindeutig
Politik macht es dem Sender mit den gesetzlichen Rah-
gegen das Deutsche-Welle-Gesetz. Ich zitiere aus § 4 a
menbedingungen nicht gerade leicht, wenn nicht gar un-
Abs. 1:
möglich, allen Ansprüchen gleichermaßen gerecht zu
Die Deutsche Welle erstellt in eigener Verantwor- werden; denn eines ist klar: Das Budget des Senders
tung unter Nutzung aller für ihren Auftrag wichti- steht in keinem Verhältnis zu der breiten Palette von An-
gen Informationen und Einschätzungen, insbeson- forderungen. Deshalb müssen wir uns sehr deutlich die
dere vorhandenem außenpolitischen Sachverstand, Frage stellen: Was soll und kann die Deutsche Welle für
eine Aufgabenplanung für einen Zeitraum von vier das Geld, das sie bekommt, tatsächlich leisten?
Jahren.
Mehr Geld? Das ist angesichts der Haushaltssituation
Auch Sie, meine Damen und Herren, müssen sich an unrealistisch und schwierig. Wenn man viel will, aber
dieses Gesetz halten. Wenn Sie jedoch inzwischen der nur wenig investiert, besteht immer die Gefahr, dass vor
Meinung sind, dass sich journalistische Unabhängigkeit allem eines darunter leidet: die Qualität. Im Fall der
und Staatsferne mit dem Begriff des „medialen Instru- Deutschen Welle wäre das vor allem die Qualität des
ments“ decken, dann müssen Sie mir einmal Ihre neue Journalismus oder der Ausbildung. Damit genau das
Definition von Rundfunkhoheit erklären. nicht passiert, hat der Intendant einige sehr vernünftige
Vorschläge vorgelegt, wie die Deutsche Welle zukunfts-
Die Linke jedenfalls wird dem vorliegenden Ent-
fähig gemacht werden kann.
schließungsvorschlag nicht zustimmen. Es ist nicht so,
dass nicht auch wir die Deutsche Welle wertschätzen, Es ist eine richtige Entscheidung, Schwerpunkte zu
aber wir stehen für unabhängigen Rundfunk ohne Wenn setzen, sowohl regional als auch im Hinblick auf das
und Aber. Programm, die Übertragungswege und die Zielgruppen,
11674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Tabea Rößner
(A) die der Sender erreichen will. Dabei setzt die Deutsche sich die Deutsche Welle ganz auf das konzentrieren, was (C)
Welle stark auf das Internet. Das wurde eben schon er- sie am allerbesten kann: journalistisch gut arbeiten.
wähnt. Sie passt sich also einer veränderten Mediennut-
zung in den allermeisten Teilen der Welt – das muss man Vielen Dank.
dazu sagen – an. Das ist richtig. Sie muss aber auch auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
passen, dass sie in den unendlichen Weiten des Internets sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
gut sichtbar und auffindbar ist. Gerade in Transforma- SPD und der FDP)
tionsstaaten wie jetzt im arabischen Raum – das haben
wir gesehen – oder in Schwellenländern sind die Men-
schen politisiert, sie wollen diskutieren. Dort muss die Vizepräsident Eduard Oswald:
Deutsche Welle zum Beispiel auch in sozialen Netzwer- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht –
ken präsent sein, interaktive Angebote machen und poli- er ist schon auf dem Wege hierher, also bevor er aufgeru-
tische Debatten multimedial begleiten. Positive Bei- fen wurde – Kollege Reinhard Grindel. Bitte schön, Kol-
spiele dafür gibt es bereits, zum Beispiel die Portale der lege Reinhard Grindel, für die Fraktion CDU/CSU.
Deutschen Welle in Farsi oder die Dialogplattform Qan-
tara. Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Lieber Herr neugewählter Präsident! Liebe Kollegin-
Tagesaktuelle Berichterstattung, zumal in Krisensitua- nen und Kollegen! Ich finde, dass die Entschließung, die
tionen, kann die Deutsche Welle mit ihrem Budget nur in
wir vorlegen, durch und durch ehrlich ist. Wir sagen
Ansätzen leisten. In diesem Zusammenhang bin ich sehr nämlich: Die Mittel für die Deutsche Welle werden sta-
froh über das eindeutige Signal, das von unserer Be- bil bleiben; aber es wird in den kommenden Jahren auch
schlussempfehlung ausgeht, dass nämlich die öffentlich- nicht viel mehr geben, und das ist eigentlich zu wenig,
rechtlichen Sender aufgefordert werden, enger mit der um all das zu leisten, was die Deutsche Welle leisten
Deutschen Welle zusammenzuarbeiten. könnte, leisten müsste. – Wenn man ehrlich ist, dann
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man sagen: Als wir das letzte Mal hier im Bundes-
und bei der FDP) tag über die Aufgabenplanung der Deutschen Welle ge-
sprochen haben, sind alle möglichen Prioritäten formu-
Herr Staatsminister, wenn Sie diesen Weg zusammen mit liert und Wünsche angemeldet worden. Mit all dem ist
den Ländern gehen, dann haben Sie unsere Unterstüt- die Finanzausstattung im Grunde nicht in Deckung zu
zung. Das betrifft die Übernahme von Sendungen aus bringen. Jetzt machen wir das, was die Mitarbeiter der
dem öffentlich-rechtlichen Programm, vor allem den Zu- Deutschen Welle und auch ihr Intendant erwarten kön-
(B) griff auf das Korrespondentennetz und die Infrastruktur. nen: Wir sagen, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollen. (D)
Ich hoffe, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen entgegen-
Der erste Schwerpunkt liegt bei den Übertragungswe-
kommend zeigen. Dies wäre nicht nur für die Deutsche
gen. In der Tat, die Zukunft der Deutschen Welle liegt im
Welle ein großer Gewinn.
Fernsehen, und bei DW-World, also im Onlineangebot.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Gerade in diesen Tagen erleben wir, dass die Kraft der
des Abg. Siegmund Ehrmann [SPD]) Bilder einfach durch nichts zu ersetzen ist. Wenn wir un-
sere Sicht auf die Probleme der Welt vermitteln wollen,
Die vorliegende Beschlussempfehlung soll meinem dann kommen wir nicht darum herum, bei der Auseinan-
Verständnis nach vor allem eine Wirkung haben: dem In- dersetzung auch auf die Wirkkraft der Bilder zu setzen
tendanten bei seinen Reformbemühungen den Rücken zu und dieses Medium besonders zu bedienen. Die große
stärken. Die Unruhe, die in der Deutschen Welle vorhan- Bedeutung der Onlineangebote ist hier schon genannt
den ist, wurde schon angesprochen. Diese Unruhe ist worden.
verständlich. Wenn eine große Umorganisation eines
Unternehmens geplant ist, dann sorgt das für Verunsi- Angesichts des Lobs, das vielfach gespendet worden
cherung der Beschäftigten, gerade wenn damit mögli- ist, will ich an dieser Stelle sagen: Ich finde, dass vor al-
cherweise der Abbau von Arbeitsplätzen verbunden ist. len Dingen DW-World in den letzten Jahren ein hervor-
Ich habe nach Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mit- ragendes Angebot präsentiert hat. Ich will darüber
arbeitern der Deutschen Welle die begründete Hoffnung, hinaus deutlich sagen: Dass das dortige Programm zu-
dass die Führungsebene und das Personal gemeinsam ei- nächst in englischer Sprache präsentiert wird, ist eben-
nen guten Weg gehen werden. Ein solcher Wandel kann falls richtig. Der zweite Schwerpunkt, den wir setzen, ist
nämlich nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen, nämlich, dass wir uns auf diejenigen Informations-
und zwar in eine Richtung. suchenden konzentrieren, die wir in erster Linie errei-
chen wollen: auf ausländische Multiplikatoren,
Unstrittig ist bei allen Beteiligten, dass sich die Deut- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sche Welle an die finanziellen und medienpolitischen
Gegebenheiten anpassen muss, damit sie ihre Aufgaben auf Menschen, die in Deutschland studiert haben, die
weiterhin erfüllen kann. Dabei können wir als Gesetzge- sich für Deutschland interessieren und die für demokrati-
ber sie unterstützend begleiten, indem wir ihr Aufgaben- sche Anregungen, für demokratisches Gedankengut, für
profil besser spezifizieren und auch priorisieren. Wir Stellungnahmen aus demokratischen Ländern offen sind,
sollten unsere mediale Visitenkarte etwas schlichter, da- die wissen wollen, wie wir die großen Herausforderun-
für aber klar und übersichtlich gestalten. Dann könnte gen der Welt bestehen wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11675
Reinhard Grindel
(A) Es ist eben nicht mehr der Deutsche im Ausland, auf Lassen Sie mich ein Letztes zur „Deutsche-Welle- (C)
den sich die Deutsche Welle konzentrieren muss; Akademie“ sagen. Ich finde das, was dort geleistet wird,
schließlich kann er in fast allen Ecken der Welt die Sen- unendlich wertvoll. Die anwesende Staatssekretärin aus
der, die ihn interessieren, über die Onlineangebote ver- dem Entwicklungshilfeministerium darf ich ermuntern,
folgen. Die Satellitentechnik ermöglicht es, viele deut- sich dort finanziell noch mehr zu engagieren.
sche Fernsehsender im Ausland zu empfangen. Der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Deutsche im Ausland wird von dem Informationsme-
der FDP sowie der Abg. Ulla Schmidt
dium bedient, auf das er sich auch in Deutschland stützt.
[Aachen] [SPD])
Insofern ist es eben der ausländische Multiplikator – der-
jenige, der sich im Ausland für Deutschland interessiert –, Es gibt manchmal die Diskussion über die Frage: Dürfen
den wir in erster Linie erreichen wollen. Deswegen ist es wir Journalisten aus Diktaturen, die bei Staatssendern ar-
richtig, das Angebot von DW-World auf Englisch zu prä- beiten, ausbilden? Ich bekenne mich ausdrücklich dazu:
sentieren. Ja, auch die wollen wir ausbilden;
Drittens sollten wir Schwerpunkte in bestimmten Re- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gionen setzen. Wir können nicht alle Regionen in glei- Richtig!)
cher Weise bedienen, sondern wir müssen Schwerpunkte denn es macht Sinn, dass ihnen gezeigt wird, wie demo-
setzen. Dabei handelt es sich – das muss man gerade in kratischer Journalismus funktioniert. In den Wochen, in
diesen Tagen nicht besonders begründen – um den arabi- denen sie in der Akademie sind, soll ihnen ein bisschen
schen Raum, um Afrika, um Lateinamerika und, wie wir Freiheit um die Nase wehen. Vor allen Dingen sollen sie
ausdrücklich sagen, um Russland. Es handelt sich nicht einen Austausch mit anderen Journalisten aus Ländern
um Südosteuropa und die anderen osteuropäischen Län- mit einer freien Presse bzw. Meinungsfreiheit haben, um
der. Das heißt wohlgemerkt nicht – das ist in manchen sich ein bisschen abzuschauen, wie es sein kann, wenn
öffentlichen Debatten ein bisschen durcheinander gegan- man ohne Zwang und Zensur seiner Profession nach-
gen –, dass wir auf Sprachen verzichten würden. Wir geht. Insofern sage ich ausdrücklich: Es ist auch in Ord-
bleiben bei dem Sprachenangebot – den 30 Sprachen – nung, wenn die Deutsche-Welle-Akademie Journalisten
im Internet. aus Diktaturen ausbildet; denn das kann dazu führen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass demokratischer Geist in diese Sender – auch wenn
sie dem Staat gehören – einzieht.
Aber gerade was unsere Fernsehangebote angeht, setzen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wir Schwerpunkte. Das ist auch richtig.
Der Deutschen Welle und ihren Mitarbeitern herzli-
(B) Ich meine übrigens – das ist vielleicht ein neuer Ge- (D)
chen Dank. Ich sage natürlich auch dem Staatsminister
danke –, dass wir auch bei unseren Fernsehangeboten re- herzlichen Dank dafür, dass er die Deutsche Welle nicht
gionsspezifische Sendungen brauchen. In Bezug auf die zum Steinbruch seines Kulturhaushalts gemacht, sondern
zentrale Informationssendung Journal der Deutschen sie gestärkt hat. Das ist wichtig, und das ist gut für unser
Welle können heute journal oder die Tagesthemen nicht Schaufenster in die Welt.
die Benchmark sein. Ein Koalitionsstreit ist schon beim
heute journal nicht schön; aber im DW-Journal hat der Herzlichen Dank.
überhaupt nichts verloren; denn die Menschen im arabi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schen Raum, in Afrika oder Lateinamerika interessiert
das nicht. Die interessiert – gerade in Asien –, wie wir
die erneuerbaren Energien nutzen und welche wirt- Vizepräsident Eduard Oswald:
schaftlichen Antworten wir auf die Finanz- und Welt- Vielen Dank, Kollege Reinhard Grindel. – Als Nächs-
marktkrise geben. ter spricht unser Kollege Patrick Kurth für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth.
Ganz aktuell wäre zum Beispiel von Bedeutung, dass
wir breit über die Fußballweltmeisterschaft der Frauen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
berichten, dass wir auch berichten, dass Frauen und
Mädchen gerade mit Migrationshintergrund in unseren Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Vereinen ein ganz normaler Teil der Gesellschaft sind Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
und sich hier – ob mit oder ohne Kopftuch – verwirkli- ren! Herr Staatsminister! Hallo, Frau Grütters! Herr
chen. Staatsminister, wir alle haben eigenständig – nicht von-
einander abgeschrieben – ein Zitat in unsere Reden ein-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gestreut, nämlich dass die Deutsche Welle die mediale
der FDP sowie der Abg. Ulla Schmidt Visitenkarte Deutschlands ist. Wenn das so viele unab-
[Aachen] [SPD]) hängige Institutionen sagen, muss tatsächlich etwas da-
ran sein.
Insofern erwarte ich, dass nicht nur zur Primetime das
Journal in der entsprechenden Sprache gesendet wird; Ich will einige ergänzende Gedanken vortragen. Die
die auf die meiste Akzeptanz stößt, wir sollten auch Deutsche Welle ist auch ein ganz wichtiger Akteur in der
überlegen, dass unser Angebot im Fernsehbereich für auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie ist eine
Asien ein anderes sein muss als für Afrika oder Latein- Botschafterin und eine Diplomatin Deutschlands im
amerika. Ausland. Somit gehört auch sie in starkem Maße – das
11676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Bernhard Kaster
(A) chung begründet. Er enthält also einen Generalverdacht Was die Arbeitspraxis unseres Parlaments angeht, so (C)
gegen den Deutschen Bundestag. Bestechung und Kor- bin ich persönlich der Auffassung, dass wir alle mitei-
ruption werden jedoch – ich denke, da sind wir uns hier nander – ob Regierungsfraktionen oder Oppositionsfrak-
im Hause einig – mit Strafrecht bekämpft und nicht mit tionen – durchaus sehr stolz auf den Deutschen Bundes-
irgendwelchen Registern oder Listen. tag sein können; denn dies ist ein Arbeitsparlament, in
dem viele Kolleginnen und Kollegen sich im Rahmen ei-
Aber jetzt zu der Frage: Welcher Lobbyismus soll hier nes Berichterstattersystems spezialisiert haben und daher
bekämpft oder besser kontrolliert werden? In Ihren An- die Debatten auch auf hohem Niveau stattfinden. Das ist
trägen machen Sie richtigerweise deutlich, dass die nicht unbedingt die Tradition in allen Parlamenten.
Übergänge zwischen richtig wahrgenommener Interes-
senvertretung in einer pluralistischen Gesellschaft und Deswegen muss auch ein Wort zum Selbstverständnis
mit unzulässigen Mitteln massiv manipulierter Interes- unseres Parlaments und zum Selbstverständnis, was das
sendurchsetzung fließend sein können. Die Wirklichkeit Abgeordnetenmandat angeht, gesagt werden.
ist doch die, dass jede Kollegin, jeder Kollege im gutge- (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, eben!)
meinten Sinne des Wortes Lobbyist, Bürgerlobbyist,
Vertreter von Interessen seines Wahlkreises oder auch Mit wem ich als Abgeordneter Gespräche führe oder
seines gesellschaftspolitischen Hintergrundes ist. Genau nicht, mit wem ich in Kontakt treten will oder nicht, ent-
diese Vielfalt von Interessen muss dann zu richtigen Ab- scheide ich als freier Abgeordneter und ohne irgendwel-
wägungen führen. Das führt dann letztlich auch zu guter che Regulierungen über Listen.
Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alles Ver- Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
harmlosung!) Wer will das bestreiten? – Jerzy Montag
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bestreitet
Ich will jetzt zur Praxis kommen. Ich erinnere mich das? – Zuruf von der LINKEN: Das soll auch
daran, dass wir hier im Plenum einmal die Änderung des so bleiben!)
Schornsteinfegergesetzes beraten haben. Da sind viele
Kollegen von Verbandsvertretern angesprochen worden, Der Deutsche Bundestag hat bereits seit 1972 ein
und zwar von Verbandsvertretern aus dem Bereich des Lobbyistenregister. Der Bundestagspräsident führt eine
Schornsteinfegerwesens und von Verbandsvertretern des öffentliche Liste, in die sich Verbände eintragen lassen
Heizungsinstallationshandwerks. Deren Interessen wa- können, um ihre Interessen gegenüber dem Bundestag
ren durchaus unterschiedlich. Es war für die Kollegen oder der Bundesregierung zu vertreten. Zu den Angaben
durchaus wissenswert, verschiedene Positionen zu einer – das sind sehr viele – gehören Name und Sitz des Ver-
(B) Gesetzesänderung zu erfahren. So funktioniert das, und bandes, die Zusammensetzung von Vorstand und Ge- (D)
so ist das auch richtig. schäftsführung, sein Interessenbereich, Mitgliederzahl,
die Anzahl der angeschlossenen Organisationen, die Na-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hätten Sie men der Verbandsvertreter. Das Ganze wird ständig ak-
nicht in die Liste aufnehmen müssen!) tualisiert. Der Eintrag in diese Liste ist vor allem eine
Voraussetzung für die Teilnahme an Anhörungen.
Sie werden wahrscheinlich sagen, hier geht es nicht
um Schornsteinfegerverbände oder Handwerksverbände. Zum Thema Transparenz: Diese Liste ist zudem im
Internet und im Bundesanzeiger veröffentlicht. In der
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!) bereits bestehenden Liste sind über 2 000 Verbände re-
Hier müssen die üblichen Verdächtigen ran. Das ist dann gistriert. Hierzu bedarf es wirklich keiner weiteren Er-
die Pharmaindustrie. Das sind Energiekonzerne. Das ist gänzung, bedarf es nicht eines solchen Schaufensteran-
die Rüstungsindustrie usw. trages, der auch nicht praktizierbar ist. Er sieht ein
bürokratisches Monster vor. Außerdem sollen die Anga-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau! Richtig!) ben alle drei Monate aktualisiert werden. Wir wissen
Ein solches Bild wird hier gemalt. doch alle, mit wem wir sprechen, wer uns gegenüber-
sitzt, und wir wissen auch, richtig abzuwägen.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, egal über
(Raju Sharma [DIE LINKE]: Dann sagen Sie
welchen Lobbyismus wir sprechen; wir müssen zur
zweiten Frage kommen: Können Interessen, die vorge- es den Leuten!)
bracht werden, tatsächlich von Abgeordneten unbemerkt Es kommt ja nicht darauf an, mit wem man spricht, son-
und wissentlich mit nicht korrekten Mitteln durchgesetzt dern es kommt darauf an, wie man mit den Dingen um-
werden? Damit sind wir wieder bei der Parlamentspraxis geht.
hier im Haus.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann kann man
Wir haben die erste, zweite, dritte Lesung. Wir haben das mit den Gesprächen besser prüfen!)
Beratungen in fraktionsinternen Arbeitsgruppen. Wir ha-
Die Übergänge zwischen gutem oder schlechtem Lobby-
ben Beratungen in den Ausschüssen. Wir haben Anhö-
ismus sind fließend.
rungen auf der Basis von Minderheitenrechten. Wir ha-
ben hier immer den Streit zwischen verschiedenen Inte- Deswegen fasse ich zusammen: Die Fraktionen im
ressen, die abzuwägen sind und über die wir als Abge- Deutschen Bundestag – und da schließe ich ausdrücklich
ordnete entscheiden. die Oppositionsfraktionen mit ein – wissen sehr wohl
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11681
Bernhard Kaster
(A) mit Lobbyinteressen umzugehen, sowohl im Guten wie Zum anderen sage ich, dass wir unbedingt mehr Trans- (C)
auch im Schlechten. Das kann das deutsche Parlament. parenz beim Einsatz Externer in den Ministerien benöti-
Das muss das Selbstverständnis des deutschen Parla- gen.
mentes sein. Deswegen bedarf es keiner weiteren Ergän-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
zung der bereits bestehenden Liste.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
Das ist wichtig, um unmissverständlich klarzuma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – chen, dass unser Land nicht von Lobbyisten regiert wird,
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir nehmen sondern dass immer noch der Deutsche Bundestag und
bei der nächsten Besuchergruppe Ihre Rede als die von ihm gewählte Bundesregierung die Geschicke
Beispiel für eine Schaufensterrede!) dieses Landes in der Hand haben.
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Man merkt es
Vizepräsident Eduard Oswald: nicht!)
Vielen Dank, Kollege Bernhard Kaster. – Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege An die Kolleginnen und Kollegen der Union gerich-
Michael Hartmann. – Bitte schön, Kollege Michael tet: Wir waren übrigens bei diesem Thema einmal sehr
Hartmann. weit, und zwar in der letzten Wahlperiode. Im Innenaus-
schuss hatten wir uns – sehr geehrter Herr Dr. Uhl, Sie
(Beifall bei der SPD) erinnern sich – schon fast auf einen Antrag verständigt,
der für den Einsatz Externer strengere Regeln definieren
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): wollte. Das Vorhaben wurde leider auf den letzten Me-
Sehr geehrter Herr Präsident! An Ihr Gesicht hat man tern ausgebremst. Ich will damit sagen: Auch Sie waren
sich schnell gewöhnt. so weit, und ich glaube, auch die Kollegen der FDP
– Herr Stadler hat jetzt auf der Regierungsbank Platz ge-
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und nommen – haben eingesehen, dass Handlungsbedarf be-
Kollegen! Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege steht. So ist es auch.
Kaster, ich fand das sehr gut, was Sie eingangs erwähn-
ten, Um nicht missverstanden zu werden: Beim Einsatz
Externer ist zwischenzeitlich eine Menge geschehen,
(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) und zwar deshalb, weil infolge eines Berichts des Rech-
nämlich die Idee, einmal Schulklassen mit diesem Thema nungshofes und unserer parlamentarischen Aktivitäten
zu konfrontieren. Denn gerade Schulklassen – das erlebe mittlerweile halbjährlich im Haushaltsausschuss und im
(B) ich bei Schulklassen aus unterschiedlichen Regionen Innenausschuss über Art und Umfang des Einsatzes von (D)
und unterschiedlichen Jahrgängen – empfinden das Externen berichtet wird. Und siehe da: Seither ist die
Thema durchaus als ein brennendes. Man bekommt ge- Zahl der externen Beschäftigten in erheblichem Maße
legentlich schon die Frage gestellt, ob unsere Republik zurückgegangen. Demnach war der parlamentarische
eine gekaufte Republik ist. Druck gut, notwendig und keineswegs überflüssig. Las-
sen Sie uns auf diesem Weg weitergehen; denn Hand-
(Dr. Eva Högl [SPD]: So ist es! – Bernhard lungsbedarf besteht nach wie vor.
Kaster [CDU/CSU]: Sie müssen die richtige
Antwort geben!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Das ist eine Ansicht, die wir beide nicht teilen wer- Das will ich Ihnen gerne begründen. Damit kein
den. Weil aber dieses Bild in der Welt ist, müssen wir Missverständnis entsteht: Ich denke da – sehr geehrter
auch fragen, warum es in der Welt ist. Deshalb, sehr ge- Herr Ruppert, Sie werden noch die Chance haben, zu
ehrter Herr Kaster, sage ich Ihnen gleich zu Beginn: Es antworten, und auch Sie, Herr Schuster – auch an frühere
geht nicht darum, dass das Vorbringen von Interessen als Regierungen, auch an Regierungen, an denen Sozialde-
illegitim gebrandmarkt wird. Interessen sollen auf uns mokraten beteiligt waren. Das sage ich ausdrücklich.
einströmen. Es geht vielmehr darum, dass die versteckte Jetzt sind wir aber in einer Phase, in der sich vieles ver-
und damit nicht transparente Einflussnahme schärfstens bessert und verändert hat. Eine Ausnahme bilden jedoch
zurückgewiesen oder aber offengelegt werden muss. zwei Ressorts, und zwar ausgerechnet FDP-geführte
Ressorts und ausgerechnet im Zusammenhang mit dem
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BDI.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Warum, frage ich Sie, sind über zwei Jahre hinweg
Wir reden bei diesem Thema schließlich nicht über externe Beschäftigte, die weiterhin vom BDI bezahlt
eine Nebensache und auch nicht über eine Randfrage, werden, ausgerechnet im Bundesministerium für wirt-
sondern am Schluss reden wir über das Selbstverständnis schaftliche Zusammenarbeit und ausgerechnet im Aus-
von Staat, Politik und öffentlicher Verwaltung. Deshalb wärtigen Amt tätig? Stellen Sie das ab! Machen Sie Ih-
sage ich zum einen ausdrücklich: Auch wir als SPD sind ren Einfluss auf die Regierung geltend, meine Damen
der Meinung, dass wir endlich ein verbindliches Lobby- und Herren!
istenregister brauchen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN –
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Serkan Tören [FDP]: Das hätten Sie vorher ab-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellen müssen!)
11682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Deswegen sollten wir uns das nicht gegenseitig vor- Die Organisation von Interessen gehört zur Demo-
werfen, aber wir sollten auch nicht so tun, als ob auf der kratie. Der Austausch von Meinungen ist Kernbe-
einen Seite die Heiligen und auf der anderen Seite die standteil einer pluralistischen Gesellschaft. Daher
Unheiligen sitzen. sind auch der Lobbyismus und sein Ansinnen, Inte-
ressen in der Gesellschaft in organisierter Form zu
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: kanalisieren und bei den politischen Entscheidungs-
Das stimmt!) trägern und in der Öffentlichkeit für deren Umset-
11686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Frank Schwabe (SPD): Leben gefüllt. Ich glaube, dass man daraus lernen kann. (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, ein selbstbewusstes Parlament zu haben. In
Leider sind die Unternehmen nicht so gut aufgestellt, der aktuellen Situation kann man lernen: Es sind nicht
Frau Staatssekretärin, weil Sie mit Ihrer nationalen Um- Regierungen, nicht Sonderkommissionen und auch nicht
setzung etwas spät dran sind; es hätte schneller gehen Talkshows, die am Ende entscheiden, sondern es ist der
können. Das bringt Probleme für manche Unternehmen. Deutsche Bundestag; er ist vom Souverän mit der Macht
Sie wissen nicht genau, wie das demnächst eigentlich ausgestattet, zu entscheiden. Heute sollten wir uns daran
aussieht und wie sie dann an die Zertifikate kommen, erinnern, dass das Ende 2008 geklappt hat. Auch bei
weil das Gesetz noch nicht beschlossen ist und Sie den dem, was in den nächsten Wochen und Monaten ansteht,
Zeitplan, den Sie sich vorgenommen haben, nicht einhal- sollten wir uns darauf besinnen.
ten werden.
(Beifall bei der SPD)
„Gesetz zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Das alles sind Erfolge der Vergangenheit, die sich
Fortentwicklung des Emissionshandels“, das ist der
jetzt auszahlen. Die jetzige Regierung, Schwarz-Gelb
sperrige Titel. Es ist eine recht sperrige Materie. In der
– vielleicht kann man das Herrn Umweltminister
Tat – Sie haben es erwähnt, Frau Staatssekretärin –: Die
Röttgen ausrichten –, muss sich an dem Hier und Jetzt
nationalen Spielräume sind sehr gering. Ich sage: Zum
messen lassen und daran, was im Moment Klima- und
Glück sind sie national sehr gering. Wir werden uns im
Energiepolitik in diesem Lande ist. Da weiß die Regie-
Rahmen der Anhörung am Montag intensiver mit diesen
rungskoalition nicht mehr, wo hinten und vorn ist.
geringen Spielräumen beschäftigen.
Sie haben eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt,
Es ist gut, dass die nationalen Spielräume eng sind.
von der Sie nicht wissen, wie Sie davon wieder loskom-
Warum? Weil der Emissionshandel eines der zentralen
men. Sie haben auf 29 schwach beschriebenen Seiten ein
Instrumente des Klimaschutzes ist und wir uns einig
sogenanntes Energiekonzept erstellt, das mittlerweile
sind, dass die Herausforderungen des Klimawandels nur
pulverisiert ist. Sie haben es versäumt, das Klimapro-
in größeren Zusammenhängen zu bewältigen sind. Das
gramm von Meseberg weiterzuentwickeln, das 2007 auf-
gilt weltweit und eben auch EU-weit.
gestellt wurde und deutlich detaillierter war als das soge-
Es wird viel Kritik an der EU geübt. An der Stelle nannte Energiekonzept. Sie haben gegen Ihren eigenen
muss man aber einmal eine Eloge auf die EU halten. Wir Koalitionsvertrag verstoßen. Sie haben von „Brücken-
haben mit der dritten Handelsperiode endlich ein einheit- technologien“ geredet und gleichzeitig die Pfeiler der
liches europäisches System, abseits von nationalen Ego- Brücke eingerissen. Sie haben die Mittel für den Klima-
ismen des Status quo, die die Verhandlungen zur ersten schutz gestrichen. Sie haben einen ominösen Energie-
(B) und zweiten Periode leider bestimmt haben. In der ersten und Klimafonds aufgelegt, von dem Sie nicht genau wis- (D)
Periode ist etwas herausgekommen, das am Ende gar sen, ob überhaupt etwas in diesen Fonds hineinkommt
keine Steuerungswirkung mehr hatte. In der zweiten und wie viel das sein wird. Sie haben den Exportschlager
Handelsperiode ist es deutlich besser geworden, aber EEG ins Abseits gestellt und auf die verrottete Atom-
auch da hätte man sich mehr vorstellen können. technologie gesetzt.
Ich will aus Sicht des Parlaments in Deutschland sa- All das hat einen Torso, eine Karikatur von Energie-
gen: Wir – ich meine diejenigen, die damals schon dabei und Klimaschutzpolitik hinterlassen. Es bringt auch
waren – haben das Bestmögliche herausgeholt. Mit ei- nichts, wenn Herr Röttgen ständig schöne Sätze spricht,
nem Versteigerungsanteil von am Ende 8,8 Prozent sind die man bald alle auswendig kann. Denn er ist nicht da-
wir fast an die Grenze dessen gegangen, was wir eigent- für gewählt worden, Zukunftsforscher, Philosoph oder
lich durften. Nichtsdestotrotz gab es Mitnahmeeffekte in Leitartikler zu sein. Er ist dafür gewählt worden, Dinge
einer Größenordnung von 30 bis 35 Milliarden Euro bei umzusetzen. Ich meine beispielsweise die Frage, wel-
den großen Energieversorgungsunternehmen. Wir von chen Klimaschutz die Europäische Union zukünftig leis-
der Politik müssen uns schon zurechnen lassen, dass wir ten wird. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Frage
das nicht verhindert haben. des Emissionshandels: Wollen wir eine Verschärfung der
Klimaschutzziele innerhalb der Europäischen Union von
Was heute Grundlage ist, was wir heute diskutieren 20 auf 30 Prozent, ja oder nein? Es ist die Zeit gekom-
und demnächst hier beschließen werden, ist letztendlich men, darüber nicht weiter zu reden, sondern sich endlich
Produkt des EU-Gipfels von Ende 2008. Ich will daran durchzusetzen und die Dinge zu vollziehen.
erinnern, dass es Umweltminister Gabriel war, der da-
mals mit dafür gesorgt hat, dass diese Regeln durchge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
setzt worden sind. Die Hauptregel ist, dass es im Bereich DIE GRÜNEN)
der Energieversorgung, des Stroms, eine hundertprozen-
tige Versteigerung gibt. Das wird ab dem 1. Januar 2013 Ich empfehle sehr, das Gutachten zu lesen, das der
seine Wirkung haben. Wissenschaftliche Beirat „Globale Umweltveränderun-
gen“ heute auf den Tisch gelegt hat; ich habe es zumin-
Ich will auch hervorheben, dass wir als Bundestag dest anlesen können. Er ermahnt uns, die Dynamik zu
sehr selbstbewusst auf den Zeitpunkt Ende 2008 schauen nutzen, die in einem beschleunigten Atomausstieg in
können, weil wir als Deutscher Bundestag ein Stück Ge- Deutschland, aber auch darüber hinaus liegt. Er ermahnt
schichte geschrieben haben. Wir haben nämlich die Be- uns, die Chancen zu nutzen, die Dinge anzugehen und
teiligung des Parlaments an der EU-Gesetzgebung mit den Energieumbau voranzutreiben. Dafür braucht man
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11693
Frank Schwabe
(A) einen effizienten Emissionshandel. Ich denke – so viel (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
Gemeinsamkeit kann sein –, dass das, was wir am Ende, Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vielleicht mit leichten Veränderungen, als Gesetz verab- NEN]: Das ist wohl ein Gerücht, das Sie da ge-
schieden werden, durchaus einen Beitrag dazu leistet. hört haben! – Rolf Hempelmann [SPD]: Wann
und wo? Das hätte ich gern genauer!)
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD) Bei allem Lob: Es gibt auch drei Kritikpunkte, die ich
am Anfang des parlamentarischen Verfahrens anbringen
möchte. Frau Heinen-Esser hat die Kleinemittenten er-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wähnt. 50 Prozent der Anlagen, die neu in den Zertifika-
Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der tehandel einbezogen werden, sind Kleinemittenten, die
FDP-Fraktion. insgesamt 2 Prozent der CO2-Emissionen verursachen.
Für sie gibt es folgende Ausnahmeregelung: Wenn die
(Beifall bei der FDP)
CO2-Reduzierung entsprechend der im Zertifikatehandel
vorgesehenen Reduzierung vorgenommen wird, also pa-
Judith Skudelny (FDP): rallel zu dieser läuft, können sie vom Zertifikatehandel
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im De- ausgenommen werden, einfach aus dem Grund, dass die
zember 2009 haben die Grünen einen Antrag gestellt, die Bürokratiekosten wahrscheinlich höher wären als die
alten ineffizienten, CO2 und Quecksilber emittierenden Kosten für die Zertifikate.
fossilen Kraftwerke am besten vom Netz zu nehmen.
Hier gibt es nun Spielräume. Man kann sich vorstel-
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len, dass es zum Beispiel für eine kleine Ziegelei wie die
NEN]: Wir haben geschrieben: Keine neu zu in meiner Gemeinde, die Kunsthandwerk macht, ziem-
bauen!) lich schwierig ist, jedes Jahr den CO2-Ausstoß genau um
Heute werden diese alten ineffizienten Dreckschleudern 1,74 Prozent zu reduzieren. Es gibt vielleicht Nachrüst-
in vielen Studien und beispielsweise auch in Studien des maßnahmen, die nur 1,7 oder 1,69 Prozent oder auch nur
Öko-Instituts „kalte Reserven“ genannt. Es wird darauf 1,59 Prozent Reduzierung bringen. Für solche Fälle
verwiesen, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn diese wurde ein kleiner Spielraum vorgesehen; das heißt,
kalten Reserven jetzt hochgefahren werden. Warum? wenn sie weniger schaffen, also beispielsweise nur
Weil wir auf europäischer Ebene den Zertifikatehandel 1,6 Prozent, müssen sie für diese Differenz in Höhe des
haben. Gegenwertes der Zertifikate zahlen, also quasi eine Er-
satzzahlung leisten. Einen solchen Spielraum gibt es
(B) Spätestens jetzt hat sogar der Letzte gemerkt, dass aber nur bei einer Reduzierung von 1,6 bis 1,74 Prozent. (D)
Verschmutzungen in einen Naturraum einzupreisen, bes- Wenn die Einsparung demgegenüber beispielsweise bei
ser ist, als Techniken nach wechselnden Befindlichkei- 1,59 Prozent liegt, muss der volle Betrag bezahlt wer-
ten zu bestrafen oder zu bevorzugen. Es ist viel sinnvol- den.
ler, auf europäischer Ebene ein marktwirtschaftliches
Instrument einzuführen, als auf lokaler Ebene einzelne Wir wollen mit dem Zertifikatehandel nicht Geld ver-
Kraftwerke hoch- oder herunterzufahren. Der Zertifika- dienen, sondern für Klimaschutz sorgen. Vor diesem
tehandel ist hierfür das richtige Instrument. Insofern fin- Hintergrund ist jedes eingesparte Tönnchen CO2 eine
den wir es gut, dass wir diesen in der nächsten Handels- gute Maßnahme. Deswegen fordere ich hier für die FDP
periode weiter verstärken. eine Nachbesserung in der Form, dass jemand, der gar
nichts macht, den vollen Gegenwert zahlt, dass jemand,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
der nur halb so viel wie vorgesehen einspart, die Hälfte
CDU/CSU)
zahlen, und jemand, der drei Viertel der vorgesehenen
Es ist auch richtig, dass energieintensive Unterneh- Einsparungen schafft, nur ein Viertel zahlen soll. Hier
men kostenfreie Zuteilungen bekommen. Warum? Wir einfach einen Grenzwert festzulegen, halten wir nicht für
wollen das Klima schützen, wir wollen nicht die euro- gerechtfertigt. Das würde nur Kleinunternehmen und
päische Industrie schwächen. Unternehmen, die auf dem den Mittelstand und damit diejenigen treffen, die jetzt
globalen Markt bestehen wollen, brauchen Rahmenbe- nach der Wirtschaftskrise wieder Kapazitäten aufbauen.
dingungen, damit sie sich am globalen Markt durchset- Deswegen denken wir, dass man hierüber durchaus noch
zen können. Zu diesen Rahmenbedingungen insbeson- reden sollte.
dere für energieintensive Unternehmen gehört einfach
auch, dass wir in dieser Frage helfen müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass im
Bereich der Chemie 95 Prozent der Zertifikate frei zuge- Es gibt einen zweiten Kritikpunkt; dieser betrifft den
teilt werden. Warum ist dieser Bereich so wichtig? Wir Bereich der Müllverbrennung. Es gibt Hausmüll, es gibt
sind in Deutschland bei der Chemie Weltmarktführer. aber auch Plastikmüll. Dieser Plastikmüll, der aus Erdöl
Wir haben hier wichtige Arbeitsplätze. Ich danke Herrn besteht, kann wiederaufgearbeitet werden und wird dann
Röttgen und Herrn Wirtschaftsminister Brüderle dafür, als Ersatzbrennstoff bezeichnet. Jetzt kann man auf der
dass sie sich auf europäischer Ebene so stark für einen Seite sagen: Die Verbrennung von Öl und die Ver-
Deutschland eingesetzt haben. brennung dieses Brennstoffs, der auch einmal Öl war,
11694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Judith Skudelny
(A) (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
NEN]: Sie nennen ihn Ersatzbrennstoff, nicht Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
wir!) tion Die Linke.
ist im Prinzip gleichzusetzen. Beides emittiert ja in ge- (Beifall bei der LINKEN)
wisser Weise CO2 und fällt damit unter den Zertifika-
tehandel. Auf der anderen Seite wird aber in fast allen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Gutachten nachgewiesen, dass die Verwendung von Er- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
satzbrennstoffen dem Klima nützt: Zum einen wird das Vieles von dem, über das wir heute beraten, ist bereits
gleiche Produkt mehrfach verwertet, zum anderen ist un- 2008 auf europäischer Ebene entschieden worden. Auf
ter dem Strich tatsächlich ein positiver Klimaeffekt, ein die Emissionshandelsrichtlinie der EU hatte Deutschland
positiver CO2-Effekt vorhanden. Ob man diese positive großen Einfluss. Doch hier ist offensichtlich einiges
Maßnahme, diese Klimaschutzmaßnahme, jetzt unbe- schiefgelaufen – jedenfalls aus Sicht des Klimaschutzes.
dingt in den Zertifikatehandel einbeziehen soll, kann
man durchaus noch einmal diskutieren. Schon im Vor- Nachdem die Politik seit 2005 die Stromkonzerne fett
feld wurde ja darüber diskutiert. Man hat dann gesagt: gemacht hat, indem die Konzerne die wertvollen Emis-
Bei einem Brennwert über 13 000 Kilojoule handelt es sionsrechte vom Staat geschenkt bekommen haben und
sich um einen Ersatzbrennstoff; alles, was darunter liegt, diese aber unbegründet eingepreist haben, sollen die
Zertifikate ab 2013 wenigstens im Stromsektor verstei-
ist vom Zertifikatehandel freigestellt. Aber diese Grenze
gert werden. Dies könnte auch im Kraftwerksbereich tat-
ist nicht sachlich gerechtfertigt, sondern das Ergebnis
sächlich Lenkungswirkung entfalten, allerdings nur
von Verhandlungen. Über diesen Punkt könnte man also dann, wenn nicht zu viele Emissionsrechte auf den
durchaus auch noch nachverhandeln. Markt geworfen werden.
Der dritte Kritikpunkt betrifft den Flugverkehr. Der Doch genau hier liegt das Problem; denn überschüs-
Flugverkehr wird 2013 in den Zertifikatehandel mitein- sige Rechte können von dieser Handelsperiode 2012 in
bezogen. Davon sind allerdings auf globaler Ebene nicht die nächste Handelsperiode ab 2013 übertragen werden.
alle begeistert. Eine amerikanische Airline hat dagegen Zurzeit liegen Rechte für 100 bis 160 Millionen Tonnen
bereits Klage bei der EU-Kommission eingereicht. Man CO2 sozusagen auf Halde. Bedingt durch die Wirt-
kann darüber diskutieren, ob ein Gericht diese Frage ent- schaftskrise wurden sie nicht gebraucht. Es besteht daher
scheiden soll. In vielen Fällen kann man das bejahen. die Gefahr, dass der Markt mit Emissionsrechten über-
schwemmt wird und es daher keine Anreize für Klima-
(B) Wir denken allerdings, dass Europa eine Handelszone schutzmaßnahmen gibt. (D)
darstellt, in der wir es mit Handelspartnern zu tun haben.
Wenn von Handel, von Vertrauensverhältnissen und (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
Partnern gesprochen wird, dann sollte man sich viel- NIS 90/DIE GRÜNEN)
leicht darum bemühen, solche Gerichtsverfahren zu ver- Umweltminister Röttgen will das Minderungsziel der
meiden und stattdessen im Vorfeld mit den Partnern EU von minus 20 auf minus 30 Prozent gegenüber 1990
sprechen. verschärfen. Ich sage noch einmal: Wir unterstützen die-
ses Ziel. Es ist aber nur unter der Voraussetzung zu errei-
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha!)
chen, dass im Emissionshandelssektor entsprechend ge-
Die Liberalen auf europäischer Ebene führen diese Ge- kürzt wird. Die EU-Kommission hatte dazu auch einen
spräche schon. Wir möchten, dass auch die EU-Kom- klugen Vorschlag gemacht, nämlich im Jahr 2013 rund
mission verstärkt in die Gespräche eintritt, damit die 1,4 Milliarden Zertifikate stillzulegen. Sie würden also
Differenzen, die im Moment noch bestehen, in harten, von jenen Emissionsrechten abgezogen, die bislang zur
Versteigerung vorgesehen sind.
aber fairen Gesprächen einvernehmlich aufgelöst wer-
den und wir am Ende nicht die Gerichte darüber ent- Wir haben die Bundesregierung schriftlich gefragt,
scheiden lassen, wie unser Handel mit europäischen und was sie davon hält. Sie hat ganz frech geantwortet, einen
außereuropäischen Partnern abgewickelt wird. solchen Vorschlag der Kommission gebe es überhaupt
nicht. Dabei steht er in der Kommissionsmitteilung zur
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Analyse eines verschärften Minderungsziels schwarz auf
Si tacuisses, philosophus mansisses!) weiß. Ich vermute Folgendes: Entweder nimmt die Bun-
desregierung die Kommission und ihre Mitteilungen
In unseren Haushaltsplänen ist die Flugticketabgabe
nicht ernst oder aber das Fragerecht des deutschen Parla-
noch enthalten. Diese soll ja 2013 von der Flugverkehr- ments – vielleicht auch beides.
steuer abgelöst werden. Deshalb freue ich mich auf den
Haushalt 2013, in dem die Flugticketabgabe nicht mehr (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
enthalten sein wird. NEN]: Sie liest die Mitteilungen der Kommis-
sion einfach nicht!)
Vielen Dank.
Inzwischen hat Klimakommissarin Conni Hedegaard
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten diesen Vorschlag mehrfach wiederholt. Ich kann ankün-
der CDU/CSU) digen, dass wir, die Linke, die Kleine Anfrage noch ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11695
Eva Bulling-Schröter
(A) mal stellen und die Antwort der Bundesregierung an Wirksamkeit auch so einpreisen. Das wird jedoch nicht (C)
Frau Hedegaard schicken. Wir sind gespannt. gemacht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Insgesamt setzen wir mit dem TEHG nur ein halbher-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ziges Klimapaket der EU um. Das sollte heute, bevor es
in den Ausschüssen um Details geht, noch einmal gesagt
Die eigentliche Katastrophe in der EU-Emissionshan- worden sein.
delsrichtlinie ist aber die weitgehend kostenlose Zutei-
lung der Emissionsrechte an die Industrie. Die in jeder Zum Schluss vielleicht noch Folgendes: Für beson-
Hinsicht einfachste und wirksamste Methode einer Ver- ders schäbig halte ich es, dass Sie von der Koalition die
steigerung wurde unter deutschem Druck verworfen. Ich Kompensation für Flugreisen schon im Vorfeld gestri-
sage nicht, dass eine Versteigerung keine Probleme mit chen haben. Das finde ich grob unanständig.
sich bringen würde; denn ich kenne ja Herrn Obermeier. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Er wird dazu sicher etwas sagen. Aber man hätte es dif- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ferenzierter ausgestalten können. Wir haben in diesem
Zusammenhang im Ausschuss über Kriterien diskutiert. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Diesen Weg wollten Sie nicht beschreiten. Das Wort hat nun Hermann Ott für die Fraktion
Die Folge ist erneut ein bürokratisches Monstrum mit Bündnis 90/Die Grünen.
einem Wirrwarr von Zuteilungsregeln. Das zeigt sich
auch bei der TEHG-Novelle, also der Novelle zum Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, um die es heute Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vor-
geht. Durch das Hickhack zwischen Umwelt- und Wirt- liegende Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandels-
schaftsministerium ist das Ding zudem fast unlesbar ge- gesetz bringt unbestritten einige Verbesserungen, etwa
worden. Die Lobbyarbeit der einzelnen Wirtschafts- die Vollversteigerung im Stromsektor, die Einbeziehung
zweige und die Empfänglichkeit von Herrn Brüderle weiterer Klimagase und Anlagen oder auch die längst
dafür liegen wie Mehltau über der Rechtspflege. überfällige Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emis-
sionshandel.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt Wahr ist aber auch, dass der Emissionshandel in der
[FDP]: Keine Unterstellungen!) dritten Handelsperiode weit hinter seinen Möglichkeiten
zurückbleibt und damit den Herausforderungen des Kli-
Dabei stehen die kompliziertesten Geschichten noch mawandels nicht gerecht wird. Ich will an dieser Stelle
(B) gar nicht im Gesetz: Über den Verordnungsweg sollen nur einige Kritikpunkte nennen. (D)
noch 52 EU-weit gültige Benchmarks eingeführt wer-
den. Was sind Benchmarks? Das sind Vergleichszahlen Da gibt es nach wie vor die weitgehend kostenlose
für branchentypische Emissionen. Sie sind nötig, um die Zuteilung von Emissionszertifikaten an die Industrie
Zuteilung an die Industrie im Detail zu regeln. Einzelne oder die viel zu großzügige Nutzung des Clean Develop-
Anlagen lassen sich dabei noch in fiktive Teilanlagen ment Mechanism, der teilweise höchst problematisch ist.
zerlegen. Sie sehen, wie kompliziert das Ganze ist. Die Dies sind Regelungen, die den Emissionshandel schwä-
Folge ist: Es gibt Schlupflöcher ohne Ende; eine Kon- chen.
trolle durch die Zivilgesellschaft ist quasi ausgeschlos- Doch es gibt sogar explizit klimaschädliche Regelun-
sen. Dass hier unter dem Strich viele Firmen vom zu- gen in der Richtlinie. So erlaubt es die europäische Re-
sätzlichen Klimaschutz befreit werden, pfeifen die gelung sogar, neue Kohlekraftwerke mit den Erlösen aus
Spatzen vom Dach. dem Emissionshandel zu subventionieren. Die Bedin-
gung: Sie müssen „CCS-ready“ sein. Das heißt im
Ab nächstem Jahr wird der Flugverkehr in den Emis- Grunde nicht mehr, als dass sie über einen zusätzlichen
sionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen benachbarten Bauplatz verfügen müssen, wo man so
wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Das ist aller- eine Abscheidungsanlage hinsetzen könnte – könnte,
dings wenig ermutigend; denn die zugeteilte Gesamt- aber nicht muss. Es ist, meine Damen und Herren, eine
menge wird im Jahr 2020 95 Prozent des Durchschnitts Schande, dass ein Instrument des Klimaschutzes für die
der Jahre 2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klima- Finanzierung von Kohlekraftwerken, also von Klimakil-
schutz sieht anders aus. lern, missbraucht werden kann.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der LINKEN)
Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte Dass Sie diese Regelung umsetzen wollen, steht zwar im
versteigert werden. Ferner – das halte ich für schlimm – Koalitionsvertrag, aber die Regelung steht Gott sei Dank
ignoriert das System die indirekten Effekte des Flugver- nicht im Gesetz.
kehrs wie NOx und Wasserdampf, die die Treibhauswir-
Ich komme jetzt zu der Situation in Deutschland.
kung je Tonne ausgestoßenes CO2 um den Faktor zwei
bis vier erhöhen. Das heißt, in Flughöhe ist CO2 wesent- Es muss festgestellt werden, dass der gesamte Emis-
lich klimawirksamer als am Boden, beispielsweise bei sionshandel in seiner jetzigen Ausgestaltung den Klima-
einem Auto. Dann müsste man das entsprechend der schutz in Deutschland eher behindert, indem er nämlich
11696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Rolf Hempelmann
(A) Der Erfolg eines solchen Klimaschutzinstrumentes, krise ist es allen bekannt – wir eine hochvernetzte Indus- (C)
des Emissionshandels, hängt auch davon ab, dass man trie haben. Die Wertschöpfungsketten funktionieren; sie
neben den gewünschten Wirkungen, die man erreichen funktionieren auch deshalb, weil wir über die Grund-
möchte, unerwünschte vermeidet. Ein Stichwort in die- stoffindustrie verfügen. Es gibt also neben all den wich-
sem Zusammenhang ist – darüber haben wir uns hier tigen, hier schon genannten Klimaschutzaspekten auch
schon häufiger unterhalten – Carbon Leakage. Wir wol- diese Seite des Emissionshandels. Wir fordern den Wirt-
len vermeiden, dass Unternehmen den Standort Deutsch- schaftsminister auf, zu erkennen, dass dies auch sein
land verlassen, weil das Instrument Emissionshandel Thema ist und dass er sich darum kümmern muss.
hier bestimmte Folgen hat. Wir wollen vermeiden, dass
Unternehmen in Länder abwandern, in denen es dieses Vielen Dank.
Instrument nicht gibt, in denen sie ihre Produkte gegebe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nenfalls auf klima- und umweltschädliche Weise herstel- DIE GRÜNEN)
len können. Ich glaube, das ist ein honoriges Ziel, das
gerade auch den Bundeswirtschaftsminister beschäftigen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
muss.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
Ich denke da insbesondere an die energieintensive legen Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion das
Grundstoffindustrie in Deutschland. Sie wissen: Wir Wort.
sind das Industrieland Nummer eins in Europa. Wir sind
dadurch natürlich in besonderer Weise von diesen As- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
pekten des Emissionshandels betroffen und besonders neten der FDP)
gefordert, unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden
oder zumindest einzuschränken. Wie kann man das tun? Franz Obermeier (CDU/CSU):
Man kann es tun – so ist es Ende 2008 vom Europäi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
schen Rat festgelegt worden –, indem man dort, wo es Vielen Dank, Herr Hempelmann, für Ihre Ausführungen,
notwendig ist – und nur dort, wo es notwendig ist –, ent- zumindest für den größten Teil, in denen Sie die Debatte
sprechende Kompensationsregelungen vorsieht, zum ei- über den Emissionshandel einigermaßen realistisch dar-
nen für die direkten Kosten des Emissionshandels, also gestellt haben. Der Verweis auf den Bundesumweltmi-
die, die durch die Zertifikate entstehen, und zum anderen nister ist nicht so recht zu verstehen, wenn ich die Prä-
für die indirekten Folgen des Emissionshandels, die sich senz Ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen in dieser
beim Strompreis bemerkbar machen. Der Bundeswirt- Debatte betrachte. Vorhin waren nur fünf Kollegen an-
schaftsminister war seit Ende 2008, zumindest seit Be- wesend, jetzt zähle ich sechs. In der SPD-Fraktion wird
(B) ginn dieser Legislaturperiode aufgefordert, in einen Dia- das Thema offenbar auch nicht als so wichtig angesehen. (D)
log mit der Wirtschaft einzutreten und Vorschläge zu
erarbeiten, wie solche Kompensationsmöglichkeiten aus- Der Emissionshandel wurde von uns in der CDU/
sehen können. Der Wettbewerbskommissar Almunia hat CSU-Bundestagsfraktion seit vielen Jahren als das In-
längst ein Konsultationsverfahren eingeleitet und wartet strument angesehen, das am geeignetsten ist, unsere
auf die Vorschläge der nationalen Regierungen. Nach CO2-Minderungsziele zu erreichen. Die Begründung da-
unserer Kenntnis und nach dem, was wir aus Brüssel hö- für ist, dass er ein wettbewerbliches Instrument ist.
ren, gibt es aus Deutschland dazu bisher keine Vor-
schläge. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir hören das auch von den Unternehmen, die hände-
ringend darum bitten, dass es endlich zu konkreten Re-
gelungen kommt. Warum ist das für sie so wichtig? Franz Obermeier (CDU/CSU):
Diese Unternehmen haben in der Regel sehr langfristige Ja, selbstverständlich.
Investitionszyklen, verkaufen ihre Produkte meist Jahre
im Voraus an den Weltmärkten, zum Beispiel Alumi- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nium, und sind darauf angewiesen, auch Jahre im Voraus Bitte schön.
ihre Kosten zu kennen. Die kennen sie aber nicht, wenn
zum Beispiel über die wichtige Frage der Kompensation
nicht zeitig Entscheidungen getroffen werden. Deswe- Dr. Matthias Miersch (SPD):
gen richten wir die dringende Aufforderung an den Bun- Herr Kollege Obermeier, sind Sie bereit, zur Kenntnis
deswirtschaftsminister – möglicherweise liest er die Pro- zu nehmen, dass die SPD-Bundestagsfraktion parallel zu
tokolle des Deutschen Bundestages –, sich endlich in dieser Aussprache und zur ersten Lesung dieses Gesetz-
dieses Konsultationsverfahren einzuschalten, entwurfes ein seit langem anberaumtes Gespräch mit
Zeitzeugen aus Tschernobyl führt und ein großer Teil un-
(Beifall bei der SPD) serer Umweltpolitiker an diesem Gespräch teilnimmt?
den notwendigen Dialog mit der Wirtschaft zu führen (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist
und konkrete Kompensationsvorschläge vorzulegen. dafür aber doch keine Begründung! Plenum
Das ist für uns wichtig, nicht nur für die Grundstoffin- geht vor! Wo kommen wir denn da hin? Der
dustrie, sondern für die Industrie insgesamt, weil – das Minister hat auch wichtige Termine! Der geht
wissen wir mittlerweile; spätestens seit der Wirtschafts- ja auch nicht Kaffee trinken! – Gegenruf des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11699
Dr. Matthias Miersch
(A) Abg. Frank Schwabe [SPD]: Wo ist er denn, Herzlichen Dank. (C)
der Minister?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Brigitte Pothmer
(A) diese Generation, deren Potenziale wir jetzt nicht nutzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
besser ausgebildet ist als die nachfolgenden Generatio- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
nen. der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Wir wollen die Betriebe nicht aus der Ver-
antwortung entlassen. Sie sollen die Älteren nicht nur
Die Regierung geht offensichtlich davon aus, dass die schätzen, sondern auch einstellen.
durch den demografischen Wandel bedingte Nachfrage
dieses Problem lösen wird. Ich kann Ihnen nur sagen:
Wenn wir hier nicht mit einer konzertierten Aktion vor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gehen, wird sich gar nichts daran ändern. Wir sind ge- Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
rade im Begriff, in eine Situation zu schlittern, die auf
der einen Seite durch einen hohen Fachkräftemangel be- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
schrieben werden kann und auf der anderen Seite durch Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir müs-
eine hohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Älteren. sen endlich aufhören, Menschen ab 45 als arbeitsmarkt-
politische Methusalems zu behandeln. Damit werden wir
Ja, wir sind der Auffassung, dass die Lebensarbeits-
ihnen nicht gerecht.
zeit an die steigende Lebenserwartung angeglichen wer-
den muss. Aber dazu muss man dann auch die Voraus- Ich danke Ihnen.
setzungen schaffen. Wir weigern uns, anzuerkennen,
dass das Prinzip „Rente mit 67“ zu einem Prinzip der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir bei der SPD und der LINKEN)
ausdrücklich nicht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Wir wollen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dass die Menschen qualifiziert, motiviert und gesund das
Rentenalter erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass
Menschen, auch wenn sie mit über 50 Jahren arbeitslos Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
werden, eine echte und realistische Chance haben, wie- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
der einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Es ist unstrittig richtig, dass die Erwerbsbeteiligung älte-
(B) rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- (D)
Der Antrag, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, land in der Vergangenheit katastrophal schlecht war und
enthält eine Menge von Vorschlägen zu diesem Problem. dass sie auch heute noch nicht besonders gut ist, sich
Wir wollen, dass kontinuierliche Qualifizierung in den aber immerhin verbessert.
Betrieben ansetzt. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit
den Maßnahmen zu beginnen, wenn die Menschen alt Frau Kollegin Pothmer, es ist gut, wenn man Analy-
sind. Sie müssen beginnen, wenn man in den Beruf ein- sen vorträgt, wie Sie das gemacht haben, aber man muss
steigt. Es geht darum, alters- und alternsgerechte Ar- natürlich auch etwas zu den Ursachen sagen. Eine Ursa-
beitsbedingungen zu schaffen, und es geht darum, die che dafür, dass die Zahlen heute so schlecht sind, ist na-
Vermittlung insbesondere der Älteren zu verbessern. türlich die über Jahre hinweg praktizierte Frühverren-
tungspolitik in Deutschland.
Ich habe nur vier Minuten Redezeit und kann deswe-
gen nicht ins Detail gehen; aber drei grundlegende Vo- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
raussetzungen für die Kultur der Altersarbeit will ich Ih- NEN]: Unter Helmut Kohl!)
nen nennen. Gott sei Dank haben wir, schon in der Großen Koalition
Das Erste ist: Wir müssen ehrlich sein. 90 000 Ältere beginnend, die Anreize für eine Frühverrentung konse-
sind arbeitslos und werden nur deswegen nicht als solche quent abgebaut. Das war ein klares und deutliches Zei-
gezählt, weil sie über ein Jahr lang kein Angebot bekom- chen dafür, dass wir hinsichtlich der Beschäftigung älte-
men haben. Das ist nicht ehrlich, das verschleiert das rer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
reale Problem. umsteuern und auch zum Umdenken auffordern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, dafür gibt es zwei wichtige Anlässe. Der
sowie bei Abgeordneten der SPD) erste Anlass ist: Auch in den Chefetagen und Personalbü-
ros deutscher Unternehmen lernt man hinzu. Wer auf das
Zweitens. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem in Qualifi- Erfahrungswissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
zierung investiert werden muss, weil es einen ansprin- nehmer leichtfertig verzichtet, der erleidet einen Wettbe-
genden Arbeitsmarkt gibt, für den wir die Menschen werbsnachteil. Deswegen findet Gott sei Dank ein Um-
qualifizieren müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen denken statt. Der zweite Anlass ist: Die kommenden
von der CDU/CSU-FDP-Koalition, ich bitte Sie: Stop- Jahre und Jahrzehnte werden deutlich anders aussehen als
pen Sie Ihren Finanzminister und Ihre Arbeitsministerin, die vergangenen, weil die Zahl der Menschen in Deutsch-
die Mittel zur Arbeitsförderung um Milliardenbeträge zu land, die erwerbsfähig sind, dramatisch zurückgehen
verringern. wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11701
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Im Rahmen einer von der Unionsfraktion kürzlich zen Bündel von Projekten; es gibt die Gemeinsame (C)
durchgeführten Fachveranstaltung hat uns Herr Profes- Deutsche Arbeitsstrategie von Bund, Ländern und Un-
sor Brücker vom IAB vorgetragen, dass die Zahl der fallversicherungsträgern zur Förderung präventiven Ar-
Menschen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2050 beitsschutzes und das Programm Perspektive 50plus mit
von heute 45 Millionen auf nur noch 27 Millionen zu- einem ganzen Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung
rückgehen wird. Das ist eine dramatische Veränderung, der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen
die zeigt, dass die Frage der Zukunft, der nächsten Jahr- und Arbeitnehmer. Von meinen Besuchen in etlichen Be-
zehnte, nicht sein wird: „Wie werde ich ältere Arbeitneh- trieben, die an diesem Programm teilnehmen, weiß ich,
merinnen und Arbeitnehmer mit einer Frühverrentungs- dass es erstaunlich ist, was entgegen dem, was landläufig
politik möglichst bald los?“, sondern dass die Frage für an Auffassungen vertreten wird, möglich ist, um Be-
die Unternehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben schäftigung für über 50- oder auch über 60-Jährige zu
und Fachkräfte halten wollen, sein wird: „Wie begeistere schaffen.
ich ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mög-
Aktuell arbeitet das Bundesministerium für Arbeit
lichst lange zu bleiben, weil ich auf sie angewiesen
und Soziales am Aufbau einer strategischen Partner-
bin?“. Deswegen wird sich die Politik in Bezug auf äl-
schaft mit wirtschaftsnahen regionalen Akteuren, Initia-
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber
tiven und Projekten, um ein Konzept zu entwickeln, das
der in der Vergangenheit deutlich verändern müssen.
insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigung älterer
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt die Ar-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beitskräftebasis sichert.
Unsere Aufgabe in der Politik ist es, dafür zu sorgen, Neben dem Handeln des Staates gibt es aber auch das
dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch Handeln der Sozialpartner, zum Beispiel im Rahmen von
tatsächlich länger in Arbeit bleiben können. Es gibt hier Tarifverträgen wie in der Eisen- und Stahlindustrie oder
eine ganze Menge an Aufgabenstellungen: Weiterbildung in der Chemieindustrie mit ihrem Tarifvertrag „Lebens-
während des ganzen Berufslebens, Gestaltung moderner, arbeitszeit und Demografie“.
gesundheitsgerechter Arbeitsplätze, weitere Fortschritte Des Weiteren gibt es die neuen Programme der So-
bei der Humanisierung und der Gestaltung der Arbeits- zialversicherungsträger. So wendet sich die Deutsche
welt, Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes, Ausbau von Rentenversicherung Bund zum Beispiel mit ihrem Rah-
Prävention, betrieblicher Gesundheitsförderung und Re- menkonzept zur Erprobung von Präventionsleistungen
habilitation. „Beschäftigungsfähigkeit teilhabeorientiert sichern“ an
Ich will hier darauf aufmerksam machen, dass mittler- Versicherte mit ungünstigen Bedingungen am Arbeits-
(B) weile der größte Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- platz und versucht, Änderungen möglich zu machen. (D)
nehmer, die einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente Ich will zusammenfassend festhalten: Ich glaube, das,
stellen, sprich: vorzeitig in Rente gehen müssen, diesen was an Initiativen staatlicherseits, durch die Sozialpart-
Antrag wegen psychischer Erkrankungen stellen. ner und durch die Sozialversicherungen auf den Weg ge-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bracht worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten
NEN]: Richtig!) das nicht kleinreden, sondern stärker publik machen.
Das Gesundheitsmanagement in Deutschland, was Ich freue mich über den Antrag der Grünen zu diesem
das Vermeiden psychischer Erkrankungen anbelangt, ist Thema.
in den Betrieben völlig unterentwickelt. Hier muss ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schwerpunkt gesetzt werden. Die Arbeitswelt muss
nicht zwangsläufig so gestaltet sein, dass psychische Er- Ich muss Ihnen aber sagen: Angesichts dessen, was wir
krankungen in Deutschland von Jahr zu Jahr zunehmen. bereits auf den Weg gebracht haben,
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- NEN]: Das wissen wir alles inzwischen!)
geordneten der SPD – Brigitte Pothmer bleibt mir nur, aus Schillers Wallenstein zu zitieren:
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie „Spät kommt ihr – doch ihr kommt!“
denn, Herr Weiß?)
Vielen Dank.
Wir brauchen neue Arbeitsformen, die besser auf die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erfordernisse älterer Arbeitnehmer eingehen. Wir brau-
chen auch Projekte und Programme, die auf einen Be-
rufswechsel im Laufe des Erwerbslebens abzielen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Anton Schaaf für die Fraktion der
Im Antrag der Grünen wird ein bisschen so getan, als SPD.
gäbe es bisher gar nichts in diesem Bereich. Deswegen
möchte ich sagen, was wir mittlerweile politisch an Pro- (Beifall bei der SPD)
grammen initiiert haben, die auch laufen. Es gibt zum
Beispiel INQA, die Initiative Neue Qualität der Arbeit, Anton Schaaf (SPD):
die auf die Schaffung gesundheits- und leistungsfördern- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
der Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist, mit einem gan- Peter Weiß, der Antrag zum Thema „ältere Arbeitneh-
11702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Anton Schaaf
(A) mer“ ist vor allen Dingen deshalb richtig und notwendig ein höheres Renteneintrittsalter bestrafen will, die Rente (C)
– das sage ich gleich am Anfang –, weil diese Koali- mit 67 nicht einführen darf, ich betone: jetzt nicht.
tionsregierung in diesem Bereich nichts tut. Deswegen
ist er richtig, und er kommt zum richtigen Zeitpunkt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ An dieser Stelle sind Sie völlig ignorant. Das hat nichts
DIE GRÜNEN) mit Wertschätzung zu tun. Wenn ein älterer Mensch ar-
beitslos geworden ist, muss er vor dem Hintergrund nach-
Übrigens verstoßt ihr damit gegen euren eigenen Ko- rangiger Leistungen nach SGB II mit 63 vorzeitig die
alitionsvertrag, Peter Weiß. Auf Seite 111 habt ihr insbe- Rente beantragen. Er muss das tun! Ab dem nächsten Jahr
sondere ältere Arbeitnehmer in den Blick genommen hat er dann nicht nur für zwei Jahre, sondern für zwei
und festgestellt: Da muss man was machen. Das hat viel Jahre und einen Monat Abschläge hinzunehmen, und
mit Wertschätzung der Älteren und deren Kompetenz zu zwar dauerhaft. Das ist Ihre Art der Wertschätzung älterer
tun. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Frau von der
Wie sieht die Wertschätzung konkret aus, Peter Weiß? Leyen hat sich um die älteren Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer – wie ich finde: sehr bezeichnend – geküm-
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Schau mal in mert. Sie hat gesagt: Wenn die ihren Beruf nicht mehr
die Arbeitsstatistik hinein!) ausüben können, sollen sie etwas anderes machen. – Hun-
derttausende Hausmeisterstellen werden wir wohl nicht
Das macht die geplante Neuordnung der arbeitsmarkt-
zur Verfügung stellen können. Frau von der Leyen muss
politischen Instrumente deutlich. Darin geht es beispiels-
sich auch einmal hierhin stellen und sagen, was die Ar-
weise um die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Beruf nicht
nach SGB III. Sie soll als dauerhaftes Instrument beibe-
mehr ausüben können, anderes machen sollen.
halten werden, was völlig richtig ist, weil es ein sinnvol-
les Instrument ist. Weiter heißt es: Die Nettoentgeltdiffe- Sie nehmen auch nicht an der Debatte über die Frage
renz soll mindestens 100 Euro statt wie bisher 50 Euro teil: Was ist eigentlich mit einem sozialen Arbeitsmarkt?
betragen; es soll Aufstockungsbeträge geben, und zwar Sollten wir darüber nicht einmal ernsthaft diskutieren?
60 Prozent bzw. im zweiten Jahr 40 Prozent.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dann kommt es: Das, was bisher das Instrument sehr DIE GRÜNEN)
attraktiv gemacht hat und auch Wertschätzung aus-
drückte, nämlich die Aufstockung für die Rentenversi- Aber da ist bei Ihnen überhaupt nichts. Sie überlassen
cherung, soll ersatzlos gestrichen werden. das alles schlichtweg der Wirtschaft und setzen auf das
(B)
So sieht Ihre Wertschätzung älterer Arbeitnehmerin- Verständnis der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wenn wir (D)
nen und Arbeitnehmer und deren Bereitschaft, geringer nicht ernsthaft über die Verursacherfrage diskutieren und
entlohnte Jobs anzunehmen, aus. Das ist Pharisäertum. die Verursacher benennen, wird sich bei der Wirtschaft
Dann lassen Sie die Sonntagsreden sein und sagen Sie nichts ändern. Dann werden Arbeitnehmerinnen und Ar-
ehrlich, meine Damen und Herren von der Koalition: beitnehmer so lange ausgepowert, bis sie nicht mehr
Wir schätzen die Aufnahme von Arbeit durch ältere Ar- können, und dann aus den Betrieben hinausgejagt.
beitnehmer nicht. Ich mache das an einem Beispiel klar. Der eine oder
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ andere von Ihnen weiß bereits, dass ich früher bei der
DIE GRÜNEN) Müllabfuhr gearbeitet habe. Wenn die Kolleginnen und
Kollegen, die schwere Arbeit leisten mussten, mehr Ar-
Das korrespondiert übrigens mit Ihrer Ignoranz beim beit hinzubekommen haben, habe ich als Betriebsrat zu-
Thema Rente mit 67, um das sehr deutlich zu sagen. gegebenermaßen immer als Erstes nach mehr Geld ge-
Wenn wir uns die Beschäftigungsquote älterer Menschen schrien. Mehr schwere Arbeit, mehr Geld! Wenn die
genau anschauen, dann stellen wir fest, dass die Beschäf- Kollegen durch den Job dann vorzeitig kaputt waren,
tigung älterer Menschen zwar leicht gestiegen ist, dass habe ich nach dem Sozialstaat geschrien und gesagt:
aber die Beschäftigungsquote bei den über 60-Jährigen Kümmert euch um die Kaputten! – So ist es gelaufen;
dramatisch einbricht. denn ein kaputter Müllmann bekommt nirgendwo anders
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist einen Job. Die entscheidende Frage lautet: Was machen
es!) wir dagegen, dass Menschen durch Arbeit – körperlich
oder psychisch – vorzeitig kaputt sind? Die Verursacher
Wenn man sich die Beschäftigungsarten genau anschaut, nehmen wir nicht in Haftung. Wir machen nichts. Die
dann stellt man fest, dass viele nur noch teilweise be- Verursacher sind die Arbeitgeber, die solche Arbeit zur
schäftigt sind und dass die Steigerung der Quote auch da- Verfügung stellen. Diese nehmen wir nicht in Haftung,
mit zusammenhängt, dass vor allen Dingen ältere Frauen weder bei Weiterbildung und Qualifizierung noch bei
wieder Arbeit aufgenommen haben, um beispielsweise der Übernahme sozialer Verantwortung, wenn Menschen
hinzuzuverdienen. Wenn man das mit dem Gesetz ver- durch Arbeit kaputt sind. Auch Sie übernehmen übrigens
gleicht und sich die Situation der älteren Menschen genau keine Verantwortung. Sie haben sich komplett verwei-
anschaut, dann kommt man überhaupt nicht darum he- gert und noch nicht einmal über das Thema Erwerbsmin-
rum, sich einzugestehen, dass man jetzt, wenn man die äl- derungsrente diskutiert. Hier nehmen Sie sich komplett
teren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht durch aus der Verantwortung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11703
Anton Schaaf
(A) Wenn wir das Renteneintrittsalter erhöhen, dann müs- (Anton Schaaf [SPD]: Schwarz-gelb!) (C)
sen wir die Frage beantworten: Was machen wir mit den
– Nein, nicht schwarz-gelb, sondern schwarz. Schwarz-
Menschen, die durch Arbeit vorzeitig kaputt sind? Mitt-
gelb wäre ja gut, Toni Schaaf.
lerweile gibt es einschlägige Urteile betreffend Ab-
schlagsregelungen bzw. Zurechnungszeiten. Aber auf Ih- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
rer Seite gibt es überhaupt keine Bewegung. Stellen Sie
sich also in Zukunft nicht mehr hierhin und schätzen äl- Aber Sie haben es ein bisschen schwarz gezeichnet.
tere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbal! Denn Wenn man eine Situation etwas verbessern will, muss
immer wenn es darauf ankommt, etwas für ältere Arbeit- man erst einmal schauen, was denn schon gut läuft. Ich
nehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun, streichen Sie bei- glaube, die Steigerungsraten bei den Zahlen von Älteren
spielsweise die Mittel im Eingliederungstitel. Gerade auf dem Arbeitsmarkt, die wir in den letzten Jahren hat-
jetzt, wo die Arbeitsmarktlage so gut ist, wären mehr Mit- ten, lieber Toni Schaaf – die Rente mit 67 ist ja genau in
tel zur massiven Förderung älterer Menschen, die schon der Erwartung dieses Effekts von Ihnen auch eingeführt
länger arbeitslos sind, richtig eingesetzt; denn nur so ha- worden –, sind in absoluten Zahlen natürlich noch verbes-
ben die Betroffenen eine Chance auf Integration in den serungsfähig. Das ist ganz klar. Das liegt aber auch daran,
ersten Arbeitsmarkt. Aber nein, Sie machen es genau an- dass die Altersteilzeit eben erst ausläuft. Trotzdem sind
ders herum. Sie streichen die Mittel im Eingliederungsti- die Steigerungsraten beeindruckend. Ich will es noch ein-
tel massiv zusammen. So werden Sie keinen Beitrag dazu mal zitieren. Wir hatten vor zehn Jahren 2,6 Millionen Äl-
leisten, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dau- tere sozialversicherungspflichtig beschäftigt, heute sind es
erhaft in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder in immerhin 3,8 Millionen.
Arbeit zu halten. (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
Ich danke für die Aufmerksamkeit. In den letzten fünf Jahren hatten wir bei den 55- bis
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 60-Jährigen 35 Prozent plus, und, Toni Schaaf, bei den-
DIE GRÜNEN) jenigen über 60 sind es sogar noch mehr, nämlich
40 Prozent plus.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf von der FDP: Das ist doch was!)
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak- Nachher wird der Kollege Birkwald wahrscheinlich sa-
tion. gen, ja, es geht nicht nur um Prozente, es geht auch um
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) absolute Zahlen.
(B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist (D)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): es!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da bin ich bei Ihnen. Aber eine 40-prozentige Steige-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Ja,
rung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erheblich. Das
auch ich kann mich dem Kollegen Peter Weiß anschlie-
müssen wir natürlich ausbauen. Aber mehr hat man übri-
ßen. Das Ziel teilen wir.
gens auch bei der Einführung der Rente mit 67 nicht zu
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hoffen wagen können. Insofern müssen wir erst einmal
NEN]: Es wäre klüger, wenn Sie sich meiner festhalten, dass der Trend in die richtige Richtung geht.
Rede anschließen! – Heiterkeit bei der CDU/
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
CSU – Zuruf von der FDP: Das ginge zu
ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das
weit!)
reicht aber nicht!)
– Nein, Frau Kollegin Pothmer, Ihrer Rede kann ich
Übrigens ist die Steigerungsrate bei den Beschäftigten
mich natürlich nicht anschließen. Das ginge zu weit.
bei den über 55-Jährigen höher als bei den unter 25-Jäh-
Aber wir teilen das Ziel. – Denn natürlich ist das nötig,
rigen. – Das nur einmal mit Blick auf die unterschiedli-
nicht nur, um den Menschen, die älter sind und auf dem
chen Gruppen am Arbeitsmarkt.
Arbeitsmarkt noch Probleme haben, eine Perspektive zu
geben, sondern auch – Sie haben es selber angesprochen –, Als besonderes Schmankerl, liebe Frau Kollegin
um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. Pothmer – wir beide zitieren ja immer gern das IAB –:
Der IAB-Kurzbericht 16/2009 hat genau das festgehal-
Bei 6 Millionen Arbeitskräften, die uns bis 2030 feh- ten; er hat nämlich festgehalten, dass es einen positiven
len, muss man an vielen Schrauben drehen. Da werden Trend bei den Älteren auf dem Arbeitsmarkt gibt,
wir über die Erwerbsquote, die Beteiligungsquote von
Frauen reden müssen, da werden wir auch über Zuwan- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
derung reden müssen, und da werden wir ganz zentral NEN]: Das hat doch niemand bestritten!)
auch über die Frage reden müssen, welche Rolle Ältere
und er hat das als langfristiges Phänomen festgestellt.
eigentlich auf dem Arbeitsmarkt spielen.
Das ist nicht nur kurzfristig, das ist nicht nur Konjunk-
Ich freue mich, dass Sie das so wie wir sehen. Ich tur. Es ist ein langfristiges Phänomen. Und was war der
glaube, dass Sie aber doch ein bisschen – deswegen kann entscheidende Vorschlag, den politisch umzusetzen uns
ich mich Ihrer Rede auch nicht anschließen, Frau Kolle- das IAB noch geraten hat? Die geförderte Altersteilzeit
gin – zu schwarz gezeichnet haben. Das wissen Sie auch. als Frühverrentungsprogramm auslaufen zu lassen.
11704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: auch der Kollege Vogel plädiert –, sind nichts anderes (C)
Das Wort hat nun Kollege Matthias W. Birkwald für als die Fortsetzung der Kombilohnpolitik mit rentenpoli-
die Fraktion Die Linke. tischen Mitteln. Im Klartext: Niedriglohn und Tüten ein-
packen im Supermarkt, weil die Rente nicht reicht, das
(Beifall bei der LINKEN) wollen wir nicht.
Wer kann, darf; wer nicht kann, muss auch nicht bis (Beifall bei der LINKEN)
65 und schon gar nicht bis 67 arbeiten. Eine solche Re- Geringqualifizierte und ältere Beschäftigte müssen in
gelung bräuchten wir. den Unternehmen mehr als bisher und dauerhaft weiter-
(Beifall bei der LINKEN) gebildet werden. Nicht zuletzt müssen die Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgeber endlich in die Pflicht genommen
Wir Linken sind der Überzeugung, dass viele Menschen werden. Wer ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
durchaus bereit sind, bis 65 zu arbeiten. Wer es darüber mer ohne zwingenden Grund entlässt, muss zur Kasse
hinaus auch noch kann und will, soll weiterhin, wie bis- gebeten werden und die Kosten des Arbeitslosengeldes
her, dafür belohnt werden. Wer es bis dahin aber nicht erstatten. Das wäre eine wichtige Maßnahme.
schafft, darf nicht bestraft werden. Das ist der entschei-
dende Punkt. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Sanktionspolitik, wie sie mit der Rente erst ab 67 und
auch mit Hartz IV betrieben wird, ist und bleibt der fal- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sche Weg. Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSU-
Fraktion.
Geänderte Hinzuverdienstmöglichkeiten und Teilren-
ten, wie sie die Grünen vorschlagen – dafür hat eben (Beifall bei der CDU/CSU)
11706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Ulrich Lange (CDU/CSU): die nicht geförderte Altersteilzeit. Nach Ihrer Logik (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! müsste die Altersteilzeit ganz verschwinden. Die jetzige
Liebe Kollegin Pothmer! Auch wir sehen in Ihrem Nach- Altersteilzeit bedeutet sozialverträgliche Arbeitsplatz-
denken ein lobenswertes Unterfangen, aber nur so weit, vernichtung und sonst gar nichts. Die geförderte Alters-
wie es gerade eben möglich ist. Also zum Kuscheln teilzeit beinhaltete, dass der Arbeitsplatz auf Dauer er-
reicht es wirklich nicht. halten bleiben muss. Das ist genau der entscheidende
Punkt.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich muss Ihnen sagen, danach ist mir
auch nicht! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU):
Lieber Kollege Schaaf, wir beide wissen, dass der
Am Ende muss ich doch dem Kollegen Weiß mit seinem Ansatz diesbezüglich sehr theoretisch ist.
Wallenstein-Zitat recht geben. Wenn man nämlich ver-
gleicht, was die Bundesregierung in den letzten Jahren – (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
da beziehe ich die Große Koalition, lieber Kollege NEN]: Der ist sehr praktisch!)
Schaaf, ausdrücklich mit ein
– Nein, er ist sehr theoretisch.
(Anton Schaaf [SPD]: Zu Recht!)
Deswegen ist es richtig, dass diejenigen, die weiterhin
– zu Recht mit ein – schon geleistet hat, so sprechen, dieses Modell wählen wollen, es wählen können. Aber
glaube ich, auch die Zahlen durchaus für das, was in den es gibt derzeit keine Notwendigkeit, das Modell von un-
letzten Jahren in diesem Bereich passiert ist. serer Seite mit großzügiger Förderung zu bedenken.
Im Jahr 2000 waren noch rund 20 Prozent der 60- bis (Beifall bei der CDU/CSU)
65-Jährigen erwerbstätig. Kollegin Pothmer, Sie haben
selber von jetzt knapp 40 Prozent gesprochen. Das ist Wir haben darüber hinaus – auch darauf hat der Kol-
immerhin eine Verdoppelung in diesem Bereich. lege Weiß schon hingewiesen – mit INQA einen neuen
Abschnitt aufgemacht. Wir glauben, dass wir hier auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem richtigen Weg sind.
Wir liegen im europäischen Vergleich sicherlich über Ich bin auch davon überzeugt – das unterscheidet uns
dem Durchschnitt, sind aber bei weitem nicht gut genug. jetzt wieder wesentlich –, dass nicht der Staat allein
Denn wir wissen alle, dass wir dieses Potenzial oder die- diese Sache regeln kann, sondern dass wir diesen Weg
sen Schatz heben müssen. Aber – darauf hat der Kollege nur gemeinsam mit den Unternehmen – ich habe das
Weiß vorhin schon ganz richtig hingewiesen – mit der Vertrauen in die Unternehmen – beschreiten können.
(B) Initiative „50 plus“ haben wir in der Großen Koalition (D)
die ersten Schritte unternommen: Erhöhung der Weiter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bildungsquote und Abbau der Frühverrentung. der FDP)
Lieber Kollege Schaaf, Sie haben vorhin ein Beispiel Ich brauche Ihnen nur ein positives Beispiel aus dem
in Bezug auf die Müllabfuhr bei Ihnen genannt. Wir wis- Bayerischen zu nennen, nämlich BMW in Dingolfing.
sen aber beide, wie wir in den letzten Jahren mit diesem Dort ist ein Werk im Rahmen des Demografieprojekts
Problem und mit dem Altersteilzeitgesetz umgegangen „Heute für morgen“ aufgebaut worden. Dort sind alters-
sind. In erster Linie haben wir nämlich das Blockmodell gerechte Arbeitsplätze eingerichtet worden. Die Teile-
gewählt. Damit haben wir ganz bewusst viel Erfahrung bereitstellung wird individuell angepasst. Es ist ein
und Wissen aus dem aktiven Arbeitsleben genommen, Belastungswechsel möglich. Die Industrie und die Un-
um vor allem jüngeren Menschen eine Chance zu geben. ternehmen haben also erkannt, dass sie selber mit in der
Pflicht sind und reagieren müssen.
(Abg. Anton Schaaf [SPD] meldet sich zu
einer Zwischenfrage) Wir alle wissen um die Erfahrungen und die Leis-
tungsfähigkeit der älteren Mitarbeiterinnen und Mit-
– Ich darf bitte den Satz zu Ende führen. – Das haben wir arbeiter. Kollege Schaaf, ich sage es trotzdem noch ein-
getan, weil wir – deswegen kritisiere ich das jetzt auch mal: Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben,
nicht – damals auf eine Arbeitslosigkeit von fast auch wenn Sie es bestreiten, unsere ausdrückliche Wert-
5 Millionen reagieren mussten. Diesen Ansatz haben wir schätzung. Wir wissen, was diese Mitarbeiterinnen und
gewählt. Er hat aber natürlich dazu geführt, dass die Mitarbeiter in den Betrieben zu leisten imstande sind.
Quote damals geringer war.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Anton Schaaf [SPD]: Das wirkt sich aber nicht
So, Herr Kollege, jetzt dürfen Sie die Zwischenfrage in praktischer Politik aus!)
stellen. Die Rente mit 67 haben wir gemeinsam beschlossen.
Frau Pothmer, wenn ich Sie richtig verstanden habe,
Anton Schaaf (SPD): dann ist der Grundsatz zunächst richtig.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Würden Sie mir bestäti- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)
gen, dass nicht die Altersteilzeit abgeschafft wurde, son-
dern nur die Förderung der Altersteilzeit nicht fortge- – Bei Ihnen sowieso nicht. Da warten wir immer noch
führt worden ist? Die jetzt existierende Altersteilzeit ist auf den Reichtum für alle. Ceterum censeo: Reichtum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11707
Ulrich Lange
(A) für alle. Sie haben wieder Ihren ganzen Kasten vorge- ger zur Verfügung, die über eine zum Führen der Ein- (C)
stellt. Es hat kaum etwas gefehlt. satzfahrzeuge notwendige Fahrerlaubnis verfügen.
Vor dem Hintergrund der notwendigen Fachkräfte- Nur Fahrerlaubnisinhaber, die vor dem 1. Januar 1999
sicherung glauben wir an die strategische Partnerschaft. ihre Fahrerlaubnis erworben haben, können aufgrund ih-
Die Handlungsfelder, die Arbeitskräfteallianz, gemein- res Bestandschutzes auch weiterhin schwerere Fahr-
sam mit den Unternehmen, das, was wir mit unserer zeuge mit dem bisherigen Führerschein der alten
Bundesministerin voranbringen, das ist der richtige Weg. Klasse 3 fahren. Diese Fahrer stehen aber den freiwilli-
Wir werden den Schatz heben. Wir vertrauen gemeinsam gen Feuerwehren zunehmend aus Altersgründen nicht
auf die Unternehmen und auf unsere Maßnahmen. Dann mehr zur Verfügung. Es müssen jüngere Fahrer nach-
– da bin ich sicher – werden wir älteren Arbeitnehmerin- rücken, die aber nicht mehr über die benötigte Fahr-
nen und Arbeitnehmern eine größere Chance im Produk- erlaubnis für die Einsatzfahrzeuge verfügen. Es geht also
tionsprozess geben. Heben Sie mit! Heben wir gemein- um unser aller Sicherheit; vor allem im ländlichen
sam! Dann sind wir sicherlich auf einem guten Weg. Raum.
Danke schön. Nicht nur in Süddeutschland mit der dortigen Ehren-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) amtsstruktur, sondern auch in allen anderen Bundeslän-
dern führt dies zu dramatischen Engpässen bei den Ein-
satzfahrten. Ursache für diese Entwicklung ist die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sogenannte Zweite EG-Führerscheinrichtlinie von 1991,
Ich schließe die Aussprache. nach der das Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf deutschen Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an
Drucksache 17/5235 an die in der Tagesordnung aufge- die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen wa-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ren.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Seither dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B
so beschlossen. für Pkw nur noch Kraftfahrzeuge bis zu einer zulässigen
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9: Gesamtmasse von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden.
Für Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zwischen 3,5 Tonnen und 7 Tonnen ist hingegen seit
regierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten 1999 eine Fahrerlaubnis der Klasse C1, und für Fahr-
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrs- zeuge über 7,5 Tonnen eine Fahrerlaubnis der Klasse C
gesetzes erforderlich.
(B) (D)
– Drucksache 17/4981 – Diese Rechtsänderung wurde von der Europäischen
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Gemeinschaft eingeführt, um eine auf die unterschiedli-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur chen Fahrzeugklassen ausgerichtete spezifische Ausbil-
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes dung und Prüfung zu vereinheitlichen. Der Forderung,
eine Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehö-
– Drucksache 17/2766 – rige der freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht
– Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- anerkannten Rettungsdienste und des Katastrophen-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung schutzes mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatz-
(15. Ausschuss) fahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu
4,25 Tonnen fahren dürfen, konnte aus europarecht-
– Drucksache 17/5355 – lichen Gründen nicht entsprochen werden.
Berichterstattung: Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlos-
Abgeordnete Kirsten Lühmann sene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die reicht demnach aus meiner Sicht nicht aus, um die Ein-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre satzfähigkeit der betroffenen Organisationen tatsächlich
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zu verbessern. Die dort getroffenen Regelungen waren
zu bürokratisch und zu teuer.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Andreas Scheuer das Wort. Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit hat
ein intensiver Dialogprozess mit der Europäischen Kom-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mission stattgefunden. An dieser Stelle möchte ich dem
EU-Kommissar Siim Kallas sehr herzlich danken, der
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär beim gestern bei uns im Ausschuss war. Wir alle haben über
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: die Jahre intensiv an diesem Vorhaben gearbeitet, aber
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- die christlich-liberale Koalition hat jetzt umgesetzt, was
gen! Das Projekt „Feuerwehrführerschein“ hat uns alle lange Zeit nur dahingewabert hat und was zwar immer
in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr eingehend mit Briefen an die EU-Kommission unterlegt war, aber
beschäftigt. Die Problematik ist hinreichend bekannt und nie mit persönlichem Kontakt und mit Sensibilisierung
seit Jahren intensiv diskutiert worden. Es stehen immer für das deutsche Interesse an der Weiterentwicklung und
weniger junge ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bür- Zukunftsfähigkeit unserer Ehrenamtsstrukturen. Ich sage
11708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Ich bedanke mich noch einmal für die intensiven Ge- (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
spräche auch im Ausschuss. Es ist ein gutes Signal an Auch unter diesem Aspekt ist der Antrag auf Erteilung
die Ehrenamtlichen, dass der Ausschuss einstimmig dem einer Sonderfahrerlaubnis zu sehen. Das Ziel ist, ausrei-
Entwurf zugestimmt hat. Somit wünschen wir unseren chend gut ausgebildeten und ausgestatteten Nachwuchs
Ehrenamtlichen gutes Gelingen und vor allem unseren zu erhalten.
Verbänden, die im Rettungsdienst tätig sind, dass sie auf
viele junge Leute zurückgreifen können, die von dieser (Beifall bei der SPD)
Regelung profitieren. Die vorliegende Lösung ist pragmatisch, unbürokra-
Herzlichen Dank. tisch, kostengünstig, und – das war uns sehr wichtig –
sie geht nicht zulasten der Sicherheit. Heute findet die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie abschließende Beratung statt. Der Gesetzentwurf be-
der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/ inhaltet die Schaffung einer Ausnahmeregelung im Füh-
DIE GRÜNEN]) rerscheinrecht, da durch den Generationenwechsel – das
wurde eben vom Staatssekretär angesprochen – immer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: weniger Ehrenamtliche mit der neuen Führerschein-
Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Frak- klasse C1 zur Verfügung stehen. Da es relativ unattraktiv
tion. ist, für den privaten Gebrauch eine Fahrerlaubnis für
diese Klasse zu erwerben, gibt es auch immer weniger,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) die privat eine entsprechende Prüfung machen. Sie nur
dafür zu machen, um die Fahrerlaubnis als Hilfskraft
Kirsten Lühmann (SPD): einsetzen zu können, ist verständlicherweise viel zu
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe teuer. Mit dieser Regelung schaffen wir also Mobilitäts-
Kolleginnen! Unter diesem Tagesordnungspunkt reden verbesserungen für Feuerwehr und Rettungsdienste so-
wir über Katastrophenschutz und Feuerwehr. Das heißt, wie technische Hilfsdienste. Von daher ist es sehr wich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11709
Kirsten Lühmann
(A) tig, dass auch das Fahren mit Anhängern in diese greift, wie wir uns das vorstellen, oder ob es bei den (C)
Regelung einbezogen wurde. Hilfsorganisationen noch Probleme gibt, sodass wir
nachsteuern müssen.
Aber bereits in der ersten Lesung hatte ich einige An-
merkungen gemacht, die uns sehr wichtig sind. Die Ver- Die Hilfsorganisationen ringen sehr kreativ um Lö-
kehrssicherheitsverbände haben nämlich bezüglich die- sungen, wie ich feststellen konnte. Es gibt schon eine
ser Regelung erhebliche Bedenken. Die erste Frage ist, Regelung – der Herr Staatssekretär hat es bereits ange-
ob die Neuregelung konform mit EU-Recht geht. Ich sprochen – für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen. Eine Feuer-
habe nicht ganz verstanden, was der Staatssekretär dazu wehr in meiner Region hat ein solches Feuerwehrfahr-
gesagt hat. Er hat von Gesprächen berichtet, die mit zeug selbstständig umgebaut, und es mit einer zweiten
Herrn Kallas geführt wurden. Ich gehe davon aus, dass Bremse und zusätzlichen Spiegeln ausgestattet, sodass
die Gespräche dergestalt endeten, dass Herr Kallas der bei den Einweisungsfahrten der Einweisende eingreifen
Meinung ist, dass unsere Regelung EU-konform ist. kann, falls der einzuweisende Fahrer einen Fehler macht.
(Gustav Herzog [SPD]: Für das Protokoll: Der Es gibt eine weitere clevere Idee, und zwar von einem
Staatssekretär hat genickt! Es gibt ja keine Feuerwehrmann aus Oberfranken, der es allerdings mit
Videoaufnahme!) der Bürokratie zu tun bekam. Es handelt sich um einen
Fahrschullehrer aus der kleinen Gemeinde Litzendorf.
– Er hat genickt, für das Protokoll.
Er ist seit 15 Jahren ehrenamtlich und unentgeltlich für
(Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär: seine Feuerwehr tätig und wollte die Feuerwehrleute auf
Beide!) richtigen Einsatzfahrzeugen schulen. Deswegen kaufte
er ein solches Fahrzeug und schenkte es seiner Feuer-
– Beide. Hervorragend! – Das heißt, wir werden eine Re- wehr. Im Gegenzug wollte er das Feuerwehrfahrzeug für
gelung haben, die für die vielen ehrenamtlich Helfenden seine Schulungsfahrten nutzen und es kostenlos in der
eine klare Situation schafft. Garage der Feuerwehr unterstellen. So weit, so gut.
Zu den anderen beiden Punkten hatten wir im Ver- Jetzt fing der Amtsschimmel an, zu wiehern. Das In-
kehrsausschuss einen Antrag eingebracht. Dieser Antrag nenministerium lässt nun prüfen, ob ein auch privat ge-
wurde von der Mehrheit leider abgelehnt. Er beinhaltet nutztes Fahrzeug in einer öffentlichen Garage stehen
zum einen, dass die Vorgaben für die Einweisung und darf. Das Finanzamt lässt prüfen, ob ein Feuerwehrfahr-
Prüfung bundeseinheitlich geregelt werden sollten, und zeug, das auch privat genutzt wird – und sei es nur eine
zum anderen, dass die Prüfungsfahrten für die Klasse Stunde im Monat –, weiterhin steuerbefreit sein kann.
zwischen 4,75 und 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse Das Innenministerium forderte eine Klärung des Sach-
(B) durch die Kfz-Sachverständigen und nicht organisations- verhalts durch die Regierung von Oberfranken. Diese (D)
intern abzunehmen seien. wendete sich an das Landratsamt Bamberg, das wie-
Obwohl auch der Verkehrsausschuss des Bundesrates derum den Bürgermeister von Litzendorf anschrieb. Um
der Meinung war, man brauche eine bundeseinheitliche mit den Worten der Feuerwehr Reichenbach zu spre-
Lösung, konnte sich der Fachausschuss unserem Vor- chen: Jetzt kann uns wohl nur noch Sankt Florian helfen.
schlag nicht anschließen. Das wäre sinnvoll gewesen, da (Beifall bei der SPD)
die Sonderfahrerlaubnis bundesweit gültig ist. Ich hoffe
jetzt inständig, dass sich die Länder in eigener Regie eng Diese kurze Geschichte zeigt uns, mit wie viel Ein-
abstimmen, damit wir auf freiwilliger Basis doch noch fallsreichtum die Ehrenamtlichen unserer Gesellschaft
eine bundeseinheitliche Lösung hinbekommen. Wenn helfen wollen. Wir müssen dieses Engagement unterstüt-
diese nicht zustande kommt, hätte das eine völlige Zer- zen und tun dies mit dem heute zu verabschiedenden Ge-
splitterung der Verordnungslage zur Folge. Ich glaube, setz. Es freut mich besonders, dass es einstimmig ge-
das würde keinem nutzen. schieht.
(Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank.
Auch unser zweiter Vorschlag hat den Charakter eines (Beifall bei der SPD)
Appells, diesmal an die Hilfsorganisationen. Die Feuer-
wehrmänner und Ehrenamtlichen in den Hilfsorganisa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tionen leisten hervorragende Arbeit. Ich habe volles Ver-
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
trauen, dass sie in der Lage sind, die Einweisung auf den
Fahrzeugen zu organisieren. Dennoch bitte ich sie, zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
überprüfen, ob es nicht sinnvoll ist, das Geld für einen
externen Kfz-Sachverständigen auszugeben, wenn es um
Oliver Luksic (FDP):
die Prüfungen geht. Das sollte es uns aus Gründen der
Rechtssicherheit und insbesondere mit Blick auf die Hel- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
fenden, die später mit dieser Sonderfahrerlaubnis unter- beraten heute in letzter Lesung über die Entwürfe der
wegs sind, wert sein. Bundesregierung und des Bundesrates zur Schaffung des
sogenannten Feuerwehrführerscheins. Wir haben uns in
Um zu überprüfen, ob das funktioniert, regen wir an, den letzten Wochen intensiv und, wie ich finde, auch
dass wir uns in zwei oder drei Jahren gemeinsam die Re- konstruktiv über diese Entwürfe ausgetauscht. Lassen
gelung anschauen, um zu beurteilen, ob sie wirklich so Sie mich noch einmal auf die Kernpunkte eingehen.
11710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Oliver Luksic
(A) Wir verfolgen mit der Einführung des Feuerwehrfüh- Bedenken gegen die Rechtsförmlichkeit. Sonst läge uns (C)
rerscheins drei Kernziele. Wir tun dies, um die Einsatz- der Gesetzentwurf heute so auch nicht vor.
fähigkeit der freiwilligen Feuerwehren und der anderen
Dienste dauerhaft aufrechterhalten zu können und damit (Kirsten Lühmann [SPD]: Wenn gestern erst
den Freiwilligendienst in den Katastrophenschutzorgani- die Zustimmung kam? Das ist schon ein biss-
sationen zukunftsfest zu machen. Sowohl die Entwürfe chen eng!)
der Bundesregierung als auch des Bundesrats sehen eine Ich bin der Meinung, es ist inhaltlich gut zu vertreten,
Lösung vor, nach der organisationsintern sowohl einge- dass die nun genannten Organisationen zum Katastro-
wiesen als auch geprüft wird. Ich glaube, das ist unbüro- phenschutz im Sinne der 3. EG-Führerscheinrichtlinie zu
kratisch und spart Kosten. Deswegen unterstützen wir zählen sind.
diesen Ansatz.
Das Thema der bundeseinheitlichen Lösung, das auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die SPD angesprochen hat, ist natürlich eines, über das
wir sprechen müssen; das haben wir im Ausschuss be-
Ein weiteres wichtiges Ziel ist Folgendes. Wir reden reits getan. Ich möchte noch einmal festhalten: Im Bun-
ja immer über hochverschuldete Kommunen, die Geld desrat ist weiterhin eine Länderlösung vorgesehen, auch
sparen müssen. Dieses Vorgehen hilft genau hierbei; wenn der federführende Ausschuss es anders gesehen
denn sonst zahlen Kommunen häufig für Nachschulun- hat. Somit entspricht das, was wir hier verabschieden,
gen zum Erwerb von Führerscheinen, gerade bei der auch dem Willen der Länder, übrigens auch der SPD-ge-
Feuerwehr. Ich kenne das auch aus meiner Ratstätigkeit. führten Länder.
Gleichzeitig wollen und müssen Kommunen natürlich
die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Ich Ich halte es immer noch für sinnvoll, dass wir maßge-
glaube, der Feuerwehrführerschein ist eine gute Lösung, schneiderte Lösungen für jedes Bundesland haben; denn
um beide Ziele miteinander in Einklang zu bringen. die Anforderungen an Katastrophenschutzdienste sind
beispielsweise in Schleswig-Holstein vielleicht anders
Unser drittes Kernziel ist – fraktionsübergreifend –, als in Bayern, Niedersachsen oder im Saarland. Deswe-
dass wir das Ehrenamt stärken wollen. Dafür müssen wir gen ist es sinnvoll, dies vor Ort zu entscheiden.
Anreize schaffen. Ein solcher Anreiz ist der Feuerwehr-
führerschein. (Kirsten Lühmann [SPD]: Feuerwehrfahr-
zeuge sind überall gleich!)
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der von
Beginn an zu Recht eine wichtige Rolle spielte. Das ist Die Länder sind natürlich nicht davon abgehalten,
die Verkehrssicherheit. Es gab Bedenken, dass der Feu- sich eng abzustimmen. Insbesondere was die gegensei-
(B) erwehrführerschein eine Gefahr für die Verkehrssicher- tige Anerkennung angeht, ist dies ja auch wünschens- (D)
heit darstellt. Natürlich ist klar, Blaulichtfahrten bergen wert. Deswegen halte ich es für richtig, dass das
ein höheres Risiko als normale Fahrten. Aber wir haben BMVBS hier eine Art Koordinierungsrolle einnimmt.
uns einem intensiven Abwägungsprozess gestellt. An Staatssekretär Scheuer hat im Ausschuss ja angespro-
dessen Ende kann man guten Gewissens sagen, dass wir chen, dass es eine Art Basistext für den Feuerwehrfüh-
die Möglichkeit der organisationsinternen Einweisung rerschein gibt. Das ist, glaube ich, gut und richtig.
und Prüfung unterstützen. Es sind ja nicht irgendwelche Ich freue mich und die FDP freut sich über den brei-
Chaoten, denen wir das übertragen, sondern pflichtbe- ten Konsens, der im Grundsatz zwischen den Fraktionen
wusste Bürgerinnen und Bürger, die sich in den Diensten besteht. Jetzt kommt es auch darauf an, dass die Länder
engagieren. Vor allem sind im Gesetzentwurf klare An- die Regelungen zügig umsetzen und die Chancen nut-
forderungen für diejenigen vorgesehen, die einweisen zen, die sich mit dem Feuerwehrführerschein bieten. Die
und prüfen dürfen. Gerade deswegen haben wir auch die zahlreichen Ehrenamtlichen im Land warten darauf. Sie
Klarstellungswünsche des Bundesrates durch Ände- werden es Ihnen und uns auch danken.
rungsanträge der Koalitionsfraktionen aufgegriffen. Es
ist nun explizit geregelt, dass Ausbildung und Prüfung Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
auch durch Fahrlehrer vorgenommen werden können.
Ich glaube, das ist ein guter Fortschritt, den wir in den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Beratungen erzielt haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Kirsten Lühmann [SPD]: Das war vorher Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
auch schon möglich!) Linke.
Abgesehen davon, dass es den Fahrschulen ausdrück- (Beifall bei der LINKEN)
lich ermöglicht werden soll, durch attraktive Angebote
weiter Kunden zu gewinnen, haben wir also auch in Zu-
kunft in jedem Fall gut ausgebildete Fahrer auf den Ein- Thomas Lutze (DIE LINKE):
satzfahrzeugen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gut, dass wir heute endlich eine Lösung für die vielen
Lassen Sie mich noch kurz auf das Thema der Verein- freiwilligen Helferinnen und Helfer finden, die für un-
barkeit des Feuerwehrführerscheins mit dem Europa- sere Gesellschaft eine so wichtige Arbeit machen. Die
recht eingehen. Ich bin der Überzeugung, das Ganze unzähligen Freiwilligen bei Feuerwehr, dem Techni-
wurde durch das BMJ sorgfältig geprüft. Es gibt keine schen Hilfswerk und den Rettungsdiensten leisten einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11711
Thomas Lutze
(A) unschätzbaren Beitrag für das Funktionieren unseres Ge- Mir ist klar, dass bei den Einsätzen über Ländergren- (C)
meinwesens. zen hinweg ein einheitlicher Ausbildungsstand wün-
schenswert wäre. Oder soll zum Beispiel eine Feuerwehr
(Beifall bei der LINKEN) bei einer Grenzüberschreitung erst einmal einen Fahrer-
Diesen Dank einmal vom Rednerpult des Parlaments wechsel vornehmen?
auszusprechen, ist mir umso wichtiger, weil die Freiwil- Die Linke stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf
ligen oft auch hoheitliche Aufgaben, wie zum Beispiel zu. Ich würde mir sehr wünschen, dass die anderen Frak-
die Brandbekämpfung, übernehmen. Man kann sagen, tionen – ich schaue gerade in die entsprechende Rich-
dass unser Gemeinwesen in dieser Form ohne das Enga- tung – bei nächster Gelegenheit bei vergleichbaren An-
gement dieser Frauen und Männer nicht funktionieren trägen auch einmal zustimmen würden, wenn die
würde. Diese Menschen erwarten von uns zu Recht, dass Opposition ihre Anträge vorlegt.
wir nicht nur nette Worte für sie übrig haben, sondern sie
erwarten auch Unterstützung vom Gesetzgeber. Dazu Vielen Dank.
gehört es auch, dass wir ihre Arbeit nicht unnötig er- (Beifall bei der LINKEN)
schweren. Die Arbeit von Feuerwehr, dem THW und
den Rettungsdiensten wurde in der Vergangenheit aber
Präsident Dr. Norbert Lammert:
leider erheblich erschwert.
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms
Der Staatssekretär hat es bereits ausgeführt: Seit im für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jahre 1999 das europäische Recht im Führerscheinwesen
vereinheitlicht wurde, finden diese Organisationen kaum Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
noch Nachwuchskräfte, die über einen geeigneten Füh- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pro-
rerschein bis 7,5 Tonnen verfügen. Das wollen wir hier blematik der Feuerwehrführerscheine haben wir lang
und heute korrigieren, und wir sind uns dabei auch über und breit diskutiert, hier im Plenum und auch in den
Fraktionsgrenzen hinweg einig. Ausschüssen. Ich will deswegen nicht noch einmal das
gesamte Thema ausbreiten. Die Kolleginnen und Kolle-
Ein immer wieder diskutierter Punkt bei den Beratun-
gen haben das schon vorab gemacht.
gen war die Verkehrssicherheit. Dabei wird häufig über-
sehen, dass bis 1999 jeder Fahranfänger mit einem Pkw- Auch die Grünen finden die Änderung des Straßen-
Führerschein ins Führerhaus eines 7,5-Tonners steigen verkehrsgesetzes richtig und wollen keine Differenzen
durfte – ohne jede Einweisung und ohne eine einzige konstruieren, wo es keine gibt. Als konstruktive Opposi-
Fahrstunde auf diesem Lkw. Eine wie auch immer vor- tion wollen wir greifbare Verbesserungen für die Men-
(B) geschriebene Einweisung innerhalb der Organisation schen in unserem Land erreichen. Wir fällen unsere Ent- (D)
stellt daher in jedem Fall eine Verbesserung der Ausbil- scheidungen sachorientiert und in aller Ruhe.
dung im Vergleich zur früheren Situation dar.
Von der Panik, die jetzt die eine Seite des Hauses er-
Mir ist überdies keine Statistik bekannt – vielleicht ist griffen hat, lassen wir uns nicht anstecken. Die Lage die-
eine solche in einer anderen Fraktion oder bei der Regie- ser Regierung ist desolat. Verbesserungen sind vielfach
rung vorrätig –, dass die Inhaber der alten Führer- nicht mehr zu erwarten. Aber die Zeit dreht sich weiter,
scheinklasse 3 eine höhere Unfallquote beim Führen von und die Menschen wollen von uns Lösungen sehen. Bei
7,5-Tonnern aufweisen. In Ihrer Gesetzesvorlage wollen sehr vielen Regierungsvorhaben müssen und werden wir
Sie, vor allem der Bundesrat, dass die Bundesländer bei auch weiterhin sehr skeptisch sein. Hier sind wir es nicht
der Prüfung und Ausbildung Sonderregelungen treffen und stimmen deswegen zu.
können. Für die Linksfraktion ist das weiterhin ein Ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
kel, der allerdings nicht dazu führt, dass wir den vorlie-
genden Gesetzentwurf ablehnen werden. Wir stellen uns einer pragmatischen Lösung nicht in
den Weg. Wir gehen davon aus, dass die Gesetzesände-
Wir bleiben dennoch dabei, dass eine bundeseinheit- rung im Einklang mit dem europäischen Recht erfolgt
liche Regelung mehr Sinn macht, da sich die Situationen – der Staatssekretär und der Bundesminister haben das
in den einzelnen Bundesländern kaum voneinander un- eben ja auch bestätigt –; denn alles andere wäre Aus-
terscheiden. Herr Kollege Luksic, Sie müssen mir ir- druck einer unverantwortlichen Politik gegenüber den
gendwann in aller Ruhe erklären, wo sich für eine frei- Katastrophenschützern, den Helfern und den Feuerwehr-
willige Feuerwehr die Situation in Schleswig-Holstein leuten, die ihre Arbeit ehrenamtlich machen.
von der im Saarland unterscheidet.
Meine Damen und Herren, im Verkehrsausschuss ha-
(Oliver Luksic [FDP]: Hochwasser!) ben wir darüber beraten, ob die Zuständigkeit beim
Bund liegen sollte. Da Feuerwehren regional organisiert
– Ja gut, das Hochwasser haben wir an der Saar auch oft sind, denken wir, dass die Verantwortung auch bei den
genug gehabt. Ich sehe vielleicht einen Unterschied zwi- Ländern liegen sollte. Dort kennt man die örtlichen Be-
schen den drei Stadtstaaten; aber bei den Flächenländern dürfnisse am besten und weiß, wie die Veränderungen
sehe ich beim besten Willen keinen Unterschied. schnellstmöglich umgesetzt werden können. Natürlich
(Zuruf des Abg. Florian Pronold [SPD]) regen wir an, dass sich die Länder abstimmen – nach
dem, was wir gehört haben, ist das vorgesehen – und die
– Das nehmen wir jetzt einmal nicht zu Protokoll. Regeln untereinander harmonisieren, aber wir sollten die
11712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Andreas G. Lämmel
(A) Ich weiß aber nicht so recht, ob die Diskussion, die der alte Anbieter den Endkunden so lange weiter versor- (C)
wir jetzt führen, nicht völlig deplatziert ist; denn – Sie gen muss, bis der Anbieterwechsel innerhalb eines Tages
haben es selbst erwähnt – die Bundesregierung hat den gewährleistet ist. Ich denke, dass unsere Regelung besser
Gesetzentwurf schon am 2. März dieses Jahres verab- ist und auch wesentlich weiter geht als Ihre Forderung
schiedet. Der Bundesrat hat seine Stellungnahme dazu nach Sanktionen.
geschrieben, und es wäre sinnvoll gewesen, in der ersten
Ein anderes Thema ist die zwölfmonatige Höchstver-
Lesung des Gesetzentwurfes hier im Deutschen Bundes-
tragslaufzeit für Telekommunikationsverträge. Das ist
tag, also im Mai, genau die Fragen, die Sie vorgetragen
ein leidiges Thema; das muss ich zugeben. Mir ist das
haben, zu erörtern.
auch schon oft passiert: Man wechselt den Anbieter und
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die muss einen Zweijahresvertrag unterschreiben. Wenn
trage ich schon seit Jahren vor!) man vergisst, diesen Vertrag innerhalb einer bestimmten
Frist zu kündigen, läuft er weiter, dann allerdings nur
– Ja, genau.
noch ein Jahr. Wir sind der Auffassung, dass eine zwölf-
Ich muss Ihnen auch sagen, dass Ihr Antrag ein biss- monatige Höchstvertragslaufzeit notwendig ist. Zumin-
chen spät vorgelegt worden ist; denn die CDU/CSU- dest muss die Möglichkeit dazu bestehen. Ob der Ver-
Fraktion hat schon lange ein Papier zu den verbraucher- braucher einen Vertrag über zwei, drei, fünf oder zehn
schutzrechtlichen Regelungen im Gesetzentwurf vorge- Jahre unterschreibt, bleibt ihm überlassen; aber er muss
legt. 80 Prozent Ihrer gesamten Regelungsvorschläge auch die Möglichkeit haben, einen Vertrag abzuschlie-
können Sie jetzt im Gesetzentwurf der Bundesregierung ßen, der nur ein Jahr läuft und entsprechend gekündigt
nachlesen. werden kann.
(Martin Dörmann [SPD]: Wir wollen Ein weiteres Thema sind die Verbraucherrechte beim
100 Prozent!) Umzug. Umzüge kommen im praktischen Leben oft vor;
die Menschen sollen schließlich mobil sein. Gefordert
Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich also wird, dass für den Fall eines Umzugs ein Sonderkündi-
sagen: Haken, Haken, Haken – alles eigentlich erledigt, gungsrecht im Gesetz verankert wird.
weil es im Gesetzentwurf steht.
Sie befürworten sogar, dass die Telekommunikations-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich unternehmen eine Kompensation für die überlassene
habe es doch gesagt: kein Haken, kein Haken, Hardware erhalten. Damit sind Sie sehr wirtschafts-
kein Haken!) freundlich. Über diesen Vorschlag werden wir diskutie-
Insofern ist die Diskussion heute eine kleine Spiegel- ren müssen. Wir sind der Auffassung, dass es eine ver-
(B) fechterei. Wir sollten das in den Ausschüssen debattie- traglich vereinbarte Abstandszahlung geben soll. Der (D)
ren. Es lohnt sich sicherlich, darüber zu diskutieren, Verbraucher muss wissen, worauf er sich bei einem Um-
wenn der Gesetzentwurf eingebracht ist. zug einlässt.
Deswegen möchte ich jetzt auch nur drei Punkte an- Ich denke, in den weiteren Themen, die Sie angespro-
sprechen, die uns hier wirklich sehr beschäftigen. chen haben, wie die Mitnahme von Mobilfunkrufnum-
mern und Preistransparenz bei Call-by-Call-Dienstleis-
Jeder hier im Raum hat sich in der vergangenen Zeit tungen, liegen wir nicht weit auseinander. Insofern
wahrscheinlich schon einmal sehr über Anrufe mit unter- denke ich, dass die Beratung, was den ersten Teil Ihres
drückter Nummer, über falsche Angaben von Bandbrei- Antrages angeht, in großer Gemeinsamkeit gelingen
ten bei Internetanschlüssen und über teure Warteschlei- kann. Beim zweiten Teil Ihres Antrags wird es schon
fen geärgert. Deswegen bestätige ich Ihnen ja auch, dass schwieriger. Das wissen Sie auch genau. Herr Dörmann
Handlungsbedarf besteht. lächelt schon insgeheim in sich hinein, weil er genau
Die Warteschleifen sind, glaube ich, im Moment eines weiß, dass verschiedene Regelungen, die darin gefordert
der größten Probleme. Ich denke, wir haben hier im werden, einen sehr hohen bürokratischen Aufwand nach
Hause und auch mit der Regierung eine große Einigkeit, sich ziehen. Da wir alle eigentlich für Bürokratieabbau
dass in Bezug auf kostenlose Warteschleifen Regelungen sind, werden wir uns dabei sicherlich kaum einig wer-
geschaffen werden müssen, und auch über die Wege sind den.
wir uns jetzt wohl einig, nachdem die Anbieter lange Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Sie
Zeit erklärt haben, was alles technisch nicht geht. Letzt- wird sicherlich sehr produktiv werden. Der Verbraucher
endlich geht vieles dann aber doch; das haben wir in der wird der Gewinner sein. Das ist unser Ziel.
politischen Praxis ja schon oft erlebt. Ich denke also, das
Thema wird sich regeln lassen. (Klaus Barthel [SPD]: Schauen wir mal!)
In Bezug auf den Anbieterwechsel innerhalb eines Es ist die Aufgabe der Politik, die Verbraucherrechte zu
Kalendertages gehen wir andere Wege als Sie. Sie for- stärken. Das werden wir mit dem Gesetzentwurf und den
dern Sanktionen, wenn ein Anbieterwechsel nicht inner- weiteren Diskussionen im Ausschuss auch tun.
halb eines Tages abgeschlossen wird. Was nützt es mir,
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
wenn der Anbieter, nachdem ich fünf Tage lang kein Te-
lefon hatte, vielleicht 100 Euro zahlen muss? Ich will (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
den Anbieterwechsel an einem Tag realisiert haben. Wir Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gesagt
sind der Meinung, dass es wesentlich besser ist, wenn haben Sie eigentlich nichts!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11717
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: nehmen zubilligen möchte. Anstatt zu sagen, dass die (C)
Die Kollegin Caren Lay ist die nächste Rednerin für Warteschleifen kostenlos sein sollen, wollen Sie, dass
die Fraktion Die Linke. das nur bei Sondertelefonnummern gilt.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Die anderen
kosten ja eh nichts!)
Caren Lay (DIE LINKE): Insofern ist die Behauptung von Verbraucherministerin
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Aigner, das Problem kostenpflichtiger Warteschleifen
Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Lämmel, ich muss sei gelöst, sicher nicht die richtige Formulierung.
mich schon wundern. Ich denke, dass die Beratung der
Anträge der Linken, aber auch der anderen Oppositions- Auch wir als Linke haben hier einen Antrag vorge-
fraktionen zu dem wichtigen Thema Verbraucherschutz legt. Wir sagen zum Beispiel: Warteschleifen müssen
im Telekommunikationsbereich nun wirklich nicht de- komplett kostenlos sein. Auch die Wartezeit muss be-
platziert ist, wie Sie gesagt haben. Vielmehr ist es längst grenzt werden. Denn wer möchte schon viele Stunden
überfällig, dass die Bundesregierung handelt. Wieder mit Dudelmusik am Telefon verbringen? Ebenso fordern
einmal muss die Opposition Sie vor sich hertreiben. wir klare Preisobergrenzen und Preisinformationen. Was
für das Festnetz schon längst gilt, muss auch für das
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Handy gelten.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schließlich durch ungebetene Telefonanrufe, Kostenfal-
len im Internet und viele andere Dinge mehr jedes Jahr Wir wollen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
sehr viel Geld. Ich denke, jeder von uns kennt dieses besser vor Kostenfallen im Internet geschützt werden. Es
Problem auch aus der eigenen Erfahrung. Man bekommt muss klar erkennbar sein, wie viel ein Kauf im Internet
zum Beispiel eine SMS auf das Handy mit der Mittei- kostet und wann der Kauf tatsächlich abgeschlossen ist.
lung: „Sie haben gewonnen! Rufen Sie uns bitte unter Deswegen fordern auch wir, ebenso wie in der letzten
folgender Nummer an.“ Dann landet man in einer Warte- Legislaturperiode, einen Internetbutton. Besonders be-
schleife, die am Ende sehr viel Geld kostet. Der Haupt- drückend finde ich, dass sich die Telekommunikations-
gewinn bleibt aber aus. branche in der Zwischenzeit eine goldene Nase verdient.
Im letzten Jahr hat die Branche in Deutschland einen
Ein anderes Beispiel sind die scheinbaren Billigtarife, Umsatz von 61 Milliarden Euro erzielt, einen Teil davon
bei denen die Telekommunikationsunternehmen beson- mit unseriösen Praktiken.
(B) ders preiswerte Anrufe ins Ausland oder in Mobilfunk- (D)
netze versprechen. Dann aber erhöhen die Anbieter Wir sagen als Linke: Verbraucherabzocke darf sich
kurzfristig und auch unbemerkt die Minutenpreise oft nicht länger lohnen. Die Zögerlichkeit von Schwarz-
um das Vielfache, und die Verbraucherinnen und Ver- Gelb ist Teil einer Politik zugunsten der Unternehmen.
braucher bleiben auf den Kosten sitzen. Verbraucherinteressen bleiben dabei auf der Strecke. Das
muss endlich ein Ende haben.
Insofern erleben viele Verbraucherinnen und Verbrau-
cher die Telekommunikationsbranche als einen Markt Vielen Dank.
der Abzocke. Wir als Linke sagen, dass diese Abzocke
im Internet und bei der Telekommunikation endlich ein (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
Ende haben muss. DIE GRÜNEN)
Claudia Bögel
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wir uns auch künftig halten; denn gute Wettbewerbs- (C)
Martin Dörmann [SPD]: Sie haben doch noch politik – davon bin ich überzeugt – ist die beste Verbrau-
gar nichts beschlossen! – Caren Lay [DIE cherpolitik.
LINKE]: Was haben Sie denn schon ge-
macht?) Vielen Dank.
So wird die Bundesnetzagentur in Zukunft darüber (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren
wachen, ob die Angaben zu den Geschwindigkeiten von Lay [DIE LINKE]: Um Gottes willen!)
Breitbandanschlüssen mit den Fakten übereinstimmen.
Sie wird darüber wachen, ob die Preistransparenz bei so- Präsident Dr. Norbert Lammert:
genannten Call-by-Call-Gesprächen und mobilen Daten- Nun erhält die Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion
diensten gewährleistet wird. Der Schutz vor Abrechnung Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
von Internetkostenfallen über die Handyrechnung wird
auch auf den Mobilfunk ausgeweitet. Ein ganz wesentli-
cher Faktor für Unternehmen ist die Verkürzung der Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wartezeit bei Anbieterwechsel auf einen Tag. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein ganz
wichtiges Feld, über das wir heute diskutieren; denn
(Martin Dörmann [SPD]: Das hat doch die EU ganz viele Menschen sind von großen Problemen betrof-
vorgeschlagen!) fen, die wir weiterhin bei der Telekommunikation haben.
Wir haben das Problem erkannt: Telefonanbieterwechsel Deshalb sage ich: Auch ein mündiger Bürger braucht ei-
und schon ist man unter Umständen mehrere Tage nicht nen bestimmten Schutz. Es reicht einfach nicht, nur auf
erreichbar. Für den Bürger ist das ärgerlich, für ein Un- Wettbewerb zu setzen, um das einmal sehr deutlich zur
ternehmen ist es von existenzieller Bedeutung. Mit der FDP zu sagen.
entsprechenden Regelung und vielen weiteren Regelun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen bietet das TKG zeitgemäßen Verbraucherschutz für und bei der SPD)
alle Formen der elektronischen Kommunikation, und das
auf höchstem Niveau. Wir haben Telefon, wir haben Handy, wir haben Inter-
net und wir haben neue Medien, die eine immer größere
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rolle spielen. In vielen Bereichen herrschen in der Tat
Das ist unsere Politik. Ihr folgen Taten statt warmer immer noch Wildwestmethoden. Deshalb müssen wir
Worte, verpackt in populistische Forderungen. dem Verbraucherschutz mehr Gewicht geben. Ich habe
den Eindruck, dass die Bundesregierung diesen Heraus-
(B) (Lachen bei der SPD – Caren Lay [DIE forderungen nicht gewachsen ist; denn sie braucht ex- (D)
LINKE]: Das ist ja unglaublich!) trem lange, um zu reagieren, und wenn sie reagiert,
springt sie zu kurz. Es ist wichtig, heute diese Debatte zu
Noch in diesem Jahr können wir die letzten weißen
führen, damit wir endlich im Verbraucherschutz bei der
Flecken in der flächendeckenden Grundversorgung mit
Telekommunikation vorankommen.
DSL-Internetanschlüssen und LTE beseitigen. Die Zu-
sage hierzu wurde von den TK-Unternehmen aktuell be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
kräftigt. bei der SPD und der LINKEN)
Wir wollen, dass auch in den ländlichen Räumen bis Angesichts der kurzen Zeit nenne ich drei Beispiele.
spätestens 2018 besonders schnelle Breitbandanschlüsse Das ganze Thema ist extrem breit. Ein Beispiel sind die
flächendeckend verfügbar sind. Telefonwarteschleifen. Wir von den Grünen haben das
(Martin Dörmann [SPD]: Sie tun nur nichts Thema 2009, als wir eine Studie vorgelegt haben, in die
dafür!) Diskussion gebracht und auf den Missbrauch und die
Abzocke hingewiesen – jetzt haben wir 2011. Wir haben
Der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbandes dieses Thema im März des letzten Jahres in den Bundes-
fordert deshalb eine kosteneffiziente und für die Ver- tag eingebracht. Ein Jahr später wird endlich ein Gesetz-
braucher auch bezahlbare Ausbaustrategie. Absolut rich- entwurf auf den Weg gebracht. Da kann man nun sagen:
tig. Augenmaß und nicht blinder Aktionismus ist hier Lieber spät als nie. – Aber man muss auch sagen: Er ist
von größter Wichtigkeit; noch nicht einmal gut geworden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Widerspruch der Abg. Claudia Bögel [FDP])
denn es geht um Investitionen in Höhe von immerhin Daher finde ich schon, dass man fragen muss, was Frau
40 Milliarden Euro. Der Ausbau soll mit dem Ziel erfol- Aigner dazu sagt. Frau Aigner hat sich gerühmt, sie habe
gen, für die Verbraucher die geringsten Kosten zu errei- das Problem der kostenpflichtigen Warteschleifen gelöst.
chen. Ohne den Wettbewerb als den wichtigsten Antrei- Sie hat gesagt: Wird vom Unternehmen keine Leistung
ber wird dies nicht gelingen. erbracht, dürfen auch keine Kosten berechnet werden. –
Das ist ein Zitat.
Allein der Wettbewerb, der allen Verbrauchern freie
Wahl unter den Anbietern gibt, hat den Telekommunika-
tionsmarkt zum erfolgreichsten Modell für die Liberali- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sierung staatlicher Monopole gemacht. Daran sollten Frau Kollegin Höhn, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11719
(A) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): so schnell sein. Das war nicht schnell in Ihrer Regie- (C)
Sofort. Ich möchte den kleinen Satz noch zu Ende rungsverantwortung.
bringen, und dann werde ich eine Zwischenfrage zulas-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
sen.
DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich komme zum nächsten Punkt: unerlaubte Telefon-
Aber sicher. werbung. Da dieses Problem schon lange bekannt ist, ha-
ben wir schon vor einiger Zeit einen entsprechenden An-
trag eingebracht. Die Bundesnetzagentur hat festgestellt:
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 2010 gab es 30 Prozent mehr Beschwerden als 2009.
Dann erhalte ich wieder ein bisschen mehr Zeit. Mittlerweile haben sich 130 000 Menschen bei der Bun-
desnetzagentur beschwert. Das lässt uns ahnen, wie viele
Präsident Dr. Norbert Lammert: Personen tatsächlich betroffen sind. Zwar wird nun eine
Das wollen wir dann sehen. Lösung des Problems vorgelegt, aber auch da muss man
sagen: späte Einsicht. Auch hier hätte viel früher eine
Lösung gefunden werden können. Wir als damalige Op-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
positionsfraktion haben Vorlagen mit Lösungen einge-
Wenn wir dieses Zitat von ihr – wird vom Unterneh- bracht. Damals haben Sie gegen uns gestimmt. Jetzt stel-
men keine Leistung erbracht, dürfen auch keine Kosten len Sie fest: Um den Verbraucher zu schützen, muss er
berechnet werden – jetzt auf seine Richtigkeit überprü- eine schriftliche Bestätigung abgeben. Um das zu verste-
fen, dann stellen wir fest: In der Tat werden immer noch hen, haben Sie Jahre gebraucht. Auch hier ist der Ver-
Kosten fällig, es gibt immer noch Schlupflöcher. Dieser braucherschutz bei Ihnen eine Schnecke.
Satz ist einfach falsch.
(Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜND-
Wenn die Ministerin am Weltverbrauchertag sagt, irre- NIS 90/DIE GRÜNEN])
führende Aussagen in der Lebensmittelwerbung dürfe es
nicht mehr geben, dann sagen wir: Sie sollte keine irre- Letzter Punkt: Kostenfallen im Internet. Verstehen
führende Werbung in eigener Sache machen. Auch das Sie endlich, dass Menschen, die über das Internet eine
ist verboten und sollte nicht geschehen. Leistung in Anspruch nehmen, sehen müssen, wie viel
diese Leistung kostet. Mit einem entsprechenden Button
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist das ganz einfach zu erreichen. Wir sind uns eigent-
bei der SPD und der LINKEN) lich einig, dass dafür gesorgt werden muss. Deshalb
(B) sage ich – Frau Ministerin ist nicht da –: Herr Bleser – (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie sind mir der beste Verbraucherschützer, den ich mir
Bitte schön. vorstellen kann
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dr. Erik Schweickert (FDP): der FDP)
Frau Kollegin Höhn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das Problem der Abzocke bei telefoni- – genau –; denn Sie sind nun für mehr als nur für Land-
schen Warteschleifen nicht erst seit der Regierungsüber- wirtschaft zuständig –, setzen Sie Ihr Vorhaben endlich
nahme durch Schwarz-Gelb, also 2009, als Sie die Um- um und reden Sie nicht immer nur darüber! Ich finde
frage durchgeführt haben, existiert, sondern schon viele diese von der SPD angestoßene Debatte gut. Die Regie-
Jahre früher existierte? Deswegen möchte ich Sie fragen: rung muss endlich etwas tun.
Warum widmen Sie sich diesem Thema erst seit 2009? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Warum haben Sie sich diesem Thema nicht schon zu der sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Zeit gewidmet, als Sie die Regierungsverantwortung KEN)
hatten? Da gab es das Problem nämlich schon.
(Beifall bei der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mechthild Heil ist die nächste Rednerin für die CDU/
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CSU-Fraktion.
Dazu muss ich ganz ehrlich sagen: Das ist nun wirk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
lich nicht logisch; denn wir waren hier im Bundestag im- der FDP)
merhin die Ersten, die den Antrag dazu eingebracht ha-
ben, und wir waren immerhin diejenigen, die dann Mechthild Heil (CDU/CSU):
wenigstens 2009 mit dieser Anfrage das Ganze an die
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Öffentlichkeit gebracht haben. Wenn ich sehe, dass die Kollegen! Die CDU/CSU hat den Verbraucherschutz fest
Franzosen heute schon in der Lage sind, kostenfreie im Blick. Wir freuen uns, dass die Opposition uns mit ih-
Warteschleifen zu garantieren, dann verstehe ich nicht,
ren Anträgen heute bei diesem Vorhaben unterstützen
warum die Ministerin das, was die Franzosen können, will. Vielen Dank!
hier in Deutschland nicht kann. Das ist das Problem.
Schnelles Handeln wäre möglich gewesen. Von 2009 bis In den letzten Jahren haben wir mit der Verschärfung
2011 ist eine lange Zeit. Sie von der FDP wollen immer des Gesetzes zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwer-
11720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Mechthild Heil
(A) bung erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht: wollen auch, dass der Mobilfunkkunde in Zukunft seine (C)
Uns ist es gelungen, dass unlautere Anrufe strenger ge- Rufnummer zum neuen Anbieter mitnehmen kann. Das
ahndet werden. Außerdem haben wir ein deutlich höhe- ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Kundenser-
res Bußgeld durchgesetzt. Wir haben Rufnummernunter- vice.
drückungen verboten, und wir haben das Widerrufsrecht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgeweitet, auch bei Gewinnspielen.
Unser Ziel als CDU/CSU ist es nämlich, mehr Wett-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Auf un-
bewerb zu ermöglichen und damit für die Kunden die
seren Tipp hin!)
Kosten zu senken. Deshalb wird jeder Telefon- und In-
Darüber hinaus haben wir festgesetzt, dass Anbieter- ternetanbieter verpflichtet, auch Verträge mit zwölf an-
wechsel und Vertragsänderungen nur noch mit schrift- statt mit 24 Monaten Laufzeit anzubieten. Und: Handy-
licher Bestätigung des Kunden erlaubt sind. Das alles abrechnungen müssen so transparent und verständlich
war und ist ein großer Erfolg für Verbraucherinnen und erstellt werden, dass der Kunde erkennen kann, was wie
Verbraucher. Aber unsere Ideen und unsere Durchset- viel gekostet hat. Er muss auch Widerspruch gegen ein-
zungskraft gehen noch weiter. zelne Rechnungsposten einlegen können. Diese Vielzahl
von Verbesserungen im TKG bringt uns dem Ziel eines
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und „sauberen“ Telefons wesentlich näher. Damit ist der
der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] Unionsfraktion eine weitere Stärkung der Verbraucher
[SPD]: Da haben Sie noch von unserer Idee gelungen.
gelebt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Bundeskabinett hat am 2. März den Entwurf der
Novelle zum Telekommunikationsgesetz beschlossen. Auch mit dem Geschwindigkeitsschwindel bei DSL-
Damit setzen wir unsere verbraucherpolitischen Ziele Anschlüssen ist jetzt Schluss. Derzeit geben die Anbieter
konsequent weiter um. Mit überteuerten und endlosen die Geschwindigkeit von DSL-Anschlüssen mit „bis zu“
Warteschleifen, Frau Höhn, den Kunden das Geld aus an. In der Realität heißt das oft: Die Höchstgeschwindig-
der Tasche zu ziehen, ist mit uns nicht zu machen. Wir keit wird auch unter günstigsten Bedingungen nicht er-
sorgen dafür, dass ein Anrufer erst dann bezahlen muss, reicht. Oft entpuppt sich der Datenhighway als verkehrs-
wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der sich beruhigte Zone. Deshalb werden wir die DSL-Anbieter
seines Problems annimmt. Ja, Servicenummern dürfen verpflichten, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten
etwas kosten, aber erst ab der Sekunde, ab der dem Kun- anzugeben.
den auch wirklich geholfen wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) Ein weiteres Ärgernis für die Verbraucher sind einige der FDP) (D)
Call-by-Call-Anbieter. Mit unübersichtlichen Tarif-
Der zweite Schwerpunkt unseres Gesetzes, das wir
sprüngen werden Kunden bewusst in die Irre geführt.
vorlegen werden, ist der Breitbandausbau. Wir wollen
Die Folge kann eine massiv überhöhte Rechnung sein.
möglichst bis 2015 eine flächendeckende Verfügbarkeit
Dieses Problem wurde auf der europäischen Ebene er-
von Breitbandanschlüssen mit einer Bandbreite von
kannt, und Europa hat gehandelt. Deshalb können heute
50 Megabit pro Sekunde erreichen.
nationale Regulierungsbehörden – bei uns ist das die
Bundesnetzagentur – Transparenzvorgaben für die Tele- (Martin Dörmann [SPD]: Sie haben aber ein
kommunikationsunternehmen machen. Dazu gehört eine anderes Ziel formuliert! – Weiterer Zuruf von
Tarifansage zu Beginn jedes Gesprächs. Wechselte bis- der CDU/CSU: Wichtig für den ländlichen
her ein Kunde den Wohnort, musste er meist den alten Raum!)
Vertrag fortführen, auch wenn am neuen Wohnort die
Wir wissen, dass in ländlichen Regionen Breitbandnetze
Leistungen gar nicht angeboten wurden. Damit soll jetzt
ebenso wichtig sind wie in Ballungsräumen. Sie sind
Schluss sein. Wir wollen ein gesetzlich verankertes Son-
wichtig für die Ansiedlung von Unternehmen, die Schaf-
derkündigungsrecht bei Umzug. Wird die gleiche Leis-
fung von Arbeitsplätzen und auch für die Teilhabe aller
tung am neuen Wohnort angeboten, darf auch die verein-
an unserer Gesellschaft. Die CDU/CSU macht keine
barte Vertragslaufzeit nicht mehr geändert werden.
Qualitätsunterschiede zwischen Verbrauchern aus städti-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat schen und Verbrauchern aus ländlichen Räumen. Große
die EU vorgegeben! Das sind alles nicht Ihre Städte mit Internethochgeschwindigkeitsstrecken und
eigenen Ideen!) Dörfer auf dem Internetabstellgleis – das ist mit mir und
mit der CDU/CSU nicht zu machen.
Es soll Schluss sein mit endlosen automatischen Ver-
tragsverlängerungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Menschen im ländlichen Raum sind für mich keine Ver-
der FDP) braucher zweiter Klasse.
Auch der Wechsel zwischen den Telefongesellschaften Schnelle Internetanschlüsse sind heute mit der Ver-
muss vereinfacht werden. Wechselt man zur Konkur- sorgung von Wasser und Strom gleichzusetzen. Sie sind
renz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lang Teil der Daseinsvorsorge. Es gibt einen Wunsch nach
stillgelegt werden. So lange bleibt der alte Anbieter Ver- und ein Recht auf ungehinderten Informationszugang.
tragspartner. Dann muss alles wieder funktionieren. Wir Dafür kämpfe ich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11721
Mechthild Heil
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Trotzdem enthält der Antrag von der SPD einiges (C)
der FDP) Gute. Allerdings frage ich mich, warum das so ist. Ich
frage mich, ob das Guttenberg-Syndrom so langsam bei
Gerade als Verbraucherschützerin liegt mir dies sehr am Ihnen angekommen ist; denn die guten Sachen entstam-
Herzen. Ohne den freien Zugang zu Informationen gibt men dem Plagiieren.
es keine mündigen Bürger. Aus diesem Grund streben
wir eine flächendeckende Versorgung für Land und Stadt (Lachen bei der SPD – Christel Humme
an. [SPD]: Das war ein Eigentor!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben gesagt – das steht im Entwurf der TKG-
Novelle –: Ein Anbieterwechsel soll funktionieren. Wir
Mehr Rechte, weniger Abzocke, schnelleren Anbie- haben sogar die Rückfallmöglichkeit für den Fall vorge-
terwechsel, fairen Wettbewerb und besseren Durchblick sehen, dass es nicht funktioniert.
im Telekommunikationsdschungel – dies alles wollen
Verbraucher. Wir, die CDU/CSU, schaffen die gesetz- (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Genau!)
lichen Grundlagen dafür. Wenn Sie von der Opposition
Damit gehen wir über die Forderung hinaus, die Sie auf-
uns hierbei unterstützen wollen, sind Sie herzlich einge-
stellen.
laden.
Ich kann die Liste weiter durchgehen. Wir sehen die
(Caren Lay [DIE LINKE]: Halten Sie sich an garantierten Tarifvarianten, maximal zwölf Monate, vor;
unsere Anträge!) Seite 29, § 43 b.
Ich freue mich auf eine intensive Diskussion mit Ihnen. (Burkhard Lischka [SPD]: Alles von der EU
Vielen Dank. vorgegeben! Das ist nicht Ihre Idee!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber das kennen Sie ja. Sie haben es schließlich abge-
schrieben. Von daher sind Sie im Thema drin. Das gilt
auch für die Regelung im Umzugsfall.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Frau Wolff, zur Pflicht zur Tarifansage im Call-by-
Kollege Dr. Schweickert für die FDP-Fraktion. Call-Bereich: § 66 b TKG; ich habe es gerade noch ein-
mal nachgesehen. Das ist drin. Sie können nicht sagen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es sei nicht drin. Es ist drin, weil wir uns um die Ver-
braucher kümmern und genau wissen, wo der Schuh
(B) Dr. Erik Schweickert (FDP): drückt. (D)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Es ist schon interessant, wie die Debatte hier läuft. Es der CDU/CSU)
wird so getan, als ob wir Ewigkeiten brauchten, um zu
handeln. Außerdem haben wir als schwarz-gelbe Regierungs-
koalition die Evaluation vorgezogen, um in vielen Berei-
(Caren Lay [DIE LINKE]: Ist auch so!) chen überhaupt tätig werden zu können. Sie wissen, dass
Dabei hätten manche zwölf Jahre lang die Möglichkeit Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger handelt,
dazu gehabt, haben aber nichts getan. Dann wird uns vorzieht und die notwendigen Entwürfe vorlegt. Das ist
vorgeworfen, dass wir bestimmte Punkte nicht ins TKG richtige Politik. Das ist nicht nur Ankündigung. Ihre Kri-
aufgenommen hätten. Dabei weiß jeder von uns, der sich tik soll darüber hinwegtäuschen, dass Sie zwölf Jahre
im Verbraucherausschuss mit diesem Thema viele Stun- lang nichts gemacht haben.
den lang befasst hat, dass diese Punkte überhaupt nicht Denen, die lauthals rufen: „Was kann denn noch regu-
ins TKG gehören, sondern ins UWG, weil die unerlaubte liert werden, wo können wir uns noch einmischen?“,
Telefonwerbung im TKG gar nicht abgehandelt wird. muss ich sagen: Alle, die bei mir im Büro waren, haben
(Martin Dörmann [SPD]: Das steht in unserem mir gesagt: Das funktioniert nicht. Das könnt ihr nicht
Antrag so!) machen. – Wir waren diejenigen, die nicht eingeknickt
sind und die ganz klar gesagt haben: Es geht um die Ver-
Daher wünsche ich mir, dass wir über diese Themen an braucher. Wir werden die Verbraucherabzocke beenden. –
der richtigen Stelle diskutieren. Das können wir tun, Da finde ich schon interessant, wie manche Diskussio-
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie nen in diesem Hause laufen.
brauchen nur unseren Antrag zu lesen und ihm Wir dürfen auch eines nicht vergessen, Kolleginnen
zuzustimmen!) und Kollegen. Wir haben mit Rainer Brüderle jemanden,
aber bitte werfen Sie uns nicht vor, dass wir fachfremde der das Thema der Telefonwarteschleifen aufgegriffen
Punkte einbringen. und die Lösung des Problems beschleunigt hat. Also,
nehmen Sie sich daran ein Beispiel! So kann es funktio-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nieren. So kann man das Notwendige gesetzlich umset-
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zen – zum Wohle der Verbraucherinnen und Verbrau-
Was ist das für eine Diskussion? Das hat doch cher. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen, dann
gar keiner gesagt!) werden Sie feststellen: Nicht nur abschreiben macht
11722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Josip Juratovic
(A) gen im Betrieb gemeinsam treffen. Es gibt zahlreiche Wirtschaft, Finanzkrise und Euro reden. Mitbestimmung (C)
Studien, die belegen: Unternehmen mit Mitbestimmung hängt unmittelbar mit diesen Fragen zusammen und
sind erfolgreicher als Unternehmen, in denen der Arbeit- muss daher eine viel größere Aufmerksamkeit auf der
geber allein die Richtung vorgibt; denn die Mitarbeiter europäischen Ebene bekommen.
sind motivierter, wenn sie wissen, dass ihre Arbeit und
ihre Meinung Wertschätzung erfahren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Auch bei der Richtlinie zu den Europäischen Be-
Unser deutsches Wirtschaftswunder, zuletzt in der triebsräten müssen wir zeigen, dass uns europaweite
Wirtschaftskrise, beruht auch auf Mitbestimmung. Das Mitbestimmung ein wichtiges Anliegen ist. Die neuge-
vielgelobte Kurzarbeitergeld wäre ohne diese Zusam- fasste Richtlinie von 2009 war ein hartes Stück Arbeit.
menarbeit der Tarifpartner nicht möglich gewesen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Neben diesen wirtschaftlichen Gründen, die für mehr GRÜNEN]: Das stimmt!)
Mitbestimmung sprechen, sprechen auch gesellschaftli-
che Gründe dafür: In unseren Betrieben wird das hohe Die deutsche Wirtschaft und besonders der Arbeitgeber-
Gut der Demokratie lebhaft umgesetzt. Dieses Gut müs- verband haben bei der Neufassung der Richtlinie keine
sen wir erhalten, schützen und ausbauen. rühmliche Rolle gespielt. Es war harte Arbeit der euro-
päischen Gewerkschaften, unterstützt von den Betriebs-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie räten vor Ort, und des Europäischen Arbeitgeberverban-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE des, bis es zu einer Einigung kam und der destruktive
GRÜNEN) Widerstand der deutschen Arbeitgeber gebrochen war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass Die Richtlinie ist letztendlich ein Kompromiss ge-
die Mitbestimmung von den allermeisten oft lobend und worden. Der Europäische Gewerkschaftsbund konnte ei-
anerkennend in Reden erwähnt wird. Das ist wichtig; nige Verbesserungen durchsetzen, aber bei mehreren
denn Mitbestimmung braucht politische Unterstützung. Punkten sind wir als nationaler Gesetzgeber gefordert.
Auch die Kanzlerin spricht immer davon, wie wichtig
die Mitbestimmung für unsere wirtschaftliche Leistung Unsere Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Sozia-
ist. Aber das deutsche Mitbestimmungsmodell, das so les am Montag zur Umsetzung der Richtlinie in deut-
erfolgreich ist, darf nicht an den Grenzen haltmachen. sches Recht hat mir gezeigt: Wir brauchen nicht nur
Vielmehr brauchen wir europaweite Regeln für Mitbe- juristische Theorie, wenn es um die Umsetzung der
stimmung. Die Bundesregierung hat jetzt die Möglich- Richtlinie geht, sondern wir brauchen zuallererst wich-
(B) keit, sich auch auf europäischer Ebene für mehr Mitbe- tige Erfahrungen aus der Praxis; denn die Politik darf (D)
stimmung einzusetzen, wie sie es immer in Sonntags- sich nicht nur an der Theorie abarbeiten, sondern muss
reden verkündet. Besonders wichtig ist das bei der Um- sich am praktischen Bedarf orientieren.
setzung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte und (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei den Verhandlungen zur Europäischen Privatgesell- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
schaft. GRÜNEN)
In den Vorschlägen zur Europäischen Privatgesell- Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
schaft, die derzeit diskutiert werden, ist die Mitbestim- Ihr Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie mag
mung nämlich völlig unzureichend geregelt. Die vorge- rein juristisch gesehen korrekt sein, aber er geht am
sehene Möglichkeit, Satzungs- und Verwaltungssitz praktischen Bedarf der Europäischen Betriebsräte vor-
aufzuteilen, wird dazu führen, dass Unternehmen ihren bei. Ein Beispiel dafür ist das Zutrittsrecht. Es muss ge-
Satzungssitz problemlos in Länder mit wenig Mitbestim- währleistet sein, dass besonders ausländische Europäi-
mungsrechten verlegen können. Die Regeln des Sat- sche Betriebsräte, die nach Deutschland kommen, um
zungssitzes sollen dann auch für den Rest des Unterneh- die Mitarbeiter hier in einem Betrieb über Verhandlun-
mens gelten. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht gen im Europäischen Betriebsrat zu unterrichten, nicht
zulassen, dass das Erfolgsmodell Mitbestimmung auf daran gehindert werden, das Unternehmen zu betreten.
diese Weise ausgehebelt wird! Aus rein juristischer Sicht mag man sagen, dass das
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) wohl kein Problem geben dürfte. Aber die praktische Er-
fahrung von Arbeitnehmern sagt uns, dass wir das ge-
Ich fordere die Bundesregierung daher auf, in Brüssel setzlich regeln sollten.
im Sinne der Mitbestimmung und unserer Arbeitnehmer
tätig zu werden. Kolleginnen und Kollegen von Union (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
und FDP, ich bitte Sie: Nutzen Sie Ihren Einfluss auf die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Bundesregierung, damit über Mitbestimmung nicht nur GRÜNEN)
geredet wird, sondern den Worten auch Taten folgen, die
Ein zweites Beispiel dafür, dass wir die Richtlinie
allen Arbeitnehmern helfen!
nicht nur streng juristisch umsetzen dürfen, sondern
Die Europäische Privatgesellschaft ist nur ein Bei- auch den praktischen Blick brauchen, sind die Sanktio-
spiel, um zu zeigen: Bei allen wirtschaftspolitischen nen. Die Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten
Überlegungen in Europa muss Mitbestimmung mitge- wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen
dacht werden. Es geht nicht, dass wir in Europa nur über festlegen müssen. Der Gesetzentwurf sieht dafür, recht-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11725
Josip Juratovic
(A) lich korrekt, 15 000 Euro vor. Aber Kolleginnen und sich hoffentlich auch auf ganz Europa. Dass sich das (C)
Kollegen von Union und FDP, das zahlen die allermeis- Wachstum in ganz Europa ausbreitet, dazu kann auch der
ten Unternehmen doch aus der Portokasse. Diese Sank- Europäische Betriebsrat beitragen;
tionen sind wirklich nicht abschreckend.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU)
LINKEN)
denn ihm fällt eine aktive und verantwortungsvolle Rolle
Wir brauchen aber Sanktionen, die Wirkung zeigen. zu. Er muss sich auch mit langfristig wirkenden Moder-
Deswegen appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem nisierungs- und Innovationsstrategien in den Unterneh-
Antrag zu, um Ihren Gesetzentwurf besser zu machen men auseinandersetzen, sie einbringen und mit voran-
und den Europäischen Betriebsräten mehr Chancen zu bringen.
echter Mitbestimmung zu geben! Wie ich schon am An-
Die neu gefasste EU-Richtlinie von 2009 stärkt das
fang gesagt habe: Mehr Mitbestimmung hilft allen Betei-
Recht des Europäischen Betriebsrates auf Unterrichtung,
ligten: wirtschaftlich und gesellschaftlich, aber auch rein
Anhörung und gestaltet Beteiligungsverfahren praxis-
rechtlich. Denn für alle Beteiligten ist es besser, klare
tauglicher. Es wird sichergestellt, dass der Europäische
Regeln zu haben, als nur unklare Bestimmungen.
Betriebsrat vor einer endgültigen Entscheidung der Un-
Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung der Richt- ternehmensleitung rechtzeitig beteiligt wird. Auch
linie ist wichtig für die Arbeit der Europäischen Be- wurde klar definiert, wofür der Betriebsrat zuständig ist.
triebsräte. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt die EU-Richt-
die Richtlinie teils korrekt um. Jedoch fehlen einige
linie adäquat in nationales Recht um. Das haben in der
Dinge, die wir Sozialdemokraten in unserem Antrag for-
Anhörung am Montag auch die Experten bestätigt. Sie
dern. Wir müssen die Richtlinie nicht nur rechtlich kor-
haben bestätigt, dass der Umsetzungsvorgang sich wirk-
rekt umsetzen, sondern wir müssen das Recht auch ge-
lich an die Vorgaben aus Brüssel hält. Die Zustimmung
stalten. Ein gutes Gesetz schaffen wir also, wenn unser
kam auch von der Industriegewerkschaft Bergbau, Che-
Antrag in den Gesetzentwurf eingearbeitet wird.
mie und Energie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nur die SPD-Fraktion will mehr Regelungen, als er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten forderlich sind. Sie will draufsatteln.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Zuruf von der FDP: Das ist nichts Neues!)
GRÜNEN)
Wir werden in Diskussionen mit Bürgern immer wieder
(B)
Vizepräsidentin Petra Pau: mal gefragt, warum denn Deutschland bei der Umset- (D)
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das zung von EU-Recht immer so übereifrig sein muss.
Wort. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Deutschland
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist immer an der Untergrenze!)
Man sollte auf die Empfehlungen der Experten hören,
Gabriele Molitor (FDP): die sagen, dass die Umsetzung den Anforderungen der
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Richtlinie gerecht wird, auch wenn Sie, meine sehr ge-
Herren! International tätige Unternehmen treffen ihre ehrten Kollegen von den Oppositionsfraktionen, dies of-
Entscheidungen nicht nur aus einer nationalen, sondern fensichtlich anders sehen und wiederholt thematisieren,
auch aus einer europäischen und weltweiten Perspektive dass eine Zusammenarbeit ohne das Festschreiben von
heraus. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Mitbe- Sanktionen und Strafen im Gesetz nicht funktionieren
stimmung auf europäischer Ebene weiter gestärkt wird. wird. Sie arbeiten hier leider immer nur mit Drohungen.
Länder mit einer starken Mitbestimmungskultur wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Deutschland und die Niederlande zum Beispiel prakti- der CDU/CSU)
zieren die Einrichtung des Europäischen Betriebsrates
ganz selbstverständlich. Ein Unternehmen, das global Erkennen Sie doch einfach einmal an, dass ein Vorschlag
handelt und denkt und sich international weiterentwi- zur Umsetzung gelungen ist, anstatt Forderungen zu er-
ckeln möchte, wird das Potenzial dieses Gremiums zu heben, die über das Ziel hinausschießen.
schätzen wissen und es zum beiderseitigen Wohle auch Stattdessen legen Sie einen eigenen Antrag mit dem
nutzen wollen. rabiaten Titel vor: „Wirkungsvolle Sanktionen zur Stär-
Die Internationalisierung von Firmen hat auch zu ei- kung von Europäischen Betriebsräten umsetzen“.
ner Weiterentwicklung der klassischen Aufgaben von (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Ein richtig
Betriebsräten geführt. Dabei sollten wir nicht nur auf guter Titel!)
den Krisenfall schauen, wenn es zum Beispiel um Perso-
nalabbau geht. Das würde im Augenblick auch gar nicht Sie fordern ein Mehr an finanziellen Sanktionen zur Ab-
zur Lage passen; denn wir haben heute gerade vernom- schreckung. Sie fordern auch, bestimmte Rechte festzu-
men, dass die Wirtschaftsforscher die Wachstumspro- schreiben, damit Betriebsräte vor Gericht klagen kön-
gnose auf 2,8 Prozent angehoben haben. Das sind sehr nen. Das geht meilenweit an der Wirklichkeit vorbei;
gute Nachrichten. Diese guten Nachrichten beziehen denn die Praxis zeigt, dass die Zusammenarbeit funktio-
11726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Gabriele Molitor
(A) niert. Das zeigt sich auch an der Zahl von mittlerweile Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
960 Europäischen Betriebsräten, die arbeiten. Es zeigt Die Kollegin Krellmann hat für die Fraktion Die
sich auch an der sehr geringen Zahl von gerichtlichen Linke das Wort.
Streitigkeiten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Die sie
auch sammeln müssen, damit sie das bezahlen Jutta Krellmann (DIE LINKE):
können!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Alle großen deutschen Unternehmen sind
Es gab gerade einmal vier einschlägige Fälle vor Ge-
mittlerweile europaweit tätig. Von daher ist es absolut
richt, und die liegen wiederum Jahre zurück. Erstmals
richtig und notwendig, dass die Rechte der Arbeitneh-
klagte der Europäische Betriebsrat von Renault im Jahre
mer in diesen Unternehmen gestärkt werden. Auf der ei-
1997, als das Unternehmen eine Standortschließung ver-
nen Seite stehen die Profite der Unternehmen, die mitt-
kündete, ohne dass der Betriebsrat durch vorherige Un-
lerweile auch europaweit erwirtschaftet werden, und auf
terrichtung oder Anhörung Kenntnis davon hatte. Die
der anderen Seite die Beschäftigten, bei denen es darum
weiteren drei einschlägigen Fälle gab es ebenfalls vor
geht, ihre Einkommens- und Arbeitssituation zu schüt-
französischen Gerichten.
zen. Das passiert über Europäische Betriebsräte.
Die Regelungen im Gesetz lassen den Unternehmen Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Rechte von
viele Freiräume. Das ist auch wichtig und richtig. So Arbeitnehmern in diesen europaweit tätigen Betrieben
können beispielsweise die Partner selbst festlegen, wie massiv eingeschränkt und diese dadurch geschädigt wur-
groß der Betriebsrat sein soll und wie viele Mandate je- den. Ich will ein Beispiel nennen: Nokia. Es ist noch gar
des Land erhält. Erst wenn keine Einigung stattfindet, nicht so lange her, im Jahr 2008, da wurde ein Betrieb
greifen in einem zweiten Schritt die Regelungen des Ge- mit 2 300 Beschäftigten und 800 Leiharbeitnehmern
setzes. Allgemein verbindliche Vorgaben gibt es also – ich sage noch einmal: 800 Leiharbeitnehmern – in Bo-
nicht, dafür den großen Vorteil, unternehmensspezifisch chum geschlossen. Das geschah bei dem renommierten
handeln zu können. Handyhersteller Nokia – jeder Zweite hat ein Nokia-
Wir müssen schließlich anerkennen, dass die Einrich- Handy in der Hand –, und alle haben mitbekommen, was
tung eines Europäischen Betriebsrates einen zusätzli- da passiert ist.
chen Aufwand für Unternehmen bedeutet. Einge- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
schränkte Planungsfreiheit, ein großer zusätzlicher Keine Werbung, Frau Krellmann!)
Zeitaufwand und der Kostenfaktor sind hier zu nennen.
(B) Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Der Grund: In Rumänien waren die Löhne niedriger. Der (D)
Betriebsrat und auch der Europäische Betriebsrat hatten
(Josip Juratovic [SPD]: Dieser Aufwand hat zu dieser Zeit keine Informationen erhalten und waren
sich in Deutschland gelohnt!) nicht ausreichend an dem Verfahren beteiligt worden, in
dem es um viele Arbeitsplätze ging. Ebenfalls betroffen
Im Vorfeld gab es auch kritische Themen, wie bei- waren viele Personen aus dem Umfeld.
spielsweise das Zutrittsrecht für ausländische europäi-
sche Betriebsratsmitglieder. Die Richtlinie sieht ein sol- Immer wieder werden europaweit Arbeitnehmer ge-
ches Zutrittsrecht nicht vor. Es bedarf an dieser Stelle geneinander ausgespielt, und immer geht es um Arbeits-
auch keiner gesetzlichen Festlegung; denn dieses Recht plätze. Aktuell gibt es ein Beispiel aus Niedersachsen,
ergibt sich aus der Aufgabe des Betriebsrates heraus. das heißt ALSTOM LHB. LHB steht für Linke-
Hofmann-Busch. Das ist ein altes, renommiertes Unter-
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen kurzen nehmen hier in der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz
Ausflug in die Praxis machen. Ich war in der vergange- in Salzgitter.
nen Woche bei einem international tätigen Unternehmen
in meinem Wahlkreis. Dort ist ein Europäischer Be- (Zuruf von der FDP: Ist die Linke da auch
triebsrat selbstverständlicher Bestandteil des Unterneh- beteiligt?)
mens und als solcher gelebter Teil der Corporate Iden- In diesem Betrieb sollen 1 400 Stellen im Rohbau abge-
tity. baut werden. Das ist die Hälfte aller Beschäftigten. Der
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das kann man Standort in Salzgitter ist massiv gefährdet. Hier stellt
sich in die Haare schmieren!) sich die Frage: Wenn so viele Arbeitsplätze abgebaut
werden, kann dann der Rest des Betriebes noch bestehen
Insofern kann ich die Befürchtungen der Opposition, bleiben und weitergeführt werden?
ohne Sanktionen gehe nichts, nicht teilen. Stattdessen Deutschlandweit sollen bei dem französischen Unter-
rufe ich Ihnen zu: Vertrauen ist die Basis für gute Zu- nehmen ALSTOM 4 000 Beschäftigte in verschiedenen
sammenarbeit. Betrieben entlassen werden. Der Europäische Betriebs-
Vielen Dank. rat hat in dem Zusammenhang keine Möglichkeiten, zu
erzwingen, dass von ihm aufgezeigte Alternativen auf-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gegriffen und umgesetzt werden. Die Konzernleitung
Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das sieht verweigert bisher mit Hilfe von Ausflüchten, sich mit ei-
man an Ihrer Koalition!) ner Strategie zu befassen, die den Stellenabbau in den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11727
Jutta Krellmann
(A) Betrieben verhindert. Den Arbeitnehmern fehlt es an die Mitglieder haben endlich Anspruch auf Schulung (C)
rechtlichen Mitteln, Informationen zu erzwingen und die und Qualifizierung. Das alles ist notwendig und eine
Unternehmensleitung dazu zu bringen, auf ihre guten Korrektur, die wir begrüßen.
Angebote einzugehen. Eine Strafe in Höhe von
15 000 Euro, wie von der Regierung vorgeschlagen, ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pillepalle. Das zahlen die aus der Portokasse. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Wir wollen ein Gesetz, das bei drohender Standort-
verlagerung die Initiativrechte der Europäischen Be- Jetzt muss die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt
triebsräte zur Sicherung der Arbeitsplätze für die Be- werden. Die meisten Regelungen müssen eins zu eins
schäftigten stärkt. Wir wollen, dass nicht mehr gegen die umgesetzt werden. Diese Forderung erfüllt der vorlie-
Menschen entschieden wird. gende Gesetzentwurf weitgehend. Das ist allerdings eine
Selbstverständlichkeit. Es gibt auch nationale Spielräume
(Beifall bei der LINKEN) und Kannbestimmungen. Durch die Nutzung dieser Mög-
lichkeiten könnten die Arbeitnehmerrechte weiter ge-
Wir wollen eine Mitbestimmung darüber, was, wie und
stärkt werden, aber das war für die Bundesregierung dann
wo produziert wird, weil das im Interesse der Menschen
wohl doch zu viel. In der Expertenanhörung wurde deut-
an den verschiedenen Standorten ist. Die Europäische
lich, dass manche Regelungen nicht präzise genug und ei-
Linke will eine Mitbestimmung bei der Frage, was wo
nige Punkte zu ergänzen sind. Mein Fazit ist: Der Gestal-
produziert wird. Im Grunde fordern wir die Stärkung des
tungsspielraum wurde von der Bundesregierung nicht
Europäischen Betriebsrates, und zwar nicht nur durch
genutzt. Ich möchte drei Beispiele nennen:
die Revision einer Richtlinie. Wir wollen, dass grund-
sätzlich überlegt wird, was man tun kann, um die Arbeit- Erstens. In der Richtlinie werden die Mitgliedstaaten
nehmerrechte zu stärken. aufgefordert, wirksame, abschreckende und im Verhält-
nis zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessene
Die Unternehmen sind global tätig und werden das
Sanktionen festzulegen. Die Bundesregierung hat hier
auch weiterhin sein. Wir müssen den Arbeitnehmern
nichts verändert. Sie bleibt bei einer Obergrenze von
eine gleich starke Position verschaffen, damit sie in der
15 000 Euro Geldbuße.
Lage sind, mit den entsprechenden Unternehmensleitun-
gen auf Augenhöhe zu verhandeln. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Peinlich!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Seien Sie doch ehrlich: Für multinationale Konzerne
neten der SPD) sind das Peanuts.
(B) Wir als Linke werden dem Gesetzentwurf der Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D)
rung nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Wir wer- bei der SPD und der LINKEN – Gabriele
den dem Antrag der SPD zustimmen, Lösekrug-Möller [SPD]: Die lachen darüber! –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Noch
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE
eine Null dranhängen!)
GRÜNEN]: Wow!)
weil wir ihn richtig finden und der Meinung sind, dass – Eine Null dranhängen, genau.
das ein Schritt in die richtige Richtung ist. Zweitens. Wenn Europäische Betriebsräte nicht unter-
Vielen Dank. richtet und angehört wurden, brauchen sie, gerade weil
diese Sanktionen so schwach sind, zudem ein Unterlas-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sungsrecht, damit die Umsetzung von Beschlüssen ver-
neten der SPD) hindert werden kann.
Drittens. Wie soll in der Praxis die Unterrichtung der
Vizepräsidentin Petra Pau: örtlichen Arbeitnehmervertretungen durch die Europäi-
Die Kollegin Müller-Gemmeke hat für die Fraktion schen Betriebsräte aussehen? Dafür müssen sie Zutritt zu
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. den jeweiligen Betriebsstätten erhalten. Die Bundesre-
gierung meint, dies sei implizit geregelt. Ich meine, das
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist zu wenig. Die Regelung des Zutrittsrechts im Gesetz
NEN): ist notwendig. Ansonsten sind Rechtsstreitigkeiten vor-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- programmiert.
nen und Kollegen! Die Geschichte der Europäischen Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
triebsräte ist eine Erfolgsgeschichte. Heute existieren eu- und bei der SPD)
ropaweit etwa 900 Europäische Betriebsräte, davon circa
160 in Deutschland. Ihr Engagement ist enorm wichtig. In dem SPD-Antrag werden diese Punkte aufgegriffen.
Deswegen werden wir diesem Antrag zustimmen.
2009 trat die notwendige Neufassung der EU-Richtli-
nie in Kraft. Auch das ist ein Erfolg. Es stimmt: Das war In dem Gesetzentwurf hingegen erkenne ich weitere
harte Arbeit. Die Rechte auf Anhörung und Unterrich- Mängel. So macht die Bundesregierung beispielsweise
tung sind endlich klar definiert. Die Arbeitnehmerseite von einer Kannbestimmung zuungunsten der Arbeitneh-
kann zur Gründung eines Europäischen Betriebsrats merseite Gebrauch. In Tendenzbetrieben sollen die An-
Sachverstand aus den Gewerkschaften hinzuziehen, und hörungsrechte der Europäischen Betriebsräte einge-
11728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Beate Müller-Gemmeke
(A) schränkt werden. Das ist nicht gerechtfertigt und auch eine gute Vertretung der Rechte der Arbeitnehmerinnen (C)
nicht notwendig. Auch die Inhalte von Schulungen soll- und Arbeitnehmer. Kollege Wadephul hat bereits darauf
ten präzisiert werden, damit die Europäischen Betriebs- hingewiesen, dass dies in der Anhörung zum Ausdruck
räte ohne Probleme alle notwendigen Qualifizierungen gebracht worden ist und dass auch der DGB letztendlich
erhalten. lobende Worte gefunden hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Heute, in dieser abschließenden Debatte, wurden von
bei der SPD und der LINKEN) der Opposition Erweiterungen gefordert. Es wurde ge-
fordert, die Sanktionen zu verschärfen. Hier wird immer
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Re-
in den Vordergrund gestellt, die bestehenden Sanktions-
gierungsfraktionen, viele Unternehmen in der Europäi-
möglichkeiten würden nicht ausreichen. Dabei wird im-
schen Union sind grenzüberschreitend aktiv. Sie operie-
mer auf den Betrag von 15 000 Euro abgestellt. Leider
ren global, sind vernetzt und treffen über Staatsgrenzen
hat es die Opposition, in diesem Fall die SPD, versäumt,
hinweg Entscheidungen. Die Arbeitnehmerseite sitzt
einen in ihren Augen angemesseneren Betrag zu formu-
einfach am kürzeren Hebel. Es ist unsere Aufgabe, ihre
lieren. Welcher Geldbetrag wäre angemessen?
Mitwirkungsrechte zu stärken, und es ist unsere Auf-
gabe, auf nationaler Ebene das europäische Sozialmodell (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
weiterzuentwickeln. GRÜNEN]: Sind 15 000 Euro angemessen?)
Hier wäre mehr möglich gewesen, um die Sozialpart- Dies ist nämlich unterschiedlich zu bewerten. Hier ha-
ner besser auf Augenhöhe zu bringen. Deshalb werden ben Sie gekniffen. Auch die anderen Parteien, die diesen
wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf Antrag unterstützen, haben nicht gesagt, wie hoch eine
enthalten. Ich meine, die Europäischen Betriebsräte hät- angemessene Geldstrafe sein sollte. Sie alle verschwei-
ten mehr Unterstützung von der Bundesregierung ver- gen in der Debatte jedoch, dass es möglich ist, einen
dient. Verstoß gegen das Gesetz als Ordnungswidrigkeit mit ei-
Vielen Dank. ner Geldbuße oder auch mit einer Haftstrafe zu sanktio-
nieren. Das ist das schärfste Schwert bei der Sanktions-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, regelung. Dies ist Bestandteil des bestehenden Gesetzes.
bei der SPD und der LINKEN) Deshalb bedarf es in diesem Gesetzentwurf keiner Aus-
weitung der Sanktionsmöglichkeiten; das ist entschei-
Vizepräsidentin Petra Pau: dend.
Das Wort hat der Kollege Straubinger für die Unions- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
fraktion. neten der FDP – Brigitte Pothmer [BÜND-
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir wollen nicht
neten der FDP) gleich alle in den Knast bringen!)
Von der SPD-Fraktion wurde noch eine zweite Forde-
Max Straubinger (CDU/CSU): rung aufgestellt; diese wurde in den Redebeiträgen der
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kolleginnen Krellmann und Müller-Gemmeke unter-
Wir sind in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs stützt. Die SPD-Fraktion fordert, dass im Gesetz ein
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europäische Anspruch auf Unterlassung beteiligungswidriger Maß-
Betriebsräte-Gesetzes, durch das die Richtlinie über Eu- nahmen festgeschrieben wird. Das würde aber die Zu-
ropäische Betriebsräte umgesetzt werden soll. Ich ständigkeiten in einem Unternehmen verwischen.
glaube, dass es ein Erfolg ist – Kollege Wadephul hat be-
reits die Hauptschwerpunkte dargelegt – und eine Stär- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
kung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerinnen und GRÜNEN]: Sie müssen aber erst anhören!)
Arbeitnehmer in international tätigen Unternehmen be- Ich frage mich, warum dies bei der Novelle 2002 von
deutet. Darauf sollten wir hier gemeinsam stolz sein. SPD und Grünen nicht umgesetzt wurde.
Es ist entscheidend, dass die Arbeitnehmerinnen und (Zuruf von der FDP: Gute Frage!)
Arbeitnehmer gestärkt werden. Sie können bezüglich ih-
rer eigenen Anliegen tätig sein, werden über Betriebs- Sie haben dies nicht eingebracht; seinerzeit wurde darauf
entscheidungen rechtzeitig informiert, und vor allen verzichtet. Also kann es nicht so falsch gewesen sein. Es
Dingen können sie Mitwirkungsmöglichkeiten und An- geht eben auch um die Durchsetzung von unternehmeri-
hörungsmöglichkeiten ausschöpfen. Damit verbunden schen Entscheidungen. Das kann nicht nach dem Motto
sind umfassende Beratungs- und Bildungstätigkeiten der gehen, Frau Krellmann, das Sie vorhin in Ihrem Rede-
Betriebsräte; dies wird mit diesem Gesetz gestärkt. Es ist beitrag dargestellt haben. Natürlich ist eine Umstruktu-
notwendig, dass wir eine Übergangszeit schaffen. Zum rierung, die mit Arbeitsplatzverlusten verbunden ist, für
Teil wird ja beklagt, dass die bestehende Regelung bes- die Betroffenen immer schmerzlich.
ser sei als die neue Regelung. In der Übergangszeit kann
Wahrscheinlich wird es dazu nie die Zustimmung des
in eigener Zuständigkeit über alte Vereinbarungen neu
örtlichen Betriebsrates geben, ja nicht geben können.
verhandelt werden.
Aber es wäre fahrlässig, wenn, weil nicht umstrukturiert
Unter Betriebspartnerschaft in den Betrieben verste- wird, der gesamte Betrieb von der Bildfläche verschwin-
hen wir gute Betriebsratsarbeit und darüber hinaus auch den würde. Wollen Sie wirklich, dass alle Arbeitnehme-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11729
Max Straubinger
(A) rinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb die Leidtra- Fraktionen des Hauses in zweiter Beratung angenom- (C)
genden sind? Wäre es dann nicht besser, eine men.
Umstrukturierung, wenn sie notwendig ist, zur Rettung
Dritte Beratung
der noch verbleibenden Arbeitsplätze durchzuführen?
Dies muss möglich sein, verehrte Kolleginnen und Kol- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
legen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
(Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
[DIE LINKE]: Ach! Dann fallen doch sowieso FDP-Fraktion bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der
meistens alle Arbeitsplätze weg! Bei Nokia Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
waren alle Arbeitsplätze weg! – Harald Grünen angenommen.
Weinberg [DIE LINKE]: Das ist wirklich un-
glaublich, Herr Straubinger!) Tagesordnungspunkt 11 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Ich möchte darauf hinweisen: Die Umstrukturierun- Fraktion der SPD mit dem Titel „Wirkungsvolle Sank-
gen, die in den vergangenen drei, vier Jahren in der deut- tionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten um-
schen Wirtschaft stattgefunden haben, haben in der Ge- setzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
samtbilanz letztendlich zu mehr und nicht zu weniger ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5399, den
Arbeitsplätzen in Deutschland geführt. Darauf sind wir Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5184
stolz. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
neten der FDP – Jutta Krellmann [DIE Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
LINKE]: Und was ist mit dem Thema Min- fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
destlohn?) SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Eines ist mir noch wichtig – darüber wurde immer
wieder diskutiert –: Das Zutrittsrecht ergibt sich aus der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
normalen Betriebsratstätigkeit. Dieses Thema wurde Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
auch auf europäischer Ebene andiskutiert, dann aber von Drobinski-Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Wilhelm
beiden Sozialpartnern im Einvernehmen nicht mehr auf- Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der Frak-
gegriffen. Auch dies gehört mit zur Wahrheit. tion der SPD
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Für faire Lebensmittelpreise und transparente
(B) GRÜNEN]: Na ja! Das ist schon etwas kom- (D)
Produktionsbedingungen – Gegen den Miss-
plizierter gewesen!) brauch von Marktmacht
Deshalb glaube ich, dass die Umsetzung gelungen ist. – Drucksache 17/4874 –
Ich kann allen Kolleginnen und Kollegen in diesem Ho- Überweisungsvorschlag:
hen Hause nur die Zustimmung empfehlen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Europäische Betriebsräte-Gesetzes. Von der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Kollegin Müller-Gemmeke liegt mir eine Erklärung gin Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wir nehmen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sie entsprechend unseren Regeln zu Protokoll.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
sache 17/5399, den Gesetzentwurf der Bundesregierung legen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der
auf Drucksache 17/4808 in der Ausschussfassung anzu- Tribüne! „Ombudsmann wird Lieblingskind“, so lautete
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in vor drei Wochen eine Überschrift in der Lebensmittel
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Zeitung. Dies habe ich sehr erfreut gelesen und zur
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Kenntnis genommen. Denn darin waren wir uns alle
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfrak- nach der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Land-
tion und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der übrigen wirtschaft und Verbraucherschutz im Juli des letzten Jah-
res einig.
1) Anlage 3 (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja!)
11730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Elvira Drobinski-Weiß
(A) Doch mittlerweile ist das neun Monate her – ich betone: teile gegenüber der schnell verderblichen Frischmilch (C)
neun Monate –, und bisher ist nichts passiert. Aber von bietet.
sich aus – das wissen wir allmählich – wird der Handel
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass un-
nicht bereit sein, etwas zu ändern.
ser Antrag an den Verbraucherausschuss als federführen-
Gestern erreichte mich beispielsweise eine Stellung- den Ausschuss überwiesen wird. Die von Ihnen bei die-
nahme des Einzelhandels. Zu unserer Forderung, die sem Thema beabsichtigte Verlagerung der Federführung
Praktikabilität des Verbots des Verkaufs unter Einstands- in den Wirtschaftsausschuss können wir nicht nachvoll-
preis zu prüfen, heißt es dort: Das Verbot des Verkaufs ziehen. Sie betonen doch auch immer die starke Stellung
unter Einstandspreis ist wettbewerbsökonomisch ver- des mündigen Verbrauchers und seine Mitverantwortung
fehlt und muss ersatzlos abgeschafft werden. – Wenig bei der Gestaltung des Marktes.
Bereitschaft also dort, wo es darum geht, die eigenen Der Handlungsbedarf geht weit über Ombudsstelle
Pfründe zu verteidigen. und Kartellrecht hinaus. Wir brauchen einen ganzen
Doch es muss endlich etwas getan werden. Deshalb Maßnahmenkatalog, um den Fehlentwicklungen am Le-
haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir haben Ihnen, bensmittelmarkt entgegenzuwirken. Deshalb sollten wir
werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungs- die Kette vom Ende her denken und Verbraucherpolitik
fraktionen, die Arbeit abgenommen. Sie brauchen unse- endlich ernst nehmen. Wir bleiben dabei: Die Federfüh-
ren Vorschlägen nur zuzustimmen. rung gehört in den Verbraucherausschuss.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Mindestlohn!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
In einer Pressemitteilung vom 14. Februar dieses Jah-
res meldet das Bundeskartellamt eine Konzentration von Vizepräsidentin Petra Pau:
85 Prozent des Absatzmarktes auf die vier größten Han-
Der Kollege Dr. Nüßlein hat für die Unionsfraktion
delsunternehmen – 85 Prozent bei vier Handelsunterneh-
das Wort.
men! Das Bundeskartellamt hat inzwischen eine Sektor-
untersuchung im Bereich des Lebensmittelhandels (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eingeleitet. Das begrüßen wir sehr; denn das ist notwen-
dig, und das war auch eine unserer Forderungen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
(B) Die Situation am Lebensmittelmarkt ist extrem ange- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! „Für (D)
spannt. Die Konzentration bringt auch den Lebensmittel- faire Lebensmittelpreise und transparente Produktions-
einzelhandel in eine gefährliche Machtposition gegen- bedingungen – Gegen Missbrauch von Marktmacht“ lau-
über den Lieferbetrieben. Der Handel kann nämlich tet der geradezu Beifall und Zustimmung heischende Ti-
Bedingungen diktieren, zu denen die Produkte abgenom- tel Ihres Antrages. Ich gebe ganz offen zu, dass ich für
men werden. Unfaire Einkaufspraktiken wie Preisdrücke- das, was Sie in Teilen formuliert haben, insbesondere
rei bis unter Einstand, die Zahlung von Treueboni oder wenn es um die Problembeschreibung geht, ein hohes
willkürliche Auslistungen scheinen dabei keine Einzel- Maß an Sympathie habe. Ich habe mich zunächst einmal
fälle zu sein. über diesen Antrag gefreut, weil die Probleme, die Sie
gerade eben auch beschrieben haben, im Lebensmittel-
(Zuruf des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP]) handel evident sind. Es gibt in der Tat eine Marktmacht
des Handels, und wenn es eine solche Marktmacht gibt,
Das geht zulasten des fairen Wettbewerbs, aber auch ist Missbrauch nicht von der Hand zu weisen. Es stimmt
zulasten der Beschäftigten. Denn mit Verweis auf den auch, dass davon auf der einen Seite die Lieferanten und
Preisdruck vergeht in der Ernährungswirtschaft kaum auf der anderen Seite die noch verbliebenen mittelständi-
eine Verhandlung ohne Forderung der Unternehmens- schen Händler sowie natürlich auch deren Mitarbeiter
vertreter nach niedrigeren Löhnen und geringeren So- betroffen sind, die dadurch unter einen gewissen Druck
zialleistungen. Darauf wird Frau Hiller-Ohm nachher kommen.
noch eingehen.
Ich fand es nur ein bisschen schade, dass Sie in Ihrem
Am Ende der Kette stehen die Verbraucherinnen und Antrag in Richtung Ideologie abschweifen,
Verbraucher. Auch sie leiden unter dem Konzentrations-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Mindestlohn!)
prozess und dem Marktmachtmissbrauch. Für sie wird er
in Angebotseinschränkungen und Qualitätseinbußen von sozialen und ökologischen Verbesserungen weltweit
spürbar. Denn immer häufiger werden billigere Ersatz- schwärmen
stoffe in der Lebensmittelproduktion eingesetzt. Ich
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir haben
nenne da nur Klebeschinken, Analogkäse ohne Milch
einen globalen Markt!)
und Joghurt mit Aroma aus Holzspänen. Frischmilch ist
beispielsweise zur Rarität geworden – sicher nicht, weil und den Mindestlohn mit einbauen. Das, was Sie an die-
die Verbraucherinnen und Verbraucher keine Frisch- ser Stelle fabriziert haben, gehört wahrscheinlich auch
milch wollen. Sie ist nicht mehr im Angebot, weil die unter die Kategorie Analogkäse. Mit Verlaub: Es wäre
sogenannte ESL-Milch logistische und finanzielle Vor- schön gewesen, wenn Sie sich an dieser Stelle auf das ei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11731
Dr. Georg Nüßlein
(A) gentliche Thema konzentriert hätten; denn das ist durch- deutlich sehen. Wenn man die Lebensmittelpreise in un- (C)
aus wichtig. Weil Sie das nicht getan haben, finde ich es serem Land mit denen in Europa vergleicht, dann wird
durchaus richtig, dass die Federführung beim Ausschuss man feststellen, dass sie relativ niedrig geblieben sind,
für Wirtschaft und Technologie liegen wird. was auch die Monopolkommission in ihrem 47. Sonder-
gutachten zu Preiskontrollen in Energiewirtschaft und
(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ Handel ganz deutlich bestätigt.
CSU])
Das ist einem intensiven Wettbewerb geschuldet, der
Wir werden uns auf das Wesentliche konzentrieren. sich aber nur im Handel vollzieht und davon lebt, dass
„Konzentration“ ist dabei das Stichwort. Diese Konzen- auf die Lieferanten entsprechender Druck ausgeübt wird.
tration hat über viele Jahre hinweg zugenommen. Sehr Davon sind nicht nur mittelständische Lieferanten, son-
geehrte Frau Vorrednerin, Sie haben es deutlich be- dern ist auch unsere Landwirtschaft betroffen. Das
schrieben: Die vier größten Händler erwirtschaften in- möchte ich betonen.
zwischen 85 Prozent des Branchenumsatzes. Ich weiß,
dass man an dieser Stelle differenzieren muss, weil (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Und was ma-
REWE eine Mittelstandskooperation ist, aber natürlich chen Sie dagegen? – Friedrich Ostendorff
handelt es sich auch um eine Einkaufskooperation, so- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist die
dass auch hier natürlich Marktmacht auf den Beschaf- Antwort der CDU/CSU?)
fungsmärkten ausgeübt werden kann. Das ist etwas, was – Nur die Ruhe: Das kommt alles noch.
wir nicht wegschieben dürfen.
Sie haben am Rande das Qualitätsbewusstsein der
Es gibt eine Studie des Instituts für Handelsforschung Verbraucher angesprochen und darauf hingewiesen, was
und der BBE Retail Experts im Auftrag des Handelsver- ihnen alles vorgesetzt werde. Dazu sage ich offen: Dabei
bands Deutschland vom September 2009. Darin steht kommt es aber auch auf die Verbraucher selber an, die
folgendes Ergebnis: Es gibt keine generelle Nachfrage- gerade im Lebensmittelbereich offenkundig gern vor al-
macht des Handels. Ich betone das Wort „generelle“. lem billig einkaufen wollen,
Keine generelle Nachfragemacht heißt: Es gibt in be-
stimmten Konstellationen eben sehr wohl eine solche (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Geiz ist geil!)
Marktmacht. Diese wird teilweise auch missbraucht. nach dem Motto „Geiz ist geil“. Das halte ich geradezu
Seit zwei Jahren gibt es ein Kartellverfahren gegen für katastrophal. Diese Preissensibilität können wir als
Edeka, das Plus von Tengelmann übernommen hat. Hier Gesetzgeber aber sicherlich genauso wenig ändern wie
wird dem Verdacht nachgegangen, dass es den Versuch das Bewusstsein derjenigen, die sich in dieser Frage
falsch verhalten.
(B) gab, über Boni von Lieferanten der Plus-Märkte den (D)
Kaufpreis zu refinanzieren. (Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Sie haben die Instrumente angesprochen. Wie Sie
GRÜNEN]: Hochzeitsrabatt heißt das!) wissen, haben wir präventiv die Fusionskontrolle und re-
Das muss man sich einmal vorstellen: Es wird der Ver- pressiv die Missbrauchsaufsicht. Jetzt müssen wir die
such unternommen, das zu refinanzieren, was man ge- Frage erörtern, ob der Gesetzgeber etwas tun kann, da-
kauft hat, indem man die Lieferanten des aufgekauften, mit die Vielfalt des Einzelhandels wieder entsteht und
des akquirierten Unternehmens unter Druck setzt, Boni die Forderung Ludwig Erhards nach Wohlstand und
zu gewähren. Wenn sich das erhärtet – ich spreche aus- Teilhabe für alle auch in diesem Bereich wieder eine
drücklich von einem Verdacht –, dann ist das natürlich Rolle spielt. Das ist nicht trivial und auch nicht einfach
schon etwas, das uns alle miteinander bedenklich zu beantworten.
stimmt. Das zeigt, dass es hier offenkundig ein ganz Wir müssen bei der Achten Novelle dieses Gesetzes
deutliches Mittelstandsproblem gibt. aus meiner Sicht bei der Fusionskontrolle zu einem
Das Gegenargument ist, der Handel würde nur Spiel- Wechsel von der Voraussetzung der Marktbeherrschung
räume ausloten, und das sei ja eben gerade das Kennzei- hin zu der einer erheblichen Beeinträchtigung des Wett-
chen von Handel. Ich meine aber, hier stellt sich die bewerbs als Fusionshindernis kommen. Das ist aus mei-
Frage des Kräftegleichgewichts. Das ist schwer herzu- ner Sicht ein Kriterium, das an der Stelle etwas weiter-
stellen, eventuell auf der einen Seite durch Kooperatio- helfen könnte.
nen und auf der anderen Seite dadurch, dass diejenigen, Was die Missbrauchsaufsicht angeht, schneiden Sie in
die als Markenartikler die Finanzkraft haben, einen ent- Ihrem Antrag die Nachweisproblematik an, die auf die
sprechenden Pull-Effekt erzeugen können, sodass der Frage hinausläuft: Wer traut sich, seinen erpresserischen
Händler das Unternehmen letztendlich auch listen muss. Abnehmer anzugehen und eine Auslistung zu riskieren?
Ich gebe zu: Wir in der Politik haben lange zuge- Das ist insbesondere deshalb schwerwiegend, weil unab-
schaut. Das ist der Schwierigkeit dieses Themas, aber hängig davon, ob man bei einer Beschwerde obsiegt, die
auch dem intelligenten Einsatz von Marktmacht an der Abhängigkeit fortbesteht.
Stelle geschuldet, weil man sich eben nicht auf die Ab- Sie schlagen die Einrichtung einer Ombudsstelle vor,
satzmärkte bezieht, sondern weil der Druck auf der Be- die Beschwerden auch anonym aufnehmen sollte. Das ist
schaffungsseite aufgebaut wird, das heißt, die Verbrau- ein interessanter Gedanke. Ich befürchte aber, dass er
cherpreise sind natürlich niedrig. Das kann man ganz nur bis zu einem bestimmten Punkt trägt. Denn an ir-
11732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Ich stelle mir allerdings die Frage: Sind Mindestlöhne Leider gerät der Antrag insgesamt zu allgemein, um
der richtige Weg, dieses Ziel zu erreichen? Ist es nicht zielgenau konkrete Verbesserungen zu erreichen. In den
vielmehr so, dass den Menschen durch Mindestlöhne et- Details werden wichtige aktuelle Entwicklungen nicht
was weggenommen wird, etwa weil Arbeitsplätze ins ausreichend berücksichtigt. Natürlich stimmen wir zu,
Ausland verlagert werden? Kommt man durch Mindest- wenn Sie die Verbraucherinteressen in der Anwendung
löhne diesem Ziel also womöglich nicht näher? des § 54 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
berücksichtigt sehen wollen. Auch die Abschaffung der
Lassen Sie uns darüber streiten, wie der Weg dahin EU-Agrarexportsubventionen bleibt richtig.
aussehen soll, dass die Menschen ein Mindesteinkom-
men haben. Es ist eine etwas zu verengte Sichtweise, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
glauben, dass die Mindestlöhne der richtige Weg dahin Insgesamt aber bleibt doch der Eindruck, dass Sie viele
sind. Politikbereiche nur streifen, ohne ein schlüssiges und
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die gibt es zielgerichtetes Maßnahmenpaket zu entwickeln. Bei ei-
überall außer bei uns!) nigen Ihrer konkreten Vorschläge teilen wir zwar die
Analyse, doch die Forderungen sind nicht zielführend.
Lassen Sie uns gemeinsam darüber streiten, wie die So schlagen Sie eine Ombudsstelle vor, um dem Miss-
Ziele, die ich Ihnen genannt habe, erreicht werden kön- brauch von Marktmacht zu begegnen. Das ist aus unse-
nen. Man sollte aber nicht einfach nur plakativ einen flä- rer Sicht ein viel zu bürokratischer Weg. Warum stärken
chendeckenden Mindestlohn fordern. Es ist genau wie Sie nicht stattdessen die Verbraucherzentralen in ihrer
bei der Sektorenuntersuchung: Man muss sich die Sekto- Marktwächterfunktion?
ren einzeln anschauen, um zu erkennen, was man im je-
weiligen Bereich zu tun hat. Ihre Maßnahmen in Bezug auf transparente und nach-
haltige Produktionsbedingungen sehen wir grundsätzlich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – als positiv an, auch wenn wir zum Beispiel beim Ver-
(B) Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Mit Hono- braucherinformationsgesetz weiter gehende Vorstellun- (D)
rarverordnungen für Juristen hat die FDP noch gen zum Informationsanspruch von Bürgerinnen und
nie Probleme gehabt!) Bürgern gegenüber Unternehmen haben.
Vizepräsidentin Petra Pau: Dem Antrag fehlt insgesamt der rote Faden, der klare
Der Kollege Ostendorff hat für die Fraktion Bünd- Kompass. Er entwickelt keine Leitidee zur ökologischen
nis 90/Die Grünen das Wort. und sozialen Fairness in den Lebensmittelmärkten. Uns
als Agrarpolitiker treibt die Frage um, wie wir den Er-
zeugern von Lebensmitteln, zum Beispiel den Milchbau-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ern, einen Rahmen für faire Produktionsbedingungen
NEN): schaffen können. Der Trend bei der Milch geht zurzeit in
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Richtung Monopol, vor allem in Norddeutschland. Hier
Herren! Wer sich heute in der Gesellschaft umschaut, be- müssen wir etwas tun und den Markt wiederherstellen.
merkt einen klaren Bewusstseinswandel: Die Menschen Die Regierung verzichtet leider vollständig auf jegliche
leben bewusster, planen bewusster und konsumieren Ordnungspolitik.
auch bewusster als vor 10 oder 20 Jahren. Das sagen Ih-
nen alle Studien. Wir müssen den Rahmen dafür setzen, dass Bäuerin-
nen und Bauern angemessene Preise für ihre Produkte
Im heutigen Charta-Prozess bei Ministerin Aigner erhalten, ohne dass wir sie weiter in die industrielle Pro-
sagte sogar der Chef des Vion-Fleischkonzerns, dass für duktion treiben, eine Produktionsweise, die weder um-
77 Prozent der Verbraucher artgerechte Tierhaltung welt- noch tierschutzgerecht ist, viele bäuerliche Exis-
wichtig sei. „Geiz ist geil“ und „Hauptsache billig“ ha- tenzen zerstört und in der Gesellschaft auf keine
ben zunehmend ausgedient. Akzeptanz mehr stößt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der vorliegende Antrag reißt viele richtige und wich-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
tige Fragen an, bleibt aber in seinen Maßnahmen zu
FDP)
allgemein und stößt an einigen Stellen in die falsche
Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass die Preis- Richtung vor. Lassen Sie uns in der weiteren parlamen-
schilder in den Supermärkten oft nicht die soziale und tarischen Beratung gemeinsam an der Stoßrichtung
ökologische Wahrheit abbilden. Viele Billigprodukte arbeiten! Denn eines ist klar: Die Regierung wird er-
wären viel teurer, wenn die gesellschaftlichen Folgekos- fahrungsgemäß nichts unternehmen, um den Lebensmit-
ten der agrarindustriellen Produktion mit eingerechnet telmarkt fair und transparent zu gestalten.
11736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Friedrich Ostendorff
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stunden harter Arbeit pro Tag. Damit, liebe Kolleginnen (C)
Dr. Erik Schweickert [FDP]: Nicht von NRW und Kollegen, muss Schluss sein.
sprechen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat die Letzte auf Leider bleibt die Bundesregierung hier untätig. Wie
unserer Rednerliste, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, die Antwort auf unsere Kleine Anfrage gezeigt hat, sieht
für die Sozialdemokraten das Wort. – Bitte schön, Frau sie keinen Handlungsbedarf. Dabei waren sich fast alle
Kollegin. Sachverständigen in der Anhörung einig: Wir brauchen
Regeln, um den Missbrauch von Marktmacht wirksam
(Beifall bei der SPD) einzudämmen. Die SPD legt deshalb – übrigens als ein-
zige Fraktion – einen umfassenden Maßnahmenkatalog
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): vor.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß ist schon auf
Lieber Herr Kollege Ostendorff, schade, dass Sie den ro- eine zentrale Forderung eingegangen: die Schaffung ei-
ten Faden nicht erkennen können. ner unabhängigen Ombudsstelle. Diese Stelle soll auch
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Im SPD- Ermittlungen einleiten, wenn bei Einkaufspraktiken ei-
Antrag!) nes Unternehmens negative Auswirkungen auf die Be-
schäftigten entlang der Lieferkette zu befürchten sind.
Ich glaube, das liegt daran, dass Sie ein Grüner und eben
kein Roter – so wie wir – sind. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Ach du
liebes bisschen!)
(Beifall bei der SPD)
Unternehmen wären dann auskunftspflichtig und die Er-
Es ist schon erschreckend, dass sich gerade einmal gebnisse der Untersuchungen öffentlich einsehbar.
vier Handelsriesen praktisch den gesamten Lebensmit-
telmarkt aufteilen. (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]:
Planwirtschaft!)
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Sechs!)
Das führt zur zweiten zentralen Forderung: Insbeson-
Sie alleine bestimmen, wohin die Reise geht. dere große Unternehmen müssen verpflichtet werden,
(Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Das Parla- Berichte über die Wahrung der Menschen- und Arbeit-
(B) ment bestimmt, wohin die Reise geht!) nehmerrechte in der gesamten Wertschöpfungskette vor- (D)
zulegen. Denn klar ist: Die bestehenden Selbstverpflich-
In der Anhörung im letzten Juli ist sehr klar geworden, tungen von Unternehmen zur Einhaltung von fairen
was diese gigantische Monopolisierung im Einzelhandel Arbeitsbedingungen reichen nicht aus.
bedeutet: Qualitätsverfall und miese Löhne.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Natürlich sind Initiativen von Unternehmen wünschens-
Die Leidtragenden sind die Angestellten in den Super- wert, die sich freiwillig über das normale Maß hinaus für
märkten und Discountern. ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagieren. Des-
halb hatte Olaf Scholz als SPD-Arbeitsminister in der
Der Einzelhandel ist die größte Niedriglohnbranche
Großen Koalition die nationale CSR-Strategie auf den
in Deutschland. 12 Prozent der Beschäftigten erhielten
Weg gebracht. Wir müssen aber den Druck erhöhen, dass
2008 weniger als 5 Euro brutto. Besonders Frauen – sie
alle Unternehmen faire Arbeitsbedingungen einhalten.
stellen 70 Prozent der Beschäftigten – sind Opfer der
Wir müssen dafür sorgen, dass nur solche Unternehmen
miesen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie
öffentliche Aufträge erhalten, die soziale und ökologi-
arbeiten zu einem großen Teil in ungesicherten Mini-
sche Mindeststandards im eigenen Betrieb und in der
jobs. Altersarmut ist vorprogrammiert. Das, meine Da-
Zulieferkette einhalten.
men und Herren, werden wir nicht hinnehmen.
Stärken wir auch diejenigen, auf die es im Markt
(Beifall bei der SPD)
letztendlich ankommt, die Verbraucherinnen und Ver-
Wir fordern deshalb einen flächendeckenden gesetz- braucher! Wir fordern im Verbraucherinformationsge-
lichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Der würde schon setz einen Informationsanspruch zu der Frage, ob sich
enorm helfen. Unternehmen fair verhalten, auch entlang der Zuliefer-
kette. Dann können Kunden beim Einkauf schwarzen
Der gewaltige Preisdruck, den die Supermarktgiganten Schafen die Rote Karte zeigen.
ausüben, verläuft entlang der gesamten Lieferkette der
Konzerne. Die unabhängige Hilfsorganisation Oxfam (Beifall bei der SPD)
weist seit Jahren auf schockierende Arbeitsbedingungen
in Asien und Mittelamerika hin. Es ist beschämend, Vizepräsident Eduard Oswald:
wenn beim Handelsriesen Metro Lieferanten in Indien Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm.
den Landarbeiterinnen gerade einmal 85 Cent bezahlen,
und zwar nicht pro Stunde, sondern für zehn bis zwölf Jetzt schließe ich die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11737
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bürgerinnen und Bürgern als unangemessene Beschrän- (C)
Drucksache 17/4874 an die in der Tagesordnung aufge- kung ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten empfunden.
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der (Mechthild Dyckmans [FDP]: Zu Recht!)
FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Deshalb haben die Innen- und Rechtspolitiker der
Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion der Sozialde- CDU/CSU und der FDP schon bei den Koalitionsver-
mokraten wünscht die Federführung beim Ausschuss für handlungen eine Änderung dieser Vorschrift verabredet.
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir tätig
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss werden sollten. Die Statistik belegt, dass die Berufungs-
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, gerichte die Vorschrift im bundesweiten Vergleich sehr
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- unterschiedlich anwenden.
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Beispielsweise werden beim Oberlandesgericht Bremen
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der in 5,2 Prozent aller Fälle Berufungen durch Beschluss
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federfüh- zurückgewiesen. Beim Oberlandesgericht Rostock er-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, folgt dies in 27 Prozent aller Fälle. Auch diese unter-
abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- schiedliche Handhabung in der Praxis ist ein Anlass für
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der ein Eingreifen des Gesetzgebers.
Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 sowie Zusatzpunkt 5 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auf: Die Bundesregierung schlägt daher im vorliegenden
13 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Entwurf vor, bei Zurückweisungsbeschlüssen die gleiche
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Anfechtbarkeit wie bei den streitigen Berufungsurteilen
rung des § 522 der Zivilprozessordnung einzuführen. Künftig soll der Bundesgerichtshof auf die
Nichtzulassungsbeschwerde einen Zurückweisungsbe-
– Drucksachen 17/5334, 17/5388 – schluss ab einer Beschwer von 20 000 Euro in gleicher
Überweisungsvorschlag: Weise überprüfen wie jetzt schon ein Berufungsurteil.
Rechtsausschuss Wenn die Zulassungsgründe vorliegen, wird der Be-
schluss im Revisionsverfahren auf Rechtsfehler kontrol-
(B) ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid liert. Damit wird es für den Zugang zum Bundesge- (D)
Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- richtshof unerheblich, ob das Berufungsgericht durch
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Beschluss oder durch Urteil entschieden hat.
eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Meine Damen und Herren, das ist eine Verbesserung
Zivilprozessordnung des Rechtsschutzes, und das ist keine rein technische
– Drucksache 17/5363 – Angelegenheit; denn von vielen Betroffenen haben uns
Überweisungsvorschlag:
Beschwerden erreicht, dass das jetzt geltende System
Rechtsausschuss auch bei bedeutenden Rechtssachen nicht den vollen
Rechtsschutz bereitstellt, weil die beschlussmäßige Ver-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die werfung derzeit unanfechtbar ist.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Wir haben auch bedacht, ob die Berufungsgerichte
durch den Begründungsmehraufwand für die künftig an-
Erster Redner unserer Debatte ist der Parlamentari-
fechtbaren Zurückweisungsbeschlüsse im Übermaß be-
sche Staatssekretär Dr. Max Stadler. Ich gebe ihm das
lastet werden. Dies glauben wir nicht; denn die eigentli-
Wort. Bitte schön, Herr Kollege Dr. Stadler.
che Begründungsarbeit wird bereits bei dem Beschluss
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geleistet, der dem Zurückweisungsbeschluss vorangeht
und die Parteien auf den voraussichtlichen Ausgang des
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Rechtsstreits hinweist.
ministerin der Justiz: (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ist seit In besonderen Fällen, zum Beispiel, wenn die Sache
längerer Zeit Gegenstand einer heftigen rechtspoliti- für den Berufungsführer existenzielle Bedeutung hat,
schen Debatte. Nach dieser Regelung, die im Jahr 2002 muss künftig wieder mündlich verhandelt werden. Das
eingeführt worden ist, muss das Berufungsgericht in war nämlich das zweite große Beschwernis aus der Pra-
aussichtslosen Fällen die Berufung ohne mündliche Ver- xis: Die Betroffenen hatten den Eindruck, sie würden
handlung durch einen unanfechtbaren Beschluss zurück- mit ihrem Anliegen nicht hinreichend gehört. Bürgerin-
weisen. Damit war seinerzeit eine Verfahrensbeschleuni- nen und Bürger haben nämlich oft den Eindruck, eine
gung beabsichtigt. Dieses Ziel ist durchaus erreicht bloß schriftliche Vortragsweise habe nicht denselben
worden. Die Regelung wird aber dennoch von vielen Wert wie die mündliche Verhandlung.
11738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
– Ich weiß. Ich komme auch noch darauf zu sprechen. Darüber hinaus ist ein weiterer entscheidender Punkt
zu nennen. Die meisten Kläger werden die Hürde der
Der entscheidende Punkt der Vorschrift ist folgender: Streitwertgrenze bei der geplanten Nichtzulassungsbe-
Der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 ZPO ergeht schwerde ohnehin nicht überwinden. Sie ist nur bei einer
ohne mündliche Verhandlung, und er ist unanfechtbar. Beschwer von mehr als 20 000 Euro eröffnet. Dies ha-
Den Rechtsuchenden ist also bislang der Weg zum Bun- ben Sie vorhin nicht dargestellt. Nach den Statistiken des
desgerichtshof gegen den Zurückweisungsbeschluss ver- BMJ weisen jedoch 80 bis 90 Prozent aller anhängigen
sperrt. Gerichtsverfahren Streitwerte von unter 6 000 Euro auf.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11739
Sonja Steffen
(A) Der Gang zum BGH wird also nach der geplanten Geset- solvenzordnung vor der Tür. Es wird daher auch zukünf- (C)
zesänderung ohnehin nur für 10 bis 20 Prozent der Fälle tig wieder Streitfragen geben, die höchstrichterlich ge-
möglich sein. Die bestehenden Gerechtigkeitslücken klärt werden müssen. Die generelle Rechtsschutzmög-
werden dadurch nicht geschlossen. lichkeit durch die uneingeschränkte Rechtsbeschwerde-
möglichkeit zum BGH muss daher erhalten bleiben.
Nun fordert der Bundesrat in seiner aktuellen Stel-
lungnahme sogar, von der Einführung eines Rechtsmit- Vielen Dank fürs Zuhören.
tels gegen den Zurückweisungsbeschluss ganz abzuse- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid
hen. In der Begründung heißt es, gewichtige Gründe für Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
eine Änderung seien nicht zu erkennen. Ignoriert werden
dabei die Gerechtigkeitsdefizite, die durch die Vorschrift
entstanden sind. Ignoriert wird auch die Rechtszersplit- Vizepräsident Eduard Oswald:
terung durch die unterschiedliche Anwendungspraxis Wir danken Ihnen, Frau Kollegin Steffen. – Als
der Gerichte. Nächster hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kol-
lege Dr. Jan-Marco Luczak das Wort. Bitte schön, Herr
Statt der Einführung eines Rechtsmittels schlägt der Kollege.
Bundesrat übrigens die Einführung einer Ausnahmevor-
schrift vor, nach der die mündliche Verhandlung aus An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gemessenheitsgesichtspunkten doch noch angeordnet
werden kann. Was bedeutet das in der Praxis? Wenn das Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU):
Berufungsgericht durch einstimmigen Beschluss zu Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen des Kollegen! Wir diskutieren im Bundestag ja schon seit
§ 522 Abs. 2 ZPO vorliegen, dann wird es sich doch geraumer Zeit über die Regelung des § 522 Abs. 2 der
nicht im nächsten Schritt wieder umentscheiden und Zivilprozessordnung. In der letzten Legislaturperiode
eine mündliche Verhandlung nun doch für angemessen – Herr Staatssekretär hat das schon angeführt – hat die
und notwendig erachten. FDP dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Anfang des
Jahres haben wir über einen Antrag der SPD dazu debat-
Der Vorschlag des Bundesrates ist daher abzulehnen, tiert. Anfang der Woche haben nun auch die Grünen ei-
weil er den Anlass für das Änderungsbedürfnis nicht nen Vorstoß hierzu gemacht. Lassen Sie mich deswegen
zielführend berücksichtigt. Er geht an der Beseitigung mit einem ganz klaren Bekenntnis anfangen: Auch ich
der Gerechtigkeitslücken vorbei. halte den aktuellen Rechtszustand, den uns § 522 Abs. 2
Daher fordern wir in unserem Antrag die Abschaf- bietet, für wirklich unbefriedigend.
(B) fung des § 522 Abs. 2 ZPO, weil er sich in der Praxis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
nicht bewährt hat.
Besonders die tragischen Einzelschicksale, wie etwa
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid das der kleinen Deike – ich denke, wir kennen das alle –,
Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) führen uns allen vor Augen, dass die Zurückweisung ei-
Den Parteien steht ein fairer Instanzenzug zu. Die Grü- ner Berufung im Beschlussverfahren tatsächlich zu Er-
nen fordern dies in ihrem Antrag ebenfalls. Ich hoffe, gebnissen führen kann, die in der Sache falsch sind und
dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens auch die niemand von uns will. Deswegen ist es auch absolut
die Regierungskoalition von der Streichung der Vor- richtig, dass die christlich-liberale Koalition hier etwas
schrift überzeugen können. ändert.
Nun möchte ich zum Abschluss noch auf eine weitere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
geplante Regelung zu sprechen kommen. Das ist die Derzeit, meine Damen und Herren, sieht § 522 Abs. 2
beabsichtigte Streichung des § 7 der Insolvenzordnung. vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen – sie sind
Damit wären Rechtsbeschwerden gegen Entscheidungen hier schon genannt worden; das brauche ich nicht zu
des Insolvenzgerichts künftig nur noch statthaft, wenn wiederholen – eine Berufung im Beschlusswege zurück-
das Beschwerdegericht sie zulässt. Diese Abschaffung gewiesen werden kann. Das führt dazu, dass eine münd-
halten wir für ausgesprochen problematisch. Weder die liche Verhandlung nicht stattfindet. Vor allen Dingen ist
Anzahl der Verfahren noch die den Verfahren zugrunde der Zurückweisungsbeschluss für den Kläger nicht an-
liegenden Konflikte rechtfertigen diesen Schritt. Insol- fechtbar.
venzverfahren sind für die Betroffenen fast immer von
wesentlicher persönlicher und wirtschaftlicher Bedeu- Obwohl § 522 Abs. 2 die kumulativen Voraussetzun-
tung. gen abschließend und ohne die Eröffnung eines gericht-
lichen Ermessens darstellt, bestehen in der Praxis erheb-
Nach der geplanten Neuregelung werden zukünftig liche regionale Unterschiede in seiner Anwendung.
durch eine Vielzahl von Landgerichten rechtskräftige Auch hierzu haben wir die Zahlen schon gehört. Ich
Entscheidungen getroffen, wodurch eine Zersplitterung brauche sie nicht mehr im Einzelnen anzuführen. Es gibt
der Rechtsprechung droht. Die Einführung dieser Vor- in den einzelnen Gerichtsbezirken eine Spreizung von
schrift hatte seinerzeit den Sinn, mit der Umsetzung der bis zu 20 Prozent. Nun kann man vielleicht trefflich über
damals neu erlassenen Insolvenzordnung eine höchst- die Evaluierung der einzelnen Quoten streiten. Aber un-
richterliche Klärung durch den Gang zum BGH zu er- ter dem Strich bleibt es dabei, dass die Handhabung re-
möglichen. Jedoch steht nun eine weitere Reform der In- gional sehr unterschiedlich ist. Das führt dazu, dass – je
11740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der anderen Seite schränken Sie die Rechte der
Rechtsschutzsuchenden weiter ein, indem Sie § 26 Nr. 8
des Einführungsgesetzes der ZPO ändern wollen. Ob-
Vizepräsident Eduard Oswald: wohl die Revision grundsätzlich vom Streitwert losge-
Vielen Dank, Herr Kollege. löst betrachtet werden soll, verlängern Sie die bis Ende
2011 vorgesehene Befristung der Mindesthöhe des
Als nächster Redner spricht von der Fraktion Die Streitwertes für Revisionen von 20 000 Euro bis Ende
Linke unser Kollege Raju Sharma. – Bitte schön, Herr 2013. Damit übernehmen Sie die früheren Fehler von
Kollege Sharma. Rot-Grün. Wir finden das falsch.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Raju Sharma (DIE LINKE): Gerade in Arzthaftungsfällen ist die derzeitige An-
wendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belas-
Heute ist schon mehrfach gesagt worden, dass dies ein
tung der Geschädigten eine Zumutung. Wir dürfen nicht
wirklich spannendes rechtspolitisches Thema ist. Es geht
zulassen, dass Kosteneinsparungen im Justizsektor dazu
um § 522 ZPO, der es erlaubt, dass eine Berufung ohne
führen, dass die Bürgerinnen und Bürger den Glauben an
mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewie-
Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit verlieren.
sen werden kann, und dieser Beschluss ist dann noch
nicht einmal anfechtbar. Fertig! Wieder wurde ein SPD und Grüne haben erkannt, dass die damalige Re-
Rechtsstreit einfach und ohne großen Aufwand für im- form ihr Ziel verfehlt hat und dass das Problem nur
mer erledigt. Kurzer Prozess! durch eine Abschaffung gelöst werden kann. Diese Ein-
(B) sichtsfähigkeit verdient Anerkennung. (D)
Alle Fraktionen sehen hier Handlungsbedarf; denn
diese Vorgehensweise widerspricht dem Interesse der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Bürgerinnen und Bürger an einem effektiven Rechts- neten der SPD)
schutz.
Deshalb sollten Union und FDP nicht die Fehler vergan-
(Beifall bei der LINKEN) gener Wahlperioden wiederholen. Tun Sie das Richtige,
und wickeln Sie die verkorkste Reform ab. Streichen Sie
Entschiede das Gericht in dem gleichen Rechtsstreit nicht die Absätze 2 und 3 in § 522 ZPO!
durch einen Beschluss, sondern durch ein Urteil, wäre ge-
gen die Zurückweisung der Berufung wenigstens eine Danke schön.
Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Mehr als 100 Jahre
kamen wir ohne diese Regelung aus. Doch im Jahr 2001 (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
– das wurde schon gesagt – versuchte Rot-Grün, die neten der SPD)
Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Ge-
richte zu entlasten. Das haben wir neun Jahre lang auspro- Vizepräsident Eduard Oswald:
biert. Jetzt müssen wir feststellen: Das Ziel wurde ver- Vielen Dank, Herr Kollege Sharma.
fehlt. Für alle, die bei den Gerichten Rechtsschutz
suchen, ist § 522 ZPO ein Fluch und kein Segen. Auch die Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gewünschte Entlastung der Gerichte trat nicht ein. Da- unsere Kollegin Ingrid Hönlinger. – Bitte schön, Frau
rüber hinaus – auch das wurde heute schon gesagt – wird Kollegin.
diese Vorschrift ungleich angewandt. Je nach Bundesland
erledigen manche Oberlandesgerichte 4 Prozent ihrer Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Verfahren nach § 522 ZPO und andere über 27 Prozent. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Das ist nicht in Ordnung. Das ist ungerecht. Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben
(Beifall bei der LINKEN) schon viel Bedenkenswertes zu § 522 ZPO gesagt. Wir
alle wissen: Im Jahr 2002 wurde die Vorschrift einge-
Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht. Das führt, um die Gerichte zu entlasten und Rechtsmittelver-
ist in der Regel nicht schlimm. Wir müssen nur daraus fahren zu beschleunigen. In den letzten Jahren haben wir
lernen. Mit dem Regierungsentwurf wird aber lediglich verschiedene Erfahrungen damit gemacht. Auf der
versucht, die gröbsten Patzer etwas zu glätten. Dafür Grundlage dieser Erfahrungen nehmen auch wir Grünen
werden an § 522 Abs. 2 und 3 ZPO kosmetische Korrek- eine Neubewertung der Vorschrift vor.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11743
Ingrid Hönlinger
(A) Wir alle wissen: Für Betroffene endet der Rechtsweg eine Einigung hinwirken, vielleicht auch darauf hinwir- (C)
abrupt, wenn sie durch schriftlichen Beschluss mitgeteilt ken, dass die Berufung zurückgenommen wird. Wir ge-
bekommen, dass ihre Berufung zurückgewiesen wird, währleisteten den Bürgerinnen und Bürgern damit um-
weil es keine Aussicht auf Erfolg gibt, weil die Rechts- fassenden Zugang zu einer zweiten Instanz und damit
sache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weil kein Er- zum Recht. Im Klartext: Eine wirkliche Verbesserung
fordernis einer Fortbildung des Rechts vorliegt oder der rechtlichen Situation bietet nur die ersatzlose Strei-
keine Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung chung einer Vorschrift, die sich weder bewährt noch zur
erforderlich ist. Es findet keine mündliche Verhandlung Gleichbehandlung beigetragen hat.
statt. Der Rechtsweg ist endgültig beendet und damit
Vielen Dank.
auch der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum
Recht. Diese Rechtspraxis ist bedenklich. Deswegen dis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kutieren wir heute zu Recht über diese Vorschrift. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ein weiteres Problem ist – das wurde schon gesagt –, Gestatten Sie noch eine Frage der Frau Kollegin
dass § 522 ZPO von den Berufungsgerichten sehr unter- Dyckmans?
schiedlich angewandt wird. Die Diskrepanz liegt bei un-
gefähr 22 Prozent; der Herr Staatssekretär hat das Bei- Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
spiel schon angeführt. Das Oberlandesgericht Bremen Aber gern.
weist 5,2 Prozent der Berufungsverfahren durch schrift-
lichen Beschluss zurück, während das Oberlandesgericht
Rostock sehr viel überschwänglicher damit umgeht und Vizepräsident Eduard Oswald:
27,1 Prozent der Verfahren durch schriftlichen Beschluss Bitte schön, Frau Kollegin.
beendet. Diese Diskrepanz besteht, obwohl § 522 Abs. 2
zwingenden Charakter hat und es keinen Spielraum bei Mechthild Dyckmans (FDP):
der Anwendung gibt. Für die Betroffenen, aber auch für Frau Kollegin, Sie haben gesagt, es sei eine Unge-
juristische Expertinnen und Experten wie auch für uns rechtigkeit, eine Nichtzulassungsbeschwerde bei einem
ist es unbegreiflich, dass eine zwingende Vorschrift eine Betrag von über 20 000 Euro einzuführen. Können Sie
derart unterschiedliche Handhabung erfährt. mir erklären, wieso Sie meinen, dies sei eine Ungerech-
tigkeit? Können Sie mir erklären, wie es sich bei einem
Wir diskutieren heute auch über den Gesetzentwurf Urteil verhält, wann also bei einem Urteil die Nichtzu-
(B) der Bundesregierung. Er beinhaltet unter anderem Fol- (D)
lassungsbeschwerde gegeben ist?
gendes:
Erstens. Eine mündliche Verhandlung findet nicht Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
statt, wenn sie nicht angemessen ist. Das Wort „ange- Das ist bei einem Urteil genau dasselbe. Aber das Ur-
messen“ ist aus unserer Sicht ein weiterer unbestimmter teil setzt die mündliche Verhandlung voraus. Hier gehen
Rechtsbegriff, der wieder dazu einlädt, dass die Beru- wir von dem Fall aus, dass der schriftliche Beschluss
fungsgerichte die Vorschrift unterschiedlich handhaben. vorliegt. Nach unserer Auffassung ist es notwendig, im
Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung zu er-
Zweitens. Die Nichtzulassungsbeschwerde, mit der
möglichen, um umfassendes rechtliches Gehör zu ge-
die Betroffenen gegen den zurückweisenden Beschluss
währleisten.
vorgehen können, wird eingeführt; dies ist aber erst ab
einem Beschwerdewert von 20 000 Euro möglich. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mit ändert sich für einen Großteil der Betroffenen nichts. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ihr Rechtsweg ist nach wie vor beendet, wenn der
schriftliche Beschluss vorliegt. Wir führen den Bürgerin- Vizepräsident Eduard Oswald:
nen und Bürgern damit vor, dass wir uns um ihre finan- Vielen herzlichen Dank. – Ich schließe die Ausspra-
ziellen Angelegenheiten nur dann vollumfänglich küm- che.
mern, wenn es sich um einen relativ hohen finanziellen
Betrag handelt. Dies ist aus unserer Sicht nicht ausrei- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
chend, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. würfe auf den Drucksachen 17/5334 und 17/5363 an den
Rechtsausschuss vorgeschlagen. Die inzwischen vorlie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gende Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stel-
und bei der SPD) lungnahme des Bundesrates auf Drucksache 17/5388 zu
Der Änderungsvorschlag greift also aus unserer Sicht dem Gesetzentwurf der Bundesregierung soll wie der
zu kurz. Wir meinen: Alleinige Abhilfe bietet eine voll- Gesetzentwurf überwiesen werden. Gibt es dazu ander-
ständige Abschaffung von § 522 Abs. 2 ZPO. Dann weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind
würde in jedem Fall eine mündliche Verhandlung statt- die Überweisungen so beschlossen.
finden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Der Richter bzw. die Richterin kann sich ein persönli- Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
ches Bild von den Parteien machen, eventuell noch auf Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
11744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Lothar Riebsamen
(A) schehen müsste es als Folge daraus nämlich zu Preissen- wahrheitet haben. Hierzu gehörte die Angst vor den (C)
kungen kommen, die im System der DRGs aber natür- sogenannten blutigen Entlassungen, der selektiven Aus-
lich nicht vorgesehen sind. wahl von Patientinnen und Patienten durch die Kranken-
häuser oder vor deren sinkender Behandlungsqualität.
Eine wichtige Erkenntnis ist sicher auch, dass die Man kann einfach sagen, dass sich das DRG-System bei
durchschnittliche Preissteigerung im Krankenhausbe- den unterschiedlichsten Trägern des Gesundheitssystems
reich im Berichtszeitraum lediglich bei 1,4 Prozent jähr- etabliert hat.
lich gelegen hat. Das kann man dem Bericht entnehmen.
In den Jahren 1991 bis 2002 lag sie dagegen bei durch- Diagnosebezogene Fallpauschalen, um den Begriff,
schnittlich 3,7 Prozent im Jahr. Das ist ein Beleg dafür, den wir kurz DRG nennen, auch einmal in Gänze auszu-
dass die Kosten im Krankenhausbereich mit den Fall- sprechen, werden anhand medizinischer Diagnosen und
pauschalen deutlich eingedämmt werden konnten. Behandlungen wie auch anhand von demografischen
Daten, Alter und Geschlecht, für Zwecke der Abrech-
Ihr Vorschlag, einen Sachverständigenrat einzufüh- nung klassifiziert. Leistung wird also auf einer Kosten-
ren, bedeutet mehr Bürokratie. Ich sehe keinen Mehr- ebene anders abgebildet.
wert darin. Es kann auch nicht weiterhelfen, jetzt von ei-
ner wissenschaftlichen Begleitforschung auf einen Sach- Unser hier in Deutschland praktiziertes System kann
verständigenrat umzustellen. so schlecht nicht sein. Denn die Schweizer haben sich
entschieden, ab dem Jahr 2012 das deutsche DRG-Sys-
Ich halte es für vernünftig, die Lehren aus einem ler- tem als Grundlage für ein eigenes Abrechnungs- und
nenden System zu ziehen. Darum geht es, um nicht mehr Finanzierungssystem im Krankenhaus zu wählen.
und nicht weniger. Wir sind noch nicht ganz am Ziel.
Das erwartet heute auch niemand. Wir sind aber auf dem Der Antrag der Linksfraktion fordert unter anderem
richtigen Weg. die Einsetzung eines Sachverständigenrates zur Evaluie-
rung des Fallpauschalensystems in der Krankenhaus-
Herzlichen Dank. finanzierung. Dieser Forderung können wir nicht zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmen. Zu Recht ist vorhin schon gesagt worden, dass
es Kritik an der Begleitforschung in der Vergangenheit
gibt, die in den Berichten auch schon benannt worden
Vizepräsident Eduard Oswald:
ist.
Wir haben zu danken, Herr Kollege Riebsamen. – Als
Nächste hat unsere Kollegin Mechthild Rawert von der Es gibt also auch Möglichkeiten, Themen der gesund-
Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, heitlichen Versorgung genauer zu untersuchen. Hierzu
Frau Kollegin Rawert. wurden vielfältige Prüfanfragen verfasst, anhand derer
(B) (D)
derzeitig evaluiert wird. Unter anderem befasst sich das
(Beifall bei der SPD) renommierte IGES-Institut damit. Es wurde 1980 ge-
gründet und hat in über 1 000 Projekten zu Fragen des
Mechthild Rawert (SPD): Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzie-
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- rung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich
legen! Liebe Zuhörende im Saal! Wir beraten heute den der Gesundheit geforscht. Der schon erwähnte erste
Antrag der Linksfraktion „Ergebnisoffene Prüfung der „Endbericht zum ersten Zyklus der G-DRG-Begleitfor-
Fallpauschalen in Krankenhäusern“. Wer glaubt, dass schung“ hat die Jahre 2004 bis 2006 begleitet und wurde
das ein aufregendes, ein Thema mit Exotik ist, hat sich 2010 vorgelegt.
getäuscht. Aber vorhin sind zu Recht die immensen
Geldsummen genannt worden, die in dem System der Die Kritik habe ich bereits angesprochen. Begleitfor-
Fallpauschalen bewegt werden. Insofern ist das Thema schung darf nicht wie mit dem ersten Bericht verspätet
sehr wichtig für das Gesundheitswesen. erfolgen, sondern muss von Anfang an stattfinden. Auch
die Hoffnung, dass es mit dem zweiten Bericht nun bes-
Es geht um die Finanzierung der Krankenhausleistun- ser klappt, wurde schon formuliert.
gen und darum, dass wir damit eine hochwertige medizi-
nische Versorgung für die Patientinnen und Patienten mit Das Ergebnis ist Folgendes: Ein pauschaliertes Vergü-
einem motivierten und gut bezahlten Gesundheits- und tungssystem führt weder zu frühzeitigen Entlassungen
Pflegepersonal sichern wollen. noch zu einer systematischen Patientenauswahl und auch
nicht zu einer Verlagerung von Behandlungen in andere
Fallpauschalen existieren seit einigen Jahren. Der bis- Versorgungsbereiche. Wir werden in den Diskussionen,
herige Weg, die Besonderheiten in den Versorgungs- die wir unter anderem über das Versorgungsgesetz füh-
strukturen und Behandlungsweisen immer besser im ren werden, sehen, welche neuen Steuerungsfunktionen
Fallpauschalen-Katalog zu berücksichtigen, wird konse- in Zukunft auf uns zukommen werden. Diese Funktio-
quent beschritten. Insofern ist es richtig, dass wir von nen sind auf jeden Fall noch genauer auszurichten.
einem lernenden System reden. Die Abbildungsgenauig-
Ich möchte auf einen anderen Punkt, der in der Praxis
keit wird immer besser, wie sich auch im Fallpauscha-
nur indirekt mit dem DRG-System zu tun hat, zurück-
len-Katalog 2011 längst erwiesen hat.
kommen, und zwar auf die Situation der Beschäftigen im
Zu Recht – dafür danke ich – wird darauf Bezug ge- Gesundheitswesen. Ich bin genau zu dem Zeitpunkt, als
nommen, dass sich einige der Befürchtungen, die bei der das DRG-System eingeführt wurde, Zentrale Frauen-
Einführung der DRGs geäußert worden sind, nicht be- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité gewesen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11747
Mechthild Rawert
(A) Gerade im Pflegebereich hat das DRG-System tatsäch- meinsam unter Qualität verstehen wollen. Sie wollen in (C)
lich zu einem massiven Abbau von Beschäftigten ge- den Mittelpunkt der Überlegungen des von Ihnen gefor-
führt. Ein solcher Abbau kann und darf in Zukunft nicht derten Sachverständigenrates die Interessen der Patien-
mehr erfolgen. Deswegen sind die Prüffragen zur Situa- ten und Beschäftigten der Krankenhäuser stellen und
tion der Versorgung im Gesundheitswesen im Interesse umschreiben damit, wenn ich Sie da richtig verstanden
der Beschäftigten von uns als Parlamentarier und Parla- habe, dass es seit der Einführung der DRGs Veränderun-
mentarierinnen genau zu analysieren. gen von Handlungslogiken im Krankenhausbereich gibt,
die bisher aber nicht in den Blick der Begleitforschung
(Beifall bei der SPD) genommen wurden. Somit konnten daraus auch keine
Auf Fragen der sogenannten Mengenerweiterung will Ableitungen folgen. Um es deutlich zu sagen: Wenn es
ich nicht näher eingehen. als eine gemeinsame Herausforderung verstanden wird,
dass sich menschliche Zuwendung und der dafür not-
Mein Vorschlag für eine gemeinsame Kontrolle ist: wendige Faktor Zeit bei den Beschäftigten nur schwer in
Nehmen wir die auch durch das InEK implementierte eine stückkostenorientierte Abrechnungswelt einbauen
Steuerungsfunktion durch den Fallpauschalen-Katalog lassen, dann muss dies in die Untersuchung einbezogen
wahr! Kontrollieren wir die Wirkungen und Auswirkun- werden. Wir alle – da, denke ich, sind wir uns einig –
gen für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die vermuten nicht nur, dass die DRG-Einführung eine Leis-
Beschäftigten im Gesundheitswesen! Kontrollieren wir tungsverdichtung mit sich gebracht hat, die natürlich
den hoffentlich in naher Zukunft vorliegenden zweiten auch Druck auf die Personalkostenblöcke erzeugt hat.
Evaluierungsbericht!
Nun möchten meine Fraktion und ich aber nicht, dass
Danke für die Aufmerksamkeit. wir ein neues Gremium schaffen, das da selbst evaluiert.
(Beifall bei der SPD) Wir haben die Möglichkeit, die offenen Fragestellungen
im Rahmen der auch mit der Einführung der Psych-
DRGs durchzuführenden Begleitforschung mit aufzu-
Vizepräsident Eduard Oswald:
nehmen und dort auch gleich beide Bereiche untersu-
Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. – Jetzt hat Kol- chen zu lassen.
lege Lars Lindemann das Wort für die FDP-Fraktion.
Bitte schön, Kollege Lars Lindemann. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die Begleit-
forschung mit dem BMG abzustimmen ist. Darunter ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stehe ich hier auch das Evaluationsdesign. Meine Bitte
geht darum an den zuständigen Parlamentarischen
Lars Lindemann (FDP): Staatssekretär, nach Überweisung des Antrags an den
(B) (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ausschuss dort darüber zu berichten, wie die Abstim-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor acht Jahren mung in Bezug auf die im Jahr 2010 vorgelegten Unter-
wurde in den somatischen Krankenhäusern in Deutsch- suchungen ausgesehen hat. Wir wollen dann unsererseits
land begonnen, die DRGs einzuführen. Diese Einfüh- im Ausschuss darüber beraten, welche Punkte wir als
rung sollte – so hat es der Bundestag hier beschlossen – Parlamentarier dann über das BMG mit in die Untersu-
auch forschend begleitet werden. Der Bundestag hat chung eingebracht sehen wollen.
auch Vorgaben gemacht, was dabei besonders in den
Blick zu nehmen ist. Es sollte untersucht werden, ob Vielen Dank.
durch die Einführung der DRGs sich Veränderungen der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Versorgungsstrukturen ergeben, sich die Qualität der
Versorgung verändert und Auswirkungen auf die ande-
Vizepräsident Eduard Oswald:
ren Versorgungsbereiche zu verzeichnen sind. Schließ-
lich sollten auch Art und Umfang von Leistungsverlage- Vielen Dank, Kollege Lindemann. – Jetzt folgt für die
rungen untersucht werden. Nach Vorlage des Berichtes Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
des IGES-Institutes im März 2010 erklärten alle beteilig- Elisabeth Scharfenberg. Bitte schön, Frau Kollegin
ten Vertragspartner, dass die Einführung weder zu früh- Scharfenberg.
zeitigen Entlassungen noch zu einer systematischen
Patientenauswahl geführt habe. Dies waren, so erinnere Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ich mich, die wesentlichen Einwände, die damals vorge- NEN):
bracht wurden. Auch konnte eine Leistungsverlagerung Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
in andere Bereiche nicht festgestellt werden. gen! Wir halten den von der Linken vorgeschlagenen
Sachverständigenrat zur Evaluierung des DRG-Systems
Der Antrag der Linken, über den wir heute debattie- für den falschen Weg. Gleichwohl sind auch wir natür-
ren, fordert nun, einen Sachverständigenrat einzuberu- lich der Auffassung, dass bei einer solch weitreichenden
fen, der anstelle des bisherigen Vorgehens selbst und im Veränderung, wie es gerade die Einführung der DRGs
Auftrag des BMG evaluieren soll. Man kann, so meine zweifellos war, eine umfassende Evaluation zwingend
ich, heute nicht generalisierend sagen, dass die Behand- dazugehört. Genau dies haben wir ja auch getan.
lungsqualitäten durch die Einführung der DRGs an sich
gelitten haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen Unter Rot-Grün haben wir parallel zur Einführung der
von der Linken – da haben wir eine Schnittmenge –, wir DRGs einen umfassenden Auftrag zur Begleitforschung
müssen in eine Überlegung eintreten, was genau wir ge- beschlossen. Die DRGs sind ein lernendes System. Wir
11748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Elisabeth Scharfenberg
(A) erleben aber, dass einige Akteure im Gesundheitswesen rung sowohl in der Bundesregierung als auch in der (C)
gerade nicht aus Erfahrungen lernen wollen. Sie wollen Selbstverwaltung endlich ein Ende hat.
möglichst wenig darüber wissen, wie sich die DRGs in
Vielen Dank.
der Praxis auswirken und wo gegengesteuert werden
muss. Das ist nicht nur das Versagen der Selbstverwal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tung, sondern vor allem auch der schwarz-roten und nun
natürlich der schwarz-gelben Bundesregierung. Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Frau Kollegin Scharfenberg. – Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max
So wurde die Begleitforschung mit etlichen Jahren Straubinger. – Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
Verspätung ausgeschrieben. Deshalb wurden die ersten
Ergebnisse auch nicht, wie vorgeschrieben, 2005, son- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dern erst 2010 vorgelegt.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Aber sind wir denn nach der Lektüre der nun vorlie-
genden Ergebnisse der Begleitforschung eigentlich wirk- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
lich schlauer geworden? Erfahren wir, welche Auswir- Frau Kollegin Scharfenberg, es gibt keine Erkenntnisver-
kungen es auf andere Versorgungsbereiche gibt? weigerung der Bundesregierung und auch nicht der sie
Erfahren wir, ob es tatsächlich sogenannte blutige Ent- tragenden Fraktionen; vielmehr nehmen wir diese Be-
lassungen gibt? Oder erfahren wir, wie sich die Situation richte natürlich ernst. Es ist richtig, dass Berichte und Un-
der stationären Pflegekräfte durch die DRG-Einführung tersuchungen letztendlich fundiert sein müssen. Es be-
entwickelt hat? Nein, muss ich sagen, dazu erfahren wir durfte eines längeren Zeitraums, bis die Ausschreibung
nichts. Es wäre aber die Aufgabe der Bundesregierung, sachgerecht vollendet war. Gute Grundlagen gehören
dafür zu sorgen, dass der gesetzliche Auftrag zur Be- dazu. Es darf nicht sein, dass etwas sozusagen hoppladi-
gleitforschung erfüllt wird. Das hat die Bundesregierung hopp zusammengeschrieben wird. Da wir für „Gründlich-
aber weder getan, als die Ausschreibung der Begleitfor- keit vor Schnelligkeit“ stehen – das hat sich im Leben im-
schung über Jahre verschleppt wurde, noch tut sie es mer wieder bewährt –, kann ich hier keine Kritik üben.
jetzt angesichts dieser völlig unzureichenden Ergebnisse. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg.
Kürzlich hatten wir im Gesundheitsausschuss auf Ini- Mechthild Rawert [SPD])
tiative der Grünen eine Anhörung zur ambulanten Ver- – Das gilt für alle Bereiche der Politik, Frau Kollegin
sorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt. Dort wurde Rawert.
(B) insbesondere von den Krankenkassen vertreten, dass es (D)
keine Belege für eine solche Versorgungslücke gebe. Die Verehrte Damen und Herren, hier wurde bereits dar-
Mehrheit der geladenen Sachverständigen hat das aber gelegt: Mit der Einführung des Systems der DRG waren
ganz anders gesehen. Befürchtungen verbunden. Es hat sich gezeigt, dass es
ein selbstlernendes System ist. Dem ist nichts hinzuzufü-
Das zeigt doch, dass es hier einen Erkenntnisbedarf gen. Ich bin dem Kollegen Weinberg dankbar, dass er
gibt. Haben die Kassen, hat irgendein anderer Akteur da- dargelegt hat, dass die Befürchtungen, die gehegt wor-
rauf gedrängt, diese Frage zu klären? Ich bin der Auffas- den sind, so nicht eingetreten sind, dass wir somit auf ei-
sung: Nein, denn dieses Problem wurde im Rahmen der nem guten Weg sind und dass es überall Verbesserungs-
Begleitforschung gar nicht untersucht. Deswegen fehlt möglichkeiten gibt. Bereits ein altes Sprichwort besagt,
mir auch der Glaube, dass eine Sachverständigenkom- dass das Bessere der Feind des Guten ist. Es gilt, in die-
mission, wie sie die Linke fordert, an diesen Mängeln sem Sinne weiterhin die Arbeit zu leisten. Ich möchte
grundsätzlich etwas ändern würde. dem nicht mehr unendlich viel hinzufügen.
Dabei kann niemand leugnen, dass es Probleme gibt. Ich möchte darauf verweisen, dass weitere Strukturen
Das zeigen zahlreiche Studien außerhalb der gesetz- – die Fraktion Die Linke schlägt vor, einen weiteren
lichen Begleitforschung. So wissen wir doch, dass es nicht Sachverständigenrat zu schaffen – nicht notwendiger-
erst seit Einführung der DRGs zu einem erheblichen Ab- weise eine Verbesserung bedeuten. Letztendlich sind alle
bau von Pflegepersonal gekommen ist. Die DRGs bilden Phasen in Begleitung der Bundesregierung zu untersu-
den Pflegeaufwand nicht ausreichend ab. Deswegen chen. Der Kollege Lindemann hat auf Folgendes hinge-
hoffe ich sehr, dass die nunmehr entwickelten Kriterien wiesen: Wenn wir diesen Antrag im Ausschuss beraten,
zur Berücksichtigung des Pflegeaufwandes, der Pflege- dann werden uns auch die bisherigen und die neuen Er-
komplexmaßnahmen-Score, die Pflegequalität wirksam kenntnisse der Bundesregierung dargelegt. Es gilt dann
verbessern werden. natürlich, auch den letzten Schritt zu begleiten. Die ge-
samte Phase der Einführung der DRGs muss wissen-
Auch in der stationären psychiatrischen Versorgung
schaftlich begleitet werden.
wird ein stärker pauschalisiertes Entgeltsystem einge-
führt. Wir müssen dabei von den Erfahrungen der DRG- Bereits heute Vormittag, in der Kernzeit, haben wir
Einführung lernen und hier eine bessere Begleitfor- über das Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der
schung erreichen. Bundesregierung beraten. Hier kann ein wichtiger Bei-
trag dazu geleistet werden.
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Beratung dieses
Antrags Konsequenzen hat und die Erkenntnisverweige- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11749
Max Straubinger
(A) Es geht darum, dass in der Gesundheitsökonomie die Pa- Politik zuvörderst. Wir haben die nötigen Maßnahmen (C)
tientenorientierung und die Patientensicherheit einen der Regulierung zu treffen, dass so etwas, wie es in der
großen Stellenwert haben. Unter diesem Gesichtspunkt Finanz- und Wirtschaftskrise geschehen ist, nicht noch
bin ich überzeugt, dass die notwendigen Erkenntnisse er- einmal möglich ist. Wir haben dies zu tun aus der Ver-
arbeitet werden. Ebenso überzeugt bin ich, dass die For- antwortung für unser Land und aus der Verantwortung
schungsstrukturen und die Studien auch in diesem Be- für die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren Steuern
reich einen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten Schlimmeres für das Allgemeinwohl in dieser Krise ver-
werden. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass das hindert haben.
Ganze auch in finanzieller Hinsicht mit einem gewalti-
gen Forschungsaufwand verbunden ist: Die Bundesre- (Manfred Zöllmer [SPD]: Geht es auch eine
gierung ist bereit, hier 1 Milliarde Euro einzusetzen. Nummer kleiner?)
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) Vor allem die Kreditinstitute selbst haben jedoch die
Verantwortung für die Stabilität des Finanzmarktes zu
Es wird sichtbar, dass wir größten Wert auf die Patien- übernehmen. Wir haben Instrumente geschaffen, um
tensicherheit und vor allen Dingen auf die Patientenori- Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, in einem
entiertheit unseres Gesundheitssystems legen. geordneten Verfahren zu sanieren oder abzuwickeln. Die
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Erfahrungen mit der Insolvenz der Investmentbank
Lehman Brothers haben gezeigt, dass gerade auch mit-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) telgroße, aber stark vernetzte Banken Einfluss auf das
Finanzsystem und die gesamte Stabilität haben können.
Vizepräsident Eduard Oswald: Durch staatliche Stabilisierungsmaßnahmen, die die
Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Weitere Wort- Fortführung des Geschäftsbetriebs ermöglichen, wurden
meldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. negative Folgen für die Stabilität des Finanzmarktes
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf wirksam vermieden. Die Erfahrungen haben gezeigt,
Drucksache 17/5119 an die in der Tagesordnung aufge- dass Restrukturierung und geordnete Abwicklung sys-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- temrelevanter Banken regelmäßig finanzielle Mittel er-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung fordern werden. Diese Mittel sollen nicht allein – wie in
so beschlossen. der Vergangenheit – durch die öffentliche Hand, sondern
vorrangig durch den Finanzsektor selbst bereitgestellt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: werden.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir haben im Zuge der sogenannten Bankenabgabe (D)
(B)
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu im letzten Jahr das Restrukturierungsfondsgesetz be-
der Verordnung der Bundesregierung schlossen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde ein
Verordnung über die Erhebung der Beiträge Restrukturierungsfonds als Sondervermögen des Bundes
zum Restrukturierungsfonds für Kreditinsti- errichtet, der von der Bundesanstalt für Finanzmarktsta-
tute (Restrukturierungsfonds-Verordnung – bilisierung verwaltet wird. Aus dem Fonds werden die
RStruktFV) künftigen Restrukturierungs- und Abwicklungsmaßnah-
men bei systemrelevanten Banken finanziert.
– Drucksachen 17/4977, 17/5122 Nr. 2, 17/5401,
17/5405 – Das Gesetz sieht vor, die Mittel des Fonds durch Jah-
resbeiträge und gegebenenfalls Sonderbeiträge der bei-
Berichterstattung: tragspflichtigen Kreditinstitute anzusammeln. Es regelt
Abgeordnete Ralph Brinkhaus die wesentlichen Eckdaten für die Erhebung der Bei-
Manfred Zöllmer träge. Die weitere Ausgestaltung wird in der heute zur
Björn Sänger Debatte stehenden Rechtsverordnung geregelt, die der
Dr. Barbara Höll Finanzausschuss in seiner gestrigen Sitzung ohne Ände-
Dr. Gerhard Schick rungen übernommen hat und die jetzt zur Abstimmung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die steht.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Bei der Ausgestaltung der Bankenabgabe gibt es nicht
keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. nur verfassungsrechtliche Gründe zu beachten, dass die
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster Lasten unter den Kreditinstituten auch angemessen und
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter gerecht verteilt werden. Auch die Europäische Kommis-
Aumer. – Bitte schön, Kollege Peter Aumer. sion achtet genau darauf, ob einzelne Banken bei der
Bankenabgabe bevorzugt werden; denn das könnte eine
(Beifall bei der CDU/CSU) unzulässige Beihilfe sein. Vor diesem Hintergrund ist
auch die Nacherhebungsregelung zu sehen, die einen
Peter Aumer (CDU/CSU): Ausgleich zwischen Banken mit volatilen und Banken
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Da- mit stabilen Erträgen schafft. Änderungen bei dieser Re-
men und Herren! Verantwortung übernehmen, das ist vor gelung müssen daher gut begründet werden, um einsei-
allem die Lehre, die wir aus der Finanz- und Wirtschafts- tige Begünstigungen bestimmter Banken und Geschäfts-
krise gezogen haben. Diese Verantwortung haben wir als modelle zu vermeiden.
11750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Peter Aumer
(A) Generell können wir festhalten, dass Deutschland in ich mir die vorliegende Verordnung genauer anschaue, (C)
diesem Punkt Maßstab für Europa ist. Die EU-Kommis- dann glaube ich: Dieser Satz wird bald genauso der Ver-
sion hat unser Modell aufgegriffen und plant, einen EU- gangenheit angehören wie das Versprechen der Kanzle-
weiten Krisenmechanismus nach deutschem Vorbild ein- rin, die Banken zur Finanzierung der Krise heranzuzie-
zuführen. Das zeigt, dass die christlich-liberale Koalition hen. Dieses Versprechen hat sich inzwischen in heiße
auf dem richtigen Weg ist und ihrer Verantwortung für Luft aufgelöst, wie so vieles, was von dieser Bundesre-
unser Land gerecht wird. gierung versprochen wurde. Herr Aumer hat eben noch
einmal bekräftigt, dass die Koalitionsfraktionen ihre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verantwortung für die Banken wahrnehmen wollen.
Darüber hinaus können wir der Forderung der Oppo- (Björn Sänger [FDP]: Und für die Menschen! –
sition nicht folgen, die eine Bankenabgabe in Höhe von Peter Aumer [CDU/CSU]: Genauer aufpas-
20 bis 25 Prozent des Bankengewinns einführen will. sen!)
Wir haben auch Verantwortung für die Kreditinstitute in
unserem Land, denn auch sie sind eine tragende Stütze Liebe Kolleginnen und Kollegen, Basis der Verord-
und ein tragender Pfeiler für unser Wirtschaftssystem. nung, über die wir jetzt diskutieren, ist das Restrukturie-
rungsgesetz, das bereits von der Mehrheit des Bundesta-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die haben es ges verabschiedet worden ist. Mit diesem Gesetz sollte
ausgelöst!) die „Too big to fail“-Problematik angegangen werden
– Die haben es ausgelöst, das stimmt; aber trotzdem sind und die Banken an den Kosten der Krise beteiligt wer-
sie wichtig, damit das ganze Wirtschaftssystem am Lau- den. Der erste Teil des Gesetzes beruht auf den Arbeiten
fen gehalten werden kann. Man muss sie natürlich mit von Frau Zypries, der damaligen Justizministerin, und
heranziehen, aber man darf sie auch nicht über Gebühr des damaligen Finanzministers Steinbrück.
strapazieren. (Beifall bei der SPD)
Nicht der Steuerzahler soll in Zukunft für das Miss- – Das ist, glaube ich, wirklich noch einen Beifall wert.
management der Banken aufkommen, so wie dies vor
zwei Jahren der Fall war, sondern die Kreditinstitute Das Bundeskabinett hat am 2. März 2011, basierend
müssen ihrer Verantwortung nachkommen und ihren auf einer entsprechenden Ermächtigung im Restrukturie-
Beitrag für die Stabilität des Finanzmarkts leisten. Nie- rungsfondsgesetz, die Restrukturierungsfonds-Verordnung
mand kann genau sagen, wie die Wirkung der Bankenab- beschlossen. Auf dieser Grundlage soll zukünftig die
gabe ausfallen wird. Deswegen ist es auch absurd, Maxi- Bankenabgabe erhoben werden. Ziel der Bundesregie-
malforderungen zu stellen, wie Sie das tun, meine sehr rung war – so wurde es formuliert –, die Steuerzahlerin-
(B) geehrten Damen und Herren in der Opposition. Wir wer- nen und Steuerzahler davor zu schützen, bei zukünftigen (D)
den die Wirkungen der heute zu beschließenden Verord- Krisen zahlen zu müssen.
nung beobachten und schauen, ob Änderungen notwen-
dig sind. Wenn dies der Fall ist, werden wir Änderungen Wird nun alles gut?
vornehmen. (Björn Sänger [FDP]: Ja!)
Wir sichern durch diese Verordnung die weitere Sta- Können wir Entwarnung geben?
bilität der Finanzmärkte und teilen die Kosten auf 1 990
beitragspflichtige Kreditinstitute anteilsmäßig und ge- (Björn Sänger [FDP]: Ja!)
recht auf. Das glauben Sie doch selber nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi- (Björn Sänger [FDP]: Doch!)
tion, werden auch Sie Ihrer Verantwortung gerecht und
stimmen Sie der vorliegenden Restrukturierungsfonds- Wir haben doch eben gehört: Die Banken sollen ge-
Verordnung zu! schützt werden, nicht die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD – Peter Aumer [CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CSU]: Sie sollten wirklich schlauer sein! Das
ist ja billig!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Die vorliegende Verordnung führt auf absehbare Zeit
Vielen Dank, Kollege Peter Aumer von der Fraktion nicht dazu, den Steuerzahler zu entlasten. Die vorgese-
CDU/CSU. – Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokra- hene Bankenabgabe ist viel zu gering, um dieses politi-
ten unser Kollege Manfred Zöllmer. – Bitte schön, Kol- sche Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung geht bei der
lege Manfred Zöllmer. Bankenabgabe von circa 1 Milliarde Euro an Einnahmen
(Beifall bei der SPD) pro Jahr aus. Das bedeutet, dass man 70 bis 100 Jahre
warten muss, bis eine entsprechende Summe zur Verfü-
gung steht, um eine mögliche neue Finanzkrise zu finan-
Manfred Zöllmer (SPD):
zieren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Regierung will nicht mehr für Banken einspringen“, so (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wol-
titelte Spiegel-Online am 31. März dieses Jahres. Wenn len auch nichts überstürzen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11751
Manfred Zöllmer
(A) – Ja, das scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. – hobenen Bankenabgabe reicht bei weitem nicht aus, um (C)
Für diesen langen Zeitraum bleiben nach wie vor der eine angemessene Belastungsverteilung zu gewährleis-
Steuerzahler und die Steuerzahlerin in der Verantwor- ten.
tung.
(Frank Schäffler [FDP]: Was wäre denn Ihr
Die Restrukturierungsfonds-Verordnung präzisiert die Vorschlag?)
Vorgaben des Gesetzes für die Erhebung der Bankenab-
gabe hinsichtlich der Abgabesätze und der Zumutbar- – Wir sind nicht in der Regierung. Wir sprechen über Ih-
keitsgrenze. Die Abgabesätze werden gestaffelt. Je grö- ren Vorschlag.
ßer das Geschäftsvolumen einer Bank ist, desto höher ist
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP:
der Jahresbeitrag, in entsprechenden Stufen. Außerdem
Ah! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann ist
werden bestimmte Termingeschäfte berücksichtigt.
es auch besser, dass Sie nicht in die Regierung
Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze. Der Jahresbeitrag kommen!)
wird bei 15 Prozent des Jahresüberschusses gekappt.
Auf jeden Fall soll aber ein Mindestbeitrag in Höhe von – Ja, nun mal ganz ruhig bleiben. Wir haben unseren
5 Prozent des regulären Jahresbeitrags erhoben werden. Vorschlag in der letzten Sitzung des Finanzausschusses
Banken, die in einem Jahr aufgrund der Zumutbarkeits- gemacht, und ich werde gleich noch darauf eingehen. Sie
grenze keinen vollen Jahresbeitrag oder nur den Min- waren bei der Sitzung nicht dabei, deswegen können Sie
destbeitrag gezahlt haben, müssen die gekappten Bei- das auch nicht wissen.
träge nachzahlen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ich bin ja auch
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Hauptkritik- nicht Mitglied des Finanzausschusses!)
punkt bleibt: Das zu erwartende Aufkommen der Ban-
Die Deckelung von 15 Prozent schwächt die eigent-
kenabgabe ist zu gering, um den Finanzbedarf bei der
lich vorgesehene Ausrichtung der Beitragserhebung am
Restrukturierung systemrelevanter Banken decken zu
systemischen Risiko einer Bank in deutlichem Maße und
können.
begrenzt damit sehr stark das Aufkommen der Banken-
(Beifall bei der SPD) abgabe. Die Zumutbarkeitsgrenze bevorzugt Institute
mit hochvolatilen Geschäftsmodellen und damit verbun-
Das politische Ziel wird verfehlt. denen starken Ergebnisschwankungen. Damit werden in-
Sie haben darüber hinaus das Ziel einer verursacher- ternational tätige Großbanken mit hohen Renditezielen
gerechten Belastung von Banken nicht erreicht. deutlich bevorzugt. Sie werden nicht in der erforderli-
chen Weise zur Beitragserhebung herangezogen.
(B) (Zuruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]) (D)
Wir Sozialdemokraten wollen Risiken begrenzen und
– Die haben diese Bankenabgabe nicht konzipiert.
die Beiträge an der Risikogeneigtheit der Banken orien-
Schauen Sie doch einfach einmal in die Geschichte. –
tieren, wie es auch der IMF gefordert hat.
Diese Bankenabgabe schont große Banken mit ihren risi-
koreichen Geschäftsmodellen, weil die Bemessungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
grundlage zu einem ganz überwiegenden Teil nur an die
Passivseite der Bilanz anknüpft und damit lediglich die Wir haben deshalb im Finanzausschuss den Antrag ge-
Verbindlichkeiten der Bank berücksichtigt. stellt, die Zumutbarkeitsgrenze von 15 auf 25 Prozent
des Jahresergebnisses zu erhöhen.
Eine risikoorientierte Bankenabgabe, die eine stabile
und langfristig orientierte Geschäftspolitik begünstigen (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war selbst
würde, müsste auch den Risikogehalt der Forderungen den Grünen zu viel!)
einer Bank angemessen berücksichtigen. Um dies zu er-
reichen, müssten die risikobehafteten außerbilanziellen Diesen Antrag haben Sie ebenso abgelehnt wie die Än-
Geschäfte einer Bank stärker als bisher vorgesehen be- derungsanträge der Grünen zur Veränderung des Berech-
lastet werden. nungsverfahrens und zur Beteiligung des Parlaments so-
wie zu einigen anderen Punkten.
(Beifall bei der SPD)
Dieses Verhalten von Schwarz-Gelb ist aus unserer
Große Banken werden außerdem durch die in der Ver- Sicht unklug. Wir sind nicht die Einzigen, die Kritik an
ordnung enthaltene Zumutbarkeitsgrenze bevorteilt, da dem Inhalt der Verordnung haben. Es gibt eine Reihe
die Höhe der Bankenabgabe auf maximal 15 Prozent des von Bundesländern, die mit den Regelungen, die Sie
Jahresüberschusses gedeckelt ist. Nach Expertenschät- vorgeschlagen haben, nicht zufrieden sind, und das sind
zungen hätte die Deutsche Bank ohne diese Zumutbar- nicht nur rot-grün regierte Länder.
keitsgrenze etwa im Jahre 2009 eine um einen mittleren
dreistelligen Millionenbetrag höhere Bankenabgabe ent- Den Ländern wurde von Ihnen eigentlich ein Mitspra-
richten müssen. cherecht eingeräumt. Sie haben es aber versäumt, im
Vorfeld eine Abstimmung mit den Ländern vorzuneh-
(Frank Schäffler [FDP]: Was wollen Sie denn
men. Ich habe irgendwie das Gefühl, Sie glauben immer
machen?)
noch, Sie würden allein regieren und hätten die Mehrheit
Die nunmehr in der Verordnung vorgesehene Nach- im Bundesrat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass dies
zahlung der aufgrund der Zumutbarkeitsgrenze nicht er- nicht der Fall ist.
11752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Manfred Zöllmer
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Ihnen mit die- keine Auswirkungsstudien – manche würden vielleicht (C)
ser Verordnung leider nicht gelungen, ein in sich konsis- von Impact Studies sprechen; ich wähle lieber das deut-
tentes und belastbares System einer Bankenabgabe vor- sche Wort – machen konnten. Wir alle wissen ja, wie
zulegen. Wir bedauern das. viele Studien beispielsweise zum Thema Basel II oder
auch zum Thema Basel III gemacht worden sind. Da ist
(Beifall bei der SPD) jahrelang untersucht worden, welche Auswirkungen das
jeweils auf die Branche hat.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege Manfred Zöllmer. – Jetzt Wir wissen ja noch gar nicht, was da alles kommt. Wir
für die FDP-Fraktion Kollege Björn Sänger. – Bitte haben Basel III. Wir haben Kapitalaufschläge für sys-
schön, Kollege Sänger. temrelevante Institute. Wir haben eine Finanzmarkt-
steuer. Wir haben eventuell höhere Kosten aus der Einla-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gensicherung. Wir wissen auch noch gar nicht, welche
der CDU/CSU) Auswirkungen sich aus anderen Regulierungen auf die
Branche ergeben, zum Beispiel Solvency II. Die Summe,
Björn Sänger (FDP): die dabei unterm Strich herauskommt, kennen wir nicht.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wir befinden uns also in einer Situation der Unsicherheit.
ren! Was hier vorliegt, ist der zweite Schritt nach dem Was macht man, wenn man unsicher ist? Man agiert vor-
Bankenrestrukturierungsgesetz. Die Verordnung regelt sichtig. Kein Autofahrer würde auf die Idee kommen, bei
technische Details. Die grundsätzlichen Entscheidungen Nebel voll aufs Gas zu drücken. Diejenigen, die das den-
wurden bereits im Gesetz getroffen. Ich sage das hier so noch tun, machen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr
deutlich, weil es von interessierter Seite immer wieder schnell Bekanntschaft mit einem Helfer. Im glimpflichs-
den Versuch gab, über den Verordnungsweg Dinge zu re- ten Fall ist es der Gelbe Engel vom ADAC, im schlimme-
geln, die eigentlich im Gesetz abschließend geregelt ren Fall ist es die Feuerwehr oder auch der Notarzt. Über-
sind. Das betrifft insbesondere die Frage der Bemes- tragen auf die Finanzbranche bedeutet das: Der Staat
sungsgrundlage der Bankenabgabe. muss wieder eingreifen, wenn wir die Unternehmen über
Gebühr belasten. Es hilft uns nichts, wenn wir sie mit der
Das Bankenrestrukturierungsgesetz – ich denke, das Bankenabgabe am Ende des Tages erdrosseln.
kann man hier auch einmal mit einem gewissen Selbst-
bewusstsein sagen – ist ein Vorbild für die gesamte EU. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Deswegen sind auch die Forderungen nach einer höhe-
(B) ren Zumutbarkeitsgrenze, zum heutigen Tag zumindest, (D)
Wir sind hier Vorreiter. Eine Nachahmung auf europäi-
nicht angebracht. Wir müssen vielmehr schauen, welche
scher Ebene ist, was man so hört, durchaus angedacht
Auswirkungen diese Bankenabgabe auf die Branche ha-
und auch wünschenswert. Darauf können wir sicherlich
ben wird. Wir von den Koalitionsfraktionen – Kollege
alle gemeinsam stolz sein. Sollte es auf EU-Ebene zu ei-
Aumer hat es schon gesagt – sind die Garanten dafür, dass
ner Regelung kommen, die sich der deutschen Regelung
man sich das sehr genau anschaut, und stellen auch sicher,
anpasst, wird damit auch das Problem einer eventuellen
dass hier in die eine oder andere Richtung nachgesteuert
Doppelbelastung von international agierenden Finanzun-
wird. Daher ist das von den Grünen vorgesehene Trans-
ternehmen gelöst. Man muss nämlich fairerweise sagen,
parenzgebot an dieser Stelle überhaupt nicht notwendig.
dass wir, auch wenn die Bundesregierung dankenswer-
terweise schon intensiv daran arbeitet, dieses Problem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
noch nicht direkt im Griff haben. der CDU/CSU)
Was ich bei unserer Regelung ausgesprochen gut Herr Kollege Zöllmer, es ist natürlich richtig, dass wir
finde, ist, dass die Mittel nicht im allgemeinen Haushalt eine Verantwortung für die Banken übernehmen. Es
verschwinden, sondern in einen Fonds eingezahlt wer- wundert mich aber, dass Sie trotz Ihrer stattlichen Kör-
den, sodass dann die Branche in der Tat für mögliche pergröße nicht in der Lage sind, über den sozialdemo-
Probleme selber zahlt. Hier ist Deutschland Vorreiter, kratischen Tellerrand hinauszublicken. Für ein Finanz-
und das ist auch gut so. unternehmen ist es doch von entscheidender Bedeutung,
Aber diese Vorreiterrolle bringt auch eine gewisse Gewinne zu erwirtschaften; denn ein Gewinn bedeutet,
Unsicherheit mit sich, weil wir noch nicht genau wissen, dass man Geld zurücklegen und damit die Eigenkapital-
welche Auswirkungen diese Abgabe am Ende des Tages basis stärken kann. Ein Gewinn bedeutet ferner, dass
auf die Finanzunternehmen haben wird. Wir haben hier man für Investoren attraktiv wird, wodurch die Eigenka-
schnell reagiert. Das war allgemein gewünscht. Diese pitalbasis ebenfalls gestärkt wird. All das bedeutet unter
Regierung ist handlungsfähig dem Strich Krisenprävention.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
CDU/CSU) der CDU/CSU)
und hat in einer ausgesprochen guten Geschwindigkeit Deswegen ist es wichtig, dass die Unternehmen der Fi-
ein gutes Gesetz mit einer entsprechend guten Verord- nanzbranche in Deutschland weiterhin Gewinne machen
nung vorgelegt, aber natürlich zu dem Preis, dass wir können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11753
Björn Sänger
(A) Wenn die Banken Gewinne machen, dann sind sie tung von Banken zu machen. Letztlich werden die Kos- (C)
auch in der Lage, ihren Aufgaben nachzukommen, näm- ten der nächsten Krise wieder bei den Steuerzahlerinnen
lich ihre Finanzierungsfunktion zu erfüllen und Unter- und Steuerzahlern hängen bleiben.
nehmen entsprechende Dienstleistungen anzubieten. Sie
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Skandalös!)
müssen die Unternehmen, insbesondere den Mittelstand,
dabei unterstützen, globale Geschäfte zu tätigen. So kön- Das Verursacherprinzip wird auch branchenintern ver-
nen Arbeitsplätze in der Realwirtschaft gesichert wer- letzt: Sparkassen und Genossenschaftsbanken werden
den. Die Erfüllung dieser Aufgaben müssen wir von den mit der Verordnung in einen Haftungsverbund gezwun-
Banken letzten Endes fordern. gen, von dem sie wegen ihrer Institutssicherung nicht
Dieses gemeinsame Ziel hat die Koalition mit dem wirklich profitieren. Das ist wie eine verbindliche kollek-
Bankenrestrukturierungsgesetz und mit der vorliegenden tive Brandschutzversicherung, in die auch Iglubewohner
Verordnung erreicht. Die Verordnung ist sinnvoll. Sie einzahlen müssen.
können deswegen der Beschlussempfehlung des Aus- (Beifall bei der LINKEN)
schusses getrost zustimmen.
Zudem verfehlt die Bankenabgabe auch ihre Len-
Herzlichen Dank. kungswirkung. Kurzfristige spekulative Aktivitäten, die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris sich nicht über den Bilanzstichtag erstrecken, werden
Gleicke [SPD]: Es geht aber nur um Kenntnis- nicht erfasst. Langfristige Absicherungsgeschäfte werden
nahme! Wir stimmen nicht einer Verordnung dagegen mit Sicherheit erfasst. Eine Lenkungswirkung
zu!) zugunsten realwirtschaftlich geerdeter Bankgeschäfte
sieht doch ganz anders aus.
Vizepräsident Eduard Oswald: (Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Jetzt spricht für
Darüber hinaus ist die Progression der Beitragssätze
die Fraktion Die Linke unser Kollege Axel Troost. –
viel zu gering, um die Vorteile aufzuwiegen, die aus der
Bitte schön, Kollege Axel Troost.
günstigeren Refinanzierung systemrelevanter Banken er-
(Beifall bei der LINKEN) wachsen. Überhaupt sind wir gespannt, zu erfahren, wie
letztendlich dieses Fondsvermögen angelegt werden soll,
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): damit es im Falle einer Finanzkrise ohne erhebliche Wert-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verluste abgerufen werden kann. Es müssen immerhin
lehnen die Verordnung ab, da sie keine ausreichenden 70 Milliarden Euro irgendwo angelegt werden.
(B) Mittel für die Abwicklung systemrelevanter Banken be- Der Internationale Währungsfonds schreibt völlig zu (D)
reitstellt und schon das zugrunde liegende Bankenre- Recht – ich zitiere –:
strukturierungsgesetz praxisuntauglich war.
Das Finanzsystem ist immer noch krisenanfällig,
(Beifall bei der LINKEN) aber die Finanzinstitute sind noch größer und kom-
Mit ihrer Versicherungslösung will die Bundesregie- plexer geworden.
rung den zweiten Schritt vor dem ersten gehen. Die logi- Auch in Deutschland ist die Anzahl der Kreditinsti-
sche Antwort auf die Krise wäre aus unserer Sicht doch tute seit Jahren rückläufig. Die Größe der Institute nimmt
gewesen, erstens die Finanzbranche für die Kosten der dagegen zu. Mit der Finanzkrise hat sich die Konzentra-
jüngsten Krise zahlen zu lassen, zweitens zugleich die tion im Bankenwesen durch zahlreiche Übernahmen
Systemrelevanz einzelner Banken ganz aufzuheben oder noch einmal sprunghaft erhöht.
zumindest deutlich zu verringern und erst dann drittens
über eine Versicherungslösung für Restrisiken nachzu- Die Lehre aus der Vergangenheit ist, dass man umfal-
denken. lende Großbanken nicht durch ein Insolvenzregime ret-
ten kann, ohne dabei erhebliche Kollateralschäden in
(Beifall bei der LINKEN) Kauf zu nehmen. Die logische Konsequenz daraus ist,
Die vorgelegte Verordnung kann dagegen nur die Basis stattdessen große Banken zu schrumpfen, entweder auf
für einen unzulänglich ausgestatteten Krisenfonds legen. direktem oder auf indirektem Weg. Das heißt, das Re-
Zu allem Ärger wird dieser noch nicht einmal risikoge- strukturierungsgesetz und die dazugehörende Verord-
recht finanziert. nung sind aus unserer Sicht überhaupt kein geeignetes
Mittel, und alle hierzu gemachten Vorschläge der Bun-
Die Zielgröße des Restrukturierungsfonds liegt bei desregierung greifen viel zu kurz.
70 Milliarden Euro. Wir haben es schon gehört: Bei Ein-
zahlungen in Höhe von 1 Milliarde Euro pro Jahr wäre (Beifall bei der LINKEN)
der Fonds frühestens kurz vor Ende des Jahrhunderts ge- Wir lehnen deshalb die vorgelegte Verordnung als
füllt. Der Fonds ist also auf absehbare Zeit nicht voll. völlig unzureichend ab. Die Linke ist aber gerne bereit,
Selbst dann wäre die angesammelte Summe zu gering, an entsprechenden Schritten zur Lösung der wirklichen
um eine systemrelevante Bank aufzufangen. Letzteres Probleme mitzuarbeiten.
räumt sogar die Bundesregierung ein.
Danke schön.
Gleichzeitig sträubt sich die Bundesregierung hart-
näckig, Vorschläge für eine Schrumpfung oder Aufspal- (Beifall bei der LINKEN)
11754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Der dritte Punkt bei der Steuerung ist die Frage: Wie (C)
Vielen Dank, Herr Kollege Axel Troost. – Jetzt hat für gehen wir mit den Derivaten um? Wir haben im Aus-
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege schuss extra erfragt, wie hoch deren Anteil bei der Be-
Dr. Gerhard Schick das Wort. Bitte schön, Kollege messungsgrundlage ist. Es gibt zwei Bemessungsgrund-
Dr. Gerhard Schick. lagen. Die eine ist im Grunde genommen die Größe der
Bilanz, und die andere ist die Menge der Derivate. Der
Satz auf Derivate führt nach Berechnungen der Deut-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen Bundesbank für die letzten Jahre dazu, dass im
NEN): Durchschnitt nur etwa 6 Prozent des Aufkommens auf
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir den Derivatebereich entfallen. Wir wissen aber, dass bei
haben hier vor einigen Monaten das Restrukturierungs- der Abwicklung gerade Derivate eine besondere Schwie-
gesetz diskutiert. In diesem Rahmen ist die Grundlage rigkeit darstellen. Wir wissen, dass es da zu Konstruktio-
dafür geschaffen worden, dass der Bundestag jetzt aus- nen kommt, die die Finanzmärkte in Schwierigkeiten
nahmsweise über eine Verordnung diskutieren kann. Es bringen. Deswegen sagen wir: Wir müssen den Satz auf
geht jetzt nur noch um die Ausgestaltung der Bankenab- die Derivatepositionen deutlich anheben.
gabe, die den Fonds füllen soll, mit dem Banken gerettet
Dazu nur ein Beispiel: Bei der WestLB beläuft sich
werden sollen.
das Derivatevolumen insgesamt auf 2 300 Milliarden
Die Grundproblematik, dass es irgendwie nicht stim- Euro. Das führt nach Ihrer Berechnung jetzt lediglich zu
mig ist, wer einbezogen ist und wer nicht, haben wir da- einem Beitrag zur Bankenabgabe in Höhe von 3,4 Mil-
mals thematisiert. Was man aber heute noch ändern lionen Euro. Das halten wir für zu gering.
könnte, sind die Höhe des Aufkommens und die Len- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kungswirkung, die von der Bankenabgabe ausgeht. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen haben wir Änderungsvorschläge gemacht. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt
Sie von der Koalition haben die Vorschläge abgelehnt, eingehen, damit ganz klar wird, welche Frage nach die-
durch die genau diese zwei Defizite geheilt werden ser Verordnung noch offen ist.
könnten. Das Defizit „zu gering“ ließe sich dadurch hei-
len, dass man die Zumutbarkeitsgrenze anhebt, sich also Am Anfang hieß es: Die Bankenabgabe dient dazu,
fragt, wie viel von dem Gewinn eine Bank insgesamt ab- dass die Banken für die Kosten der jetzigen Finanzkrise
geben muss. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass Sie in zahlen. Diese Bankenabgabe leistet das nicht. Sie füllt
Sorge sind, dass trotz der inzwischen teilweise schon einen Fonds für die Zukunft. Deswegen ist die Frage,
(B) wieder erreichten Milliardengewinne hier eine zu große wer die Kosten dieser Krise trägt, nach wie vor offen. (D)
Belastung entsteht. Wir teilen das nicht. Wir glauben, Auf diese Frage muss die Bundesregierung noch eine
dass es notwendig ist, diese Grenze anzuheben, um das klare Antwort geben. Denn wir haben die Befürchtung,
Aufkommen zu erhöhen. Nach den Berechnungen der dass es sonst die kleinen Leute in diesem Land trifft, die
Bundesregierung wären das bei unserem Vorschlag bis schon in Form von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder
zu 20 Prozent. Das würde die Frist verkürzen, die wir Verlusten bei ihren Geldanlagen schwer an dieser Krise
brauchen, um diesen Fonds wirklich einsatzfähig zu ma- zu tragen hatten. Deshalb darf das nicht passieren.
chen. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das Zweite ist: Wir wissen, dass das zentrale Problem
die besonders großen Banken sind. Am Anfang hieß es Vizepräsident Eduard Oswald:
noch, alle Banken könnten mit diesem Restrukturie- Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Jetzt für
rungsgesetz gerettet werden. Inzwischen geben auch Sie die Fraktion der CDU/CSU Kollege Ralph Brinkhaus. –
zu, dass das bei den großen Banken nicht funktioniert. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
Deswegen wollen wir hier einen Schritt in die Richtung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
machen, dass wir eine Größenbremse für besonders
große Banken schaffen. Wir wollen, dass große Banken
überproportional belastet werden; denn sie stellen auf- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
grund der Systemrelevanz besonders große Risiken dar. Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Wir schlagen vor, die Abgabe progressiv ansteigen zu ren! Zur Frage von Herrn Schick, wer die Kosten der
lassen, damit besonders große Banken stärker belastet vergangenen Krise trägt: Am besten ist es natürlich,
sind. Das tun Sie nur bis zu einem geringen Maße, näm- wenn es so abläuft wie jetzt mit der Commerzbank,
lich bis zu der 100-Milliarden-Schwelle. Wir wollen das wenn also das Geld, das der Staat eingelegt hat, wieder
weiter anheben. Dadurch steigern wir das Aufkommen zurückgezahlt wird. Das hat geklappt, und das muss man
und bremsen die Größenentwicklung bei Banken, weil an dieser Stelle auch einmal anerkennen.
große Banken dann teurer sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Ich bin sehr dankbar für den Hinweis, dass wir heute
bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) über die Verordnung reden und nicht über das Gesetz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11755
Ralph Brinkhaus
(A) Die eine oder andere Diskussion hätten wir uns dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
sparen können. Die hätten wir vor einem halben Jahr
führen müssen oder können, aber nicht an dieser Stelle. Zurück zu meiner Rede. Im Allgemeinen ist kritisiert
Jetzt geht es einzig und allein um das Feintuning, wie die worden, dass das Bankenrestrukturierungsgesetz an
Bankenabgabe tatsächlich erhoben und wie das Ganze Grenzen stößt. Das wissen wir. Wir haben das genau dis-
ausgesteuert wird. kutiert. Wir wissen, dass wir international tätige Banken
mit diesem Restrukturierungspaket nicht stützen können.
Deswegen finden wir es sehr spannend, dass ein europäi-
Vizepräsident Eduard Oswald: scher Krisenmechanismus entsteht. Wir werden diese
Herr Kollege, geben Sie dem Kollegen Dr. Schick die Diskussion begleiten. Der europäische Krisenmechanis-
Chance, eine Zwischenfrage zu stellen? mus ist eine logische Fortsetzung des Bankenrestruktu-
rierungspakets.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich gebe dem Kollegen Dr. Schick gerne eine Chance.
Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, dass eine Megakrise natürlich nicht durch die-
Vizepräsident Eduard Oswald: ses Restrukturierungspaket abgedeckt werden kann. Zu-
Dann wird er sie ergreifen. – Bitte schön, Kollege sammen mit Ihrem damaligen Finanzminister haben wir
Dr. Gerhard Schick. ein Paket von 500 Milliarden Euro aufgelegt. Das wer-
den wir nie füllen können. Deswegen wissen wir zu ge-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nau, dass die ganze Sache begrenzt ist. Das haben wir
NEN): auch immer kommuniziert.
Herr Brinkhaus, Sie haben in der Vorbemerkung kurz Nun im Einzelnen zu der Kritik, die Sie vorgebracht
gesagt, dass alles Geld zurückgezahlt worden sei. Wir haben. Die Kritik der Linken ist besonders einfach zu
sind beide Ökonomen und wissen, dass man bei der widerlegen. Ich greife nur einen Punkt heraus: Die Tat-
Commerzbank genau rechnen und genau hinschauen sache, dass Sie kritisieren, dass Sparkassen und Volks-
muss. Ich möchte Sie bitten, mir folgende Frage zu be- banken einbezogen werden sollen, obwohl sie nicht ge-
antworten: Sind die Zinsen, die auch auf Korrektur der rettet werden können, offenbart das grundlegende
EU-Kommission festgelegt worden sind, für die Jahre Unverständnis der Linken bei diesem gesamten Gesetz-
2009 und 2010 in voller Höhe gezahlt worden, oder sind gebungspaket. Es geht nicht darum, eine einzelne Bank
sie nicht gezahlt worden, und hat es dadurch eine Wett- zu retten, sondern darum, ein System zu retten, und die
bewerbsverzerrung gegeben zulasten derjenigen Banken Rettung des Systems nutzt auch den Sparkassen und (D)
(B) und Institute, die sich am Markt finanzieren müssen,
Volksbanken. Um bei Ihrer Argumentation zu bleiben:
oder nicht? Wenn Sie die Sparkassen und Volksbanken in diesem
Meine Position dazu ist klar, weil man das errechnen Zusammenhang erwähnen, müssten Sie auch die kleinen
kann: Die Zinsen sind nicht in voller Höhe gezahlt wor- Privatbanken nennen. Aufgrund Ihres gespaltenen Ver-
den, und dadurch hat es eine Wettbewerbsverzerrung ge- hältnisses zum Privateigentum ist das aber natürlich
geben. Deswegen ist es nicht aufrichtig, zu sagen, aus nicht möglich.
dieser Lage sei der Steuerzahler so herausgekommen, (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!)
wie es sich gehört.
Als Lösungsansätze haben Sie im Grunde doch nur die
Zerschlagung und die Enteignung vorgebracht.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Herr Kollege Schick, Sie wissen auch, dass im Falle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der Commerzbank Folgendes passiert ist: Das Geld, das der FDP)
nominal eingelegt worden ist, wird jetzt hoffentlich zu Die eine oder andere Fraktion in diesem Haus sollte sich
einem großen Teil zurückgezahlt. Es wird eine Sonder-
einmal überlegen, ob die Linke, die in dieser Marktwirt-
zahlung geleistet, die zumindest die Refinanzierungs- schaft so mit dem Eigentum umgehen will, ein geeigne-
kosten des Steuerzahlers aller Voraussicht nach abde- ter Koalitionspartner ist.
cken wird. Insofern entsteht dem Steuerzahler in dieser
Sache unmittelbar kein Schaden. Es handelt sich eher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
um ein erfreuliches Beispiel. derspruch bei der SPD und der LINKEN)
Zu der Tatsache, dass die 9-prozentige Verzinsung in Jetzt will ich auf die Kritikpunkte eingehen, die von
den Krisenjahren nicht geleistet worden ist: Das Ganze den Rednern der Grünen und der SPD vorgebracht wor-
ist damals aus gutem Grund so angelegt worden, um der den sind. Da wurde gesagt, dass die Bankenabgabe nicht
Commerzbank die Chance zu geben, überhaupt wieder hoch genug ist. Ich denke, diese Kritik sollte man ernst
auf den richtigen Weg zu kommen. Im Übrigen partizi- nehmen. Man sollte aber auch dies ernst nehmen: Wenn
pieren wir an diesem Erfolg der Commerzbank, weil wir Sie bis zu 25 Prozent des Gewinns einkassieren wollen,
noch ein nicht unbeträchtliches Aktienpaket halten. Es zuzüglich einer 30-prozentigen Ertragsteuer – die Ban-
hätte sicherlich besser laufen können; aber so, wie es ge- kenabgabe ist nicht als Betriebsausgabe steuerlich ab-
laufen ist, ist es gut, zumindest besser als bei der Hypo setzbar –, dann werden 55 Prozent des Gewinns abge-
Real Estate oder bei anderen Geldinstituten. schöpft.
11756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Ralph Brinkhaus
(A) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was haben die Wir hatten zwei Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit (C)
uns gekostet?) war, jahrelang sogenannte Auswirkungsstudien durchzu-
führen, wie das bei Basel II und Basel III der Fall gewe-
Das kann man gut finden – das ist überhaupt keine Frage –; sen ist. Die andere Möglichkeit war, einfach anzufangen.
aber wenn man das gut findet, dann muss man auch sa- Wenn das erwartete Aufkommen nicht erzielt wird, wer-
gen, wie das gehen soll. Die Banken sollen im Normal- den wir nachjustieren. Ich denke, das ist der bessere
jahr 1,2 Milliarden Euro Bankenabgabe zahlen. Außer- Weg.
dem sollen sie 2 Milliarden Euro zum Sparpaket
beitragen. Darüber hinaus sollen sie gemäß Basel III die Deswegen ist die Kenntnisnahme richtig. Es ist rich-
Eigenkapitalquote erhöhen, was circa 50 bis 100 Milliar- tig, dass der Bundesrat jetzt Gelegenheit bekommt, dazu
den Euro kosten wird, und sie sollen die Wirtschaft, die Stellung zu nehmen. Da ich weiß, dass der Bundesrat ge-
dank der guten Politik der Bundesregierung floriert, mit nauso wie wir daran interessiert ist, dass noch in diesem
Kapital und Krediten versorgen. An dieser Stelle muss Jahr die ersten Zahlungen geleistet werden, gehe ich da-
ich einen alten westfälischen Spruch anbringen: Die von aus, dass der Bundesrat zügig einen guten Beschluss
Kuh, die man melkt, kann man nicht gleichzeitig fassen wird.
schlachten.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die christlich-liberale Koalition hat mit diesem Banken-
Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE restrukturierungspaket einen Mechanismus entwickelt
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- – wir sind die erste Nation auf der Welt, die das gemacht
frage) hat, vielleicht zusammen mit den Briten –, mit dem man
strategisch wichtige Banken abwickeln kann, ohne dass
das ganze System zusammenfällt.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Kollege Brinkhaus, ich hätte – – (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das behaup-
ten Sie!)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Sie können das kritisieren und sagen, dass man das an
Ich glaube, diese Zwischenfrage lassen wir jetzt ein- der einen oder anderen Stelle hätte besser machen kön-
mal aus. nen, und Sie können auch die eine oder andere zusätzli-
che Idee vortragen. Aber Sie sollten bitte anerkennen,
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer zahlt das dass wir uns vorangewagt haben, dass wir den ersten
Futter, und wer trinkt die Milch?) Schritt gewagt haben,
(B) Vor diesem Hintergrund könnte man eigentlich sagen, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
dass Ihre Kritik ins Leere läuft. Das sage ich aber be- NEN]: Das stimmt doch nicht!)
wusst nicht. Wir machen uns genauso wie Sie Sorgen
und eingestehen, dass das am Ende des Tages dazu füh-
und fragen uns, wie hoch das Aufkommen aus dieser
ren wird, dass sich der Mechanismus, den wir auf euro-
Bankenabgabe am Ende des Tages sein wird. Wir bewe-
päischer Ebene erarbeiten werden, an den deutschen
gen uns auf unsicherem Terrain. Die Referenzgröße war
Prinzipien orientieren wird. Das ist gut, das ist richtig,
das Jahr 2006. Im Jahr 2006 hätten wir rund 1,3 Milliar-
das ist beispielhaft, und das sollte man auch zu dieser
den Euro zusammenbekommen. Das Jahr 2006 war aber
späten Stunde an dieser Stelle einmal sagen.
vor der Krise. 2006 hatten wir eine komplett andere Ban-
kenlandschaft. Im Jahr 2006 hatten wir im Übrigen – das Danke schön.
wird uns auch noch treffen – noch kein Bilanzrechtsmo-
dernisierungsgesetz. Insofern ist unklar, in welcher Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Bankenabgabe in den nächsten Jahren gezahlt wer-
den wird. Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie können
Aussprache.
doch für 2007, 2008 und 2009 die Zahlen nen-
nen! Die haben wir doch!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu der Verordnung der Bundesregierung
Wir werden in den nächsten Jahren zusammen mit Ih- über die Erhebung der Beiträge zum Restrukturierungs-
nen genau beobachten, wie hoch die Beiträge sind. Wir fonds für Kreditinstitute. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
haben das übrigens durch eine Verordnung geregelt, weil ner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/5401
die leichter zu ändern ist. Wir werden genau beobachten, und 17/5405, die Verordnung der Bundesregierung auf
ob diese Bankenabgabe krisenverschärfend wirkt oder Drucksache 17/4977 – dort hieß es zunächst „einver-
nicht. Wir werden auch genau beobachten, wie es mit nehmlich“; das wird jetzt in Klammern gesetzt – zur
der Nacherhebungsfrist aussieht. Ich denke, das ist gut Kenntnis zu nehmen und keine Änderungen vorzuneh-
und richtig. men. Jetzt lasse ich – das ist mit den Geschäftsführern so
An dieser Stelle kann ich nur den Kollegen Sänger vereinbart – über diese Beschlussempfehlung abstim-
von der FDP zitieren. men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Guter Mann!) ist damit angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11757
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Politiker, den
Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn, wei- wir alle gut kennen, zitieren:
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN Der Klimawandel wird sich zunehmend auf das
Bauwesen und die dazugehörige Infrastruktur aus-
Klimaschutz in der Stadt
wirken. Die Städte müssen sich deshalb frühzeitig
– Drucksache 17/5368 – auf klimatische Veränderungen vorbereiten und die
Überweisungsvorschlag: nun vorliegenden Erkenntnisse nutzen. Frischluft-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) schneisen sowie innerstädtische Grünflächen als
Innenausschuss Ausgleichs- und Entlastungsflächen werden immer
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
wichtiger.
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Haben Sie eine Idee, wer dies gesagt hat? Unser Bau-
Technikfolgenabschätzung minister Ramsauer hat das Anfang dieses Jahres bei der
Haushaltsausschuss Vorstellung einer Studie gesagt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Patrick Döring [FDP]: Guter Mann! – Peter
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Götz [CDU/CSU]: Er hat ja recht! Wo der
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Minister recht hat, hat er recht!)
Erste Rednerin ist Frau Kollegin Bettina Herlitzius
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Jetzt könnte man meinen, dass er das Problem erkannt
Frau Kollegin, Sie haben das Wort. hat. Aus seinen Aussagen könnte man diesen Schluss
ziehen. Aber wo ist das Handeln? Das Handeln fehlt.
Hier zeigen sich die großen Defizite dieser Regierung.
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident, danke schön. – Meine Damen und Nach den Kürzungsorgien des letzten Jahres bei den
Herren! Nach dem großen Thema „Finanzkrise“ könnte Mitteln für die Städtebauförderung und für die KfW-För-
man meinen, dass wir jetzt zu einem ganz kleinen derung sieht es im diesjährigen Haushaltsentwurf nicht
Thema kommen, dass es bei „Klimaschutz in der Stadt“ besser aus. Auch jetzt will die Bundesregierung das
vielleicht um ein paar Büsche, ein paar Bäume und um CO2-Gebäudesanierungsprogramm der KfW wieder auf
Fassadenbegrünung, also Lieblingsthemen der Grünen, fast null setzen, und das, obwohl die Internetseite des
(B) geht. Ich muss Sie leider enttäuschen. Klimaschutz in Ministeriums nur so strotzt vor guten Tipps, wie man (D)
der Stadt ist ein Problem, das jetzt noch ganz klein ist, energetisch saniert, und vor allen Dingen vor Hinweisen,
das aber in 10, 20, 30 Jahren zu einem immensen Pro- wie wichtig die energetische Sanierung ist.
blem für unsere Städte und Kommunen werden wird.
Dasselbe passiert im Bereich der Städtebauförderung.
50 Prozent der Bevölkerung leben aktuell in urbanen Die Mittel werden halbiert. Hier muss ich mich beson-
Räumen. 2050 werden es fast 80 Prozent sein. Der ders an den Parlamentarischen Staatssekretär Mücke
Drang in die Großstädte, in die urbanen Zentren wird wenden, der die Dreistigkeit hat, die Opposition an die-
immer größer. Das hat viele Gründe, zum Beispiel das ser Stelle aufzufordern: Jetzt kümmert euch doch einmal
intensivere soziale und kulturelle Leben und die Ver- darum, jetzt bemüht euch doch einmal, damit wir diese
wirklichung von eigenen Lebensträumen. Aber auch die Mittel wieder erhöhen können.
Arbeitssituation zwingt Menschen vermehrt in die
Städte. (Patrick Döring [FDP]: Als Parlamentarier
Unsere Städte sind die größten Energieschleudern. sind wir alle gleich!)
Sie verursachen fast 75 Prozent der jährlichen Emissio- Wer ist hier Regierung, und wer ist hier Opposition?
nen von Öl, Gas und Kohle. Sie sind der Hauptverursa-
cher des Klimawandels. Aber unsere Städte sind auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die ersten Opfer des Klimawandels. Steigende Meeres-
spiegel und große Hitze im Sommer werden zu großen Wir verdanken Herrn Mücke eine weitere Täuschung.
Katastrophen führen und haben das zum Teil auch schon Auch das Programm „Energetische Städtebausanie-
getan. Nehmen wir Frankfurt als Beispiel. Im rung“, das jetzt ganz neu über die KfW initiiert wird,
Sommerhalbjahr 2050 – das ist im Moment noch weit verheißt viel Gutes; schließlich geht es um energetische
weg, aber für unsere nachfolgende Generation sehr nah – Städtebausanierung. Aber wo ist die Finanzierung? Auf
wird die Temperatur an durchschnittlich jedem dritten der einen Seite soll die Finanzierung über die KfW bzw.
Tag über 25 Grad Celsius betragen. Was das bedeutet, den neuen Klima- und Energiefonds der Regierung er-
können Sie sich gut vorstellen. folgen. Auf der anderen Seite hören wir vom Herrn Par-
lamentarischen Staatssekretär Mücke, dass er für die
(Patrick Döring [FDP]: Dass es heiß wird!)
energetische Gebäudesanierung kein Geld mehr hat. Wir
Da reicht es nicht aus, ein paar Alleebäume zu pflanzen. wissen nicht, wie es mit der Brennelementesteuer wei-
Wir müssen unsere Städte grundsätzlich umbauen, um tergeht. Sie initiieren hier also ein Programm, ohne zu
diesen Herausforderungen gerecht zu werden. wissen, wie Sie es finanzieren wollen.
11758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Bettina Herlitzius
(A) (Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Und Sie in der Stadt“ ist ein wichtiges Zukunftsthema. Darüber (C)
fordern ein Verfahren aus Steuern, die Sie ab- sind wir uns in diesem Haus, wie ich denke, alle einig.
ziehen!) Deshalb wollen wir den Klimaschutz, liebe Frau Kolle-
gin Herlitzius, bei der anstehenden Novellierung des
Das heißt, das ganze Programm ist eine riesige Luftnum-
Baugesetzbuches im Bau- und Planungsrecht verankern;
mer.
genauso ist es übrigens auch in unserem Koalitionsver-
Mit unserem Antrag „Klimaschutz in der Stadt“ wol- trag festgeschrieben.
len wir auf die wichtigen Voraussetzungen aufmerksam
machen, die wir unbedingt erfüllen müssen, um unsere (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ja!)
Städte im Hinblick auf den Klimawandel richtig aufzu- In unseren Städten und Gemeinden wird bereits heute
stellen. Wir brauchen eine bessere Verankerung des Kli- viel für einen besseren Klimaschutz getan. Dafür sage
maschutzes im Baurecht. Wir müssen die Förderung ich ein herzliches Dankeschön an alle kommunalpoli-
kontinuierlich, vor allen Dingen verlässlich und auch für tisch Verantwortlichen vor Ort.
die Kommunen berechenbar aufbauen. Es darf kein stän-
diges Auf und Ab geben, wie es im Moment der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Vor- Ohne konkretes Handeln vor Ort sind unsere hochge-
schläge!) steckten Klimaziele nicht erreichbar. Mit dem neuen
Förderprogramm der Bundesregierung mit dem Titel
– Wenn Sie sich für unsere Vorschläge interessieren, „Energetische Städtebausanierung“, das Sie angespro-
müssen Sie nur unseren Antrag lesen, Herr Kollege. In chen haben, werden gerade im Stadtquartier umfassende
unserem Antrag steht dazu ganz viel. Maßnahmen bezüglich der Energieeffizienz der Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bäude, aber auch der Infrastruktur angestoßen. Inzwi-
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen liegen die Eckpunkte dieses KfW-Förderpro-
NEN]: Genau! Lesen müssten Sie doch wohl gramms des Bundes vor.
können!) (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die energetische Städtebausanierung muss weiter NEN]: Aber selbst Minister Ramsauer
ausgebaut werden, aber nicht mit solchen Luftnummern, schreibt, dass die Finanzierung nicht gesichert
wie Sie sie im Moment produzieren. ist!)
Entgegen der sonst üblichen Programme zur Städte-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bauförderung – da gibt es einen Unterschied; das ist rich-
(B) Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon lange abgelau- tig –, (D)
fen.
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN]: Ja!)
Danke schön, Herr Solms. Ich dachte, Sie hätten es bei denen sich Bund, Länder und Kommunen die För-
nicht gemerkt. dermittel teilen müssen, finanziert der Bund das Pro-
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gramm „Energetische Städtebausanierung“ zu
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- 100 Prozent, also allein.
KEN) Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat ferner – auch
Außerdem müssen wir uns stärker mit dem Flächenver- dies sei gesagt – zu Beginn dieses Monats mit Geldern
brauch und der Qualifizierung der am Bau Beteiligten des Bundes ein neues Förderangebot hinsichtlich einer
beschäftigen. Ich fordere Sie auf: Lesen Sie unseren An- günstigen Finanzierung energieeffizienter kommunaler
trag! Dort finden Sie viele Tipps. Sie dürfen auch ab- Beleuchtungen gestartet. Energiesparende Straßenbe-
schreiben. Wir nehmen es Ihnen nicht übel. Vielleicht leuchtung verbessert auch den Klimaschutz in der Stadt
können Sie in unserem Antrag Argumente finden, um ganz konkret und vor allen Dingen schnell.
die Regierung zu überzeugen. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Danke schön. NEN]: Aber das sind Peanuts!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Viele Kommunen beschreiten diesen Weg schon heute.
sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) Sie profitieren davon durch geringere Energiekosten
ganz erheblich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Um zum Antrag der Grünen, der zur Debatte steht
Das Wort hat der Kollege Peter Götz von der CDU/ und den wir lesen sollten, zu kommen – ich habe ihn ge-
CSU-Fraktion. lesen –: In diesem Antrag wimmelt es geradezu von For-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derungen nach neuen Vorschriften, Regulierungen und
neuen Statistiken.
Peter Götz (CDU/CSU): (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Entwickeln Sie sich aber nicht zur Da-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Klimaschutz gegen-Partei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11759
Peter Götz
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten zurück- klar und deutlich, dass dieses erfolgreiche CO2-Gebäu- (C)
haltender sein, wenn es darum geht, zu sehr in die Pla- desanierungsprogramm weiter ausgebaut werden muss,
nungshoheit der Kommunen einzugreifen. wenn wir die großen Energieeinsparpotenziale im Ge-
bäudebereich aktivieren wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unnötige bürokratische Zwänge nehmen den Kommu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen die Möglichkeit, lokal angepasste, bestmögliche Lö- Herr Kollege Götz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
sungen vor Ort zu finden. Die engagierten Akteure vor der Kollegin Herlitzius?
Ort benötigen flexible Instrumente und keine Zwangsbe-
glückung. Peter Götz (CDU/CSU):
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Sehr Ich erlaube, Herr Präsident.
richtig!)
Wenn wir wollen, dass Deutschland, wie der Bauminis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ter formulierte, zum Weltmeister im Energiesparen wird, Bitte schön, Frau Herlitzius.
ist es wichtig, unnötige Gängelei zu vermeiden. (Zuruf von der FDP: Sie hat doch gerade ge-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sprochen!)
Machen Sie also wieder gar nichts?)
Peter Götz (CDU/CSU):
Freiwilligkeit und finanzielle Anreize sind allemal bes- Sie will halt noch einmal sprechen.
ser als irgendwelche Zwänge. Das gilt für die Bürger, für
die Kommunen, für die Wirtschaft – egal ob für Eigen-
heimbesitzer, für Mieter oder für Vermieter. Wir brau- Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
chen vor Ort nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Ener- Herr Kollege Götz, nur eine Zwischenfrage.
gieeffizienz. (Zuruf von der SPD: Ist das abgesprochen?)
Durch das Konjunkturpaket II wurde die energetische Herr Ramsauer hat in seinem jetzigen Haushalt eine
Sanierung kommunaler Gebäude – von Schulen und Haushaltserleichterung. Er hat dadurch knapp
Kindergärten – mit all den vielen positiven Auswirkun- 700 Millionen Euro mehr für den Haushalt 2012 zur Ver-
gen auch für die Städte, Kreise und Gemeinden angesto- fügung. Warum steckt er diese Mittel in den Straßenbau
ßen. Auch das war übrigens ein wichtiger Beitrag für und nicht in Programme für die energetische Sanierung
den Klimaschutz. oder für den Städtebau?
(B) (D)
Außerdem haben wir das von Ihnen kritisierte CO2-
Gebäudesanierungsprogramm mit inzwischen über Peter Götz (CDU/CSU):
7 Milliarden Euro angesetzt. Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie jetzt den Haus-
halt 2011 meinen. Oder reden Sie vom Haushalt 2012?
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie kürzen da immer nur! – Bettina (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Nein, ich meine den Entwurf für 2012!)
addieren alles auf!) – Sie reden jetzt vom Jahr 2012. – Die Beratungen für
– Die 7 Milliarden Euro sind ausgegeben und haben In- den Haushaltsplan 2012 beginnen erfahrungsgemäß im
vestitionen in einer Größenordnung von 78 Milliarden Laufe des Sommers. Das Kabinett trifft seine Entschei-
Euro ausgelöst. dung in der Regel kurz vor der Sommerpause. Die parla-
mentarischen Beratungen für den Haushalt 2012 begin-
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen im September. Sie werden im November dieses
NEN]: Die Vorgängerregierung!) Jahres abgeschlossen, und wenn ich richtig informiert
Neben diesen konjunkturellen Effekten für das heimi- bin, haben wir jetzt gerade April.
sche Handwerk und für die Mieter, aber auch für die Ver- Was vorgelegt worden ist, ist ein Eckpunktekatalog,
mieter haben wir erreicht, dass dadurch der CO2-Aus- und ein Eckpunktekatalog ist für mich kein Haushalts-
stoß alljährlich um 4,7 Millionen Tonnen reduziert plan.
worden ist.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie kürzen beim Straßenbau!)
NEN]: Reicht Ihnen das?)
Deshalb habe ich gerade eben gesagt: Wir müssen,
Ich frage Sie von den Grünen: Warum nehmen Sie das um die Energieeinsparpotenziale im Gebäudebereich zu
nicht einfach einmal zur Kenntnis? nutzen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm weiter
ausbauen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie werden initia-
Wir alle wissen – Sie vielleicht nicht oder vielleicht
tiv?)
auch doch, ich weiß es nicht –, dass die öffentlichen Mit-
tel knapp sind und dass auch der Bundeshaushalt Spar- Das war eine klare, deutliche Ansage. Da ist null zu we-
zwängen unterliegt. Trotzdem sage ich an dieser Stelle nig, um die Frage konkret zu beantworten.
11760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Peter Götz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe ders gewürdigt und ein Ausblick in die Zukunft der (C)
Beckmeyer [SPD]: Da das Parlament die Städtebauförderung gegeben.
Haushaltshoheit hat, werden Sie jetzt initia-
Auf diesen Ausblick bin ich gespannt, meine Damen und
tiv!)
Herren von den Koalitionsfraktionen, nachdem Sie die
Ich nenne einen weiteren Punkt: Wir sollten außer- Mittel für die Städtebauförderung im Haushalt zusam-
dem zur Motivation der Gebäudeeigentümer auch mengestrichen haben.
verstärkt die steuerlichen Aspekte von energetischen
(Iris Gleicke [SPD]: Wohl wahr! – Uwe
Sanierungsmaßnahmen einbeziehen. Klimaschutz und
Beckmeyer [SPD]: Ja!)
Energieeffizienz waren uns in der Vergangenheit wichtig
und sind heute wichtig. Sie werden auch bei der Weiter- Wir hören: Es soll weitere drastische Kürzungen im
entwicklung des Energiekonzepts eine ganz bedeutende nächsten Haushalt geben. Kollege Götz, so einfach, wie
Rolle spielen. Sie das gerade gemacht haben, können Sie sich nicht he-
rausreden, weil die Eckwerte immerhin vom Kabinett
Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, diese klimapoliti- beschlossen worden sind.
schen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die
kommende Novellierung des Baugesetzbuches und die (Patrick Döring [FDP]: In dieser Koalition haben
Novellierung des Bau- und Planungsrechts bieten dazu auch die Parlamentarier etwas zu sagen!)
ausgezeichnete Möglichkeiten.
– Ja, das ist natürlich richtig. Wir haben das gehört und
Herzlichen Dank. nehmen das zur Kenntnis.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dass sie etwas zu sagen haben, ist ja
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das Neueste!)
Das Wort hat jetzt der Kollege Sören Bartol von der – Das ist wirklich das Neueste. Ich danke den Kollegen
SPD-Fraktion. für die Zwischenrufe.
(Beifall bei der SPD – Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit einer Städtebauförderung, für die 2012 gemäß
Guter Mann! – Gegenruf von der CDU/CSU: den Eckwerten nur noch 266 Millionen Euro zur Verfü-
Er hat es nötig, dass das gesagt wird! – Weitere gung stehen könnten,
Zurufe von der CDU/CSU – Heiterkeit bei der
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: „Könnten“!)
CDU/CSU)
(B) ist der notwendige ökologische Stadtumbau und die zu- (D)
Sören Bartol (SPD): gleich notwendige soziale Integration in den Städten und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Gemeinden nicht zu leisten.
merke schon, dass die Stimmung noch gut ist. Es ist ein (Peter Götz [CDU/CSU]: Eckwerte sind nicht
wirklich wichtiges Thema, das die Grünen heute auf die in Stein gemeißelt!)
Tagesordnung gebracht haben. Klimaschutz ist eine der
großen Herausforderungen für die Städte. Zusammen Laut Ihrem eigenen sogenannten Energiekonzept will
mit dem demografischen und wirtschaftlichen Wandel die Bundesregierung die Quote für energetische Gebäu-
und den wachsenden sozialen Differenzen in und zwi- desanierung verdoppeln. Gleichzeitig streichen Sie aber
schen Städten ist Klimaschutz eine zentrale Aufgabe die Mittel für die KfW-Programme zusammen – übri-
nachhaltiger Stadtentwicklungspolitik. gens auch schon in dem von Ihnen beschlossenen letzten
Haushalt. Nun hören wir, dass in den kommenden Haus-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ halt überhaupt kein Geld mehr eingestellt werden soll,
DIE GRÜNEN) sondern dass der Energie- und Klimafonds eine wichtige
Rolle bei der Finanzierung der Gebäudesanierung spie-
Gemeinsam mit den Ländern und mit den Städten und
len soll.
Gemeinden trägt der Bund Verantwortung für die um-
welt- und klimafreundliche sowie sozialintegrierende (Patrick Döring [FDP]: So ist es!)
Entwicklung von Städten und Gemeinden, eine Verant-
wortung, der diese Bundesregierung, allen voran das zu- Dass das eine sichere Finanzierung ist, haben im Ok-
ständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- tober schon die Experten bezweifelt.
entwicklung, leider in keiner Weise gerecht wird. (Iris Gleicke [SPD]: Das bezweifelt auch der
Minister!)
(Patrick Döring [FDP]: Falsch!)
Inzwischen glaubt das doch selbst Ihr eigener Minister
Für Oktober lädt das Ministerium zum 5. Bundes-
nicht mehr.
kongress Nationale Stadtentwicklungspolitik ein. In der
Einladung heißt es so schön: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
2011 ist das Jahr, in dem die Städtebauförderung,
ein wichtiger Baustein der Nationalen Stadtent- Peter Ramsauer schreibt in dem Liebe-Freunde-Brief
wicklungspolitik, 40 Jahre alt wird. Die Leistungen – ich muss jetzt einmal zitieren –: Wie sich angesichts
dieser Programme … werden deswegen … beson- der neuen Sachlage diese Fondszuschüsse tatsächlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11761
Sören Bartol
(A) entwickeln, ist angesichts der aktuellen Situation kaum (Patrick Döring [FDP]: 7,5 Milliarden Euro (C)
absehbar. Zudem sind in dem Sondervermögen aus- Regionalisierungsmittel!)
schließlich Mittel für Zinsverbilligungen eingestellt, so-
Wir brauchen an dieser Stelle doch einen Masterplan
dass ab 2012 keine investiven Zuschüsse mehr vergeben
Personenverkehr!
werden könnten.
Dass eine solche umwelt- und klimafreundliche Ver-
(Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!) kehrspolitik in Peter Ramsauer keinen Fürsprecher hat,
Dies würde insbesondere die Häuslebauer treffen. – Das zeigt sich doch anhand von zwei Beispielen:
ist ein Originalzitat des Briefes von Bundesminister Erstes Beispiel. Noch vor 2014 steht nicht nur die Re-
Ramsauer. So verunsichert man doch Investoren und Ei- vision der ehemaligen Gemeindeverkehrsfinanzierung,
gentümer, liebe Koalition. sondern auch die Revision der Regionalisierungsmittel
an.
(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)
(Patrick Döring [FDP]: Das läuft aus! Das
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der darf die wird nicht revidiert!)
Energieeinsparpotenziale bei Gebäuden nicht so sträflich
vernachlässigen, wie diese Regierung das tut. Bisher vermisse ich jegliche Aussage der Regierung
dazu, wie sie eine ausreichende Finanzierung kommuna-
(Beifall bei der SPD) ler Verkehrsinvestitionen und des öffentlichen Nahver-
kehrs nach 2014 sichern wird.
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss
die Kraft-Wärme-Kopplung und quartiersbezogene Lö- (Patrick Döring [FDP]: Entflechtungsgesetz!
sungen der Energie- und Wärmeversorgung in nennens- Dem habt ihr auch zugestimmt!)
wertem Umfang fördern. Sie und wir alle sollten die No-
velle zum Baugesetzbuch nutzen, um den Kommunen Dem öffentlichen Nahverkehr fehlt nicht nur eine si-
klimaschützende Maßnahmen zu erleichtern. chere finanzielle Basis, sondern auch ein sicherer
Rechtsrahmen. Nun endlich hat das Ministerium einen
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss Entwurf für die Novelle zum Personenbeförderungsge-
die Energieeffizienz deutlich erhöhen. Wenn Sie es nur setz vorgelegt, der den Anforderungen hinsichtlich einer
wollten, dann könnten Sie die Energieeffizienz bis 2020 rechtssicheren Umsetzung der Verordnung jedoch in kei-
verdoppeln. Unser Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch. ner Weise genügt. Was noch schwerer wiegt: Die kom-
Wir wollen einen Energieeffizienzfonds schaffen, der es munale Verantwortung für die Daseinsversorgung wird
zum Beispiel Haushalten mit einem geringen Einkom- durch diesen Entwurf untergraben. Ich hoffe nur, dass
(B) men ermöglicht, alte, stromschluckende Geräte durch dieser Entwurf am Ende des Tages so nicht in das Ge- (D)
neue, energiesparende zu ersetzen. setzblatt kommt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Iris Gleicke [SPD]: Schauen wir einmal, was
DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Eine die Parlamentarier dazu sagen!)
Abwrackprämie für Fernseher und Kühl- Das zweite Beispiel ist mein Lieblingsbeispiel, weil
schränke!) ich seit Jahren dafür kämpfe. Seit Jahr und Tag fordern
Wer es ernst meint mit der Energiewende, Kollege wir, den Kommunen die Einrichtung von Carsharing-
Döring, der muss die Energieversorgung in kommunaler Parkplätzen zu ermöglichen. So gut wie alle vom Städte-
Hand stärken; denn es sind doch die Stadtwerke, die die tag bis zum ADAC sind dafür. Das war das eindeutige
erneuerbaren Energien mit vorangebracht haben. Ergebnis der Anhörung im Verkehrsausschuss im De-
zember. Bisher gibt es immer noch keine Initiative der
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Regierungsfraktionen, um diese kleine, aber sehr wich-
Sehr wettbewerbsorientiert!) tige ordnungspolitische Maßnahme auf dem Weg in die
Mobilität der Zukunft umzusetzen.
– Ja, das sagen die Richtigen. – Stattdessen hat die Re-
gierung einen teuren und immer teurer werdenden Deal (Beifall bei der SPD)
mit den Stromkonzernen gemacht, durch den diese Be- Wenn wir ehrgeizige Ziele wie die im EU-Verkehrs-
mühungen ausgebremst werden. Geben Sie den Stadt- weißbuch geforderte völlige Abschaffung der mit kon-
werken doch Planungssicherheit für ihre Investitionen in ventionellem Kraftstoff betriebenen Pkws in Städten bis
erneuerbare Energien und faire Wettbewerbsbedingun- 2050 erreichen wollen,
gen.
(Patrick Döring [FDP]: Das macht ihr euch zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) eigen, ja?)
Wer es ernst meint mit der Energiewende, der muss brauchen wir einen breitangelegten Ideenwettbewerb für
aber auch eine umwelt- und klimaverträgliche Mobilität städtische Mobilitätskonzepte. Ob Shared Space, wie es
fördern. Ein Finanzierungskreislauf Straße dient dem ge- im Grünenantrag steht, hier das beste Mittel der Wahl ist,
wiss nicht. Wir brauchen eine konsequente Förderung weiß ich nicht. Ich denke, es muss darum gehen, mit Be-
von öffentlichem Nahverkehr, Fahrradfahren, Zu-Fuß- teiligung der Menschen vor Ort integrierte Konzepte für
Gehen, innovative Formen der Automobilität und deren Mobilität und Wohnen zu entwickeln. Aus der sozialen
intelligente Verknüpfung. Stadtentwicklung haben wir schon Erfahrungen mit der
11762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Sören Bartol
(A) Bewohnerbeteiligung und vor allen Dingen auch mit der medienwirksamen Anträge vor der Baden-Württemberg- (C)
ressortübergreifenden Kooperation. Diese Erfahrungen Wahl zur Intensivtierhaltung im Außenbereich und zu
lassen sich übrigens auch gut für eine integrierte Ver- Spielhallen in Innenstädten –, oder Sie fordern Änderun-
kehrs- und Stadtentwicklungsplanung nutzen. gen am Baugesetzbuch in zusammenhangloser Fülle wie
heute. Damit machen Sie eine konzentrierte Sachdebatte
Nicht nur das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“,
zu wichtigen Themen leider unmöglich.
wie es die Grünen fordern, muss in die Köpfe und Pro-
gramme Eingang finden, sondern auch eine fachüber- Wir, die christlich-liberale Koalition, haben die No-
greifend angelegte Siedlungs- und Wirtschaftsentwick- vellierung des Baugesetzbuches in den Koalitionsvertrag
lung, die möglichst wenig Verkehr produziert. geschrieben,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Und seitdem tun Sie nichts mehr! Wann
Die von uns begonnene Stärkung der Innenentwicklung fangen Sie denn mal an? Die Halbzeit ist
muss fortgesetzt werden. Voraussetzung ist der politi- schon um!)
sche Wille, integriert zu denken, vor allen Dingen end- und wir setzen es um. Wir werden Planungsrecht und
lich auch wieder im Bundesministerium für Verkehr, Planungsziele weiterentwickeln. Wir werden die Innen-
Bau und Stadtentwicklung. stadtentwicklung stärken, Genehmigungsverfahren ent-
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den bürokratisieren, den demografischen Wandel berück-
Grünen, ist eine lange Liste überwiegend bedenkenswer- sichtigen und den Klimaschutz verankern.
ter Vorschläge. Ich würde mich dann aber auch freuen, (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aber
wenn Sie uns zu Ihren zahlreichen Spiegelstrichen wie wann?)
der Forderung nach einer Grundsteuerreform auch Um-
setzungsvorschläge machen würden. Daran arbeiten wir längst.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schö- In der zweiten Jahreshälfte werden wir in diesem Ho-
nen Abend. hen Hause mit den Beratungen zur Novellierung des
Baugesetzbuches beginnen. Bis Anfang 2012 soll der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Prozess abgeschlossen sein. Im Ausschuss und im Ple-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) num werden Sie alle die Möglichkeit haben, sich einzu-
bringen. Ich denke, damit ist das Thema dann endgültig
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: abgeschlossen.
(B) Das Wort hat die Kollegin Petra Müller von der FDP- (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Fraktion.
der CDU/CSU – Bettina Herlitzius [BÜND-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist Ihr Pro-
blem! Klimaschutz in der Stadt ist mehr!)
Petra Müller (Aachen) (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen, die energetische
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im bzw. die dynamische Stadtentwicklung ist ein erklärtes
vorliegenden Antrag wird eine Reihe von Themenkreisen Ziel liberaler Politik. Wir müssen die Förderprogramme
aufgegriffen: Städtebauförderung, Energiesparfonds, Bau- verstetigen – ich wiederhole mich zum x-ten Male –, ins-
nutzungsverordnung, Flächennutzungsplan. Es geht um besondere das Programm zur CO2-Gebäudesanierung.
Nahwärmenetze, Frischluftschneisen und Wärmerückge- Wir werden aber nicht beim einzelnen Gebäude stehen
winnung, Radverkehrsbenutzungspflichten, Emissions- bleiben. Nein, die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich für
werte, Tempo 30 innerorts, City-Maut, Weiterbildung den Schritt hin zu quartiersbezogenen Betrachtungen
von Bauleuten und Studiencurricula für Architekten und ein.
Bauingenieure.
(Sören Bartol [SPD]: Da sind wir gespannt! –
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das haben wir Uwe Beckmeyer [SPD]: Mit mehr Geld!)
alles verstanden!)
Dazu legt die Koalition das neue KfW-Programm „Ener-
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist kein getische Städtebausanierung“ auf. Damit haben wir den
Antrag, sondern ein Forderungskatalog. Es ist ein Forde- Nagel genau auf den Kopf getroffen.
rungskatalog ohne Konzept, völlig überfrachtet und
ohne jedes Maß. Es ist eine Zumutung für die Kommu- (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nen. NEN]: Aber zu spät! Ohne Geld ist das eine
Luftnummer!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Als hätten Sie mir das Stichwort gegeben: An erster
NEN]: Das sagt genau die Richtige!) Stelle steht natürlich die Haushaltskonsolidierung. Dazu
haben sich CDU/CSU und FDP verpflichtet. Ich glaube,
– Das stimmt, nicht?
der Schuldenbremse haben auch Sie zugestimmt. Das
Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge greifen Sie ent- war doch so, oder? Angesichts der Notwendigkeit zur
weder Einzelaspekte aus dem Baugesetzbuch heraus – ich Haushaltskonsolidierung ist es umso wichtiger, Förder-
erinnere nur an die denkenswerten und selbstverständlich programme so zu gestalten, dass Eigeninitiative und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11763
Petra Müller (Aachen)
(A) Engagement der Bürgerinnen und Bürger angeregt wer- lichkeiten hier sicherlich begrenzt, jedenfalls im Verhält- (C)
den, dass sich Private und Privatwirtschaftliche einbrin- nis zur Einwohnerzahl.
gen können.
Weil 40 Prozent der Endenergie im Gebäudesektor
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verbraucht werden, liegen unserer Ansicht nach hier die
NEN]: Förderprogramme für Hoteliers!) größten Einsparmöglichkeiten, allerdings aus sozialer
Sicht auch die größten Konfliktpotenziale. Die Rech-
Ein Programm ist eben nur ein Instrument. Aber so aus-
nung, dass sich energetische Sanierungen im Bestand
gestaltet ist es ein urliberales Instrument.
durch die Energieeinsparung von selbst rechnen, geht
In Ihrem Antrag wird die Polarisierung von Stadt und nach dem, was wir wissen, nur bei sehr alten, bis dato
Land hervorgehoben. Besondere Beachtung verdient der unsanierten Gebäuden auf. Kein Wunder, wer bis heute
ländliche Raum. Kleine Städte und Gemeinden dürfen vor allem die Umwelt heizt, hat enorme Energierechnun-
nicht gegen große, urbane Ballungszentren ausgespielt gen, die sich bei guter Dämmung und effizienten Hei-
werden. Aus den spezifischen Problemen der Städte darf zungen extrem verringern. Solche Häuser machen aber
keine baurechtliche oder förderpolitische Bevorzugung nur circa 15 Prozent des Gebäudebestands aus. Bei der
abgeleitet werden, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Mehrzahl der Gebäude haben wir ein wirtschaftliches
Dilemma. Die Häuser sind zwar schlechter isoliert, als es
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nötig wäre, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Durch
NEN]: Das Baurecht stärkt die Kommunen!) sie pfeift aber auch nicht der Wind. Die Heizkosten sind
Mit dem Bundesprogramm „Kleine Städte und Gemein- vielfach überschaubar, jedenfalls noch. Eine Sanierung
den“ sorgen wir auch zukünftig für Daseinsvorsorge und ist jedoch fast ebenso aufwendig wie bei einer Bruch-
urbane Weiterentwicklung in dünnbesiedelten Räumen. bude.
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unter dem Strich könnten auf Familien Kostensteige-
NEN]: Die Städtebauförderung hat immer rungen in Höhe von mehreren Hundert Euro pro Monat
auch die kleinen Städte berücksichtigt! – Sören zukommen. Das wäre aber nicht akzeptabel. Bei Eigen-
Bartol [SPD]: Ihr habt einfach alles gekürzt!) heimbesitzern mit 800 Euro Rente ist auch nichts mehr
mit Eigeninitiative. Das heißt, öffentliche Fördermittel
In dem vorliegenden Antrag finden sich viele, viel- sind dringend erforderlich, um Klimaschutz- und Sozial-
leicht zu viele Ideen auf einmal. Wir müssen uns nicht ri- politik zueinanderzubringen. Aber genau hier hat die
tuell bekämpfen. Wir als liberale Fraktion Bundesregierung den Rotstift gezückt. Die Mittel für das
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- KfW-Gebäudesanierungsprogramm wurden halbiert.
(B) NEN]: Sie stimmen zu?) (Sören Bartol [SPD]: Genau!) (D)
sehen einen inhaltlichen Konsens in vielen Punkten. Gleichzeitig wurde angekündigt, die mögliche Umlage
Aber wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. Heute für Investitionen auf die Kaltmiete der Mieter von
geht es auch nicht um Zustimmung, sondern um Über- 11 Prozent der Kosten zu erhöhen.
weisung. Schauen Sie einmal in die Tagesordnung!
Es ist also kein Wunder, dass das Klimaschutzgesetz
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und be- in Berlin scheitern musste. Konsequente Vorschriften für
danke mich für die Aufmerksamkeit. den Klimaschutz im Gebäudebereich würden nach jetzi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris ger Rechtslage sowie bei jetziger Subventionspraxis
Gleicke [SPD]: Wir können Ihnen die Freude nichts anderes bedeuten als Sozialabbau in Größenord-
machen und gleich Abstimmung beantragen!) nungen. Das aber wird die Linke nicht mitmachen; denn
es ist nicht alternativlos.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der LINKEN)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke. Es geht darum, drei Seiten zu einem Dreieck zueinan-
derzubringen: erstens die sozialen Interessen der Miete-
(Beifall bei der LINKEN) rinnen und Mieter, zweitens die Vorgaben für Sanierung
und Neubau, die es möglich machen, anspruchsvolle
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Klimaschutzziele zu erreichen, und drittens die berech-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der tigten wirtschaftlichen Interessen der Vermieter.
Antrag der Grünen gibt eine gute Übersicht über die (Beifall bei der LINKEN)
Dinge, die im städtischen Klimaschutz anzupacken wä-
ren. Wir finden es gut, wo die Schwerpunkte liegen, Dieses Dreieck zu bilden, gelingt dem Antrag von
nämlich bei Energieeffizienz im Gebäudebestand und Bündnis 90/Die Grünen nicht. Dies ist aber die eigentli-
bei Neubauten, bei Anpassungsmaßnahmen wie Frisch- che Herausforderung, für die es nicht nur mehr Mittel
luftschneisen, bei der Verringerung des Flächenver- aus dem Bundesetat geben muss, sondern auch Innova-
brauchs – das ist ganz wichtig – und natürlich bei nach- tionen im Mietrecht und im BGB. Ehrlich gesagt sind
haltiger Mobilität. Erneuerbare Energien werden in die meisten Experten ziemlich ratlos, wenn es darum
Städten eine wichtige Rolle spielen. Aber im Unter- geht, das sogenannte Vermieter-Mieter-Dilemma aufzu-
schied zu Gemeinden im ländlichen Raum sind die Mög- lösen.
11764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Eva Bulling-Schröter
(A) Da der Vermieter alle Heizkosten auf die Mieter um- Er entspricht in weiten Teilen dem, was wir bereits im (C)
legen kann, hat er kein ökonomisches Interesse an Sanie- Energiekonzept festgelegt haben und woran wir bereits
rungen. Andererseits werden gesetzliche Verpflichtun- arbeiten.
gen zu energetischen Sanierungen, wie bereits erwähnt,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Mieterinnen und Mieter vielfach überfordern. Bei Zu-
Sören Bartol [SPD]: Das ist aber frech! Das
schüssen oder Kreditprogrammen der öffentlichen Hand
Energiekonzept, das Makulatur ist?)
wiederum ist nur schwer zu verhindern, dass ungerecht-
fertigte Mitnahmeeffekte für die Hauseigentümer entste- Wenn ich das vergleiche, dann muss ich sagen: Ja, auch
hen. wir sagen natürlich, der Gebäudebereich ist ein wichti-
ger Faktor bei der gesamten Energieeffizienzsteigerung;
In den Ausschüssen sollten wir uns für dieses Thema ja, wir müssen die Programme verstetigen, wir müssen
genügend Zeit nehmen und es sehr ernsthaft diskutieren, sie ausbauen und verzahnen.
um dann auch wirklichen Klimaschutz zu erreichen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Sören Bartol
(Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Deswegen habt ihr erst einmal gekürzt! –
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NEN]: Verstetigen und kürzen!)
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Wir sagen Ja zur Vorbildwirkung des öffentlichen Be-
der Kollege Volkmar Vogel von der CDU/CSU-Fraktion reichs, vor allen Dingen für den Bereich des Bundes, für
das Wort. den wir zuständig sind. Wir sagen auch Ja zu weiterer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) besserer Beratung sowie zu weiterer besserer Fortbil-
dung und fachlicher Anleitung.
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Ist ja toll!)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Hast du die richtige Wir sagen natürlich auch Ja zu differenzierten Betrach-
Rede dabei?) tungen der unterschiedlichen Strukturen.
Die Debatte eben war natürlich nicht so harmonisch wie Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, alles
die, die wir zum Feuerwehrführerschein geführt haben. das ist nichts Neues.
Das ist aber auch ganz klar, es handelt sich hier ja nicht (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
um eine Vorlage von uns, die wir die Zusammenhänge NEN]: Warum machen Sie es dann nicht?)
(B) immer ganzheitlich darstellen und bei denen auch große (D)
Mehrheiten möglich sind. Ich muss an der Stelle aber auch sagen – Kollegin Müller
und auch Peter Götz haben es bereits angesprochen –:
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir sagen auch Nein. Wir sagen vor allen Dingen Nein,
DIE GRÜNEN) wenn es um die Vernachlässigung von kleinstädtischen
und ländlichen Strukturen geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn
man all Ihren Vorschlägen nachkommen und Ihre Forde- (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Richtig! –
rungen erfüllen will, kommt das einem Ausbremsen der Zuruf von der SPD: Aha!)
Schuldenbremse schon ziemlich nahe.
Und wir sagen Nein, wenn es um Benachteiligung oder
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht angemessene gleichwertige Behandlung von klein-
NEN]: Ich glaube, Sie haben die falsche Vor- teiligen privaten Gebäudestrukturen geht, die ja immer-
lage! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE hin über 80 Prozent des gesamten Gebäudebestandes
GRÜNEN]: Das ist ein Antrag von den Grü- ausmachen.
nen!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wer fordert das
Noch eines muss ich dazu sagen: Vieles von dem hätten denn?)
Sie ja auch mit Minister Tiefensee verwirklichen kön- Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen auch
nen. Nein, wenn es – auch das steht im Antrag – um die Un-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Herr Vogel, das ist gleichbehandlung der Verkehrsträger geht.
ein Antrag der Grünen!) Die Union will – ich denke, da sind wir uns mit den
– Kommt gleich! – Ich glaube, bei vielen Dingen hätten Kollegen von der FDP einig – breit aufgestellte Struktu-
wir wahrscheinlich nur eine geringe Gegenwehr an den ren in allen Bereichen.
Tag gelegt, und wir wären heute schon ein Stück weiter. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Aha!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der Das macht uns krisensicher, das haben die letzten Mo-
Antrag, den Sie heute vorlegen, ist eigentlich nichts nate gezeigt.
Neues.
In der Wohnungspolitik sind wir immer gut mit einem
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mix aus Kommunal-, Genossenschafts- und Privateigen-
NEN]: Aha!) tum gefahren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11765
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte daran erinnern, dass dieses Programm ei- (C)
NEN]: Darüber reden wir doch gar nicht!) gentlich im Jahr 2011 auslaufen sollte. Unser Bestreben
ist, es zu verstetigen und weiterzuentwickeln. Ab diesem
In der Infrastrukturpolitik müssen wir Straße, Schiene Monat werden über das KfW-Programm wieder hoch-
und Wasserstraße sinnvoll ergänzen, je nachdem, welche effiziente Einzelmaßnahmen gefördert. Das ist ein wich-
Vorteile der einzelne Verkehrsträger mit sich bringt. tiger Schritt, um Förderung in der Breite zu betreiben.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die förderfähige Gebäudekulisse in den KfW-Program-
NEN]: Wir reden über Klimaschutz in der men wird im kommunalen Bereich auf Nichtwohnge-
Stadt!) bäude erweitert.
Wir müssen in unserem Handeln den Bedürfnissen der (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Menschen folgen und nicht umgekehrt. NEN]: Alles richtig! – Oliver Krischer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nehmen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie das Geld aber her?)
neten der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Das
ist ja wunderbar, dieser Platzhalter gehört in Das ist ein weiteres Beispiel für den Ausbau.
jede Rede!) Außerdem werden wir die energetische Städtebausanie-
Ich sage das deswegen, weil uns das Ordnungsrecht rung auf den Weg bringen. Wir haben dafür im Baubereich
nicht in jedem Fall, sondern immer nur bedingt weiter- federführend die Instrumente mit dem Baugesetzbuch, der
hilft. Städtebauförderung, dem CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm und der Energieeinsparverordnung als Ord-
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nungsrahmen. Diese Instrumente ergänzen sich. Wir
NEN]: Das erzählen Sie den Kommunen!) können und werden sie sinnvoll verzahnen. Auch das
werden wir machen. Es wird einen Fahrplan zur energe-
Wir brauchen einfache, nachvollziehbare, planbare tischen Sanierung von Bundesbauten geben. Damit wer-
klimapolitische Prinzipien, die ihre Wirkung in der Stadt den wir auch der Vorbildwirkung des Bundes und des öf-
und auf dem Land sowohl auf dem großen gemeinschaft- fentlichen Bereiches insgesamt gerecht.
lichen Wohnungsmarkt als auch auf dem privaten Woh-
nungsmarkt entfalten können. Der Gebäudebereich hat Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was wir
ein riesiges Energieeinsparpotenzial, das es zu aktivieren mit dem Energiekonzept auf den Weg gebracht haben,
gilt, ohne die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen jemals und dafür, was wir noch umsetzen wollen. Das heißt
aus dem Auge zu verlieren. konkret, wir sind schon weiter als das, was in Ihrem heu-
(B) tigen Antrag gefordert wird. (D)
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wie denn? – Sören Bartol [SPD]: Soll (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ich den Ramsauer noch einmal vorlesen?)
Wir machen Angebote an alle Akteure, nicht nur an die
Die Potenziale sind im ländlichen wie im städtischen Stadt, nicht nur an bestimmte Eigentümerstrukturen,
Bereich immens. Für uns gelten folgende Prämissen: nicht nur im Hinblick auf das Ordnungsrecht. Wir han-
Wir geben die Standards und die zu erreichenden Ziele deln vielmehr technologieoffen und wirtschaftlich, wir
vor; aber wir lassen die Technologien, die zur Umset- schaffen Anreize zur Eigeninitiative, um tatsächlich eine
zung dieser Standards und zur Erreichung dieser Ziele Breitenwirkung zu erzielen.
notwendig sind, weitgehend offen. Technologieoffenheit
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist gut gedacht,
ist also eines unserer Prinzipien.
aber ohne Moos nichts los! Sie müssen Haus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haltsmittel dazugeben!)
Wir folgen konsequent dem Wirtschaftlichkeitsgebot Nur wenn uns das gelingt, können wir unsere klimapoli-
und respektieren damit die Eigentumsgarantie. Beides tischen Ziele erreichen. Wir werden den Antrag der Grü-
kann man ordnungspolitisch nicht außer Kraft setzen. nen nicht mittragen. Ich freue mich schon auf die Dis-
kussion im Ausschuss.
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass eine CDU/CSU-
geführte Regierung schon in der letzten Legislatur- Vielen Dank.
periode Prioritäten gesetzt hat, zum Beispiel mit den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Konjunkturprogrammen. In diesen Programmen waren
Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die in Ihrem Antrag geforderten und bei uns nach wie
NEN]: Wenn Sie schon weiter sind, dann kön-
vor auf der Agenda stehenden energetischen Maßnah-
nen Sie auch zustimmen!)
men bei öffentlichen Gebäuden – Schulen, Turnhallen,
Kindergärten – und die kommunalen Strukturen insge-
samt im Fokus. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
hat ein großes Stück vom Konjunkturprogrammkuchen Ich schließe die Aussprache.
abbekommen – zu Recht!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drucksache 17/5368 an die in der Tagesordnung aufge-
NEN]: Deshalb beenden Sie es jetzt!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
11766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Des Weiteren ist die für den Berufsschadenausgleich Zum 1. Juli 2011 soll die Berechnung – für Neuan-
und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vorgesehene träge – auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die
Übergangs- und Besitzstandsregelung noch einmal mit Höhe soll in Zukunft wie bei Selbstständigen ermittelt
Blick auf die beabsichtigte Gewährung gleicher Leis- werden; Grundgehälter der Besoldungsgruppen der
tungshöhen im Sozialen Entschädigungsrecht in den Bundesbesoldungsordnung A. Die Beträge sollen im ein-
neuen und alten Ländern zu überprüfen, damit mit dem zelnen Fall zum 30. Juni 2011 festgestellt und dann in
Gesetz nicht Regelungen eingeführt werden, die zu einer den Folgejahren wie die gesetzlichen Renten angepasst
substanziell erheblichen Verschlechterung bei den Leis- werden. Hierfür bedarf es einer Änderung der Berufs-
tungen aus dem Berufsschadenausgleich für betroffene schadenausgleichsverordnung. Es ist zum jetzigen Zeit-
Geschädigte führen. In diesem Sinne wird die Fraktion punkt unsererseits nicht absehbar, welche unmittelbaren
Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf in den Aus- Folgen eine solche Regeländerung mit sich bringt. Dies
werden wir im Laufe des parlamentarischen Verfahrens
(B) schüssen konstruktiv diskutieren. (D)
klären müssen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum Schluss möchte ich noch kurz auf eine weitere
Im Großen und Ganzen begrüßen wir den vorgelegten Änderung bzw. Ergänzung eingehen. Der vorgelegte Ge-
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversor- setzentwurf schreibt explizit fest, welche Leistungen des
gungsgesetzes und anderer Vorschriften, stellt doch die BVG Teil eines persönlichen Budgets im Sinne des § 17
volle Angleichung der Höhe der Entschädigungs- und SGB IX sein können. Vorbehaltlich der Prüfung, ob da-
Rentenleistungen in den neuen Ländern ab 1. Juli 2011 mit auch alle budgetfähigen Leistungen abgedeckt wer-
an die Leistungshöhen in den alten Ländern einen den, ist es durchaus positiv, wenn Leistungsgesetze den
wichtigen Schritt zur Herstellung einheitlicher Rechts- rehabilitationsträgerübergreifenden Rechtsanspruch auf
verhältnisse in ganz Deutschland dar. Es ist zudem er- ein persönliches Budget entsprechend abbilden.
freulich, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäuße-
rung zur Stellungnahme des Bundesrates ankündigt, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dort geäußerten Änderungen zu berücksichtigen. Hier- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
bei geht es insbesondere um die Erfassung aller bisher wurfs auf Drucksache 17/5311 an die in der Tagesord-
in den neuen Bundesländern noch abgesenkten Entschä- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
digungs- und Rentenleistungen nach dem BVG oder den einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos-
Nebengesetzen. Wir werden die Bundesregierung beim sen.
Wort nehmen und in den kommenden Ausschussberatun-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
gen darauf dringen, insbesondere die für den Berufsscha-
denausgleich und Schadenausgleich in § 87 BVG-E vor- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
gesehene Übergangs- und Besitzstandsregelung darauf Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
zu überprüfen, ob die beabsichtigte Gewährung gleicher Täterverantwortung
Leistungshöhen in Ost und West auch wirklich eintritt.
– Drucksache 17/1466 –
Darüber hinaus hat das Gesetz zum Inhalt, die Aus- Überweisungsvorschlag:
landsversorgung im Nachgang zum Urteil des EuGH Rechtsausschuss (f)
vom 4. Dezember 2008, wonach Berechtigte nach dem Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BVG mit Wohnsitz in osteuropäischen Ländern der
Europäischen Union keine abgesenkten Leistungen im Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
Vergleich zu anderen EU-Staaten erhalten dürfen, euro- werden.
11770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Ansgar Heveling (CDU/CSU): wird § 153 a StPO um die Möglichkeit der Auflage er- (C)
Gewalt in den eigenen vier Wänden gehört für viele weitert, dass Staatsanwaltschaft und Gericht das Ver-
Frauen und Kinder in Deutschland noch immer zum All- fahren vorläufig einstellen und den Be- bzw. Angeschul-
tag – sicherlich eine unvorstellbare Tatsache für die digten anweisen können, an einem Täterprogramm
meisten von uns. Jährlich flüchten circa 45 000 phy- teilzunehmen. Die vorgesehene Frist zur Erfüllung die-
sisch, sexuell oder psychisch misshandelte Frauen mit ser Auflage wird auf bis zu ein Jahr erweitert. Der Kata-
ihren Kindern in eines der circa 400 Frauenhäuser oder log bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 a
in vergleichbare Zufluchtswohnungen. Da längst nicht StGB wird in dessen Absatz 2 um die Möglichkeit der
alle häuslichen Gewalttaten gemeldet werden, haben Weisung erweitert, dass der Täter an einem Täterpro-
wir es in diesem Kontext mit einer hohen Dunkelziffer zu gramm teilnimmt.
tun.
Auch die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellung-
Nach über zwanzigjähriger intensiver Arbeit der nahme positiv zu dem Entwurf des Bundesrates geäußert
Frauenhäuser, die dem enormen Andrang von Gewalt- und misst der Gewaltprävention und dem Opferschutz
opfern kaum gewachsen sind, liegt der Fokus schon seit eine hohe Bedeutung zu. Es kann nur in unser aller Inte-
einiger Zeit darauf, vermehrt mithilfe interdisziplinärer resse sein, die häusliche Gemeinschaft und die partner-
Interventionsprojekte das Problem häuslicher Gewalt in schaftlichen Konflikte zu befrieden und so weit wie mög-
den Griff zu bekommen. Ein Schwerpunkt des Gewalt- lich aus der öffentlichen Strafverfolgung auszunehmen.
interventionsprozesses soll dabei vor allem auch auf der Durch die Teilnahme an qualifizierten sozialen Trai-
sogenannten Täterarbeit liegen. Da häusliche Gewalt ningsprogrammen werden den Tätern Handlungsalter-
oftmals nicht mit Freiheitsentzug bestraft wird und eine nativen zur Gewalt eröffnet. Erfahrungsgemäß leugnen
Geldbuße häufig auch das mit dem Täter zusammenle- diese Täter zunächst ihre Gewaltbereitschaft. In den
bende Opfer zusätzlich schädigt, erweisen sich Täter- Fällen jedoch, in denen sie sich dem Druck eines Straf-
programme als geeignete Alternative im Umgang mit verfahrens ausgesetzt sehen, müssen sie sich auch dieser
Gewaltstraftätern. Verantwortung stellen. Oftmals kann der Konflikt nicht
gelöst werden, solange sich der Täter nicht aktiv mit sei-
Täterarbeit steht dabei für Maßnahmen in Form so-
ner Gewaltbereitschaft auseinandersetzt. Weigert er
zialer Trainingskurse, in denen sich gewalttätige oder
sich, an einem Täterprogramm teilzunehmen, bricht er
potenziell gewaltbereite Männer mit ihren Taten aus-
es ab oder wird er rückfällig, droht ihm die Konsequenz
einandersetzen, die Verantwortung für ihre Gewalthand-
der strafrechtlichen Verfolgung.
lungen übernehmen und alternative, nicht gewalttätige
Verhaltensweisen erlernen sollen. Diesbezüglich hat die Demgegenüber steht die Bundesregierung der Frist-
(B) Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Ge- verlängerung von sechs Monaten auf ein Jahr im Rah- (D)
walt e. V. bundesweite Standards für qualifizierte Täter- men der Auflage des § 153 a StPO kritisch gegenüber,
programme erarbeitet. Langfristig sollen Täter durch da diese im Spannungsfeld des Grundgedankens stehe,
Verantwortungsübernahme und Selbstkontrolle von der innerhalb einer überschaubaren Frist eine Entschei-
Wiederholung ihrer Taten abgehalten werden. Täter- dung herbeizuführen, um das Verfahren dann endgültig
arbeit kann damit ein wichtiges Element der Gewaltprä- einzustellen. Hier sollten wir doch nochmals genau hin-
vention und des Opferschutzes sein. schauen. Zum einen ist bereits jetzt im Rahmen des
Wie die Forschungsergebnisse der wissenschaftli- § 153 a StPO eine Fristverlängerung von drei weiteren
chen Begleitung der Interventionsprojekte gegen häusli- Monaten vorgesehen; das heißt, sie ist bereits jetzt schon
che Gewalt in Deutschland zeigen, ist die Täterarbeit im auf faktisch neun Monate möglich. Des Weiteren ist bei
Kontext von Interventionsprojekten eine sinnvolle und der Auflagenweisung der Unterhaltspflichtverletzung
richtige Maßnahme. Zwei Drittel der in der Studie eine Frist von einem Jahr bekannt. Demnach ist die
berücksichtigten Männer haben das Programm abge- Frist des § 153 a StPO von der Art der Weisung abhän-
schlossen. Besonders interessant ist in diesem Zusam- gig. Auf das Täterprogramm bezogen handelt es sich
menhang folgende Erkenntnis: Diejenigen Täter, die nun aber um eine Auflage, bei der sich erweist, dass der
aufgrund einer justiziellen Weisung oder Auflage – die Erfolg nicht binnen einer kurzen Frist von sechs Mona-
in den letzten Jahren in Fällen häuslicher Gewalt durch ten erzielbar ist. Der Täter unterzieht sich einem lang-
Staats- oder Amtsanwaltschaft in der Praxis bereits an- wierigen Prozess sozialer Verhaltensänderung. Dies
gewandt wurden – an einem Programm teilgenommen kann nicht von heute auf morgen passieren, sondern es
haben, schließen dieses signifikant häufiger ab als die nimmt viel Zeit in Anspruch. Daher erscheint aus meiner
anderen Teilnehmer. Dass sich gewalttätige Männer aus Sicht die Frist von einem Jahr im Hinblick auf die im
eigener Initiative heraus zu einem Täterprogramm an- Gesetzentwurf des Bundesrates in Rede stehende Täter-
melden, ist äußerst selten der Fall. Der Druck von außen gruppe durchaus ausgewogen.
trägt also nicht nur zur Absolvierung, sondern auch zum
Abschluss eines Programms bei. Die Bundesregierung kritisiert ferner, den Begriff
„Täterprogramm“. Er sei nicht sachkonform gewählt,
Der Gesetzentwurf zur Täterverantwortung des Bun- da die Weisung, an einem Programm teilzunehmen, be-
desrates trägt dieser Erkenntnis Rechnung und schlägt reits während des Ermittlungsverfahrens erfolgen kann.
vor, mit einigen Änderungen die Möglichkeiten, Straftä- Der Begriff „sozialer Trainingskurs“ sei die bessere
ter durch staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Wei- Wahl. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob diese Be-
sungen Täterprogrammen zuzuweisen, zu erweitern. So grifflichkeit der beabsichtigten Verantwortungsüber-
Christine Lambrecht
(A) Begriffs „Täterprogramm“ den Begriff „sozialen Trai- Verhaltensänderungen beizutragen. Wir sind uns auch (C)
ningskurs“ zu verwenden. alle einig, dass häusliche Gewalt gesellschaftlich geäch-
tet gehört. Ich will aber an dieser Stelle darauf hinwei-
Jörg van Essen (FDP): sen, dass beispielsweise die Vergewaltigung in der Ehe
Wir beraten heute eine Initiative aus den Ländern zur erst seit 1997 strafbar ist und dass die Dunkelziffer im
stärkeren Betonung der Täterverantwortung nach Fäl- Bereich der häuslichen Gewalt immer noch ausgespro-
len häuslicher Gewalt. Wir greifen damit im Sinne des chen hoch ist. Häusliche Gewalt gilt bedauerlicherweise
Opferschutzes einen Bundesratsbeschluss aus dem Jahr immer noch zu häufig als Kavaliersdelikt.
2008 auf, der in der letzten Wahlperiode nicht mehr be- Wir sind uns einig darin, dass Betroffenen häuslicher
raten wurde. Mit dem Entwurf sollen die Möglichkeiten Gewalt schnell und unbürokratisch geholfen werden
verbessert werden, Straftäter über staatsanwaltschaftli- muss. Aber was passiert beispielsweise im Hinblick auf
che oder gerichtliche Weisungen qualifizierten Täter- Frauenhäuser? Die Linke fordert eine bundesweit ein-
programmen zuweisen zu können. Es sollen bei den heitliche Finanzierung der Frauenhäuser und einen un-
Tätern Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen er- gehinderten Zugang für alle betroffenen Frauen und de-
reicht und dadurch neuerliche Gewalttaten vermieden ren Kinder, unabhängig von sozialer oder ethnischer
werden. Ziel sind damit zugleich Kriminalitätsverhinde- Herkunft. Täterprogramme sind notwendig und wichtig,
rung und vorbeugender Opferschutz. aber die Opfer sollten nicht unberücksichtigt gelassen
Aus liberaler Sicht ist die aus dem Gesetzesvorschlag werden. Wenn der Rechtsanspruch auf eine Zufluchts-
sprechende Forderung an Straftäter zu begrüßen, Ver- möglichkeit in allen Fällen von Gewalt als freiwillige
antwortung zu übernehmen und sich selbst besser zu Leistung gewährt wird, führt das, auch wegen der Steuer-
kontrollieren. Mit dieser Ausrichtung ergeben sich ge- politik der Regierung zulasten der Kommunen, häufig zu
rade für nicht vorbelastete Personen Anreize zur Teil- weitreichenden Kürzungen und damit zur Einschränkung
nahme an entsprechenden Programmen. Dass wir mit von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten.
dem Aufgreifen des Länderentwurfes auf einem guten
Unser Problem mit dem Gesetzentwurf ist zunächst
Weg sind, zeigt auch die Unterstützung durch den Deut-
ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fortschrei-
schen Richterbund. Der Ausbau der Täterprogramme
bung des strafrechtlichen Deals, wie er durch die Ver-
als Auflage stärkt den Opferschutz deutlich. Es ist nach-
längerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StPO
gewiesen, dass Geldstrafen zwar die Opfer mittelbar
vorgeschlagen wird. Mein Kollege Nešković hat bereits
selbst treffen, jedoch das Verhalten des Täters nicht ent- am 16. Februar 2009 in der „taz“ alles Wesentliche
scheidend verändern. Hier würde dann eine pädago- dazu gesagt: „Nötig ist nicht die Legalisierung des
gisch-therapeutische Maßnahme eher greifen, um neue Deals, sondern dessen gesetzliches Verbot für alle nicht (D)
(B) Gewalttaten zu verhindern.
geringfügigen Straftaten.“ Worum geht es genau: Wir
Lassen Sie mich dennoch in der ersten Lesung einige sind uns einig, dass häusliche Gewalt keine geringfügige
kritische Bemerkungen machen. Jeder, der aus der poli- Straftat ist. Warum wollen Sie dann aber die Ausweitung
zeilichen und staatsanwaltlichen Praxis kommt, weiß, einer bereits bestehenden Dealregelung? Wenn wir uns
dass häusliche Gewalt in nahezu gleichem Umfang einig sind, dass in Fällen häuslicher Gewalt zum Opfer-
Frauen wie Männer trifft. Dies ist ein Tabu in der De- schutz und zur Prävention Täterprogramme mit dem Ziel
batte, weil das Gewaltthema gerne ausschließlich bei durchzuführen sind, Verhaltens- und Wahrnehmungsver-
Männern abgeladen wird. Gewalt wird aber nicht nur änderungen zu erreichen, dann ist nicht nachvollziehbar,
körperlich, sondern auch psychisch ausgeübt. Wir soll- dass bei Teilnahme an solchen Programmen das Verfah-
ten uns deshalb in den Beratungen mit der Frage befas- ren eingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als:
sen, wie auch dieser Form von Gewaltanwendung bes- Du darfst prügeln, und wenn du danach ein Täterpro-
ser begegnet werden kann. Die Gesetzesänderungen gramm besuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein.
müssen den Opfern jedweder Gewalt zugutekommen. Das ist ein Skandal. Insofern geht der Gesetzesentwurf
an dieser Stelle in die falsche Richtung. Solange der
Die Bundesregierung hat auch zu Recht darauf hinge- Deal im Strafrecht als probates Mittel angesehen wird,
wiesen, dass sich im Strafgesetzbuch die Bezeichnung können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
„Täter“ für noch nicht verurteilte Personen verbietet.
Wir sollten hier nach einer besseren Formulierung su- Dem Gesetzentwurf hätte es aber auch gut zu Gesicht
chen. Insgesamt ist es aber eine begrüßenswerte Initia- gestanden, wenn er umfassender gewesen wäre und
tive, die wir in den nun beginnenden Beratungen unter- gleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Tä-
stützen werden. terprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dass es
keine Therapieplätze gibt und die Prävention und der
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Opferschutz auch daran scheitern. Allein eine Fest-
Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundes- schreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügend
rates zur Stärkung von Täterverantwortung zu eigen ge- Täterprogramme vorhanden sind. Das erscheint uns zu-
macht, und deshalb debattieren wir ihn heute. Wir sind mindest als ein mindestens ebenso großes Problem. Vor
uns alle einig darin, dass häusliche Gewalt ein sehr ernst diesem Hintergrund fordern wir ein umfassendes Kon-
zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns auch einig darin, zept im Umgang mit häuslicher Gewalt, zu dem neben
dass die Täterverantwortung gestärkt und vor allem die der Ächtung derselben die Ausfinanzierung von Frauen-
Präventionsarbeit verbessert werden muss. Wir sind uns häusern und die Bereitstellung von Täterprogrammen
einig, dass Täterprogramme ein guter Ansatz sind, zu gehörten.
(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach § 153 a StPO ist schon jetzt die Verhängung ei- (C)
Das Sanktionenrecht im deutschen Strafrecht ist ner solchen Weisung möglich, was sich aus dem Wort
immer noch zentral ausgerichtet auf Geld- und Frei- „insbesondere“ ergibt. Die Aufzählung der Weisungs-
heitsstrafen. Weitere und effektivere Einwirkungs- und möglichkeiten im Gesetz ist nicht abschließend. Aller-
Ahndungsmöglichkeiten wurden bisher immer nur als dings bleibt richtig, dass die regelmäßige Frist von
Einzelmaßnahmen und wenig systematisch ins Sanktio- sechs Monaten zur Weisungserfüllung kontraproduktiv
nensystem eingefügt. Zu erwähnen ist hier an erster kurz ist. Deshalb wird im Verlauf der parlamentarischen
Stelle die Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Seit Jahr- Beratungen zu prüfen sein, ob es sich nicht anbietet, die
zehnten wird über eine Generalrevision diskutiert, es Frist von sechs Monaten generell auf ein Jahr anzuhe-
gibt viele Vorschläge – nur leider liegen sie nicht auf ben. Für die Weisung, Unterhaltsverpflichtungen nach-
dem Tisch, sondern in den Schubladen des Justizministe- zukommen, ist dies bereits jetzt geltendes Recht.
riums und der Rechtspolitik. Auch in Fällen der Weisung der Wiedergutmachung
des verursachten Schadens oder der Zahlung eines
Die rot-grüne Koalition hat zweimal – 2002 und 2004 –
Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung in Ra-
Gesetzentwürfe vorgelegt, die letztlich am Widerstand
ten sind viele Beschuldigte überfordert, die jeweiligen
der Union, der Länder und einer zaudernden SPD ge- Weisungen innerhalb von sechs Monaten zu erfüllen.
scheitert sind. Die damalige Kritik aus den Reihen der Unter Umständen würde eine solche generelle Verlänge-
CDU/CSU, alle Ansätze zur Diversion würden auf eine rung der Frist auf ein Jahr ausreichend sein, um der
Straflosigkeit von Straftätern und auf ein täterfreundli- Forderung des Bundesrates nach einer Ausweitung der
ches Strafrecht hinauslaufen, wird – so hoffe ich – heute Weisung nachzukommen.
nicht mehr so vorgetragen werden. Zu klar und deutlich
ist inzwischen, dass entpönalisierende Maßnahmen sehr Wenn allerdings eine ausdrückliche Erwähnung der
wohl eine messbare spezial- und generalpräventive Wir- Weisung im § 153 a StPO in Betracht gezogen wird, um
kung haben können und einen Beitrag zum zukünftigen ihre gewollte erweiterte Verhängung deutlich zu ma-
Opferschutz leisten. Auch die Bundesländer sehen – hof- chen, dann ist jedenfalls der Auffassung der Bundesre-
fentlich – inzwischen ein, dass die Kosten der Diversion gierung zu folgen, wonach es sich verbietet, Beschul-
sich doppelt auszahlen, denn nichts ist teurer als die digte ohne eine rechtskräftige Verurteilung als „Täter“
Geldeintreibung und der Strafvollzug als einzige Ant- zu bezeichnen. Auch die Formulierung des Bundesrates,
worten des Strafrechts auf strafwürdiges Verhalten. den Begriff „Täterprogramm“ zu verwenden, engt die
Möglichkeiten der Nutzung dieser Weisung eher ein.
Der heute zu diskutierende Vorschlag des Bundes- Denn dieser Begriff ist für Männer, die im häuslichen
rates geht in die richtige Richtung. Allerdings ist das nur Umfeld gewalttätig werden, eingeführt. Deshalb wird
(B) eine minimale Korrektur oder, besser gesagt, Ergänzung auch im Rahmen von § 59 a StGB eine ähnliche Formu- (D)
des Sanktionensystems, was ein weiteres Nachdenken lierung, wie sie schon im Jugendstrafrecht vorliegt, vor-
und Arbeiten an einer Reform des Sanktionensystems zuziehen sein.
nicht ersetzen kann. Aber immerhin: Damit signalisieren Wir Grüne werden uns an der parlamentarischen De-
auch die Länder, dass sie den Elementen der Diversion batte mit eigenen Vorschlägen beteiligen und erwarten
nicht mehr apodiktisch negativ entgegenstehen. von der Koalition, insbesondere von der Fraktion der
In der Sache geht es darum, ein aus dem Bereich der CDU/CSU, dass der Vorschlag des Bundesrates kon-
Verfolgung von häuslicher Gewalt entwickeltes Instru- struktiv aufgenommen wird.
ment der Einwirkung auf gewalttätige Männer zu einer
allgemeinen Maßnahme im Sanktionensystem zu etablie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ren. Konkret geht es um sogenannte Täterprogramme, Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
die von der Bundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit wurfs auf Drucksache 17/1466 an die in der Tagesord-
Häusliche Gewalt“ entwickelt und mit Erfolg eingesetzt nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
werden. Diese Täterprogramme sind ein gewaltzentrier- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
tes und konfrontatives Unterstützungs- und Beratungs- sung so beschlossen.
angebot zur Verhaltensänderung für gewalttätige Män-
ner, bei dem vielfältige pädagogisch-therapeutische Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Ansätze, Konzeptionen und Methoden verfolgt werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Solche Programme als Ersatz oder Vorstufe zur Geld- Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
oder Freiheitsstrafe sind richtige und längst notwendige Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Sanktionsmaßnahmen eines modernen Strafrechts. In DIE LINKE
der Sache ähneln sie sicher den bereits im Jugendstraf-
recht eingeführten „sozialen Trainingskursen“ als Wei- Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen –
sungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG. Ursachen bekämpfen
Der Bundesrat schlägt vor, solche Täterprogramme – Drucksache 17/5377 –
ausdrücklich als Weisungen in Fällen der Einstellung ei- Überweisungsvorschlag:
nes Strafverfahrens nach § 153 a StPO und als Anwei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
sungen bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt nach Verbraucherschutz (f)
§§ 59, 59 a StGB aufzuführen und dabei die Frist zur Er- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
füllung der Weisung nach § 153 a StPO auf ein Jahr zu
verlängern. Die Reden nehmen wir zu Protokoll.
11774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergan- (C)
Erst vor drei Wochen haben wir über das Thema Dio- gen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene
xin debattiert. Nun liegt heute ein Antrag der Linken vor, Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde
der sich des Themas erneut annimmt. Doch neu ge- dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundes-
schrieben ist nicht neu gedacht, werte Kolleginnen und institut für Risikobewertung die wenigen geringen
Kollegen von der Linken. Aber gern lege ich Ihnen noch Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebens-
einmal die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich ein-
zu den Dioxinvorfällen dar: gestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass
die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland – gut
Im vergangenen Jahr, genauer: am 21. Dezember, zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Mutter-
drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastun- milch – seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen ist und
gen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Ja- heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten liegt.
nuar – nur 24 Tage später – stellte Bundesagrarministe-
rin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie be-
Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am treiben politischen Missbrauch auf dem Rücken der Ver-
2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen braucher mit dem Ziel, Ihre sogenannte ökologische
zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetzli- Agrarwende zu erreichen.
che Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans.
Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ers- Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus:
ten Dioxinmeldungen! Ich wiederhole: anderthalb Mo- Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Land-
nate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung wirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in die-
kennt, der weiß, was dieser Zeitraum bedeutet. ser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD
und Linke eigentlich sind.
Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wie-
der einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie De facto ist es doch so: Die moderne, arbeitsteilige
und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untä- und intensive Landwirtschaft ist dafür verantwortlich,
tigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein dass die Menschen heute nur 11 Prozent ihres Einkom-
Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere mens für Lebensmittel ausgeben müssen. Die moderne
Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert. Landwirtschaft ist unter anderem dafür verantwortlich,
CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert. Das ist ver- dass die Lebensmittel heute qualitativ so hochwertig
antwortungsvoller Verbraucherschutz! sind wie nie zuvor. Die moderne Landwirtschaft produ-
Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal ziert für die Verbraucher Lebensmittel gut und preis-
(B) wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die wert. Das nenne ich wirklich nachhaltig! Verschonen Sie (D)
Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese uns also bitte mit Ihrem Gerede von der Agrarwende!
sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in
Niemand will die Situation schönreden. Es hat die
der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein di-
Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben.
ckeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregie-
Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminel-
rung kann ich mir kaum vorstellen.
len Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um indivi-
Bevor ich zu der heute in erster Lesung zu beratenden duelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswir-
Novelle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches kungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende
komme, lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den bäuerliche Familien.
Dioxinvorfällen sagen. Ich denke, das ist, auch wenn wir
darüber schon debattiert haben, bitter nötig. Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkom-
men als Folge der Dioxinpanscherei lassen sich schon an
Die Rolle, die die Opposition und ein Teil der Medien den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den ver-
hier gespielt haben, war höchst verantwortungslos. An- gangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte
statt zur sachlich-fachlichen Aufklärung beizutragen, deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Ge-
überschlug man sich in immer hysterischeren Über- flügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt
schriften. Und während der Agrarausschuss des Deut- sich, was von der von der Opposition propagierten öko-
schen Bundestages die Vorfälle um das dioxinver- logischen Systemwende und den darin verborgenen An-
schmutzte Futtermittel diskutierte, hatte die Opposition schuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden
nichts Besseres zu tun, als den Sitzungssaal zu verlassen Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und
und der Presse angebliche neue Skandale in die Feder ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter!
zu diktieren. Wir hätten uns eine konstruktive Zusam-
menarbeit mit der Opposition gewünscht. Doch von die- Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die
ser kam, wie so häufig in der Vergangenheit, nur ein de- Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die
struktives Skandalisieren. Ihr Antrag spiegelt diese intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft.
oppositionelle Unsachlichkeit beispielhaft wider – und Wir müssen vorwärtsschauen und vorwärtshandeln. Was
das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition wir, was die Bundesregierung und – das darf nicht ver-
scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher gessen werden – was auch die EU plant, sind Maßnah-
zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben. men, um Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion
Dann kann man eigene politische Ziele am besten um- so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher
setzen. für Betrüger noch kleiner werden.
(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Warum also dieser Antrag? Ganz klar, Sie möchten (C)
Wir sind sehr dafür, Lehren aus dem Dioxinvorfall zu gar nicht in der Sache weiterkommen. Ihr Antrag soll
ziehen, und wir haben dies längst getan. Der Antrag suggerieren, dass unsere Lebensmittel nicht sicher
kommt also zu spät. seien. Das trifft nicht zu. Mit Ihren unrealistischen For-
derungen verunsichern Sie Konsumenten und Produzen-
Als Erstes sollten wir uns bewusst sein, dass die Ur- ten, vertreiben Unternehmen ins Ausland, verteuern die
sache des Dioxinvorfalls nach bisheriger Kenntnis auf Produktion in Deutschland und schaden letztendlich
kriminelles Handeln zurückzuführen ist. Das bewusste dem Verbraucher mehr, statt ihn zu stärken.
Fehlverhalten des Betriebes hat zu dem überhöhten Ge-
Sie bedienen die Sorgen und Ängste der Verbrauche-
halt an Dioxin in Fettsäuren geführt, die Futtermischun-
rinnen und Verbraucher, statt ihnen Orientierung zu ge-
gen beigemengt und verfüttert wurden. Für Schweine
ben. Gefährdungen durch Lebensmittel passieren zu-
und Geflügel ist das Beimengen von Futterfetten zum
meist dann, wenn Hygienevorschriften nicht beachtet
Getreidefutter für eine gesunde Ernährung wichtig. Ge-
werden. Letztes Jahr sind Menschen an mit Listerien
gen bewusstes Fehlverhalten helfen keine Gesetze. Die kontaminiertem Käse gestorben, in diesem Jahr wurde
Erwartung, dass es nie wieder einen Dioxinfall geben wiederum in Nordrhein-Westfalen vor Käse gewarnt, der
wird, geht ins Leere. mit Listerien belastet war. Die Thematisierung von
Die intensive Beschäftigung mit Dioxin hat auch Schadstoffen verursacht eine verzerrte Risikowahrneh-
deutlich gemacht, dass in den letzten 20 Jahren viel er- mung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
reicht wurde: Die Hintergrundbelastung mit dem Um- Gemeinsam sind jetzt der Bund und die Länder in der
weltgift Dioxin ist auf ein Drittel gesunken. Das ist ein Pflicht, entsprechend dem 14-Punkte-Programm „Unbe-
großer Erfolg. Er wurde erzielt durch eine bessere Fil- denkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Transpa-
tertechnik, durch eine verbesserte Steuerung von Ver- renz für den Verbraucher“, dem alle zugestimmt haben,
brennungsprozessen. Dennoch müssen wir den Men- zu handeln. Dabei gilt es, mit Augenmaß zu handeln,
schen sagen, dass Dioxine vorhanden sind, die sich nur keine bürokratischen Monster zu errichten und nicht Da-
langsam abbauen, und dass immer wieder auch neue tenmengen anzuhäufen, die niemand überblicken kann.
entstehen. Durch die im Januar aufgefundenen erhöhten Wir wollen Transparenz, und wir wollen gleichfalls, dass
Gehalte von Dioxinen in Tierfutter sowie auch in tieri- die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum Nut-
schen Produkten wurde zu keinem Zeitpunkt die Gesund- zen stehen.
heit der Bürgerinnen und Bürger gefährdet.
Eines zum Schluss: Bei aller Pflicht zur Vorsorge, wir
Opfer des Dioxinvorfalls sind insbesondere kleinere dürfen unsere Verantwortung für die eigentlich Geschä-
(B) landwirtschaftliche Betriebe, die das Futter für ihre Tiere digten, die Landwirte der gesperrten Betriebe, welche (D)
selbst mischen. Wer den Dioxinvorfall jetzt noch thema- ohne eigenes Verschulden in existenzielle Notlage gera-
tisiert, nachdem die Bundesregierung ihr 14-Punkte- ten sind, nicht vergessen.
Programm beschlossen und auf den Weg gebracht hat
– die Gesetzesberatung beginnt nächste Woche –, hat da- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
her kaum den Schutz der Verbraucherinnen und Verbrau-
Agrarpolitik könnte so schön sein: Wiesen, Wälder
cher im Auge, sondern will denen schaden, die bisher
und Traktoren. Das sind Themen, mit welchen ich mich
schon unter dem Vorfall am meisten gelitten haben: die
gerne beschäftigen würde. Stattdessen müssen die Mit-
landwirtschaftlichen Betriebe.
glieder des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, dafür und Verbraucherschutz, ELV, in regelmäßigen Abstän-
zu sorgen, dass Fehlverhalten erschwert, Verstöße den Skandale aufarbeiten. Erinnern wir uns an BSE
schneller entdeckt werden. Deshalb soll eine Zulas- oder die Berge von brennenden Tierkadavern in der
sungspflicht für alle Betriebe eingeführt werden sowie MKS-Krise oder ans Gammelfleisch oder eben an den
eine Trennung der Produktionsströme von Fettsäuren, Futtermittelskandal Anfang des Jahres 2011: Kaum war
die für Futtermittel verwendet werden sollen, und denen, die letzte Silvesterrakete explodiert, platzte die Dioxin-
die technisch verwendet werden. Wir wollen eine Positiv- Bombe!
liste für Futtermittel. Die Betriebe werden verpflichtet, Illegale Panscherei in der Futtermittelindustrie er-
ihr Haftungsrisiko abzusichern. Wir brauchen verbindli- schütterte das politische Berlin. Belastetes Industriefett
che Vorgaben für Eigenkontrollen, eine Meldepflicht bei war mindestens über Monate hinweg ins Tierfutter ge-
Gefahr, die Absicherung der Rückverfolgbarkeit. Bund mischt worden, und keiner hatte es gemerkt. Das hoch-
und Länder müssen zusammenarbeiten, um Qualitäts- gelobte QS-Prüfsystem – unter Renate Künast als All-
managementsysteme flächendeckend zu evaluieren, eine heilmittel eingeführt – hat dieses kriminelle Handeln
verbesserte risikoorientierte Futtermittelkontrolle auf nicht eindämmen können. – Das ist die eine Schwach-
den Weg zu bringen und ein Dioxinmonitoring zu instal- stelle im System.
lieren.
Die andere ergibt sich aus der hochriskanten Art und
Bereits am kommenden Montag findet die Anhörung Weise, wie heutzutage Futtermittel hergestellt werden.
des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Das Risiko ergibt sich zunächst aus der offensichtlich
Verbraucherschutz zum Gesetz zur Änderung des Le- kriminellen Motivation einiger Manager zur Profitmaxi-
bens- und Futtermittelgesetzbuches statt. mierung durch Kostenminimierung bei Rohstoffen, oft
Was fehlt, sind die politischen Konsequenzen aus der Wir sagen: Die Agrarwende in die Zukunft muss kom-
Dioxinkrise. „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – men, und die Zeichen in Brüssel stehen nicht schlecht.
Ursachen bekämpfen“ lautet die Überschrift des hier Die EU-Agrarreform wird zeigen, ob Ilse Aigner am
debattierten Antrags der Linken. Genau daran mangelt Ende als Reformerin oder als Requisite des Bauernver-
es nach wie vor, und auch der Antrag der Linken hat bands dastehen wird.
dazu nicht viel anzubieten. Im Antrag der Linken fehlt,
was die Bundesregierung von Anfang an versäumt hat: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die politischen Konsequenzen aus dem Dioxinskandal zu
ziehen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5377 an die in der Tagesordnung aufge-
Der politische Skandal im Dioxinskandal ist doch führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
nicht der Mangel an technischen und juristischen Nach- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11779
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: bände, Kammern und Vereinigungen sowie in Fragen (C)
der Stadtentwicklungspolitik fachlich profilierte Einzel-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina persönlichkeiten. Die Bundesregierung hat bei den Ver-
Herlitzius, Monika Lazar, Winfried Hermann, bänden und Kammern keinen Einfluss auf die Benennung
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
der Vertreter. Gegenwärtig sind 10 von 42 Mitgliedern
NIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen.
Frauenquote bei Gremienbesetzungen durch
das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Der Anteil der Frauen an dem unabhängigen Fach-
Stadtentwicklung konsequent einhalten gutachtergremium zur Beurteilung der eingegangenen
Interessenbekundungen für die zweite Förderrunde im
– Drucksache 17/5257 – Rahmen des ESF-Bundesprogramm „Soziale Stadt –
Überweisungsvorschlag: Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“ be-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) trägt 53 Prozent. Die Forderung ist daher hier bereits
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erfüllt. Zudem mussten alle Gutachterinnen und Gutach-
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll. ter ihre spezifischen Kompetenzen im Bereich der
Gleichstellung darlegen. Darüber hinaus berücksichtigt
die im Rahmen der zweiten Förderrunde überarbeitete
Patrick Schnieder (CDU/CSU): Förderrichtlinie zum Programm BIWAQ den Gleichstel-
Zunächst möchte ich feststellen: Die Bundesregie- lungsaspekt umfassend. So wird die Chancengleichheit
rung ist bei der Berufung und Entsendung von Frauen in von Frauen und Männern im Zuge aller verfahrensbezo-
Gremien ein gutes Stück vorangekommen. Dies belegt genen, fachpolitischen und zielgruppenspezifischen Ak-
der Fünfte Gremienbericht für den Zeitraum 30. Juni tivitäten besonders berücksichtigt. Zudem wird analog
2005 bis 30. Juni 2009. Wir wollen aber hier nicht ste- zum Operationellen Programm des Bundes für den ESF
hen bleiben. Denn trotz erheblicher Fortschritte ist eine – die Gesamtkoordination aller ESF-Bundesprogramme
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in
liegt übrigens beim BMAS – angestrebt, Frauen und
Gremien noch nicht gegeben.
Männer zu jeweils 50 Prozent an den Projektteilnahmen
Um weitere Verbesserungen zu erreichen, will die und am Budget zu fördern.
Bundesregierung das Bundesgremienbesetzungsgesetz
novellieren. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen Die Forderung, dass bei der Benennung von Mitglie-
und Männern ist Ziel dieses Gesetzes. Eine starre Frau- dern für projektgebundene Fachjurys, Arbeits- und Aus-
enquote – wie in Norwegen – sieht das Gesetz für die wahlgremien durch das BMVBS mindestens zur Hälfte
(B) Gremien des Bundes nicht vor. Das Bundesministerium Frauen zu berücksichtigen sind, ist bereits erfüllt. Ge- (D)
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat bei seinen mäß den §§ 1 und 2 Bundesgremienbesetzungsgesetz
Gremienbesetzungen aber bereits jetzt versucht, darauf unterliegen grundsätzlich alle Gremien im Einflussbe-
hinzuwirken, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von reich des Bundes dem Bundesgremienbesetzungsgesetz.
Frauen und Männern in Gremien geschaffen und erhal- Für diese Gremien gilt das Ziel einer gleichberechtigten
ten wird. Teilhabe von Frauen und Männern.
Das BMVBS hat im Gleichstellungsplan für die Jahre Zudem will die Bundesregierung prüfen, welche Me-
2010 bis 2013 eine ganze Reihe von Maßnahmen festge- chanismen geeignet sind, um die Umsetzung des Geset-
halten. Nach dem Bundesgremienbesetzungsgesetz ist zesziels in den vom Geltungsbereich betroffenen wesent-
jede vorschlagsberechtigte Stelle bei der Besetzung von lichen Gremien transparenter zu machen und zu kon-
Gremien im Bundesbereich grundsätzlich verpflichtet, trollieren.
für jeden ihr zustehenden Gremiensitz jeweils eine Frau
und einen Mann gleicher Eignung zu benennen. Die Eine Verpflichtung zur Erstellung und Führung einer
Verpflichtung zur Doppelbenennung entfällt nur in eini- Liste aller Gremien sieht das Bundesgremienbeset-
gen Ausnahmefällen; die Gründe hierfür müssen schrift- zungsgesetz nicht vor. Der Fünfte Gremienbericht der
lich angegeben werden. Das jeweils zuständige Fachre- Bundesregierung empfiehlt in seinen Schlussfolgerun-
ferat bemüht sich darum, Frauen für Gremienfunktionen gen jedoch, dass künftig „in allen Ressorts an zentraler
zu gewinnen. Der alleinige Hinweis auf die Beachtung Stelle Listen aller Gremien geführt werden, die unter
der Vorschriften des Gremienbesetzungsgesetzes reicht den Anwendungsbereich des Bundesgremienbesetzungs-
nicht aus. Die Gleichstellungsbeauftragte ist bei den gesetzes fallen“. Dies beträfe damit auch das BMVBS.
Gremienbesetzungen zu beteiligen. Im Rahmen einer Ressortarbeitsgruppe soll unter Fe-
Die im Antrag angesprochenen Gremien muss man derführung des Bundesfamilienministeriums darüber hi-
differenziert betrachten. naus eine Liste mit allen wesentlichen Gremien erstellt
werden.
Das Kuratorium Nationale Stadtentwicklungspolitik
zielt auf eine breite Verankerung der nationalen Stadt- Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Antrag
entwicklungspolitik in der Fachöffentlichkeit. Mitglie- der Grünen ist in der Sache nicht falsch, er ist gut ge-
der sind: die Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Baumi- meint, aber er ist überflüssig, denn die Bundesregierung
nisterkonferenz, die kommunalen Spitzenverbände, die hat alle genannten Forderungen längst schon erfüllt
für die Belange der Stadtentwicklung relevanten Ver- bzw. auf den Weg gebracht.
11780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Christel Humme (SPD): sonderer Bedeutung: Die Novellierung muss dazu bei- (C)
Das Thema Frauenquote in der Wirtschaft wird zur- tragen, dass die Gremienbesetzung transparent gestaltet
zeit intensiv diskutiert. Wir Sozialdemokratinnen und So- wird, dass es verbindliche Zielvorgaben gibt – auch hier
zialdemokraten fordern mindestens 40 Prozent für Auf- fordern wir 40 Prozent –, wie in der Wirtschaft, und dass
sichtsräte und Vorstände. Das muss aber auch für die Kontroll- und Sanktionsmechanismen eingeführt wer-
Gremien des Bundes gelten. Werfen wir doch einmal ei- den, weil sonst alle Vorgaben nichts weiter als ein zahn-
nen Blick in die Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn loser Tiger bleiben. Dabei ist es natürlich wichtig, dass
AG: Der Bund hat in den meisten Fällen keine einzige die Forderungen zur Novellierung des Gremienbeset-
Frau in den Aufsichtsrat entsandt. Das ist nicht hinnehm- zungsgesetzes nicht nur für das Verkehrsministerium,
bar. Wir können nicht auf der einen Seite die Wirtschaft sondern für alle Bundesministerien gelten.
auffordern, mehr für Frauen in Führungspositionen zu
tun, und auf der anderen Seite bei Gremienbesetzungen, Auch aus Europa kommt immer mehr Druck, den
die im Einflussbereich des Bundes liegen, untätig blei- Blick auf die Frauenförderung zu erweitern: Mithilfe ei-
ben. Das nimmt uns doch keiner ab! ner Frauenquote soll endlich mehr Geschlechtergerech-
tigkeit in Aufsichtsräten erreicht werden. Auch die EU
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz hat zwar zu hat es begriffen. An der Quote führt kein Weg vorbei –
kleinen Erfolgen geführt – der Frauenanteil in den Gre- nicht in der Wirtschaft und auch nicht im Bund.
mien des Bundes ist im Jahr 2009 auf 24,5 Prozent ge-
stiegen –, jedoch verläuft die Entwicklung zu langsam. Petra Müller (Aachen) (FDP):
Das geht auch aus dem Fünften Gremienbericht der
Bundesregierung zum Bundesgremienbesetzungsgesetz Die Forderung, den Frauenanteil zu heben – ob in
hervor: „15 Jahre nach Verabschiedung des BGremBG Gremien des Bundes oder in der Wirtschaft, ob in Ver-
liegt das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe von waltungen oder öffentlichen Ämtern –, diese Forderung
Frauen und Männern noch immer in weiter Ferne. Ge- ist gesamtgesellschaftlich richtig und erhält die volle
rade einmal jede vierte Gremienposition ist mit einer Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Dass hier
Frau besetzt. Gut jedes zehnte Gremium ist weiterhin in den zurückliegenden 14 Jahren seit Bestehen des Bun-
rein männlich.“ (Seite 34) desgremienbesetzungsgesetzes, BGremBG, auch in die-
sem speziellen Bereich zu wenig passiert ist und die An-
Dieses Gesetz ist zwar gut gemeint, aber die geringen hebung des Frauenanteils von anfänglich 12,4 Prozent
Fortschritte machen deutlich, dass das Gesetz viel zu im Jahre 1997 auf heute 24,5 Prozent bei Weitem nicht
schwach ist. Es fehlen verbindliche Zielgrößen, Kon- befriedigen kann, ist richtig. Trotzdem bietet das Gesetz
troll- und Sanktionsmechanismen. Hier muss dringend in seiner Zielstellung, den Bund und andere an der Be-
nachgebessert werden. Ansonsten können wir uns in den setzung von Gremien Beteiligte anzuhalten, auf eine
(B) (D)
nächsten fünf Jahren wieder nur über einen Zuwachs gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
von knapp 5 Prozent freuen. Angesichts der vielen gut hinzuwirken, eine solide und konsistente Grundlage zur
ausgebildeten Frauen in unserem Land ist das ein Hohn. Umsetzung dieser Forderung, die es weiterzuentwickeln
Wir vergeuden wichtige Potenziale. gilt.
Besonders deutlich werden diese Defizite am Beispiel Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung zum
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent- BGremBG aus dem Jahre 2010, den Sie als Beleg für Ih-
wicklung. Das Verkehrsministerium hat den drittgrößten ren Antrag heranziehen, kommt selbst zu den Ergebnis,
Anteil an Gremien aller Ressorts, belegt jedoch mit ei- dass weder die gesetzlichen Rahmenvorgaben noch die
ner Frauenbeteiligung von 17 Prozent einen der hinters- bisher erzielten Resultate bei der Förderung der gleich-
ten Ränge. berechtigten Teilhabe von Frauen ausreichend sind. Die
Ebenso traurig sieht es beim Frauenanteil in Lei- Bundesregierung kommt daher auf Seite 36 ihres Be-
tungsfunktionen aus: Mit einem Frauenanteil von nur richts zu der Schlussfolgerung, dass eine gesetzliche No-
20 Prozent belegt das Verkehrsministerium innerhalb vellierung notwendig sei. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe
der obersten Bundesbehörden einen der hintersten Ränge. Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
Alle fünf Staatssekretärsposten sind fest in Männerhand, präzisiert die Bundesregierung jedoch diese Forderung
und unter den neun Abteilungsleitern ist nur eine Frau. und füllt sie mit einer Reihe konkreter Vorschläge. Hier
Hier liegt einiges im Argen. bleibt es nicht nur bei einer rituellen Handlung, die
christlich-liberale Koalition macht Nägel mit Köpfen:
Die Unterrepräsentanz von Frauen in leitenden Präzisierung der Zielbestimmung in § 1 des BGremBG,
Funktionen setzt sich in den Gremien fort. Forcieren einer möglichst flächendeckenden Umsetzung
der gleichberechtigten Teilhabe sowie klare Identifizier-
Wo keine Frauen in den unteren Ebenen sind, können
barkeit der Gremien, auf die die gesetzlichen Regelun-
nur schwer welche in den Gremien sein. Andersherum
gen Anwendung finden. Das meint das Führen von Gre-
gilt auch: Fehlen Frauen in den Gremien, so fehlen auch
mienlisten. Weiterhin wird auch das von Ihnen kritisierte
die Vorbilder und der Druck, in den unteren Ebenen – an
Doppelbenennungsverfahren als ineffizient moniert,
den Strukturen – etwas zu verändern. Daher sind wir So-
ebenso wie das Reißverschlussverfahren. Stattdessen
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch hier für
empfiehlt die Bundesregierung, auf komplizierte Verfah-
eine verbindliche Quote von 40 Prozent.
rensregelungen zu verzichten und Neuregelungen durch
Das Bundesgremienbesetzungsgesetz muss dringend Kontrollmechanismen zu flankieren. Schließlich solle im
novelliert werden. Dabei sind folgende Punkte von be- Zuge einer solchen Novellierung die Zusammenlegung
Sabine Leidig
(A) sichtsratsmitglied Großmann ihn massiv gedrängt hat, quent in allen Gremien, Aufsichtsräten und Jurys gleich- (C)
diese Position zu beziehen. berechtigt vertreten sind. Denn eine Mitwirkung in
Gremien beinhaltet die Möglichkeit, wichtige politische
Angesichts des atomaren Super-GAU in Fukushima sowie fachliche Entscheidungen zu beeinflussen. Der
und der aktuellen Energiedebatte wäre es ein doppelt Frauenanteil in Gremien ist insgesamt ein guter Indika-
gutes Signal, jetzt beim Bahnaufsichtsrat mit den kon- tor für die Teilhabe von Frauen an gesellschaftlichen
kreten Taten zu beginnen, die den Reden und der Besorg- Entscheidungsprozessen und für praktizierte Gleichstel-
nis der Bundesregierung folgen müssen. lung.
Anstelle der Atom- und Kohlerepräsentanten könnten Der Fünfte Gremienbericht der Bundesregierung be-
Vertreterinnen von Umweltverbänden in den Bahnauf- stätigt: Es bleibt viel zu tun. Das Bundesgremienbeset-
sichtsrat. Wir brauchen dort qualifizierte und profilierte zungsgesetz muss dringend novelliert und effektiver
Frauen, die dazu beitragen, die Bahn auf besseren Kurs gestaltet werden. Transparente und einheitliche Gre-
zu bringen. mienbesetzungsverfahren sowie die Führung von voll-
ständigen Gremienlisten in den Ministerien – ich schaue
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hier insbesondere auf das BMVBS – wären ein erster
Seit nunmehr 15 Jahren ist in der Bundesrepublik das und wichtiger Schritt, um der Unterrepräsentanz von
Bundesgremienbesetzungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz Frauen in Gremien, Fachjurys und Aufsichtsräten ent-
soll die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gre- gegenzuwirken – und ein längst überfälliges Signal für
mien sicherstellen. Das damals verfolgte Ziel, nämlich praktizierte Gleichstellung.
die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern
bei Gremienbesetzungen im Einflussbereich des Bundes, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist jedoch noch immer in weiter Ferne. Während der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
durchschnittliche Frauenanteil in Gremien im Einfluss- Drucksache 17/5257 an die in der Tagesordnung aufge-
bereich des Bundes bei 24,5 Prozent liegt, verzeichnet führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
der Bericht im Geschäftsbereich des Bundesministe- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.
riums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen
Frauenanteil von nur 17 Prozent – und das, obwohl der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
sich gerne als Frauenförderer sehen möchte. Herr Korte, Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, wei-
Minister, Frauen sind im Zuständigkeitsbereich des Bun- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(B) in wichtigen Zukunftsfeldern – und das geht weit über Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten – (D)
die Gremienbesetzungen hinaus – noch immer erheblich Kormoranmanagement einführen
unterrepräsentiert. – Drucksache 17/5378 –
Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen De- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
batte um die Frauenquote in Aufsichtsräten ist die ge- Verbraucherschutz (f)
schlechterparitätische Besetzung von Gremien im Ein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
flussbereich des Bundes von besonderer Relevanz. Der Ausschuss für Tourismus
Bund sollte in puncto Frauenförderung mit gutem Bei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
spiel vorangehen. Wir fordern Sie deshalb auf, die Auch diese Reden werden zu Protokoll genommen.
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Gremien,
Kommissionen, Fachjurys und Aufsichtsräten konse-
quent sicherzustellen. Dieses Anliegen ist kein Selbst- Carola Stauche (CDU/CSU):
läufer, das erfordert schon einige Bemühungen. Wir beschäftigen uns heute auf Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Kormoran, besser gesagt: mit der
Noch immer ist etwa jedes zehnte Gremium rein Forderung, ein Kormoranmanagement einzuführen. Für
männlich besetzt. Das Bundesministerium für Verkehr, dieses Vorgehen spricht sehr viel; die Gründe wurden
Bau und Stadtentwicklung führt zum Beispiel die im Zu- von den Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag ge-
ständigkeitsbereich des BMVBS gegebene erhebliche nannt. Auch wir, das heißt die Koalitionsfraktionen von
Unterrepräsentanz von Frauen in Gremien und in Füh- CDU/CSU und FDP, fordern ein solches Kormoran-
rungspositionen auf die überwiegend technisch-natur- management. Wir lehnen jedoch den vorliegenden An-
wissenschaftliche Ausrichtung des BMVBS zurück. trag ab.
Dabei belegt der aktuelle Bundesgremienbesetzungsbe-
richt, dass Ministerien auch bei technisch-naturwissen- Das geschieht nicht, wie im Antrag behauptet, auf-
schaftlicher Ausrichtung die paritätische Besetzung von grund eines Abschiebens von Verantwortung in Richtung
Gremien sicherstellen könnten, wenn der entsprechende Europa. Es ist vor allem kein Votum gegen ein Kormo-
politische Wille vorhanden ist. ranmanagement, wie es ebenfalls im Antrag zu lesen ist.
Vielmehr ist es Ausdruck von verantwortungsbewusster
Wir fordern in unserem Antrag daher insbesondere Politik. Auch in unseren Fraktionen steht ein bundesein-
das BMVBS auf, zukunftsorientierte Politik – weg von heitliches Kormoranmanagement weit oben auf der
den männlich dominierten Strukturen in Gremien – zu Agenda. Beim Lesen Ihres Antrages konnte ich erken-
machen und dafür Sorge zu tragen, dass Frauen konse- nen, dass Sie das auch wissen. Die Kolleginnen und Kol-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11783
Carola Stauche
(A) legen der FDP-Fraktion haben ja einen ähnlich lauten- und schnelles politisches Handeln einer Koalition in Re- (C)
den Antrag bereits im Jahr 2006 gestellt. gierungsverantwortung erforderten. Themen wie die eu-
ropäische Finanzkrise, der Dioxinskandal oder nicht zu-
Bevor entsprechende Einwände kommen – ja, ich letzt die dramatischen Ereignisse in Japan haben viel
weiß, auch meine Fraktion hat diesen Antrag damals ab- Raum im politischen Geschäft der letzten zehn Monate
gelehnt. Das wurde mit den Verweisen auf die verschie- eingenommen. Das hat dazu geführt, dass wichtige The-
denen Zuständigkeiten bei den gestellten Forderungen men, wie beispielsweise das Kormoranmanagement, zu-
begründet. Auch Ihr Antrag ist alleine aus Zuständig- rückgestellt werden mussten.
keitsgründen abzulehnen. Anträge auf finanzielle Förde-
rung müssen die Bundesländer bei der Europäischen Ich möchte es abschließend noch einmal wiederho-
Union einreichen, und die einheitlichen Maßgaben zur len: Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Ermittlung der Schäden müssen diese ebenfalls – zum Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vo-
Beispiel im Rahmen der Agrarministerkonferenz – fest- gelschutz oder der Tierschutz allgemein. Wir lehnen den
legen. Das BMELV kann und sollte – unserer Meinung gestellten Antrag der Linken ab, sprechen uns aber für
nach – solche Abspracheprozesse natürlich moderierend ein bundeseinheitliches Kormoranmanagement aus. Die
begleiten. Ausgestaltung eines solchen muss aber an die Realität
angepasst werden.
Für die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat der
Fischartenschutz den gleichen Stellenwert wie der Vo-
gelschutz oder der Tierschutz allgemein. Die Koalitions- Holger Ortel (SPD):
fraktionen haben deshalb bereits einen eigenen Antrag „Der Artenschutz darf nicht an der Wasseroberfläche
zu diesem Thema vorbereitet, da uns die Notwendigkeit aufhören“ – unter dieses Motto möchte ich meine Rede
eines bundeseinheitlichen Kormoranmanagements be- stellen. Beim Artenschutz an Land gibt es viele Erfolgs-
wusst ist. Gerade Frau Dr. Happach-Kasan bringt die- geschichten zu erzählen. Eine dieser Geschichten han-
ses Anliegen seit Jahren positiv voran, und auch unser delt vom Kormoran. Aber das Thema Artenschutz unter-
Koalitionsvertrag beinhaltet auf Seite 49 eine Passage halb der Wasseroberfläche ist keine Erfolgsgeschichte –
zum Thema Kormoranmanagement. bislang. Es gibt einige bedrohte Fischarten, und es gibt
für diese Fischarten Artenschutzprogramme. Aber diese
Sie sehen also, dass gerade wir als Koalition dieses
Artenschutzprogramme drohen zu scheitern.
Thema vorangetrieben haben, und zwar nicht mit abge-
kupferten Anträgen wie Sie, sondern mit Gesprächen Der Rückgang einzelner Fischbestände hat vielfältige
hinter den Kulissen. Wir freuen uns deshalb natürlich, Gründe. Die fehlende Durchgängigkeit der Gewässer
wenn Sie zu ähnlichen Schlüssen kommen wie wir. und der teilweise noch schlechte ökologische Zustand
(B)
Dass es Ähnlichkeiten zwischen dem, was Sie wollen, der Gewässer sind zwei dieser Gründe. Ein weiterer we- (D)
und dem, was wir wollen, gibt, soll jedoch nicht über sentlicher Grund ist nach meiner Auffassung der Kor-
grundlegende Unterschiede hinwegtäuschen. So legen moran. Auch in meiner Fraktion gibt es unterschiedliche
wir uns bei der Bestandsregulierung nicht auf eine Form Auffassungen zu diesem Thema. Ich möchte meine Sicht
der Regulierung fest, wie Sie das mit der Regulierung der Dinge hier kurz darstellen: Um den Kormoran stand
der Reproduktion erreichen wollen. Hier muss genau be- es Anfang der 1980er-Jahre schlecht. Deshalb wurde er
obachtet werden, welche Maßnahmen in welcher Region auch unter Schutz gestellt. Aber mittlerweile geht es dem
helfen und welche eben nicht. In Dänemark wurden Kor- Kormoran nicht mehr schlecht. Es geht ihm so gut, dass
morane beispielsweise beim Brüten durch grelles Licht es mittlerweile allein in Deutschland rund 140 000 Kor-
gestört. Diese haben ihre Brutplätze verlassen, die Eier morane gibt. In Europa sind es gar rund 2 000 000 Kor-
sind ausgekühlt, und der Kormoranbestand wurde regu- morane. Wegen dieser positiven Bestandsentwicklung
liert. Dieses Vorgehen hatte in Baden-Württemberg hin- wurde der Kormoran bereits 1997 aus dem Anhang I der
gegen keinen messbaren Erfolg zu verzeichnen. Welche Vogelschutzrichtlinie gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt
Form der Bestandsregulierung sich am besten eignet, war der Bestand bereits 20-mal so groß wie 1980. Seit-
sollte unserer Meinung nach vor Ort entschieden und dem hat sich der Bestand bis heute weiter vergrößert.
nicht vonseiten des Bundes festgelegt werden. Es handelt sich hier eindeutig um einen Erfolg für
Dass bei allen Anstrengungen, die der Bund in diese den europäischen Vogelschutz. Aber dieser Erfolg für
Richtung unternimmt, ein gemeinsames europäisches den Artenschutz gefährdet nun den Artenschutz an ande-
Kormoranmanagement weiter zwingend notwendig ist, rer Stelle – und dies nicht, weil sich etwa die Population
bedarf nicht der Aufklärung durch die Opposition. des Kormorans wieder verkleinert, sondern ganz im Ge-
genteil: Der Erfolg gerät in Gefahr, weil die Kormorane
Die Frage, warum – wenn wir das eben Geschilderte einige Fischarten bedrohen. Wissenschaftlich heißt das:
doch alles wissen – unser Antrag noch nicht eingegan- Die aquatische Artenvielfalt ist bedroht. Ganz praktisch
gen ist, hat ganz einfache Gründe: Politik lässt sich, wie bedeutet das: Artenschutzprogramme für bedrohte Arten
das Leben, nur bedingt voraussagen und dementspre- wie Lachs, Meerforelle, Äsche und Aal geraten ernsthaft
chend schlecht planen. Auch die Koalition aus CDU/ in Gefahr, und das stellt eine ernsthafte Gefahr für die
CSU und FDP wäre beim Punkt Kormoranmanagement Biodiversität dar. Der Bundesumweltminister ist im ver-
gerne weiter. Jedoch haben sich seit Juni vergangenen gangenen Jahr mit Verweis auf das Jahr der Biodiversi-
Jahres auch einige Dinge ereignet, die in dieser Form tät in Sachen Kormoran untätig geblieben. Er muss sich
nicht vorhersehbar waren und die verantwortungsvolles also den Vorwurf gefallen lassen, dass bei ihm der Ar-
Holger Ortel
(A) tenschutz an der Wasseroberfläche aufhört. Welche Aus- Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsver- (C)
rede er dieses Jahr finden wird, wissen wir noch nicht. trag geschrieben, dass sie auf europäischer Ebene auf
die Erstellung eines Managementplans für Kormorane
Wir müssen beim Kormoran sehen, dass es Menschen drängen will. Bislang war von diesen Bemühungen
gibt, deren berufliche Existenz durch den Kormoran zu- nichts zu spüren. Wir werden nun sehen, wie ernst es der
nichte gemacht wird. Es mussten schon einige Teich- Regierungskoalition mit ihren Bemühungen für ein euro-
wirte den Betrieb einstellen. Das sind oftmals über meh- paweites Kormoranmanagement ist.
rere Generationen betriebene Familienbetriebe, die jetzt
am Rande der Existenz stehen. Passive Abwehrmaßnah- Ein Wort noch zu dem Antrag der Linken: In Ihrem
men gibt es, sie sind aber sehr teuer. Außerdem ist der Antrag vernachlässigen Sie die Rolle der Länder mit ih-
Kormoran sehr intelligent. Er findet meist einen Weg ren Kormoranverordnungen. Insoweit sollten Sie Ihre
durch die Abspannungen hindurch. Passive Abwehr- Überlegungen hinsichtlich der Handlungsempfehlun-
maßnahmen sind also wenig erfolgversprechend. gen, die sie beschreiben, noch einmal überprüfen. Ich je-
Man muss sich einmal anschauen, was passiert wenn denfalls freue mich auf intensive Diskussionen in den
die Teichwirte den Betrieb einstellen. Denn die Teich- einzelnen Fachausschüssen, um dann hoffentlich eine
wirte übernehmen wichtige Aufgaben bei der Pflege der für die beteiligten Gruppen zufriedenstellende Regelung
Kulturlandschaft. Teichwirtschaften haben eine heraus- zu finden.
ragende ökologische Bedeutung. Es kann doch niemand
ernsthaft wollen, dass diese Lebensgemeinschaften der Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Teichgebiete verschwinden. Ohne Teichwirte wird es Die Beschreibung der Bestandssituation des Kormo-
keine Fischteiche geben, und mit den Fischteichen ver- rans in Deutschland und der Folgen für Biodiversität
schwindet einer der hochwertigsten Lebensraumkom- und Fischerei im vorliegenden Antrag der Linken sowie
plexe der mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Der die Ziele, die verfolgt werden sollen, um die Biodiversi-
Schutz der Teichwirte und der Schutz der biologischen tät in Seen und Flüssen zu stärken und die Situation der
Vielfalt der Teichgebiete sind daher zwei Seiten einer Binnenfischerei zu verbessern, decken sich weitgehend
Medaille. mit denen unseres Antrages, den wir in der vergangenen
Das musste übrigens auch der Naturschutzbund Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag einge-
Deutschland NABU feststellen. Der NABU ist der Ver- bracht haben. Die Linke hatte sich damals enthalten, in-
band, der den Kormoran im Jahr 2010 zum Vogel des zwischen teilt sie unsere Erkenntnisse. Inzwischen hat
Jahres gemacht hat. Dieser NABU hat eine Teichwirt- auch die CDU im Landtag in Nordrhein-Westfalen einen
schaft gekauft und versucht nun, diese extensiv zu be- Antrag eingebracht, in dem sie auf ein europaweites
(B) wirtschaften. Er musste aber feststellen, dass wegen des Kormoranmanagement setzt. (D)
Kormorans eine Bewirtschaftung nicht lohnenswert ist. Die überaus erfolgreichen Schutzmaßnahmen der
Dort akzeptiert der NABU sogar den Abschuss des Kor- letzten beiden Jahrzehnte für den Kormoran haben dazu
morans – den Abschuss des von ihm selbst ernannten Vo- geführt, dass sich die Kormorane so stark vermehren,
gels des Jahres. Das ist doch ein bemerkenswerter Vor- dass eine Bestandsregulierung erforderlich wurde. Es
gang – und das Eingeständnis, dass der Kormoran wohl gibt keine Artenschutzmaßnahme, die so erfolgreich war
doch eine Gefahr ist. wie der Kormoranschutz. Anfang der 90er-Jahre wurde
Der Kormoran wurde, als es ihm schlecht ging, europa- der Kormoran wieder bei uns heimisch. Inzwischen ist
weit unter Schutz gestellt. Warum sollen wir ihn jetzt nicht er Bestandsvogel nicht nur an der Küste, sondern auch
auch europaweit managen? Die Vogelschützer haben sei- in den südlichen Bundesländern, wo er in den letzten
nerzeit doch offensichtlich erkannt, dass man die Pro- Jahrhunderten allenfalls als seltener Irrgast anzutreffen
bleme des Kormorans nur europaweit und nicht etwa lokal gewesen ist.
lösen kann. Gleiches gilt jetzt auch für die Gefahren, die
Obwohl es zahlreiche Vogelarten in Deutschland gibt,
durch den Kormoran entstehen. So wie der Kormoran An-
die eines intensiven Schutzes bedürfen – über 30 Vogel-
fang der 1980er-Jahre in Europa unterrepräsentiert
arten sind in der Kategorie I, der vom Aussterben be-
war, so ist er nun überrepräsentiert. Das Europäische
drohten Vögel, darunter Arten wie das Auerhuhn, die
Parlament hat sich im sogenannten Kindermann-Be-
Haubenlerche, die Sumpfohreule oder die Zwergsee-
richt für ein europaweites Kormoranmanagement aus-
schwalbe –, hat der Naturschutzbund Deutschland e. V.,
gesprochen, aber seitdem ist nichts passiert. Die Euro-
NABU, den gefiederten Fischjäger zum Vogel des Jahres
päische Kommission sieht keinen Handlungsbedarf.
2010 gemacht. Dies ist umso bemerkenswerter, als der
Die Diskussion um den Kormoran wird äußerst emo- NABU selbst eigene Erfahrungen mit dem Kormoran
tional geführt. Das kann nicht gut sein. Das geht schon hat. Er ist Besitzer der Blumenberger Mühle in Branden-
in der Bundesregierung los. Da erklärt sich der Bun- burg, einer Karpfenteichwirtschaft. Die Teiche besetzt
desumweltminister nicht zuständig, weil der Kormoran der NABU mit Fischen aus einer tschechischen Satz-
nicht in seiner Art gefährdet ist. Deutsche Angler und fischaufzucht, die so groß sind, dass Kormorane sie
Fischer haben kürzlich über 100 000 Unterschriften für nicht mehr bewältigen können. Seit dem Jahr 2000 wer-
ein europäisches Kormoranmanagement gesammelt. den jährlich über 50 Tonnen Satzkarpfen in die Teiche
Die wollte der Herr Bundesumweltminister gar nicht an- der Blumenberger Mühle gesetzt. Ein mit Spenden finan-
nehmen, die Frau Bundeslandwirtschaftsministerin zierter Verband kann sich das leisten, für einen Binnen-
ebenso wenig – sie sei ja nicht zuständig. fischer ist ein solches Verfahren viel zu teuer. Außerdem
Jan Korte
(A) ser durch Kormorane erhebliche Verluste bereitet. Dass Das Europaparlament hat mit der Annahme des Be- (C)
die Fischentnahme durch Kormorane zu erheblichen richts des Europaparlamentariers Heinz Kindermann
ökonomischen Einbußen für Teichwirte führt, bestreitet das Problem der gewachsenen Kormoranpopulation in
übrigens selbst der Naturschutzbund NABU nicht. Europa anerkannt. Leider haben das nicht alle Mit-
gliedsländer der EU getan, sodass es bis heute kein
Ich möchte einmal zwei Beispiele anführen. Vor europäisches Kormoranmanagement gibt und die Bun-
20 Jahren rechneten Teichwirte im letzten Aufzuchtjahr desregierung – das hat sie in der Antwort auf eine Kleine
für Karpfen mit Verlusten von circa 5 bis 10 Prozent. Anfrage meiner Fraktion geschrieben – in absehbarer
Nach einer Erhebung des Landesfischereiverbandes Zeit nicht mit einem gemeinsamen Kormoranmanage-
Brandenburg liegen die Verluste im letzten Aufzuchtjahr mentplan rechnet.
mittlerweile bei fast 30 Prozent. Die Teichwirtinnen und
-wirte in Brandenburg mussten dieser Erhebung nach – Die Bundesländer können seit einiger Zeit in Kormo-
zusätzlich zu den natürlichen Verlusten bei der Aufzucht ranverordnungen regeln, welche Schutzmaßnahmen für
– im Jahr 2009 außerordentliche Verluste von über einer Gewässer ergriffen werden können. Auch wenn es wie in
Million Euro verbuchen – und das bei einem Gesamtjah- Schleswig-Holstein durchaus Erfolge zu verzeichnen
resumsatz von 3,6 Millionen Euro. Sie können sich aus- gibt, sind die Auswirkungen der Länderverordnungen
rechnen, dass Teichwirte bei dem resultierenden Ein- oft nur auf lokaler Ebene spürbar. Hinzu kommt, dass
kommen darüber nachdenken müssen, ihr Unternehmen Abschüsse als in den meisten Verordnungen erlaubte
aufzugeben. Wenn in der Folge die Teiche verlanden, Vergrämungsmethode oft nur zu einer Verlagerung des
verlieren etliche Tierarten ihren Lebensraum. Problems führen und kein Instrument einer nachhaltigen
Bestandskontrolle sein können. Weder der passive
Ein zweites Beispiel aus einer anderen Region. In ei- Schutz von Teichen mithilfe von Überspannungen noch
nem Abschnitt der Nagold, einem Fluss in Baden- die Renaturierung von Gewässern oder das Einbringen
Württemberg, wurden Anfang der 90er-Jahre regelmä- von Totholz als Unterstand haben bisher zum Schutz von
ßig zwischen 160 und 240 Äschen gefangen. Das hat der Fischen beitragen können.
Landesfischereiverband Baden-Württemberg dokumen-
tiert. Nachdem im Winter 1996/1997 circa 400 Kormo- In unserem Antrag schlagen wir deshalb vor, ein bun-
rane dort überwinterten, sank der jährliche Ertrag auf desweites Kormoranmanagement einzuführen, das auf
unter 25 Äschen, und er ist bis 2008 auf diesem Niveau Basis von belastbaren Zahlen und konsensfähigen Be-
geblieben. Für Fließgewässer – die für überwinternde standszielen eine bundesweit koordinierte Bestands-
Kormorane oftmals das letzte Jagdrevier darstellen, kontrolle ermöglicht und vorrangig durch die Regulie-
weil sie nicht zufrieren – gibt es etliche dieser Fälle, fast rung der Reproduktion erfolgen soll, wie es bereits in
(B) alle Fischarten betreffend. Der Artenerhalt an diesen Mecklenburg-Vorpommern erprobt wurde. Ein bestands- (D)
Gewässern ist zum Teil nur noch den Besatzmaßnahmen regulierendes Management dieser Art wird nicht von
der Fischereiberechtigten zu verdanken, den kommer- heute auf morgen umsetzbar sein und kann zunächst nur
ziellen Fischern oder den Anglervereinen. Die verspü- auf dem Gebiet der Bundesrepublik erfolgen, was ein
ren nach dem vierten Kormoranbesuch aber verständli- Management der Zugvögel nicht ermöglicht. Daher
cherweise keine Lust mehr, nur noch Kormoranfutter in schlagen wir vor, Entschädigungszahlungen an Teich-
die Flüsse zu kippen; dafür ist auch kein Geld da. wirte und Fischereirechtsinhaber und die Methoden zur
Ermittlung von Schäden zu vereinheitlichen und dafür
Für die kommerzielle Binnen- und Küstenfischerei Mittel aus der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU
und auch für die Anglerverbände, deren Mitglieder in einzufordern. Zudem schlagen wir, als ersten Schritt zu
ehrenamtlicher Arbeit ihre Gewässer pflegen und damit einem Kormoranmanagement in Europa, vor, ein ge-
einen aktiven Beitrag zum Naturschutz leisten, ist der meinsames Kormoranmanagement mit unseren Nach-
unkontrollierte Kormoranbestand ein Problem, das die barstaaten vor allem im Nord- und Ostseeraum anzu-
Politik nicht vernachlässigen darf. Wir dürfen die wirt- streben.
schaftliche Bedeutung der kommerziellen und Freizeit-
fischerei nicht ignorieren, die in strukturschwachen Re- Gemessen an den Aussagen verschiedenster Politiker
gionen Arbeitsplätze sowohl in der Fischereiwirtschaft in diesem Hause sollte einem gemeinsamen Vorgehen
selbst als auch im Tourismus sichert, der gerade im des Bundestags nichts im Wege stehen. Gerade die FDP
Osten der Republik ein großes Entwicklungspotenzial hat in der Opposition – zumindest was das Kormoran-
darstellt. Und wir dürfen dem Fischartenschutz keinen management angeht – auch mal gute Vorschläge ge-
geringeren Stellenwert einräumen als dem Vogelschutz. macht, die wir glatt übernehmen können. Bei dieser
Sachfrage, in der es nicht um Kalten Krieg oder ideolo-
Am 4. Dezember 2008 hat das Europäische Parla- gische Grundsatzdebatten geht, hätte der Bundestag
ment die Europäische Kommission und die Mitglied- einmal die Möglichkeit, über die Parteigrenzen hinweg
staaten der EU mit großer Mehrheit aufgefordert, einen konkrete Lösungen für den Artenschutz, für die Fischerei
europäischen Kormoranmanagementplan zu erarbeiten und für über drei Millionen Anglerinnen und Angler in
und umzusetzen. Ziel dieses Kormoranmanagements der Bundesrepublik zu finden. Wir sind zu einem kon-
sollte es sein, die Kormoranbestände in Europa langfris- struktiven Dialog bereit.
tig in die Kulturlandschaft zu integrieren und damit
Schäden an den Beständen von Wildfischarten an der Im Bundestag reden wir oft über nachhaltiges Wirt-
Küste und in den Binnengewässern zu reduzieren sowie schaften, über regionale Wirtschaftskreisläufe und öko-
Schäden von der Fischereiwirtschaft abzuwenden. logisch vertretbare Produktion. Weit über drei Viertel
Es wäre deshalb falsch, Verschwörungstheorien zu Es ist so, dass sich das Bild des Kameraden seit der
stricken. Niemand – weder im Verteidigungsministerium Gründung der Bundeswehr gewandelt hat – zum Glück.
noch anderswo – hat das Ziel, die Fälle auszusitzen. Eine seelische Wunde ist heute kein Stigma mehr, und
Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt wer sich zu seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwäch-
wurden, bisweilen ungerecht behandeln fühlen, ist ling. Ich kann mir vorstellen, dass das einst anders war
menschlich nachvollziehbar. Ich nehme aber ausdrück- und dass Schmerzen nicht vorgesehen waren. Man hat
lich die Beamten in Schutz, die diese Verfahren begleitet sich weniger Gedanken gemacht um das Wohlergehen
haben und weiter begleiten. Sie handeln nach Recht und der Soldaten, auch um ihren Gesundheitszustand. Hinzu
Gesetz. kommt, dass man bis in die 60er-Jahre hinein bisweilen
eher unbedarft mit der Strahlengefahr umgegangen ist.
Nun können wir sicher nicht davon ausgehen, dass
mit den bewilligten Anträgen auf ewig alle Probleme aus Wie schwer der Kampf für ihre Rechte ist, auch davon
der Welt geschafft wären. Die gesundheitlichen Beein- können die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit
trächtigungen im Alltag bleiben häufig. Und mehr noch: ihren Forderungen – um das einmal vorsichtig zu sagen –
Sie verändern sich mit den Jahren und dem Alter – leider bei der Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer
wohl eher selten zum Besseren. Eine Stiftung, wie sie im- offene Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück
mer wieder vorgeschlagen wird, hätte auf den ersten geändert. Vergessen wir nicht, dass sich die Folgen von
Blick Charme. Allerdings sind diese Überlegungen kei- Strahlen nicht sofort zeigen, sondern oft erst Jahre und
(B)
neswegs neu. Das Verteidigungsministerium hat eine Jahrzehnte später. Es fehlte damals letztlich auch das (D)
solche Idee seinerzeit unter Beteiligung anderer Res- Wissen, ja das Bewusstsein. Radar ist bis heute ein
sorts verworfen, weil es erstens für die betroffenen Thema, für das es nur wenige Fachleute in Deutschland
Gruppen bereits gesetzliche Bestimmungen als Grund- gibt.
lage für Versorgungsanträge gibt und weil zweitens – so Allen werden wir es trotzdem nie Recht machen kön-
das Ergebnis der Prüfung – eine Stiftung einseitig Men- nen. Wer von der Politik absolute Gerechtigkeit und die
schen begünstigen würde, bei denen auch bei wohlwol- Zufriedenheit aller Betroffenen verlangt, ist blauäugig.
lender Betrachtung ein Zusammenhang zwischen Ge- Das ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit
sundheitsschaden und früherer Arbeit an Radargeräten ganz unterschiedlichen Schicksalen zu tun haben – und
unwahrscheinlich ist. Auch eine Stiftung braucht natür- eben nicht mit einer Art Standarderkrankung, die alle
lich Kriterien, um Ansprüche zu prüfen; schließlich geht betrifft. Es kann aber darum gehen, sich noch einmal in-
es um Steuergeld. Wegen einer Behauptung allein kann tensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Das werden wir
keine Unterstützung gezahlt werden. Überdies müsste tun. Bereits morgen gibt es auf Arbeitsebene eine neues
auch diese Stiftung zunächst mit Geld gefüttert werden, Gespräch.
um überhaupt helfen zu können. Natürlich spricht prin-
zipiell wenig dagegen, die Radargerätehersteller an der Die Entschädigung von Radaropfern ist ohne Zweifel
Entschädigung zu beteiligen. Dies wäre sogar wün- ein sperriges Thema, das uns an Grenzen führt. Einfache
schenswert, aber ob es auch machbar ist, werden wir se- Lösungen bieten sich nicht an, auch weil das, was in den
hen. 60er- und 70er-Jahren geschehen ist, kaum dokumen-
tiert ist. Juristische Hürden kommen hinzu. Ich sehe al-
Manches, was die Fraktion Die Linke fordert, wird lerdings im Bundestag den politischen Willen, bei der
bereits gemacht. Auch deshalb werden wir dem Antrag Entschädigung noch einmal aktiv zu werden – und zwar
nicht zustimmen. So erhält der Verteidigungsausschuss dort, wo es nötig ist. Meine Fraktion wird sich dem nicht
einmal im Jahr einen schriftlichen Sachstandsbericht; verschließen. Wir werden versuchen, interfraktionell
und die Vorschläge der Radarkommission werden schon eine unbürokratische Lösung zu finden.
lange eins zu eins umgesetzt. Andere Forderungen klin-
gen prima – bis man sich mit den Konsequenzen be-
schäftigt. Natürlich wollen wir nicht, dass sich ehema- Florian Hahn (CDU/CSU):
lige NVA-Soldaten als Opfer zweiter Klasse fühlen. Aber Uns liegen heute sowohl der Antrag der SPD als auch
wer eine Gleichbehandlung fordert, sollte auch wissen, der Antrag der Linken vor. Es wird ein möglichst zügiger
was uns dann laut Juristen erwartet: Es könnte bedeu- und unbürokratischer Ausgleich für Radargeschädigte
Florian Hahn
(A) der Bundeswehr und der ehemaligen NVA gefordert. dienstleistenden der NVA im Gegensatz zu Regelungen (C)
Dabei wird unter anderem eine Stiftungslösung in Erwä- für Wehrdienstleistende der Bundeswehr resultieren aus
gung gezogen. Weiterhin wird gefordert, dass die Ent- den vom Gesetzgeber als angemessen erachteten Rege-
schädigungssysteme für Angehörige der Bundeswehr lungen. Ansprüche, die frühere Wehrpflichtige wegen
und der früheren NVA angeglichen werden. Der Antrag Unfällen bei der NVA nach den Gesetzen der DDR aus
der Linken fordert zur Aufklärung und Dokumentation der allgemeinen Sozialversicherung hatten, wurden in
der Verstrahlung sowie zur Verbesserung der Strahlen- die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet. Diese
sicherheit darüber hinaus eine erneute Einsetzung einer Unfälle waren in der DDR Arbeitsunfällen gleich-
Expertenkommission, wie wir sie im Jahre 2002 einge- gestellt; die Überleitung ist also sachgerecht. Die Hin-
richtet hatten. terbliebenen bleiben nicht unversorgt, sondern haben
gleiche Ansprüche wie Hinterbliebene der Opfer von Ar-
Anfang Juli 2003 hat die Expertenkommission ihren beitsunfällen. Bei der Frage, inwieweit Soldaten durch
Abschlussbericht vorgelegt. Bis heute werden die ent- Radargeräte Gesundheitsschäden erlitten haben und
haltenen Empfehlungen konsequent umgesetzt. Bei wie mit diesen Gesundheitsschäden umzugehen ist, han-
Vorliegen einer qualifizierten Erkrankung und einer delt es sich jedoch um eine schwierige und komplexe
qualifizierenden Tätigkeit wird auf den individuellen Thematik, die weit über die gesetzlichen Versorgungs-
Kausalitätsnachweis verzichtet. Das bedeutet, dass im vorschriften hinausgeht.
Einzelfall nicht nachgewiesen werden muss, dass die Er-
krankung tatsächlich auf die Beschäftigung an und mit Die Frage, ob die Gründung einer Stiftung in diesem
Radargeräten hervorgerufen worden ist. Diese Regelung Fall sinnvoll ist, lässt sich richtigerweise nur mit Nein
halte ich so nach wie vor für sinnvoll und richtig. Im beantworten. Genau wie zur Schaffung eines Sonderge-
Übrigen wurde den Betroffenen in vielen Fällen bei der setzes ist insofern zu sagen, dass alle eingehenden Ver-
Auslegung der Anerkennungskriterien entgegengekom- sorgungsanträge auf gesetzlicher Grundlage entschie-
men. Einzelfälle und Vorgehensweisen wurden in der den werden. Eine Stiftung zur Unterstützung derjenigen,
Vergangenheit an sogenannten runden Tischen zusam- deren Anträge auf dieser Grundlage und trotz der erheb-
men mit Vertretern des Bundes zur Unterstützung Radar- lichen Erleichterungen abgelehnt wurden, wäre mit den
geschädigter beraten. Bislang wurden etwa 20 Prozent Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts nicht
der Anträge positiv beschieden, circa 68 Prozent wurden vereinbar. Es kann nun mal nicht sein, dass ein Antrag-
abgelehnt. Eine erneute Einrichtung einer Experten- steller lediglich aufgrund einer Behauptung eine Leis-
kommission halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für nicht er- tung erhält.
forderlich. Der Bericht der Radarkommission entspricht
nach wie vor dem Stand von Wissenschaft und Technik. Ich weiß, dass dieses Thema immer wieder zu Recht
(B) Sollten zukünftig neue wissenschaftliche Erkenntnisse viele Emotionen hervorruft. Die damalige Regierung hat (D)
eine Ergänzung dieser Regelung nötig machen, so wird eine Regelung getroffen, die den Opfern so gerecht wie
die Bundesregierung das selbstverständlich berücksich- möglich wird. Leider kann es niemals eine Lösung ge-
tigen. ben, die von allen Betroffenen als gerecht empfunden
wird. Ich bin jedoch nach wie vor der Ansicht, dass die
Die SPD fordert die Angleichung der Entschädi- vorhandenen gesetzlichen Regelungen und die im
gungssysteme für Angehörige der Bundeswehr und der Abschlussbericht der Radarkommission enthaltenen
früheren NVA. Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinne- Empfehlungen eine geeignete Grundlage für die Ent-
rung rufen, dass wir uns seit der Jahrtausendwende mit scheidung über die Entschädigung von Radaropfern
dem Thema der Radarstrahlenproblematik beschäftigen. darstellen und dass somit die Einrichtung einer Stiftung
2001 wurde umfassend geprüft, ob es eines neuen Geset- nicht erforderlich ist. Der Antrag der Fraktion Die
zes für die Opfer von Radarstrahlen bedarf. Letztlich Linke ist daher umfassend abzulehnen. Dem Antrag der
wurde jedoch davon Abstand genommen, da für die be- Fraktion der SPD vermag ich nur in einzelnen Aspekten
troffenen Personen bereits Rechtsvorschriften bestehen, zuzustimmen, wobei ich davon ausgehe, dass die meisten
die Leistungen bei einer durch dienstliche Tätigkeiten dieser Punkte, die ich ja eben auch angesprochen habe,
bedingten gesundheitlichen Schädigung vorsehen. Da- bereits umgesetzt wurden bzw. bald berücksichtigt wer-
bei handelt es sich um Versorgungsansprüche wegen ei- den.
ner strahlenbedingten Beschädigung – für Soldaten der
Bundeswehr nach den Bestimmungen des Soldatenver-
sorgungsgesetzes, für Beamte nach den Regelungen des Ullrich Meßmer (SPD):
Beamtenversorgungsgesetzes und für Arbeitnehmer Bis in die 80er-Jahre sind Angehörige der Bundes-
nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversiche- wehr und der ehemaligen NVA mit ionisierender Strah-
rung. Ehemalige Soldaten der NVA können einen An- lung und Radarstrahlung in Berührung gekommen und
spruch nach dem Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz haben Partikel inkorporiert. Einige sind daraufhin zum
geltend machen. Teil schwer erkrankt. Da aufgrund des fehlenden Gefah-
renbewusstseins genaue Aufzeichnungen über Dauer
Dass ehemalige Angehörige der NVA nicht in der Ver- und Art der Exposition fehlen, können Betroffene häufig
sorgung durch das Soldatenversorgungsgesetz mit ein- nur auf unzureichendes „Beweismaterial“ für ihre Schä-
bezogen wurden, steht im Einigungsvertrag und wurde digung zurückgreifen.
um Zuge der Gesetzgebung zur Überleitung von Ansprü-
chen nach dem Recht der DDR beschlossen. Die unter- Der Deutsche Bundestag hat sich daher seit dem Jahr
schiedlichen Regelungen bei geschädigten Grundwehr- 2000 mit der Frage der Entschädigung dieser Soldaten
Burkhardt Müller-Sönksen
(A) aber im Jahre 2011 die Möglichkeit, dass wir nun aus tiengesellschaft Wismut oder von Atomkraftwerken, eine (C)
übergeordneten politischen Gründen gleich behandeln. angemessene Anerkennung und Entschädigung zuteil-
Das ist unser politischer Wille. werden zu lassen. Gerade die Nuklearkatastrophe in
Fukushima zeigt, dass in diesem Bereich die Gefahren
Wir als FDP-Fraktion setzen uns schon seit Anfang immens sind. Wer weiß, was da in den nächsten Jahren
2001 für eine großzügigere Entschädigung der Radar- auf uns zukommt! Wenn strahlengeschädigte Menschen
strahlenopfer ein und haben dieses immer wieder, so- – aus Ost oder West, militärisch oder zivil beschäftigt –
wohl im Verteidigungsausschuss als auch im Plenum, zu ihrem Recht kommen sollen, müssen für alle Strahlen-
zum Ausdruck gebracht. Wir laden daher alle Fraktio- geschädigten dieselben gesetzlichen Regelungen gelten.
nen ein, mit uns eine geeignete Lösung zu finden und un- Alles andere schafft nur wieder neue Spaltungen und
seren breiten Konsens in einer gemeinsamen Initiative
Ungerechtigkeiten.
zum Ausdruck zu bringen.
Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Stiftung, die die
Inge Höger (DIE LINKE): Anerkennung und Entschädigung in die Hand nehmen
Seit vielen Jahren kämpfen radargeschädigte ehema- soll. Diese Forderung ist nicht falsch und kann nicht
lige Soldaten aus Ost und West für eine angemessene schaden. Allerdings hatte eine interfraktionelle Anfrage
Anerkennung und für eine Entschädigung für Erkran- an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erge-
kungen, die auf ihre Tätigkeit an Radaranlagen zurück- ben, dass es im Sinne der Betroffenen zielführender ist,
geführt werden können. Es ist dringend notwendig, dass von der Bundesregierung ein Radarstrahlenopfergesetz
die Bundesregierung hier schnell Abhilfe schafft, da die zu fordern. Dies Gesetz soll den genannten Kriterien
Betroffenen immer älter und kränker werden. In ein paar entsprechen. Es bleibt dann der Bundesregierung über-
Jahren ist es für viele zu spät. In der Vergangenheit ent- lassen, ob dafür die Gründung einer Stiftung notwendig
stand der Eindruck, die jeweiligen Bundesregierungen ist oder nicht. Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kom-
spielen auf Zeit und drücken sich um eine umfassende plex und vielschichtig. Ich befürchte, dass diese Forde-
Lösung des Problems. Damit muss nun endlich Schluss rung erneut auf Bürokratisierung und Verzögerung
sein. hinausläuft. Die Strahlengeschädigten haben diese Zeit
aber nicht mehr.
In der vergangenen Legislaturperiode waren sich
Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien ei- Ich möchte Sie bitten, in den Ausschussberatungen
nig, dass es zeitnah eine umfassende Lösung des Pro- über den parteipolitischen Tellerrand hinauszuschauen
blems geben muss. Allerdings hapert es bei der Umset- und sich dafür einzusetzen, zügig die Rechte der Betrof-
zung durch die verschiedenen Bundesregierungen. Der fenen zu stärken. Es ist fünf vor zwölf. Die Strahlenge-
(B) Prozess der Aufarbeitung stagniert seit Jahren. Das ist schädigten können nicht länger warten. (D)
angesichts des Alters der Betroffenen und der ernsthaf-
ten Erkrankungen unerträglich. Die Linke fordert eine
schnelle, unbürokratische und umfassende Anerkennung Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und Entschädigung der Strahlengeschädigten. Dabei Ehemalige Soldaten der Bundeswehr und der NVA
dürfen die Ermessensspielräume für das Vorliegen der sind bis in die 80er-Jahre hinein während ihrer
Anerkennungskriterien nicht zu eng gefasst sein. Dienstausübung nachhaltig geschädigt worden. Viele
von ihnen waren Wehrpflichtige. Verursacht wurde diese
Ehemalige Angehörige der NVA und der Bundeswehr Schädigung durch Strahlungsquellen in Geräten, die in
müssen gleich behandelt werden. Bislang sind radarge- der täglichen Dienstausübung zum Einsatz kamen. War-
schädigte Bundeswehrsoldaten wegen der seltenen nungen vor diesen Strahlenquellen kamen zu spät oder
Anerkennung ihrer Krankheit Bürger zweiter Klasse. wurden zu lange banalisiert. Die betroffenen Menschen
Ehemalige Soldaten der NVA sind sogar Bürger dritter sind auch Jahre später als Folge dieser Verstrahlung
Klasse. Sie unterliegen laut Einigungsvertrag dem schwer erkrankt.
Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz. Dies ist aus
Sicht der Betroffenen noch „strenger“ als das Soldaten- Seit 2001 ist dieser Umstand bekannt, seit 2003 liegt
versorgungsgesetz, das für ehemalige Bundeswehrsol- mit dem Abschlussbericht einer unabhängigen Exper-
daten gilt. Die Bundesregierung erklärt, dass diese tenkommission eine umfassendere Erfassung der Zu-
Ungleichbehandlung politisch gewollt ist. Das ist aus sammenhänge und eine Empfehlung für eine wohlwol-
unserer Sicht unerträglich. lende Entschädigungs- und Versorgungspraxis vor.
Doch die damals vom ehemaligen Verteidigungsminister
Die Linke fordert auch, dass neben dem Staat als Ar-
Scharping zugesagte „streitfreie und großherzige Lö-
beitgeber auch die Radargerätehersteller als Mitverant-
wortliche an den Entschädigungskosten zu beteiligen sung“ ist auch heute nicht wirklich in Sicht. Der Staat
sind. Außerdem brauchen wir mehr Transparenz und nutzt stattdessen juristische Spielräume aus, die sich aus
mehr Mitbestimmung durch den Bundestag. Deshalb dem Umstand ergeben, dass der direkte Zusammenhang
soll es erneut eine Radarkommission geben, die dem zwischen Erkrankung und Einsatz an den Geräten oft
Bundestag regelmäßig einen Bericht vorlegt. nicht nachzuweisen ist. Die zuständigen Behörden füh-
ren mit den Betroffenen endlose bürokratische Aus-
Die Linke ruft die Bundesregierung außerdem dazu einandersetzungen über Beweismittel und Gutachten.
auf, strahlengeschädigten Angestellten ziviler Einrich- Am Ende steht in der überwiegenden Zahl eine Entschei-
tungen, wie zum Beispiel der Sowjetisch-Deutschen Ak- dung gegen die Interessen der Betroffenen. Das ist wirk-
Gisela Piltz
(A) Diese unerträgliche Tatsachenverdrehung kann man Akzeptanz erhalten, wenn sich darin auch eigene Vor- (C)
nicht so stehen lassen. Der Einsatz deutscher Polizistin- stellungen und Rechtstraditionen des Landes wiederfin-
nen und Polizisten in Afghanistan ist ein wesentlicher den. Uns muss es aber darum gehen, die Grundsätze, die
Beitrag zum zivilen Wiederaufbau des Landes, zum jedem Rechtsstaat immanent sein müssen, felsenfest zu
Aufbau eines Rechtsstaates, zur Schaffung geordneter verankern, auch und gerade bei der Durchsetzung des
Strukturen und zur langfristigen Stabilisierung der Re- staatlichen Gewaltmonopols.
gion. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass vor al-
Der FDP-Fraktion war und ist die Sicherheit der in
lem der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützt
Afghanistan eingesetzten deutschen Polizistinnen und
wird, damit die internationale Gemeinschaft in ein paar
Polizisten ein zentrales Anliegen. Den Vorwurf der Lin-
Jahren ein Land verlassen kann, das nicht wieder in die
ken, die Bundesregierung entsende Polizistinnen und
Hände von Extremisten und Terroristen fällt. Die Polizei
Polizisten aus Deutschland in einen Krieg, weist die
Afghanistans muss hier einen zentralen Beitrag leisten,
FDP-Fraktion zurück. Afghanistan ist derzeit noch nicht
damit ein wirklicher Rechtsstaat entstehen kann.
so stabil, dass dort ein gefahrloses Leben möglich ist.
In unserem Antrag in der letzten Legislaturperiode Aber wir sehen deutliche Fortschritte. Zudem haben die
haben wir festgestellt: in Afghanistan eingesetzten Polizistinnen und Polizisten
Konsequenzen aus der Gefährdungslage gezogen und
Der Aufbau eines funktionierenden Polizei-, Justiz- ihre eigenen Schutzvorkehrungen entsprechend ange-
und Strafvollzugswesens ist eine wesentliche Vo- passt, unter anderem auch durch Änderungen bei der
raussetzung für die Herstellung der Sicherheit und Ausbildung der afghanischen Kollegen vornehmlich in
Ordnung und damit die Herstellung stabiler Ver- den gesicherten Lagern.
hältnisse in Afghanistan. Ziel ist es, dass die afgha-
nische Regierung zunehmend ihre Eigenverantwor- Die FDP-Fraktion unterstützt die Bundesregierung
tung wahrnehmen und perspektivisch selbst für die nachdrücklich in ihrem Engagement beim Polizeiaufbau
Sicherheit im Lande sorgen kann (Afghan Owner- in Afghanistan und wird sich weiterhin für eine konti-
ship). Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in Af- nuierliche Verbesserung und für konstruktive Lösungen
ghanistan, zum Beispiel im Rahmen der Internatio- von Problemen sowie selbstverständlich für die Sicher-
nal Security Assistance Force (ISAF), an der heit der deutschen Polizistinnen und Polizisten einset-
Deutschland als drittstärkster Truppensteller mit zen.
der Bundeswehr maßgeblich beteiligt ist, darf nicht
über Gebühr ausgedehnt werden. Von zentraler Be- Ulla Jelpke (DIE LINKE):
deutung für die Herstellung stabiler Verhältnisse in Seit neun Jahren werden deutsche Polizisten nach
(B) Afghanistan ist der Aufbau einer funktionstüchtigen Afghanistan geschickt, angeblich, um beim Aufbau eines (D)
sowie den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflich- Rechtsstaates zu helfen. Wir sprechen den über
teten Polizei. 1 000 Beamten, die seit 2002 am Hindukusch waren,
Diese Haltung vertritt die FDP-Fraktion auch heute. nicht die ehrliche Motivation ab. Aber es ist Zeit für eine
Gerade vor dem Hintergrund der Abzugsperspektive für Bilanz, und die sieht erschreckend aus: Der Polizeiauf-
die Bundeswehr aus Afghanistan ist die Polizeiausbil- bau am Hindukusch hat nicht zu einer Verbesserung,
dung von besonderer Bedeutung. sondern zu einer Verschlechterung der Lage beigetra-
gen. Es wird höchste Zeit, nicht nur die deutschen Solda-
Die Haltung der Linken hingegen ist verantwortungs- ten, sondern auch die deutschen Polizisten abzuziehen.
los. Die Linke will die Bundeswehr umgehend aus Das fordert die Fraktion Die Linke in dem Antrag, den
Afghanistan abziehen, lehnt aber zugleich jede Verant- wir heute beraten.
wortung für den Wiederaufbau ab, insbesondere für den
Aufbau eines Rechtsstaats mit einer funktionierenden Die „Fortschritte“, welche die Bundesregierung ver-
Polizei. meldet, reduzieren sich bei genauem Hinsehen auf einen
rein zahlenmäßigen Anstieg der afghanischen Polizei.
Es ist unbestritten, dass es auch Probleme beim Poli-
Ihre Ausbildung dauert gerade mal sechs Wochen.
zeiaufbau in Afghanistan gibt. Diese aber damit zu be-
Fast 90 Prozent der unteren Dienstgrade sind nach An-
antworten, das Land sehenden Auges nicht mehr beim
gaben der NATO-Ausbildungsmission Analphabeten.
Aufbau eines Rechtsstaates zu unterstützen, ist unver-
Und wer einen Alphabetisierungskurs mitmacht, der
antwortlich. Die Antwort kann doch nicht sein, die
kommt gerade mal auf das Niveau der dritten Klasse,
Flinte ins Korn zu werfen, sondern die Antwort muss
womit er weder Gesetzestexte lesen und verstehen noch
vielmehr sein, die bestehenden Probleme anzupacken.
Protokolle aufsetzen kann.
Dazu gehört natürlich vor allem, die Ausbildung zügig,
aber zugleich möglichst solide zu gestalten. Warum, muss man fragen, bildet die NATO diese an-
geblich so wichtigen Polizisten so hastig aus? Die Ant-
Dass das in Afghanistan be- und entstehende Rechts- wort ist: Weil sie nichts weiter als ein schnell verfügba-
system nicht eins zu eins das Rechtssystem Deutschlands
res Kanonenfutter haben will, um es in den Kampf gegen
abbildet, auch nicht im Bereich des Polizeirechts, ist
die Aufständischen zu werfen.
nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig und gut.
Afghanistan kann nur dann als Rechtsstaat funktionie- Afghanische Polizisten führen Seite an Seite mit Mili-
ren, ein an Demokratie und Menschenrechten orientier- tärverbänden Gefechte gegen Aufständische. Ihre Aus-
tes Rechtssystem und eine Polizei können nur dann bildung wird fast ausschließlich von Mitarbeitern des
Wolfgang Wieland
(A) erreichen könnte. Sie haben einfach ein grundsätzliches Einsätzen der Bundespolizei und stellt ein ausgewoge- (C)
Problem damit, dass sich Deutschland in Afghanistan nes Mittel zur Wahrung der Interessen der Öffentlich-
engagiert, und deshalb wollen Sie den Abzug. Wir sind keit, der Polizeibeamten und deren Anverwandten sowie
weiterhin der Auffassung, dass wir eine Pflicht haben, ihres jeweiligen Dienstherrn dar. Dass dadurch das Ver-
zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens in trauen der Bevölkerung in die Bundespolizei ge-
Afghanistan beizutragen. Weil das eine höchst gefähr- schwächt wird, war bislang nicht zu bemerken.
lich Aufgabe ist, interessieren wir uns für die Sicherheit
und den Schutz der deutschen Polizistinnen und Polizis- In Bundesländern wie Berlin, in denen bereits eine
ten, die vor Ort eine notwendige Aufgabe mit großem Kennzeichnungspflicht für die Polizistinnen und Polizis-
Einsatz zu erfüllen versuchen. Ihnen schulden wir gute ten besteht, wird diese entgegen den Pressedarstellun-
Ausstattung und bessere Konzepte für den Aufbau, nicht gen von den Betroffenen nicht als positiv empfunden.
politische Instrumentalisierung. Zu einem Antrag nach Den Beamten zufolge häufen sich dort bereits jetzt unge-
dem Motto „Die Lage ist schwierig, deshalb führen wir rechtfertigte Vorwürfe und Beschwerden, denen durch
die Katastrophe gleich herbei“ können wir nur Nein sa- die Kennzeichnung Tür und Tor geöffnet wurde.
gen. Wenn Sie nun Ihr bekanntes Beispiel von Demonstra-
tionen oder Fußballspielen ins Feld führen, dann müsste
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihnen doch auch bekannt sein, dass die Beamtinnen und
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Beamten der Bundespolizei besonders in derartigen Si-
Drucksache 17/4879 an die in der Tagesordnung aufge- tuationen unter äußerst komplizierten Umständen, die
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- zudem sehr gefährlich sein können, agieren müssen. Wie
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beispielsweise der 19. Februar 2011 in Dresden zeigte,
so beschlossen. wo bei einer Demonstration 82 Polizisten verletzt wur-
den, sehen sich die Beamtinnen und Beamten einer stetig
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber. Insbeson-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla dere diese Menschen, die sich in ihrem Beruf so engagie-
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite- ren und sich auf eigene Gefahr zum Schutze anderer in
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE eine bedrohliche Lage begeben, haben einen unumstöß-
lichen Anspruch darauf, dass ihre persönlichen Rechte
Einführung einer Kennzeichnungspflicht für
gewahrt werden. Durch die namentliche Kennzeichnung
Angehörige der Bundespolizei
der Polizeibeamten würde die Gefahr von Angriffen auf
– Drucksache 17/4682 – Beamtinnen und Beamte jedoch erheblich ansteigen,
(B) Überweisungsvorschlag: und es wäre nicht länger möglich, ihnen und ihren Ange- (D)
Innenausschuss (f) hörigen Schutz zu gewähren. Es kann nicht ausgeschlos-
Rechtsausschuss sen werden, dass eine Kennzeichnung zu ungerechtfer-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
tigten Anschuldigungen und Druckausübung bis hin zu
Auch diese Reden nehmen wir zu Protokoll. Gewaltanwendung gegenüber den Polizistinnen und
Polizisten sowie ihren Angehörigen führen kann. Das
Günter Baumann (CDU/CSU): bestätigen auch die entsprechenden Experten- und
Bevor ich auf den haltlosen Antrag der Fraktion Die Fachkreise der Polizei auf Bundes- und Länderebene.
Linke eingehe, möchte ich all den engagierten Bundes- Darüber hinaus ist es auch rein menschlich betrach-
polizistinnen und Bundespolizisten danken, die tagtäg- tet diesen Bundesbeamten gegenüber nicht gerecht, sie
lich für den Schutz der Bevölkerung höchste Einsatzbe- von vornherein unter Generalverdacht zu stellen und ih-
reitschaft aufbringen. nen zum Dank für ihren aufopfernden Dienst eine grund-
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, be- sätzliche Bereitschaft zu Gewaltverbrechen zuzuspre-
haupten in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die Bundesre- chen, zumal die Zahlen für sich sprechen: Weniger als
gierung mit dem Verzicht auf die Kennzeichnungspflicht 3 000 Strafanzeigen hat es im vergangenen Jahr gegen
der Bundespolizisten Spielraum für polizeiliche Strafta- Polizistinnen oder Polizisten gegeben, wovon lediglich
ten einräumt und die Möglichkeit gibt, sich außerhalb 3 bis 5 Prozent eine Anklage nach sich zogen. In diesen
der Gesetze, in der Anonymität zu bewegen. Diese Aus- Fällen wiederum wird nur etwa ein Drittel der Beschul-
sage ist schlicht und ergreifend haltlos und wird von mir digten verurteilt. Demgegenüber stehen täglich Hun-
strengstens abgelehnt. derttausende pflichtgetreu ausgeführte und rechtlich
nicht zu beanstandende Einsätze, die nicht selten unter
Seit vielen Jahren hat die Regelung Bestand, dass schwierigen und gefährlichen Umständen durchgeführt
sich Beamte der Bundespolizei mittels Dienstausweis werden müssen. Generell ist also eine Pflicht zur indivi-
gegenüber einer von polizeilichen Maßnahmen betroffe- duellen Bezeichnung des einzelnen Polizeibeamten in je-
nen Person legitimieren müssen, sofern der Sinn der dem Falle als nachrangig anzusehen, wenn die Sicher-
Amtshandlung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Im heit eines oder mehrerer Menschen und der Schutz von
Falle eines von Ihnen so oft genannten Einsatzes in ge- Persönlichkeitsrechten auf dem Spiel stehen.
schlossenen Einheiten besteht außerdem die Möglich-
keit, über taktische Kennzeichnungen oder Einsatzbe- Bezüglich Ihrer Behauptungen, eine Nichtkennzeich-
richte etwaige Ausweisungen vorzunehmen. Dieses nung sowie das vermeintlich anonyme Auftreten in Ein-
Vorgehen ist heute gängige und bewährte Praxis bei satzkleidung beeinträchtige Ermittlungen bei Gesetzes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11799
Günter Baumann
(A) verstößen seitens der Polizisten, liegen uns keinerlei weise ein Namensschild oder ein Schild mit einer Identi- (C)
belastbare Aussagen oder Beweise vor. Nur um Ihnen fikationsnummer tragen. Bei Einsätzen in geschlossenen
das noch einmal mit Nachdruck zu verdeutlichen: Die Einheiten bin ich nicht der Meinung, dass Namensschil-
Kleidung der Bundespolizisten wird ausschließlich unter der das Mittel der Wahl sind. Zum einen kann es bei glei-
der Maßgabe der Zweckmäßigkeit und Sicherheit der chen oder auch ähnlichen Einheiten zu Verwechslungen
Beamtinnen und Beamten ausgewählt und nicht, um eine kommen.
Anonymisierung herzustellen. Ebenso unterliegen straf-
rechtliche Untersuchungen gegen Mitglieder der Bun- Ich bin nach der Lektüre des Gutachtens der Wissen-
despolizei den geltenden Rechtsvorschriften. Ein Ab- schaftlichen Dienste des Bundestages „Kennzeich-
schluss eines Verfahrens, erfolgt nur, wenn die nungspflicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in
umfassenden Ermittlungen und Prüfungen der Staatsan- den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ durchaus
wälte und Richter dies rechtfertigen. Die Behauptung, nicht der Ansicht, es würde keine unberechtigten An-
dass dadurch das Vertrauen der Bürger in die Bundesre- schuldigungen oder Übergriffe auf Polizeibeamte auf-
publik Deutschland als Rechtsstaat zerstört wird, ist grund der Kennzeichnungspflicht geben. In Spanien sind
meiner Ansicht nach völlig widersinnig und nicht nach- Einzelfälle dokumentiert.
vollziehbar, meine Damen und Herren von der Linken. Wir dürfen die Augen vor dem Gewaltpotenzial eini-
ger Demonstranten aus dem bekannten Milieu nicht ver-
Zusammengefasst besteht nachweislich kein Erfor-
schließen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass mit
dernis, eine Kennzeichnungspflicht für die Beamtinnen
den Recherchemöglichkeiten, die das Internet bietet, das
und Beamten der Bundespolizei einzuführen. Misstrauen
persönliche Umfeld meiner Kolleginnen und Kollegen
gegenüber den Polizistinnen und Polizisten sowie eine
ausgeforscht wird und sich daraus eine Gefährdung der
hohe persönliche Gefährdung wären eine unabdingbare
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ergibt. Vielmehr
Folge dessen. Dies kann von unserer Seite nicht hinge-
schlage ich bei solchen Einsätzen eine Kennzeichnung
nommen werden. Darum ist der Antrag der Linken ein-
vor, die eine individuelle Zuordnung ermöglicht. Eine
deutig abzulehnen.
solche Zuordnung gibt es bei „geschlossenen“ Einhei-
ten bereits, weshalb der Antrag der Fraktion Die Linke
Wolfgang Gunkel (SPD): an dieser Stelle ins Leere läuft.
Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für
Vielleicht kommt Ihnen mein Vorschlag bekannt vor.
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wird auch in der
Ich habe mich an der Kennzeichnungspflicht orientiert,
SPD-Bundestagsfraktion schon länger diskutiert. In ei-
die der Berliner SPD-Innensenator in diesem Jahr für
nem Rechtsstaat darf es keine Gewalteskalationen durch
die Landespolizei eingeführt hat. Diesen Vorschlag halte
(B) die Polizei geben. Bei Straftaten durch Beamtinnen und ich für überzeugend, und ich freue mich, dass Berlin (D)
Beamte sind umgehend strafrechtliche Konsequenzen zu
eine ausgewogene Entscheidung getroffen hat und damit
ziehen.
hoffentlich auch Vorbild für andere Bundesländer und
Dennoch verwahre ich mich gegen den eventuell auf- für die Bundespolizei ist.
kommenden Eindruck, jede Demonstration werde sei-
tens der Polizei zu einem hemmungslosen Spannungsab- Gisela Piltz (FDP):
bau genutzt. Es handelt sich hier um Einzelfälle, nicht An gleicher Stelle debattierten wir in der vergange-
um ein gesamtpolizeiliches Phänomen! nen Woche über einen anderen Antrag der Fraktion Die
Die Kolleginnen und Kollegen sind an vielen Wo- Linke, in dem sie auch schon so tat, als litte der Rechts-
chenenden in der gesamten Republik unterwegs, in un- staat vor allem an exzessiver Gewaltausübung durch
terschiedlichsten Lagen, ob Castor, Fußballspiel oder Polizistinnen und Polizisten. In dem heute zu beratenden
Demonstration. Oft üben sie ihren sehr verantwortungs- Antrag behauptet die Linke nun gar, dass Polizistinnen
vollen Beruf unter schlechten Bedingungen aus. Diese und Polizisten „das Gefühl“ hätten, „in voller Einsatz-
wichtige Arbeit möchte ich an dieser Stelle auch einmal montur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch au-
ganz ausdrücklich würdigen. ßerhalb des Gesetzes“ zu stehen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke pauschalisiert Ich habe mal eine Ahnung, welches „Gefühl“ Polizis-
nach meiner Meinung an einigen Stellen zu stark. Ande- tinnen und Polizisten haben, wenn sie in eine Situation
rerseits fordert er auch Dinge, die bereits geregelt sind. geschickt werden, bei der sie nur dann eine Chance ha-
Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, eine Kennzeich- ben, mit halbwegs heiler Haut wieder rauszukommen,
nungspflicht für die Bundespolizei einzuführen, aber sofern sie sich mit Helmen und Schutzkleidung gegen
nicht per se für jede Beamtin und jeden Beamten in jeder Steinewerfer und Randalierer vom Schwarzen Block
Dienstsituation. Hier muss schon differenziert werden. wappnen. Es ist ja mitnichten so, wie es die Linke hier
darzustellen versucht, als würden Polizistinnen und
Meiner Meinung nach sollte eine nach Tätigkeiten Polizisten sich hinter Helmen und Schutzschilden ver-
abgestufte Kennzeichnungspflicht eingeführt werden: stecken, um unerkannt tun und lassen zu können, was
Im Innendienst sollte es für jede Beamtin und jeden Be- ihnen einfällt. Vielmehr ist die Kausalitätskette doch
amten verpflichtend sein, ein Namensschild zu tragen. genau umgekehrt: Erst und nur, wenn eine so gefährli-
Ebenso wäre im Sinne einer bürgerfreundlichen Polizei che Situation von Leuten, die Recht brechen und Gewalt
auf dem Schreibtisch ein Namensschild anzubringen. Im ausüben oder dies befürchten lassen, hervorgerufen
Einzeldienst sollten die Beamtinnen und Beamten wahl- wird, müssen sich die Polizistinnen und Polizisten schüt-
Gisela Piltz
(A) zen, um ihre Arbeit zu tun. Ihre Arbeit im Übrigen, die Akzeptanz und zugleich besonders hohe Aggressivität (C)
darin besteht, Recht und Gesetz durchzusetzen. Mit All- gegenüber der Polizei in der Bevölkerung klagen.
machtsfantasien, wie die Linke sie hier behauptet, hat
das nämlich ganz gewiss gar nichts zu tun. Ich kann nur sagen: Angesichts der hier wieder de-
monstrierten Geringschätzung der Linken gegenüber
Es ist selbstverständlich, dass Polizistinnen und Poli- der Polizei ist es ein Wunder, dass in Berlin überhaupt
zisten, die im Dienst Grenzen überschreiten und sich noch engagierte Polizistinnen und Polizisten ihren
strafbar machen, wie jeder andere zur Rechenschaft ge- Dienst verrichten. Diesen Männern und Frauen gilt
zogen werden müssen. Es ist auch selbstverständlich, mein Respekt und mein Dank!
dass in solchen Fällen genauso sorgfältig ermittelt wer-
den muss wie in allen anderen Fällen. Damit die Identi- Die FDP-Fraktion ist gerne bereit, sich ernsthaft mit
tät eines Täters aufgeklärt werden kann, ist ein Namens- den Phänomenen der Akzeptanz der Polizei in unserer
schild aber nun wirklich nicht erforderlich. Es bestehen Gesellschaft ebenso wie mit der kriminologischen For-
die ganz normalen Möglichkeiten der Ermittlung von schung zu Körperverletzung im Amt und deren Vermei-
Tätern. Und sie werden ja auch genutzt; es ist ja nicht dung sowie Verfolgung zu befassen. Aber bitte nicht auf
so, als ginge die Polizei Straftaten, die in den eigenen diesem Niveau!
Reihen begangen werden, nicht mit den Mitteln des
Strafrechts wie auch des Disziplinarrechts nach. Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Fordern Sie von den Linken eigentlich konsequenter- Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die
weise auch, dass der Schwarze Block nur noch mit Na- Linke, eine Kennzeichnungspflicht für Angehörige der
mensschildern, wahlweise „Nummernschildern“, verse- Bundespolizei einzuführen.
hen an Demonstrationen teilnehmen darf, damit die
Ermittlungen nachher leichter fallen, wer die Flasche Warum halten wir solch eine Kennzeichnung für not-
auf den Polizisten geworfen hat? Nein, natürlich nicht. wendig?
Denn Ihnen von der Linken geht es nur darum, die Poli-
Im Mai 2005 stürmte ein Sondereinsatzkommando
zistinnen und Polizisten in Misskredit zu bringen, und
der Berliner Polizei die Diskothek Jeton. Es kam zu mas-
nicht darum, dass das wirklich eine zielführende Maß-
siven Übergriffen seitens der Beamten. Die Opfer trugen
nahme zur Aufklärung von tatsächlichen Vergehen und
zahlreiche Knochenbrüche und Kopfverletzungen da-
Verbrechen ist.
von. Die Staatsanwaltschaft Berlin nannte die Polizeige-
Natürlich ist eine bürgernahe Polizei ein wichtiges walt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, das
Anliegen, auch, weil unser Rechtsstaat von dem Ver- Land leistete Entschädigungszahlungen an die Opfer.
(B) trauen der Menschen in ihre Polizei lebt. Polizistinnen Aber die Täter wurden nicht verurteilt: Die Polizisten (D)
und Polizisten sind die Gesichter unseres Rechtsstaates. trugen allesamt Gesichtsmasken und verhinderten damit
Anträge wie der von der Linken vorgelegte leisten hier ihre individuelle Identifizierung.
aber einen Bärendienst, wenn sie die Polizei so verzerrt
darstellen. Die Forderung der Linken ist nicht davon ge- Vor vier Monaten stellte die Generalstaatsanwalt-
tragen, dass die Menschen auf der Straße den Streifen- schaft München ein Verfahren gegen Polizisten ein, die
polizisten nach Blick auf dessen Namensschild ein 2007 rechtswidrig auf Fußballfans eingeprügelt hatten.
freundliches „Guten Tag, Herr Müller!“ entgegnen kön- Grund für die Einstellung: Die Schläger konnten nicht
nen, sondern davon, dass sie unterstellt, es könne im einwandfrei identifiziert werden. Die „Frankfurter
Grunde jederzeit von jedem Polizisten zum unberechtig- Rundschau“ kommentierte dies mit den Worten, wieder
ten Angriff kommen. einmal habe der Rechtsstaat vor der Polizei kapituliert.
Es ist – wie ich schon in der vergangenen Woche an- Bei zahlreichen Demonstrationen erleben wir immer
merken musste – wirklich ausgesprochen bedauerlich, wieder, dass uniformierte und behelmte Polizisten mit
dass die Linken eigentlich diskussionswürdige Themen Schlagstöcken, Pfefferspray oder Faustschlägen unver-
auf ein Niveau herunterzieht, auf dem man nicht mehr hältnismäßig gegen Demonstranten vorgehen. Sie wer-
ernsthaft über die Sache sprechen kann. den dabei zwar häufig gefilmt, manchmal lösen diese
Bilder sogar eine gesellschaftliche Debatte aus, aber zu
Diskussionswürdig wäre beispielsweise ja durchaus, Verurteilungen der Beamten kommt es nur selten: Mit
ob die, selbst nach Abzug der zahlreichen Anzeigen auch ihren Uniformen und Helmen sehen sie alle gleich aus,
bei legitimer Gewaltanwendung durch die Polizei, rela- sie sind praktisch vermummt und können im Schutz die-
tiv geringe Zahl von Gerichtsverfahren wegen Körper- ser Anonymität Straftaten begehen.
verletzung im Amt manchmal auch Zeichen eines falsch
verstanden Korpsgeistes sein könnte, und wie man hier Nach einer Untersuchung an der FU Berlin, die sich
etwas verbessern kann. Diskussionswürdig wäre aber weit über 100 Fälle von Polizeigewalt vorgenommen
ebenso, in wie vielen Fällen die vermeintlichen Opfer hat, ist in jedem zehnten Fall die mangelnde Identifizier-
von Polizeigewalt schon von vornherein aggressiv und barkeit eines Beamten zumindest mitverantwortlich
mit Gewaltdrohung auf die Polizistinnen und Polizisten dafür, dass ein Ermittlungsverfahren eingestellt wird.
zugegangen sind. Wenn die Linke hier auf Berlin ver- Dabei ist natürlich der Aspekt noch gar nicht berück-
weist, so muss sie doch auch darauf verweisen, dass ge- sichtigt, dass viele Betroffene gar nicht erst Anzeige er-
rade in dieser von der Linken mitregierten Stadt Polizis- statten, weil sie von vornherein wissen, dass sie damit
tinnen und Polizisten über eine ganz besonders geringe nicht durchkommen.
Daraufhin haben wir den Wissenschaftlichen Dienst Um die Fälle rechtswidriger Gewalt geht es hier.
des Bundestages um eine Untersuchung gebeten. Und Dass es sie gibt, kann niemand ernsthaft bestreiten.
siehe da: In fast der gesamten Europäischen Union ist Dass sie nicht der Regelfall sind, sei auch klar gesagt.
die Kennzeichnungspflicht bereits umgesetzt. Deutsch- Die Zeiten der Leberwursttaktik eines Polizeipräsiden-
land ist, neben Österreich, der einzige Verweigerer. Und ten Duensing sind zum Glück Vergangenheit. Aber Ge-
nirgends gibt es Belege für eine damit verbundene Ge- waltexzesse kommen eben gelegentlich vor, gerade bei
fährdung von Polizisten. Lediglich aus Spanien werden Großlagen wie Demonstrationen. Da gibt es die Fälle,
„in einigen wenigen Einzelfällen“ unberechtigte An- in denen Bürgerinnen und Bürger, die lediglich ihr De-
schuldigungen oder Übergriffe vermeldet, ansonsten lä- monstrationsrecht ausüben, zur Zielscheibe von Gewalt
gen jedoch „keine relevanten Informationen vor, ob die durch Polizeibeamte werden. Es bringt nichts, hier jetzt
Einführung der Kennzeichnungspflicht zu einem Anstieg zu streiten, wie es dazu in der Situation jeweils gekom-
unberechtigter Anschuldigungen gegen Polizeibeamte men ist. Was zählt, ist: Ein Bürger sieht sich als Opfer
oder gar zu persönlichen Übergriffen auf diese geführt exzessiver Gewalt und damit als das Opfer einer Straf-
hat“. tat. Er muss die Möglichkeit haben, diesen Vorfall einer
justiziellen Überprüfung zuzuführen. Doch ein solcher
Amnesty International zog daraus die Bilanz: Es lä- Bürger steht heute vor einem Problem: Er muss seine
gen keine wirklichen Gründe gegen eine Kennzeich- Anzeige gegen Unbekannt stellen, denn er kann nicht
nungspflicht vor. identifizieren, wer ihn da unverhältnismäßig attackiert
(B) Dennoch stemmen sich gerade die Polizeigewerk- hat. Denn Beamte tragen Uniform und sehen deshalb, (D)
schaften noch immer vehement dagegen. das sagt das Wort Uniform schon, alle mehr oder weni-
ger gleich aus – erst recht, wenn sie Helm tragen.
Der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch hat
hierzu in einer Anhörung im Brandenburger Landtag Die Anonymität der Uniform aufzuheben, um den
Anfang Januar das Notwendige gesagt: Die Polizisten Bürgerinnen und Bürgern nach einem ganz konkreten
hätten vielfach „emotionale Vorbehalte“, die sich aber Gewaltakt eine rechtsstaatliche Ermittlung zu ermögli-
nicht auf Tatsachen stützten. chen – darum geht es. Dazu brauchen wir eine indivi-
Berlin hat mittlerweile eine Kennzeichnung beschlos- duelle Kennzeichnung der Polizistinnen und Polizisten,
sen, Brandenburg steht kurz bevor. Dort hat interessan- gerade wenn sie in geschlossenen Einheiten im Einsatz
terweise die CDU die Initiative ergriffen – und die steht sind. Das ist kein Generalverdacht gegen die Polizei;
wohl genauso wenig im Verdacht, angeblichen linken das ist Vorsorge für den Problemfall. Dadurch wird kein
Gewalttätern nahezustehen wie der Berliner Polizeichef. Beamter gefährdet. Denn es muss ja nicht der echte
Die Brandenburger CDU führt in ihrem Gesetzentwurf Name sein, der da auf der Uniform klar lesbar steht; es
völlig zu Recht aus, eine namentliche Kennzeichnung reicht eine einprägsame Zahl oder Buchstabenkombina-
könne das Vertrauen in die Polizei durch Transparenz tion, und die kann auch von Einsatz zu Einsatz neu ver-
und Bürgernähe stärken. Das sagen wir auch den Poli- geben werden.
zeigewerkschaften: Sie haben nichts zu verlieren, im Ge- Zum Abschluss: Der Antrag der Linkspartei will das
genteil. Wenn die Bürger wissen, mit wem sie es zu tun Richtige. Dies allerdings von der Bundesregierung zu
haben, werden sie eher mehr als weniger Vertrauen in erwarten, verwundert etwas. Ein Innenminister von der
die Rechtsstaatlichkeit polizeilichen Handelns haben. CSU bekommt vielleicht die Kennzeichnungspflicht für
Die Kennzeichnung dient, so schreibt es auch die Demonstranten hin, schwerlich aber Erkennungszei-
Brandenburger CDU, der Sicherstellung der Rechts- chen für die Polizei. Wenn das im Gesetz stehen soll,
schutzgarantie für die Bürger und gewährleistet eine müssen wir das als Bundestag schon selbst in die Wege
schnelle Aufklärung von Fällen von Polizeigewalt. leiten.
Die Linke zieht hieraus das Fazit: Eine Kennzeich-
nung kostet nichts, sie richtet keinen Schaden an, sie ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
aber geeignet, Schaden abzuwenden, indem sie Opfern Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
polizeilicher Übergriffe die Möglichkeit gibt, die Täter Drucksache 17/4682 an die in der Tagesordnung aufge-
zu identifizieren und belangen zu lassen. Eine Kenn- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
11802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
Berichtigung
101. Sitzung, Seite 11604 (C), erster Absatz, die Inter-
netadresse lautet: „http://grs.de/content/erlaeuterungen-
zum-Stresstest“.
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011 11803
Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 07.04.2011 Diese Bedenken hat die Bundesregierung nun ohne
Karl Begründung – und ohne das abschließende Prüfungs-
ergebnis der Europäischen Kommission zu kennen – bei-
Lange (Backnang), SPD 07.04.2011 seitegeschoben. Die SPD-Bundestagsfraktion hat be-
Christian reits in der Parlamentarischen Aussprache zur ersten
Lesung des Gesetzentwurfs die Regierungskoalition auf-
Liebich, Stefan DIE LINKE 07.04.2011 gefordert, das Ergebnis der Überprüfung abzuwarten.
Wir sind der Überzeugung, dass der deutsche Gesetzge-
Lips, Patricia CDU/CSU 07.04.2011 ber eine Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes nur
im Einklang mit dem europäischen Recht beschließen
Ludwig, Daniela CDU/CSU 07.04.2011 sollte. Das sind wir den vielen ehrenamtlichen Helfern in
den Freiwilligen Feuerwehren, den Rettungsdiensten,
Petermann, Jens DIE LINKE 07.04.2011 dem Technischen Hilfswerk und dem Katastrophen-
schutz schuldig. Ansonsten entsteht eine rechtlich un-
Steinke, Kersten DIE LINKE 07.04.2011
klare Situation, die für Unsicherheit bei den Betroffenen
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 07.04.2011 sorgt. Die Bundesregierung muss aus diesem Grund ge-
DIE GRÜNEN gebenenfalls erneut gesetzgeberisch reagieren, wenn die
Kommission bei ihrer noch laufenden Prüfung zum Er-
gebnis kommt, dass der vorliegende Entwurf mit euro-
päischem Recht nicht vereinbar ist.
Anlage 2
Außerdem wäre es ein wichtiger Beitrag zur Ver-
Erklärung nach § 31 GO
kehrssicherheit gewesen, wenn die Regierungskoalition
der Abgeordneten Sabine Bätzing- unserer Forderung im federführenden Ausschuss für
Lichtenthäler, Sören Bartol, Bärbel Bas, Uwe Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, bundeseinheitliche
Beckmeyer, Martin Burkert, Elvira Drobinski- Vorgaben zur Einweisung sowie den obligatorischen
Weiß, Petra Ernstberger, Hans-Joachim Einsatz von staatlich anerkannten Prüfenden bei den
Hacker, Dr. Barbara Hendricks, Gustav Prüfungsfahrten einzuführen, zugestimmt hätte.
11804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. April 2011
(A) Die Zustimmung zum sogenannten Feuerwehrführer- derungen sind wichtig, aber die nachfolgenden Regelun- (C)
schein ist dennoch richtig, weil die Neuregelung eine gen fehlen.
kostengünstige und unbürokratische Lösung ist. Ohne
diese Erleichterung für die Freiwilligen Feuerwehren, Erstens. Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und
Rettungsdienste und technischen Hilfsdienste würden das Gesetz zu präzisieren, ist die Aufnahme eines aus-
durch den Generationenwechsel bei den Ehrenamtlichen drücklichen Zugangs- und Zutrittsrechtes zu den jeweili-
künftig zu wenige Inhaber der Fahrerlaubnisklasse C1 gen nationalen Betrieben für Mitglieder Europäischer
zur Verfügung stehen, um die Einsatzbereitschaft im Betriebsräte im EBRG notwendig. Damit wird geklärt,
Sinne der Sicherheit unserer Gesellschaft zu gewährleis- wie die vorgesehene Unterrichtung der örtlichen Arbeit-
ten. nehmervertretung durch den Europäischen Betriebsrat in
der Praxis erfolgen soll.
Zweitens. Das EBRG muss dahin gehend geändert
Anlage 3 werden, dass die vorgesehenen Sanktionen bei Zuwider-
Erklärung nach § 31 GO handlungen wirksam, abschreckend und im Verhältnis
zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessen sind.
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke Dies sieht die Richtlinie in Erwägungsgrund 36 vor, der
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- die Mitgliedstaaten verpflichtet, abschreckende Sanktio-
mung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes nen zu verankern. Insbesondere die Bußgeldvorschriften
zur Änderung des Europäische Betriebsräte- in § 45 EBRG müssen angepasst werden. Die dort
Gesetzes – Umsetzung der Richtlinie 2009/38/ vorgesehene Geldbuße mit einer Obergrenze von
EG über Europäische Betriebsräte (2. EBRG- 15 000 Euro ist für multinationale Konzerne weder ab-
ÄndG) (Tagesordnungspunkt 11 a) schreckend noch wirksam und sollte daher im Sinne der
Viele Unternehmen in der Europäischen Union sind Richtlinie deutlich erhöht werden.
grenzüberschreitend aktiv und global vernetzt. Sie ope-
Drittens. Maßnahmen, die gesetzeswidrig ohne Betei-
rieren und entscheiden über Staatsgrenzen hinweg. Die
ligung des Europäischen Betriebsrates beschlossen wur-
Transnationalisierung in der Unternehmenswelt nimmt
den, dürfen nicht umgesetzt werden. Dem Europäischen
weiter zu. Die 1994 in der Richtlinie für die Gründung
Betriebsrat ist daher ein Anspruch auf Unterlassung be-
Europäischer Betriebsräte (94/45/EG) geschaffene Mög-
teiligungswidriger Maßnahmen einzuräumen.
lichkeit einer europaweiten und grenzüberschreitenden
Arbeitnehmervertretung war deshalb ein wichtiger Viertens. In § 1 Abs. 2 EBRG muss die Voraussetzung
Schritt und ein Kernstück des Europäischen Sozialmo- für Unterrichtungen und Anhörungen der Europäischen
(B) dells. Mittlerweile existieren europaweit über 900 Euro- Betriebsräte konkretisiert werden, um die Rechtssicher- (D)
päische Betriebsräte, rund 160 davon in Deutschland. heit zu erhöhen. „Grenzüberschreitende Angelegenhei-
Die Richtlinie von 1994 war jedoch mangelhaft und ten“ liegen dann vor, wenn die zentrale Leitung Entschei-
an einigen Stellen revisionsbedürftig. Die zum 5. Juni dungen trifft, die Auswirkungen auf Arbeitnehmerinnen
2009 verabschiedete Neufassung der Richtlinie erfüllt und Arbeitnehmer in Unternehmen oder Unternehmens-
jetzt die Minimalanforderungen an eine Anpassung an gruppen in anderen Mitgliedstaaten haben.
die veränderte Unternehmenssituation in Europa. Zur Fünftens. § 31 EBRG sollte ersatzlos gestrichen wer-
Umsetzung der Europäischen Richtlinie in nationales den. Die Einschränkung der Unternchtungs- und Anhö-
Recht ist Deutschland bis zum 5. Juni 2011 verpflichtet. rungsrechte in Tendenzunternehmen ist weder sachlich
Der vorliegende Gesetzentwurf für ein Zweites Gesetz erforderlich, noch ist sie im Rahmen der nationalen Um-
zur Änderung des Europäischen Betriebsräte-Gesetzes, setzung der Europäischen Betriebsräterichtlinie zwin-
EBRG, übernimmt viele notwendige und begrüßenswerte gend notwendig.
Korrekturen aus der EU-Richtlinie. Dem Gesetzgeber
Sechstens. In § 38 EBRG sollte ein exemplarischer
bleiben jedoch über die expliziten Umsetzungsverpflich-
Katalog von Themen aufgenommen werden, die in
tungen hinaus nationale Spielräume, die zur Stärkung
Schulungen des Europäischen Betriebsrats behandelt
der Arbeitnehmerrechte genutzt werden sollten. Der vor-
werden können. Dieser muss insbesondere „interkultu-
liegende Gesetzentwurf lässt diesen Spielraum an vielen
relle Kommunikation“, „Arbeitsbeziehungen in den
Stellen ungenutzt.
Ländern der Europäischen Union“, „Umgang der Euro-
Deshalb enthalte ich mich bei diesem Gesetzentwurf päischen Betriebsrats-Mitglieder mit Managementinfor-
der Stimme. Die aus der Richtlinie übernommenen Än- mationen“ und Sprachschulungen umfassen.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980