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Plenarprotokoll 16/22

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

22. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
neten Dr. Lukrezia Jochimsen und Ottmar BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für ein
Schreiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619 A effektives, europataugliches und wirt-
schaftsfreundliches Umweltrecht
Wahl des Abgeordneten Christian Ahrendt (Drucksache 16/654) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 C
als Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619 B
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619 B Zusatztagesordnungspunkt 14:
Absetzung der Tagesordnungspunkte 6 und 7 1620 C Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Priska
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 1620 C Hinz (Herborn), Kai Boris Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN: Kooperations-
Zur Geschäftsordnung möglichkeiten von Bund und Ländern in
Bildung und Wissenschaft erhalten
Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1621 A (Drucksache 16/648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 C
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1622 B
Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1623 A Zusatztagesordnungspunkt 15:
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . 1623 C Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch,
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1624 B brücken), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN: Föderalismusreform
im Bildungsbereich
(Drucksache 16/647) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 C
Zusatztagesordnungspunkt 12:
Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weite- Tagesordnungspunkt 3:
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Zukunftsfähige Rahmenbedingungen für Unterrichtung durch die Bundesregierung:
ein wirksames Umweltrecht im föderalen Bericht über die Lebenssituation junger
Deutschland schaffen Menschen und die Leistungen der Kinder-
(Drucksache 16/674) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 C und Jugendhilfe in Deutschland – Zwölfter
Kinder- und Jugendbericht – und Stellung-
nahme der Bundesregierung
Zusatztagesordnungspunkt 13: (Drucksache 15/6014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 D
Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard
Loske, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, in Verbindung mit
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Zusatztagesordnungspunkt 1: Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE


GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643 D
Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Kai
Boris Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abge- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) 1646 B
SES 90/DIE GRÜNEN: Neue Chancen und
Perspektiven für Kinder und Jugendliche Dr. Eva Möllring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1646 C
in Deutschland Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1648 C
(Drucksache 16/817) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1625 D
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1650 A
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1626 A Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1652 A

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1628 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 1652 D

Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1629 D Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1654 D


Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 1631 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1657 A
Renate Künast (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1634 B Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1657 B
Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1635 B Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 1657 C
Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1636 B Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 1659 B
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) 1660 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1637 D Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1662 B
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 1638 C Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 1663 C
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 1640 C Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt . . . . . 1664 C
Jürgen Kucharczyk (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 1641 C

Tagesordnungspunkt 19:
Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Gerigk, Renate Künast, Matthias Berninger, zes zur Änderung des patentrechtlichen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Einspruchsverfahrens und des Patent-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gleich- kostengesetzes
stellung auf dem Arbeitsmarkt verwirk- (Drucksache 16/735) . . . . . . . . . . . . . . . . 1664 C
lichen – Innovationshemmnis Männerdo- b) Erste Beratung des von der Bundesre-
minanz beenden gierung eingebrachten Entwurfs eines
(Drucksache 16/712) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643 B Gesetzes zu dem Internationalen Über-
einkommen von 2001 über die zivil-
in Verbindung mit rechtliche Haftung für Bunkerölver-
schmutzungsschäden
(Drucksache 16/736) . . . . . . . . . . . . . . . . 1664 D
Zusatztagesordnungspunkt 2: c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeord- zes zur Änderung des Ölschadengeset-
neter und der Fraktion der FDP: Frauenpoli- zes und anderer schifffahrtsrechtlicher
tik – Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor Vorschriften
(Drucksache 16/832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643 C (Drucksache 16/737) . . . . . . . . . . . . . . . . 1664 D
d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
in Verbindung mit rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Übereinkommen über das
Recht der nichtschifffahrtlichen Nut-
Zusatztagesordnungspunkt 3: zung internationaler Wasserläufe
(Drucksache 16/738) . . . . . . . . . . . . . . . . 1664 D
Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer Ab- e) Erste Beratung des von der Bundesregie-
geordneter und der Fraktion der LINKEN: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes zes zu dem Protokoll vom 17. Juni 1999
auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen über Wasser und Gesundheit zu dem
(Drucksache 16/833) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643 C Übereinkommen von 1992 zum Schutz
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 III

und zur Nutzung grenzüberschreiten- Zusatztagesordnungspunkt 5:


der Wasserläufe und internationaler
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
Seen der LINKEN: Die Zukunft der Rente
(Drucksache 16/739) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 A
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 1666 D
f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1668 B
zes zur Änderung von Vorschriften des Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1669 C
Sozialen Entschädigungsrechts und des
Franz Müntefering, Bundesminister
Gesetzes über einen Ausgleich von
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1670 D
Dienstbeschädigungen im Beitrittsge-
biet Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 16/754) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1672 C

g) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 1673 D
schung und Technikfolgenabschätzung Volker Schneider (Saarbrücken)
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1674 D
Technikfolgenabschätzung – Vierter
Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1676 A
Sachstandsbericht zum Monitoring
„Technikakzeptanz und Kontroversen Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 1677 C
über Technik“ – Partizipative Verfah- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 1678 D
ren der Technikfolgenabschätzung und
parlamentarische Politikberatung Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 1679 D
(Drucksache 15/5652) . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 1681 A
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1682 A
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Tagesordnungspunkt 5:
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Erste Beratung des von der Bundesregierung
zes zur steuerlichen Förderung von eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Wachstum und Beschäftigung die Weitergeltung der aktuellen Renten-
(Drucksache 16/753) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 B werte ab 1. Juli 2006
(Drucksache 16/794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1683 A
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten in Verbindung mit
Gesetzes zur Änderung des Betriebsprä-
miendurchführungsgesetzes Zusatztagesordnungspunkt 6:
(Drucksache 16/858) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 C
Antrag der Abgeordneten Volker Schneider
(Saarbrücken), Klaus Ernst, Katja Kipping,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Tagesordnungspunkt 20:
LINKEN: 1-Euro-Jobs aus der Berech-
a) Zweite und dritte Beratung des von der nungsgrundlage für die Rentenanpassung
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs herausnehmen
eines Siebenten Gesetzes zur Änderung (Drucksache 16/826) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1683 B
des Gemeindefinanzreformgesetzes Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär
(Drucksachen 16/635, 16/835, 16/852) . . 1665 C BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1683 B
b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 1685 A
SPD, der FDP, der LINKEN und des Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1686 A
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Erneute Überweisung von Vorlagen aus Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 1686 D
früheren Wahlperioden Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 1688 A
(Drucksache 16/820) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1666 A
Volker Schneider (Saarbrücken)
c) – i) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1689 A
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
schusses: Sammelübersichten 14, 15, 16, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1690 B
17, 18, 19 und 20 zu Petitionen
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1691 B
(Drucksachen 16/662, 16/663, 16/664,
16/665, 16/666, 16/667, 16/668) . . . . . . . . 1666 A Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1692 B
IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Tagesordnungspunkt 8: geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-


SES 90/DIE GRÜNEN: Recht auf Giro-
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der
konto auf Guthabenbasis gesetzlich
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
verankern
DIE GRÜNEN: Belarus vor den Präsident-
(Drucksache 16/818) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1710 A
schaftswahlen 2006
(Drucksache 16/816) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1693 D Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 1710 A
Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 1694 A Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1710 C
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 1695 A Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1712 B
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 1696 B Simone Violka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1713 B
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1696 C Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1698 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1714 D
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1699 A
Tagesordnungspunkt 10:
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 1699 C
Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 1700 A Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abge-
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1700 B SES 90/DIE GRÜNEN: Moderne Verbrau-
cherpolitik fortführen und weiterent-
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 1701 C wickeln
(Drucksache 16/684) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1716 A
Tagesordnungspunkt 11: in Verbindung mit
Antrag der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Birgit Homburger, Hartfrid Wolff Zusatztagesordnungspunkt 8:
(Rems-Murr), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: GmbH-Gründungen be- Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
schleunigen und entbürokratisieren Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Jens
(Drucksache 16/671) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1702 C Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Verbraucherschutz in der
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . 1702 C Marktwirtschaft durch mündige und auf-
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 1703 D geklärte Verbraucher sicherstellen
(Drucksache 16/825) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1716 B
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 1705 C
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 1706 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1716 B
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1707 A
Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU) . . . . . 1717 B
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 1719 D
1707 C
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 1708 C Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 1721 C

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 1722 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1709 A Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 1723 B
Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 1724 B
Tagesordnungspunkt 9:
Erste Beratung des von der Fraktion der Zusatztagesordnungspunkt 9:
LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
das Kreditwesen Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
(Drucksache 16/731) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1709 D Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP: Keine Wett-
bewerbsverzerrungen für Landwirte durch
in Verbindung mit die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Hal-
tung von Nutztieren in nationales Recht
(Drucksache 16/590) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1725 B
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 1725 C
Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Ab- Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 1726 D
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 V

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 1728 B Tagesordnungspunkt 13:


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 1729 B Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . 1730 A Christine Scheel, Kerstin Andreae, Bärbel
Höhn und der Fraktion des BÜNDNIS-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN: Offene Immobilien-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731 D fonds – Marktstabilität sichern, Anleger-
vertrauen stärken
(Drucksache 16/661) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1740 B
Tagesordnungspunkt 12:
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1740 C
Neuforn, Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 1741 A
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mehr Da-
tenschutz beim so genannten Scoring Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1742 D
(Drucksache 16/683) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1733 A
Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1743 C
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1733 A Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 1745 A
Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 1734 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1746 C
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1736 B
Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 1737 B
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1738 B Anlage
Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1739 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1747 A
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1619

(A) (C)

Redetext

22. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Überweisungsvorschlag:


Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Die Sitzung ist eröffnet. Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Ausschuss für Arbeit und Soziales
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und uns Ausschuss für Bildung, Forschung und
gute und konstruktive Beratungen. Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder,
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich zwei Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und
nachträgliche Geburtstagsglückwünsche vortragen. Die der Fraktion der LINKEN
Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen feierte am 1. März Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeits-
ihren 70. Geburtstag und der Kollege Ottmar Schreiner markt durchsetzen
am 21. Februar seinen 60. Im Namen des ganzen Hauses – Drucksache 16/833 –
gratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen nachträg- Überweisungsvorschlag:
(B) lich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (D)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
(Beifall) Ausschuss für Arbeit und Soziales

Die Kollegin Elke Hoff hat ihr Amt als Schriftführe- ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
rin niedergelegt – was ich natürlich sehr bedauere. Als (Ergänzung zu TOP 19)
Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
Christian Ahrendt vor. Können wir uns darauf einigen? – ten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förde-
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege rung von Wachstum und Beschäftigung
Christian Ahrendt damit zum Schriftführer gewählt. – Drucksache 16/753 –
Überweisungsvorschlag:
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Finanzausschuss (f)
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- Rechtsausschuss
führten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Kai Verbraucherschutz
Boris Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Arbeit und Soziales
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugendli- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
che in Deutschland Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
– Drucksache 16/817 – b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Überweisungsvorschlag: Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Finanzausschuss – Drucksache 16/858 –
Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag:
Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Haushaltsausschuss Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Fraktion der FDP Reaktorsicherheit
Frauenpolitik – Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
– Drucksache 16/832 – Die Zukunft der Rente
1620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider Verteidigungsausschuss (C)
(Saarbrücken), Klaus Ernst, Katja Kipping, weiterer Abgeord- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
neter und der Fraktion der LINKEN Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Ren- Entwicklung
tenanpassung herausnehmen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 16/826 – Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
Überweisungsvorschlag: weit erforderlich – abgewichen werden.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungs-
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Ulrike punkte 6 – hierbei handelt es sich um das Gesetz zur
Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung –
Recht auf Girokonto auf Guthabenbasis gesetzlich veran- und 7 – Kinderbetreuung – abzusetzen und stattdessen
kern an dieser Stelle die Tagesordnungspunkte 8 – Wahlen in
– Drucksache 16/818 – Belarus – und 11 – GmbH-Gründungen – zu beraten.
Überweisungsvorschlag: Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
Rechtsausschuss aufmerksam:
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales Der in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera-
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Jens Ackermann, tung überwiesen werden.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch mün-
dige und aufgeklärte Verbraucher sicherstellen Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weite-
– Drucksache 16/825 –
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirk-
Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss sam verbessern
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 16/551 –
Ausschuss für Gesundheit Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
(B) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (D)
Technikfolgenabschätzung Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages
Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die
Umsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren
lich dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) gemäß
in nationales Recht § 96 GO überwiesen werden.
– Drucksache 16/590 – Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Überweisungsvorschlag: CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Verbraucherschutz
Wachstum und Beschäftigung
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei,
Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- – Drucksache 16/643 –
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben – US- Finanzausschuss (f)
Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig ab- Rechtsausschuss
ziehen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 16/819 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Winfried Nachtwei, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sind Sie mit diesen gerade vorgetragenen Vereinba-
Nuklearen Dammbruch verhindern – Indien an das Re- rungen einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall.
gime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Dann ist das so beschlossen.
Nichtweiterverbreitung heranführen
– Drucksache 16/834 –
Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, müssen
wir einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben fristgerecht
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beantragt, die heutige Tagesordnung um vier Anträge zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1621
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) erweitern. Es handelt sich hierbei um vier Anträge im das kann uns nicht daran hindern, den parlamentarischen (C)
Zusammenhang mit der geplanten Föderalismus- Ansprüchen, die das Thema stellt, gerecht zu werden.
reform, die in der 19. Sitzung am 16. Februar an die
(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/
Ausschüsse überwiesen wurden. Die Fraktionen der
CSU])
CDU/CSU und SPD beantragen, diese vier Anträge auf
die heutige Tagesordnung aufzusetzen und sodann in Nun gibt es zwei Varianten: Die erste Variante – ihr
Abänderung unseres früheren Überweisungsbeschlusses scheinen Sie zuzuneigen – besteht darin, zu versuchen,
federführend an den Rechtsausschuss zu überweisen. – dieses Thema nur von seinen Einzelaspekten her zu er-
Ich hoffe, dass die Debattenlage damit hinreichend ge- fassen.
klärt ist.
(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das stimmt doch
Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung zunächst gar nicht! Lesen Sie unseren Antrag!)
dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-
– Das scheint Sie ja sehr zu erregen. Aber vielleicht hö-
Fraktion.
ren Sie mir erst einmal zu. Dann können Sie Ihre Mei-
nung sagen. Das wäre doch eine Möglichkeit, mit unse-
Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): rer Geschäftsordnung umzugehen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir werden morgen hier im Haus die erste Lesung Praktisch jeder Ausschuss ist mit diesem Thema be-
des Gesetzentwurfs zur Reform des Bundesstaates fasst: unter anderem der Umweltausschuss, der Finanz-
durchführen. Bei dem Thema „Reform des Bundesstaa- ausschuss und der Rechtsausschuss. Alle Ausschüsse
tes“ stellen sich ganz viele Einzelfragen. Diese Einzel- beschäftigen sich mit einem Einzelaspekt der Föderalis-
fragen machen aber nicht das Thema „Reform des Föde- musreform.
ralismus“ aus. Die Reform des Föderalismus erhebt den (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Anspruch, insbesondere die Gesetzgebung im Bundes- Das ist doch nur miese Trickserei, was Sie da
staat besser zu machen, den Staat zu verbessern, zu machen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
reorganisieren, effizienter zu gestalten. DIE GRÜNEN]: Das ist doch nun wirklich
falsch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das ist die von Ihnen bevorzugte Form der Behandlung
Das ist der Anspruch. Man kann kontrovers darüber dis-
dieses Themas.
kutieren, ob der Gesetzentwurf diesem Anspruch gerecht
wird. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN)
(B) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
NEN]: Das wird man wohl kontrovers disku- Sie würde dazu führen, dass jeder Ausschuss den Einzel-
tieren müssen!) aspekt betrachtet, der ihn betrifft. Aber das Gesamtanlie-
gen dieser Reform würde nicht erfasst. Bei diesem
– Genau so ist es. – Weil dieses eine politische Thema Thema handelt es sich allerdings um ein Gesamtanliegen
gleichzeitig mit einer Vielzahl von Einzelfragen verbun- des Staates, nicht aber um ein Einzelanliegen, das zu
den ist, stellen sich an die parlamentarische Behandlung vertreten ist.
besondere Anforderungen. Man muss diesem Thema in
ganz besonderer Weise gerecht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- GRÜNEN]: Wieso haben wir überhaupt Aus-
SES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] schüsse?)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man merkt,
Sie glauben es selber nicht so ganz!) Darum schlagen wir vor – das ist die zweite Variante –,
eine Beratung durchzuführen, die beides gewährleistet:
Wenn Sie sich mit diesem Thema parlamentarisch nur dass das Thema in seiner Gesamtheit erfasst wird und
oberflächlich befassen wollen, ist das Ihre Sache. Wir dass sich alle Fachausschüsse mit dem Aspekt beschäfti-
nehmen es ernst. gen, der sie betrifft. Das ist dadurch zu realisieren, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wi- das Gesamtthema an einen Ausschuss, den Rechtsaus-
derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schuss, zur federführenden Beratung überwiesen wird.
NEN) Alle Fachausschüsse bleiben weiterhin mitberatend zu-
ständig. Selbstverständlich werden in diesem Rahmen
Darum wollen wir es adäquat behandeln. alle ihre Rechte gewahrt. Wir können und wollen da-
durch kein einziges Minderheitenrecht beschneiden.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut! So ist es! –
Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dirk Niebel [FDP]: Oh, wie gnädig von Ih-
Bei dem, was Sie da sagen, müssen Sie ja sel- nen! Das ist doch unglaublich! Das glaubt Ih-
ber lachen! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ nen kein Mensch!)
DIE GRÜNEN]: Fasching ist vorbei, Herr
Röttgen!) Selbstverständlich werden auch Sachverständigenan-
hörungen stattfinden. Wir wollen und – wenn Sie das be-
Dieses Thema stellt besondere Ansprüche an uns. Wenn ruhigt – wir können auch keine Minderheitenrechte be-
Sie ihnen nicht genügen, dann ist das bedauerlich. Aber schneiden. Darum werden wir ein Verfahren durchführen,
1622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Norbert Röttgen


(A) das nach meiner Prognose in einer mehrtägigen Sach- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem (C)
verständigenanhörung münden wird und in dessen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Rahmen sowohl das Gesamtanliegen betrachtet wird als geordneten der SPD)
auch alle Möglichkeiten, auch alle zeitlichen Möglich-
keiten, bestehen werden, jeden Einzelaspekt strukturiert Genau das zu tun, ist allerdings die Absicht der Koali-
zu beraten. tion. Sie wollen eine Massenanhörung im nur für Ver-
fassungsfragen zuständigen Rechtsausschuss durchfüh-
(Dirk Niebel [FDP]: Da spricht die Arroganz ren.
der Macht! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Lassen Sie uns doch lieber (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein! Das
endlich einmal anfangen!) stimmt doch nicht!)

In dieser Weise werden wir beiden Anliegen gerecht: Das zeigt, dass Sie die notwendige Diskussion scheuen,
sowohl den Gesamtzusammenhang als auch die Details die sich beispielsweise in den Bereichen Bildung, Um-
zu betrachten. Beides muss in einem ordnungsgemäßen welt und Strafvollzug angedeutet hat.
Gesetzgebungsverfahren bewertet werden. Das wollen (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
wir tun. Ich denke, das ist das einzig zielführende Ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
fahren.
Ich weiß, dass ich nicht nur für meine Fraktion spre-
(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das glauben che – die anderen Oppositionsfraktionen werden sich
wir nicht!) gleich ähnlich äußern –, sondern auch für viele Fachkol-
Sie müssen Ihre Oppositionsrolle natürlich selbst ge- legen in der Koalition.
stalten. Aber ein reiner Oppositionsgestus, der davon (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
lebt, dass man etwas nicht so macht, wie es die anderen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel
machen wollen, obwohl das in der Sache geboten wäre, [FDP]: Ganz genau! Die trauen sich nur
ist wirklich nicht überzeugend. nicht!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denn eines ist völlig klar: Die von Ihnen geplante Mas-
Da gibt es ja grandiose Vorbilder!) senanhörung, an der auch der Bundesrat beteiligt wer-
Überlegen Sie sich das noch einmal. den soll, hätte zur Folge, dass die einzelnen Kollegen
kaum noch die Möglichkeit hätten, Fragen zu stellen.
Vielen Dank. Auch wenn Sie hier so großzügig verkünden, dass dafür
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – mehrere Tage vorgesehen sind, ist das kein Angebot, mit
(B) (D)
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem sich das Parlament zufrieden geben kann.
NEN]: Erst haben Sie auf reine Opposition ge- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
macht! Aber was ist jetzt los? Was ist denn bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihnen passiert?)
Nein, was Sie hier praktizieren, ist schlicht die Arroganz
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Macht!
Bevor ich dem Kollegen van Essen für die FDP-Frak- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
tion das Wort erteile, möchte ich dafür werben, das Aus- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
maß der Zwischenrufe auf ein Volumen zu reduzieren,
das es noch erlaubt, die erkennbar unterschiedlichen Wir sind in dieses Parlament gewählt, die Anregun-
Positionen der Fraktionen durch ihre jeweiligen Spre- gen – die ja in vielfältiger Form gekommen sind – zu be-
cher überhaupt hörbar zu machen. rücksichtigen. Ich beispielsweise bin Berichterstatter im
Bereich des Strafvollzugs. Es muss uns doch nachdenk-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lich machen, dass alle Organisationen, die mit dem
der SPD) Strafvollzug zu tun haben – die Kirchen, der Richter-
Nun hat der Kollege van Essen für die FDP-Fraktion bund, die Gewerkschaften und viele andere Organisatio-
das Wort. nen –, uns auffordern, es anders zu regeln. Nehmen wir
die Anregungen aus der Öffentlichkeit doch ernst und
(Beifall bei der FDP) führen wir geordnete Beratungen durch! Das ist der
Wunsch unserer Fraktion und, wie ich weiß, auch der der
Jörg van Essen (FDP): anderen Oppositionsfraktionen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion hat Anfang BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dieser Woche mit großer Mehrheit beschlossen, die Fö-
deralismusreform zu unterstützen. Wir werden das deshalb nicht mitmachen.
(Beifall des Abg. Olaf Scholz [SPD]) Vielen Dank.
Mit gleicher Klarheit fordern wir im Deutschen Bundes- (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie
tag aber auch, dass dieses Paket nicht bloß „durchge- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
wunken“ wird. GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1623

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich habe am Anfang kurz etwas über die Attitüde ge- (C)
Das Wort hat nun der Kollege Olaf Scholz für die sagt. Ich will dazu ergänzen: Eigentlich finde ich das
SPD-Fraktion. Ganze schade. Denn die Grünen haben der Föderalis-
musreform schon einmal zugestimmt.
Olaf Scholz (SPD): (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und GRÜNEN)
Kollegen! Wir führen hier eine etwas komische Debatte.
– Doch!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist eine Lüge, lieber Olaf Scholz!
Komisch wird eine Debatte dann, wenn Opposition zur Wir haben ihr nie zugestimmt!)
Attitüde wird. Ich glaube, man sollte durch inhaltliche
Beiträge Unterstützung leisten und nicht einfach dage- Auch die FDP hat gesagt, sie will die Reform unterstüt-
gen sein, nur weil man das an dieser Stelle schön ma- zen. Dieser konstruktive Geist sollte Sie bei der ganzen
chen kann. Debatte begleiten!
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Schönen Dank.
GRÜNEN]: Sie haben die heutige Debatte be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
antragt, nicht wir! – Dirk Niebel [FDP]: Das
ist die hässliche Fratze der großen Koalition! –
Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Präsident Dr. Norbert Lammert:
CSU) Das Wort hat die Kollegin Dagmar Enkelmann für die
Fraktion Die Linke.
Ich glaube im Übrigen, dass es notwendig ist, nicht
mit Unterstellungen zu arbeiten. Deswegen will ich et- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
was darüber sagen, wie es sein wird, wenn heute so be-
schlossen wird, wie wir das vorschlagen: Natürlich wird Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
auch dann jeder Sachverständige und jede Sachverstän- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
dige, die sonst in den Ausschüssen gehört würden, ge- lege Röttgen, Ihre Rede hatte den Charme einer einge-
hört werden. sprungenen Sitzpirouette. Wie Sie das zurückgenommen
(Fritz Rudolf Körper [SPD]: So ist es!) haben, was Sie hier einmal mehrheitlich beschlossen ha-
ben, das verdient schon Respekt, Herr Kollege!
(B) Wir werden genauso lange über die Fragen diskutieren, (D)
wie wenn das einzeln in den Ausschüssen verhandelt (Beifall bei der LINKEN)
würde, und jeder Abgeordnete wird die Möglichkeit ha- Die große Koalition ist Gift für die parlamentarische
ben, die Fragen zu stellen, die er stellen will. Niemand Demokratie; das beweist genau der Vorgang, über den
wird in Bezug auf Zeit oder Inhalt beschnitten werden. wir gerade beraten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen (Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Man fragt sich schon, warum Sie etwas dagegen ha- GRÜNEN)
ben, dass in einer auch für die Öffentlichkeit nachvoll- Wir haben vor drei Wochen mehrere Anträge, die im Zu-
ziehbaren Weise über die Föderalismusreform diskutiert sammenhang mit der Föderalismusreform stehen, in die-
wird. sem Haus beraten und sie gemeinsam an die zuständigen
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Fachausschüsse überwiesen – was sinnvoll war, was ver-
GRÜNEN]: Warum haben Sie denn vor Ihren nünftig war und was bisher als Verfahren üblich war.
eigenen Fachpolitikern Angst?)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Denn dafür haben wir als Parlament ja ebenfalls Verant- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
wortung: dass man nachvollziehen kann, was stattfindet. GRÜNEN)
Dafür ist es besser, wenn nacheinander und im Zusam-
Was ist in den Ausschüssen passiert? Im Umweltaus-
menhang über diese Fragestellung diskutiert wird statt in
schuss zum Beispiel hat man sich bereits über den Fort-
vielen Ausschüssen und für die Öffentlichkeit kaum be-
gang des Verfahrens verständigt. Herr Scholz, dort ist
merkbar.
gestern beschlossen worden, dass eine öffentliche Anhö-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung stattfinden wird.
Ich glaube deshalb, dass wir der Debatte und der Ent- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
scheidung einen Gefallen tun, wenn wir Platz einräumen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
für eine lange, sorgfältige und intensive Diskussion im ten der FDP)
Rechtsausschuss – in Zusammenarbeit mit allen einzel-
nen Fachausschüssen in diesem Deutschen Bundestag. So weit zum Umgang mit der Öffentlichkeit. Ich würde
gerne wissen, wie Sie mit diesem Beschluss des Aus-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schusses umgehen wollen.
1624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Dagmar Enkelmann


(A) Der Bildungsausschuss ist etwas anders verfahren; Ländern aufgelöst und eigenständige Gesetzgebungs- (C)
das gebe ich gerne zu. Hier hat sich die Mehrheit gewei- spielräume für die verschiedenen staatlichen Ebenen er-
gert, dem Auftrag des Parlaments zu folgen, nämlich die reicht werden.
Anträge, die in den Ausschuss überwiesen worden sind,
Von der Bundesratsbank wurde uns vollmundig ge-
dort auch ordentlich zu beraten. sagt, diese Reform solle die Mutter aller Reformen sein.
Jetzt wollen Sie die Federführung des Rechtsaus- Wir haben den Verdacht, dass das, was morgen hier de-
schusses. Das heißt, die Fachpolitiker sollen in einer so battiert werden soll, die Mutter allen Murkses werden
wichtigen Debatte wie der über den Umbau bzw. die könnte. Deshalb sind wir in großer Sorge und meinen
Neuorganisation des Staatswesens de facto entmachtet wir, dass wir eine vernünftige Debatte in diesem Parla-
werden; ment brauchen.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Das, was Sie da sa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gen, ist Unsinn!) bei der FDP und der LINKEN – Dr. Peter
Ramsauer [CDU/CSU]: Ihre Arroganz ist
denn wir alle wissen sehr wohl, dass nach der Geschäfts- wirklich unerträglich! Was dieses Parlament
ordnung eine eigenständige Anhörung in den Fachaus- mit Ihnen alles aushalten muss!)
schüssen dann nicht mehr möglich ist. Das heißt, wir alle
sind auf das Wohlwollen der Koalition angewiesen, im Wenn die große Koalition für eine Sache in der Ge-
Rechtsausschuss gegebenenfalls auch Fachpolitiker an- schichte gut sein könnte, dann für eine Föderalismusre-
zuhören. Ich denke, das kann es nicht sein. form aus einem Guss. Sie legen aber nicht mehr vor als
den Belagerungskompromiss von Bundestag und Bun-
(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem desrat aus der letzten Wahlperiode. Zu Recht fürchten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie hier die Kritik Ihrer eigenen Fachpolitiker.
Spannenderweise geht es ja gerade um die Politikfel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der – das konnten wir den Medien in den letzten Tagen bei der FDP und der LINKEN)
entnehmen –, die innerhalb der Koalitionsfraktionen
noch strittig sind. Wollen Sie die Federführung also zur Wir schreiben nun Parlamentsgeschichte, weil Sie die
Rechte der Opposition und die Rechte des Parlaments
Disziplinierung der Abtrünnigen in Ihren eigenen Rei-
insgesamt mit diesem Beschluss heute hier mit Füßen
hen nutzen?
treten.
(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(B) Ich denke, das ist ein unglaublicher Vorgang in diesem der FDP) (D)
Hohen Hause. Herr von Essen, mir war genau das Glei- Nach unserer Geschäftsordnung ist eindeutig vorgese-
che eingefallen wie Ihnen: Das strotzt nur so von Arro- hen, dass selbst mitberatende Ausschüsse Anhörungen
ganz der Macht. durchführen können. Sie haben in der letzten Sitzungs-
(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie woche gepennt, als wir Anträge in den Bildungs- und in
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ den Umweltausschuss überwiesen haben, damit wir dort
DIE GRÜNEN) eigenständige Anhörungsrechte haben. Sie scheuen
diese Anhörungen, weil Sie die Argumente der Fachpo-
Kraft Ihrer Wassersuppe werden Sie das Zurückholen litik scheuen; denn Sie wissen, dass Sie in der Fachdis-
der Anträge und die Überweisung in den federführenden kussion keine guten Argumente haben.
Ausschuss heute natürlich mit Mehrheit beschließen. Sie
sollten davon ausgehen, dass wir das nicht auf sich beru- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
hen lassen werden. Wir werden gegebenenfalls rechtli- bei der FDP und der LINKEN)
che Schritte prüfen. Die Vorsitzende des Umweltausschusses, die Kolle-
(Dr. Peter Struck [SPD]: Was soll das denn? – gin Petra Bierwirth, sagte auf die Frage, ob sie die Auf-
Weitere Zurufe von der SPD: Oh!) fassung der Umweltverbände teile, die kritisiert hätten,
dass die Chance auf ein modernes übersichtliches Um-
Ich denke, die Opposition sollte sich nicht wie ein lästi- weltrecht leichtfertig vertan worden sei:
ges Übel in diesem Parlament behandeln lassen.
Ja, diese Einschätzung teilen wir Umweltpolitiker
(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem der SPD-Bundestagsfraktion ebenso.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kein Wunder, dass Sie nicht wollen, dass die gestern
beschlossene Anhörung des Umweltausschusses stattfin-
Präsident Dr. Norbert Lammert: det, Sie befürchten nämlich ein Desaster für den umwelt-
Zum Schluss der Geschäftsordnungsdebatte erhält der politischen Teil der Föderalismusreform.
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Am 23. Januar 2006 verkündete der „Lautsprecher“
Fraktion will eine Föderalismusreform, eine Reform, der SPD-Bildungspolitik, Jörg Tauss, in einer Pressemit-
durch die die Wirrnisse zwischen dem Bund und den teilung, er wolle Expertengespräche und eine umfangrei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1625
Volker Beck (Köln)
(A) che Anhörung im Bildungsausschuss des Deutschen Solche Regelungen machen die Menschen verrückt. (C)
Bundestages durchsetzen. Wo ist denn der „Lautspre- Einen solchen Murks können wir uns nicht leisten.
cher“ Jörg Tauss heute? Wo versteckt er sich denn? – Durch eine sorgfältige Beratung können wir vielleicht
Heute sitzt er ganz hinten. Ansonsten sitzt er immer eine klügere und mehrheitsfähige Lösung finden. Des-
vorne und ist darauf auch sehr stolz. halb lassen Sie uns die Kompetenz des ganzen Hauses
für diese große Staatsreform nutzen, um eine große
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Murksreform zu vermeiden!
sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
KEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN)
Als wir nach der Debatte in der letzten Sitzungswo-
che diese Vorschläge überwiesen haben, sagte der SPD-
Bildungspolitiker Thomas Oppermann zu dem, was Sie Präsident Dr. Norbert Lammert:
im Bildungsausschuss nicht diskutieren wollen: Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zu-
nächst über den Antrag auf Erweiterung der Tagesord-
Art. 104 b des Grundgesetzes in der neuen Fassung nung. Wer für die Aufsetzung der Anträge auf den
lässt Finanzhilfen des Bundes an die Länder nicht Drucksachen 16/674, 16/654, 16/648 und 16/647 auf die
mehr zu: gerade auf einem Gebiet, auf dem heutige Tagesordnung stimmt, den bitte ich um das
Deutschland einen finanziellen und gestalterischen Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
Kraftakt vor sich hat und deshalb alle verfügbaren sich? – Dann ist der Aufsetzungsantrag mit der Mehrheit
Kräfte und Ressourcen mobilisieren müsste, er- der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange-
scheint ein Finanzhilfe- und Kooperationsverbot nommen.
wenig plausibel.
Wer für die Überweisungsvorschläge der Fraktionen
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der CDU/CSU und SPD stimmt, wobei die Federführung
DIE GRÜNEN und der LINKEN) beim Rechtsausschuss liegen soll, die bisherigen feder-
führenden Ausschüsse mitberaten sollen und im Übrigen
Sie sehen, dass über die neuen Zuständigkeiten für die Überweisungsbeschlüsse vom 16. Februar 2006 un-
Bildung, Wissenschaft und Forschung im Grundgesetz verändert fortbestehen sollen, den bitte ich um das
noch sehr intensiv beraten werden muss. Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
Genau diese Beratungen wollen wir durchsetzen. Ha- sich? – Auch dies ist mit der gleichen Mehrheit so be-
ben Sie keine Angst! Wir machen erst eine Anhörung im schlossen.
Bildungsausschuss und im Umweltausschuss. Danach Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 sowie den
können Sie alles in einer dreitägigen oder auch 14-tägi- Zusatzpunkt 1 auf:
(B) gen Anhörung im Rechtsausschuss zusammenführen. (D)
Diese Anhörungen verschlagen doch nichts. Aber Sie 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
wollen Ihre eigenen Fachpolitiker zu Zaungästen dieser gierung
Veranstaltung machen, weil Sie sich selber bei Ihrer Re- Bericht über die Lebenssituation junger Men-
form unsicher sind. schen und die Leistungen der Kinder- und Ju-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gendhilfe in Deutschland
bei der FDP und der LINKEN) – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht –
Ihr Verhalten ist unsouverän und unparlamentarisch. und
Ich bitte Sie wirklich, sich das noch einmal zu überlegen.
Gerade weil diese Reform so wichtig ist, können wir es Stellungnahme der Bundesregierung
uns nicht leisten, statt wie erhofft den Anteil der zustim- – Drucksache 15/6014 –
mungspflichtigen Gesetze um 35 oder 40 Prozentpunkte
zu verringern, am Ende nur eine Reduktion um 10 Pro- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
zentpunkte und eine Rechtszersplitterung im ganzen Rechtsausschuss
Lande als Ergebnis zu erhalten. Deshalb müssen wir hier Ausschuss für Bildung, Forschung und
sorgfältig beraten. Technikfolgenabschätzung

Ich sage Ihnen: Die Menschen im Lande wollen die ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Rechtszersplitterung mit der doppelten Rückausnahme- Deligöz, Kai Boris Gehring, Grietje Bettin, wei-
regelung, die Sie sich ausgedacht haben, nicht. Vielmehr terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
wollen sie klare Zuständigkeiten. Gerade da Sie auch NISSES 90/DIE GRÜNEN
immer an die Wirtschaft denken, meine Damen und Her-
ren von der Union, überlegen Sie sich einmal Folgendes: Neue Chancen und Perspektiven für Kinder
Ein Wirtschaftsunternehmer schaut sich die Regelungen und Jugendliche in Deutschland
im Umweltgesetzbuch an und hält sich an diese Bestim- – Drucksache 16/817 –
mungen. Im Ergebnis hat er dann mit Zitronen gehan-
Überweisungsvorschlag:
delt, weil sein Bundesland von diesen Regelungen ab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
weichen durfte und davon im Bundesgesetz nichts stand. Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Reden Sie Technikfolgenabschätzung
zur Geschäftsordnung!) Haushaltsausschuss
1626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt bekommen – und die Familienarmut geringer ist. Der (C)
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Zwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt dies an und
fordert notwendige Veränderungen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Die Bundesregierung unterstützt die grundlegende
Richtung des Zwölften Kinder- und Jugendberichts.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-
gen, die nun anderen Verpflichtungen nachkommen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
müssen, möglichst zügig den Plenarsaal zu verlassen.
Viele Forderungen, die insbesondere in die Verantwor-
(Unruhe) tung des Bundes fallen, finden sich als konkrete politi-
sche Verpflichtung im Koalitionsvertrag.
Ich darf darum bitten, dass wichtige Staatsgespräche, die
sich aber offenkundig nicht auf diesen Tagesordnungs- Eltern brauchen eine ökonomische Perspektive. Dort
punkt beziehen, außerhalb des Plenarsaals geführt wer- setzt auch der Kinder- und Jugendbericht mit seiner For-
den. derung an, Eltern finanziell in die Lage zu versetzen,
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Kinder im ersten Lebensjahr in der Familie zu erziehen.
nächst für die Bundesregierung der Bundesministerin Er stellt Folgendes fest:
Ursula von der Leyen. Die derzeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheint
(Beifall bei der CDU/CSU) wenig geeignet, jungen Familien einen Ausgleich
gegenüber dem vorgeburtlichen Einkommen zu bie-
ten.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Unsere Antwort auf diese Forderung des Kinder- und
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jugendberichts ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeld
Zwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt ganz klar fest: signalisieren wir ganz klar: Es ist dem Staat nicht gleich-
Auf den richtigen Anfang kommt es an. Für die Zu- gültig, wenn sich junge Menschen für ein Kind entschei-
kunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gibt es keine den. Heute ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle so,
wichtigere Aufgabe als die zugewandte, verlässliche und dass, wenn ein Kind geboren wird, die Familie wächst,
kompetente Unterstützung aller Kinder, die in diese Ge- aber das Einkommen wegbricht. Das Elterngeld mildert
sellschaft hineinwachsen. Jedes Kind braucht seine dies in Zukunft ab.
Chancen, damit es seine Fähigkeiten entfalten kann, und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zwar von Anfang an. Denn es sind in Wahrheit auch die der SPD)
(B) Chancen für das ganze Land. (D)
Außerdem bringt es Anerkennung. Der Staat honoriert
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Erziehungsleistung der Eltern und unterstützt sie mit
der SPD) dem Elterngeld, sich Zeit für das Neugeborene zu neh-
Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag mit der Vor- men. Das Elterngeld berücksichtigt aber auch die Wahl-
lage des Kinder- und Jugendberichts die Situation der freiheit der Lebensentwürfe.
Kinder und Jugendlichen in unserem Land regelmäßig in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
den Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte stellt.
Bildung, Erziehung und Zuwendung müssen Kindern al- Ich will es ganz klar sagen: Das Elterngeld zwingt nie-
ler Altersstufen zugänglich sein. Dieser Kernbotschaft manden in ein bestimmtes Familienmodell. Es ist ein
des Kinder- und Jugendberichts kann ich voll zustim- kluger und effektiver Beitrag, Eltern Zeit zu ermögli-
men. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir aber noch chen, in die Rolle des Vaters oder in die der Mutter hi-
besser werden. Denn in keinem vergleichbaren Land ist neinzuwachsen, und zwar ohne finanziellen Druck. Das
der Einfluss der Herkunft auf die Bildungschancen so zeigen uns die Erfahrungen aus anderen Ländern.
groß wie in Deutschland.
Unser Latein darf aber nicht am Ende sein, wenn die
Wir haben zu lange die Augen vor den Tatsachen ver- Kinder ein, zwei Jahre alt sind. Wir wissen aus der Säug-
schlossen. Einerseits leisten junge Eltern einen enormen lingsforschung, dass Kinder andere Kinder brauchen,
persönlichen, privaten Einsatz für Erziehung, Bildung wenn sie sich gut entwickeln sollen. Wenn es die große
und Zuwendung für ihre Kinder. Andererseits wollen Geschwisterschar nicht mehr gibt, wenn es nicht mehr
und müssen diese jungen Eltern in wirtschaftlichen Um- selbstverständlich zehn, 15 Gleichaltrige in derselben
bruchzeiten gemeinsam das Familieneinkommen erar- Straße gibt, dann müssen wir eben andere Möglichkeiten
beiten. Verglichen mit der Situation in anderen Ländern schaffen, damit Kinder Beziehungserfahrungen sam-
haben diese Eltern in Deutschland relativ wenig Unter- meln. Sie sollen mit und durch andere Kinder lernen, mit
stützung in der Infrastruktur rund um Kinder und Fami- ihnen die Welt entdecken und Kontakt zu anderen Er-
lie erhalten. wachsenen aufnehmen. Eine frühe Förderung sorgt für
Bildung im Sinne einer Entdeckermentalität im Alltag.
Im Ergebnis sehen wir, dass bei unseren europäischen
Nachbarn mehr Kinder geboren werden, die Vereinbar- Eltern werden durch gute Betreuungsangebote dabei
keit von Beruf und Familie besser gelingt, die Kinder unterstützt, Familie und Beruf zu vereinbaren. Wir wis-
im Bildungsvergleich besser abschneiden – also mehr in- sen aus Untersuchungen, dass 52 Prozent der Eltern mit
nere Ressourcen für die Zukunft mit auf den Lebensweg Kindern unter sechs Jahren erwerbstätig sein möchten,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1627
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) bevorzugt der Vater in Vollzeit, die Mutter in Teilzeit. Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt außer- (C)
Doch nur 6 Prozent gelingt es – das ist die Krux –, ihren dem an, dass zu viele Jugendliche heute keine echten
Wunsch umzusetzen. Eine vor zwei Tagen veröffent- Zukunftsperspektiven haben, vor allem keine Chance
lichte Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass es El- auf dem Arbeitsmarkt sehen. Sie kennen sicherlich die
tern vor allem wichtig ist, ihre Kinder nicht nur gut be- Zahlen: 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlas-
treut, sondern auch gefördert zu wissen. Gerade unter sen die Schule ohne Abschluss. Jede fünfte Berufsaus-
dem Aspekt der Qualitätsstandards halten sie den flä- bildung wird abgebrochen, weil die Jugendlichen nicht
chendeckenden Ausbau einer bedarfsgerechten Kinder- gut vorbereitet sind. 15 Prozent der Jugendlichen zwi-
betreuung für vordringlich. schen 20 und 29 Jahren haben gar keine Berufsausbil-
dung. Ich denke, diese Zahlen verweisen auf eine der
Die große Koalition steht daher zu dem gesetzlich Hauptursachen der Jugendarbeitslosigkeit. Ich stimme
verankerten Ausbau der Betreuungsangebote für unter deshalb der Aussage im Kinder- und Jugendbericht zu,
dreijährige Kinder. dass alle Jugendlichen zumindest die Chance haben
müssen, gleichberechtigt an Bildung teilzunehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir müssen natürlich in den Schulen anfangen. Aber
Dies ist als Pflichtaufgabe der Kommunen definiert und auch vonseiten des Bundes können wir Wege aufzeigen,
gesetzlich verankert. Für die Umsetzung tragen Bund, zum Beispiel wenn es darum geht, Jugendliche zurück in
Länder und Kommunen gemeinsam Verantwortung. Ich die Schulen zu bringen und ihnen eine zweite Chance zu
betone deshalb, dass die Bundesregierung die den Kom- geben. In einem bundesweiten Modellprojekt in Zusam-
munen zugesicherten 1,5 Milliarden Euro für den Aus- menarbeit mit freien Trägern, Jugendämtern und Schu-
bau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige ab 2005 len erproben wir Wege zur Reintegration so genannter
bereitgestellt hat. Das ist ein starkes Wort. harter Schulverweigerer in die Schulen und begleiten
sie bis zum Schulabschluss. Hinzu kommen die vom
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundesjugendministerium geförderten Kompetenz-
agenturen, die die berufliche Integration von benachtei-
Ich werde in Kürze dem Parlament den ersten Bericht ligten Jugendlichen durch passgenaue Angebote verbes-
über den Stand des Ausbaus der Tagesbetreuung für un- sern. Dass dies funktioniert, lässt sich eindrucksvoll
ter Dreijährige vorlegen. Ich begrüße es sehr, dass im belegen. Von den Jugendlichen, die von Kompetenz-
Kinder- und Jugendbericht die Tagespflege und die Be- agenturen betreut wurden, ist fast jeder Zweite in Aus-
treuung in Einrichtungen gleichgestellt werden. Das ent- bildung oder Arbeit und jeweils jeder Vierte in ein För-
spricht den Bedürfnissen der Eltern; denn Eltern wollen derangebot oder in eine weiterführende Schule vermittelt
(B) selbst wählen, wie ihre Kinder betreut werden. Gerade worden. Das ist eine gute Bilanz. (D)
wenn es um die Jüngsten geht, wählen sie oft eine fami-
liennahe Tagesbetreuung. Das Bundesfamilienministe- Schließlich erhebt der Kinder- und Jugendbericht
rium unterstützt die Qualifizierung in der Tagespflege. auch die Forderung nach einer besseren Infrastruktur für
In wenigen Wochen werde ich das Onlinehandbuch „Ta- Familien im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Ich
gespflege“ vorstellen, das sich an die verantwortlichen greife die Anregung der Kommission, Familienzentren
Akteure vor Ort richtet und Bausteine zum Ausbau der einzurichten, gern auf, möchte sie aber noch erweitern
Kindertagespflege bereithält. Zudem wird die gerade und Mehrgenerationenhäuser schaffen. Denn warum be-
verabschiedete verbesserte Absetzbarkeit der Kinderbe- ziehen wir in die Angebote für Familien, Kinder und Ju-
treuungskosten ganz klar mehr Angebote und mehr gendliche nicht auch ältere Menschen ein? Ältere Men-
Qualität in die Tagespflege bringen. schen sind heute so gesund, so gut ausgebildet und so
kompetent wie nie zuvor. Paradoxerweise haben wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kaum Nachfrage nach ihren Kompetenzen. Mehrgenera-
tionenhäuser bieten die Chance dafür.
Die meisten Eltern sind in der Lage, ihre Kinder gut
zu versorgen, gut zu erziehen und ihnen liebevolle Zu- Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht uns
wendung zu geben. Doch wenn Eltern völlig überfordert darauf aufmerksam, dass noch viel zu tun ist, wenn wir
sind und mit ihren Kindern in eine Spirale von Isolation, unseren Kindern Voraussetzungen geben wollen, dass sie
Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung geraten, Chancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Ta-
dann müssen wir früher hinschauen und rechtzeitig dafür lente zu entwickeln. Sie werden in Zukunft viel Verant-
sorgen, dass Hilfe in den Familienalltag kommt. Der wortung tragen müssen und es geht um unsere gemein-
Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass es richtig ist, same Zukunft.
diesen Weg zu gehen. Deshalb entwickeln wir in den Ich danke Ihnen.
nächsten Monaten auf der Grundlage von Erfahrungen
aus Kommunen und Bundesländern, aber auch aus dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ausland Modellprojekte für soziale Frühwarnsysteme.
Das Ziel ist, dabei vor allem die Grenzen zwischen Ge- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sundheitssystem und Jugendhilfe zu überwinden. Wir Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Miriam
haben hier lange wenig getan. Es ist nun an der Zeit, Gruß das Wort.
auch hier den ganzheitlichen Aspekt von Anfang des Le-
bens des Kindes an ins Auge zu fassen. (Beifall bei der FDP)
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(A) Miriam Gruß (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen der LINKEN)
und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir
heute an so prominenter Stelle eine Drucksache von Und das nennen Sie Familienförderung?
434 Seiten behandeln, in der es ausschließlich um Kin- Sie legen Familien noch mehr Steine in den Weg, als
der und Jugendliche in Deutschland geht. Die FDP-Frak- ohnehin schon überwunden werden müssen. Familien
tion begrüßt den Zwölften Kinder- und Jugendbericht sowie allein erziehende Mütter und Väter haben es heute
und dankt der Sachverständigenkommission für ihre in- in Deutschland schon schwer genug. Es ist doch ein Un-
tensive Arbeit. ding, sie noch stärker durch eine unsoziale und familien-
(Beifall bei der FDP) feindliche Erhöhung der Mehrwertsteuer zu belasten.
Wir Liberale wollen jungen Menschen in Deutschland
In vielen Punkten entsprechen die Empfehlungen der die Ängste und Sorgen nehmen.
Experten denen der FDP. Das ist die gute Nachricht. Die
FDP wird die Forderungen des Berichts konstruktiv un- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
terstützen, die die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder
Wir wollen ihnen die Freiheit bieten, sich für Kinder zu
und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen.
entscheiden.
(Beifall bei der FDP)
Wilhelm von Humboldt hat gesagt:
Denn darum muss es uns allen gemeinsam gehen: die
Anliegen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend
ernst zu nehmen und ihnen eine möglichst behütete, sor- auch der Einfluss der Erziehung sein mag, so sind
genfreie und glückliche Kindheit zu ermöglichen. doch noch immer wichtiger die Umstände, welche
den Menschen durch das ganze Leben begleiten.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag
GRÜNEN]: Auch den Kindern von Herrn diese Erziehung allein nicht durchzudringen.
Klinsmann!)
Es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Umstände
Die Bundesregierung hat offenbar ein anderes Verständ- für Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt ist Hum-
nis von Kindeswohl. Wie sonst ist es zu erklären, dass boldt ganz aktuell. Das haben auch die Autoren des Kin-
sie mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um der- und Jugendberichts verstanden: Wichtig ist das Zu-
3 Prozentpunkte Familien und damit auch Kinder zu- sammenspiel aller an Bildung, Betreuung und Erziehung
sätzlich belasten will? Beteiligten. Kinder und Familie müssen als ein Joint (D)
(B)
Venture gelten.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Elke
Reinke [DIE LINKE]) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Kinder brauchen Eltern, die ihnen ein intaktes und be- Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben! So ein
schütztes Zuhause bieten. Aber Eltern brauchen auch die Mist! Haben Sie das von Guido?)
Mittel, um ihre Kinder versorgen zu können. Diese Mög- Grundlage dafür ist ein neuer, umfassender Bildungs-
lichkeit wird ihnen von der jetzigen Bundesregierung begriff, den die Kommission definiert. Bildung wird
verbaut. Vom „Abenteuer Kinder“ ist in dem Kinder- verstanden als das Erlernen der Fähigkeit, sich in der
und Jugendbericht die Rede. Laut Duden ist ein Aben- Gesellschaft zurechtzufinden. Das Kind wird nun als ein
teuer ein „riskantes Unternehmen“, eine „gefahrvolle Subjekt gesehen, mit einer eigenen Persönlichkeit, mit
Situation, die jemand mit Wagemut zu bestehen hat“. Ich individuellen Talenten und Kompetenzen. Der Vorsit-
kann gut verstehen, dass junge Menschen es heutzutage zende der Kommission, Professor Rauschenbach, hat da-
als ein Abenteuer empfinden, sich für Kinder zu ent- für ein schönes Bild gefunden: Bildungsprozesse sind
scheiden. Die Menschen fragen sich: Wie kann ich mich Bausteine, die Menschen dazu befähigen, zum „Archi-
auf ein Kind freuen, wenn ich nicht weiß, wie es mit tekturbüro ihrer eigenen Lebensplanung“ zu werden.
meinem Arbeitsplatz weitergeht? Wie soll ich meinen
Kindern eine sorglose Kindheit bieten, wenn alles immer Der Bericht fokussiert die Trias Bildung, Betreuung
teurer wird? Kann ich mir ein Kind überhaupt leisten? und Erziehung. Gleichzeitig wird uns in Deutschland
Diese Fragen und Zweifel haben Sie zu verantworten, aber in genau diesen Bereichen attestiert, dass wir hier
verehrte Damen und Herren der Bundesregierung. einen „unübersehbaren Nachholbedarf“ haben. Was
heißt das? Das heißt:
(Beifall bei der FDP)
Erstens. Die familiäre Herkunft ist in Deutschland
Ist es das, was Sie den Menschen suggerieren wollen?
entscheidend für die Bildungsbiografie eines Kindes.
Wollen Sie den Menschen suggerieren, dass Kinder
nichts anderes sind als ein Risiko, ein Experiment oder Zweitens. Die Bedürfnisse der Kinder sind mit den
gar eine Gefahr? Durch die Mehrwertsteuererhöhung ho- Lebensentwürfen der Frauen und Männer schwer verein-
len Sie sich jeden zusätzlichen Cent zurück, den Sie den bar.
Familien durch das Elterngeld oder die steuerliche Ab-
setzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gewähren Drittens. Ganz Deutschland braucht dringend ein gu-
wollen. tes Betreuungsangebot für unter Dreijährige. Gleichzei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1629
Miriam Gruß
(A) tig herrschen hier „unübersehbar schwierige fiskalische Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Reden (C)
Rahmenbedingungen“. und Ratschläge nicht mehr weiterhelfen. Wenn Meldun-
gen wie diese beinahe alltäglich werden, ist es an der
(Beifall bei der FDP) Zeit, zu handeln.
Viertens. Die pädagogische Qualität in Tageseinrich-
Ich habe es vorhin schon gesagt: Kinder sind auf die
tungen wird bemängelt und der erhebliche Reformbedarf
Fürsorge, die Verantwortung und die Pflege der Erwach-
in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher wird
senen besonders angewiesen. Sie sind das schwächste
angemahnt.
Glied in unserer Gesellschaft und gleichzeitig unsere Zu-
Fünftens. Es fehlt in Deutschland an einer gründli- kunft. Dem Entwurf für eine EU-Verfassung und ver-
chen Qualitätssicherung und Evaluation im Bildungsbe- schiedenen Landesverfassungen ist der Schutz von Kin-
reich. dern eigene Passagen wert, nicht aber unserem
Grundgesetz. Auch der Nationale Aktionsplan „Für ein
(Beifall bei der FDP) kindergerechtes Deutschland“ weist in die folgende
Es kann doch nicht sein, dass Selbstbräunungscremes, Richtung: Die Bedeutsamkeit von Kindern für unsere
Kartoffelpüree und Digitalkameras permanent auf ihre Gesellschaft gebietet es, ihren Schutz im Grundgesetz
Qualität und Verträglichkeit überprüft werden, nicht aber ausdrücklich zu verankern. Wir müssen den besonderen
die Einrichtungen, denen wir unsere Kinder anvertrauen. Schutz von Kindern explizit in das Grundgesetz aufneh-
men.
(Beifall bei der FDP)
Wir brauchen keine Politik der besten Absichten. Was
Es gibt einzelne Stichproben und einzelne Studien, zum wir brauchen, ist eine Politik der besten Ergebnisse für
Beispiel die von Professor Tietze, übrigens Mitautor des Kinder und Familien.
Kinder- und Jugendberichts, aus dem Jahre 1998, die ge-
zeigt haben, dass nur 30 Prozent der Kindergärten eine (Beifall bei der FDP)
gute Qualität aufweisen. Das heißt, wir Eltern können
Deshalb bitte ich Sie, Frau von der Leyen: Erschweren
gemäß dieser Studie unsere Kinder guten Gewissens nur
Sie Familien nicht das Leben durch eine schädigende
jedem dritten Kindergarten anvertrauen.
Mehrwertsteuererhöhung! Bauen Sie nicht noch höhere
Wer gleiche Startchancen für Kinder fordert, der muss Hürden für junge Menschen auf, die mutig sind und das
auch etwas dafür tun, „Abenteuer Kind“ wagen wollen! Sorgen Sie dafür, dass
Kinder nicht die Leidtragenden der Finanzknappheit öf-
(Beifall bei der FDP) fentlicher Kassen sind!
(B) dass öffentliche Angebote in ausreichendem Maß und in (D)
(Beifall bei der FDP)
einer geprüften Qualität zur Verfügung stehen. Eltern
müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder Räumen Sie dem Schutz von Kindern und ihren Rechten
gut aufgehoben sind. den Status ein, den sie verdienen! Unsere Gesellschaft
hat ohne Kinder keine Zukunft. Sie sind unser wunder-
Kinder sind in einem hohen Maß von einer fürsorg- barster Reichtum. Lassen Sie uns dies endlich zur Ma-
lichen, beschützenden und emotional sicheren Umge- xime unseres Handelns machen!
bung abhängig. Dieser Aufgabe und Verantwortung
müssen sich Eltern und Bindungspersonen jederzeit be- (Beifall bei der FDP)
wusst sein. Leider ist dies nicht immer der Fall. Immer
mehr Eltern sind mit dem Spagat zwischen den hohen
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ansprüchen, die Kinder zu Recht stellen, und der Exis-
tenzsicherung der Familie überfordert. Die schreckliche Frau Kollegin Gruß, das war Ihre erste Rede im Deut-
Wahrheit der vergangenen Woche hat uns dies wieder schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren
einmal deutlich vor Augen geführt: Am 27. Februar be- möchte – verbunden mit allen guten Wünschen für die
richtet dpa: Mutter gesteht Kindstötung – Leiche lag weitere parlamentarische Arbeit.
monatelang in Kühltruhe. – Einen Tag später vermeldet (Beifall)
die Agentur: Neunjähriger Stiefsohn erwürgt. – Heute
genau vor einer Woche schreibt die Presseagentur AFP: Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Griese für die
„Totes Baby in Papiersortieranlage in Nordfriesland ent- SPD-Fraktion.
deckt“. Am vergangenen Freitag mussten wir über ein
verwahrlostes Kind in Hamburg lesen: Vater pflegt Waf- (Beifall bei der SPD)
fensammlung statt achtjährigen Sohn. – Meine Damen
und Herren, das ist die traurige Realität von Kindern in Kerstin Griese (SPD):
Deutschland aus der vergangenen Woche. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Allen klugen Empfehlungen des Zwölften Kinder- Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Zwölfte Kin-
und Jugendberichts gebührt Anerkennung und eine fun- der- und Jugendbericht: Das sind über 350 Seiten eines
dierte Debatte über ihre Umsetzung, aber gegen diese starken Plädoyers für mehr Chancen für Kinder und Ju-
bittere Wirklichkeit bleiben sie blass. gendliche. Das ist zugleich ein Appell an die Politik und
an die Gesellschaft insgesamt, die Verantwortung für die
(Beifall bei der FDP) Zukunft von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen.
1630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Kerstin Griese
(A) (Abgeordnete der FDP gratulieren der Abge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
ordneten Miriam Gruß [FDP])
Auch das steht in dem Bericht. Es geht also in der Kin-
– Auch ich gratuliere noch einmal der Kollegin Gruß. der- und Jugendpolitik um die soziale Integration und
Wenn ich das von dieser Stelle aus kollektiv mache, geht um bessere Teilhabemöglichkeiten für Kinder. Das
es vielleicht schneller. Motto „Auf den Anfang kommt es an“, das wir als SPD
als Überschrift gewählt haben und das auch jetzt die
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der
Kinder-, Jugend- und Familienpolitik weiter durchzieht,
CDU/CSU)
verlangt ein Handeln nach der Devise: Je früher man El-
Ich danke den Mitgliedern der Kommission, die den tern unterstützt, Familien begleitet und Kinder fördert,
Zwölften Kinder- und Jugendbericht erstellt hat, und ih- desto positiver. Der Vorschlag des Berichtes, mehr ver-
rem Vorsitzenden Professor Rauschenbach – sie alle hö- netzte Angebote, so genannte Häuser für Familien, zu
ren uns, wie ich glaube, jetzt zu – auch im Namen der schaffen, verdient unseres Erachtens besondere Beach-
SPD-Fraktion ganz herzlich für ihre Arbeit und das gute tung. Mit der Förderung von Mehrgenerationenhäu-
Werk, das sie erstellt haben. Sie haben uns damit viele sern – Frau Ministerin hat es schon gesagt – und von Fa-
wichtige Daten und Argumente an die Hand gegeben. milien- bzw. Eltern-Kind-Zentren greifen wir diese Idee
Vielen Dank. auf. Das ist wichtig für die Entwicklung in den Stadttei-
len.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP) Die zweite wichtige Botschaft lautet: Wir müssen die
gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, Betreuung
Ich danke Ihnen auch für den kommunikativen Pro-
und Erziehung stärken. Auch da bin ich stolz auf das,
zess, in dem dieser Bericht entstanden ist. Es handelt
was die frühere SPD-Regierung schon begonnen hat. Ich
sich nämlich nicht um einen Bericht, der im stillen Käm-
erinnere an das 4-Milliarden-Euro-Programm für mehr
merlein geschrieben wurde, sondern um einen, der mit
Ganztagsschulen – in NRW gibt es jetzt schon
gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden, Fachleuten und
1 000 offene Ganztagsgrundschulen; das ist ein Er-
auch bei uns im Jugendausschuss im Januar 2005 sehr
folgsprojekt –
intensiv und sehr spannend diskutiert wurde. Auch des-
halb, weil bei der Erstellung dieses Berichtes enge Kom- (Beifall bei der SPD)
munikation mit der Politik gepflegt wurde, konnte vie-
les, was Sie dort entwickelt haben, in die Tagespolitik und an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Aus-
einfließen und angedacht werden. Die frühere SPD-Re- bau der Betreuung für die unter Dreijährigen vorsieht.
gierung hat schon vor Jahren damit begonnen, mehr in Ich will in dem Zusammenhang auch den Erzieherinnen
(B) Bildung und Betreuung zu investieren, um Kindern frü- und Erziehern danken. Ich weiß, dass sie immer viel kri- (D)
her bzw. mehr Chancen zu geben. tisiert und beschimpft werden, obwohl sie eine wirklich
schwere Arbeit für wenig Geld machen. Wir sollten ei-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gentlich dafür sorgen, dass sie mehr Chancen auf Weiter-
Ich bin sehr froh und danke Ihnen, Frau Ministerin von bildung erhalten, und so neue Wege aufzeigen, statt im-
der Leyen, dass sich dieser Ansatz wie ein roter Faden mer nur zu sagen, die Erzieherinnen und Erzieher in
durch unsere gemeinsamen Vereinbarungen für die Kin- Deutschland seien alle schlecht.
der-, Jugend- und Familienpolitik für die nächsten Jahre (Ina Lenke [FDP]: Sagt ja keiner!)
zieht und dass Sie auch in diesem Punkt an die Politik
Ihrer Vorgängerin Renate Schmidt anknüpfen. Sie sind es nicht. Sie leisten eine wichtige Arbeit. Zu-
gleich müssen ihnen aber mehr Möglichkeiten für Wei-
Ich will etwas zu den Hauptbotschaften des Kinder- terbildung eröffnet werden.
und Jugendberichtes sagen und dazu, wo nach Auffas-
sung der SPD Schwerpunkte gesetzt werden müssen: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Erstens. Der Bericht macht ganz klar: Wir müssen die GRÜNEN])
Spirale von Armut und mangelnden Bildungschancen
durchbrechen. Besonders Kinder und Jugendliche, die in Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur Botschaft von der
sozialen Brennpunkten leben oder einen Migrationshin- gesellschaftlichen Verantwortung für den Ausbau von
tergrund haben, haben weniger Bildungschancen; das Bildung und Betreuung gehört, ist der Rechtsanspruch
heißt zugleich, auch immer weniger Zukunftschancen. auf einen Kindergartenplatz. Die große Koalition hat
Der Bericht sagt, nicht alle Kinder haben die gleichen deutlich gesagt, dass dieser Rechtsanspruch auf einen
Zugänge zu einer guten Entwicklung. Es gibt immer Kitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr kommen wird,
noch viel zu viele Kinder, die ohne ein gesundes Früh- wenn der Ausbau in den Kommunen nicht zügig genug
stück aus dem Haus gehen und zu Hause kein Buch vor- vorangeht. Dazu stehen wir und das werden wir durch-
gelesen bekommen, sondern eher Fastfood und Fern- ziehen.
sehen in der Freizeit konsumieren. Das sind (Beifall bei der SPD)
Alltagsrealitäten. Da müssen wir noch stärker auf dem
aufbauen, womit wir begonnen haben, noch stärker ver- Die dritte wichtige Botschaft lautet: Wir brauchen ei-
netzte Angebote in den Stadtteilen machen, früher be- nen umfassenderen Begriff von Bildung. Diesen Punkt
ginnen, Kinder zu fördern, sowie stärker die Eltern ein- behandelt der Bericht sehr deutlich und ausführlich. Bil-
beziehen und unterstützen. dung findet viel früher statt und in viel mehr Kontexten,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1631
Kerstin Griese
(A) als man noch vor einigen Jahren dachte. Bildung findet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
nicht nur in der Familie statt, sondern auch in der Nach- der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/
barschaft, im Kindergarten, in der Freizeit und in den DIE GRÜNEN)
Medien. Bildung ist eben nicht nur mit Schule gleichzu-
Noch ein Satz zur aktuellen Diskussion über die
setzen, sondern bedeutet, dass Kinder vielfältige Kom-
Gebührenfreiheit von Kindertageseinrichtungen, die
petenzen entwickeln. Da betont der Kinder- und Jugend-
wir alle zu Recht, wie ich finde, immer wieder fordern:
bericht ganz ausdrücklich die frühkindliche Bildung und
Ja, auch die SPD will langfristig die Gebührenfreiheit.
empfiehlt deshalb auch, mehr Möglichkeiten zu schaf-
Unser erster Schritt ist der Ausbau der Betreuungsmög-
fen, damit Kinder schon ab dem zweiten Lebensjahr,
lichkeiten. Das ist immer noch nötig, auch angesichts der
also nach dem ersten Geburtstag, einen Kindergarten be-
regionalen Unterschiede. Wir wollen, dass alle Kinder in
suchen können. Unter dem schönen Motto „Kinder brau-
den Kindergarten gehen können und vor der Schule die
chen mehr als Windeln“ weist der Kinder- und Jugend-
deutsche Sprache richtig lernen können. Das ist ganz
bericht darauf hin, dass der Kontakt zu Gleichaltrigen als
wichtig.
Ergänzung zur Erziehung in der Familie wichtig ist.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich weise auf ein Beispiel hin, wie das positiv umge-
Die vierte wichtige Botschaft des Berichtes: Wir setzt werden kann. Rheinland-Pfalz hat das Programm
brauchen eine nachhaltige Familienpolitik, um Kinder „Zukunftschance Kinder: Bildung von Anfang an“ um-
und Jugendliche zu stärken. Dazu gehört der Ausbau der gesetzt. Dort ist seit dem 1. Januar dieses Jahres das
Betreuung. Der Bericht weist aber auch noch einmal letzte Kindergartenjahr gebührenfrei. Gleichzeitig wer-
sehr deutlich darauf hin, dass wir etwas tun müssen, um den die Kindergärten schon für Zweijährige geöffnet und
im ersten Lebensjahr des Kindes die Eltern finanziell zu damit auch in der Fläche erhalten. Da hat Kurt Beck, wie
unterstützen. Deshalb ist der Weg der großen Koalition, ich finde, eine gute Tat vollbracht und ein sinnvolles
das Elterngeld einzuführen, richtig. Programm vorgeschlagen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ina (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Lenke [FDP]: Welches?) der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Und die
FDP!)
Ich wundere mich immer über den nordrhein-westfä-
lischen Ministerpräsidenten, der einerseits das Eltern- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erich Kästner hat
geld ablehnt und gleichzeitig im eigenen Land massive einmal gesagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Kürzungen bei Kindertageseinrichtungen, bei der Fami- Das Beispiel in Rheinland-Pfalz zeigt: Man kann es tun,
(B)
lienbildung und bei der Jugendförderung vornimmt. wenn man will. Man kann mehr investieren für Kinder (D)
Wenn das Jahr 2006 zum Jahr des Kindes ausgerufen und Jugendliche. Man kann die Prioritäten richtig setzen,
wird, gleichzeitig aber 75 Millionen Euro bei den Kin- wie uns das auch der Kinder- und Jugendbericht vor-
dergärten gekürzt und stattdessen Polizeipferde und schlägt.
Landwirtschaftskammern unterstützt werden, dann emp- Ich finde, dass wir auf der Bundesebene in der großen
fehle ich die Lektüre des Kinder- und Jugendberichtes. Koalition auf einem guten Weg sind, diese Priorität in
Das müsste eigentlich zu einem Umdenken führen. der Kinder- und Jugendpolitik gut zu setzen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Unser roter Faden ist, dass Kinder eine gute Zukunfts-
SES 90/DIE GRÜNEN) chance haben. Das ist unsere Politik für mehr Chancen
In dieser Woche will ich auch eine Anmerkung zu ei- für Kinder. Denn nur eine kinderfreundliche Gesell-
nem Thema machen, das heute früh schon auf der Tages- schaft hat eine gute Zukunft. In diesem Sinne hoffe ich,
ordnung stand, nämlich die Reform unserer Verfassung. dass wir daran gemeinsam weiterarbeiten.
Ich denke, wir sollten bei dieser Reform darauf achten, Vielen Dank.
dass wir handlungsfähig bleiben und uns nicht den Weg
verbauen, notwendige Schritte für die Verbesserung der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Chancen von Kindern und Jugendlichen zu tun. Viele bei Abgeordneten der LINKEN)
von uns haben die Umsetzung des 4-Milliarden-Euro-
Programms für mehr Ganztagsschulen begleitet. Das Präsident Dr. Norbert Lammert:
war ein außerordentlich wichtiger Schritt. Es war sehr Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die
schwierig, das im Föderalismus umzusetzen; aber es war Fraktion Die Linke.
nicht unmöglich. Wir sollten uns solche Möglichkeiten
erhalten; denn Deutschland ist eines der letzten Länder (Beifall bei der LINKEN)
Europas, die noch eine Halbtagsschule haben. Wenn wir
hier den Anschluss an die europäische Entwicklung Diana Golze (DIE LINKE):
schaffen wollen, müssen wir in der Kinder- und Jugend- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
hilfe, in der Bildungspolitik und bei den Investitionen Kolleginnen und Kollegen! Zum wievielten Mal stehen
für Kinder und Jugendliche bundesweite Standards set- bzw. sitzen wir heute eigentlich im Deutschen Bundes-
zen können. tag und beklagen gravierende Mängel im deutschen
1632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Diana Golze
(A) Bildungs- und Betreuungssystem? Diejenigen unter Ih- aber nicht den Blick auf eine ganzheitliche Analyse der (C)
nen mit mehr Sternchen vor dem Namen im Kürschner gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Auf-
als ich dürften sich an das eine oder andere Mal noch er- wachsen von Kindern und Jugendlichen verstellen.
innern.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun haben wir es mit der etwas außergewöhnlichen
Situation zu tun, dass der Bericht durch die abgewählte Zu diesen Rahmenbedingungen gehören auch die im-
rot-grüne Bundesregierung in Auftrag gegeben und die mer stärker um sich greifende Prekarisierung und Verun-
vorliegende Stellungnahme ebenfalls durch die Vorgän- sicherung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
gerregierung vorgelegt wurde. Ich freue mich daher sehr, Diese haben ebenso Auswirkungen auf die Lebenswelt
dass Frau Ministerin von der Leyen zahlreiche Einschät- von Kindern und Jugendlichen wie die Tatsache, dass
zungen und Empfehlungen des Berichts teilt. Familien nach dem althergebrachten Bild „verdienender
Vater, erziehende Mutter“ längst nicht mehr die domi-
Welches sind die wichtigsten Feststellungen und For- nante Lebensweise sind, in die Kinder hineingeboren
derungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts und werden. Immer öfter erleben Kinder und Jugendliche
welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ableiten? Brüche und Veränderungen von familiären Situationen.
Die Berichtskommission und die Stellung nehmende
Bundesregierung sind sich darüber einig, dass es gravie- Welche Folgen hat dies nun für die Entwicklung von
rende Mängel im öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- Kindern und Jugendlichen? Familie und Schule haben
und Erziehungsangebot gibt, und konstatieren überein- ihren monopolartigen Anspruch auf die Organisierung
stimmend einen großen Nachholbedarf. Ich begrüße be- und Umsetzung von Bildung, Betreuung und Erziehung
sonders das von der Bundesregierung in diesem Zusam- verloren. Kinder und Jugendliche verbringen einen gro-
menhang abgelegte Bekenntnis zu einem öffentlich ßen Teil ihrer Zeit an anderen Bildungsorten und in an-
verantworteten System von Bildung, Betreuung und Er- deren organisatorischen Zusammenhängen. Musik- und
ziehung sowie zur Verantwortung von Politik für die Kunstschulen, selbst organisierte Jugendgruppen oder
Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Heran- einfach lose Gruppen von Gleichaltrigen spielen eine
wachsen der jungen Generation. Ich sehe in diesem Be- immer stärker werdende Rolle. Die Berichtskommission
kenntnis der Bundesregierung einen Anlass für einen unterstreicht zu Recht, dass diesen Lernwelten eine grö-
Politikwechsel, mit dem die Interessen von Kindern und ßere Bedeutung zukommt.
Jugendlichen wirklich in den Mittelpunkt gestellt wer-
den und all jenen eine Absage erteilt wird, die Kinder- In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf zwei
und Jugendpolitik für Luxus halten. Punkte aufmerksam machen, die man auch nachlesen
kann.
(B) Mit einem Lächeln aufgenommen habe ich das Be- (D)
dauern der Bundesregierung darüber, dass sich die Be- Erstens. Bereits 1973 stellte die Bund-Länder-Kom-
richtskommission nur unzureichend mit dem abge- mission für Bildungsplanung in ihrem Bildungsgesamt-
stimmten System in der DDR von Bildung, Betreuung plan fest:
und Erziehung vom frühen Kindesalter bis zur Ausbil- Das Bildungswesen umfasst nach neuem Verständ-
dung als Teil deutscher Entwicklung auseinander gesetzt nis nicht nur Schule, Hochschule und berufliche
hat. Ich zitiere aus der Stellungnahme der Bundesregie- Bildung, sondern auch die Elementarerziehung,
rung: eine systematisierte Weiterbildung und die außer-
Der Bericht beansprucht, die bisherige Situation in schulische Jugendbildung.
Deutschland zu erfassen, und wird dem durch die
im Schwerpunkt eingenommene westliche Perspek- Sie setzte sich deshalb folgendes Ziel:
tive nicht gerecht. Verbesserte Koordinierung der Arbeit öffentlicher
Ich hoffe, die jetzige Bundesregierung schließt sich und freier Träger und verstärkte Kooperation der
schon allein aufgrund der Herkunft der Vorsitzenden von außerschulischen Jugendbildung mit dem übrigen
zwei der drei regierungsbildenden Parteien dem Stand- Bildungswesen.
punkt an, dass die Erfahrungen des Bildungs-, Erzie- Diese Forderung findet sich nun auch im Zwölften Kin-
hungs- und Betreuungssystems der DDR zur Verbesse- der- und Jugendbericht wieder. Hier wird großer Wert
rung der jetzigen Situation beitragen können. auf die Förderung der Zusammenarbeit von Schule, Fa-
(Beifall bei der LINKEN) milie und Jugendhilfe gelegt.
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht steht unter Zweitens. Nun haben wir es aber gleichzeitig mit der
dem Leitgedanken „Bildung, Betreuung und Erziehung Situation zu tun, dass wir uns morgen in diesem Saal mit
vor und neben der Schule“. Bereits die kleine Abwand- der geplanten Föderalismusreform beschäftigen. Be-
lung im Titel des Berichts – es sollte ja „vor und in der standteil dieses Reformvorhabens ist die teilweise Zer-
Schule“ heißen – zeigt, dass die Berichtskommission er- schlagung dieser Trias. Denn zumindest auf der Bundes-
kannt hat, dass sich das Leben von Kindern und Jugend- ebene wird der Einfluss auf Bildungsstandards und
lichen an unterschiedlichen Orten abspielt und auf viel- Bildungschancen aus der Hand gegeben. Nur auf die
fältige Weise geprägt wird. Die Verfasser des Berichts Vernunft der Kultusministerkonferenz zu setzen, wie es
ziehen eine analytische Grenze am Ende des Besuchs der der Brandenburger Staatskanzleichef Clemens Appel
allgemeinbildenden Schule. Diese Einschränkung darf von der SPD gestern in der „Märkischen Allgemeinen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1633
Diana Golze
(A) Zeitung“ verlautbart hat, ist mir, ehrlich gesagt, zu ris- Diese Weisheit sollte Grundlage für die künftige Kinder, (C)
kant. Jugend- und Bildungspolitik der Bundesregierung sein.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Ich fordere vor allem die SPD-Mitglieder im Bundes- Für den Fall, dass Ihnen dieses Zitat zu alt oder zu
tag und Bundesrat auf, diese „größte Kröte“ – Zitat weit hergeholt erscheint, hier eines aus der jüngsten Ge-
Appel – nicht zu schlucken. schichte: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
stand unter dem Leitgedanken „Mehr Freiheit wagen“.
(Beifall bei der LINKEN) Lassen Sie mich dazu den polnischen Friedensnobel-
Ich warne in diesem Zusammenhang auch davor, das preisträger Lech Walesa zitieren:
Kinder- und Jugendrecht aus der Bundeshand zu geben. Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren
Sparzwänge und das Deckmäntelchen Bürokratieabbau Geldbeutel hat.
könnten in vielen Bundesländern schnell zu einge-
schränkten Handlungsmöglichkeiten der Jugendämter (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
führen. Dies darf im Interesse der Kinder und Jugendli- Deshalb finden Sie in unserem Entschließungsantrag
chen nicht geschehen. zum Kinder- und Jugendbericht unter anderem die For-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene derung nach Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro
Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) als einen ersten Schritt in Richtung einer sozialen
Grundsicherung für alle Kinder.
Nach meiner Auffassung und der meiner Fraktion
Mit einer weiteren Forderung, und zwar der nach dem
muss die Bundesregierung ihrer Verantwortung für den
elternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertages-
chancengerechten Zugang zu allen Lernwelten nach-
einrichtungen für alle Kinder, schließen wir uns einer
kommen.
Empfehlung der Berichtskommission an.
Stichwort „chancengerechter Zugang“: Ein realisti-
Wie im Bericht festgehalten wird, darf frühkindliche
scher Blick offenbart, dass sich die Chancen vieler Kin-
Bildung nicht nur als Vorbereitungszeit für die Schule
der und Jugendlicher auf einen gelungenen Start in ein
gesehen werden. Die frühkindliche Betreuung muss da-
selbst bestimmtes Leben in den letzten Jahren massiv
rüber hinaus qualitativ verbessert werden. Die Ausbil-
verschlechtert haben. Die Kinder- und Jugendarmut
dungsstandards für Erzieherinnen und Erzieher müssen
steigt konstant. Im Kinder- und Jugendbericht wird die
den künftigen Ansprüchen besser genügen. Ihre Ausbil-
Situation in angemessener Weise und mit zutreffenden
dung muss ein praxisorientiertes Hochschulstudium wer-
(B) Befunden geschildert. Seit den 90er-Jahren des 20. Jahr- den. (D)
hunderts steigt die Armutsquote unter Kindern und Ju-
gendlichen. Die Verschärfung der Sozialgesetze hat im (Beifall bei der LINKEN)
Jahr 2005 zu einer erheblichen Verschärfung geführt.
Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher müssen außer-
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband errechnete
dem kontinuierlich weitergebildet werden.
für Mitte 2005, dass sich bundesweit fast jedes siebente
Kind unter 15 Jahren im Sozialgeldbezug befand. Ich betone es noch einmal: Wir fordern den elternbei-
tragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrich-
Im Osten Deutschlands ist das Armutsrisiko noch tungen für alle Kinder. Damit verknüpfen wir die Forde-
größer. In einer Schulklasse mit 28 Kindern leben durch- rung nach der Ausweitung des Rechtsanspruchs auf
schnittlich sieben unterhalb der Armutsgrenze. Ein einen Kinderbetreuungsplatz ab der Geburt. Diese
ebenso hohes Armutsrisiko haben Kinder nicht deut- Ansprüche sind als Rechte der Kinder und unabhängig
scher Eltern oder von Alleinerziehenden. vom sozialen Status der Eltern zu gestalten. Im Bericht
Armut umfasst aber nicht nur einen Mangel an finan- wird dieser Rechtsanspruch für zweijährige Kinder ab
ziellen Ressourcen, sondern auch an sonstigen materiel- 2008 und ab 2010 für alle Kinder mit der Geburt gefor-
len und immateriellen Gütern, Einschränkungen in so- dert.
zialen und kulturellen Belangen, einen erschwerten Die Bundesregierung hält diese Forderung für ver-
Zugang zu allgemeiner Infrastruktur und wirkt sich nicht früht. Wie verträgt sich diese Einschätzung aber mit dem
zuletzt auch auf den gesundheitlichen Zustand aus. Die in ihrer Stellungnahme erklärten Ziel – ich zitiere –,
Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme zwar auf „Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinder-
die Gefahr von „Armuts-Bildungs-Spiralen“ hin, legt und familienfreundlichsten Länder Europas zu ma-
aber kein Konzept gegen diese insgesamt beunruhigende chen“? Das Tagesbetreuungsausbaugesetz, in dem bis
Entwicklung vor. zum Jahr 2010 230 000 neue Betreuungsplätze verspro-
Schon 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung chen werden, reicht für die Umsetzung dieses Ziels nicht
aus –
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: „Vor
Christus“ heißt das!) (Beifall bei der LINKEN)

stellte der Philosoph Konfuzius fest: schon allein deshalb nicht, weil die versprochene Entlas-
tung der Länder und Kommunen in Höhe von jährlich
Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine 2,5 Milliarden Euro durch die Zusammenführung von
Standesunterschiede machen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 nicht so
1634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Diana Golze
(A) eingetreten ist. Also können Länder und Kommunen da- Veränderung der Kinder- und Jugendpolitik, nicht nur (C)
von auch nicht 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der auf Bundesebene, sondern vor allem in den Ländern.
Kinderbetreuung für unter Dreijährige verwenden. Bei-
spiel Land Brandenburg: Allein in diesem Bundesland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
stehen die Landkreise als Träger der kommunalen Kin- Ich will Ihnen sagen, um was es an der Stelle geht: Es
dertageseinrichtungen in diesem Jahr nach Aussage des geht um ein kindgerechtes und gesundes Lebensum-
Landkreistages mit 300 Millionen Euro in der Kreide. feld. Dabei geht es nicht allein um die Punkte, die hier
Das ist so viel wie noch nie. schon angesprochen worden sind; dabei geht es natürlich
Wenn sich also die Bundesregierung 2010 mit dem auch zum Beispiel um Umweltfragen. Auch REACH,
Prädikat „kinder- und familienfreundliches Land“ die Chemikalienrichtlinie der EU, wäre in diesem Zu-
schmücken will, muss sie nicht nur die Rechtsansprüche sammenhang zu nennen. Das müsste man auch unter
ausweiten und die Qualität der Betreuung verbessern, dem Gesichtspunkt angehen: Welcher Belastung sind ei-
sondern auch Länder und Kommunen verlässlich in die gentlich Kinder ausgesetzt? Um ein weiteres Beispiel zu
Lage versetzen, diese Ansprüche umzusetzen. nennen: Wann wird die Schadstoffbelastung in den Städ-
ten nicht nur auf Höhe der Nasen der Erwachsenen,
(Beifall bei der LINKEN) sondern auch auf Höhe von Nasen der zwei- oder drei-
jährigen Kinder, also direkt am Auspuff des Autos, ge-
Werte Kolleginnen und Kollegen, die im Zwölften messen? Auch das ist damit gemeint, wenn wir sagen,
Kinder- und Jugendbericht benannten Probleme dürfen das Lebensumfeld muss verändert werden.
nicht weggeredet werden. Der Bericht ist kein Anlass für
Sonntagsreden, sondern für einen politischen Kurswech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sel im Sinne der Kinder und Jugendlichen. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vielen Dank. Wir brauchen eine gute und gesunde Schule, einen
guten und gesunden Kindergarten, wobei Sport, die rich-
(Beifall bei der LINKEN) tige Ernährung und Verlässlichkeit dazu gehören. Wir
brauchen ferner eine kinderfreundliche Stadtplanung. Es
Präsident Dr. Norbert Lammert: sollte nicht so sein, dass man Eintritt zahlen muss, damit
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, sich ein Kind in der Freizeit körperlich bewegen kann.
Bündnis 90/die Grünen. Ebenfalls brauchen wir neue Bedingungen für das Leben
mit Kindern im Rahmen der Arbeitswelt. Schließlich be-
nötigen wir auch noch Folgendes: Die öffentlichen
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) Haushalte müssen daraufhin auf den Prüfstand gestellt (D)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir werden, ob Ausgaben für Kinder wirklich in den Mittel-
brauchen, ist doch tatsächlich eine grundsätzliche Neu- punkt gestellt werden oder ob an alten Subventionen und
ausrichtung der Kinder- und Jugendpolitik, und zwar in Privilegien festgehalten wird.
allen Bereichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Zurufe von der CDU/CSU: Ja, genau! – Ina Lenke [FDP]: Aber die Grünen haben in
Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das hät- den letzten zwei Legislaturperioden auch nicht
ten Sie schon vor sieben Jahren machen kön- viel dazu beigetragen, Frau Künast!)
nen!)
– Gut, dass ein Zwischenruf von der FDP gekommen ist.
– Ja, ich komme gleich noch zur CDU/CSU-Fraktion. Das Folgende wollte ich nämlich noch zu der Rede von
Gehen Sie doch lieber in Deckung, bevor Sie jetzt schon Frau Gruß, einer meiner Vorrednerinnen, sagen – ich
Zwischenrufe machen! wollte es nicht als Zwischenruf machen, weil es ihre
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erste Rede war –: Ihre Rede war schön und hörte sich gut
NEN) an. Sie waren für Joint-Venture-Projekte; Sie wollten,
dass wir endlich Geld in Kinder investieren. Aber Ihre
Die Vertreter der CDU/CSU wissen ja, dass zuvör- Rede ist doch, noch bevor Sie sie gehalten haben, wie
derst die Bundesländer, also im Augenblick mit Mehr- ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Wo ist denn
heit CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, für die Kin- der FDP-Antrag? Sie wollten ihn hier einbringen, aber
der- und Jugendpolitik zuständig sind. Ihre Finanzer haben ihn zurückgezogen, weil die in ihm
enthaltenen Vorschläge zu viel Geld kosten. So stellt
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist man Kinder nicht in den Mittelpunkt seiner Politik. Das
auch gut so!) ist eben eine zentrale Gerechtigkeitsfrage.
In diesem Land haben wir diesbezüglich ein Defizit. In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
diesem Land merkt man immer noch, aus welchen sowie bei Abgeordneten der SPD)
Schichten, aus welchen Familien Kinder kommen. Bil-
dung, Lebens-, Teilhabe- und Berufschancen hängen im- Wenn Sie, Frau von der Leyen, sagen – auch im Kin-
mer noch vom Geldbeutel der Eltern ab. Ob ein Kind ge- der- und Jugendbericht steht das –, wir haben einen un-
sund ist oder ob es chronische Erkrankungen hat, hängt übersehbaren Nachholbedarf, kann ich Ihnen nur ent-
in diesem Land überproportional vom Geldbeutel der El- gegnen: Dieser Nachholbedarf ist auch ein Stück weit
tern ab. Genau deshalb brauchen wir eine systematische das Ergebnis – wie in Italien oder Spanien – einer kon-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1635
Renate Künast
(A) servativen Familienpolitik. Wir könnten längst weiter Murks umgewandelt wird. Daher frage ich Sie: Waren (C)
sein. Sie mit dem Modell Ihrer rot-grünen Koalition so einver-
standen, dass Sie dafür in der letzten Legislaturperiode
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Hand gehoben haben?
Das hat ja hier keiner vergessen: Im Jahre 2004 haben
die CDU- bzw. CSU-regierten Länder nahezu hasserfüllt Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gegen das Tagesbetreuungsausbaugesetz gestimmt, weil Die FDP ist sehr koalitions- und kompromisserfahren,
sie behauptet haben, wir wollten die Frauen aus den Fa- daher kann ich Ihnen Ihren Einwand als Koalitionskom-
milien herausdrängen. promiss zurückgeben. Ich freue mich jedoch, dass auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die FDP vorwärts will.
Ich sage Ihnen: Die jungen Frauen wollen beides, Er- (Ina Lenke [FDP]: Schon immer!)
werbstätigkeit und Kinder. Aber Sie müssen sie auch las- Vielleicht können wir – wir haben uns mit einem Antrag
sen und ihnen tatsächlich eine Wahlfreiheit geben; da- festgelegt – jetzt gemeinsam über für die Zukunft wich-
rum geht es. tige Fragen reden. Der Rechtsanspruch auf einen Kin-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dergartenplatz war schon immer grüne Position. Wir
Ina Lenke [FDP]: Aber Diskriminierung von brauchen einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.
jungen Frauen halten wir als liberale Partei Dabei geht es um eine zentrale Infrastruktur. Vielleicht
auch nicht für richtig!) können Sie dabei mitmachen und Ihren Antrag entspre-
chend gestalten.
Sie, Frau von der Leyen, wollen jetzt etwas ändern
und setzen dabei auf Geld. Das allein genügt nicht. Denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
das Modell, das Sie vorgeschlagen haben, ist ein Glücks- Wer heute Kinder haben will, braucht Infrastruktur,
fall für die Steuerberater. Sie und auch diejenigen, die Geld und Zeit. Deshalb reicht es nicht, Frau von der
heute schon über Privilegien verfügen, bekommen Privi- Leyen, nur davon zu reden, dass es auf den Anfang an-
legien eingeräumt. komme. Sie müssen darüber hinaus auch für die Struktu-
(Ina Lenke [FDP]: Das war auch in der letzten ren sorgen. Schöne Worte reichen hier nicht aus. Werfen
Legislaturperiode so!) Sie sich bei der Verfassungsreform in die Bresche! Es
kann doch nicht sein, dass Sie hier sagen, auf den An-
– Stellen Sie eine Zwischenfrage; davon haben wir beide fang kommt es an, und den Bund bei der Verfassungs-
mehr. reform aus dem gesamten Themenkomplex „Kinder und
(B) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildung“ herauskatapultieren und ihm nicht einmal mehr (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD) die Möglichkeit einräumen, Kindern in armen Bundes-
ländern mit Finanzmitteln hilfreich unter die Arme zu
Wenn Sie sich das Modell genauer ansehen, stellen Sie greifen. Es ist doch nötig, verschuldeten Bundesländern
fest, dass diejenigen, die heute über wenig Einkommen dabei zu helfen, die Infrastruktur, beispielsweise Ganz-
verfügen, viel weniger bei den Steuern werden absetzen tagsschulen, auszubauen. Ich sage Ihnen: Wir müssen
können. Ich sage Ihnen dagegen: Uns muss jedes Kind jetzt etwas tun und nicht erst im Jahr 2010.
gleich viel wert sein; das Kind derer, die schon Geld ha-
ben, darf uns nicht mehr wert sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen den Rechtsanspruch auf Kinderbetreu-
ung ab dem ersten Lebensjahr. Frau von der Leyen, Sie
Präsident Dr. Norbert Lammert: haben ehrgeizige Ziele für das Jahr 2010, aber wir haben
Frau Kollegin Künast, die Bestellung von Zwischen- jetzt schon März 2006. Wenn Sie darauf warten, dass die
fragen ist zwar in der Geschäftsordnung nicht ausdrück- Länder etwas aufbauen, werden zwei, drei Jahre verge-
lich vorgesehen, aber immer wieder beliebt. Und prompt hen und Sie haben bis dahin vielleicht ein Gesetz verab-
hat sich die Kollegin Lenke auch zu einer solchen Zwi- schiedet, aber im Vergleich mit anderen Ländern liegen
schenfrage bereit gefunden. Stimmen Sie dem Begehren wir noch weiter zurück. Deshalb müssen wir jetzt sprin-
zu? gen. Auf den Anfang kommt es an. Das gilt nicht nur für
die Kinder, sondern auch für die CDU/CSU und diese
Regierung.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bitte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik
Ina Lenke (FDP): stellen. Wir wollen deshalb die Infrastruktur für sie aus-
Frau Künast, ich stimme mit Ihrer Kritik überein, dass bauen. Unsere Idee ist ein Kinderbetreuungsgeld. Die
das vermurkste Modell der Kinderbetreuungskosten der Eltern sollen einen Pauschalbetrag bekommen, der den
großen Koalition den Steuerberatern viel zu tun gibt. Ich Kosten für den tatsächlich in Anspruch genommenen
sage Ihnen aber auch: Sie haben in der letzten Legisla- Betreuungsplatz entspricht. Auch hier kommt es darauf
turperiode dafür gesorgt, dass die ersten 1 500 Euro gar an, mutig anzufangen. Den benötigten Betrag wollen wir
nicht absetzbar sind. Das ist der größte Murks gewesen, durch die Senkung des Ehegattensplittings gegenfinan-
der jetzt von der großen Koalition zu einem kleineren zieren. Wir wollen wirklich Geld für die Betreuung und
1636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Renate Künast
(A) Förderung der Kinder und nicht für die Ehe ausgeben. rigen Ehegattensplitting speist. Es ist nicht unbedingt ein (C)
Ich gratuliere jedem, der eine gute Ehe führt, aber die Beitrag zur Vereinfachung der Finanzbeziehungen, wenn
Ehe an sich geht uns nichts an, uns gehen die Kinder et- Sie den Familien, die aus dem Ehegattensplitting pro-
was an. fitieren, das Geld wegnehmen und es ihnen anschließend
über das Kinderbetreuungsgeld wiedergeben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Fa- (Ina Lenke [FDP]: Die kriegen das auch, ohne
milien auch!) dass sie Kinder haben!)
Ich möchte Herrn Kauder zitieren – gerade war er damit sie dann die Kindertagesstätte bezahlen können.
noch hier, doch jetzt ist er weg. Wo liegt da der Vereinfachungseffekt bei den Finanzbe-
ziehungen? Das erschließt sich mir nicht.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er steht
doch da!) (Beifall bei der CDU/CSU)
– Ach, da ist er ja. – Er hat vor kurzem gesagt: Die Re- Ich will zunächst einmal im Namen der CDU/CSU-
alität hat sich verändert und die CDU/CSU ändert sich Bundestagsfraktion an die Expertenkommission, die den
auch. Ich möchte Ihnen dazu sagen: Schon in den 70er- Zwölften Kinder- und Jugendbericht für die Bundes-
und 80er-Jahren wollten die Frauen beides, Kinder und regierung erstellt hat, ein herzliches Wort des Dankes sa-
Beruf. Realität ist darüber hinaus auch – und das schon gen.
seit Jahrzehnten –, dass Kinder aus armen Familien we-
niger gute Chancen haben und unsere Unterstützung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
brauchen. Die Gesellschaft und die Wirtschaft brauchen Insbesondere im Analyseteil liefert dieser Bericht wert-
gut ausgebildete Kinder. Geben Sie sich einen Ruck! volle Erkenntnisse. Ich sage dazu: Wenn man diesen
Herr Kauder, auf den Anfang kommt es an. Beginnen Analyseteil aufmerksam liest und die Titelgeschichte des
Sie jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es geht „Spiegel“ aus dieser Woche daneben legt, dann wird
nicht darum, dass die Eltern Belege für die Steuerberater man nicht nur als Politiker, sondern auch als Eltern an
erhalten, es geht vielmehr darum, dass die Kinder in der einen oder anderen Stelle nachdenklich
Deutschland eine gute Kinderbetreuung erhalten.
(Christel Humme [SPD]: Als Vater auch?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und stellt sich die Frage, ob wir es ein Stück weit ver-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
lernt haben, richtig mit Kindern umzugehen, wie es der
„Spiegel“ in seiner Titelgeschichte beschreibt.
Nun erhält der Kollege Thomas Dörflinger für die
(B) (D)
CDU/CSU-Fraktion das Wort. Wir stellen fest, dass die Zahl der Eltern, die mit ihrer
Erziehungsaufgabe überfordert sind, tendenziell steigt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das provoziert die Frage: Wie gehen wir als Staat mit
unserem Nachwuchs um und wie schaffen wir die Rah-
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): menbedingungen dafür, dass sich Eltern besser als in der
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Vergangenheit der Aufgabe widmen können, ihre Kinder
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, so zu erziehen, dass sie verantwortungsbewusste Staats-
dafür, dass Sie sich in den letzten sieben Jahren nicht zu- bürgerinnen und Staatsbürger werden?
vorderst mit Kinder-, Jugend- und Familienpolitik be-
fasst haben, Lassen Sie mich auf einige Empfehlungen der Kom-
mission zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der
(Ina Lenke [FDP]: Ja!) frühen Kindheit eingehen. Die Kommission fordert, die
können Sie nichts. Aber in Ihrer Rede hat man das an der Politik müsse die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
einen oder anderen Stelle gemerkt. dass Eltern in der Lage sind, ihren Erziehungsaufgaben
im Interesse ihrer Kinder nachzukommen, insbesondere
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in den frühen Lebensstadien der Kinder. Ich sage: Die
neten der FDP) Bundesregierung tut dies ausweislich des Koalitionsver-
trages dadurch, dass wir das Elterngeld einführen – wir
Ich will mit Blick auf das, was wir am morgigen Tag
sind auf dem besten Wege dorthin –, dass wir uns inten-
unter dem Stichwort Föderalismusreform miteinander
siv Gedanken darüber machen, was wir leisten können,
beraten, zunächst einmal festhalten, dass das Kinder-
um die Erziehungskompetenz von Eltern zu stärken
und Jugendhilfegesetz ein Bundesgesetz ist und bleibt.
– weniger im Sinne von Sanktionsmechanismen als eher
Daran ändert sich auch nichts. Das, was wir am morgi-
im Sinne von Anreizmechanismen, im Sinne von Best-
gen Tag miteinander beraten, erklärt sich insbesondere
Practice-Systemen –, und dass wir als Gesetzgeber dafür
vor dem Hintergrund, dass wir die Finanzbeziehungen
sorgen – wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben in
zwischen dem Bund und den Ländern entflechten wollen
den letzten Tagen dazu einen Vorschlag gemacht –, dass
und keine neuen Tatbestände schaffen wollen, durch die
die Fälle von Kindesmisshandlungen in unterschiedli-
sich die Finanzbeziehungen verflechten.
chen Lebensstadien der Kinder, die uns wohl alle glei-
Ich habe mir Ihren Vorschlag angesehen, meine Da- chermaßen schockiert haben, zukünftig der Vergangen-
men und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, ein Kin- heit angehören. Hier ist der Gesetzgeber in der Pflicht.
derbetreuungsgeld einzuführen, das sich aus dem bishe- Ich füge ausdrücklich hinzu: Die Einführung von Sank-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1637
Thomas Dörflinger
(A) tionen im Rahmen des Strafgesetzbuches ist eine Mög- leisten, was gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zur pä- (C)
lichkeit. Aber es ist weder die einzige noch die einzig dagogischen Qualifikation von Jugendlichen und Kin-
zielführende. Es braucht einen ganzen Strauß von Mög- dern ist.
lichkeiten, um Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
stärken.
Deswegen stehen wir in der Pflicht, die Konzeption
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Ganztagsbetreuung in den Bereichen Schule und
neten der SPD)
Kindergarten bzw. Kindertagesstätte mit bestehenden
Wenn im Bericht darauf hingewiesen wird, dass Er- ehrenamtlichen Strukturen in unseren Städten und Ge-
ziehung auch eine Frage der materiellen Rahmenbedin- meinden abzustimmen. Wir müssen der Frage nachge-
gungen für Eltern ist, dann geht es nicht nur um das hen, ob das an dem einen oder anderen Punkt eventuell
Elterngeld und die Abzugsfähigkeit der Kinderbetreu- intelligent miteinander verknüpft werden kann. Ich rate
ungskosten von der Steuer, sondern dann heißt das auch dazu, einen Blick nach Baden-Württemberg zu werfen,
– darauf kann am heutigen Tage vor dem Hintergrund beispielsweise in meinen Wahlkreis, nach Bonndorf.
der gestern im Finanzausschuss stattgefundenen Anhö- Dort hat man sich dieser Frage erfolgreich gewidmet und
rung hingewiesen werden –, dass das Gesetz zur steuerli- ein Projekt auf den Weg gebracht, das als wegweisend
chen Förderung von Wachstum und Beschäftigung an gelten könnte und dieser Maxime entspricht.
der einen oder anderen Stelle gezielt darauf ausgerichtet
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Eltern
NEN]: Das geht uns ja nichts an! Das ist ja
und Familien im Sinne von mehr Jobs für Eltern zu ver-
Ländersache, wie Sie gerade behauptet ha-
bessern, sodass die finanziellen Rahmenbedingungen für
ben!)
Familien in der Zukunft stimmen.
In diesem Sinne freue ich mich auf interessante Bera-
Ich sehe allerdings den Teil des Kommissionsberich-
tungen im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
tes, der die politischen Forderungen enthält, an der ei-
Jugend zumZwölften Kinder- und Jugendbericht der
nen oder anderen Stelle kritisch.
Bundesregierung.
Wir befinden uns in der nachgerade klassischen Situa- Herzlichen Dank.
tion der Spannungsbeziehungen zwischen Bund und Län-
dern in den Handlungsfeldern Bildung und Erziehung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wir sollten uns alle miteinander darauf kaprizieren, dass neten der SPD)
im Deutschen Bundestag in Berlin Entschließungs-
anträge mit wohlfeilen Forderungen, deren Ausführende Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) (D)
in den Bundesländern oder Kommunen sitzen, ein für Das Wort erhält nun die Kollegin Ekin Deligöz,
alle Mal der Vergangenheit angehören. Auch dazu leistet Bündnis 90/Die Grünen.
der morgige Tag unter dem Stichwort Föderalismus-
reform einen Beitrag. Es soll gelten: Wer bestellt, be-
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zahlt. Auch in dieser Frage müssen klare Zuständigkei-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ten und klare Finanzbeziehungen herrschen.
Diese Debatte hat vor allem eines gezeigt, nämlich dass
Mit Blick auf das eine oder andere, was ich in diesem sich in diesem Land in den vergangenen sieben Jahren
Zusammenhang höre – Entschließungsanträge werden richtig viel verändert hat.
dem Hohen Hause sicherlich noch vorgelegt –, sage ich:
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Es wäre schön, wenn sich alle Fraktionen in diesem Ho-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
hem Hause an diese Maxime halten würden und wir das,
was wir an politischen Forderungen erheben, zunächst Der besondere Stellenwert der Förderung der Bildung
einmal im eigenen Zuständigkeitsbereich zu verwirkli- von Kindern und Jugendlichen ist erkannt worden. Er
chen suchen und nicht anderen vor die Haustür legen. wurde nicht nur von den Parteien und Verbänden er-
kannt, sondern auch von den Eltern und Familien, von
(Beifall bei der CDU/CSU)
den Lehrerinnen und Erzieherinnen und sogar von der
Lassen Sie mich mit Blick auf die Forderung der CDU und der CSU. Herr Dörflinger, Sie können hier
Kommission nach einer Verstärkung von Ganztagsange- noch so oft sagen, dass man sich an alten, traditionellen
boten, die unsere ausdrückliche Unterstützung findet, ei- Werten orientieren sollte. Selbst Frau Stewens und Herr
nen letzten Punkt ansprechen. Ich will auf einen Teilas- Koch reden davon. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis
pekt hinweisen, den die Kommission in ihrem Bericht nehmen.
antippt und der mir als Baden-Württemberger sehr wich-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
tig ist. Der Ausbau der Ganztagsbetreuungseinrich-
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Frau
tungen in den Bereichen Schule und Kindergarten voll-
Stewens steht für traditionelle Werte!)
zieht sich in einem Spannungsfeld zwischen dem, was
aus bildungspolitischen und erziehungspolitischen In diesem Land hat sich noch etwas bewegt. Die Sicht
Gesichtspunkten notwendig ist, und dem, was an ehren- auf Kinder und auf die Kindheit hat sich verändert. Kin-
amtlichen Strukturen in den Ländern, in den Kommu- der sind vom ersten Tag an Persönlichkeiten. Sie sind
nen bereits besteht. Ich denke etwa an das, was Ehren- Rechtssubjekte, sie haben eigene Rechte. Sie entwickeln
amtliche in der Jugendarbeit der Vereine und Verbände frühzeitig Kompetenzen, sie wollen lernen. Unsere
1638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Ekin Deligöz
(A) Aufgabe ist es, sie dabei zu fördern, indem wir die richti- den tatsächlichen Erfordernissen im Alltag der Men- (C)
gen Rahmenbedingungen schaffen. schen komplett vorbeigeht.
Im Rahmen dieser Debatte höre ich von allen Seiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
übereinstimmend, dass dieser Kinder- und Jugendbe- Zur Prioritätensetzung möchte ich Ihnen noch etwas
richt, der genau das in den Mittelpunkt stellt, begrüßt sagen: Seitens der Landesregierung von Nordrhein-
wird. Das ist gut; in unserem Antrag sagen wir das aus- Westfalen heißt es völlig zu Recht, dass man in der fal-
drücklich. Wir wissen, dass heute eigentlich niemand ge- schen Reihenfolge vorgeht, wenn man zuerst das Eltern-
gen bessere Förderung und Bildung sein kann. Dass wir geld einführt und sich danach Gedanken über den
dieses Projekt gemeinsam anpacken müssen, liegt auf Ausbau der Infrastruktur macht. Man muss genau
der Hand. Das ist klar und übrigens nicht nur Aufgabe umgekehrt vorgehen. Lassen Sie uns heute damit anfan-
der Politik. gen, unseren Kleinen die bestmögliche Förderung zu er-
Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Was tun wir möglichen, damit sie einmal die Größten in unserem
dafür, dass die Empfehlungen aus dem Bericht auch tat- Lande werden.
sächlich umgesetzt werden? In Sonntagsreden den Kom- Danke.
missionsvorsitzenden Professor Rauschenbach zu zitie-
ren, ist gut. Aber das reicht nicht aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Realisierung brauchen wir klare politische Kon- Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene
zepte, die meiner Meinung nach zwei Punkte beinhalten Rupprecht, SPD-Fraktion.
müssen: Erstens. Man muss Verantwortung übernehmen;
in dieser Verantwortung steht auch der Bund. (Beifall bei der SPD)

Zweitens. Wir müssen auch in fiskalischer Hinsicht Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
eine ganz klare Priorität zugunsten unserer Kinder set- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
zen. Wir müssen dabei die Kinder in den Mittelpunkt rü- vorliegende Zwölfte Kinder- und Jugendbericht zum
cken, statt ideologische Debatten zu führen. Thema „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und ne-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben der Schule“ ist angesichts der gesellschaftlichen und
politischen Diskussion über Bildung sehr wichtig. Herz-
Wir Grüne beachten beide Aspekte, auch die Verant- lichen Dank, dass Sie diesen Bericht vorgelegt haben!
wortung des Bundes. Er muss und kann – das ist im Dies können wir zum Anlass nehmen, um über dieses (D)
(B) Übrigen auch seine Aufgabe – im Kinder- und Jugend-
Thema statt in den Abend- und Spätabendstunden am
hilfegesetz einen Rechtsanspruch auf einen Betreu- heutigen Vormittag zu diskutieren. Ich danke den Frak-
ungsplatz für unter Dreijährige verankern. Das ist der tionen, dass sie die Bedeutung des Berichts verstanden
einzig mögliche Weg, um zeitnah und verbindlich das haben und dieses Thema an den Anfang unserer heutigen
notwendige Betreuungsangebot für Kinder dieser Alters- Tagesordnung gesetzt haben.
klasse zu schaffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Der Bund sollte sich auch aus der Finanzierung dieser der CDU/CSU)
Maßnahme nicht heraushalten, sondern sich daran betei-
ligen. Mit dem TAG haben wir den ersten Schritt in Unsere Fraktionen und, wie ich an den Redebeiträgen
diese Richtung gemacht. Weitere Schritte müssen nun gemerkt habe, das gesamte Parlament werden die Anre-
folgen. Mit dem Kinderbetreuungsgeld schlagen wir gungen und Forderungen des Berichts aufgreifen und so-
Grüne Ihnen ein Konzept vor, mit dem wir dafür sorgen weit wie möglich umsetzen. Ich sage „soweit wie mög-
können, dass das Geld genau dort ankommt, wo es ge- lich“, weil wir in unserem föderalen Staat nicht auf allen
braucht wird: bei der Inanspruchnahme von Betreuungs- Ebenen das Zugriffs- und Wirkungsrecht haben. Deshalb
einrichtungen. Dadurch stärken wir die Nachfragekom- ist eines dringend notwendig: die Kooperation aller
petenz und die Beteiligung der Eltern und lassen die Ebenen im Interesse der Kinder.
Kommunen bei der Mammutaufgabe des Ausbaus der Ich danke den Kommissionsmitgliedern nicht nur für
Kinderbetreuung und -erziehung nicht allein. ihre umfangreiche Arbeit, sondern auch dafür, dass sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Trias Bildung, Betreuung und Erziehung durchgän-
gig dargestellt haben. Sie haben ihren Blick nicht auf
Die Kinder in den Mittelpunkt stellen – das und nichts den Bildungsbegriff verengt, sondern zur Kenntnis ge-
anderes hat für uns Priorität. In den Reihen der großen nommen, dass Bildung nur stattfinden kann, wenn alle
Koalition heißt es, man wolle sich irgendwann, womög- drei Elemente berücksichtigt werden.
lich im Jahre 2010, Gedanken über die Einführung eines
Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Berichts ist, dass
Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz machen.
man weggeht von der Diskussion über Bildungssysteme
Das ist uns zu wenig. Sie wollen sich offenkundig nicht
und hin zu einer Diskussion über Bildungsprozesse im
festlegen. Vielleicht fürchten Sie auch Differenzen mit
Lebenslauf von Kindern und Jugendlichen. Das ist wirk-
Ihren Landesfürsten. Nichtsdestotrotz, das ist zu unver-
lich ein Paradigmenwechsel.
bindlich und zu spät. Sie lassen die Betroffenen, die
Mütter und Väter, im Stich. Das ist eine Politik, die an (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1639
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) Anders als in vielen anderen Berichten wird in diesem sozialen Umfeld sein. Wir haben schon viele Hilfsange- (C)
Bericht endlich aus Kindersicht dargestellt, was Kinder bote. Sie richten sich aber überwiegend an die Mittel-
brauchen und wie die Prozesse bei uns laufen müssen, schicht; sie fragt diese Leistungen auch ab. Aber nur
damit Kinder die Welt annehmen können und in ihr herz- ganz wenige derer, die verzweifelt sind, finden den Weg
lich willkommen sind; darauf kommt es nämlich an. Das zum Stadtteilzentrum, zur Krabbelgruppe. Solche Men-
ist die besondere Leistung des vorliegenden Berichts. schen brauchen aufsuchende Hilfe. Daran mangelt es
uns noch. Ich denke, wir müssen die Familien in die
(Beifall bei der SPD)
Lage versetzen, ihren Kindern so viel Stabilität zu
Ich finde es toll, dass Sie in Ihrem Bericht weggehen geben, dass sie loslassen können, dass die Kinder in
von dem ewigen Gejammer über Kinder und Kinder als Krabbelgruppen, in Gruppen mit Gleichaltrigen, in den
wissbegierig, selbstständig, eigenverantwortlich, lernfä- Kindergarten gehen. Es ist notwendig, dass die Kinder
hig und lernwillig darstellen. Kinder kommen als Per- neben den Schwierigkeiten, aber auch der Geborgenheit
sönlichkeiten auf dieser Welt an. und Stabilität, die sie in der Familie erfahren, sehen, dass
es auch eine Welt außerhalb der Familie gibt. Trotz sei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nes Wächteramts kann der Staat aber nicht ersetzen, was
Auf die Schule komme ich noch zu sprechen. die Familie ist, nämlich die Insel, auf die man sich zu-
rückziehen kann und auf der man Kraft tankt, um wieder
Es ist also ein Prozess, in dem sich diese kleinen Per- hinauszugehen. Der Staat kann und darf die Familie hier
sönlichkeiten mit der Welt auseinander setzen und sie nur unterstützen, damit sie diese Aufgabe wahrnehmen
sich aneignen. In diesem erweiterten Bildungsbegriff ist kann.
Bildung verknüpft mit vielen Lernwelten und Bildungs-
orten, mit vielen Gelegenheiten und Inhalten. Dies müs- Bezüglich der Erziehung in Kindertagesstätten und
sen wir berücksichtigen und entsprechend reagieren, da- Betreuungseinrichtungen ist schon vieles über Qualifi-
mit wir Kindern die Vielfalt bieten, die sie brauchen, um zierung und Fortbildung gesagt worden. Natürlich haben
sich zu entwickeln. wir hoch qualifizierte und gut ausgebildete Erzieherin-
nen. Aufgrund der wertvollen Menschen, die sie zu be-
Ich will jetzt nicht auf die fiskalischen und materiel-
treuen haben, ist aber darüber nachzudenken, ob die Be-
len Rahmenbedingungen eingehen – dies wurde von den
zahlung auch ihrer Leistung gerecht wird.
Kolleginnen und Kollegen schon ausführlich darge-
stellt –, sondern als Kinderbeauftragte meiner Fraktion Damit komme ich zum Bereich Schule, in dem ich
aus der Sicht der Kinder einige Punkte herausgreifen. 20 Jahre lang gearbeitet habe. Ich weiß, dass das Deut-
Wenn ein Kind auf dieser Welt ankommt, muss man sche Jugendinstitut Untersuchungen durchgeführt und
(B) ihm vermitteln: Herzlich willkommen! herausgefunden hat, dass nur noch ein Drittel der Kinder (D)
gerne in die Schule geht. Ich frage mich, wo die anderen
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zwei Drittel geblieben sind, die einmal lernwillig und
Wir wissen aber, dass es Familien gibt, die zwar zum wissbegierig waren.
Zeitpunkt der Geburt noch gern Eltern sind, aber spätes- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So gern bin ich
tens dann, wenn die ersten Probleme auftreten, an ihre auch nicht in die Schule gegangen!)
Grenzen kommen und sich sagen: Wir sind als Eltern
vielleicht nicht so optimal. Wir würden es gern sein, wis- – Oh doch, das gibt es. – Die Schule muss also endlich
sen uns aber nicht zu helfen. – Hier – wo notwendig, umsteuern.
auch bereits während der Schwangerschaft – muss die Im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht die Verpflich-
Begleitung und Betreuung einsetzen, damit Kinder die- tung der Kooperation aller am Kind Beteiligten. Ich frage
ses „Herzlich willkommen!“ tatsächlich erfahren. Wir mich, warum dies nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhil-
müssen die Familien unterstützen, damit Kinder diesen fegesetz immer noch nicht geschieht. Ich verstehe das
herzlichen Empfang bekommen. nicht. Die kommunale Jugendhilfeplanung schließt
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) ein, dass sich alle am Kind Beteiligten – die Schule, in
späteren Jahren die Arbeitsagentur, die Polizei, die Ju-
Was wir nicht brauchen können, ist Strafe oder Druck. gendverbände und die Jugendgruppen – gleichberechtigt
Druck haben die Eltern schon selber, wenn ihr Kind die als Partner mit einbringen sollen. Die Schule darf kein
Nacht durchschreit, sie vom Gefühl her eigentlich nicht dominantes Element in diesem Konzert sein. Die Schule
mehr können und es an die Wand klatschen möchten, muss sich zurücknehmen und vielleicht auch zu einem
was man natürlich nicht tut. Es ist ein Gefühl der Hilflo- neuen Denken finden. Die anderen müssen mehr Selbst-
sigkeit, wenn ein kleiner Wurm schreit und schreit und bewusstsein im Umgang entwickeln.
man nicht damit fertig wird. Wenn das den ganzen Tag
so geht und man bereits übermüdet ist, braucht man Diese Kooperation würde dazu beitragen, dass die
Hilfe und nicht noch den Druck, vor Gericht gezerrt zu Welt und das Leben in die Schule hineinkommen. Viel-
werden. Diese Menschen brauchen Unterstützung. leicht ginge das Burn-out-Syndrom bei denen, die mit
Kindern umgehen, nämlich den Lehrern, zurück, wenn
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sie endlich mitbekämen, dass Erzieher – und nicht nur
Deswegen haben wir frühe Hilfen für Familien vor- Wissensvermittler – zu sein eine ganz schöne Aufgabe
gesehen. Das kann nicht ein Einzelner leisten; das muss ist, weil man sehr viel zurückbekommt, wenn man etwas
immer ein Konzert von Sozialarbeitern, Ärzten, und dem gibt. Ich glaube, dies muss in der Ausbildung verankert
1640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) und täglich gelebt werden. Hierfür brauchen wir die Un- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
terstützung der Kinder in der Schule, aber auch derer, die Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der
unterrichten. Kollege Johannes Singhammer.
Das Ganze funktioniert aber nur, wenn man die Kin- (Beifall bei der CDU/CSU)
der in der Familie, in der Kindertagesstätte und in der
Schule endlich als Heranwachsende ernst nimmt und be- Johannes Singhammer (CDU/CSU):
teiligt, und zwar nicht durch eine Mini-Playback-Show Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
in der Politik, indem man sie einmal am Jugendparla- ren! Kinder sind Leben. Kinder sind Liebe. Kinder sind
ment teilnehmen lässt und ihnen ansonsten sagt: Du bist das Kostbarste und Wichtigste, das unser Land hat. Kin-
ruhig. Beteiligen heißt, sie ernst zu nehmen und ihnen zu der wachsen in einer intakten Familie am besten auf.
sagen, wo sie sich beteiligen können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Der Bericht befasst sich mit der Situation der Kinder.
Es gibt Dinge, an denen auch ich mich nicht beteiligen Besorgniserregend ist die Entwicklung der Anzahl der
kann. Da ist die Möglichkeit meiner Beteiligung schlicht Kinder generell. Die Zahl der Kinder in Deutschland
und ergreifend begrenzt. Auch das gehört zum Ernstneh- nimmt immer weiter ab. Sind im Jahr 1965 – damals in
men. Ich denke, wenn man die Kinder in diesem Bereich beiden Teilen Deutschlands – noch 1,3 Millionen Babys
wirklich ernst nimmt, dann wird Schule auch anders ge- geboren worden, so haben im letzten Jahr – der Präsident
staltet werden, dann werden sie nämlich als Teil der des Statistischen Bundesamtes hat vor wenigen Tagen
Schule angesehen und nicht nur als ein Element, in das die Zahlen für 2005 bekannt gegeben – nur noch
Wissen hineingetrichtert wird. 680 000 Kinder das Licht der Welt erblickt. Von den
Ich habe schon gesagt, dass das ein langer Weg ist. 680 000 Kindern hatten 80 000 Kinder nicht die deut-
Nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz stehen sche Staatsangehörigkeit. Vor kurzem wurde in einer
wir trotzdem manchmal noch am Anfang. Manche Kom- deutschen Zeitung die Frage gestellt: Was geht den
munalpolitiker glauben immer noch, das sei eine freiwil- Deutschen eher aus: die Kinder oder das Erdöl? Die
lige Leistung und keine Pflichtleistung. Frage ist auch gleich beantwortet worden: die Kinder.
In dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird da-
(Ina Lenke [FDP]: Das stimmt allerdings! Da
von gesprochen, dass die Kinder des Jahres 2006 und der
haben Sie Recht!)
darauf folgenden Jahre in einer völlig anderen Gesell-
– Ja, es ist leider so. schaft, nämlich in einer alternden Gesellschaft, aufwach-
(B) sen, und zwar mit allen ökonomischen, aber auch emo- (D)
Ich möchte Ihnen deshalb die Schlussfolgerungen in tionalen Konsequenzen für Kinder. Der „Spiegel“ hat in
dem Bericht gerne kurz vorlesen: seinem Leitartikel, aus dem vom Kollegen Dörflinger
Es wird auf allen föderalen Ebenen … schon zitiert worden ist, festgestellt – ich zitiere –:

– hier haben wir wieder den Föderalismus – Abnehmende Geburtenraten führen zur Vereinze-
lung der Kinder in unserer Gesellschaft. Nicht nur
und unter Einbeziehung aller wichtigen gesell- die finanzielle Zukunftssicherung ist davon betrof-
schaftlichen Akteure … erheblicher Anstrengungen fen – ohne Familie verlernt die Gesellschaft
bedürfen, um gemäß diesen Leitlinien ein Bil- schlichtweg die Liebe.
dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot auf-
und auszubauen, so umzugestalten, dass seine Ef- Wenn wir aus dem Teufelskreis des Zerfalls familiärer
fektivität erhöht wird und dass Kinder und Jugend- und damit gesellschaftlicher Strukturen in unserem Land
liche auf dem Weg des Erwachsenwerdens mit dem herauskommen wollen, dann brauchen wir in Deutsch-
Wissen und Können, mit den Fähigkeiten und Fer- land zunächst eines: wieder mehr Kinder. Für diese Kin-
tigkeiten, mit den personalen und sozialen Kompe- der benötigen wir dann optimale Bildung, Betreuung
tenzen ausgestattet werden, die sie brauchen, damit und Erziehung.
sie unter den absehbaren Bedingungen künftiger (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Gesellschaften über eine ausreichende Kompetenz neten der SPD)
zur eigenständigen Lebensführung verfügen.
Für uns ist die intakte Familie durch nichts zu erset-
Es wird noch ein weiter Weg sein, bis diese Anforde- zen. Wer Familien und Eltern unterstützt, die sich für
rungen erfüllt werden. Ich hoffe, dass alle Beteiligten, ob Kinder entschieden haben, der hilft auch den Kindern.
Bundestag, ob Landtage, ob Kommunalpolitiker, an ei- Mit dieser klaren Haltung unterscheiden wir uns von der
nem Strang ziehen und dies im Sinne der Kinder und un- Linken. Die Linke fordert in ihrem Antrag:
seres Landes gemeinsam umsetzen. Denn die Kinder
sind nicht nur unsere Zukunft, sondern auch unsere Ge- ... Kinder- und Jugendpolitik darf nicht faktisch der
genwart. Familienpolitik nachgeordnet werden.

Danke schön. Ich warne davor, einen Gegensatz zwischen Familien


und ihren Kindern zu konstruieren. Wer die Familie un-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der ter dem Deckmäntelchen von Kinderinteressen durch
Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) staatliche Organisationen zurückdrängen oder gar erset-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1641
Johannes Singhammer
(A) zen will, wird auf unseren entschiedenen Widerstand Damen und Herren, wir wollen keine kinderfreien Zonen (C)
stoßen. in unserem Land.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Die Familie ist kein Hort der Unterdrückung oder
Triebverleugnung, Wir wollen, dass sich die Kinder willkommen und Eltern
mit Kindern wohl fühlen, und zwar überall in unserem
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unter- Land und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
drückung oder was?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
sondern der richtige Ort, um Kinder aufwachsen zu las- bei Abgeordneten der FDP)
sen. Wir wollen Elternhaus, Bildung und Betreuung mit-
einander verzahnen, sodass Familie und Beruf miteinan-
der vereinbar sind, also die Möglichkeit des Lebens mit Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kindern mit der des Broterwerbs. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jürgen Kucharczyk für die SPD-Fraktion.
Ich will noch auf einige Punkte des Kinder- und Ju-
gendberichts eingehen. Wir wollen – das ist unser Anlie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gen –, dass vor allem die frühkindliche Entwicklung, der CDU/CSU)
insbesondere die Sprachkompetenz, verbessert wird.
Deshalb halten wir die Einführung von Sprach- und Jürgen Kucharczyk (SPD):
Entwicklungstests vor der Einschulung für wichtig. Ins- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
besondere die mangelnden Sprachkenntnisse von Fami- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
lie mit ausländischem Hintergrund müssen uns besorgt Zwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt klar: In unse-
stimmen. Denn wem es in der Schule an Sprachkompe- rem Land besteht ein deutlicher Nachholbedarf bei Bil-
tenz fehlt, der läuft Gefahr, seinen Abschluss nicht zu dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten. Zu lange
schaffen, keinen Ausbildungsplatz zu erhalten und keine und zu einseitig waren die Familie vorrangig für die Be-
Möglichkeit einer beruflichen Karriere eröffnet zu be- treuung und Erziehung der Kinder und die Schule für die
kommen. 19,2 Prozent der ausländischen Jugendlichen Bildung verantwortlich. Vor allem durch das Alleiner-
schaffen keinen Hauptschulabschluss, 40 Prozent stehen nährermodell ließ sich die Halbtagsschule als Regel-
ohne berufliche Qualifikation da. Diese Zahlen geben schule einigermaßen problemlos realisieren. Nur so
Anlass zur Sorge. konnten auch die frühkindliche Betreuung und Versor-
Hinsichtlich der Empfehlungen zur Bildung, Betreu- gung der Kinder privat möglich werden.
(B) (D)
ung und Erziehung im Schulalter liegt unser Hauptanlie- Heute stellen wir fest: Das Alleinernährermodell ist
gen bei der Umsetzung eines umfassenden Bildungskon- im Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden und nicht
zepts im Zusammenspiel von Schule, außerschulischen mehr tragfähig. Unverkennbar haben sich die Rahmen-
Bildungsorten und Elternhaus. Ich möchte ausdrücklich bedingungen für diesen deutschen Weg folgenreich ver-
denen danken, die in dem Bericht erwähnt sind. Ich ändert. So ist die Zahl der Familien – das heißt: Eltern
möchte insbesondere den Sportvereinen danken, die ein mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren – seit 1970
großes Engagement einbringen, um rund ein Drittel zurückgegangen. Im selben Zeitraum
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist aber die Zahl derjenigen, die Eltern sein könnten, um
mehr als 10 Prozent gestiegen. Haushalte ohne Kinder
um Kinder und Jugendliche nicht nur zu betreuen, son- ziehen schrittweise mit Mehrgenerationenhaushalten
dern auch zu ertüchtigen. gleich. Das heißt im Klartext: Keine andere Lebensform
hatte in den letzten Jahrzehnten einen so starken Bedeu-
Ich hoffe, dass es uns gelingt, die Medienkompetenz tungsverlust zu verzeichnen wie die Familie bzw. die El-
zu verstärken. Der Bericht stellt fest – damit wurde ein tern-Kind-Gemeinschaften.
wichtiger Punkt angesprochen –, dass in den letzten Jah-
ren bei den etwas älteren Kindern die Dauer des tägli- Vor diesem Hintergrund gilt es Folgendes zu hinter-
chen Fernsehkonsums um über eine Stunde zugenom- fragen: Warum kann das unserer Gesellschaft zum Ver-
men hat. Damit sind die Medien zunehmend zu einem hängnis werden? Ist es richtig, dass der Kindermangel
weiteren Erziehungsberechtigten geworden – mit allen eine Gesellschaft von Egoisten schafft, wie der neue
Problemen, die damit verbunden sind. Ich danke insbe- Titel des „Spiegel“ aussagt?
sondere dem Ministerium und der Ministerin, dass im
Bericht der Bundesregierung auf alle diese Themen ein- Fakt ist – das wissen wir, auch ohne das neue, aber si-
gegangen worden ist und entsprechende Konzepte vor- cherlich sehr lesenswerte Buch von Schirrmacher zu
gestellt worden sind. kennen –, dass die Vermittlung von Werten ganz ohne
Familie nicht funktionieren kann. Fakt ist auch, dass un-
Manche in unserem Land empfinden Kinder als Be- sere Gesellschaft nicht dabei zuschauen darf, wie der
lastung. Ein Thermalbadbetreiber in Bad Wörishofen Egoismus über den Gemeinsinn, die Solidarität siegt.
lässt Kinder nur noch an bestimmten Tagen und zu be- Aus diesem Grund ist es logisch, dass wir handeln müs-
stimmten Uhrzeiten in sein Bad. Die Begründung: Die sen. Wir kommen nicht umhin, eine Infrastruktur für
anderen, hauptsächlich älteren Badegäste fühlten sich Familien zu schaffen, zum Beispiel durch Angebote zur
durch den Kinderlärm belästigt. Meine sehr verehrten Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz. Weiterhin
1642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Jürgen Kucharczyk
(A) ist es unerlässlich, eine bedarfsgerechte und gebühren- Auch wir müssen festgefahrene Denkmuster über Bord (C)
freie Kinderbetreuung sicherzustellen. Bildungspro- werfen und uns auf das Wagnis des Neuen einlassen. Nur
zesse müssen unter dem Motto „Bildung ist mehr als so können starre Strukturen überwunden, überkommene
Schule, Schule ist mehr als Bildung“ gestaltet werden. Traditionen aufgehoben und nicht mehr zeitgemäße
Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird die Situa- Konzepte und Organisationsformen verabschiedet wer-
tion erkannt und analysiert und werden die notwendigen den. Für mich wird eines durch den vorliegenden Bericht
Handlungsschwerpunkte benannt. Es wird darauf ge- ganz deutlich: Das Handeln nach dem Gießkannenprin-
drungen, dass dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der Kin- zip oder der Einsatz von manchen Feuerwehrtöpfen war
der und ihrer Familien werden muss. und ist der falsche Weg. Ineffektive und kurzfristige
(Beifall bei der SPD) Maßnahmen bringen uns nicht weiter.

Daher ist der Ansatz der jetzigen Koalition richtig, die (Beifall bei der SPD)
Rahmenbedingungen für unsere Kinder und Enkelkinder
in den Bereichen Betreuung, Erziehung und Bildung zu Eine nachhaltige Kinder- und Jugendpolitik zu betrei-
verbessern und die Angebote auszubauen. ben, gelingt uns nur dann, wenn wir diese als gesamtge-
sellschaftliche Querschnittspolitik erkennen, die für
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht uns das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wichtig
aber auch deutlich, wo die Defizite in unserer Gesell- ist. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Parameter be-
schaft liegen. Nicht nur die PISA-Studie verteilt nennen. Geschlechterpolitisch muss die einseitige Bin-
schlechte Noten an das deutsche Schulsystem. Vielmehr dung der Frauen an Haushalt und Kindererziehung über-
hat kürzlich auch der UN-Sonderbeauftragte für das wunden werden. Familienpolitisch muss die Balance
Recht auf Bildung die fehlende Chancengleichheit und von Beruf und Familie noch weiter verbessert werden.
das verschenkte Bildungspotenzial deutlich kritisiert. Arbeitsmarktpolitisch muss jedem Jugendlichen der Zu-
Die Kommission führt in ihrem Bericht ein erweitertes
gang zu Ausbildung und Beruf ermöglicht werden.
Bildungsverständnis unter Einbeziehung vieler Bil-
dungsorte und Lernwelten an. Ich sage: Richtig, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Schule muss zu einem Ort vielfältiger Anregungen wer-
den. Sozialpolitisch muss der inakzeptable Teufelskreis aus
(Beifall bei der SPD) Einkommensarmut, Kinderarmut und Bildungsarmut
durchbrochen werden. Bildungspolitisch müssen die bis-
Die Schule in Deutschland muss sich ändern. Nur durch lang ungenutzten Lern- und Bildungspotenziale vor und
die Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte und neben der herkömmlichen Halbtagsschule verstärkt ein-
(B) Lernwelten kann uns die Erfüllung der Zielvorgabe einer (D)
bezogen und besser ausgeschöpft werden. Kinder- und
umfassenden Förderung gelingen. Angefangen von der jugendpolitisch müssen Kinder und Jugendliche ein be-
Familie über außerschulische Angebote der Kinder- und darfs- und sachgerechtes Angebot an Lern-, Bildungs-
Jugendhilfe, Initiativen der Wirtschaft bis hin zu Schulen und Entfaltungsmöglichkeiten erhalten, das sie auf ihre
müssen dabei alle beteiligten Akteure ihre vorhandenen berufliche und private Zukunft angemessen vorbereitet.
Ressourcen zur Verfügung stellen.
Umso erstaunlicher und ärgerlicher ist, wie das Land
Auch in dem vorliegenden Bericht finden wir gute Nordrhein-Westfalen zurzeit diese Querschnittsauf-
Praxisbeispiele, die zeigen, wie es gehen kann. So wer- gabe versteht, nämlich als Einschnittspolitik.
den in Rostock den Schülern nachmittags Kurse für Ke-
ramik, Jazzdance oder kreatives Schreiben angeboten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
sich in Ihren Wahlkreisen bereits die eine oder andere Einen schwarz-gelben Kahlschlag in der Kinder- und Ju-
Form der verknüpften Bildungsförderung bewährt. Häu- gendpolitik, der Eltern verunsichert, Kommunen in
fig nimmt hierbei der Sportbereich eine Vorreiterrolle Zwangslagen und Jugendverbände auf die Barrikaden
ein. Und das ist auch gut so. Unsere Aufgabe ist, die bringt, nenne ich unsozial und nicht zukunftsgerecht.
Fördernetzwerke auszubauen und institutionell abzu- Die Landesregierung in Düsseldorf ist nicht auf der
sichern. Wir müssen das Sozialisations- und Hilfenetz so Höhe der Zeit. Familienminister Laschet sollte lieber
knüpfen und flechten, dass keine Kinder und Jugendli- den Zwölften Kinder- und Jugendbericht aufmerksam le-
chen durchfallen. sen. Dann wird auch er erkennen, dass seine Vorschläge
keine langfristige Perspektive für unser Land sein kön-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen.
der CDU/CSU)
(Ina Lenke [FDP]: Das werden wir gleich wei-
Das Ziel, unseren Kindern und Jugendlichen Chan- terleiten!)
cengleichheit, die bestmögliche Bildung und damit Zu-
kunft zu geben, muss dabei der Motor unserer täglichen Wir müssen in den nächsten Jahren die notwendigen
politischen Arbeit sein. Eines müssen wir alle dabei be- Entwicklungen konsequent vorantreiben.
greifen: Betreuung, Erziehung und Bildung müssen sich
an den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und dürfen (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-
sich nicht an den Grenzen der Institutionen orientieren. Eckardt)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1643
Jürgen Kucharczyk
(A) Gut ist, dass wir dabei auf die erfolgreiche Kinder- und ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina (C)
Jugendpolitik der Vorgängerregierung bauen können. Sie Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
hat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz den Grund- Abgeordneter und der Fraktion der FDP
stein für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung
für die unter Dreijährigen gelegt. Das Ganztagsschulpro- Frauenpolitik – Gesellschaftlicher Erfolgsfak-
gramm sorgt für gleiche Zukunftschancen für jedes tor
Kind. Unter dem Dach der „Allianz für Familie“ hat die
alte Bundesregierung Initiativen gebündelt, damit eine – Drucksache 16/832 –
gute Balance von Familie und Beruf gelingen kann. Es Überweisungsvorschlag:
gibt noch etliche Punkte, die ich hier nennen könnte. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Die neue Bundesregierung setzt den erfolgreich ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
geschlagenen Weg fort. Die Anträge des Bündnisses 90/ Ausschuss für Bildung, Forschung und
Die Grünen und der Linkspartei bestätigen dies. Der Technikfolgenabschätzung
Ausbau einer quantitativ und qualitativ hochwertigen
Kinderbetreuung wird vorangebracht. Von der Regelung ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungs- Binder, Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer
kosten profitieren vor allem Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
(Ina Lenke [FDP]: Die Steuerberater!) Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf
dem Arbeitsmarkt durchsetzen
Alleinerziehende und Geringverdiener. Wir werden un-
ser langfristiges Ziel, die Gebührenfreiheit von Kinder- – Drucksache 16/833 –
betreuungsplätzen, intensiv weiter verfolgen. Dies kön-
Überweisungsvorschlag:
nen wir jedoch nur im Zusammenspiel mit Ländern und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Kommunen erreichen. Bringen wir gemeinsam die not- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
wendigen Maßnahmen und Prozesse auf den Weg! Las- Ausschuss für Arbeit und Soziales
sen wir uns dabei von dem Nationalen Aktionsplan „Für
ein kindergerechtes Deutschland“ und von den Empfeh- Interfraktionell wurde verabredet, darüber eineinhalb
lungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts leiten! Stunden zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Vielen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol-
(Beifall bei der SPD) legin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
(B) (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich schließe die Aussprache. NEN):
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
den Drucksachen 15/6014 und 16/817 an die in der Ta- Der Internationale Frauentag ist nach wie vor hochak-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. tuell. So feierte ihn gestern sogar die größte Boulevard-
Der Entschließungsantrag auf der Drucksache 16/827 zeitung mit einer blanke-Busen-freien Ausgabe und
soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf der ohne Telefonsexanzeigen. Selbst „Bild“ wollte gestern
Drucksache 15/6014 überwiesen werden. – Damit sind eine Frau sein.
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
Aber weg vom Boulevard. Der 8. März bietet in der
schlossen.
Tat einen guten Anlass, um über den Stand der Gleichbe-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatz- rechtigung zu sprechen. Da gibt es viel Licht, aber auch
punkte 2 und 3 auf: viel Schatten. Auf der einen Seite haben junge Frauen in
allen Altersstufen und Schulformen bessere Abschlüsse
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard als Männer, mehr junge Frauen als Männer legen das
Schewe-Gerigk, Renate Künast, Matthias Abitur ab, Frauen bilden die Mehrheit der Studierenden;
Berninger, weiterer Abgeordneter und der Frak- aber auf der anderen Seite spiegeln sich diese hervorra-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN genden Qualifikationen der Frauen im Arbeitsleben
Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirk- nicht wider. Nehmen wir zum Beispiel die Bezahlung.
lichen – Innovationshemmnis Männerdomi- Hier spielt das weibliche Geschlecht immer noch eine
nanz beenden entscheidende, nämlich negative Rolle. Frauen verdie-
nen in Deutschland durchschnittlich 23 Prozent weniger
– Drucksache 16/712 – als Männer.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
(Ina Lenke [FDP]: Das ist ein Skandal!)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Größer ist der Lohnunterschied EU-weit nur noch in
Ausschuss für Arbeit und Soziales Estland und in der Slowakei, Frau Kollegin Lenke.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (Ina Lenke [FDP]: Genau!)
1644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Irmingard Schewe-Gerigk
(A) Dass im 21. Jahrhundert ein Rechtsberater fast stellungsgesetze. Sie hält sie sogar für kontraproduktiv. (C)
1 000 Euro mehr verdient als eine Rechtsberaterin, ist Dabei sollte ihr das Beispiel Norwegen zu denken ge-
ein Armutszeugnis für unsere Demokratie. ben. 2003 hat Norwegen versucht, mit einer freiwilligen
Vereinbarung mehr Frauen in Aufsichtsräte von Aktien-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesellschaften zu bringen. Das war ein Flop – ebenso
sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. wie die freiwillige Vereinbarung in Deutschland mit den
Christel Humme [SPD]) Spitzenverbänden und der Bundesregierung. Nun gibt es
Was die Anzahl von Frauen in Führungspositionen seit Januar in Norwegen ein Gesetz, das vorsieht, dass
betrifft, gehört Deutschland ebenfalls zu den Schluss- der Frauenanteil bis Ende 2007 bei 40 Prozent liegen
lichtern im Vergleich mit anderen Industrienationen. muss; anderenfalls droht die Auflösung der Aufsichts-
Führungspositionen in großen deutschen Unternehmen räte. So viel Mut würde ich uns auch einmal wünschen.
sind gerade einmal zu 4 Prozent mit Frauen besetzt. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ist einfach zu wenig für eine moderne Wirtschaftsnation. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN KEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der – Sehr gut, jetzt klatscht sogar die SPD. Das ist toll.
FDP)
Dabei ist eines interessant: Dieses Gesetz wurde nicht
Das, was mich wütend macht – leider ist Frau von der von einer Feministin eingebracht, sondern vom konser-
Leyen nicht da –, ist, dass Frau von der Leyen hier im- vativen Wirtschaftsminister Gabrielsen, der kritisierte,
mer nur ein Vereinbarkeitsproblem sieht. Sie wünscht dass zu viel Wissenspotenzial und Innovation verloren
sich – ich zitiere aus ihrer Pressemitteilung – „dass künf- ginge, wenn Frauen ausgeschlossen werden.
tig deutlich mehr Frauen mit Kindern der Sprung ins
Topmanagement gelingt“. Wohl wahr, allerdings scheint Im Übrigen ist der Minister zutiefst davon überzeugt,
mir diese Ansicht doch das eigentliche Problem auszu- dass viele der internationalen Firmenskandale der letzten
blenden; denn in den 30 DAX-Unternehmen finden wir Jahre nicht passiert wären, wenn in den Aufsichtsräten
nahezu keine Frau unter den 200 Vorstandsmitgliedern, statt der – jetzt zitiere ich den Minister – „Raffgier der
weder mit Kindern noch ohne Kinder. Eine oder auch Männer in den 50ern vielfältigere Interessen dominiert
einmal zwei Frauen werden als großer Erfolg gefeiert. hätten“.
So werden 70 Prozent aller Betriebe ausschließlich von (Zuruf von der SPD)
Männern geführt. Frauen gelangen in Deutschland ge-
rade einmal in die Vorzimmer der Macht. Die Männer- – Ja, das kann man eigentlich gar nicht mehr kommen-
(B) dominanz in den Spitzenpositionen ist nicht nur ein Ge- tieren. – In der Tat stellt auch in Deutschland die Män- (D)
rechtigkeitsproblem, sondern sie stellt auch – ich schaue nerdominanz in den Führungsetagen ein unglaubliches
zur FDP – den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes Innovationshemmnis dar.
infrage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich wage die Behauptung, dass es einen Zusammen-
sowie bei Abgeordneten der FDP)
hang zwischen der schlechten wirtschaftlichen Entwick-
Wieso kann sich eigentlich nur die deutsche Wirt- lung, der hohen Arbeitslosigkeit und der Männerdomi-
schaft leisten, auf die Potenziale und Fähigkeiten von nanz in den Spitzengremien der Wirtschaft gibt. Bei der
Frauen, vor allem was Entscheidungspositionen angeht, Frage, warum Frauen trotz bester Qualifikation nicht in
zu verzichten? Warum werden Frauen erst hoch qualifi- die Toppositionen kommen, stößt man auf sehr provoka-
ziert, ohne dass sie danach adäquate Arbeitsplätze fin- tive Thesen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
den? In anderen Ländern weiß man, dass eine große An-
Die erste These ist: Männer haben Angst vor mächti-
zahl erwerbstätiger Frauen auch zu vielen neuen Jobs,
gen Frauen. Salman Rushdie geht sogar so weit, die
zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, führt. Das sollte
Angst islamischer Männer vor der weiblichen Sexualität
eigentlich den Wirtschaftsminister und die Frauenminis-
als eine Ursache für den Terrorismus anzusehen.
terin auf den Plan rufen. Vom Wirtschaftsminister haben
wir nichts gehört. Die Frauenministerin ist ganz gelas- Zweite These. Männer wollen unter sich bleiben.
sen. Sie sagt: Frauen rücken doch auf; jede Vierte ist Gleichberechtigte Frauen sind da eher Fremdkörper oder
schon in einer Führungsposition. Sie verschweigt aller- auch Spielverderberinnen. VW mit seinem reinen Män-
dings, dass sie sich auf eine Studie bezieht, in der auch nervorstand ist eigentlich das beste Beispiel dafür. Was
Kleinstbetriebe untersucht wurden. Nach dieser Studie da vor einigen Monaten öffentlich wurde, war sicherlich
gilt die Filialleiterin einer chemischen Reinigung mit ei- nur die Spitze des Eisberges.
ner Angestellten als Führungskraft. So kann Frau sich
die Welt wirklich schönreden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nach gelungenen Abschlüssen gönnten sich die Herren
sowie bei Abgeordneten der FDP) sexuelle Dienstleistungen auf Firmenkosten. Klar, da
würden Vorstandsfrauen nur stören. Herr Hartz hatte bei
Ministerin von der Leyen, die sich für Frauen nur seinen Vorschlägen zur Arbeitsmarktreform die Halbie-
dann zuständig fühlt, sofern sie Mütter sind, sagt aber rung der Zahl der Arbeitslosen angekündigt. Das ist ihm
auch: Eine Kanzlerin reicht; wir brauchen keine Gleich- nicht gelungen. Um den Erhalt der Arbeitsplätze in der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1645
Irmingard Schewe-Gerigk
(A) Sexindustrie hat er sich aber offensichtlich verdient ge- sondern auch keinen Anspruch auf Fördermaßnahmen (C)
macht. der Arbeitsagentur. An dieser Stelle muss eine Klarstel-
lung im SGB II vorgenommen werden.
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Die Sammelklage der sechs US-Managerinnen gegen Die Bundesregierung muss diese Maßnahmen zügig
eine zum Allianzkonzern gehörende Bank wegen syste- umsetzen. Es ist wirklich schade, dass die Ministerin
matischer Diskriminierung zeigt den richtigen Weg auf: nicht hier ist. Ich hätte sie gern selbst angesprochen. Die
Frauen brauchen Rechte. Darum ist es dringend notwen- Ministerin sollte die Frauenfrage nicht auf die Frage der
dig, dass das Antidiskriminierungsgesetz schleunigst Vereinbarkeit von Familie und Beruf reduzieren; denn es
verabschiedet wird. geht um viel mehr. Es geht um eine grundlegende Ver-
änderung der Geschlechterverhältnisse und damit um
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Veränderung eines wesentlichen Grundprinzips unse-
bei der SPD und der LINKEN) rer Gesellschaft. Die Frauen haben einen langen Verän-
Aber das reicht nicht aus. Es gibt nicht die eine Maß- derungsprozess hinter sich. Nun sind die Männer am
nahme oder das eine Gesetz, wodurch die Gleichstellung Zug. Die gesetzlichen Voraussetzungen – ich nenne nur
auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden kann. Hier müs- die Elternzeit – haben wir unter Rot-Grün geschaffen.
sen viele Maßnahmen zusammenwirken. Aus dem um- Inzwischen gibt es auch viele verbal aufgeschlossene
fangreichen Forderungskatalog unseres Antrages stelle Männer, aber den Worten müssen jetzt auch Taten fol-
ich Ihnen einige wesentliche Forderungen vor: gen.

Die Bundesregierung muss aufgrund der Analysen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die sie ja teilt, endlich ein Programm zur Gleichstellung Sowohl die Linke als auch die FDP haben Anträge in
von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt aufle- die Debatte eingebracht. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen zur gen von der Linksfraktion, ich freue mich darüber, dass
Umsetzung der Chancengleichheit in der Wirtschaft. unser Antrag Sie so inspiriert hat. Viele Analysen und
Aber daneben wollen wir auch Anreize geben. Die öf- Forderungen sind wortwörtlich mit denen unseres An-
fentliche Auftragsvergabe soll daran gekoppelt werden, trags identisch.
dass Unternehmen Maßnahmen zur Gleichstellung er-
greifen. Ein gutes Vorbild für Frauenförderung in der Was von der FDP kommt, finde ich immer sehr über-
Wirtschaft sind die USA. Auch dort hat nicht der Gleich- raschend. Sie stehen wie so oft vor einem Problem. Sie
heitssatz der Verfassung die Frauen vorangebracht. Es sehen zwar die Diskriminierung der Frauen, meinen
waren vielmehr zum einen die zur Ausführung der Ver- aber, dass Leistung allein reicht, um sich durchzusetzen.
(B) fassung verabschiedeten Anreizsysteme und zum ande- (D)
ren der Mut, auch vor gesetzlichen Regelungen und (Widerspruch der Abg. Ina Lenke [FDP])
Sanktionen nicht zurückzuschrecken. – Natürlich, so steht es in Ihrem Antrag! – Ich habe vor-
Aber zurück zu Deutschland. Damit Frauen endlich hin gesagt – Sie haben es gehört –, wie qualifiziert die
den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten, Frauen sind. Demnach müssten sie an der Spitze sein.
müssen alle Tarifverträge untersucht und neu bewertet Das ist aber nicht so. Sie scheuen gesetzliche Regelun-
werden. gen wie die Teufelin das Weihwasser. Diesen Wider-
spruch versuchen Sie zu verdecken, indem Sie sagen,
(Ina Lenke [FDP]: Genau!) dass die Regelungsdichte am Arbeitsmarkt abgebaut
Die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst sollten werden müsste. Von Ihnen wird immer wieder behaup-
hierbei ein erster Ansatzpunkt sein. tet, eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes würde aus-
reichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Ina Lenke [FDP]: Das stimmt nicht!)
Das Ehegattensplitting hat sich vielfach als Hinder- Ich stelle Ihnen einmal die Frage: Wie soll sich denn
nis für Ehefrauen erwiesen, eine Erwerbstätigkeit aufzu- eine Frau in einem völlig ungesicherten Arbeitsverhält-
nehmen. Da sagt der Ehemann: Das lohnt sich eigentlich nis beispielsweise für ein Kind entscheiden?
gar nicht. Ich bekomme doch 9 000 Euro Steuervergüns-
tigung. (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch klar!)

(Zustimmung der Abg. Ina Lenke [FDP]) Sie sehen, Frau Kollegin Lenke: Ideologie hilft hier
nicht weiter.
Wir wollen daher eine Individualbesteuerung, damit
Frauen auf ihrer Gehaltsabrechnung sehen, was sie wirk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lich verdienen. Widerspruch der Abg. Miriam Gruß [FDP] –
Ina Lenke [FDP]: Das stimmt nicht! Dann ha-
Viele erwerbslose Frauen werden durch die Hartz- ben Sie den Antrag sehr einseitig gelesen, Frau
IV-Regelungen nach wie vor benachteiligt. Auch dies Kollegin! Sie sollten ihn objektiv und nicht
ist nicht neu. Das haben wir als Grüne schon während subjektiv lesen!)
unserer Regierungszeit immer wieder mahnend ange-
merkt. Diese Frauen haben aufgrund der Anrechnung Ich hätte mich gern mit den Vorstellungen der großen
des Partnereinkommens nicht nur keine Einnahmen, Koalition auseinander gesetzt. Aber offensichtlich sehen
1646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Irmingard Schewe-Gerigk
(A) Sie, verehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU Wir sind uns hier nicht einig. Deshalb wiederhole ich die (C)
und der SPD, überhaupt keinen Handlungsbedarf. Abstimmung.
(Ina Lenke [FDP]: Wir sehen natürlich Hand- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lungsbedarf!) Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich habe durchgezählt! Können Sie
Ich finde, das sollten die Frauen in diesem Land wissen. zählen? – Ina Lenke [FDP]: Erst zählen!)
Sie sollten wissen, dass von Ihnen keine Vorschläge ge-
macht werden und dass Ihres Erachtens keine Regelun- Wer dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
gen notwendig sind, um die desaströse Situation von Grünen beitreten will, den bitte ich um das Handzei-
Frauen, die sehr gut ausgebildet sind, dann aber nicht auf chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Mehrheit
entsprechende Arbeitsplätze kommen, zu verbessern. stimmt eindeutig für den Antrag. Damit ist die Ministe-
rin herbeizuzitieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
hätte von Ihnen wirklich mehr erwartet. Ich finde schon, (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
dass das ein Armutszeugnis ist. Vielleicht wird die De- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
batte in den Ausschüssen das Ganze noch etwas mehr Die Sitzung ist unterbrochen, bis die Ministerin ein-
aufhellen. trifft.
Da sich die Union vollauf damit beschäftigt, unter (Unterbrechung von 11.17 bis 11.27 Uhr)
großen Querelen ihr Familienbild zu entstauben, sehe
ich ein, dass von da nichts zu erwarten ist, wobei eine
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ministerin, die einen kompletten Teil ihres ja nicht son-
derlich großen Ressorts einfach vernachlässigt, im bes- Wir setzen die Debatte fort.
ten Fall als ignorant zu bezeichnen wäre. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu ihren
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Plätzen zu begeben, und gebe das Wort der Kollegin
Unglaublich!) Dr. Eva Möllring, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem
Land deutlich mehr Anstrengungen, um Antworten auf
die Geschlechterfrage im 21. Jahrhundert zu finden. Dr. Eva Möllring (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Ich danke Ihnen. Herren! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen er-
(B)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) freut uns heute mit einer besonders kämpferischen Zeile, (D)
die irgendwie nostalgische Erinnerungen an ihre frühen
Jahre weckt. Sie heißt: „Innovationshemmnis Männer-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dominanz beenden.“
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, er-
teile ich das Wort zur Geschäftsordnung. Herr Beck, Als ich Ihre Fraktion vorhin bei dem Beitrag Ihrer
bitte. Kollegin gesehen habe, konnte ich feststellen, dass sie
gerade einmal zwei Männer bei dieser Debatte aufzuwei-
sen hatte.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei die- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ser Debatte über die Frauenpolitik ist merkwürdiger- NEN)
weise die Frauenministerin nicht anwesend. Ich bean- Jetzt, Herr Beck, nachdem es um Sieg oder Niederlage
trage namens der Fraktion des Bündnisses 90/Die bei der Abstimmung ging, sind natürlich – ganz zufäl-
Grünen die Herbeizitierung der Frauenministerin. Ich lig – mehr Männer Ihrer Fraktion im Saal anwesend.
finde, es zeugt von Respektlosigkeit gegenüber dem Par-
lament, dass sie draußen Interviews gibt, während hier (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU –
eine Debatte zu einem wichtigen Bereich ihres Ressorts Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stattfindet. NEN]: Provozieren Sie uns nicht! Wir haben
immer noch die Mehrheit!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der FDP und der LINKEN) – Ich provoziere überhaupt nicht, Herr Beck. Ich gehe
auf die Fakten ein, die Sie selber geschaffen haben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wird zu diesem Antrag das Wort gewünscht? – Das NEN]: Wir stellen gleich noch einen Antrag!
ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstimmen. Passen Sie auf!)

Wer tritt dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Ob Sie aber Ihre Innovationskraft nun gerade dadurch
Die Grünen bei? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – beweisen, indem Sie heute gesetzliche Gleichstellungs-
regelungen für die Privatwirtschaft fordern, wage ich zu
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE bezweifeln. Denn Ihre Forderung stammt aus dem
GRÜNEN]: Verloren! Das war klar!) Koalitionsvertrag von 1998.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1647
Dr. Eva Möllring
(A) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ man dem am besten entgegenwirken? Neben vielen ein- (C)
DIE GRÜNEN]: 2002 auch!) zelnen Gründen springen besonders zwei ins Auge:
Diese haben Sie heute aufgewärmt. Im Laufe der sieben Erstens, die Konzentration der jungen Frauen auf Be-
Folgejahre haben Sie dann 2001 diese Forderung in eine rufe, die geringes Ansehen haben und in denen eine
freiwillige Vereinbarung umgewandelt. schlechtere Bezahlung erfolgt als in anderen, oder, an-
ders gesagt, die schlechte Bezahlung in Berufen, die vor
(Ina Lenke [FDP]: Mithilfe der Grünen!)
allem von Frauen gewählt werden. Da brauchen wir den
Seitdem ruht still der See. gezielten Einsatz der Tarifparteien.
Kämpferisch Extremforderungen zu stellen ist einfa- Der Girls’ Day war ein Anfang und ist wohl die be-
cher in der Opposition. Aber dieses Problem ist zu ernst, kannteste von zahlreichen Maßnahmen, um Frauen für
als dass man es durch martialische Forderungen noch ins lukrativere Berufe in anderen Feldern zu öffnen. Dieses
Lächerliche ziehen sollte. Ziel müssen wir konsequent weiterverfolgen, während
wir gleichzeitig Jungen für all das fit machen sollten,
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr gu- was nicht so in ihrem Blickfeld liegt. Da sind sich wohl
ter Begriff!) alle Parteien einig.
Verschiedene Studien belegen auch für das Jahr 2005,
Zweitens. Der entscheidende Grund für das geringere
dass Frauen im Erwerbsleben ein deutlich geringeres
Einkommen der Frauen ist zweifellos die Familien-
Einkommen und weniger Chancen haben als Männer.
arbeit. Andersherum gesagt: Männer verdienen mehr als
Es muss uns alle aufschrecken, wenn Frauen, die Voll-
Frauen, weil sie eben meist keine Familienarbeit leisten.
zeit arbeiten, in Westdeutschland durchschnittlich
Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass Frauen oft
23 Prozent – dies ist der Spitzenwert – weniger verdie-
aus dem Beruf aussteigen, sondern nur, dass sie sich
nen als Männer. Als Gesetzgeber sind wir allein schon
nicht in gleicher Weise beruflich fortentwickeln können
aufgrund der Maßgabe unseres Grundgesetzes, aber
wie ihre männlichen Kollegen. Bis zum 30. Lebensjahr
auch aus innerem Gerechtigkeitsempfinden aufgerufen,
sind Frauen nämlich zu 43 Prozent an Führungspositio-
die Ursachen für diesen Befund festzustellen und gegen-
nen beteiligt. Danach bricht der Anteil auf 30 Prozent
zusteuern.
ein und sinkt kontinuierlich auf 20 Prozent ab. Bei zwei
Die Problematik hat ja Geschichte. Man muss der Dritteln der Frauen in Führungspositionen leben keine
Ehrlichkeit halber darauf hinweisen, dass in den letzten Kinder unter 18 Jahren im Haushalt. Nur 9 Prozent die-
Jahren viele Maßnahmen und Initiativen gestartet wur- ser Frauen haben überhaupt mehrere Kinder.
(B) den, um hier voranzukommen. Das hat dazu geführt, Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Dieses (D)
dass sich der Abstand zwischen dem Einkommen von
Frauen und demjenigen von Männern um einige Pro- Problem werden wir nur überwinden, wenn wir unsere
zentpunkte verringert hat, aber eben nicht in dem Maße, Denkschemata völlig ausplündern und umstellen. Das ist
dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten. Manch ei- kein Spruch; denn das ist das Schwierigste an der ganzen
ner sagt vielleicht auch heute noch – oder er denkt es –: Sache. Das Wichtigste ist, erst einmal zu erkennen, dass
Muss das denn überhaupt sein? Meine Frau ist ganz zu- die Vereinbarkeit von Familie und Beruf uns alle angeht
frieden, ohne groß Geld zu verdienen, und das können und der Konflikt von uns allen zu lösen ist und nicht spe-
doch auch andere sein. ziell allein von der Frau, die gerade betroffen ist.

Was es bedeutet, auf Unterhalt angewiesen zu sein, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
keine vernünftige eigene Rente zu erwarten und in der neten der SPD, der FDP und der LINKEN)
Arbeitswelt an untergeordneter Stelle hängen zu bleiben, Dazu muss erst einmal zugelassen sein, dass man am
kann man wohl nur beurteilen, wenn man es persönlich Arbeitsplatz das Thema Familie überhaupt offen anspre-
erlebt. Wenige protestieren laut; aber viele Frauen erle- chen kann. Bislang ist das ja ein Tabu. Zugelassen sind
ben es. Deswegen setzen wir als CDU/CSU uns dafür Fotos auf dem Schreibtisch und die Erwähnung guter
ein, hier im Sinne der Frauen Fortschritte zu machen. Schulabschlüsse der Kinder. Aber die Änderung der Ar-
Wir haben das im Koalitionsvertrag in mehreren Kapi- beitszeit, um zu Hause Kindergeburtstag zu feiern, gilt
teln festgelegt. als albern und unprofessionell.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Das liegt auch nicht zuletzt daran, dass Väter diesen
neten der SPD)
Teil des Lebens oft von sich weisen. Die Empörung da-
Dazu gehört: Wir brauchen heute – und morgen noch rüber, dass Väter gegen gutes Entgelt ganze zwei Mo-
viel mehr – gut ausgebildete Frauen auf dem Arbeits- nate ihres Lebens ihr Kind erziehen könnten, zeigt deut-
markt als Fachkräfte. Nur die Nutzung von männlicher lich, dass Familienarbeit ein erschreckend geringes
und weiblicher Qualifikation wird uns optimal nach Ansehen hat.
vorne bringen. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen,
dass Frauen die gleichen Chancen und Rechte auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
Arbeitsmarkt erhalten wie Männer. bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ute
Die Frage ist nun: Was sind die Ursachen für diese Kumpf [SPD]: Das sollten sich die Kollegen
eklatanten Einkommensunterschiede und wie kann der CDU/CSU gut anhören!)
1648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Eva Möllring


(A) Deshalb müssen wir jetzt diejenigen Väter stärken und Statt Verpflichtungen und Sanktionen, die die Frauen (C)
unterstützen, die bereit sind, sich partnerschaftlich und womöglich noch Arbeitsplätze kosten, brauchen wir
familienbewusst zu entwickeln. Wir werden ohne aktive Einsichten und zahlreiche unterschiedliche Strategien,
Väter nicht weiterkommen. Davon bin ich überzeugt. um voranzukommen. Die Frauen laufen nicht mit Trans-
parenten und Flüstertüten durch die Straßen. Sie ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie scheiden sich leise: Jede Dritte arbeitet in einem Betrieb,
bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und der Frauen ausdrücklich fördert – oder die Frauen ver-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zichten eben auf Kinder.
Wir machen also mit dem Elterngeld einen mutigen, Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
doppelten Schritt nach vorn, indem wir Anreize für
Frauen und gleichzeitig für Männer schaffen, sich für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kinder und Beruf zu entscheiden. Die Kinderbetreu- neten der SPD und der FDP)
ungsmöglichkeiten in Deutschland müssen erweitert
werden. Es gibt jetzt hoffnungsvolle Modelle flexibler Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Betreuung, die wir auf allen politischen Ebenen positiv Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
begleiten und stärken müssen. Das ist einfacher gesagt
als getan. Ich war lange Jahre in der Kommunalpolitik (Beifall bei der FDP)
und weiß, was das in Bezug auf die Räte und Kreistage
bedeutet. Ina Lenke (FDP):
Als Nächstes werden wir ein anteiliges Steuersystem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
einführen, das wir im Koalitionsvertrag vorgesehen ha- Kollegen und Kolleginnen! „Weiblich, qualifiziert, be-
ben. Damit soll erreicht werden, dass auch verheiratete nachteiligt“ – so lautete der Titel einer überregionalen
Frauen Berufstätigkeit nicht als unattraktiv empfinden. Tageszeitung, der die Situation von Frauen auf dem Ar-
beitsmarkt treffend beschreibt. Art. 3 Abs. 2 Grundge-
Übrigens, Frau Schewe-Gerigk, die Elternzeit ist setz verpflichtet den Staat, die tatsächliche Durchsetzung
nicht von Rot-Grün, sondern unter einer CDU-geführten der Gleichberechtigung zu fördern und aktiv auf die Be-
Regierung eingeführt worden. Das möchte ich nur in Er- seitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Die hohe
innerung rufen. Arbeitslosigkeit – über 5 Millionen Menschen sind ar-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beitslos – hat die strukturell schlechte Situation von
Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frauen auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Mit den rot-grü-
NEN – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- nen Hartz-Gesetzen ist das klassische Modell des männ-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da war es Urlaub und lichen Familienernährers und einer von ihm finanziell
(B) (D)
kein Mann konnte es in Anspruch nehmen!) abhängigen Ehefrau oder Partnerin verfestigt worden,
und zwar mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen.
Fort- und Weiterbildung ist nach meiner Überzeu-
gung ein ganz wichtiger Schlüssel. Deswegen möchte (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE
ich den unter Nr. 7 des Antrages der Grünen formulier- GRÜNEN)
ten Vorschlag gern aufgreifen, dem ich durchaus zustim- Besonders Frauen aus den neuen Bundesländern empfin-
men kann. Er ist aber etwas zu kurz gegriffen. Der För- den das als starke Diskriminierung. Immer wenn ich in
deranspruch muss vielmehr für alle Frauen gelten, die die neuen Bundesländer komme, gibt man mir es als
keinen Arbeitsplatz haben und gleichwohl keine Leis- Auftrag mit auf den Weg, dies im Bundestag anzuspre-
tungen der BA beziehen. Darauf könnten wir uns eini- chen.
gen.
Nun haben die Grünen heute einen Antrag mit dem
Vor allem ist es notwendig, immer wieder auf Be- Titel „Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirkli-
triebe und Unternehmen zuzugehen, damit sie alle Mög- chen“ eingebracht, und das nach sieben Jahren Regie-
lichkeiten schaffen, mit denen sie die besonderen Quali- rungstätigkeit. Sie hatten doch Gelegenheit, in der rot-
täten von Frauen erkennen und fördern und gleichzeitig grünen Koalition Politik zugunsten von Frauen zu ge-
Familienarbeit anerkennen können. Viele Betriebe haben stalten.
ja schon hervorragende Initiativen gestartet, die ich hier
gar nicht aufzählen kann. Diese müssen wir weiter tra- (Beifall bei der FDP – Widerspruch beim
gen. Ich glaube, es ist ein guter und erfolgreicher Weg, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate
wenn Frauen in Betrieben, zum Beispiel durch Coa- Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
ching, persönlich gefördert werden und wenn der Be- haben wir ja abgearbeitet!)
trieb davon überzeugt ist, dass das eine gute Sache ist. Stattdessen ist in Ihrer Regierungszeit die Arbeitslosig-
Daneben erwarte ich von der Offensive „Familien- keit gestiegen, auch die Arbeitslosigkeit von Frauen.
freundliche Arbeitswelt“, die wir beschlossen haben, zu-
sätzliche Impulse. Ich könnte mir zum Beispiel auch (Beifall bei der FDP – Widerspruch beim
vorstellen, dass ein Unternehmen anbieten könnte, bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate
Verzicht auf einen Dienstwagen eine Haushaltshilfe zu Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa-
engagieren. So viel zu den Denkschemata. rum redet eigentlich nicht Ihre Fraktionsvorsit-
zende?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD) – Diese Zahlen können Sie doch nicht in Abrede stellen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1649
Ina Lenke
(A) Wenn Sie jetzt in Ihrem Antrag wieder die Keule ei- – Ihren Einwurf kann ich aus Zeitgründen nicht weiter (C)
nes Gleichstellungsgesetzes für die Wirtschaft herausho- beachten. Stellen Sie eine Frage, dann können wir uns
len, darüber unterhalten.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Auch die Arbeitgeber sind nicht ganz unschuldig.
GRÜNEN]: Wo sind Ihre Rezepte?) Viele Arbeitgeber haben bei Bewerbungen von Männern
und Frauen nicht die Qualifikation als Erstes im Auge,
wenn Sie wieder Ihre Idee der Bevorzugung von Unter- sondern treffen die Auswahl nach Geschlecht.
nehmen bei öffentlichen Aufträgen als Forderung an die
Regierung richten, dann sage ich Ihnen: Mit diesen alten (Christel Humme [SPD]: Wie wollen Sie das
Rezepten, Herr Beck, wird der Arbeitsmarkt nicht ge- ändern?)
sunden. Das ist nicht in Ordnung. Noch heute werden junge Vä-
(Beifall bei der FDP) ter, wenn sie Elternzeit in Anspruch nehmen, nicht ernst
genommen. Eine Kollegin von der CDU hat gerade den
Dieser Meinung sind wir. Wir haben andere Rezepte. Paradigmenwechsel bei den Vätern angesprochen. Die-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ser Paradigmenwechsel hat bei den jungen Vätern be-
GRÜNEN]: Wo sind die FDP-Frauen? Ist das reits stattgefunden. Ihn müssen wir politisch unterstüt-
dort die Frauenvollversammlung Ihrer Frak- zen.
tion? Probieren Sie das doch mal bei Ihrer ei- Deshalb erwartet die FDP von Ihnen als Bundes-
genen Listenaufstellung aus!) ministerin, Frau von der Leyen, ein umfassendes und
Auf demselben Holzweg ist die große Koalition. Sie nachhaltiges Konzept zur Unterstützung berufstätiger
wird die Mehrwertsteuer erhöhen und die Konjunktur Mütter und Väter. Unsere Forderung an Sie ist – wie
abwürgen. Auch die Konzepte der CDU/CSU, die das schon seinerzeit an die Familienministerin der rot-grü-
konservative Familienbild nen Koalition –: Wir wollen keine leeren Schlagworte!
Das Elterngeld, das Sie versprechen und über das Sie
(Lachen des Abg. Dr. Hermann Kues [CDU/ landauf, landab diskutieren, ist bisher nur eine leere
CSU]) Hülle.
des allein verdienenden Ehemannes pflegt, tragen nicht (Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]:
dazu bei, Frauen zu ermutigen, ihre berufliche Qualifika- Also, Frau Lenke, wirklich!)
tion auf dem Arbeitsmarkt anzubieten.
Auf Nachfrage der FDP musste die Bundesregierung
(Beifall bei der FDP) – Sie können gern die Antwort der Bundesregierung
(B) (D)
Herr Dr. Kues, Sie mögen vielleicht ein anderes Fa- nachlesen – kleinlaut einräumen, dass sie beim Eltern-
milienbild haben, aber einer Pressemitteilung der Jungen geld bisher kein Konzept, sondern nur Eckpunkte hat.
Gruppe der CDU/CSU-Fraktion konnte ich entnehmen, (Nicolette Kressl [SPD]: Wann haben Sie zum
dass man dort dafür ist, das traditionelle Familienbild letzten Mal etwas durchgesetzt?)
weiter zu pflegen. Deshalb führe ich das hier aus. Wenn
Sie eine Einzelmeinung in der CDU/CSU vertreten, Auch jetzt noch fehlt es in den Firmen und im öffentli-
dann sollten Sie als Staatssekretär dafür sorgen, dass es chen Dienst an Einsicht, dass zum Beispiel Gender
in Ihrer Fraktion besser wird. Mainstreaming Teil einer modernen Personalpolitik
und Innovations- und Erfolgsfaktor einer Organisation
(Beifall bei der FDP) ist. Dass die traditionelle Frauenförderung vom Gender
Mainstreaming abgelöst wurde, ist in der Wirtschaft wie
Wir alle wissen, dass Frauen durch Familienpflichten
in der Politik bei den Führungsebenen noch nicht ange-
im Wettbewerb um einen Arbeitsplatz besonders be-
kommen.
nachteiligt sind. Allein der Verdacht, die Bewerberin
könnte Mutter werden, reicht aus, um einen Job nicht zu (Elke Ferner [SPD]: Falsch!)
bekommen. Diese Diskriminierung auf dem Arbeits-
markt – darüber sind wir uns Gott sei Dank über alle Die Wirtschaft handelt meines Erachtens sehr kurzsich-
Fraktionsgrenzen hinweg einig – kann nur durch verläss- tig, wenn sie Frauen vor der Tür stehen lässt.
liche Angebote für eine bedarfsgerechte hochwertige Die Bertelsmann-Stiftung hat diese Woche eine Stu-
Kinderbetreuung beseitigt werden. die veröffentlicht, die deutlich aufzeigt, dass deutsche
Unternehmen das Leistungs- und Kreativpotenzial von
Ich komme noch einmal auf Sachsen-Anhalt zurück,
Frauen noch nicht erkannt haben. Durch die demografi-
das wir letzte Woche besucht haben. In Sachsen-Anhalt
sche Entwicklung unserer Gesellschaft – das wissen
hat die Regierung, an der die FDP beteiligt ist, etwas
wir – werden die Unternehmen die Nase vorn haben, die
ganz Besonderes geleistet. Dort gibt es einen Rechtsan-
jetzt Männer und Frauen einstellen.
spruch für berufstätige Alleinerziehende und berufstä-
tige Eltern auf Kinderbetreuung vor der Einschulung von (Beifall bei der FDP)
bis zu zehn Stunden täglich. Das finde ich sehr vorbild-
lich. Wir Liberale bringen heute einen Antrag ein, in dem
die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wird,
(Beifall bei der FDP – Sönke Rix [SPD]: Trotz Fehlanreize im Steuer- und Transfersystem, wie zum
FDP-Beteiligung!) Beispiel die Steuerklasse V, zu beseitigen, Schwächen in
1650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Ina Lenke
(A) der Arbeitsvermittlung und in der Arbeitsmarktpolitik zu Freiheitsbegriff für mich leider auch ein Begriff der Be- (C)
beheben, die hohe Regulierungsdichte am Arbeitsmarkt liebigkeit.
abzubauen und die Existenzgründungsförderung für
Frauen konsequent fortzusetzen und im Rahmen beste- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hender Programme zielgruppengerecht auszugestalten. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Wer Existenzgründerinnen besucht, der hört stets die GRÜNEN)
Klage, dass Sparkassen und Banken keine Kredite geben Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, „Tun Sie mehr da-
wollen. Dabei wird gerade dort das Hohelied auf Exis- für, dass Frauen ihren Wunsch nach einer besseren Ver-
tenzgründungsförderung für Frauen gesungen. Insofern einbarkeit von Familie und Beruf verwirklichen kön-
gibt es also eine große Diskrepanz. nen!“. Das war ein Appell beim 150-jährigen Jubiläum
Wir wollen, dass die Bundesregierung zusammen mit der IHK in meinem Wahlreis am letzten Freitag. Dieser
den Ländern in den Schulen und im Berufsbildungssys- Appell kam nicht etwa von Renate Schmidt oder Alice
tem unternehmerisches Denken bei Mädchen und Frauen Schwarzer, sondern von Ludwig Georg Braun, dem Vor-
stärker fördert. Die Berufswahl von jungen Frauen soll sitzenden des Industrie- und Handelskammertages
in den Fokus gestellt werden. Wir brauchen mehr Frauen selbst. Er wandte sich dabei an ein Auditorium, das zu
in männerdominierten Tätigkeiten. Denn diese sind bes- 95 Prozent aus Männern bestand. Das war völlig neu.
ser vergütet. Über 55 Prozent aller erwerbstätigen Denn das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“
Frauen arbeiten in nur 20 Berufen. Das sollte uns zu den- stand vor sechs Jahren nicht zur Debatte, als Herr Braun
ken geben. Deshalb sollten wir im Bundestag auch die an gleicher Stelle über Innovation und Zukunft sprach.
Eigenverantwortung und Eigeninitiative von Frauen an- Ist das schon gleichstellungspolitischer Fortschritt? Ist
sprechen. Ich finde, dass das sehr wichtig ist. Wir sollten das unser frauenpolitischer Erfolg?
Frauen nicht immer nur beschützen, sondern wir sollten Eines ist sicher: Die SPD und allen voran die Ministe-
sie auffordern, in ihrem eigenen Bereich Stellung zu be- rinnen Christine Bergmann und Renate Schmidt haben
ziehen. das Thema Gleichstellungspolitik immer wieder bei den
Wirtschaftsverbänden und Unternehmen in den Vorder-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: grund gestellt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
– Ja, das darf man ruhig einmal wohlwollend zur Kennt-
Ina Lenke (FDP):
nis nehmen. – Mit beiden Frauen und der SPD-geführten
Ich komme zum Schluss. Regierung verbinden wir heute wesentliche gleichstel-
(B) lungspolitische Fortschritte. (D)
In einer liberalen Bürgergesellschaft brauchen wir
Menschen, die bereit zu Veränderungen sind. Frauenpo- Ich nenne nur das Gender-Mainstreaming-Prinzip als
litik muss vorangetrieben werden im Bewusstsein, dass durchgängiges Prinzip, das Gleichstellungsgesetz für
Frauen mehrheitlich besser qualifiziert sind und dass sie den öffentlichen Dienst, das Gleichstellungsgesetz für
neue Perspektiven, Wissen und Erfahrungen in die Ge- die Soldatinnen, die Reform der Elternzeit und – das ist
sellschaft einbringen. „Weiblich, qualifiziert, benachtei- ganz wichtig – den Ausbau der Infrastruktur, das heißt,
ligt“ darf es nicht länger geben. Chancengleichheit muss mehr Ganztagsschulen und mehr Betreuung für unter
endlich selbstverständlich werden. Aber nicht nur das. Dreijährige. Das alles sind wichtige Schritte hin zum
„Weiblich, qualifiziert, benachteiligt“ kann sich unsere Ziel der Gleichstellung der Geschlechter.
Gesellschaft nicht mehr leisten.
Nach fast 100 Jahren Internationalem Frauentag und
(Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe- nach fast 60 Jahren Grundgesetz und Art. 3 würde ich
Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was mir jetzt allerdings noch schnellere Fortschritte wün-
macht denn die FDP?) schen. Denn es gilt immer noch – das haben wir in den
Reden gerade gehört –: Gerade auf dem Arbeitsmarkt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden traditionelle Rollenbilder verfestigt. Anders lässt
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPD- sich nicht erklären, warum Frauen, die noch nie so gut
Fraktion. ausgebildet waren wie heute, keine entsprechenden Kar-
rierechancen haben, warum Frauen selbst dann ein ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ringeres Gehalt erhalten, wenn sie im gleichen Büro ar-
beiten wie ihre männlichen Kollegen und die gleiche
Christel Humme (SPD): Tätigkeit ausüben, warum Frauen nach einer Familien-
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- phase oder Kündigung länger arbeitslos sind als Männer,
nen! Frau Lenke, Sie haben gerade in Ihrer Rede die warum Frauen mehrheitlich in geringfügiger Beschäfti-
Wirtschaft heftig dafür kritisiert, wie sie auf Frauen gung zu finden sind und die Frauenerwerbsquote weit
reagiert. unter der Männererwerbsquote liegt.

(Ina Lenke [FDP]: Ja!) Diese Analyse wird von ganz vielen unterschiedli-
chen Untersuchungen mit Daten belegt. Darum ist es
Aber ich entdecke in Ihrem Antrag leider keine einzige vielleicht auch zu erklären – das sage ich der Ministerin
Lösung für dieses Problem. An dieser Stelle wird der Frau von der Leyen –, dass die „Zweite Bilanz der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1651
Christel Humme
(A) Vereinbarung der Bundesregierung mit den Spitzenver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (C)
bänden der Deutschen Wirtschaft zur Förderung der CDU/CSU)
Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Pri-
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
vatwirtschaft“ – so lautet der lange Titel – ohne großen
fordert neben familiengerechten Arbeitsbedingungen
Paukenschlag in der Presse veröffentlicht wurde. Die Bi-
bessere Möglichkeiten der Kinderbetreuung zur Ver-
lanz bestätigt, die so genannte freiwillige Vereinbarung
besserung der Karrierechancen von Frauen. Der Ausbau
war nicht wirkungsvoll.
von Kinderbetreuung bleibt auf unserer Agenda. Dafür
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: stellen wir den Kommunen jährlich 1,5 Milliarden Euro
Leider!) zur Verfügung.
– Das darf man ruhig feststellen. Die Frauen werden es (Ina Lenke [FDP]: Wo sind die 1,5 Milliar-
feststellen. den? – Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl
[SPD]: Sie wird es nie kapieren!)
2004 waren in den 100 größten Unternehmen neben
685 Männern nur vier Frauen in Vorstandspositionen. – Frau Lenke, hören Sie weiter zu, es wird noch span-
Eine Steigerung der Anzahl von Frauen in Spitzenpositi- nender. Wenn wir traditionelles Rollenverhalten aufbre-
onen um durchschnittlich 2 Prozent innerhalb von vier chen wollen, brauchen wir zusätzliche Instrumente. Im
Jahren ist wirklich kein Ruhmesblatt. Bei diesem Schne- Koalitionsvertrag haben wir uns tatsächlich – das ist vor-
ckentempo würde es noch ein weiteres halbes Jahrhun- hin schon erwähnt worden – auf das Elterngeld festge-
dert dauern, bis in Führungspositionen Geschlechterpro- legt. Bei einer 67-prozentigen Lohnersatzleistung bis zu
porz hergestellt ist. Auf weitere 50 Jahre Trippelschritte einer maximalen Höhe von 1 800 Euro wird es den Vä-
– das sage ich Ihnen ganz deutlich – können und wollen tern zukünftig schwer fallen, nach der Geburt eines Kin-
wir Frauen nicht warten. des zu sagen: „Schatz, bleib du doch zu Hause. Bei mei-
nem hohen Einkommen lohnt sich Elternzeit nicht.“
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Wenn die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einem
Erfolg führen, muss ein Gleichstellungsgesetz her. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Frau Humme, die Kollegin Lenke würde gerne eine
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Zwischenfrage stellen.
LINKEN)
(B) Ich betone an dieser Stelle ganz bewusst, dass das die Christel Humme (SPD): (D)
Forderung der SPD-Frauenpolitikerinnen war und ist. Nein, das möchte ich jetzt nicht – gleich!
Das ist gar keine Frage. Vielen jungen Männern kommt diese Regelung sogar
Norwegen – Frau Schewe-Gerigk hat das vorhin ge- entgegen. Sie möchten nach der Geburt ihres Kindes
sagt – macht es uns vor: Seit Beginn dieses Jahres ist ge- kein Feierabend- und Wochenendpapi sein, sondern sich
setzlich geregelt, dass im Vorstand von Aktiengesell- mehr und stärker der Erziehungsarbeit widmen. Darum
schaften mindestens 40 Prozent Frauen vertreten sein ist es mir – bis zum heutigen Tag – überaus unverständ-
müssen. Eine zweijährige Phase der freiwilligen Selbst- lich, dass ein Aufschrei durch den Blätterwald und durch
verpflichtung hatte zuvor nicht zu dem angestrebten Er- manche männliche Politikerwelt ging, weil mindestens
folg geführt. zwei Monate der Elternzeit den Vätern vorbehalten sein
sollen, ähnlich, wie es uns Schweden und Island erfolg-
Wir Frauen – auch das sage ich an dieser Stelle – ha- reich vormachen. Haben wir etwa die Männer erwischt,
ben auf das Antidiskriminierungsgesetz und die damit die sich ihr eigenes Lebensmodell geschaffen haben, die
verbundene Gleichstellungsstelle gehofft. Beides hätte Hausfrau im Rücken, von der sie gerne als Familienma-
den Frauen geholfen, ihre Rechte besser durchzusetzen. nagerin schwärmen, während sie selbst erfolgreich im
Aber die gleichen Männer aus den Wirtschaftsverbän- modernen Ambiente leben und arbeiten? Rasten sie aus,
den, die an die Unternehmer appellieren, mehr dafür zu wenn ihr eigener Lebensentwurf infrage gestellt ist?
tun, dass Frauen Familie und Beruf vereinbaren können,
bekämpfen das Antidiskriminierungsgesetz. Es sei zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bürokratisch und wettbewerbsfeindlich. Das legt die Frau Kollegin Humme, würden Sie jetzt eine Zwi-
Vermutung nahe, dass die Chancengleichheit von Frauen schenfrage der Kollegin Lenke zulassen?
und Männern zwar in Sonntagsreden als innovatives
Thema angekommen ist, in der Realität aber noch nicht.
Christel Humme (SPD):
Deshalb appelliere ich an Herrn Braun und die Wirt- Vielleicht kann ich diesen Gedanken noch zu Ende
schaftsverbände: Machen Sie sich die Erkenntnis zu Ei- führen. – Ich glaube, es würde eine wesentliche Ände-
gen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht rung unseres Politikverhaltens bedeuten, wenn wir nicht
nur ein Problem der Frauen ist. Tatsächliche Gleichstel- nur Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt ergreifen, son-
lung bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßen dern gleichzeitig auch das Ziel verfolgen würden – das
und gleichberechtigt am Arbeitsmarkt vertreten sein ist, soweit ich Sie, Frau Lenke, kenne, unser gemeinsa-
müssen. mes Ziel –, Rollenverhalten infrage zu stellen und zu
1652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Christel Humme
(A) verändern. Gerade das Elterngeld soll, indem auch die nun: Wollen Sie die Frauen bestrafen, die sich in ihrer (C)
Väter in den Blick genommen werden, dazu ermuntern, Partnerschaft nicht durchsetzen können, dass ihr Mann
neue Rollenkonzepte zu leben. zwei Monate zu Hause bleibt? Denn diese Familien be-
kommen nicht zwölf Monate Elterngeld, sondern nur
Ich weiß, dass Herr Braun bei der IHK-Veranstaltung
zehn Monate. Das finde ich persönlich nicht in Ordnung
genau diese Rollenveränderung nicht unbedingt im Blick
und an Ihrem Konzept nicht gut.
hatte. Ich glaube, ihm sind zwei Erkenntnisse wichtig:
erstens, dass die Wirtschaft aufgrund des zu erwartenden (Ute Kumpf [SPD]: Das kennen Sie doch noch
Fachkräftemangels nicht auf das Know-how von Frauen gar nicht!)
verzichten kann, und zweitens, dass eine Gesellschaft
ohne Kinder schrumpft, was auch ein schrumpfendes – Natürlich. Das hat Frau von der Leyen doch schon in
Wirtschaftswachstum zur Folge hätte. jeder Zeitung kommuniziert.

Egal, aus welcher Perspektive wir dieses Thema be- (Zuruf von der SPD: Ist es für Sie etwa eine
trachten: Die Förderung der Gleichstellung auf dem Strafe, wenn Frauen wieder eher arbeiten ge-
Arbeitsmarkt ist unverzichtbar. Ich teile ausdrücklich hen können?)
die Auffassung, dass es im Interesse der Gleichstellung
eine richtige Forderung ist, die Männerdominanz im Ar- Christel Humme (SPD):
beitsleben zu brechen. Aber das geht meiner Ansicht Frau Lenke, ich gebe zu, dass ich diese Frage viel-
nach nur, wenn wir auch die Frauendominanz bei der Fa- leicht von Herrn Dörflinger oder Herrn Singhammer er-
milien- und Erziehungsarbeit brechen. Daran auch in wartet hätte, nicht aber von Ihnen.
Zukunft zu arbeiten, das wird unsere Aufgabe in der gro-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
ßen Koalition sein.
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Danke schön. NEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wenn ich die „Süddeutsche Zeitung“ von heute lese,
CDU/CSU) wundere ich mich, dass Sie als Frauenpolitikerin Ihrer
Fraktion unsere Forderung, die Väter stärker in die Fa-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: milienarbeit einzubeziehen und zu diesem Zweck ein
Frau Lenke, bitte. Modell zu kopieren, das in Schweden und Island bereits
hervorragend funktioniert, nicht unterstützen.
Ina Lenke (FDP): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) Frau Humme, die Frage, die ich Ihnen stellen möchte, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (D)
ist wirklich keine rhetorische Frage, sondern sehr ernst CDU/CSU)
gemeint: Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Schweden oder Is-
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh, land schon einmal jemand – erst recht nicht eine Frau –
wenn Sie Ihre Frage schon so einleiten!) eine solche Frage gestellt hat.
Es geht um das Erziehungsgeld, das normalerweise Schönen Dank.
zwölf Monate lang bezogen werden kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt doch gar DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nicht! – Nicolette Kressl [SPD]: Nein, das ist CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/
falsch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN]: Das war ein guter Schluss!
GRÜNEN]: Das fängt ja gut an, wenn schon Jetzt ist mal wieder klar geworden, wo die
die Frage falsch gestellt ist!) FDP steht!)
Diese zwölf Monate können die Eltern frei untereinander
aufteilen. Auch wir wollen, dass der Bezug des Eltern- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
geldes zwischen Vätern und Müttern frei aufgeteilt wer- Ich gebe das Wort der Kollegin Karin Binder, Die
den kann. Linke.

Ich kenne zwar nur die Umrisse der von Ihnen ange- (Beifall bei der LINKEN)
dachten Regelung des Elterngeldes, aber bislang kann
ich eine nur zehnmonatige Alimentierung erkennen. Karin Binder (DIE LINKE):
Denn heutzutage nehmen nur 5 Prozent der Männer Er- Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und
ziehungsurlaub. Herren! Im Jahre 1910 hat die deutsche Sozialistin und
Feministin Clara Zetkin den Grundstein für den gestri-
(Ute Kumpf [SPD]: „Elternzeit“ heißt das!
gen Internationalen Frauentag gelegt. Es ging ihr und ih-
Das ist ein Unterschied, Frau Lenke! Das ist
ren Mitstreiterinnen darum, Frauenrecht als Menschen-
nämlich kein Urlaub! Die fahren ja nicht auf
recht durchzusetzen. Die Frauenrechtsbewegung hat seit
die Bahamas!)
dieser Zeit einige Erfolge und damit auch einen großen
Das bedeutet, dass in den nächsten Jahren statt zwölf nur gesellschaftlichen Fortschritt erzielt. Trotzdem gibt es
zehn Monate genommen werden. Meine Frage lautet noch viel zu tun.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1653
Karin Binder
(A) (Beifall bei der LINKEN) Mann geht arbeiten, sofern er überhaupt Arbeit hat, die (C)
Frau ist wieder für Familie und Hausarbeit zuständig und
Die Gleichberechtigung von Frauen ist in vielen Be-
verdient dazu – in Lohnsteuerklasse V.
reichen noch lange nicht verwirklicht. Die aktuellen
Berichte der Europäischen Kommission, der Bundes- Das Ehegattensplitting ist ein gravierendes frauen-
regierung und der Hans-Böckler-Stiftung liefern sehr an- feindliches Element in unserem Steuerrecht. Unser Steu-
schauliches, ausführliches und detailliertes Datenmate- errecht muss deshalb dringend geändert und gegendert
rial und ernüchternde Ergebnisse. Sie belegen eines sehr werden,
deutlich: Frauen sind im Erwerbsleben nach wie vor
massiv benachteiligt. Frauen verdienen im Durchschnitt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
circa 20 Prozent weniger als Männer. Deutschland steht wenn der Staat seinem Auftrag nach Art. 3 Abs. 2
damit in der EU an drittletzter Stelle. Die Europäische Grundgesetz nachkommen will, der dem Staat vorgibt,
Kommission stellte fest, dass die geschlechtsspezifische die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
Lohndifferenz in Deutschland im Gegensatz zu der in von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseiti-
anderen europäischen Staaten nicht kleiner, sondern grö- gung bestehender Nachteile hinzuwirken.
ßer wird. Wenn diese Tendenz anhält, dann bringen wir
es bald zur roten Laterne in der EU. Wir müssen in diesem Land endlich anfangen, die be-
zahlte und die unbezahlte Arbeit umzuverteilen: zwi-
Nach dem WSI-Frauendatenreport der Hans-Böckler- schen Arbeitsplatzbesitzerinnen/Arbeitsplatzbesitzern und
Stiftung verdienen Frauen in Westdeutschland allein auf- Erwerbslosen,
grund ihres Geschlechts bis zu einem Drittel weniger. Im
Osten fällt der Unterschied etwas geringer aus, aber das (Beifall bei der LINKEN)
ist keine wirklich gute Nachricht; denn dort verdienen
auch die Männer einfach weniger. aber auch – geschlechtergerecht – zwischen Frauen und
Männern; Arbeit ist schließlich mehr als genug vorhan-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier besteht eindeu- den. Aber dazu ist ein gesamtgesellschaftliches Umden-
tig Handlungsbedarf. ken bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nötig
(Beifall bei der LINKEN) und die Abkehr vom Ernährermodell zwingend.

Es ist nicht damit getan, dass wir § 612 Abs. 3 ins Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen – und selbst-
Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben haben, der die un- verständlich auch Männer – von ihrem Einkommen le-
terschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern ver- ben können. Dazu brauchen wir neue Arbeitsplatz- und
bietet. Wir brauchen zudem verbindliche Verfahrensvor- Arbeitszeitmodelle und dazu ist die Ausweitung des öf-
(B) schriften, zum Beispiel ein Entgeltgleichheitsgesetz wie fentlichen Beschäftigungssektors dringend erforderlich. (D)
in Schweden. Dort müssen Arbeitgeber, die mehr als (Beifall bei der LINKEN)
zehn Beschäftigte haben, Entgeltunterschiede identifi-
zieren und sie müssen einen Aktionsplan für die Anglei- Wir brauchen existenzsichernde, sozialversicherungs-
chung der Arbeitsentgelte aufstellen. pflichtige Arbeitsplätze und einen staatlich festgelegten
Mindestlohn statt 1-Euro-Jobs, Minijobs und Niedrig-
Wir fordern deshalb dringend die Einführung eines
lohntarife.
Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Freiwillige Regelungen reichen nachweislich nicht aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf dringend – und
Nun komme ich zur Erwerbsbeteiligung. In Deutsch- das nicht nur auf dem Papier. In Deutschland gibt es auch
land arbeiten generell weniger Frauen als Männer in so- heute noch viele Ecken – speziell im Westen –, wo die
zialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis- Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienpflichten
sen. Wenn Frauen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, schlicht unmöglich ist. Wissen Sie, wie die Betreuungssi-
dann ist das immer häufiger nur eine Teilzeitstelle oder tuation in Baden-Württemberg aussieht? Für Kinder un-
gar ein Minijob. Über zwei Drittel der ausschließlich ge- ter drei Jahren gibt es so gut wie keine Betreuungsange-
ringfügig Beschäftigten sind weiblich. Der Anteil der bote.
Frauen, die weniger als 15 Stunden wöchentlich arbeiten,
hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Solange wir (Zuruf von der LINKEN: CDU-Bundesland!)
dem nicht entgegenwirken, ist vielen Frauen eine eigen- Auf 1 000 Kinder kommen circa 13 Betreuungsplätze.
ständige Existenzsicherung schlicht und ergreifend nicht Wie soll da eine junge Mutter ihre gute Qualifikation er-
möglich. Das heißt in der Konsequenz, sie sind finanziell halten? Die Halbwertszeit für Wissen ist heute extrem
wieder verstärkt von ihrem Partner oder von staatlicher kurz. Wenn sie drei Jahre zu Hause bleibt, gilt ihr Fach-
Unterstützung abhängig. Dieses staatlich geförderte Er- wissen eventuell schon als überholt.
nährermodell ist kulturell und sozialpolitisch ein Relikt
aus dem 19. Jahrhundert. Dank unserer hohen Mobilität und Flexibilität in der
Arbeitswelt wohnt Oma heute leider nicht mehr um die
(Beifall bei der LINKEN)
Ecke, nein, sie wohnt am anderen Ende von Deutsch-
Abgesehen davon geht es auch gesellschaftspolitisch an land; denn die jungen Menschen müssen ihr soziales
den Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbei. Der Umfeld für die Chance auf einen Arbeitsplatz häufig
1654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Karin Binder
(A) verlassen. Da greifen nicht mehr die gewohnten Struktu- werbslosenzahlen in Deutschland schlicht und ergrei- (C)
ren von Familie und Freundeskreis. fend rückschrittlich und kontraproduktiv ist: Längere
Wochenarbeitszeiten ohne Lohnausgleich sind aus frau-
Kinderbetreuung, aber auch andere Leistungen müs- enpolitischer Sicht und unter dem Aspekt der Geschlech-
sen heute erkauft werden. Dies geht jedoch nur, wenn tergerechtigkeit ein kompletter Unsinn und der völlig
das Geld dafür auch da ist. Wenn das Geld dafür fehlt, falsche Weg.
helfen auch keine Steuerbegünstigungen. Dann hat Frau
die Wahl: Entweder sie bleibt ganz zu Hause und küm- (Beifall bei der LINKEN)
mert sich um Kinder, Küche und den Gemüsegarten oder
Deshalb sollten nicht nur meine Fraktion und ich, son-
sie hat nebenher noch einen so genannten 400-Euro-Job,
dern wir alle die Streikenden in ihrem Bemühen um die
damit wenigstens noch ein kleines Zubrot ins Haus
Beibehaltung der bisherigen Arbeitszeit unterstützen.
kommt.
(Beifall bei der LINKEN)
Aus diesem Grund fordern wir einen Rechtsanspruch
auf ganztägige Betreuung für alle Kinder von Geburt an Unser Staat muss laut Verfassung die tatsächliche
und ein flächendeckendes, qualifiziertes und kosten- Durchsetzung der Gleichberechtigung fördern und dafür
freies Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche sorgen, bestehende Nachteile zu beseitigen. Dazu muss
von null bis 14 Jahren. er gegebenenfalls gesetzliche Regelungen abschaffen
oder zumindest ändern, wenn sich herausstellt, dass sie
(Beifall bei der LINKEN) in ihrer Wirkung Frauen benachteiligen.
Solange es in der Bundesrepublik keine ausreichende Damit komme ich zum Schluss auf Hartz IV zu spre-
Kinderbetreuung gibt und solange in der Regel Frauen chen. Durch die Bedarfsgemeinschaft à la Hartz IV und
diesen Mangel auffangen müssen, kann keine Rede von die Anrechnung des Partnereinkommens werden über-
Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit auf wiegend Frauen vom Bezug staatlicher Leistungen aus-
dem Arbeitsmarkt sein. geschlossen. Sie werden finanziell in die Abhängigkeit
Damit bin ich beim Thema Arbeitszeit, das mich seit ihres Partners gedrängt. Außerdem verlieren sie Renten-
mehreren Wochen besonders beschäftigt. Wie Sie wis- ansprüche und das Recht auf Vermittlung und Weiterbil-
sen, sollen Beschäftigte im öffentlichen Dienst wieder dung durch die Bundesagentur. Auch damit wird das
länger arbeiten. Dabei geht es nicht nur um 18 Minuten überkommene Ernährermodell und die ganz konkrete
Mehrarbeit am Tag, sondern es geht auch um Zigtausend Benachteiligung von Frauen zementiert.
Arbeitsplätze im Land – bis zu 250 000 –, die abgebaut
werden sollen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(B) Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. (D)
(Zuruf von der LINKEN: Pfui!)
Damit geht es auch um einen erneuten Angriff auf die Karin Binder (DIE LINKE):
Gleichstellung von Männern und Frauen. Mein letzter Satz. – Das Konstrukt der Bedarfsge-
Die Erhöhung der Arbeitszeit – noch dazu ohne meinschaft ist unsozial, ungerecht und frauenfeindlich
Lohnausgleich, wie es die Arbeitgeber fordern – bedeu- und muss schleunigst abgeschafft werden.
tet für die Beschäftigten nicht nur Einkommenseinbußen (Beifall bei der LINKEN)
und niedrigere Stundenlöhne, längere Arbeitszeiten sor-
gen auch für weniger Freizeit, weniger Zeit für Familie, Es muss durch den Individualanspruch auf eine existenz-
weniger Zeit für Kinder, weniger Zeit für Angehörige, sichernde Grundsicherung für Frauen und Männer er-
weniger Zeit für das soziale Umfeld und persönliche Be- setzt werden.
ziehungen Ich danke.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
und auch weniger Zeit für das wichtige und oft gefor-
derte bürgerschaftliche Engagement. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
In der Regel werden die Männer diese Arbeitszeitver- Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede hier. Dazu gra-
längerung auf sich nehmen. Das zwingt aber die in Teil- tuliere ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses und wün-
zeit arbeitenden Frauen meist, ihre Erwerbstätigkeit wei- sche Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit.
ter zu reduzieren, da sie in der Regel die soziale (Beifall)
Hauptverantwortung im privaten Bereich tragen und dort
die Hauptarbeit leisten. Dies hat für die Frauen wie- Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Rita
derum Einkommensverluste und, was noch schwerer Pawelski, CDU/CSU-Fraktion.
wiegt, weitere Einbußen bei der Altersrente zur Folge. (Beifall bei der CDU/CSU)
Sie, die öffentliche Hand als Arbeitgeber, führen un-
sere Gesellschaft zurück in eine vermeintlich vergan- Rita Pawelski (CDU/CSU):
gene Zeit und zementieren längst überholte Rollenvertei- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
lungen der Geschlechter. Einmal abgesehen davon, dass Kollegen! Liebe Frau Schewe-Gerigk – – Wo ist sie
ein Zurück zur 40-Stunden-Woche angesichts der Er- jetzt?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1655
Rita Pawelski
(A) (Dr. Eva Möllring [CDU/CSU]: Sie hatte (Beifall bei der CDU/CSU) (C)
keine Lust mehr! – Wolfgang Zöller [CDU/
CSU]: Herbeizitieren!) Diese Frau ist top. Sie zeigt den Regierungschefs in Eu-
ropa, wo es langgeht. Frauen können es also.
– Ich sehe, sie kommt gerade. Setzen Sie sich wieder hin
und hören Sie zu. – Als ich Ihren Antrag gelesen habe, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
habe ich gedacht: Donnerwetter, die Grünen haben aber DIE GRÜNEN]: Wie hoch ist der Frauenanteil
Mut! Gerade einmal gut 100 Tage aus der Regierungs- in der Fraktion der CDU/CSU?)
verantwortung und in der Opposition verfassen sie einen Leider muss ich auch sagen: Es stimmt, dass Frauen
Antrag, in dem Deutschland als eine frauenpolitische noch immer geringere Einkommen als ihre männlichen
Wüste dargestellt wird. Kollegen haben. Von gleichem Lohn für gleiche Arbeit
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kann leider keine Rede sein. Weibliche Angestellte im
neten der FDP) produzierenden Gewerbe, im Handel, im Kredit- und
Versicherungswesen verdienten im Jahr 2004 durch-
Da muss man sich schon fragen: Was haben denn die schnittlich 2 672 Euro, männliche Angestellte dagegen
Grünen sieben Jahre lang in der Regierungsverantwor- bei gleicher Arbeit 29 Prozent mehr.
tung getan? Eine Ihrer Kolleginnen war doch sogar
Staatssekretärin im Frauenministerium. Das ist auch in technischen Berufen so. Der Brutto-
jahresverdienst einer Technikerin zum Beispiel beträgt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- im Durchschnitt 31 400 Euro, der eines Technikers
neten der FDP) 45 400 Euro. Das ist nicht in Ordnung, zumal Frauen
Ich erinnere mich an viele Reden von Ihnen, Frau heute höhere und bessere Schulabschlüsse als Männer
Schewe-Gerigk, die Sie im Ausschuss und auch hier ge- erreichen. Der Frauenanteil bei den Abiturienten lag
halten haben. Auf unsere Fragen, ob man nicht mehr ma- 2004 bei 56 Prozent; 49 Prozent der Studienanfänger
chen könne, haben Sie immer wieder versichert: Alles ist und Absolventen waren weiblich.
in bester Ordnung, wir haben alles im Griff, es ist wun- Ich frage mich deshalb, warum Frauen ihre Qualifika-
derbar. tionen nicht in Führungspositionen und ein angemesse-
Geschmunzelt habe ich über Ihren klassenkämpferi- nes Gehalt umsetzen können. Warum gelingt uns das
schen Ausdruck „Innovationshemmnis Männerdomi- nicht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Karrierehin-
nanz beseitigen“. dernis Nummer eins sind Vorurteile. Viele karriere-
und familieorientierte Frauen werden im Job oft mit
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ überholten gesellschaftlichen Rollenbildern konfrontiert.
(B) DIE GRÜNEN]: Der ist Klasse!) Ihr Verhalten wird mit ganz anderen Augen gesehen als (D)
das der männlichen Kollegen. Ein Familienfoto auf sei-
Ich hatte schon den Eindruck, als hätten die Frauen bei
nem Schreibtisch: Er ist ein solider, treu sorgender Ehe-
den Grünen die „Fischer-Ära“ noch nicht ganz verarbei-
mann. Ein Familienfoto auf ihrem Schreibtisch: Ihre Fa-
tet. Dass Sie unter der Dominanz von Herrn Fischer ge-
milie kommt vor dem Beruf. Er geht mit dem Chef zum
litten haben, glaube ich Ihnen schon.
Essen: Er macht Karriere. Sie geht mit dem Chef zum
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Essen: Sie haben wohl was miteinander. Bei ihm gibt es
Nachwuchs: Grund für eine Lohnerhöhung. Bei ihr gibt
Wir sind auf dem Wege zur Gleichstellung von Mann es Nachwuchs: Sie fällt aus – die Firma zahlt.
und Frau schon viele Schritte vorangekommen. Aber
ganz ehrlich: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Es Ein weiteres Karrierehindernis ist die Studien- und
stimmt: Noch immer sind Frauen in den Führungsetagen Berufswahl. Weibliche Studenten sind in zukunftsträch-
von Unternehmen unterrepräsentiert. Der Frauenanteil tigen technischen und naturwissenschaftlichen Studien-
in Managerpositionen beträgt bei uns nur 28 Prozent, gängen deutlich unterrepräsentiert. Man trifft sie vor al-
in Litauen 41 Prozent, in Irland 39 Prozent und in Lett- lem in den Sprach-, Kultur- und Geisteswissenschaften
land 38 Prozent. In den 200 DAX-30-Vorständen ist nur sowie in gesundheitlichen und medizinischen Studien-
eine einzige Frau vertreten. gängen.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ 54 Prozent – also mehr als die Hälfte – der weiblichen
DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal!) Auszubildenden wählen lediglich zehn der 360 aner-
kannten Ausbildungsberufe. Trotz Girls’ Day, Beratung,
Das ist nicht gut; das muss man so deutlich sagen.
Flyern und Hinweisen geht immer noch über die Hälfte
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben der jungen Frauen in zehn Ausbildungsberufe. Das sind
aber eine Bundeskanzlerin!) Berufe wie Büro- und Einzelhandelskauffrau, Friseurin,
Arzthelferin, Verkäuferin und Hotelfachfrau, die als
Ich habe nicht immer den Eindruck, dass in den Vorstän- frauentypische Berufe angesehen werden. Eigentlich
den der DAX-30-Unternehmen alles in Ordnung ist und wollen wir das doch nicht. Warum aber machen das die
dort die besten Männer vertreten sind. Vielleicht wäre jungen Frauen immer noch so, obwohl sie wissen, dass
dort mit einem höheren Frauenanteil mehr los. Hier das oft eine Sackgasse für ihre Karriere ist?
muss noch etwas getan werden. Dass Frauen auf Füh-
rungsebenen mehr können, beweisen wir doch im Bun- Das dritte und wohl größte Hindernis sind die
destag mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und
1656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Rita Pawelski
(A) Beruf. Das bestätigen auch Studien: 2003 waren nur darauf achten, dass die bestehenden Gesetze eingehalten (C)
60 Prozent der Frauen mit Kindern unter zwölf Jahren werden.
erwerbstätig. Bei den kinderlosen Frauen waren es
79,5 Prozent. Das ist ein gravierender Unterschied. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Frauen wollen aber beides: Sie wollen Beruf und Familie Völlig kontraproduktiv ist der Vorschlag, Unterneh-
vereinbaren. men zu bestrafen, die nicht für Chancengleichheit sor-
Familie darf kein Karrierehemmnis sein. Mütter brin- gen. Welche Sanktionen wollen Sie hier eigentlich ver-
gen viele wichtige Kompetenzen mit, um die Produktivi- hängen? Was ist mit Firmen, in denen körperlich
tät von Unternehmen zu steigern. Sie sind gut organisiert, schwere und gefährliche Arbeit vor allem von Männern
führungsstark und beherrschen das Zeitmanagement her- verrichtet wird, zum Beispiel im Straßenbau? Frauen
vorragend. Sie sind ein Gewinn für Unternehmen. wollen hier gar nicht arbeiten. Aber gerade Straßenbau-
firmen leben von öffentlichen Aufträgen. Daher ist Ihr
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vorschlag nicht in Ordnung. Sie haben außerdem Nor-
wegen als Beispiel genannt. Dazu kann ich nur sagen:
Das müssen die Unternehmen auch langsam anerkennen.
Wir werden das Ganze sehr genau beobachten.
Unsere Familienministerin Ursula von der Leyen
Wir brauchen aber kein neues Gesetz zur Herstellung
engagiert sich in vorbildlicher Weise, um Hindernisse
der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der
abzubauen. Sie kämpft für Chancengleichheit und Chan-
Privatwirtschaft. Ein solches Gesetz hat schon Exbun-
cengerechtigkeit und sensibilisiert Unternehmen für den
deskanzler Gerhard Schröder nicht gewollt. Er hat das
Erfolgsfaktor Frau. Mit ihr sind wir auf dem richtigen
von Ihnen geforderte Gesetz 2001 beerdigt mit der Be-
Weg.
gründung: „Nicht für jedes gesellschaftliche Problem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss ein Gesetz gemacht werden.“ Sie, meine Damen
neten der SPD) und Herren von den Grünen, waren damals Regierungs-
partner. Statt eines Gesetzes gab es eine freiwillige Ver-
Denn eines muss klar sein: Wir müssen die Benachteili- einbarung zwischen der Bundesregierung und den Spit-
gungen von Frauen im Erwerbsleben beseitigen. zenverbänden der deutschen Wirtschaft. Sie haben
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) jahrelang Zeit gehabt, bei jedem Firmenbesuch und in
jedem Gespräch mit Unternehmern auf diese Vereinba-
Aber dazu brauchen wir meines Erachtens keine neuen rung hinzuweisen.
gesetzlichen Keulen. Die von den Grünen erhobene For-
derung, öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu Wir wissen, dass die erzielten Erfolge verbesserungs-
(B) vergeben, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, fähig sind. Wir sind sicherlich nicht zufrieden. Aber wir (D)
hilft nicht weiter. haben etwas erreicht, und zwar auch aufgrund Ihrer Ar-
beit. Daher verstehe ich gar nicht, warum Sie das alles so
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ wegwischen.
DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie denn die Si-
tuation von Frauen verbessern? Dazu haben
Sie kein Wort gesagt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Gesetze haben wir genug. Es gibt schon so viele Vor- Frau Haßelmann zulassen?
schriften und Gesetze. Was wir brauchen, sind Taten
und Leute, die die Gesetze endlich umsetzen. Wir brau-
Rita Pawelski (CDU/CSU):
chen mehr Frauen, die den Mut haben, in Männerdomä-
nen einzudringen, und wir brauchen mehr Männer, die Nein. Meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. Frau
den Mut haben, in Frauendomänen einzubrechen. Dort Haßelmann, bitte stellen Sie Ihre Frage anschließend.
sind sie herzlich willkommen. Es gibt eine Zunahme bei der Zahl der weiblichen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Führungskräfte um 2 Prozent. Das ist sicherlich nicht ge-
der SPD) nug. Kluge Chefs brauchen keine gesetzliche Gänge-
lung; denn sie erkennen das Potenzial gut ausgebildeter
Wir brauchen mehr Männer, die sich auch der Kinderer- und hoch motivierter Frauen und werben rechtzeitig um
ziehung und Kinderbetreuung widmen. sie. Schon allein mit Blick auf den demografischen Wan-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und del müssen sie es tun; denn sonst bleiben ihre Unterneh-
der SPD) men nicht wettbewerbsfähig. Es gibt bereits positive
Beispiele, wenn auch nicht genug. Wir brauchen jeden-
Sie fordern, den Tarifvertrag für den öffentlichen falls mehr kluge Chefs.
Dienst im Bereich des Bundes geschlechtsneutral anzu-
passen. Sehr geehrte Damen und Herren von den Grü- Auch bei den Existenzgründungen berufen Sie sich
nen, warum haben Sie das in Ihrer Regierungszeit nicht auf etwas, was wir eigentlich schon haben. Es gibt be-
getan? Ich sage noch einmal: Wir haben ein Gleichstel- reits Existenzgründerinnenzentren und Beratungsstellen
lungsgesetz – das haben Sie mit verabschiedet – sowie für Frauen in fast jeder großen Stadt.
Gleichstellungsbeauftragte in Bund, Ländern und Kom-
munen. Alle Gesetze werden heutzutage durchgegen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dert. Was fehlt, was wir brauchen, sind Vorgesetzte, die Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1657

(A) Rita Pawelski (CDU/CSU): Unternehmen darauf hinzuweisen, dass die Chancen- (C)
Ja. – Bei den Industrie- und Handelskammern sowie gleichheit für Frauen durchgesetzt werden soll. Sie hät-
bei den Handwerkskammern gibt es gute Beratungsstel- ten ständig die Vereinbarung vom Juli 2001, die der
len, für die sicherlich noch mehr Werbung gemacht wer- damalige Bundeskanzler mit den Unternehmen ge-
den müsste. schlossen hat, in der Tasche haben müssen, hätten sie je-
dem Unternehmen zeigen und sagen müssen: Das haben
Wir sind auf einem guten Weg. Wir wollen keine Ihre Funktionäre unterschrieben. Bitte, richten Sie sich
neuen Gesetze, sondern, dass die bestehenden Gesetze danach! – Das haben Sie nicht ausreichend getan. Die
eingehalten werden. Folge davon ist Ihr Antrag.
Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac von
Kollegin Britta Haßelmann. der SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolle- Renate Gradistanac (SPD):
gin, schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zuge-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
lassen haben. Dabei wäre das doch gar nicht auf Ihre Re-
Herren! Der gestrige 95. Frauentag ist der erste Frauen-
dezeit angerechnet worden. Ich nutze deshalb die
tag in Deutschland mit einer Frau an der Spitze der Re-
Gelegenheit, eine Kurzintervention bzw. eine Kurzmit-
gierung, Frau Bundeskanzlerin Merkel.
teilung zu machen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben von Ihnen erfahren, was Sie alles nicht
wollen, nämlich eine klare Aussage dazu, dass das Anti- Schade, dass sie nicht da ist. Ich freue mich aber, dass
diskriminierungsgesetz eigentlich keinen Beitrag zur unser Vizekanzler die ganze Zeit so aufmerksam zuhört.
Gleichstellung leistet, und eine Antwort auf die Frage, Herzlichen Dank!
wie wir es hinbekommen, dass die Wirtschaft ihren Bei-
trag zur Gleichstellung leistet. Zuletzt haben Sie gesagt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
es gebe keine Notwendigkeit, gesetzliche Regelungen zu Frauen kämpfen noch immer gegen Vorurteile und
(B) beschließen. Ich habe Ihren Koalitionsvertrag anders traditionelle Frauenbilder in den Köpfen von Männern. (D)
verstanden. Aber ich gehöre Gott sei Dank nicht zu den- Aber auch viele Frauen haben ein konservatives Rollen-
jenigen, die mit Ihnen darüber zu verhandeln haben. bild. Konservative Männer und Frauen erschweren den
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sich SPD und Union Anstieg der Zahl weiblicher Vorbilder. Wir brauchen
über den Bereich der Gleichstellung eigentlich verstän- mehr Frauen, an denen sich Frauen orientieren können.
digen wollen. Wir heißt es so schön? Eine Schwalbe macht noch kei-
Da Sie Ihre Redezeit ausschließlich dazu genutzt ha- nen Sommer.
ben, zu sagen, was Sie alles nicht wollen, interessiert Wo sind denn Frauen in Gremien oder an der
mich nun, was die Union vorschlägt, damit wir bei den Spitze von Organisationen gleichberechtigt vertreten?
Themen „Frauenförderung“ und „Gleichstellung“ voran- Nicht im Deutschen Bundestag. Von 33 CDU-Abgeord-
kommen. Damit haben Sie deutlich unter Beweis ge- neten aus Baden-Württemberg sind gerade einmal zwei
stellt, dass Sie keine Antworten zu geben haben. Frauen. Bei der SPD sind von 23 Abgeordneten zehn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frauen.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nicht beim DIHK. Bei der Spitzenorganisation der In-
Frau Kollegin Pawelski. dustrie- und Handelskammern ist nicht eine Frau im Vor-
stand. Nicht beim Handwerk. Im Präsidium des ZDH ist
Rita Pawelski (CDU/CSU): eine Frau vertreten. Nicht bei den Arbeitgeberverbän-
Verehrte Frau Kollegin, zuerst einmal muss ich sagen: den. Unter den 89 Mitgliedern im BDA-Vorstand befin-
Sie haben nicht richtig zugehört; den sich vier Frauen. Nicht bei den Banken. Vorstand
des Bundesverbandes Deutscher Banken: Fehlanzeige.
(Beifall bei der CDU/CSU) Vorstand des Bundesverbands Öffentlicher Banken:
denn ich habe sehr wohl gesagt, was wir wollen. Ich Fehlanzeige. Vorstand der Deutschen Bundesbank: Fehl-
habe gesagt: Wir haben so viele Gesetze, dass sie mittler- anzeige. Im Vorstand der KfW-Bankengruppe sitzt eine
weile ganze Bibliotheken füllen. Wir wollen, dass diese Frau, Ingrid Matthäus-Maier.
Gesetze endlich von den Behörden und den Unterneh-
(Nicolette Kressl [SPD]: Chefin!)
men umgesetzt werden. Sie waren sieben Jahre in der
Regierungsverantwortung. Sie hätten jahrelang Zeit ge- Übrigens auch nicht bei den Gewerkschaften. Keine Frau
habt, bei jedem Besuch in einer Behörde oder in einem ist Vorsitzende einer der acht DGB-Gewerkschaften. Von
1658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Renate Gradistanac
(A) den 13 Mitgliedern im Bundesvorstand des DGB sind für Frauen mit Behinderungen umsetzen. Gerade Frauen (C)
zwei Frauen. mit Behinderungen erzielen – das zeigt der Zweite Ar-
muts- und Reichtumsbericht – deutlich niedrigere Ein-
Da, wo Macht und Geld verteilt werden – das ist ein kommen als Männer mit Behinderungen.
alter Hut; umso trauriger –, muss frau schon ganz genau
hinschauen, um überhaupt eine Frau zu finden und um Ich bedauere – das ist meine persönliche Meinung –,
Fortschritte zu erkennen. In den obersten Leitungsebe- dass es während der rot-grünen Regierungszeit nicht ge-
nen von Betrieben und im Topmanagement findet lungen ist, ein Gleichstellungsgesetz für die Privat-
Gleichstellung leider nur Schritt für Schritt statt. Wir kri- wirtschaft durchzusetzen.
tisieren das, wir bedauern das und wir hoffen, dass sich
die Schritte ein bisschen beschleunigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Bilanz der freiwilligen Vereinbarung von Spitzen-
Der Antrag der Grünen stößt bei mir auf viel Sym- verbänden der Wirtschaft und der Bundesregierung ist
pathie. wahrlich kein Grund zum Jubeln. Es gibt Bewegung
beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ SPD-Frauen wollen aber nicht nur Familienförderung,
DIE GRÜNEN]: Aha!) sondern auch eine gezielte Frauenförderung.
Mir gefällt die Überschrift „Gleichstellung auf dem Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
beitsmarkt verwirklichen – Innovationshemmnis Män-
nerdominanz beenden“. Ich finde das toll. Diese Über- Auffallend ist – das haben wir mittlerweile schon
schrift provoziert – ich merke das –, aber ich finde auch, mehrmals gehört –, dass kleine Betriebe häufiger von
dass es eine unerträgliche Provokation ist, dass Frauen in Frauen geführt werden und dass große Betriebe eher von
Deutschland im Durchschnitt immer noch 23 Prozent Männern geführt werden. Weibliche Führungskräfte
weniger verdienen als Männer. Darüber sollten wir uns sind überwiegend in Betrieben des Gesundheitswesens,
aufregen. des Sozialwesens, im Groß- und Einzelhandel sowie in
den Bereichen Gastronomie und Kosmetik anzutreffen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Deshalb ist die EU-Dienstleistungsrichtlinie für uns
CDU/CSU) Frauen von großer Bedeutung. Der Kompromiss, den
Im Antrag der Grünen wird darauf hingewiesen, dass die wir maßgeblich der SPD-Europaabgeordneten Evelyne
Unterschiede nicht durch strukturelle Differenzen zu er- Gebhardt zu verdanken haben, bietet eine gute Arbeits-
klären sind, sondern allein durch die Diskriminierung grundlage für EU-Kommission und Rat. Ich plädiere da-
(B) aufgrund des Geschlechts. für, die Dienstleistungsrichtlinie vom Gender-Kompe- (D)
tenz-Zentrum evaluieren zu lassen.
Ich erwarte von den Tarifpartnern, dass sie sich end-
lich einmal mit dem Thema Gleichstellungspolitik be- Die Gleichstellung der Geschlechter ist im Rahmen
schäftigen. Sie sollten dieses Thema nicht nebenbei be- der Lissabonstrategie ein Instrument für Wachstum und
handeln wie in der Vergangenheit, sondern entschlossen Beschäftigung. Mehr Arbeitsplätze für Frauen ist eines
und prioritär. Hierbei sind die Arbeitgeberseite und die der Ziele, deren Erreichung ich von dieser Bundesregie-
Gewerkschaftsvertreter gefordert. Ich denke an die Her- rung erwarte. Mit „mehr Arbeitsplätze“ meine ich Ar-
ren Hundt, Sommer, Braun und wie sie alle heißen. Glei- beitsplätze für Frauen mit existenzsichernden Löhnen.
cher Lohn für gleichwertige Arbeit! Wie lange sollen gut Wir in Deutschland können den Wettbewerb nur ge-
und bestausgebildete Frauen aller Einkommensstufen winnen, wenn die Kinderbetreuung uneingeschränkt
Lohndiskriminierung eigentlich noch hinnehmen? gesichert ist. Väter und Mütter müssen darauf bauen
Das rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz war in können, dass die Infrastruktur in jedem Kindesalter ver-
der letzten Legislaturperiode – leider, leider! – nicht lässlich ist. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz und
durchsetzbar. dem Ganztagsschulprogramm haben wir in der letzten
Legislaturperiode eine gute Grundlage gelegt.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Im Bundestag schon!) (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])
– Es war nicht durchsetzbar, und wir wissen, warum. – – Ich warte darauf, dass mehr klatschen. –
Dieses Gesetz bietet gute Möglichkeiten. Die geforderte (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina
nationale Stelle – mein Wunsch ist, dass sie beim Minis- Lenke [FDP]: Die war nicht gut, die war
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ange- schlecht! Die war Murks!)
siedelt wird – halte ich für ein hilfreiches Instrument, um
bestehende Diskriminierung abzubauen. Voraussetzung Mit der Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und
hierfür sind allerdings die Unabhängigkeit dieser Stelle dem zukünftigen Elterngeld gehen wir diesen Weg wei-
und eine ausreichende finanzielle und personelle Aus- ter.
stattung.
Die Dienstleistungsverbände in Baden-Württemberg
Ich will, dass wir den Diskriminierungsschutz sowohl haben in einem Positionspapier zur dortigen Landtags-
im Zivilrecht als auch im Arbeits- und Sozialrecht für wahl zu Recht einen Betreuungsplatz für jedes Kind bis
Frauen jeden Alters, für Migrantinnen, für Lesben und zum Schulalter und bedarfsgerechte Öffnungszeiten von
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1659
Renate Gradistanac
(A) Betreuungseinrichtungen gefordert, und zwar – das ist Uns ist es noch nicht gelungen, Frauen und Mäd- (C)
für berufstätige Menschen wichtig – ganzjährig und über chen mit Migrationshintergrund in unsere westliche
16 Uhr hinaus. und freiheitlich orientierte Gesellschaft zu integrieren.
Tagtäglich ist die Diskriminierung von Frauen und Mäd-
Letztes Thema. Deutschland ist bereits Fußballwelt- chen in der patriarchialen Gesellschaft, in der sie auf-
meister; das gilt jedenfalls für die Frauenmannschaft. wachsen, präsent.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!)
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Das große Potenzial auch von Migrantinnen für unsere
Wirtschaft und für unser Wirtschaftsleben gilt es zu er-
Jetzt wollen wir einmal schauen, was die Männer so schließen. Ohne Wenn und Aber muss die Schulpflicht
können! Klaus Wowereit und Theo Zwanziger sind zur Bildungschance werden. Das ist eine Aufgabe, der
Schirmherren der Kampagne „Abpfiff – Schluss mit wir uns verstärkt annehmen müssen.
Zwangsprostitution“, die der Deutsche Frauenrat anläss-
lich der Fußballweltmeisterschaft gestartet hat. Frauen- (Beifall bei der FDP)
handel und Zwangsprostitution sind kriminell und Nur so erhält eine offene Zuwanderungspolitik auch ihre
verletzen die Menschenwürde. Von den Männern, die zu innere Bestätigung.
Prostituierten gehen – wir wissen, dass das sehr viele
sind –, wünsche ich mir, dass sie bei Verdacht auf Zwang Wichtigste Instrumente zur Vorbereitung auf die Teil-
und Gewalt Meldung erstatten. Es wird eine Telefon- nahme am Arbeitsmarkt sind hierbei die verbindliche
nummer geben, an die sie sich anonym wenden können. und verbindende Deutschpflicht in der Schule und auf
Den Frauen, die legal und selbstbestimmt der Prostitu- den Schulhöfen sowie die obligatorische Teilnahme am
tion nachgehen, wünsche ich gute Geschäfte. Sport- und Biologieunterricht und an den für eine Grup-
penbildung wichtigen Klassen- oder Wandertagsfahrten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP)
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Eine von den Familien diktierte Ausgrenzung der Mäd-
chen im Kindes- und jugendlichen Alter darf es nicht ge-
Renate Gradistanac (SPD): ben.
Ja, letzter Satz. – Ich hoffe, dass wir in Kürze weitere
gesetzliche Verbesserungen für Prostituierte erreichen (Beifall bei der FDP)
werden. Die Bereitschaft von Migrantinnen, selbstständig oder
(B)
Ich wünsche der Bundeskanzlerin und der Ministerin als Unternehmerinnen tätig zu werden, ist besonders zu (D)
Ursula von der Leyen viel Freude und Erfolg bei der fördern. Frauen mit Migrationshintergrund, die zwei
Gleichstellungspolitik. Sprachen sprechen, können als Mittlerinnen fungieren.
Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie Inte-
Vielen Dank. gration authentisch vorleben, auch mit der Selbststän-
digkeit und Selbstbestimmtheit ihres Lebens, losgelöst
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
von der Dominanz von Vätern, Brüdern oder Cousins.
der CDU/CSU und der LINKEN)
Soziale Gettos müssen aufgebrochen und Parallelwel-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ten geöffnet werden. Gleichberechtigung der Geschlech-
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP- ter muss als Wertgerüst Europas und der westlichen Welt
Fraktion. vorgelebt und mit den hier lebenden Migranten entwi-
ckelt werden.
Sibylle Laurischk (FDP): In Anbetracht des Gender Mainstreaming müssen wir
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau uns auch die Situation von Männern vor Augen führen.
Ministerin, es freut mich, dass Sie den Weg zu uns noch Gerade Männern mit Migrationshintergrund wird ein
gefunden haben. Einer frauenpolitischen Diskussion zu- Rollenbild abverlangt, das sie in Deutschland nur noch
zuhören, ist für eine Ministerin, gerade wenn sie frisch schwer erfüllen können. Hierbei ist es wichtig, dass
im Amt ist, sicherlich wichtig und richtig. Ich bin sicher, schon früh eine Erziehung hin zur westlichen, europäi-
dass Sie uns in Zukunft bei frauenpolitischen Diskussio- schen Lebenswelt stattfinden kann. Außerdem ist es
nen ganz besonders begleiten. wichtig, dass gerade Mütter in Familien mit Migrations-
hintergrund die deutsche Sprache lernen, damit sie ih-
(Beifall bei der FDP) ren Söhnen die deutsche Gesellschaft erklären können.
Hier gibt es ja interessante Modelle. Ich denke nur an die
Mit dem Thema Männerdominanz ist ein Tag nach Beispiele, die uns gestern die Integrationsbeauftragte
dem Internationalen Frauentag, gewissermaßen am „Day vorgetragen hat.
after“, hier im Deutschen Bundestag ein interessantes
Thema aufgesetzt worden. Die Männerdominanz ist in Meine Damen und Herren, Frauenpolitik ist ein Fak-
Familien und Communities hier lebender Migrantinnen tor, der für eine erfolgreiche Gesellschaft wichtig ist. Die
und Migranten präsent. Gerade auf dieses Thema Einbindung von gut ausgebildeten Frauen und Männern
möchte ich Ihr besonderes Augenmerk lenken. mit Migrationshintergrund in die deutsche Arbeitswelt
1660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Sibylle Laurischk
(A) stellt auch eine Möglichkeit dar, unserem demografi- (Zuruf von der SPD: Sauerei!) (C)
schen Defizit auf wirtschaftlichem Gebiet zu begegnen.
Das hat viele Ursachen, unter anderem auch die
Frau Humme, Sie haben ja Aussagen des Präsidenten Berufswahl von Frauen, die sich vielfach für so ge-
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zi- nannte frauentypische Berufe entscheiden. Das ist mei-
tiert. Dazu möchte ich nur ergänzen: Er ist ein Liberaler. ner Ansicht nach – dieser Gedanke findet sich ja auch in
den Anträgen der Opposition – ein Missstand. Wir müs-
(Zurufe von der SPD)
sen Mädchen und Frauen ermuntern, sich nicht durch
Insofern, denke ich, war Ihre Bemerkung, mit dem Libe- einseitige Rollenbilder vom Einstieg in interessante und
ralismus sei eine Politik der Beliebigkeit verbunden, lukrative Berufe abhalten zu lassen.
schlichtweg falsch; denn der Liberalismus ist eine
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Emanzipationsbewegung.
neten der SPD und der FDP)
(Zuruf von der FDP: Richtig! – Lachen bei
Abgeordneten der SPD) Hierzu steht allerdings ein Punkt im Antrag der FDP
im Widerspruch: Sie begründen nämlich dort die Forde-
Somit können wir auf eine lange Tradition in diesem rung nach Abschaffung von Hemmnissen zur Schaffung
Politikbereich verweisen. neuer Arbeitsplätze vor allem im Dienstleistungssektor
(Beifall bei der FDP) damit, dass hier in der Regel besonders gute Beschäfti-
gungsmöglichkeiten für Frauen bestünden. Damit legen
Sie Frauen ja wieder auf einen frauentypischen Bereich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fest, in dem sie wieder nicht den Einfluss haben und
Frau Kollegin, Sie müssten nun Ihre Rede beenden. nicht das Geld verdienen können wie in anderen Positio-
nen, die zukunftsträchtiger sind. Diese Forderung hilft
Sibylle Laurischk (FDP): uns deshalb, auch wenn sie in anderen Zusammenhän-
Mein letzter Satz. – Durch die besondere Förderung gen durchaus berechtigt ist, bei dem Punkt, um den es
von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund hier geht, nämlich der Chancengleichheit auf dem Ar-
können wir ein positives Beispiel geben für Gleichbe- beitsmarkt, nicht wirklich weiter.
rechtigung im doppelten Sinne: Gleichberechtigung zwi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schen den Geschlechtern und zwischen den unterschied-
neten der SPD – Ina Lenke [FDP]: War ein
lichen in Deutschland lebenden Ethnien.
Beispiel!)
(Beifall bei der FDP)
Mir liegt folgender Punkt besonders am Herzen, wo-
(B) bei dieser nicht die einzige Ursache für die Probleme (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: darstellt: Schwierigkeiten bereitet vielen jungen Frauen
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier- vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Becker, CDU/CSU-Fraktion. Das führt dazu, dass die Frauen, die trotz aller Hinder-
(Beifall bei der CDU/CSU) nisse berufliche Karriere machen, mehr und mehr auf
Kinder verzichten. Frauen, die es in Führungspositionen
schaffen, sind häufiger kinderlos als Männer in ver-
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
gleichbaren Positionen. Bei den Akademikerinnen liegt
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen der Anteil derjenigen, die sich komplett gegen Kinder
und Kollegen! Das vor uns liegende Jahrhundert ist das entscheiden, mittlerweile bei bis zu 40 Prozent. Mehrere
Jahrhundert der Frauen. Das ist die Prognose des Zu- Kinder sind in diesem Fall sogar noch seltener. Das
kunftsforschers Matthias Horx. Mit diesem Satz leitet macht uns an anderer Stelle, bei der demografischen
auch die Europäische Akademie für Frauen in Politik Entwicklung in der Bundesrepublik mit all ihren negati-
und Wirtschaft ihre neue Studie über Mütter in Füh- ven Auswirkungen auf die wirtschaftliche und gesell-
rungspositionen ein. Nicht nur in Bezug auf die demo- schaftliche Innovationsfähigkeit unseres Landes, ganz
grafische Entwicklung, sondern auch mit Blick auf die erhebliche Sorgen.
aktuellen ökonomischen Herausforderungen werden
Frauen die entscheidende Rolle für die Zukunftsfähig- Wenn sich eine qualifizierte Frau für Kinder entschei-
keit unseres Landes spielen. det, dann führen alte gesellschaftliche Leitbilder, das tra-
ditionelle Rollendenken, männliche Vorurteile und Seil-
In der Analyse sind wir uns einig: Inzwischen errei-
schaften, vor allem aber die praktischen Probleme bei
chen in Deutschland mehr Frauen als Männer die Allge-
der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Karriere im-
meine Hochschulreife; bei den Studienanfängern ist die
mer noch dazu, dass auch begabte junge Mütter aufge-
Bilanz noch ausgeglichen; auf dem Arbeitsmarkt wird
ben und sich länger, als sie es selbst wünschen, und mit
dann aber eine Gleichstellung von Frauen und Männern
großen Nachteilen bezüglich ihrer Chancen auf eine wei-
bei weitem noch nicht erreicht. Vor allem in den ein-
tere Karriere auf dem Arbeitsmarkt aus dem Berufsleben
flussreichen und einträglichen Positionen sinkt der An-
zurückziehen.
teil der Frauen hierzulande immer noch dramatisch ab
und sie erzielen regelmäßig nur etwa 77 Prozent der Ge- Ich möchte hier aber auch nicht unerwähnt lassen,
hälter ihrer männlichen Kollegen, auch wenn es sich um dass sich viele Eltern sehr gerne um ihre Kinder küm-
absolut vergleichbare Positionen und Tätigkeiten han- mern und dafür die Berufstätigkeit bewusst ganz oder
delt. teilweise zurückstellen. Ich habe das selber so gemacht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1661
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) Ich war als Mutter von drei Kindern jahrelang als Rich- haben wir umfangreiche familienpolitische Maßnah- (C)
terin teilzeitbeschäftigt und ich bin nicht bereit, mich da- men festgeschrieben, die die Vereinbarkeit von Familie
für in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, auch wenn das und Beruf für Mütter und Väter erleichtern sollen.
die Nachteile, die damit verbunden sind, nicht gerechter
macht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Beifall bei der FDP) Nach nur 100 Tagen im Amt hat die Koalition es be-
reits geschafft, die Familien- und damit auch die Gleich-
Fakt ist, dass zu wenige Frauen in Fach- und Füh- stellungspolitik ganz oben auf die politische Agenda zu
rungspositionen, ein zahlenmäßig zu kleiner qualifizier- setzen.
ter weiblicher Nachwuchs in manchen Disziplinen und
zu wenige positive weibliche Vorbilder für die nachkom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mende Generation vorhanden sind. Diese Benachteili- neten der SPD)
gung von Frauen stellt eine Vergeudung von Ressourcen Familien werden nun die Möglichkeit erhalten, Kinder-
und einen Verzicht auf wichtiges Innovationspotenzial betreuungskosten in deutlich größerem Umfang von
dar. der Steuer abzusetzen. Dies erleichtert die Vereinbarkeit
Die eingangs genannte Studie der EAF zeigt, wie sehr von Beruf und Familie und davon profitieren vor allem
familienbezogene und berufliche Kompetenzen sich Frauen, die nach einer Kinderphase in den Beruf zurück-
positiv verstärken. Für Unternehmen wertvolle Verhal- kehren wollen.
tensweisen wie Gelassenheit, Organisationsfähigkeit und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Pragmatismus werden durch den Alltag mit Kindern
deutlich verstärkt und ausgeprägt. Müttern oder auch Wir brauchen aber auch ein Umdenken bei den Ar-
praktizierenden Vätern fällt es nachweislich leichter, beitgebern, vor allem in deren eigenem Interesse. Sie
Konflikte zu lösen, Arbeiten zu delegieren, Wichtiges müssen erkennen, dass die demografische Entwicklung
von Unwichtigem zu unterscheiden und sich die Zeit und der absehbare Fachkräftemangel es unverzichtbar
sinnvoll einzuteilen; es bleibt einem ja auch nichts ande- machen, dass Frauen entsprechend ihrer Qualifikation
res übrig. In dieser Hinsicht verschwenden wir wertvol- beruflich tätig sein können. Das schließt ein, dass zum
les Know-how, wenn wir es nicht schaffen, diese Frauen, Beispiel durch flexible Arbeitszeiten, durch Verständnis
soweit sie dazu bereit sind, in den Arbeitsprozess zu- für die Belange von berufstätigen Müttern und durch un-
rückzuholen. komplizierte praktische Hilfe ein familienfreundliches
Umfeld geschaffen wird.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
neten der SPD – Beifall bei der FDP) In diesem Zusammenhang ist auch die Ausgestaltung
Die Union hat früh erkannt, dass Deutschland es sich des geplanten Elterngeldes wichtig, bei der die Zahlun-
nicht länger leisten darf, Frauen zu hoch qualifizierten gen für die letzten Monate, nach jetziger Planung für den
Fachkräften auszubilden und sie dann auf einen Arbeits- elften und zwölften Monat, davon abhängen sollen, dass
markt zu entlassen, der sie – im Gegensatz zu den männ- beide Eltern mindestens für zwei Monate die Kinder-
lichen Kollegen – praktisch dazu zwingt, sich zwischen erziehung übernehmen. Bislang wird das Risiko, dass
Kindern und Karriere zu entscheiden. Unsere Gesell- ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin wegen Kin-
schaft braucht Frauen in beiden Rollen: auf dem Arbeits- dererziehung zumindest vorübergehend aus dem Beruf
markt als qualifizierte Fach- und Führungskräfte und als ausscheidet, vor allem den Frauen zugeschrieben. Dies
engagierte Mütter. stellt tatsächlich ein Hindernis bei der Einstellung, aber
auch bei der Auswahl für Qualifizierungsmaßnahmen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dar.
neten der SPD)
Wenn in Zukunft mehr Väter als bislang aufgrund des
Mit unserem Antrag „Tatsächliche Gleichberechti- Anreizes, den diese Regelung setzt, für einige Zeit für
gung durchsetzen – Zehn Jahre Novellierung des Art. 3 die Kindererziehung aus dem Beruf ausscheiden – dies
Abs. 2 des Grundgesetzes“ haben wir bereits in der ver- erhoffen wir vor allem im Interesse der Kinder und auch
gangenen Wahlperiode gefordert, die Gleichstellungspo- der Väter selbst, denen wir diese schöne und spannende
litik als zentrales Element der Gesellschafts- und der Phase nicht vorenthalten wollen –,
Wirtschaftspolitik zu begreifen und die Freiheit der
Wahl zwischen Beruf und Familie durch geeignete (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Maßnahmen zu fördern. Diesen Antrag haben Sie, liebe dann wird sich auch hier ein Ausgleich zwischen den
Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, damals ab- Geschlechtern einstellen.
gelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Inzwischen ist die Union in der Regierungsverant- wir haben doch alle erkannt, wie vordringlich wichtig es
wortung. Gemeinsam mit der SPD haben wir uns im ist, dass Frauen gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt in-
Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, uns für gleiche Kar- tegriert werden.
rierechancen und den gleichberechtigten Zugang zu Füh-
rungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und For- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
schung für Frauen und Männer einzusetzen. Gleichzeitig GRÜNEN]: Hier ist die Opposition!)
1662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) – Die Opposition ist in diesem Saal gut verteilt. – Wir Also kann auch die Überwindung der noch bestehenden (C)
sind als Gesetzgeber nach Art. 3 Abs. 2 des Grundgeset- „Männerdominanz“ nur gemeinsam mit den Männern
zes verpflichtet, hierzu die notwendigen Voraussetzun- gelingen, mit der gleichzeitigen Erkenntnis, dass ein
gen zu schaffen. Das wird die Union ganz nachdrücklich Beitrag beider Geschlechter in Familie und Beruf und
auch weiterhin tun. somit für die Gesellschaft erforderlich ist.
Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass Chancen- (Beifall bei der SPD)
gleichheit letztlich nur in geringem Maße per Gesetz
verordnet werden kann. Denn vieles beruht auf den doch Hier steht die Kuh auf dem Eis. Wir brauchen ein
freiwilligen Entscheidungen der Mädchen und Frauen, Umdenken in den Köpfen aller Beteiligten. Ich habe
um die es geht. Wichtige Änderungen in den Rahmenbe- nichts dagegen, wenn ein jeder nach seiner Fasson sein
dingungen sind auf den Weg gebracht. Darüber hinaus Familienleben gestaltet. Das ist gut und auch richtig so;
sind gesetzliche Sanktionen und Eingriffe in die Privat- so soll man es machen. Wer aber einen anderen Lebens-
autonomie meiner Ansicht nach nicht wirklich zielfüh- entwurf hat, als Einzelperson oder auch als Familie,
rend. muss die Möglichkeit haben, diesen auch zu leben.
Wir müssen ein Umdenken in der Gesellschaft und in (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef
der Arbeitswelt erreichen. Konzepte wie der Girls’ Day Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
oder das von der Bundesregierung unterstützte Mento- NEN])
ringprojekt TWIN sind die richtigen Ansätze. Auf die-
sem Weg müssen wir weitergehen, damit jede Frau in Der Mann geht zur Jagd und die Frau sitzt in der
Deutschland die Chance erhält, sich nach ihren Neigun- Höhle und passt auf die Kinder auf; das ist schon lange
gen und Fähigkeiten in diese Gesellschaft einzubringen keine zeitgemäße Rollenverteilung mehr. Wenn wir die-
und sie zu bereichern. ses traditionelle Rollenmodell überwinden, haben wir
nebenbei auch das von Ihnen zitierte „Innovations-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. hemmnis Männerdominanz“ überwunden. Dies ist im
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Übrigen ein sehr fragwürdiger Ausdruck. Er macht näm-
FDP) lich deutlich, was nicht zum Erfolg führen kann: ein Ge-
geneinander aller Beteiligten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Ina Lenke [FDP]: Das ist doch so!)
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir gratulieren Ihnen herzlich und wünschen Nun weiß ich ja, dass Sie mit diesem Titel nur provozie-
(B) für die weitere Arbeit alles Gute. ren wollen. Aber zu viel Provokation kann dazu führen, (D)
dass nur noch über den Titel geredet wird. Das wollen
(Beifall) wir alle gemeinsam nicht.
Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Sönke (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Rix von der SPD-Fraktion das Wort. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD) Wir alle wollen das Gleiche, nämlich eine Versteti-
gung unseres gemeinsamen Ziels: die Gleichberechti-
Sönke Rix (SPD): gung von Mann und Frau. Der gestrige Internationale
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Frauentag hat noch einmal verstärkt ein Augenmerk auf
gen! Wo ich herkomme, sagt man zu dieser Tageszeit, die Situation der Frauen in unserer Gesellschaft gerich-
wie auch zu jeder anderen Tageszeit: Moin. tet. Dabei wird deutlich, dass es noch viel zu tun gibt,
auch für uns Männer, wie ich an dieser Stelle sagen
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der muss.
Gleichberechtigung von Frauen und Männern …
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
So steht es im Grundgesetz: „Der Staat fördert …“ Er der CDU/CSU)
fordert sie nicht und setzt sie nicht tatsächlich durch; er
fördert sie. Das ist auch gut so. Wir müssen es gemeinsam schaffen, die politischen Rah-
menbedingungen so zu verändern, dass die Väter nicht
Gleichberechtigung kann nicht befohlen werden. Sie
mehr in dem üblichen Rollenverständnis verharren müs-
– das sage ich an die Adresse der Grünen – beschreiben
sen.
das ja auch in Ihrem Antrag. Ich zitiere:
Denn Gleichberechtigung ergibt sich nicht automa- Wo wollen wir hin? Wir wollen dahin kommen, dass
tisch, sondern muss gesellschaftlich, politisch und es für Arbeitgeber nicht mehr selbstverständlich ist, dass
nach der Geburt eines Kindes automatisch die Mutter zu
– ich füge ein: erst dann – Hause bleibt. Wir wollen dahin kommen, dass der Vater
sein Recht auf Teilzeit oder Elternzeit in Anspruch
gesetzlich begleitet und gestaltet werden. nimmt.
Die Gleichstellung betrifft Männer und Frauen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1663
Sönke Rix
(A) Wir wollen dahin kommen, dass der Arbeitgeber und die (Beifall) (C)
Arbeitgeberin sich nicht mehr auf der sicheren Seite
wähnen, wenn sie vorwiegend Männer einstellen. Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der
Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Diesen Weg wollen wir alle hier im Haus – so hoffe ich Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
zumindest – gemeinsam beschreiten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vorliegenden Anträge zielen zwar zum Teil in die „Frauen in Deutschland: Riesenfortschritte und hohe
richtige Richtung. Aber wir haben mit unserer Familien- Hürden auf dem Lebensweg“ betitelte die Zeitschrift
politik bereits die Weichen in die richtige Richtung ge- „Böckler Impuls“ in ihrer letzten Ausgabe einen Bericht
stellt. Mit dem Elterngeld sind wir zum Beispiel den über den Stand der Gleichstellung in Deutschland. Die
richtigen Weg gegangen, Vätern das Zu-Hause-Bleiben heutige Gleichstellungsdebatte bietet die Möglichkeit,
schmackhaft zu machen. Es gibt sie, die Väter, die den über beides zu sprechen. Alle Vorrednerinnen haben
Nachmittag mit dem Kinderwagen auf dem Spielplatz deutlich gemacht, dass in den letzten Jahrzehnten viel
verbringen wollen. Viele können sich dies zurzeit aber passiert ist, dass wir aber mit dem Erreichten noch nicht
einfach nicht leisten. Da haben wir angesetzt. Mit unse- zufrieden sein können. Auch die Männer haben das in
ren Bemühungen um eine verstärkte Vereinbarkeit von dieser Debatte unterstrichen. Ich erinnere an das, was
Familie und Beruf wird vielen Männern – gerade auch Kollege Sönke Rix gesagt hat, nämlich dass auch die
meiner Generation – geholfen, dem Willen auch Taten Männer mit dem Erreichten nicht zufrieden sind.
folgen zu lassen.
Ich möchte die jetzige Debatte zum Anlass nehmen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Bild etwas abzurunden, das heute gezeichnet worden
der CDU/CSU) ist, und auf zwei Gruppen von Frauen aufmerksam ma-
Zum Schluss möchte ich einen Absatz aus dem An- chen, die den „Riesenfortschritten“ noch etwas hinterher
trag der Grünen zumindest teilweise geraderücken. Ich hinken: Das sind auf der einen Seite die älteren Arbeit-
zitiere: nehmerinnen und auf der anderen Seite die Migrantin-
nen. Beide Gruppen haben ihre spezifischen Schwierig-
Gleichzeitig beschränken Geschlechterklischees keiten mit unserem Arbeitsmarkt. Sie bedürfen, zum Teil
auch Jungen in ihrer Berufswahl, die öffentliche im doppelten Sinne, der Integration.
Diskussion um Männer in Erzieherberufen spiegelt
die individuellen und gesellschaftlichen Nachteile Ältere Arbeitnehmerinnen – das sind Frauen etwa
(B) wider. in meinem Alter, also solche, die kurz nach dem Krieg (D)
bzw. noch im Krieg geboren wurden. Ihre Erwerbsquote
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
lag 2004 in den alten Bundesländern bei den 56- bis 59-
Ja!)
Jährigen bei 59,6 Prozent, bei den 60- bis 64-Jährigen
Dazu muss ich als staatlich anerkannter Erzieher sagen: nur noch bei 21,1 Prozent. Die Quoten bei den Männern
liegen in beiden Fällen um etwa 20 Prozent höher. Die
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Frauen dieser Generation weisen zum großen Teil noch
Ich konnte weder eine öffentliche Diskussion um meine klassische Biografien auf: Schule, kein allzu hoher Bil-
Berufswahl noch irgendwelche gesellschaftlichen Nach- dungsabschluss mit der Begründung: „Die heiratet ja so-
teile feststellen. wieso“, Ausbildung oft in einem typischen Frauenberuf,
schlechter Lohn für zum Teil schwere Arbeit, etwa als
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verkäuferin oder Friseurin, Heirat und Aufgabe des Be-
NEN]: Man soll ja nicht immer von sich auf rufs wegen der Kinder. Es folgt ein später Wiederein-
andere schließen!) stieg ins Berufsleben – wenn überhaupt –, oft unterhalb
Insofern möchte ich alle ermutigen, sich nicht auf die der Qualifikation, in Teilzeit und mit schlechter Bezah-
Rollenfestschreibungen in der Berufswelt einzulassen. lung oder in nicht angemeldeten bzw. prekären Jobs.
Es gibt keine klassischen Männer- und Frauenberufe Weiterbildung – meistens Fehlanzeige. Karriere machen
mehr. diese Frauen selten. Ich habe Zweifel, ob das mit der Re-
gulierungsdichte bei uns zusammenhängt, sehr verehrte
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Lenke.
der CDU/CSU)
Auf eine Rentenbeitragszeit von 45 Jahren bzw. eine
Ich füge hinzu: Es gibt hoffentlich auch keine klassische
geschlossene Rentenbiografie kann kaum eine dieser
Rollenverteilung innerhalb der Familie mehr.
Frauen zurückblicken. Die Folge: niedrige eigene Ren-
Danke schön. tenansprüche – fast ein Drittel weniger als die Männer –,
wenig gesellschaftliche Anerkennung; denn die Defini-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tion gesellschaftlicher Anerkennung erfolgt oft über den
Erfolg des Ehemannes. Symptomatisch für das Ganze
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist: Es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen, die
Herr Kollege Rix, das war Ihre erste Rede hier. Wir sich mit der Lage der Frauen dieser Generation beschäf-
gratulieren herzlich und wünschen Ihnen alles Gute. tigen. Dabei ist das Alter eindeutig weiblich.
1664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Angelika Graf (Rosenheim)


(A) Anmerkung am Rande: Wen wundert es, wenn unter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
diesen Bedingungen und aufgrund dieser Eindrücke Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
viele Töchter von Frauen dieser Generation, die viel bes-
ser ausgebildet sind als ihre Mütter, erst Karriere machen Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
wollen, bevor sie Kinder kriegen, bzw. Karriere und Gern. – Die Konsequenz: Auch diese junge Frau wird
Kinder als Gegensätze auffassen? sich – wie ihre Mutter – nicht in unsere Gesellschaft in-
tegrieren.
Über die Notwendigkeit der Kinderbetreuung, das El-
terngeld und andere familienpolitische Maßnahmen ha- Das Fazit muss lauten: Ohne Gleichstellung keine In-
ben wir heute schon ausführlich gesprochen. Ich denke, tegration und umgekehrt. Wir müssen die Chancen, die
wir brauchen zusätzlich ein mit Sensibilität durchgeführ- die große Koalition bietet, nutzen, um diesen Kreislauf
tes Programm im Rahmen des Beschäftigungspaktes zu durchbrechen.
für über 55-Jährige, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
das der Situation dieser Frauen gerecht wird. Ferner Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
brauchen wir Forschungsprojekte. Vielleicht kann die Damit schließe ich die Aussprache.
deutsche Wirtschaft ja ein solches starten. Es könnte
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
denjenigen die Augen öffnen, die heute noch an den al-
den Drucksachen 16/712 und 16/832 sowie 16/833 an
ten Rollenbildern festhalten. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
Wissenschaftlich etwas stärker erforscht ist die Situa- schlagen. – Damit sind Sie ganz offensichtlich einver-
tion von Migrantinnen auf unserem Ausbildungs- und standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Arbeitsmarkt. Auch Frau Laurischk ist ja darauf einge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g sowie
gangen. Verständlich ist es schon, dass wir uns damit die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
mehr beschäftigen, weil wir endlich begriffen haben,
dass Integration eine der gesellschaftlich notwendigsten 19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
Gegenwartsaufgaben überhaupt ist.
rung des patentrechtlichen Einspruchsverfah-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef rens und des Patentkostengesetzes
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Drucksache 16/735 –
(B) NEN]) Überweisungsvorschlag: (D)
Rechtsausschuss (f)
Der Newsletter der Arbeitsstelle „Interkulturelle Kon- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
flikte und gesellschaftliche Integration“, die vom Bun-
desministerium für Bildung und Forschung gefördert b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
wird, stellte im Februar 2006 fest, die Arbeitsmarktinte- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
gration der männlichen Zuwanderer sei in Deutschland Internationalen Übereinkommen von 2001
im internationalen Vergleich relativ gut – übrigens sind über die zivilrechtliche Haftung für Bunkeröl-
verschmutzungsschäden
die Zahlen trotzdem schlecht –, bei den weiblichen Zu-
wanderern aus der Türkei sei sie jedoch extrem niedrig – Drucksache 16/736 –
und liege, über alle Altersgruppen zwischen 15 und Überweisungsvorschlag:
64 Jahren gemessen, nur bei 35 Prozent. Das sei unter Rechtsausschuss (f)
anderem ein Resultat des lange Zeit eingeschränkten Ar- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beitsmarktzugangs für Ehepartner. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
Schauen wir auf die jungen Menschen mit Migra- rung des Ölschadengesetzes und anderer
tionshintergrund – Herr Singhammer hat das Problem schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
schon angesprochen –: 16 Prozent der türkischstämmi-
gen Mädchen und 23 Prozent der Jungen verlassen die – Drucksache 16/737 –
Schule ohne Schulabschluss. Ich denke, das ist eine ge- Überweisungsvorschlag:
sellschaftliche Katastrophe. Gleichzeitig machen nur Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
11 Prozent der jungen Frauen türkischer Herkunft
Abitur; bei den Männern sind es sogar noch weniger. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Von allen türkischen Jugendlichen finden nur 29 Prozent gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
der männlichen wie weiblichen Bewerber eine Lehr- Übereinkommen über das Recht der nicht-
stelle. Dazu kommt: Auch ein gutes Zeugnis beschert ei- schifffahrtlichen Nutzung internationaler
ner jungen Türkin noch lange keinen Ausbildungsplatz. Wasserläufe
Zu groß sind die Vorbehalte der Arbeitgeber – auch das – Drucksache 16/738 –
ist ein weites Feld für die IHK –, ihr Bruder oder Cousin
Überweisungsvorschlag:
hat trotz eines schlechteren Zeugnisses immer noch bes- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
sere Chancen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1665
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
tokoll vom 17. Juni 1999 über Wasser und Änderung des Betriebsprämiendurchfüh-
Gesundheit zu dem Übereinkommen von 1992 rungsgesetzes
zum Schutz und zur Nutzung grenzüber-
– Drucksache 16/858 –
schreitender Wasserläufe und internationaler
Seen Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
– Drucksache 16/739 – Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ten Verfahren ohne Debatte.
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
rung von Vorschriften des Sozialen Entschädi- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
gungsrechts und des Gesetzes über einen überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Bei- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
trittsgebiet
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf.
– Drucksache 16/754 – Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
Überweisungsvorschlag: zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss Tagesordnungspunkt 20 a:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Verteidigungsausschuss gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung reformgesetzes
Haushaltsausschuss
– Drucksache 16/635 –
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-
(17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nanzausschusses (7. Ausschuss)
(B) (D)
nung – Drucksache 16/835 –
Technikfolgenabschätzung Berichterstattung:
Vierter Sachstandsbericht zum Monitoring Abgeordnete Antje Tillmann
„Technikakzeptanz und Kontroversen über
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
Technik“
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Partizipative Verfahren der Technikfolgenab-
– Drucksache 16/852 –
schätzung und parlamentarische Politikbera-
tung Berichterstattung:
– Drucksache 15/5652 – Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Otto Fricke
Technikfolgenabschätzung (f) Dr. Gesine Lötzsch
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Anja Hajduk
ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuer- empfehlung auf Drucksache 16/835, den Gesetzentwurf
lichen Förderung von Wachstum und Beschäf- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
tigung wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
– Drucksache 16/753 –
setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Überweisungsvorschlag: ganzen Hauses angenommen.
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss Wir kommen zur
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und dritten Beratung
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO entwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.
1666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Tagesordnungspunkt 20 b: Tagesordnungspunkt 20 g: (C)
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des ausschusses (2. Ausschuss)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sammelübersicht 18 zu Petitionen
Erneute Überweisung von Vorlagen aus frühe- – Drucksache 16/666 –
ren Wahlperioden
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
– Drucksache 16/820 – gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
großen Koalition und der FDP gegen die Stimmen von
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion angenom-
Enthaltungen? – Damit ist dieser Antrag mit den Stim-
men.
men des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 h:
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungspunkt Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
20 c: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 19 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/667 –
Sammelübersicht 14 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
– Drucksache 16/662 – gen? – Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition und der Linksfraktion gegen die
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.
gen? – Die Sammelübersicht 14 ist einstimmig ange-
Tagesordnungspunkt 20 i:
nommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 20 d: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 20 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 16/668 –
(B) Sammelübersicht 15 zu Petitionen (D)
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
– Drucksache 16/663 – gen? – Die Sammelübersicht 20 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Grü-
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- nen und Linksfraktion und Enthaltung der FDP.
gen? – Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig an-
genommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Tagesordnungspunkt 20 e: Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Die Zukunft der Rente

Sammelübersicht 16 zu Petitionen Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi.
– Drucksache 16/664 – (Beifall bei der LINKEN)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 16 mit den Kastner)
Stimmen der Koalition, von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP bei Gegenstimmen der Linksfraktion angenommen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Tagesordnungspunkt 20 f: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns in dieser Aktuellen Stunde mit der
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Zukunft der Rente. Auch die Debatte danach beschäftigt
ausschusses (2. Ausschuss) sich mit der Rente.
Sammelübersicht 17 zu Petitionen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doppelt hält
besser!)
– Drucksache 16/665 –
Ich gehe davon aus, dass wir uns in den nächsten Jahren
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- noch öfter mit diesem Thema beschäftigen müssen.
gen? – Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom- Es gibt eine erschreckende Entwicklung der Eckrente.
men. Man muss einmal erklären, was eine Eckrente ist.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1667
Dr. Gregor Gysi
(A) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ (C)
DIE GRÜNEN]: Der Eckrentner ist ausgestor- CSU: Ein ganz übler Demagoge!)
ben! Den gibt es nicht mehr!)
Nun stellt man sich die Frage, ob es denn eine Lösung
Diese bekommt ein Durchschnittsverdiener nach für das Problem gibt. Ihre einzige Lösung ist immer:
45 Arbeitsjahren, also nach 45 Versicherungsjahren. Die kürzen, kürzen, kürzen, und zwar überall, zum Beispiel
Prognose ist von 1995 bis heute um über 300 Euro ge- bei der Rente. Ich glaube, es gibt andere Wege, über die
sunken. Das ist eine dramatische Entwicklung. wir vielleicht einmal diskutieren müssten:
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Butter bei die
Ich glaube, es war Herr Müntefering, der erklärt hat, Fische!)
dass die gesetzliche Rente allein in der Zukunft nicht Ist es richtig, dass nur die abhängig Beschäftigten in die
mehr genügen wird. In der nächsten Debatte wird es da- gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, oder sollten
rum gehen, dass keine Kürzung der Rente stattfinden wir nicht für die nächste Generation – ich spreche nicht
soll, obwohl wir im letzten Jahr einen Rückgang bei den über die heute 50-Jährigen; auch ich weiß, dass das für
Löhnen zu verzeichnen hatten. Aber das, was man nicht sie nicht hinzubekommen ist; aber irgendwann muss
kürzt, soll später angerechnet werden, wenn die Löhne man anfangen – einen anderen Weg gehen und sagen:
wieder einmal steigen. Im Kern nutzt das, was gleich be- Alle, die mehr haben als ein bestimmtes Mindestein-
schlossen wird, den Rentnerinnen und Rentnern also fast kommen, werden verpflichtet, in die gesetzliche Renten-
nicht. versicherung einzuzahlen,
In der Gesellschaft gibt es eine kulturelle Verände- (Beifall bei der LINKEN)
rung. Es gab eine Zeit, in der sich die Union besonders
stark für die Rentnerinnen und Rentner eingesetzt hat. egal ob sie von Mieten oder Zinsen leben, ob sie Rechts-
Diese Zeit ist vorbei. anwälte, Abgeordnete oder abhängig Beschäftigte sind,
was auch immer? Das wäre eine Bürgerversicherung.
(Zuruf von der CDU/CSU: Blödsinn!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann haben die
– Sie ist wirklich vorbei. auch Rentenansprüche, Herr Gysi, wenn sie
(Beifall bei der LINKEN) einzahlen!)
Sie nennen immer wieder den demografischen Faktor, – Ich weiß, dass sie dann Rentenansprüche haben. Das
der hierbei übrigens der unwichtigste Faktor ist. Seit ist mir nicht völlig fremd.
(B) Tausenden von Jahren werden Menschen älter. Das ist Das zweite, was wir machen müssen, ist die Aufgabe (D)
wirklich nicht neu. Das hätten Sie schon 1949 wissen
können. Ich sage Ihnen dazu: Die Produktivitätsentwick- der Beitragsbemessungsgrenze. Wer ein hohes Einkom-
lung ist viel entscheidender. Ich habe das hier schon ge- men hat, muss von einem hohen Einkommen seine Bei-
sagt und betone es noch einmal: Bei Daimler-Benz träge bezahlen. Dann steigt natürlich der Rentenan-
brauchte man vor 20 Jahren vier Arbeitskräfte für etwas, spruch.
für das man heute nur noch eine Arbeitskraft braucht; die (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist dann die
schafft dasselbe wie damals vier. Die Lohn- und Abga- dritte Einkommensteuer!)
benentwicklung hat da nicht mitgehalten. Damals waren
die vier in der Lage, vier Rentnerinnen und Rentner zu Ergo muss ich die Rentensteigerung abflachen. Das darf
versorgen; heute könnte es der eine alleine leisten. Da- man bei einer solidarischen Rentenversicherung. Ich
rauf haben Sie keine Rücksicht genommen. Sie hängen sage Ihnen, für diese Idee gewinnen Sie sogar Besserver-
ausschließlich am demografischen Faktor, der in diesem dienende, und zwar aus einem einzigen Grund: Bevor
Zusammenhang aber unwichtig ist. ich Steuern bezahle – ich weiß nicht, ob Sie davon einen
Panzer kaufen oder etwas für die Rente ausgeben –,
(Beifall bei der LINKEN) zahle ich lieber in eine gesetzliche Rentenversicherung
Jetzt nenne ich noch ein kulturelles Moment, das mir ein, auch wenn ich weiß, ich müsste 130 Jahre alt wer-
wichtig ist: Ältere Leute sind früher durch die Straßen den – werde ich nicht –, um alles wieder herauszube-
der Bundesrepublik gegangen und waren stolz darauf, kommen. Dafür bezieht eine Frau länger Rente, als sie
dass sie dieses Land aufgebaut haben. eingezahlt hat. Das geht in Ordnung. Das ist das Wesen
einer solidarischen Rentenversicherung.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind sie heute
noch!) (Beifall bei der LINKEN)
Heute müssen sie, wenn sie durch die Straßen gehen, er- Dafür müssten Sie natürlich an die Besserverdienen-
klären, warum sie noch da sind. den herantreten. Das traut sich die SPD nicht, ge-
schweige denn die Union. Das ist Ihre Feigheit. Das ist
(Beifall bei der LINKEN) das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben.
Denn bei jeder Debatte sagen Sie: „Die Menschen wer- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/
den älter. Das ist schön, aber …“ Die Begründung des CSU: Ihre Dummheit ist das Problem!)
Abers dauert dann 20 Minuten. Das diskreditiert ältere
Menschen. Davon sollten Sie wegkommen! Deshalb kommen Sie nur auf Kürzungen.
1668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Gregor Gysi


(A) Kommen wir zu den Unternehmen. Ich bin der Auf- wicklung ist es längerfristig notwendig, das Niveau der (C)
fassung, dass die Bindung der Abgaben der Unterneh- gesetzlichen Rente kontinuierlich abzusenken. Das tun
men für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversiche- wir doch nicht, um die Menschen zu ärgern. Es ist viel-
rung an den Lohnfaktor auf Dauer nicht zu halten ist. mehr notwendig und angesichts der demografischen Ent-
Das machte zu Bismarcks Zeiten noch Sinn, weil damals wicklung alternativlos, wenn man verantwortungsvolle
noch 90 Prozent abhängig beschäftigt waren. Wir haben und nachhaltige Rentenpolitik machen will.
inzwischen eine andere Ökonomie und eine andere Zu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
sammensetzung der Gruppe der Erwerbstätigen in
wie des Abg. Anton Schaaf [SPD])
Deutschland. Man muss berücksichtigen, dass sich die
Technik entwickelt hat. Es gibt Unternehmen mit weni- Die gesetzliche Rentenversicherung wird die wich-
gen Beschäftigen und einem hohen Gewinn und andere, tigste Säule der Alterssicherung in Deutschland bleiben.
die bei gleichem Gewinn deutlich mehr Beschäftigte ha- Genauso klar ist, dass wir neben der gesetzlichen Rente
ben. Wie gleichen wir das aus? Das ist doch eine Frage, ein weiteres, kapitalgedecktes Standbein brauchen, dass
über die man einmal diskutieren kann. wir mehr betriebliche Vorsorge und im engeren Sinne
private Vorsorge brauchen. Das Entscheidende für die
Wir haben die Idee entwickelt – die SPD hatte sie üb-
Versorgung der Menschen im Alter ist die Kombination
rigens auch einmal; sie hat sie aber sterben lassen –, an-
aus gesetzlicher Rente und privater Vorsorge.
stelle der heutigen Lohnnebenkosten – wie man sie
fälschlicherweise nennt – eine Wertschöpfungsabgabe Wenn wir uns wirklich mit den Zahlen beschäftigen,
einzuführen, die wir vom Ergebnis des Unternehmens stellen wir fest, dass die allermeisten Menschen durch-
abhängig machen. aus privat vorsorgen. Bisher nimmt nur eine Minderheit
die staatliche Riester-Förderung in Anspruch. Das ist
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wahr. Aber die allermeisten Menschen machen etwas.
Herr Kollege Gysi, die Redezeit in der Aktuellen Wir tun gut daran, uns kritisch zu fragen, warum bisher
Stunde beträgt fünf Minuten. nicht mehr Menschen die staatliche Förderung für die
Altersvorsorge in Anspruch nehmen. Ich glaube, dass
der Sozialbeirat den Finger in die richtige Wunde legt,
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
wenn er darauf hinweist, dass bei einer Befragung
Wir machen sie vom konkreten Ergebnis des Unter-
74 Prozent der Befragten auf die Frage, warum sie bisher
nehmens abhängig. Damit helfen wir den Unternehmen,
keinen Riester-Vertrag abgeschlossen haben, sagten: Ich
weil wir sie nicht unterfordern und nicht überfordern. Da
traue dem Staat bzw. der Regierung nicht, weil sie die
wollen Sie nicht ran. Sie wollen gar keine Reformen. Sie
Gesetze zu oft ändert.
wollen nur Kürzungen. Das ist viel zu wenig in Deutsch-
(B) (D)
land. (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])
(Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Tendenz
müssen wir Schluss machen. Genau deswegen verfällt
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die große Koalition jetzt nicht in hektische Betriebsam-
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/ keit. Vielmehr werden wir genau prüfen, welche Auswir-
CSU-Fraktion. kungen die veränderten Rahmenbedingungen des Alters-
einkünftegesetzes, die erst seit dem letzten Jahr gelten,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) haben.
Wie wir sehen, sind wir auf dem richtigen Weg. Es
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
gibt mittlerweile mehr Instrumente der staatlich geför-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! derten privaten Altersvorsorge. Wir werden uns dieses
Im Rahmen des nächsten Tagesordnungspunktes bringen System genau ansehen und dann entscheiden, ob weitere
wir einen Gesetzentwurf ein, um Rentenkürzungen zu Konsequenzen zu ziehen sind. Das werden wir aber
verhindern. Mein Vorredner sprach gerade davon, uns nicht hektisch jedes Jahr tun. Für diese Verlässlichkeit,
falle nichts anderes ein, als Kürzungen vorzunehmen. die die Menschen zu Recht von uns erwarten, steht die
Herr Gysi, plumper kann man die Menschen nicht für große Koalition.
dumm verkaufen, als Sie das mit Ihrer demagogischen
Rede getan haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor-
gelegt, um die Situation der gesetzlichen Rentenversi-
Wenden wir uns lieber den Fakten zu, um die es jetzt
cherung zu stabilisieren. Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sa-
geht. Richtig ist: Die Finanzdecke der Rentenkasse ist so
gen, dass es angesichts der demografischen Entwicklung
dünn wie nie zuvor. Das hängt insbesondere mit der pre-
in unserem Land auf absehbare Zeit keinen großen Zu-
kären wirtschaftlichen Situation in diesem Land zusam-
wachs geben wird. Vielmehr geht es um eine Stabilisie-
men. Seit Ende 2001 haben wir fast 1,2 Millionen ar-
rung der gegenwärtigen Situation.
beitslose Menschen mehr. Im selben Zeitraum haben wir
1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäfti- Wir dürfen den Menschen keine haltlosen Verspre-
gungsverhältnisse verloren. Dass sich das auf die Fi- chungen machen. Sie mögen uns als Opposition ja vieles
nanzlage der Rentenversicherung auswirken muss, ist vorwerfen wollen; aber niemand wird uns ernsthaft vor-
vollkommen klar. Aufgrund der demografischen Ent- werfen können, dass wir den Menschen, was die von uns
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1669
Dr. Ralf Brauksiepe
(A) in dieser Legislaturperiode zugrunde gelegten Annah- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): (C)
men zur Rentenentwicklung in den nächsten Jahren be- Jawohl. – Sie können eine Politik gegen viele ma-
trifft, unhaltbare Versprechungen machen. Genau das tun chen; aber Sie können keine Politik gegen Adam Riese
wir nicht. Wir haben ein Maßnahmenpaket zur Stabilisie- machen.
rung der Situation in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung vorgelegt, das durchgerechnet ist und das auf realis- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
tischen Annahmen und Bausteinen beruht, die ineinander Sie haben fünf Minuten. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende
greifen. zu kommen.
Jeder weiß: Wir tun das nicht gerne, aber wir müssen
im nächsten Jahr den Rentenversicherungsbeitrag erhö- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
hen, weil die Situation in der Rentenversicherung anders Wir machen eine solide Rentenpolitik.
nicht zu stabilisieren ist. Wir nehmen in diesen Jahren
keine Rentenkürzungen vor. Aber in der Tat müssen wir Vielen Dank.
die jetzt nicht durchgeführten Kürzungen, wenn sich die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land verbessert
hat, nachholen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Wir werden das gesetzliche Renteneintrittsalter, wie Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-
jeder weiß, ab dem Jahr 2012 schrittweise erhöhen. Fraktion.
Diese Maßnahme wird eine Wirkung entfalten, deren ge- (Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:
samtes Ausmaß erst im Jahr 2029 eintreten wird. Aber Achtung! Jetzt will wieder einer kürzen!)
auch dann wird noch nicht einmal die gestiegene Le-
benserwartung voll kompensiert sein.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Diese Maßnahmen gehen einher mit einem steigen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
den Rentenversicherungsbeitrag – darauf habe ich hinge- Zu Beginn meiner Rede möchte ich Sie, Herr Minister
wiesen – und mit einem moderat steigenden Bundeszu- Müntefering, ganz persönlich ansprechen. Wie ich heute
schuss. Das bedeutet, dass wir alle drei Gruppen – die gelesen habe, haben Sie gestern angesichts der im Ren-
Beitragszahler, die Steuerzahler und die Rentnerinnen tenversicherungsbericht erkennbar gewordenen Versor-
und Rentner selbst – in die Finanzierung und Stabilisie- gungslücken folgende Aussage gemacht:
rung der gesetzlichen Rentenversicherung einbeziehen
müssen. Genau das tun wir. Da kann man Verschiedenes versuchen: Balalaika
(B) spielen oder Lotto spielen, Riester-Rente oder be- (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines dürfen wir da- triebliche Versicherung machen …
bei nicht übersehen: Es geht nicht darum, jedes Jahr
politisch auszuhandeln, ob und in welcher Höhe es Ren- Herr Müntefering, ich denke, diese Äußerung lässt jeden
tensteigerungen geben wird. Es war ein politischer Be- Respekt und jede Achtung vor der künftigen Rentnerge-
schluss, keine Rentenkürzungen durchzuführen; das ist neration vermissen,
wahr. Aber ob und in welcher Höhe es Rentensteigerun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gen geben wird, hängt auch von der zukünftigen wirt- der LINKEN)
schaftlichen Entwicklung ab. Das ist also keine Verhand-
lungssache. Das betrifft vielmehr die Frage, ob wir der Generation, die die höchsten Rentenbeiträge zu zah-
wirtschaftlich wieder erfolgreicher sein werden. Dafür len hat, aber die niedrigsten Rentenzahlungen bekommt.
müssen wir die notwendigen Rahmenbedingungen Es ist gerade nicht das Verschulden dieser Menschen,
schaffen. dass sie es in Zukunft mit einer Versorgungslücke zu tun
haben und nach einem harten Arbeitsleben von Altersar-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mut bedroht sind. Das ist das Verschulden von Politikern
Herr Kollege, auch für Sie gilt eine Redezeit von fünf wie dem amtierenden Bundesarbeitsminister, der es un-
Minuten. terlässt, in unserem Land die Voraussetzungen für dauer-
haftes Wachstum, neue Arbeitsplätze und damit für neue
Beitragszahler zu schaffen.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Jawohl. – Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung (Beifall bei der FDP)
ein Maßnahmenpaket vorgelegt. Alle wesentlichen Zah- Herr Minister – Sie reden ja gleich nach mir –, ich
len und Prognosen wurden in der letzten Zeit nach oben fordere Sie in aller Sachlichkeit auf,
korrigiert. Es geht in unserem Land wirtschaftlich wie-
der aufwärts. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe
auch die Stabilisierung der Rentenversicherung fortge- Küster [SPD]: Widerspruch! Widerspruch!)
setzt werden kann. sich für diese Entgleisung öffentlich zu entschuldigen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP)


Herr Kollege, gleich muss ich Ihnen das Mikrofon ab- Herr Kollege Küster, sollen sich die Menschen auch
schalten. noch dankbar dafür zeigen, dass sie zukünftig bloß Lotto
1670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) oder Balalaika spielen sollen und nicht russisches Rou- bung auf über 20 Prozent noch vor Ende dieser Legisla- (C)
lette? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! turperiode kommen müssen. Wenn man in dem Bericht
zwischen den Zeilen liest, muss man auch feststellen,
(Beifall bei der FDP)
dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Reihe von
Hier gibt es wirklich Handlungsbedarf. Nutzen Sie die Nullrunden kommen wird. Wir haben ja 2004, 2005 und
Gelegenheit, dieses klarzustellen, Herr Minister! 2006 schon Nullrunden zu verzeichnen gehabt. Für 2007
haben Sie eine weitere angekündigt. 2008 wird dann mit
Im Übrigen ist es so, wie Herr Gysi gesagt hat: Die hoher Wahrscheinlichkeit die fünfte Nullrunde in Fol-
Rente bzw. die Zukunft der Rente ist ein Dauerthema. ge – und das bei steigenden Lebenshaltungskosten.
Ich teile Ihre Einschätzung nicht, Herr Minister, dass die
Struktur der Rentenversicherung steht und so bleiben (Dirk Niebel [FDP]: Mehrwertsteuer-
kann. Das ist eine Neuauflage des blümschen „Die Rente erhöhung!)
ist sicher“.
Deswegen ist es unverantwortlich, Herr Bundesminister,
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Da waren Sie nicht die Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2007 um 3 Prozent-
dabei? Da waren Sie nie beteiligt?) punkte zu erhöhen.
Bis man davon sprechen kann, muss noch eine Reihe (Beifall bei der FDP und der LINKEN)
einschneidender Änderungen ins Bundesgesetzblatt und
Die Rentner werden durch diese Maßnahme voll belastet;
nicht nur in Partei- und Koalitionspapiere.
aber sie profitieren nicht von der Senkung der Lohnne-
(Beifall bei der FDP) benkosten. Ich fordere Sie auf: Verzichten Sie auf diese
Mehrwertsteuererhöhung! Damit werden nämlich auch
Wichtig ist eine nüchterne, realistische Bestandsauf- Verfassungsrechte verletzt. So hat das Bundessozialge-
nahme. Dazu leistet der gestern im Kabinett beschlos- richt klar gesagt: Es gehört zur Eigentumssicherung des
sene Rentenversicherungsbericht keinen Beitrag; das Rentenanspruchs, dass mittelfristig Rentenanpassungen
muss man hier so deutlich sagen. Denn er verschleiert vorgenommen werden, die einen Inflationsausgleich ge-
die wahre Lage der Rentenversicherung ein weiteres währleisten.
Mal. Der großen Koalition fehlt offensichtlich der Mut,
unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Der Not ge- Das, was Sie eingeleitet haben, wird also nicht ausrei-
horchend, wird die künftige Entwicklung optimistischer chen und Handlungsbedarf gibt es an vielen Stellen. Zu
dargestellt, als sie zu erwarten ist. Anders kann man das meinem ersten Punkt möchte ich Sie, Herr Minister, bit-
nicht sagen; denn beim Wachstum, bei der Entwicklung ten, jetzt Stellung zu nehmen.
der Beschäftigung und bei den Lohnsteigerungen liegen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) Sie mit Ihren Erwartungen deutlich am oberen Rand des (D)
realistischen Spektrums, Herr Müntefering. (Beifall bei der FDP)
(Zuruf von der SPD: Was ist mit Ihrer
Prognose von 1995?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und
Wer diese Zahlen mit den Istzahlen der letzten fünf, zehn Soziales, Franz Müntefering.
Jahre vergleicht, der muss feststellen, dass das, was Sie
hier vorgelegt haben, einfach nicht zusammenpasst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:
Jetzt werden Ihre Fehlprognosen der Vergan-
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
genheit beklatscht!)
Soziales:
– Wenn Sie es mir nicht glauben, Herr Brandner, dann Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
lesen Sie, was der Sozialbeirat in seinem Gutachten zum Herren! Die Vorlage des Rentenversicherungsberichts
Rentenversicherungsbericht geschrieben hat; da steht ge- und des Alterssicherungsberichts bringt das Thema ins
nau dies. Licht der Scheinwerfer. Das ist gut und auch nötig, weil
eine Debatte darüber dringend erforderlich ist. Es ist gut,
Wenn sich Ihre Annahmen – wovon ich ausgehe – als
dass wir heute darüber diskutieren, weil dann ein biss-
zu optimistisch erweisen sollten, wird das ganz konkrete
chen klarer wird, wie die Zusammenhänge eigentlich
Folgen haben. Schauen Sie sich doch die Tabelle auf
sind.
Seite 41 des Rentenversicherungsberichts an: Schon bei
der angenommenen unteren Variante der Einkommens- Es geht um die Zukunftsfähigkeit einer insgesamt äl-
entwicklung – plus 1,5 Prozent, was deutlich mehr ist als ter werdenden Gesellschaft. Das und nichts weniger ist
der Schnitt der letzten zehn Jahre – steigt laut Rentenver- das Thema. Darüber werden wir in den Gesamtzusam-
sicherungsbericht der Beitrag schon im Jahr 2007 – nicht menhängen zu sprechen haben. Dabei geht es um mehr
erst irgendwann in der Zukunft – auf über 20 Prozent an. als um die Statistik und um die Dinge, die Sie angespro-
Damit wird wahrscheinlich, dass die Bundesregierung chen haben und auf die ich gleich gerne noch einmal
das von ihr selbst formulierte Ziel der Beitragssatzstabi- kommen werde.
lität verfehlt.
Wir haben uns in unserem Bericht um Realismus be-
Ohne eine grundlegende Änderung der Politik – ich müht und die Prognosen für die Entwicklung der Löhne
wiederhole das erneut – wird es zu einer Beitragsanhe- und der Zahl der Beschäftigten im Vergleich zu dem,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1671
Bundesminister Franz Müntefering
(A) was in den Berichten vergangener Jahre gestanden hat, Wer mit 65 Jahren ging, erhielt die Rente dann ohne Ab- (C)
gesenkt. Wir sind dabei sehr nahe an die Realität heran- schlag. Dieser Korridor von 60 bis 65 Jahre verschiebt
gerückt. Das hat auch Konsequenzen gehabt. Der Beirat sich bis zum Jahre 2029 auf 63 bis 67 Jahre. Um diesen
hat ja auch deutlich gemacht, dass er uns zumindest im Vorgang geht es.
Bereich der Lohnentwicklung voll zustimmt. Das ist ein
Unten kommen die Menschen ja auch nicht mehr mit
wichtiger Punkt.
14 oder 15 Jahren in den Beruf, sondern im Schnitt mit
Auf was bereiten wir uns in Deutschland vor? Sagen 21 Jahren. Zusätzlich werden wir noch 2,5 Jahre älter.
wir, dass wir ein Niedriglohnland sind, oder sagen wir, Ich glaube, dass es verantwortbar und sinnvoll ist, das zu
dass wir ein Hochleistungs- und Hochlohnland bleiben tun, zumal wir sagen: Diejenigen, die 45 Lebensarbeits-
wollen und dass wir davon ausgehen, dass die Arbeit- jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben, wer-
nehmer auch in Zukunft mehr in ihre Portemonnaies be- den unverändert mit 65 Jahren ihre ungekürzte Rente er-
kommen, was mit einer entsprechenden Wirkung auf die halten.
sozialen Sicherungssysteme – auch auf das Rentensiche-
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wenn sie
rungssystem – verbunden ist? Das ist eine ganz wichtige
Arbeit haben!)
Entscheidung. Wir gehen davon aus, dass die Dinge, die
wir aufgeschrieben und für unseren Bericht zur Grund- In diesem Jahr und im nächsten Jahr werden wir die
lage gemacht haben, realistisch sind. Rente nicht kürzen, obwohl das eigentlich fällig gewe-
sen wäre. Einige haben jetzt darüber gesprochen, was
Zum Kapitel Analyse. Wir gehen in Deutschland im
der Vergleich zum Jahre 1995 bedeutet, und gefragt, was
Schnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit 60,8 Jahren
das Ergebnis ist. Es ist richtig: Die Renten sind etwa
heraus. Das sind gut 39 Lebensarbeitsjahre. Von den
20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert.
55-Jährigen und Älteren sind noch 42 Prozent berufstä-
tig. 50 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der (Elke Ferner [SPD]: Da war die FDP über-
älter als 50 Jahre ist. Im Schnitt gehen 33,5 Prozent der haupt nicht dabei!)
Männer mit 65 Jahren in die Rente. Im Vergleich zu
Allerdings sind auch die Löhne etwa 20 Prozent niedri-
1960 leben wir sechs bis sieben Jahre länger. Alle, die
ger, als 1995 prognostiziert.
sich damit beschäftigen, sagen: Bis zum Jahre 2030 le-
ben wir noch einmal 2,5 Jahre länger. Das ist gut. Wir (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist beides
klopfen auf Holz und hoffen, dass wir dabei sind. Das schlimm!)
bedeutet aber natürlich auch, dass die Rente 2,5 Jahre
länger zu zahlen ist. Ich will damit nur zeigen, dass das nicht eine Frage der
Struktur der Rentenversicherung, sondern eine Frage der
(B) Im Jahre 2050 werden 12 Prozent der Bevölkerung Lohnentwicklung und der Prosperität des Landes insge- (D)
älter als 80 Jahre, 30 Prozent älter als 65 Jahre und samt ist.
16 Prozent unter 20 Jahre alt sein. Wenn man die ganzen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
Zahlen nebeneinander legt, dann erkennt man, dass man
LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das
reagieren und etwas tun muss. Man muss jetzt damit an-
ist viel zu euphemistisch! Das wird in zehn
fangen; denn wenn ich von 2050 spreche, dann weiß ich,
Jahren genauso aussehen, Herr Müntefering!)
dass durch die Köpfe geht, dass das noch eine lange Zeit
hin ist. Nein, nein, diejenigen, die heute 21 Jahre alt Das ist der Punkt, an dem wir uns bewegen und den man
sind, sind dann gerade 65 Jahre alt. Wir kennen schon ei- begreifen muss.
nen großen Teil derjenigen. Unsere Enkelkinder und
Kinder werden davon, was wir jetzt tun oder nicht tun, Diese Kürzungen, diese Dämpfungen, die wir nicht
betroffen sein. Nichts tun kann man nicht. Man muss vornehmen, werden wir nicht vor 2010 nachholen. Aber
handeln. das ist nötig. Wenn wir das nicht tun, wird das die Gene-
ration nach uns bezahlen.
Was tun wir also an dieser Stelle? Wir tun vor allen
Dingen zwei Dinge: Wir alle miteinander müssen ehrlich sein: Es gibt
arme Rentner und solche, denen es ganz gut geht. Es gibt
Wir beginnen mit einer „Initiative 50 plus“. Sie ist an- arme Beschäftigte und solche, denen es ganz gut geht.
gekündigt und wird im Verlauf dieses Jahres konkreti- Die Grenze verläuft in diesem Land nicht zwischen
siert. An dieser Stelle werden wir dann auch Dampf ma- Rentner und Nichtrentner, sondern sie verläuft zwischen
chen. Wir müssen dafür sorgen, dass in dieser denen, die genug Geld im Portemonnaie haben und de-
Gesellschaft wieder begriffen wird: Leute, die 50, nen es gut geht, und denen, die weniger Geld zur Verfü-
55 und 60 Jahre alt sind, können noch etwas und werden gung haben und denen es weniger gut geht. So müssen
dringend gebraucht. Sie dürfen nicht beiseite geschoben wir bitte schön auch denken und so müssen wir auch in
werden. Das ist ein Grundfehler in der ganzen gesell- der Rentengesetzgebung die Strukturen festlegen.
schaftspolitischen Entwicklung in diesem Land.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Die Beiträge für die Rente werden sich im nächsten
Damit verbunden verändern wir den Korridor für den Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen. Wir zahlen allerdings ei-
Eintritt in die Rente um zwei Jahre. Bisher verlief er von nen langsam wachsenden Betrag von 78 Milliarden Euro
60 bis 65 Jahre. Mit 60 Jahren konnten viele herein; sie aus der Bundeskasse dazu. Das sei gesagt, damit das ei-
mussten einen Abschlag von 18 Prozent hinnehmen. nige endlich begreifen. Denn einige sagen, das würde
1672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Bundesminister Franz Müntefering


(A) nur über die Lohnnebenkosten finanziert. Das ist Un- heute erwirtschaften, in die jungen Menschen zu inves- (C)
sinn, das ist längst nicht mehr so. 78 Milliarden Euro tieren. Um diesen entscheidenden Punkt geht es langfris-
von den 260 Milliarden Euro des Bundeshaushaltes flie- tig bei der Rentensicherung.
ßen in diesem Jahr in die Rente oder sind rentennahe
Zahlungen, weil sonst die Rentenversicherungsbeiträge Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
in diesem Jahr nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
26 oder 27 Prozent lägen. Oder die Renten wären um ein
Drittel niedriger.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(Zuruf von der LINKEN: Quatsch!) Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Wir haben schon einen vernünftigen Mix aus Renten- Bündnis 90/Die Grünen.
versicherungsbeiträgen und aus den Geldern, die über
Steuern in die Bundeskasse fließen. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich will noch zu dem Punkt kommen, den Sie freund-
licherweise angesprochen haben. Ich habe gar nicht ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
mutet, dass Sie auf so etwas hereinfallen. Ich wiederhole Die Menschen müssen sich auch in Zukunft darauf ver-
das, was ich bereits gesagt habe: Die Struktur der gesetz- lassen können, dass ihr Lebensunterhalt im Alter gesi-
lichen Rentenversicherung steht. Sie wird auch in Zu- chert ist. Dazu braucht die Rentenversicherung ein stabi-
kunft der Kernbereich der Versicherung bleiben. Aber les wirtschaftliches Fundament. Das setzt einen hohen
die Rente muss um zusätzliche Maßnahmen ergänzt wer- Beschäftigungsstand, die Förderung von älteren Be-
den, zum Beispiel die Riester-Rente oder die betriebli- schäftigten und die von Frauen voraus.
che Vorsorge. Bei der Riester-Rente gab es im letzten In den letzten Tagen wurde der Eindruck erweckt, als
Jahr ein Wachstum: Insgesamt 5,6 Millionen Menschen habe die Rentenpolitik der vergangenen Jahre zur Folge,
machen mit. Betrieblich vorsparen tun inzwischen rund dass die Rentner und Rentnerinnen einseitig und massiv
60 Prozent der Beschäftigten in der einen oder anderen von der Entwicklung des Wohlstands abgekoppelt wor-
Form. den seien. In der „Bild“-Zeitung ist von einer
Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Es hilft nicht, „Schrumpfrente“ die Rede, weil die Voraussagen frühe-
Lotto zu spielen, es hilft nicht, Balalaika zu spielen und rer Rentenberichte nicht eingetroffen sind. Mit diesen
zu hoffen, dass man so morgen oder übermorgen ausrei- Ängsten der Menschen machen Sie, meine Damen und
chend Geld in der Tasche hat, sondern man muss jetzt Herren von der Linken, Politik.
den Vertrag für eine Riester-Rente oder eine betriebliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) (D)
Rente abschließen. Das ist eine vernünftige Vorsorge für und bei der SPD)
morgen und für übermorgen. Deshalb ist das, was ich ge-
sagt habe, richtig; das wissen Sie ganz genau. Ich möchte dies versachlichen. Im Rentenversiche-
rungsbericht 1995 wurde aufgrund der damaligen Pro-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gnosen für das Jahr 2009 eine monatliche Eckrente von
Die Höhe und die Sicherheit der Renten werden da- 1 510 Euro vorausgesagt. Zehn Jahre später sind es nur
von abhängen, wie die Wohlstandsentwicklung im noch 1 180 Euro. Nach den gestrigen Aussagen von
Lande insgesamt ist. Deshalb gehört zu einer kompletten Minister Müntefering läge der Beitrag nach der damali-
Debatte über Rente und die Zukunftsfähigkeit der Rente gen Prognose heute bei über 26 Prozent. Wissen Sie,
die Frage dazu: Was investieren wir in Bildung, Qualifi- Herr Kollege Kolb, wer damals im Wirtschaftsministe-
zierung, Weiterbildung, Forschung und Technologie? rium die Voraussagen erstellt hat?
Wenn unser Land im Jahre 2030 mindestens das gleiche
(Elke Ferner [SPD]: Nein! Das haben die alles
Wohlstandsniveau wie heute hat, wird es den Alten und
vergessen!)
den Jungen gut gehen. Es geht dann nur um die Vertei-
lung von ein paar Prozentpunkten; darüber kann man Das war der damalige Parlamentarische Staatssekretär
dann streiten. Wenn Deutschland in Zukunft dieses Kolb 1995.
Niveau aber nicht erreicht, werden wir weniger haben,
egal was wir heute in der Rentenversicherung prozentual (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vorgeben. Wenn dann von 46 Prozent die Rede ist, fragt sowie bei Abgeordneten der SPD)
man sich: 46 Prozent von was? Was sind 100 Prozent? Wie ich sehe, tragen Sie das mit Fassung.
Wenn wir über die Rente sprechen, gehört zu der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Herr Blüm und
schlichten Wahrheit: Wir müssen im Land die Bereit- Herr Kolb sind nicht zu verwechseln! Herr
schaft wecken, zu verstehen, dass wir nur dann, wenn Kolb sieht anders aus! – Klaus Brandner
wir in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen [SPD]: Damals war er Wirtschaftspolitiker!
investieren, eine vernünftige Chance haben, langfristig Heute ist er Sozialpolitiker! – Markus Kurth
eine auch für alle nach uns kommenden Generationen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wachs-
sichere Rente zu haben. Das hängt ganz eng zusammen. tumsprognosen haben Sie gemacht!)
Deshalb dürfen wir die Rente nicht nur als ein spezifi-
sches Problem diskutieren, sondern wir müssen es mit – Nein, die wirtschaftlichen Voraussagen wurden im
der Bereitschaft verbinden, einen Teil dessen, was wir Wirtschaftsministerium erstellt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1673
Irmingard Schewe-Gerigk
(A) Aber zu Ihrer Entschuldigung ist festzustellen: Da- Bezogen auf einen durchschnittlichen Lohn wäre das für (C)
mals wurde offensichtlich die Durchsetzungskraft der Arbeitgeber wie auch für Arbeitnehmer und Arbeitneh-
Gewerkschaften unterschätzt. merinnen heute eine Mehrbelastung von 750 Euro im
Jahr, Herr Lafontaine.
(Klaus Brandner [SPD]: Der Mann tut so, als
ob er Ahnung hätte!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Seitdem die Gewerkschaft 1999 mit Oskar Lafontaine
ihre Speerspitze im Bundestag verloren hat, geht die Wollen Sie vielleicht den Menschen auch das einmal sa-
Lohnentwicklung rapide zurück und wir sind im europäi- gen?
schen Vergleich schon ganz unten angekommen. Das (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie haben
schlägt systembedingt auf die Renten nieder. einseitig nur die Arbeitnehmer belastet! Haben
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Es ist wert- Sie das nicht gemerkt?)
voll, dass Sie das gemerkt haben!) – Das stimmt nicht.
– Wollen Sie mich etwas fragen? Ich verstehe Sie (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Bei Riester
schlecht. zahlen die Arbeitgeber gar nicht!)
Es ist in der Tat ein Problem, wenn die Voraussagen Doch die Bundesregierung stellt die Weichen völlig
zur Rente immer wieder nach unten korrigiert werden falsch. Die konjunkturelle Entwicklung der vergangenen
müssen. Das droht auch dem Rentenversicherungsbe- Jahre hat deutlich gezeigt – in dieser Einschätzung lie-
richt 2005. gen wir wieder nahe beieinander –: Die Finanzierung der
Umso bemerkenswerter, Herr Minister Müntefering sozialen Sicherung durch abhängig Beschäftigte verteu-
– so viel zur neuen Ehrlichkeit –, ist Ihre Einschätzung ert den Faktor Arbeit und schadet der Beschäftigung.
bei der Pressekonferenz, die ich auf „Phoenix“ verfolgt Was machen SPD und CDU/CSU? Sie gehen den ein-
habe. Sie haben gesagt, die Rentenversicherung stehe fachen Weg. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung
jetzt und es müsse in diesem Bereich nicht weiter nach- soll 2007 auf 19,9 Prozent steigen. Die Beiträge für
gesteuert werden. Eben haben Sie es anders dargestellt. Langzeitarbeitslose an die Rentenversicherung sollen
Aber als ich die Pressekonferenz verfolgt habe, wurde sinken. Der Haushalt soll auf Kosten der Beitragszahler
ich an die Popularität Ihres Vor-Vorgängers Norbert entlastet werden. Die Kosten für die Arbeitnehmer wer-
Blüm erinnert. den steigen. Das ist Gift für den Arbeitsmarkt.
Wir wissen, dass die Niveausenkung der Renten vor Die Koalition hofft auf Wachstum. Sie hofft darauf,
(B) allem die jüngere Generation betrifft. Sie überschätzt (D)
dass auf diesem Weg Beschäftigung entsteht und der
ihre Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung Druck auf die Sozialversicherung abnehmen wird. Dabei
und unterschätzt den Bedarf an ergänzender Vorsorge. ist in den letzten Jahren die Zunahme der Beschäftigung
Wenn jemand im Jahr 2030 auf 30 Beitragsjahre bei ei- mit einer Abnahme der sozialversicherungspflichtigen
nem durchschnittlichen Verdienst kommen muss, um Beschäftigung einhergegangen. Dieses grundlegende
eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu bekommen, dann Problem muss gelöst werden. Aber dem weichen Sie,
wird klar – ich finde, auch das erfordert die Ehrlichkeit, meine Damen und Herren von der SPD und CDU/CSU,
und ich stelle das als Grüne fest –: Die gesetzliche Ren- aus.
tenversicherung wird in der bestehenden Form den
Schutz vor Armut für alle Bürgerinnen und Bürger nicht An die Adresse von Oskar Lafontaine gerichtet – ich
mehr zuverlässig gewährleisten können. Das gilt vor al- verspüre gerade eine gewisse Kampfesfreude –: Hören
len Dingen für Personen ohne geschlossene Berufsbio- Sie doch mit Ihren volkswirtschaftlichen Vorträgen auf!
grafien. Machen Sie als Linke konkrete Vorschläge zu politi-
schen Alternativen bei der Rente! Vergessen Sie vor al-
Das wird hier immer verschwiegen, aber man muss es len Dingen nicht den berühmten Satz von Bill Clinton:
den Menschen sagen. Wir Grüne werden uns dafür ein- „It’s the economy, stupid!“
setzen, dass die Sozialversicherungen zu Bürgerversi-
cherungen weiterentwickelt werden. Für die Kranken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
versicherung haben wir bereits einen Vorschlag gemacht. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das war
Inzwischen ist aber eine Debatte darüber entstanden, ob aber nun nicht von Bill Clinton!)
eine Bürgerversicherung auch für die Rente erforderlich
sein wird. Die Probleme in den einzelnen Zweigen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Sozialversicherung sind unterschiedlicher Natur. In der Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller, CDU/
Altersvorsorge ist ein solches Vorhaben eine langfristige CSU-Fraktion.
Angelegenheit, die auch verfassungsrechtliche und fis-
kalische Probleme aufwirft. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Ohne die von Rot-Grün eingeleiteten Reformen läge Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
der Beitragssatz heute schon viel höher. Herren Kollegen! Die Rentenpolitik in dieser Republik
ist – hier werden mir alle sicherlich beipflichten – eine
(Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE Dauerbaustelle. Wir haben auch in dieser Woche wieder
LINKE]) einiges gelesen und gehört. Es gab viel Kritik an der
1674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Stefan Müller (Erlangen)


(A) Bundesregierung, der großen Koalition und dem System Dynamik und Beschäftigung wird diese große Koalition (C)
der gesetzlichen Rentenversicherung sowie kritische An- legen, auch wenn Sie das nicht erwarten. Es wird selbst-
merkungen zu dem, was in der Vergangenheit unterlas- verständlich eine Unternehmensteuerreform sowie eine
sen oder getan worden ist. Aber selten habe ich in dieser Initiative für Entbürokratisierung und Deregulierung ge-
Woche konstruktive Vorschläge gehört oder gelesen. Die ben. Zudem werden die Lohnzusatzkosten im nächsten
selbst ernannten Experten haben nicht erklärt, wie das Jahr sinken. Das alles wird so eintreten.
System der Rentenversicherung stabilisiert werden soll.
Das bezieht sich nicht nur auf Abgeordnete dieses Hau- Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist die Zu-
ses, sondern auch auf viele andere. Der Herr, den ich kunft der Rente. Damit wird gleichzeitig die Frage nach
meine, scheint in der Tat zu einer Allzweckwaffe gewor- der Zukunft des Generationenvertrages gestellt. Der Ge-
den zu sein. Er hat aber offensichtlich das Problem, nerationenvertrag war jahrelang ein Garant für Stabilität
selbst in seiner eigenen Fraktion nicht in ausreichendem und Solidarität zwischen den Generationen. Das solida-
Maße Gehör zu finden. Ich wünsche mir jedenfalls, dass rische Prinzip sollte auch in Zukunft beibehalten wer-
diejenigen, die sich hier ständig kritisch zu Wort melden, den. Aber Solidarität ist natürlich keine Einbahnstraße.
einmal konstruktive Vorschläge machen und diese auch Genau deswegen müssen wir uns die Frage stellen, wie
vertreten. Derjenige, der höhere Rentenversicherungs- wir es verhindern, dass sich die Generationen in Zukunft
beiträge fordert, sollte dann auch den Arbeitnehmern nicht gegenseitig überfordern. Auf der einen Seite sind
und den Unternehmern sagen, dass sie höhere Beiträge die Älteren, die um ihre erworbenen Ansprüche fürch-
zahlen müssen. ten. Auf der anderen Seite sind die Jüngeren, die be-
fürchten, von zwei Seiten in die Zange genommen zu
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Die Arbeit- werden. Interessanterweise ist angesichts der vorge-
nehmer müssen doch mehr Beiträge zahlen! schlagenen Maßnahmen, zum Beispiel der Rente ab 67,
Habt ihr das immer noch nicht gemerkt?) die emotionale Betroffenheit bei denjenigen am größten,
die davon nicht mehr betroffen sein werden, während
Wer niedrigere Renten fordert, der sollte den Rentnern sich diejenigen, die davon massiv betroffen sein werden,
sagen, dass sie künftig mit weniger zurechtkommen am wenigsten beschweren.
müssen.
Beide Seiten, Ältere wie Jüngere, bekommen von uns
Der Rentenversicherungsbericht, der in dieser Woche klare Signale. Die Älteren bekommen das klare Signal,
vorgelegt worden ist, ist jedenfalls ehrlicher als vieles, dass die Renten in dieser Legislaturperiode nicht gekürzt
was uns in der Vergangenheit beim Thema Rente präsen- werden. Gleichzeitig werden die Renten in Zukunft aber
tiert worden ist. nicht mehr in dem Maße steigen können, wie es die Lohn-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido entwicklung zuließe. Die Jüngeren bekommen das klare (D)
Westerwelle [FDP]: Wenn etwas ehrlicher ist, Signal, dass künftig die gesetzliche Rente nicht mehr aus-
ist es noch nicht die Wahrheit!) reichen wird, um im Alter den Lebensstandard aufrecht-
zuerhalten, und dass deswegen mehr private Vorsorge
Der Rentenversicherungsbericht leidet natürlich unter betrieben werden muss. Gleichzeitig haben aber die Jün-
dem Problem, das alle Prognosen haben, nämlich dass geren einen Anspruch darauf, dass wir Politiker ihnen die
die zukünftige Entwicklung von niemandem mit absolu- finanziellen Spielräume ermöglichen, private Vorsorge
ter Sicherheit vorhergesagt werden kann. Ich weiß es zu betreiben. Ich bleibe dabei: Der Generationenvertrag
zwar nicht, aber ich unterstelle, dass auch der amtierende und die Solidarität unter den Generationen müssen erhal-
Bundesarbeits- und -sozialminister über keine Glaskugel ten bleiben. Allerdings dürfen die Belastungen, die da-
verfügt, in die er hineinschauen und mit deren Hilfe er raus resultieren, nicht nur einer Generation aufgebürdet
die zukünftige Entwicklung sicher vorhersagen kann. In- werden.
sofern ist es unredlich, hier Prognosen zu kritisieren;
denn jeder weiß, dass Prognosen generell problematisch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
sind.
Der Rentenversicherungsbericht zeigt die Probleme Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
auf, die das System der gesetzlichen Rentenversicherung Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion
hat. Das alles sind keine Neuigkeiten. Wenn wir ehrlich Die Linke.
sind, müssen wir zugeben, dass wir um die Probleme (Beifall bei der LINKEN)
dieses Systems schon lange wissen. Die Deutschen wer-
den – Gott sei Dank – immer älter, beginnen immer spä-
ter, zu arbeiten, und hören immer früher auf. Demzu- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):
folge beziehen die Deutschen immer länger Rente. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Darauf ist das bestehende System nicht ausgerichtet, ge- Jedem hier im Haus ist doch bewusst, dass sich die von
nauso wenig wie darauf, dass in diesem Land immer we- Frau Schewe-Gerigk angesprochene Tageszeitung nicht
niger Kinder geboren werden und dass es demzufolge gerade durch eine immer sachliche und differenzierte
immer weniger Beitragszahler gibt und dass 5 Millionen Berichterstattung auszeichnet. Aber immerhin – Frau
Menschen arbeitslos sind. Genau deswegen brauchen Schewe-Gerigk, das werden doch auch Sie zugeben –
wir – das ist schon angesprochen worden – mehr wirt- sind die Zahlen in diesem Bericht korrekt wiedergege-
schaftliche Dynamik und Beschäftigung sowie mehr ben. Die Kernaussage, dass die Bundesregierung in ih-
Beitragszahler. Die Grundlagen für mehr wirtschaftliche rem aktuellen Rentenversicherungsbericht ihre Renten-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1675
Volker Schneider (Saarbrücken)
(A) prognose deutlich nach unten korrigiert hat, ist ebenfalls Anders gesagt: Hätten wir die prognostizierte Lohnent- (C)
nicht zu beanstanden. wicklung von 22 Prozent plus gehabt, dann könnten
Rentner im Jahr 2009 auch 1 510 Euro Rente erwarten.
(Zuruf der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN)
– Ich komme noch auf die Art und Weise, wie das darge- Aber die Bundesregierung sieht dies alles nicht ganz
stellt worden ist. Gedulden Sie sich doch ein wenig! so tragisch und warnt vor Dramatisierungen. Dabei gibt
sie selbst zu, dass es bis zum Jahr 2010 im Wesentlichen
(Klaus Brandner [SPD]: Sie haben nur fünf Nullrunden geben wird. Damit, wie vorausgesagt, im
Minuten!) Jahr 2011 die Rente endlich einmal wieder um 1,4 Pro-
Im Vergleich zu den Prognosen im Rentenversiche- zent steigen soll, wird eine Steigerung der Bruttolöhne
rungsbericht 1995 kann – so dieses Blatt – ein so ge- um 2 Prozent angenommen. Warum ausgerecht ab die-
nannter Eckrentner beim Renteneinstieg 2009 statt dort sem Jahr die Bruttolöhne wieder so viel stärker steigen
prognostizierter 1 510 Euro nach den aktuellen Schät- sollen, erklärt die Bundesregierung nicht. Sie nennt diese
zungen nur noch eine Rente von 1 180 Euro erwarten. Schätzung ambitioniert.
Das bedeutet – wohlgemerkt, darauf weist diese Zeitung (Heiterkeit bei der LINKEN)
nicht hin –, dass dies nur für zukünftige, nicht aber für
aktuelle Rentenbezieher gilt. Das ist ein Minus von Möglicherweise geht sie davon aus, dass ab 2009 in
330 Euro oder 22 Prozent. Weil dieses Blatt so gerne Deutschland eine Alternative zum Neoliberalismus Re-
versucht, Dinge – selbst auf die Gefahr der Verkürzung gierungsverantwortung übernimmt. Dies würde auch er-
hin – auf den Punkt zu bringen und dafür auch gerne auf klären, warum ausgerechnet im Jahr 2009 erstmals wie-
Slogans oder Schlagworte zurückgreift, liefert es auch der die Renten maßvoll um 0,2 Prozent steigen.
gleich einen eingängigen Begriff für diesen Vorgang,
(Beifall bei der LINKEN)
nämlich den der Schrumpfrente.
Eine Eckrente in Höhe von 1 180 Euro – so lautet die
Die Empörung der Bundesregierung ließ nicht lange
Prognose –, das hört sich gar nicht so schlecht an. Viele
auf sich warten. Von Verunsicherungskampagnen und
werden aber erst gar nicht in den Genuss einer solchen
unsinnigem Vergleich ist die Rede. Auch die Deutsche
Rente kommen. Wie Gregor Gysi ausgeführt hat, heißt
Rentenversicherung zeigt sich empört. Schließlich seien
Eckrente, dass jemand 45 Jahre lang in die Rentenkasse
auch die zugrunde gelegten Bruttoentgelte 22 Prozent
eingezahlt und stets durchschnittlich verdient hat. Der-
hinter der Prognose zurückgeblieben. Auch diese Aus-
zeit trifft das nur auf knapp 40 Prozent der westdeut-
(B) sage deckt sich mit den Zahlen der beiden angesproche- schen Männer und nur auf 3,7 Prozent der westdeut- (D)
nen Berichte. An dieser Stelle lohnt es sich, einen Mo-
schen Frauen zu. Außerdem arbeitet eh kaum jemand
ment innezuhalten und einige einfache Überlegungen
45 Jahre lang. Was die Lebensarbeitszeit angeht, ist die
anzustellen. Dass die Bruttoentgelte hinter den Erwar-
Tendenz insgesamt sinkend.
tungen zurückgeblieben sind, ist nicht die Folge einer
Naturkatastrophe. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Keine Ah-
nung!)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: So ist es!) – Ich empfehle Ihnen einfach einmal, die entsprechen-
den Statistiken zu lesen.
Zum einen ist dies Konsequenz des geänderten Berech-
nungsverfahrens, das ja gerade die Dämpfung des An- Ergo: Künftige Rentner werden häufig mit einer ge-
stiegs zum Ziel hatte, zum anderen ist der ausgebliebene ringeren Rente starten müssen und sie werden sich auch
Anstieg schlicht Ausdruck der völlig verfehlten Politik auf eine Reihe von Nullrunden bis zum Jahr 2030 ein-
der Lohnzurückhaltung, die dazu geführt hat, dass die stellen müssen.
Löhne in unserem Land weit hinter der internationalen
Entwicklung zurückgeblieben sind. (Widerspruch der Abg. Gitta Connemann
[CDU/CSU])
(Beifall bei der LINKEN)
– Ich verstehe Ihre Erregung nicht. Das ist doch Ihr poli-
Ich wiederhole gerne, was unsere Fraktion, insbesondere tischer Wille. Schließlich ist es das erklärte Ziel Ihrer
Oskar Lafontaine, hier mehrfach gesagt hat. Rentenpolitik, das Nettorentenniveau von derzeit 52,7 Pro-
zent auf 43 Prozent im Jahr 2030 zu senken.
(Zuruf von der CDU/CSU: Bitte nicht!)
(Beifall bei der LINKEN)
Während in anderen Industriestaaten in den letzten zehn
Jahren Lohnzuwächse von 20 Prozent und mehr erzielt Wie wollen Sie das anders als mit Nullrunden erreichen?
wurden, sind in Deutschland die Löhne real um 0,9 Pro-
zent zurückgegangen. Die Konsequenz ist schlicht: Wo Abgesehen davon dass eine solche Absenkung zu-
die Lohnabhängigen nicht angemessen am Produktivi- sätzliches Gift für die Binnenkonjunktur sein wird, be-
tätsfortschritt beteiligt werden, erhalten auch die Rentner deutet diese Entwicklung für die zukünftigen Rentnerin-
kein Stück mehr von diesem Kuchen. nen und Rentner eine reale Rentenkürzung und für viele
von ihnen den direkten Weg in die Altersarmut. Für die
(Beifall bei der LINKEN) Zukunft der Renten erwarten wir von der Fraktion Die
1676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Volker Schneider (Saarbrücken)


(A) Linke insoweit keine Erfolgsstory; vielen Betroffenen der Agenda 2010 war in Bezug auf die Alterssicherung (C)
droht schlicht eine Katastrophe. richtig. Deswegen gehen wir ihn auch in der großen Ko-
alition weiter.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Wenn wir die heutigen Rentnerinnen und Rentner und
(Beifall bei der LINKEN)
die zukünftigen nicht im Regen stehen lassen wollen,
wenn wir den solidarischen Generationenvertrag sichern
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wollen, dann müssen wir ihn einerseits um demografi-
Herr Kollege Schneider, das war Ihre erste Rede im sche Faktoren und andererseits um eine steuerfinanzierte
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich Grundsicherung im Alter und um die Förderung privater
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute. Vorsorge sowie durch Betriebsrenten ergänzen.
(Beifall) So wichtig und richtig das Vorziehen einer schrittwei-
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Frak- sen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ist:
tion. Die wahren Aufreger liegen doch eigentlich ganz woan-
ders. Selbst Herr Lafontaine, dem heute keine demagogi-
sche Plattitüde mehr zu peinlich ist, hat, als er noch So-
Rolf Stöckel (SPD): zialdemokrat und Realpolitiker war, die Verlängerung
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Lebensarbeitszeit gefordert. Als er Finanzminister
Meine Damen und Herren! Die Rentendebatten in die- war, hat er allerdings den öffentlichen Dienst zur Be-
sem Land waren im Wesentlichen immer von zwei Hal- scheidenheit aufgefordert. Diese Zeiten sind vorbei.
tungen geprägt: Die Opposition hat versucht, den Rent-
nerinnen und Rentnern Angst zu machen und Panik zu (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist
verbreiten; die Regierungen haben die Situation im wahr! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Sein
Grunde meistens verharmlost oder die eigentlichen Pro- bestimmt das Bewusstsein!)
bleme nicht ansprechen wollen. – Damals habe ich auch noch Bücher von Oskar
(Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lafontaine gelesen.
NEN]: Jetzt macht ihr es andersherum! – (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das hat
Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE sich nie gelohnt!)
GRÜNEN]: Was hat sich denn jetzt geändert?)
Das lohnt sich heute weniger.
Insofern möchte ich hier dem Minister Franz
Müntefering für seine klaren und wahren Ausführungen Mich erstaunt, dass wir anstatt des Aufschreis empör-
(B)
danken. Solche Ausführungen hätten gerade wir Jüngere ter Interessengruppen, die die heutigen Besitzstände ver- (D)
uns in den letzten Jahrzehnten von den politisch Verant- teidigen, nicht die bohrenden Fragen und Proteste derer
wortlichen oft gewünscht. hören, die heute das System tragen und morgen eine ge-
setzliche Rente beziehen werden, die mit jener von heute
Ich will zu den Fakten kommen. Der 2. Armuts- und nicht einmal ansatzweise zu vergleichen ist. Wenn ein
Reichtumsbericht der Bundesregierung weist aus, dass 1968 geborener Arbeitnehmer im Jahr 2035 mit
das relative Armutsrisiko für Lebensältere in Deutsch- 67 Jahren seinen Ruhestand antritt, wird das Nettoren-
land in den letzten Jahren gesunken ist. Rot-Grün hat mit tenniveau angesichts der demografischen Entwicklung
der steuerfinanzierten Grundsicherung für Menschen ab maximal 52 Prozent – bisher sind es 67 Prozent – betra-
dem 65. Lebensjahr die verdeckte und verschämte Al- gen, auch bei vollen 45 Beitragsjahren. Das Problem
tersarmut erfolgreich und nachhaltig abgebaut. Die An- liegt also nicht im Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Es
zahl der Sozialrentnerinnen und Sozialrentner, deren ist klar, dass bei fortlaufend steigender Lebenserwartung
Versicherungsansprüche unterhalb der Existenzsiche- die Lebensarbeitszeit nicht stagnieren kann.
rungsgrenze liegen, hat nicht etwa zu-, sondern kontinu-
ierlich abgenommen. Die durchschnittlichen gesetzli- Der Politik bleiben nur vier Handlungsoptionen: Die
chen Rentenbeträge sind in den letzten Jahren nicht Jüngeren werden noch stärker belastet. Das scheidet aus.
gesunken, sondern sie sind – das gebe ich zu – aufgrund Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal deutlich sa-
der Lohnentwicklung, aber auch aufgrund von Maßnah- gen, Frau Schewe-Gerigk: Für Arbeitnehmerinnen und
men, die getroffen werden mussten, eher stagnierend. Arbeitnehmer sowie für Arbeitgeber steigt der Beitrags-
satz für die Rentenversicherung in 2007 um 0,4 Prozent-
Die kontinuierlich länger werdende durchschnittliche punkte, aber der Beitragssatz für die Arbeitslosenversi-
Rentenbezugsdauer zeigt, dass alle Behauptungen, Ren- cherung sinkt um 1 Prozentpunkt. Das ist eine Senkung
ten würden absolut gekürzt, absurd sind. Die in den der Lohnnebenkosten.
neuen Bundesländern ausgezahlten Rentenbeträge sind
aufgrund der längeren Versicherungszeiten höher als in (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
den alten Bundesländern. Die Kollegin Schmidt wird DIE GRÜNEN]: Das habe ich jetzt auch nicht
darauf gleich noch konkreter eingehen. beanstandet!)
Auch die höhere Beteiligung der Rentnerinnen und Dann könnten die Renten gekürzt werden. Das traut
Rentner an den Gesundheits- und Pflegekosten ist ange- sich aber niemand; ich glaube, auch zu Recht. Deswegen
sichts der Kostenentwicklung und Beitragsbelastungen gibt es trotz der sinkenden Nettoeinkommen keine Ren-
maßvoll und gerecht. Der Weg der Regierung Schröder tensenkung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1677
Rolf Stöckel
(A) Die Lebensarbeitszeit wird schrittweise verlängert. Gitta Connemann (CDU/CSU): (C)
Das ist die Option, die wir wählen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum
ein Thema ist so angstbeladen wie die Rente. Denn die
Wir könnten auch den staatlichen Zuschuss – heute Mehrheit der Deutschen sorgt sich um die Alterssiche-
78 Milliarden Euro, jährliche Steigerungsrate 6 Prozent – rung. Es gibt eine aktuelle Emnid-Umfrage, die besagt,
weiter erhöhen. Dafür ist kein Geld da. dass mehr als 50 Prozent der Deutschen ihr Leben im
Genau die 30- und 40-Jährigen sind es, die überwie- Alter mit Sorge sehen, und zwar egal ob sie alt oder jung
gend nur noch in befristeten Arbeitsverhältnissen unter- sind. Zum Wesen der Angst gehört, dass sie nicht immer
kommen und immer weniger Kinder haben. Sie sind an- auf Fakten beruht – wie auch hier.
gesichts der Erfahrungen mit der Politik im letzten Viele fürchten die Altersarmut. Keine Frage, es gibt
Jahrhundert bestenfalls desillusioniert. Dass sie keine Altersarmut in Deutschland, so bei Rentnerinnen im
Kinder bekommen wollen, hat auch mit einer tief grei- Westen mit einer Durchschnittsrente von 480 Euro. Fakt
fenden sozialen Verunsicherung zu tun, der wir gemein- ist aber auch, dass das Versorgungsniveau der meisten
sam entgegentreten müssen. Rentner noch nie so hoch war wie heute.
Gerade betriebliche Renten könnten dem Anspruch (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
neuer Flexibilität und unterbrochenen Arbeitsbiografien Sehr richtig!)
von Arbeitnehmern Rechnung tragen. Die Ansprüche
dürfen auch bei häufigem Betriebswechsel möglichst So verfügt ein Durchschnittsehepaar über 2 159 Euro
nicht mehr verfallen. Gleichermaßen wichtig erscheint netto monatlich.
eine Fortführung der Sozialversicherungsfreiheit für die In diesem Land sind vor allem jüngere Menschen
betriebliche Altersvorsorge, über die wir im Jahr 2008 arm: allein erziehende Frauen und schlecht ausgebildete
zu entscheiden haben. Wir müssten den Kreis der förder- Jugendliche. Hier wäre es an der Politik, aufzuklären
berechtigten Personen bei der privaten Altersvorsorge, und Lösungen aufzuzeigen. Das könnte auch in einer
bei der Riesterrente, deutlich ausweiten. Wir müssen uns Debatte wie heute erfolgen.
überlegen, ob wir obligatorische Komponenten ein-
bauen. Man muss im Grunde bereits als Schüler und Stu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann machen
dent anfangen, Altersvorsorge zu betreiben. Sie doch mal!)
Aber einmal mehr missbrauchen Sie, die Vertreter der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Linken, dieses Instrument. Ich erlebe inzwischen in jeder
Aktuellen Stunde, dass Sie nicht informieren wollen,
Herr Kollege Stöckel, ich muss Sie an Ihre Redezeit
(B) erinnern. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (D)
sondern dass es Ihnen immer darum geht, zu polarisie-
Rolf Stöckel (SPD): ren.
Ja, ich komme zum Schluss; ich kürze meine Rede ab. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Leider stehen Sie damit nicht allein, sondern befinden
Nein, Sie müssen zum Schluss kommen. Es reicht sich inzwischen in einer sehr unheilvollen Allianz mit
nicht, die Rede abzukürzen. anderen Oppositionsvertretern. Da werden Tiraden abge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er verlängert sie lassen, statt Sachlichkeit an den Tag zu legen. Dabei
gerade!) handelt es sich um ein Thema, das die ernsthafteste De-
batte verdient,
Rolf Stöckel (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU)
Angesichts der Herausforderungen, die der Rentenbe- nicht nur, weil es die Menschen bewegt, sondern auch,
richt der Bundesregierung aufzeigt, gibt es keinen Grund weil wir wissen, dass es bezüglich der Rente erhebliche
zur Panikmache. Aber es ist Zeit, zu handeln. Die Maß- Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Sie werden
nahmen geben uns eine solide Basis und einen ausrei- von dieser Bundesregierung aufgezeigt, und zwar ehr-
chenden Zeitkorridor, um die Weichen für eine gute, ge- lich und schonungslos.
rechte und nachhaltige Alterssicherung zu stellen.
Die Probleme haben viele Ursachen: die demografi-
Herzlichen Dank. sche Entwicklung in unserem Land, die leider immer
noch viel zu hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre; schließ-
der CDU/CSU) lich sind die Alterseinkommen an die Arbeitsentgelte ge-
koppelt. Es gab sicherlich auch politische Versäumnisse.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich persönlich halte es für einen Fehler, dass 1998 der
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/ demografische Faktor abgeschafft wurde, denn gerade
CSU-Fraktion. durch ihn sollte die sich verändernde Altersstruktur auf-
gefangen werden. All dies führt dazu, dass es keine
(Beifall bei der CDU/CSU) Rentenerhöhungen geben wird. Mithilfe des von der
1678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Gitta Connemann
(A) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs werden Wohl zukünftiger Generationen. Wir sind jetzt verant- (C)
wir aber auch Rentenkürzungen vermeiden. Im Übrigen wortlich für das, was in Zukunft passiert.
lässt sich an diesen ernüchternden Zahlen kurzfristig
Alle Beteiligten haben ein legitimes Interesse an einer
nichts ändern. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt den
sicheren Rente, seien es die Frauen und Männer, die un-
Weg aufzeigen, wie man die Probleme bewältigt.
ser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut
Die Probleme lassen sich nicht durch schrille Vertei- haben, seien es die jungen Familien von heute. Deshalb
lungsdebatten lösen, wie Sie, die Vertreter der Linken, legen wir ein Konzept vor, das die Lasten gleichmäßig
sie hier anzetteln. Sie handeln doch nach dem Prinzip verteilt: auf Rentner, Beitragszahler und Steuerzahler.
„Nach mir die Sintflut“. Es wird aber keine zweite Arche Gerade die Rente mit 67 ist ein Muster für ein solches
Noah geben, die uns rettet. Keine Hilfe kommt von Langfristprojekt; denn es geht um ein Gesetz, das end-
Volksvertretern, die dann, wenn sie Verantwortung über- gültig ab 2029 wirkt. Wir haben zweieinhalb Jahrzehnte
nehmen könnten, nicht bereit sind, diese zu übernehmen. Zeit, uns zu ändern. Das sollte reichen.
Ich denke nur an den ehemaligen Bundesfinanzminister, Dazu gehört aber auch, das finanzielle Risiko im Al-
der die Brocken hinwarf, als er hätte handeln können. ter durch ein Mischsystem aus gesetzlicher, betrieblicher
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und privater Vorsorge abzusichern. Wir werden diesen
neten der SPD) Weg gehen. Der beste Weg, die Zukunft vorauszusehen,
ist, sie zu gestalten. Lassen Sie uns an dieser Stelle an-
Sie haben lange genug Blankoschecks verteilt. Ich erin- stelle von Ängsten Vorausdenken und Voraushandeln
nere nur an die Rentner in der ehemaligen DDR. Deren setzen.
Absicherung wurde sträflich vernachlässigt, da keinerlei
Rücklagen angelegt wurden. Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
neten der SPD)
Ohne Wachstum werden wir alle diese Probleme nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
lösen können. Das betrifft auch schon die derzeitigen Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Frak-
Rentner, denn sie werden nur mehr bekommen, wenn tion.
viele Menschen Arbeit haben, die Löhne steigen und die
Wirtschaft wächst. Dieses Szenario ist nicht ausge- (Beifall bei der SPD)
schlossen, aber es ist zurzeit auch nicht sehr realistisch.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
(B) Das ist die Wahrheit. Zur Wahrheit gehört aber auch, (D)
dass in einer alternden Gesellschaft länger gearbeitet Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
werden muss. Sehr geehrte Kollegin Connemann, ich möchte zunächst
grundsätzlich Ihrer Aussage zustimmen,
Wahrheit kann übrigens manchmal wehtun, das gilt
auch für Sie, meine Damen und Herren von der FDP. Sie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das müsst ihr
schüren die Ängste vor der Rente mit 67. Westerwelle jetzt, ihr seid Koalitionäre! – Gegenruf der
und Lafontaine, das ist für mich eine seltsame Koalition. Abg. Elke Ferner [SPD]: Nur kein Neid!)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie das dass die Situation der Rentnerinnen und Rentner in der
einmal den Leuten, die mit 50 keinen Arbeits- ehemaligen DDR unter dem Gesichtspunkt der Absiche-
platz haben!) rung einfach unerträglich geworden wäre.
Ich möchte als Ostdeutsche noch auf einige wesentli-
Aber wo sind Ihre Rezepte oder auch die Rezepte der
che Punkte eingehen. Als Abgeordnete aus Sachsen-An-
Grünen? Ich höre immer nur ein Nein. Sie propagieren
halt kennt man natürlich die Rentensituation in den
immer höhere Renten bei immer kürzerer Lebensarbeits-
neuen Bundesländern sehr gut. Eigentlich müsste sie al-
zeit und sinkenden Beiträgen. Das kann nicht funktionie-
len bekannt sein. Die Abgeordneten der ehemaligen PDS
ren.
müssten das am besten wissen.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wieso ehemalig? –
NEN]: Was erfinden Sie denn da?) Zuruf von der CDU/CSU: SED!)
Wer die Wahrheit nicht kennt, der ist ignorant. Wer Ich möchte die Zahlen trotzdem wiederholen. Es sind
die Wahrheit aber bewusst leugnet, der macht sich schul- ehrliche Zahlen, die nicht einfach aus dem Hut gezaubert
dig. worden sind. Das sollte festgestellt und vor allen Dingen
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. anerkannt werden.
Kolb [FDP]: Sie sind heute gnadenlos in Ihrem Bereits 1992 betrug der West-Ost-Transfer in der
Urteil, Frau Connemann!) Rentenversicherung 2,3 Milliarden Euro; 2004 waren es
schon 13,1 Milliarden Euro. 123 Milliarden Euro sind
Die Menschen in diesem Land wissen – anders als Sie –,
von der Rentenversicherung seit der Wiedervereinigung
dass etwas geschehen muss. Wir haben den Mut, es ih-
bis Ende 2004 in die neuen Länder geflossen.
nen zu sagen. Wir stellen uns dem Problem zum Wohl
der Rentner, zum Wohl der Beitragszahler und zum (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1679
Silvia Schmidt (Eisleben)
(A) Der Rentenversicherungsbericht 2005 macht deutlich, die Grundsicherung im Alter eingeführt; das wurde hier (C)
dass die durchschnittliche gesetzliche Rente in den schon thematisiert. Damit soll Altersarmut verhindert
neuen Ländern mit 1 018 Euro bei Männern deutlich werden.
über der vergleichbaren Westrente liegt, die nur
973 Euro beträgt. Bei den Frauen ist die Differenz we- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gen der unterschiedlichen Erwerbsbiografie sogar noch In den alten Ländern – auch das ist vielleicht wichtig
größer: In den neuen Ländern liegt die Rente durch- zu wissen – beziehen 270 000 Menschen im Alter von
schnittlich bei 659 Euro, in den alten Bundesländern bei über 65 Jahren die Grundsicherung, in den neuen Län-
479 Euro. dern sind es nur 25 000. Das sind gerade 8 Prozent, ob-
Selbstverständlich kann jetzt eingewandt werden, wohl der Bevölkerungsanteil in den neuen Ländern
dass es in den alten Ländern zusätzlich Betriebsrenten 18 Prozent beträgt.
gibt. Die gab es in der DDR nicht. Dort gab es seit 1972 Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch Ar-
die freiwillige Zusatzversicherung, in die diejenigen ein- beitslosengeld-II-Empfänger können und sollten eine
zahlen konnten, die mindestens 600 Mark verdienten. Riester-Rente abschließen. Die Riester-Rente gewährt
Leider war auch mir das nicht vergönnt; denn Kranken- jenen Menschen, die sich ansonsten keine zusätzliche
schwestern, Pflegedienste usw. haben nicht so viel ver- kapitalgedeckte Rente leisten könnten und eine solche
dient. steuerlich nicht verwerten können, eine zusätzliche Al-
Die gesetzliche Rente in den neuen Ländern ist nicht tersvorsorge. 504 Euro im Jahr bekommt zum Beispiel
nur wegen der Erwerbsbiografie höher. Vielmehr ist die eine Arbeitslosengeld II beziehende Familie mit zwei
Rente bereits hochgerechnet worden. Auch dazu eine Kindern. Der Sockelbetrag beträgt 60 Euro im Jahr. Das
klare Zahlenaussage: Wer 1976 in der DDR 500 Mark sind 5 Euro im Monat. Die Gesamtsparleistung beträgt
brutto verdient hat, wird rentenrechtlich so behandelt, als somit 564 Euro im Jahr.
hätte er 1 367 Mark verdient. 500 Mark brutto im Jahr
1984 in der DDR werden rentenrechtlich wie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
1 644 Mark behandelt. Das kann jeder Einzelne bitte im Frau Kollegin, auch Sie muss ich an Ihre Redezeit er-
SGB VI in der Anlage 10 nachlesen. innern.
Darüber hinaus hat man in den neuen Ländern mitt-
lerweile einen Rentenwert von 88,1 Prozent erreicht. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
1990 lag er bei nur 40,3 Prozent. Ich könnte jetzt noch auf viele andere Punkte einge-
hen.
(B) Ich sage hiermit nicht, dass jemand aus den neuen (D)
Ländern vor Dank auf die Knie fallen muss; aber es ist
doch eine beeindruckende solidarische Anstrengung und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Leistung der gesamten Bundesrepublik, die Anerken- Nein, das können Sie nicht, da Ihre Redezeit schon
nung und Dank verdient, meine Damen und Herren. überschritten ist.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)
In meinem Wahlkreis Mansfelder Land gibt es auch
für die Rentenempfänger Licht- und Schattenseiten. Be- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
reits 30 Prozent der Bevölkerung sind dort über 60 Jahre Wir haben ein Zukunftsrepertoire. Das sollte man sich
alt; so viel als Anmerkung zur Demografie. Wir haben durchaus einmal genau anschauen. Dann weiß man, dass
im Mansfelder Land viele ehemalige Bergleute und Hüt- die Renten im Osten gesichert sind. Man sollte also
tenarbeiter, die eine Knappschaftsrente von 1 600 Euro keine Ängste schüren.
beziehen. Wenn in diesen Fällen auch noch die Frau be- Ich danke Ihnen.
rufstätig war – man muss sich einmal vergegenwärtigen,
dass die Frauenerwerbsquote in der DDR höher war –, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
kann eine solche Familie auf ein Haushaltseinkommen
von 2 250 Euro kommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Auch hat sich – das möchte ich betonen – die Lebens- Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz,
erwartung in den neuen Ländern nach der Wiederverei- CDU/CSU-Fraktion.
nigung deutlich erhöht. Zum Zeitpunkt der Vereinigung
(Beifall bei der CDU/CSU)
lag sie noch zweieinhalb Jahre unter dem Durchschnitt
der alten Länder; jetzt ist sie fast angeglichen. Damit
– das sage ich gerade in Richtung der PDS-Abgeordne- Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
ten oder der Linken, wie auch immer – erhöht sich auch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
die Rentenbezugsdauer. Herren! Die PDS scheint es sich zum Ziel gesetzt zu ha-
ben, in jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde mit
Wie gesagt, die Renten in den neuen Ländern sind möglichst populistischem Inhalt zu platzieren –
noch höher. Aber das wird sich natürlich verändern. Ge-
brochene Erwerbsbiografien gibt es auch in den alten (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist ja
Bundesländern, nicht nur im Osten. Darum hat Rot-Grün logisch, wir sind ja auch Opposition!)
1680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Marco Wanderwitz
(A) neben den demagogischen Ausfällen von Ihnen, Herr unter dem Buchstaben F von feministischer Frauenar- (C)
Lafontaine, in den Tagen dazwischen, versteht sich. beitsgemeinschaft bis AG Frieden und Sicherheitspolitik
alles finden, nur zum Thema Familie findet sich nichts.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der SPD) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Aha! Jetzt
kommt es heraus!)
Ich habe in der Aktuellen Stunde vor genau einem
Monat, also am 9. Februar, zum gleichen Themenkom- Unter Buchstabe K ist von „Karl-Liebknecht-Haus“ bis
plex gesagt, Ihnen, der Linken, gehe es nicht darum, sich „Kontakt“ alles zu finden, aber zum Thema Kinder
an der wichtigen und seit Jahrzehnten überfälligen De- nichts.
batte zu beteiligen, In dem Programm der PDS ist unter „Reformalterna-
(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE tiven“ von „1. Demokratie“ bis „8. Ostdeutschland“ al-
LINKE]) les zu finden, nur nichts zu Kindern und Familien. Wenn
man sich Ihre Reformalternativen genauer anschaut, ent-
wie unsere sozialen Sicherungssysteme reformiert wer- deckt man zehn Punkte, in denen beschrieben wird, was
den könnten; Sie wollten vielmehr den sozialen Unfrie- sozialistische Politik bedeutet. Aber man findet nichts zu
den schüren. Kindern und Familien.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) Wie wir alle haben auch Sie Ihre Fraktion in Arbeits-
Diesen Vorwurf kann ich heute leider nur wiederholen kreise organisiert. Aber keiner Ihrer Arbeitskreisspre-
und will ihn konkret belegen. Das tue ich weniger für Sie cher ist – zumindest ausweislich Ihrer Homepage – für
als für unsere Zuhörer auf der Tribüne und für die Men- Kinder und Familien verantwortlich.
schen draußen im Land. (Rolf Stöckel [SPD]: Dafür haben die keine
Die Zukunft der Rente ist ein wichtiges Thema, viel Zeit!)
zu wichtig, um damit politisch Schindluder zu treiben. Der letzte Punkt. Auch Sie haben Mitglieder im Aus-
(Widerspruch bei der LINKEN) schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Einer
davon nennt sich familienpolitischer Sprecher. Ich habe
– Hören Sie einmal zumindest eine Minute zu! – Die Ge- mir angeschaut, ob es von ihm schon Initiativen gibt.
sellschaft in unserem Land ist überaltert oder besser: Sie
ist unterjüngt. Der Altersquotient, das Verhältnis von ar- (Zuruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE
beitsfähigen Jüngeren zu Älteren im Rentenalter, die auf LINKE])
Transferleistungen angewiesen sind, entwickelt sich seit – Das tut weh; das ist mir klar. – Aber Initiativen liegen
(B) Beginn der 70er-Jahre ungünstig, weil seitdem zu wenig (D)
noch nicht vor. Genau das ist Ihr Problem: Sie haben
Kinder geboren werden. Unsere sozialen Sicherungssys- keine Rezepte, Sie äußern nur Kritik gegenüber anderen.
teme in Form des umlagefinanzierten Generationenver-
trages ohne individuelle Kapitalbildung sind dem nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gewachsen. Es stehen schlicht zu wenige Junge zu vielen Sie haben die Familie und die demografische Situation
Älteren gegenüber. Die Umlagemasse ist endlich. offensichtlich noch nicht als Politikfeld erkannt, zumin-
Diese Geburtenlücke können wir nachträglich nicht dest nicht als eines zum Gestalten. Sie wollen die Men-
mehr schließen. Wir müssen also den gerechten Lasten- schen in einer Gesellschaft, die sich demografisch
ausgleich zwischen den Generationen unter diesen Be- wandelt und die noch dazu in den Stürmen der Globali-
dingungen neu finden. Die wenigen Jungen werden sierung steht, verunsichern. Sie wollen in einem Moment
mehr für die Älteren leisten müssen als die Generationen spalten, in dem die Generationen in einem Land zusam-
vor ihnen. Dazu sind die jungen Menschen in unserem menstehen müssten.
Land mehrheitlich bereit. Auch die übergroße Mehrheit (Zuruf von der LINKEN: Sie sollten einmal
der Älteren hat Verständnis für die Notwendigkeit ihrer sagen, wie viele Kinder Sie haben!)
stärkeren Beteiligung, also dafür, dass die Jüngeren nicht
übermäßig belastet werden können. Die jungen Men- – Auch diese Frage kann ich Ihnen gern beantworten.
schen haben zumindest noch nicht zu wenige Kinder be- Mehr tun für die Zukunft unseres Landes, für Kinder
kommen. und Familien heißt, das Institut der Ehe zu stärken,
Das Gebot der Stunde für die Politik, für uns, muss es (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ein
also sein, alles dafür zu tun, dass zumindest künftig wie- Unsinn!)
der mehr Kinder in unserem Land geboren werden.
anstatt anderweitige Formen des Zusammenlebens zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie privilegieren, die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf
bei Abgeordneten der FDP) zu stärken, ohne die Wahlfreiheit und damit die Ent-
Hat aber die PDS Rezepte dafür, dass mehr für Kinder scheidung für die Betreuung im Elternhaus zu unterbin-
und Familien getan wird? Ich habe bisher noch nichts den, mehr in Bildung und Forschung zu investieren,
davon gehört. Sie kritisieren nur die Vorschläge anderer. Kindererziehungszeiten bei der Rente verstärkt zu be-
rücksichtigen und damit den vergesellschafteten Kinder-
Ich habe mir einmal Ihre Internetseite angeschaut. nutzen wieder zu individualisieren sowie konsumtive
Unter der Überschrift „Stichworte von A-Z“ kann man Ausgaben nicht über Schulden zu finanzieren, da das die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1681
Marco Wanderwitz
(A) Steuern von morgen sind, die die Generationen von mor- Über 5 Millionen Menschen nehmen sie in Anspruch. (C)
gen bezahlen müssen.
Herr Lafontaine hat vor ein paar Tagen auf einer
Die Koalition ist auf dem Weg. Die Bundesregierung Aschermittwochveranstaltung behauptet, die Bundesre-
wird der Verantwortung für unser Land gerecht, ob Ih- gierung habe die Menschen mit der Riesterrente belogen
nen das passt oder nicht. und betrogen. Herr Lafontaine, ganz abgesehen davon,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – La- dass dies natürlich die Unwahrheit ist, profitieren gerade
chen bei der LINKEN – Zurufe von der LIN- diejenigen Menschen von dieser Vorsorgemöglichkeit,
KEN: Das war ein humoristischer Beitrag! – für die Sie sich angeblich stark machen wollen: Arbeits-
So ein Quatsch!) lose, Geringverdiener, Familien und Frauen.
(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Erklären Sie
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mal die Beitragssatzstabilität!)
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-
Fraktion. Sie erhalten bei der Riester-Rente proportional zum ein-
gezahlten Betrag die höchsten staatlichen Zuschüsse. Ich
nenne einmal ein Beispiel: Mit dem Einsatz von nur
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): 5 Euro im Monat kann eine Familie im Arbeitslosen-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nie- geldbezug mit drei Kindern heute eine Förderung von
mand weiß, was in 20, 30 oder 50 Jahren sein wird. Des- 520 Euro im Jahr erzielen.
halb lassen sich gerade mit dem Thema Rente sehr leicht
Existenzängste schüren. Wen wundert es, dass ausge- Wir werden an dieser Stelle noch mehr machen, die
rechnet die Linkspartei Seit’ an Seit’ mit der „Bild“-Zei- Riester-Rente noch attraktiver ausgestalten und die Kin-
tung dieses Thema für sich entdeckt hat. Nach dem derzulage erhöhen. Ab 2008 würde meine Beispielfami-
Motto „Immer kräftig drauf“ wird die Stimmung im lie dann 1 054 Euro im Jahr erhalten, und das – ich wie-
Lande angeheizt. derhole es – mit einem Einsatz von nur 5 Euro im
Monat.
Davon wird die Rente allerdings kein Stück sicherer.
Was wir brauchen, sind die richtigen Rahmenbedingun- Trotz allem gibt es noch viele Menschen, die die Vor-
gen. Gemeinsam mit den Grünen haben wir in den letz- teile der Riester-Rente nicht kennen oder diesbezüglich
ten beiden Legislaturperioden begonnen, die notwendi- Vorbehalte haben. Deshalb ist es ganz wichtig, zu infor-
gen Pflöcke für die Sicherung des solidarischen mieren. Die Bundesregierung wird deshalb unter ande-
Rentensystems einzuschlagen. In der großen Koalition rem „Fit-in-Altersvorsorge“-Kurse an Volkshochschu- (D)
(B) werden wir diesen Weg fortsetzen. Wir werden nicht nur
len unterstützen. Ich empfehle Ihnen, Herr Lafontaine:
die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt zum Beispiel Nehmen Sie diese Angebote wahr! Gehen Sie zu den
durch das 25-Milliarden-Euro-Wachstumspaket verbes- Volkshochschulen und lernen Sie etwas, damit Sie zu-
sern, sondern auch das Rentensystem selbst zukunftsfes- künftig an dieser Stelle nicht mehr so viel Unwahres ver-
ter machen.
breiten müssen!
Die Zeitungen schreiben heute, die große Koalition
wage mit den vorgelegten Altersvorsorgeberichten eine (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der
neue Ehrlichkeit. Dazu gehört erstens die schrittweise CDU/CSU)
Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 bis zum Jahr Werfen wir einen Blick auf die Betriebsrenten! Bis
2029. Selbstverständlich wird dies mit einer breit ange- Ende 2001 stagnierten ihre Zahlen. Dann folgte ein re-
legten Beschäftigungsoffensive für ältere Arbeitnehme- gelrechter Boom. Knapp 16 Millionen Menschen haben
rinnen und Arbeitnehmer flankiert, solange die Chancen inzwischen Betriebsrentenansprüche; das sind rund
für sie am Arbeitsmarkt dermaßen unbefriedigend sind.
60 Prozent aller Beschäftigten. Diese positive Entwick-
Beide Maßnahmen gehören zusammen; so ist das im Ko-
lung ist auf unsere Reformen zurückzuführen. Betriebs-
alitionsvertrag festgeschrieben.
renten in Deutschland sind nämlich keine reinen Good-
Zu der neuen Ehrlichkeit, von der wir in den Medien willangelegenheiten der Arbeitgeber mehr. Wir haben
lesen, gehört zweitens, dass wir den Menschen sagen, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein weit rei-
dass sie selbst vorsorgen müssen, wenn sie ihren Le- chendes Recht auf Betriebsrente geschaffen und durch
bensstandard im Alter halten wollen. Der Begriff der Steuer- und Abgabenfreiheit die richtigen Anschubreize
neuen Ehrlichkeit ist an dieser Stelle allerdings nicht gesetzt.
ganz zutreffend; denn bereits unser damaliger Rentenmi-
nister Walter Riester hat die staatlich geförderte private Wir schaffen die notwendigen volkswirtschaftlichen
Altersvorsorge eingeführt. Sein Name ist mit ihr un- Rahmenbedingungen. Wir machen die gesetzliche Rente
trennbar verbunden. Seit 2001 gibt es die zusätzliche ka- zukunftsfest und fördern die private und betriebliche Al-
pitalgedeckte Altersvorsorge, quasi den „Walter fürs Al- tersvorsorge. Sie sehen: Wo andere auf „Bild“-Zeitungs-
ter“. niveau schrumpfen, handelt die Koalition.
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
[FDP]: Der Aschermittwoch ist doch schon Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ist das jetzt
vorbei!) ein Angriff auf die „Bild“-Zeitung?)
1682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schließlich werden Sie bei einer Grundrente ankom- (C)
Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die men, deren Höhe mit der heutigen Beitragsbezogenheit
Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion. überhaupt nichts mehr zu tun hat und bei der die Eigen-
tumsgarantie – darauf bezieht sich ja die geltende Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts – im Prinzip
Elke Ferner (SPD):
auch nicht mehr gewährleistet würde. Auch das führt si-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolle- cherlich zu einem hohen Verunsicherungspotenzial,
ginnen! Die Überschrift dieser Aktuellen Stunde lautet: zwar weniger für diejenigen, die heute Rente beziehen,
„Die Zukunft der Rente“. Daher macht es Sinn, in die dafür umso mehr für diejenigen, die heute arbeiten und
Papiere hineinzuschauen, mit denen die Oppositionspar- in Zukunft Rente beziehen werden.
teien in den Wahlkampf gezogen sind. Der Kollege Gysi
hat ja zu Beginn einige wunderschöne Sätze vorgetra- Die FDP hat in ihrem Wahlprogramm gefordert, den
gen. Er hat in diesem Zusammenhang aber nicht erläu- Beitragssatz bei 19 Prozent festzuschreiben. Nun be-
tert, wie er die Berechnung der Wertschöpfungsabgabe klagte Herr Kolb gerade, dass es keine Rentenanpassung
vornehmen will. Aber im Wahlprogramm der PDS steht geben wird. Was würde passieren, wenn wir im Jahr
auch, dass Sie eine Grundrente in Höhe von 800 Euro für 2007 Ihrer Forderung nachkämen und den Rentenversi-
alle einführen möchten, und zwar unabhängig von der cherungsbeitrag auf 19 Prozent festsetzten?
Erwerbsbiografie. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was würde denn
Ich habe mir die Mühe gemacht und nachgeschaut, passieren?)
wie viele Entgeltpunkte ich heute brauche, wenn ich eine Der Rentenversicherungskasse würden 9 Milliarden
Rente von 800 Euro erhalten will. Das sind 30,6 Ent- Euro fehlen.
geltpunkte. Nach dem, was der Kollege Gysi gesagt hat,
bedeutet das, dass ich 30,6 Jahre Einkommen im Durch- Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine Möglich-
schnitt aller Versicherten bekommen haben muss, um keit ist, die Auszahlung um diesen Betrag zu kürzen,
800 Euro Rente – nach heutigem Rentenwert – zu erhal- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oder?)
ten. Das heutige Durchschnittseinkommen beträgt
2 500 Euro. Was Sie in Ihrem Wahlprogramm vorschla- was über den Daumen gepeilt eine Rentenkürzung um
gen, würde bedeuten, dass eine Kassiererin, die nach 5 Prozent ausmachen würde.
dem von der Gewerkschaft Verdi ausgehandelten Tarif- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: War da das
vertrag im sechsten Berufsjahr noch nicht einmal Wörtchen „langfristig“ dabei?)
2 000 Euro brutto im Monat verdient, 38 Jahre Vollzeit
(B) arbeiten muss, um eine Rente in gleicher Höhe, Bei einer Rente von 1 000 Euro wären das 50 Euro im (D)
800 Euro im Monat, zu bekommen. Monat bzw. 600 Euro im Jahr. Dazu sage ich: Herzlichen
Glückwunsch! Das, was wir gleich debattieren, nämlich
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Deshalb die Festschreibung des Rentenwertes – es gibt keine
fordern wir einen Mindestlohn, Frau Kolle- Rentenkürzung –,
gin!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Demago-
– Ich glaube nicht, dass ein Bruttoeinkommen von gie!)
1 986 Euro unterhalb des Mindestlohns anzusiedeln ist.
Das ergibt sich immerhin aus dem Verdi-Tarifvertrag. ist immer noch besser als das, was Sie als FDP vorge-
schlagen haben. Sie betonen ja immer, dass Sie den
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grundsatz ernst nehmen, nach der Wahl zu tun, wovon
CDU/CSU) Sie vor der Wahl gesprochen haben. Das wäre also eine
Rentenkürzung.
Insofern ist auch da ein bisschen Nachrechnen gefordert.
(Dirk Niebel [FDP]: Und was ist mit der
Wenn die neue soziale Gerechtigkeit darin bestehen Mehrwertsteuer?)
soll, dass jemand, egal wie lange er gearbeitet hat und
wie viel er verdient hat, die gleiche Rente erhält wie eine Die zweite Möglichkeit ist die Erhöhung der Einnah-
Kassiererin, die sich jeden Tag, sechs Tage in der Wo- men der Rentenversicherung über den Bundeszuschuss.
che, an ihre Kasse stellt und 38 Jahre für diese Rente ar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oder wir schaf-
beiten muss, muss ich sagen: Herzlichen Glückwunsch! fen Rahmenbedingungen, die zu höheren Ein-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nahmen führen!)
der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Da frage ich mich natürlich: Wie wollen Sie das finan-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) zieren?
Die Leute werden schon beurteilen können, ob das sozial (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie vergessen,
gerecht ist oder ob das nicht sozial gerecht ist. dass man auch die Wirtschaft dazu bringen
kann, dass sie wächst, und so mehr gezahlt
Ferner wollen Sie letztendlich die Beitragsbemes-
wird!)
sungsgrenze aufheben, ohne dass damit auch entspre-
chende Rentenansprüche verbunden sind. Sie heben das Das entspricht in etwa einem Mehrwertsteuersatzpunkt.
Beitragsäquivalenzprinzip von unten und von oben auf. In dieser Sache ist mehr Ehrlichkeit angesagt, Herr Kolb.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1683
Elke Ferner
(A) Ihre aufgeregten Zwischenrufe machen deutlich, dass gehört, entweder privat oder über die betriebliche Alters- (C)
ich den richtigen Nerv getroffen habe. vorsorge.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Herausforderungen sind in der Aktuellen Stunde
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: deutlich geworden. Es geht darum, die Kosten, die durch
Nein, überhaupt nicht! Wenn Sie zugehört hät- die längere Lebenserwartung entstehen, gerecht auf die
ten, würden Sie so etwas nicht sagen!) Generationen zu verteilen. Wir alle können uns über die
höhere Lebenserwartung freuen. Manchmal mag man
Wir brauchen in Zukunft – das wissen die jüngeren
die Zahl bei einer Geburtstagsfeier nicht so gern wahrha-
Generationen – neben der gesetzlichen Rentenversiche-
ben, aber zunächst einmal ist das Älterwerden schön. Für
rung mehr betriebliche und private Altersvorsorge. Der
die Rentenversicherung hat es jedoch zur Folge, dass die
Umfang der betrieblichen Altersvorsorge ist deutlich ge-
Rentenbezugsdauer länger wird. Im Vergleich zu den
stiegen und wird durch die getroffenen Maßnahmen bei
60er-Jahren wird durchschnittlich sieben Jahre länger
einem Betriebswechsel besser ausgestaltet.
Rente bezogen. Das ist eine finanzielle Herausforderung.
Ich glaube, wir haben uns wenig vorzuwerfen, zumal Das ist aber auch eine Bewährungsprobe für den
Sie am Rentenversicherungsbericht 1995 nicht unmaß- Generationenvertrag; denn die ältere Generation soll
geblich beteiligt gewesen sind. die Gewissheit haben, dass die jüngere Generation für
sie sorgt. Schließlich hat sie durch die Schaffung der In-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
frastrukturen in Schulen und Hochschulen die Zukunft-
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
schancen für die jüngere Generation aufgebaut. Ich
Schwachsinn!)
glaube, daran muss man erinnern, wenn man dafür sor-
gen möchte, dass der Generationenvertrag aufrechterhal-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten bleibt.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir müssen über den demografischen Wandel spre-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den chen. Es ist bereits gesagt worden, dass die Zahl der älte-
Zusatzpunkt 6 auf: ren Menschen wächst. Jüngere kommen leider nicht
5 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- mehr so zahlreich nach, wie das in den 60er-Jahren der
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fall war. Damals hat eine Frau im Durchschnitt zwei
Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab Kindern das Leben geschenkt. Heute sind es nur
1. Juli 2006 1,3 Kinder. Es ist deswegen gut, dass diese Koalition in
die Zukunft von Familien investiert, und zwar mit dem
– Drucksache 16/794 – Ausbau des Angebots von Ganztagsbetreuung in den
(B) (D)
Überweisungsvorschlag: Schulen, mit Kinderkrippenplätzen und mit weiteren Er-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) leichterungen, um die Vereinbarkeit von Familie und Be-
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ruf zu ermöglichen. Das ist der richtige Weg.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Ausschuss für Gesundheit
CDU/CSU)
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Katja Die aktuelle Beschäftigungssituation ist ebenfalls
Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion eine Herausforderung, weil es darum geht, mit den er-
der LINKEN heblichen Beitragsausfällen in unseren sozialen Siche-
rungssystemen fertig zu werden. Es ist daher gut, in die
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage Zukunft zu investieren, wie es mit den 25 Milliarden
für die Rentenanpassung herausnehmen Euro geplant ist, die in Verkehr, also in Straße und
– Drucksache 16/826 – Schiene, in Wissenschaft, in Forschung und Entwick-
lung und ganz konkret in Arbeit, nämlich durch Steuer-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales erleichterungen bei der Modernisierung von Eigentums-
wohnungen und Häusern und bei den persönlichen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Bedingungen zu Hause, investiert werden sollen.
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Diese Herausforderungen gilt es anzunehmen. Es gilt,
in einem ausgewogenen Verhältnis dafür zu sorgen, dass
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- Jung und Alt zusammenbleiben, dass die Rentnerinnen
mentarische Staatssekretär Franz Thönnes. und Rentner sowie die Beitragszahlerinnen und Bei-
tragszahler ihren Beitrag leisten, und dass auch die Steu-
Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- erzahlerinnen und Steuerzahler hier gemeinsam Verant-
minister für Arbeit und Soziales: wortung tragen. Das ist das Prinzip unseres solidarischen
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Systems und das wollen wir für die Zukunft bewahren.
Der Koalitionsvertrag aus dem letzten Jahr stellt eindeu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tig klar: Die gesetzliche Rentenversicherung ist und
der CDU/CSU)
bleibt die tragende Säule der Altersversorgung. Klar ist
ebenso, dass zur Sicherung des Lebensstandards im Al- Mit den Reformen der Vergangenheit wurde bereits
ter auch eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge darauf reagiert. Es ging darum, den Beitragssatz stabil zu
1684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes


(A) halten. Das haben wir erreicht: Er blieb vier Jahre lang eingebrachten Gesetzentwurfs wird das verhindert und (C)
bei 19,5 Prozent. Wir nehmen nun eine behutsame An- die Zusage im Koalitionsvertrag, dass es keine Renten-
hebung auf 19,9 Prozent vor. Das ist der Beitrag der Ar- kürzungen geben wird, eingelöst. Damit unterstreicht
beitnehmer und der Arbeitgeber. Gleichzeitig wird der diese Koalition, dass sie sich an die Vereinbarungen hält
Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozent redu- und dass eine verlässliche Rentenpolitik ihrer Ansicht
ziert. Auch die Rentnerinnen und Rentner haben in der nach von zentraler Bedeutung für die älteren Menschen
Vergangenheit ihren Beitrag geleistet, durch die Über- ist.
nahme der Pflegeversicherung und durch die Verbeitra-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gung der Zusatzrenten in der Krankenversicherung. Das
war ein entscheidender Beitrag. Für die Steuerzahlerin- Man könnte fragen: Warum wartet ihr nicht ab, bis die
nen und Steuerzahler gilt – daran wird erinnert werden endgültigen ökonomischen Daten vorliegen? Wir han-
dürfen –, dass mittlerweile gut ein Drittel der Rentenleis- deln jetzt, damit sich die deutsche Rentenversicherung
tung, weil es sozialpolitisch so gewollt ist, aus dem rechtzeitig auf die technische Umsetzung einstellen
Staatshaushalt gezahlt wird, sodass die Beteiligung der kann. Wir wollen gewährleisten, dass die Rentenwerte
drei wesentlichen tragenden Säulen der Rentenfinanzie- nach dem 30. Juni 2006 weiterhin gelten. Die aktuelle
rung gewährleistet ist. Einkommenssituation im Vergleich der Jahre 2005 und
2004 wird erst Ende März vorliegen. Die Rentenver-
Für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen sicherungsträger brauchen aber jetzt unsere Entschei-
Rentenversicherung ist es erforderlich, für mehr Be- dung, damit die Rentenzahlungen zum 1. Juli verlässlich
schäftigung zu sorgen und die Arbeitslosigkeit abzu- umgesetzt werden können. Deswegen wollen wir die
bauen. Dazu dient das Investitionsprogramm, das auf der endgültigen Daten nicht abwarten, sondern heute han-
Kabinettsklausur in Genshagen beschlossen wurde. deln und damit eine Zusage einlösen.
Dazu dienen aber auch die Mittel, die in die aktive Ar-
beitsmarktpolitik investiert werden, um Menschen Was zugesagt worden ist, gilt. Wir sorgen dafür, dass
schneller in Beschäftigung und Arbeit zu vermitteln. der Rentenwert für die Zukunft gesichert ist. Die Ent-
scheidungen der Koalition zielen zudem darauf ab, mehr
Für die Beitragszahlerinnen und -zahler müssen die Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen und die Jugend-
Beitragssätze bezahlbar bleiben. Wir müssen darauf ach- arbeitslosigkeit zu reduzieren. Auf diesem Weg verdeut-
ten, dass die Lohnnebenkosten nicht zu hoch werden und lichen wir, dass in dieser schwierigen Situation alle ver-
dadurch Beschäftigung gefährdet wird. Das Signal an suchen müssen, die Lasten gemeinsam zu tragen.
die Rentnerinnen und Rentner ist im Koalitionsvertrag
deutlich gegeben: Es darf keine Rentenkürzungen geben. An dieser Stelle muss man deutlich sagen, dass die
Rentnerinnen und Rentner ein Stück weit Einkommens-
(B) Rentnerinnen und Rentner leisten ihren Anteil zur soli- sicherheit erhalten. Aber auch Nachfrage und Kaufkraft (D)
darischen Finanzierung der Rentenversicherung und zur
Konsolidierung des Haushalts. Deswegen muss klar sind für die Konjunktur wichtig. Die Menschen, die in
sein: Eine verlässliche Rentenhöhe ist für die Rentnerin- Arbeit stehen, leisten ihren Beitrag für das solidarische
nen und Rentner zurzeit von ganz zentraler Bedeutung. System über eine leichte Beitragssatzanpassung. Der
Bund beteiligt sich weiterhin in ganz wichtigen Berei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen an der Sicherung der Renten, nämlich durch die
der CDU/CSU) Gewährung zusätzlicher Entgeltpunkte für die Erziehung
von Kindern. Hier trägt der Bund die Verantwortung.
Allen in dieser Debatte ist bekannt, dass sich die Die Unterstützung der Kindererziehung in den Fami-
Anpassung der Renten seit 1957 an der Einkommens- lien ist eine gemeinsame steuerliche Verantwortung;
entwicklung orientiert. Die Rentnerinnen und Rentner denn Kinder stellen die Zukunftssicherung der Renten
haben auf diese Weise in den vergangenen Jahren von ei- dar.
ner guten Einkommensentwicklung profitiert. Leider ist
es in der Vergangenheit aufgrund der ökonomischen Ent- Andererseits muss man auch deutlich sagen: Unser
wicklung, teilweise auch durch den Einkommensver- Rentensystem ist nur sicher, wenn wir in die Zukunft in-
zicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und da- vestieren. Wir investieren in die Bereiche Schule, Aus-
durch, dass Lohnzuschläge weggefallen sind, zu einer bildung und Hochschule und in neue Produkte, damit
Verringerung der Einkommen gekommen. Die Rentne- Deutschland auch morgen in dieser Welt wettbewerbsfä-
rinnen und Rentner haben durch die Dämpfungsfakto- hig ist. Diese Entscheidung gilt es zu fällen.
ren, die wir in die Rentenformel eingebaut haben, ihren (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Beitrag geleistet. CDU/CSU)
Vor dem Hintergrund der Jahre 2005 und 2004 – diese Wir dürfen die Saatkartoffeln, die wir heute ernten, nicht
Jahre wird man bei der Rentenanpassung zugrunde verfrühstücken. Sie müssen wieder investiert werden.
legen – muss deutlich gesagt werden, dass die aktuelle Das ist die beste Sicherung für die Renten, auch für die
wirtschaftliche Situation nicht zufriedenstellend ist. Renten, die wir in Zukunft denjenigen zahlen wollen, die
Wir arbeiten an einer Verbesserung. Die hohe Arbeitslo- heute jung sind, die heute zur Schule gehen und sich an-
sigkeit, der Rückgang der sozialversicherungspflichtigen schließend, wenn sie in Arbeit stehen, durch ihre Ren-
Beschäftigungsverhältnisse und der Verzicht auf Lohn- tenversicherungsbeiträge am Generationenvertrag betei-
bestandteile spielen dabei eine Rolle. Es kann nicht aus- ligen.
geschlossen werden, dass es zu einer Rentenkürzung
kommt. Das wollen wir aber nicht. Mithilfe des von uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1685

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Am 1. Januar 2007 – das kann man gar nicht oft ge- (C)
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb, nug sagen; deswegen wiederhole ich es – wird die
FDP-Fraktion. Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht. Gleichzei-
tig werden den Rentnern zwei weitere Nullrunden – dann
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): werden es also fünf in Folge sein – zugemutet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dirk Niebel [FDP]: Ja, genau! Abkassierer!)
Ich finde das Handeln der Bundesregierung, bezogen auf
den vorliegenden Gesetzentwurf und die damit verbun- Die Rentner sind davon in voller Höhe betroffen. Sie
dene Initiative, ein Stück weit scheinheilig. Oft ist es ja können nicht darauf reagieren, sie profitieren nicht von
so, dass die große Koalition nach dem Motto handelt: Es der Senkung der Lohnnebenkosten. Das, Herr Schaaf,
gibt keine Lösung, also gibt es auch kein Problem. Das hat eine drastische Beschneidung der verfügbaren Ein-
ist beispielsweise bei der Krankenversicherung, der Pfle- kommen der Rentnerhaushalte zur Folge. Egal wie Ihre
geversicherung oder den Arbeitsmarktreformen der Fall. Rhetorik dazu ausfällt, bedeutet das für die betroffenen
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was wollen Menschen eine Rentenkürzung. So wird diese Steuerer-
Sie? Sagen Sie uns, was Sie wollen!) höhung, die für die tägliche Lebensführung eine ein-
schneidende Maßnahme ist, tatsächlich empfunden.
Hier versuchen Sie es einmal mit dem umgekehrten
Motto, Frau Connemann: Es gibt kein Problem, aber wir (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: So
lösen es trotzdem. schnell wird man vom Heuschreckenjäger zum
Rentnerschreck!)
Man muss klipp und klar sagen, Herr Thönnes, dass
niemand davon ausgeht – das war auch im gestern vorge- Ich fordere Sie auf, auf die Mehrwertsteuererhöhung zu
legten Rentenversicherungsbericht 2005 nicht der Fall –, verzichten; denn sie ist unsozial. Auch das Bundes-
dass es in 2005 tatsächlich eine negative Lohnentwick- sozialgericht wird auf Dauer nicht bereit sein, einer sol-
lung gegeben hat, die eine solche Schutzregelung für chen Abfolge von Nullrunden zuzustimmen.
Rentner erforderlich machen würde. Deswegen denke
ich, dass es sich bei diesem Gesetz, mit dem vorgeblich Jetzt will ich zu dem, was Frau Kollegin Ferner, die
drohende Rentenkürzungen verhindert werden sollen, noch anwesend ist – dafür bedanke ich mich –, gesagt
eher um ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver han- hat, Stellung nehmen. Hätten Sie unser Programm rich-
delt. tig gelesen bzw. richtig daraus zitiert, hätten Sie viel-
leicht festgestellt, dass es darin heißt, dass wir den Bei-
(Dirk Niebel [FDP]: Ein Wahlkampfgag!)
tragssatz langfristig bei 19 Prozent halten wollen. Ich
(B) Hier wird die Festschreibung der dritten Nullrunde gebe Ihnen Recht: Kurzfristig gibt es immer nur drei (D)
für Renter in Folge sehr kunstvoll als Heldentat verkauft, Stellschrauben: den Beitragssatz, das Rentenniveau und
weil die Rentner angeblich von Kürzungen verschont den Bundeszuschuss. Aber mittel- und langfristig gese-
bleiben sollen. hen besteht sehr wohl die Chance, durch die gesamt-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wirtschaftliche Entwicklung, also eine florierende
der LINKEN) Wirtschaft, und die damit einhergehende Erhöhung der
Zahl der Beitragszahler Beitragssenkungen zu erreichen.
Herr Thönnes, vielleicht soll damit eher ein Beleg für die
Aussage Ihres Ministers erbracht werden, es werde in An dieser Stelle, Frau Ferner, setzen wir an. Wir wol-
dieser Form keine Rentenkürzungen geben. Ich finde, len durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Steu-
mit dieser Aussage sollten Sie und vor allem Ihr Minis- ersystem sowie durch Entbürokratisierung die Rahmen-
ter sehr vorsichtig sein, weil Sie längst Ihre Unschuld bedingungen dafür schaffen, dass unsere Wirtschaft
verloren haben. wieder wachsen kann, mehr Menschen in Arbeit kom-
men und mehr Rentenbeiträge gezahlt werden.
(Anton Schaaf [SPD]: Das schon wieder!)
(Beifall bei der FDP)
– Ja, Herr Schaaf, das muss man so sagen.
Tatsache ist doch, dass dies die dritte Nullrunde in Dann kann auch das Beitragsniveau insgesamt gesenkt
Folge ist. Und wenn ich Ihnen das erläutern darf: Im ge- werden; denn wenn man von einem solchen Szenario
nannten Zeitraum, also unter Ihrer Verantwortung, kam ausgeht, werden auch die absoluten Einnahmen der Ren-
es zur Verbeitragung der Direktversicherungen und Zu- tenversicherung steigen. Das ist der Hintergrund, warum
satzversorgungen. Der Krankenversicherungsbeitrag wir das in unserem Programm niedergeschrieben haben.
wurde um 0,9 Prozentpunkte erhöht. Darüber hinaus
müssen die Rentner nun den vollen Beitrag zur Pflege- (Elke Ferner [SPD]: Ach! Wirklich?)
versicherung zahlen. Das bedeutet, dass es entgegen den – Ich freue mich, dass ich Ihnen unser Programm erklä-
vollmundigen Ankündigungen des damaligen Fraktions- ren durfte, Frau Ferner. Stellen Sie mir doch eine Zwi-
vorsitzenden Müntefering bereits zu faktischen Renten- schenfrage.
kürzungen gekommen ist.
(Dirk Niebel [FDP]: Eine richtige Rentenkür- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
zung wird die Mehrwertsteuererhöhung!)
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
– So ist es. Ferner?
1686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

(A) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wer es ernst meint mit der Sicherung der sozialen Si- (C)
Nichts lieber als das. cherungssysteme, muss an genau diesem Punkt ansetzen.
Kurzfristig besteht immer nur die Möglichkeit, die Bei-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
tragssätze erhöhen, wie Sie es zum 1. Januar 2007 wie-
gibt ja schließlich eine Verlängerung der Rede-
der einmal werden tun müssen. Wahrscheinlich – ich
zeit!)
nehme Wetten darauf an – werden Sie dies danach sehr
– Ja, eben. schnell wiederholen müssen. Lassen Sie uns also die
Rahmenbedingungen ändern.
Elke Ferner (SPD): Dazu gehört auch, dass jetzt nicht kontraproduktiv ge-
Herr Kollege Kolb, habe ich Sie richtig verstanden, handelt werden darf. Der Ausbau der privaten und der
dass Sie Ihrer Logik zufolge – ich wiederhole: bessere betrieblichen Vorsorge ist wichtig. Deshalb darf die So-
wirtschaftliche Rahmenbedingungen, höheres wirt- zialabgabenfreiheit durch die Entgeltumwandlung
schaftliches Wachstum, mehr sozialversicherungspflich- nicht ab 2008 beendet werden.
tige Beschäftigungsverhältnisse – die Annahmen des
Rentenversicherungsberichts, den das Kabinett gestern (Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendingen]
beschlossen hat, nach oben korrigieren würden? [CDU/CSU]: Das ist ein Fehlanreiz!)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist ein Fehlanreiz. Das hat auch der Sozialbeirat in
Eine sehr gute Frage!) seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht fest-
gestellt. Es kann doch nicht sein, dass wir den Men-
schen, wenn wir um die Versorgungslücken wissen, auch
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
noch den Fehlanreiz geben, in diesem Bereich nichts
Bleiben Sie bitte lange stehen, Frau Kollegin Ferner.
mehr zu tun. Ich fordere Sie im Namen meiner Fraktion
(Elke Ferner [SPD]: Auf eine kurze Frage kann auf, mit uns gemeinsam die Fortgeltung der Sozialabga-
man doch mit Ja oder Nein antworten!) benfreiheit für die Jahre ab 2009 zu beschließen, damit
die aufgetretenen Versorgungslücken ausgeglichen wer-
Zunächst einmal muss man sagen: Papier ist geduldig.
den können.
Man kann viel in einen Bericht schreiben. Aber ob sich
das letztlich realisieren lässt, muss man abwarten. (Beifall bei der FDP)
Tatsache ist, dass führende Wirtschaftsforschungs- Sie werden mit Ihrer Rentenpolitik des Tarnens und
institute – das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, Deut- Täuschens, die jetzt auch von Schwarz mitgetragen wird,
sche Bank Research und andere – das Potenzialwachs- die Zukunft nicht gewinnen. Eine realistische Bestands-
(B) tum unserer Volkswirtschaft, also das spannungsfreie aufnahme ist nötig. (D)
Wachstum, derzeit eher mit 1,25 bis 1,5 Prozent denn
mit den von Ihnen prognostizierten durchschnittlich (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
1,7 Prozent pro Jahr beziffern. Ihre Prognosen sind also DIE GRÜNEN]: So realistisch wie die von
zu hoch. Dieses Potenzialwachstum lässt sich natürlich 1994?)
steigern, Frau Kollegin Ferner; das ist ja nicht gottgege- Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht ein
ben. In anderen Volkswirtschaften, beispielsweise in den Scheinhandeln. Deswegen werden wir ihm nicht zustim-
Vereinigten Staaten, bedeutet ein Wachstum von 2,5 Pro- men können.
zent pro Jahr fast schon eine Wirtschaftskrise. Für uns
wäre ein Wachstum von jährlich 2,5 Prozent ein großer Vielen Dank.
Ausreißer nach oben. (Beifall bei der FDP)
(Elke Ferner [SPD]: Sie tun wirklich alles, um
meine Frage nicht zu beantworten!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
Da wir jede Woche die Chance haben, Gesetze zu ver-
CSU-Fraktion.
abschieden und Rahmenbedingungen zu verändern, for-
dere ich Sie auf: Lassen Sie uns doch gemeinsam dafür (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt mehr Dynamik ent-
steht, als es in den letzten fünf Jahren der Fall war. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch nur den gen! Noch so viel Polemik und Nebelkerzen
Kündigungsschutz abbauen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es war doch sehr
– Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben doch die ne- sachlich!)
gative Bilanz in diesem Bereich zu verantworten: Unter
können nicht davon ablenken, dass heute ein wirklich
Rot-Grün haben wir seit 2001 anderthalb Millionen so-
guter Tag für die Rentnerinnen und Rentner in unserem
zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren.
Land ist,
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Damit sind auch anderthalb Millionen Beitragszahler Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mal schauen, ob
verloren gegangen. die Menschen das auch so sehen!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1687
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) und zwar, weil die Bundesregierung und die sie tragen- wicklung der Löhne in Deutschland. Das ist die Wahr- (C)
den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD einen heit; das ist es, was man klar und deutlich sagen muss.
Gesetzentwurf einbringen, wonach es selbst bei negati-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auf den Punkt
ver Lohnentwicklung
gebracht!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die es aber nicht
Wir, die große Koalition, wollen mit unserer Politik
gibt!)
dafür sorgen, dass wieder mehr Wachstum und
zu keiner Rentenkürzung kommt. Beschäftigung in Deutschland möglich wird, damit die
Löhne und auch die Renten wieder steigen. Das ist un-
Herr Kolb, ob es eine negative Lohnentwicklung gibt
sere Politik.
oder nicht, wissen wir erst Ende März endgültig.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird aber
der SPD)
keine Überraschung mehr sein, oder?)
Die Rente ist natürlich – das hat die Aktuelle Stunde
Deswegen ist das, was wir jetzt tun, vernünftig und rich-
gezeigt – ein schönes Thema für Polemik. Man kann
tig. Die Botschaft ist: Selbst wenn es eine negative
eine Rede über die armen Rentnerinnen und Rentner hal-
Lohnentwicklung gegeben hat, kommt es zu keiner
ten, die angeblich ihnen zustehende Zuwächse nicht er-
Rentenkürzung. Das ist eine gute Botschaft für alle
halten. Man kann auch eine Rede über die armen jungen
Rentnerinnen und Rentner in diesem Land.
Leute halten, die die höchsten Rentenbeiträge der Ge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schichte zahlen müssen und dafür relativ wenig heraus-
der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist bekommen.
ein Scheinhandeln, Herr Kollege!)
(Dirk Niebel [FDP]: Stimmt doch, oder?)
Gerade weil den Rentnerinnen und Rentnern in den
Solche Reden kann man halten. Der Punkt ist nur: Damit
vergangenen Jahren etliche Sonderopfer, die Herr Kolb
wird kein einziges rentenpolitisches Problem gelöst.
aufgeführt hat, auferlegt worden sind, ist es richtig, dass
wir diese Entscheidung gemeinsam treffen. Wenn Sie (Dirk Niebel [FDP]: Aber es ist wahr, oder?)
schon so reden, Herr Kolb,
Unser Kurs ist und muss sein,
(Dirk Niebel [FDP]: Er hat sehr gut geredet! –
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weiter so!)
Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Finde ich auch!) beim Thema Rente für Generationengerechtigkeit zu
(B) wäre es schön, wenn die FDP dem zustimmen würde. sorgen, das heißt, für einen gerechten Ausgleich zwi- (D)
schen den Interessen der Älteren und der Jüngeren.
Die große Koalition hat vereinbart: Mit uns gibt es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den kommen-
den Jahren keine Rentenkürzungen. Wir demonstrieren Für diesen gerechten Ausgleich kann man Adam Riese
mit diesem Gesetzentwurf, dass auf die große Koalition nicht außer Kraft setzen.
Verlass ist. Die Rentnerinnen und Rentner sind mit der
großen Koalition auf der sicheren Seite. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und müsst ihr aber am kurzen Ende anders han-
der SPD) deln!)
Nun ist es durchaus möglich, dass es in den kommen- Die Rente hat zuerst einmal etwas mit Mathematik zu
den Jahren noch einmal zu Nullrunden bei der Rente tun. Wer Rentenpolitik ohne Mathematik betreibt, der
kommt. hat die Rente verraten und verkauft. Das ist der Punkt.
(Dirk Niebel [FDP]: Und, ist es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dirk
wahrscheinlich?) Niebel [FDP]: Dann ziehen Sie den Antrag
jetzt also zurück?)
Sie sollten aber einmal offen sagen, woran das liegt. Die
Rente folgt den Löhnen. Weder Angela Merkel noch Wir können in der Rentenversicherung natürlich
Franz Müntefering noch die Koalitionsfraktionen und nichts verschenken, was wir nicht eingenommen haben.
auch nicht die Opposition legen die Löhne in Deutsch- Deswegen wird die große Koalition nicht irgendeinen
land fest. billigen Trick machen, Herr Kolb, sondern in Zeiten, in
denen eine höhere Rente aufgrund steigender Löhne
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Richtig!)
möglich ist, die jetzt nicht vorgenommenen Kürzungen
Die Löhne werden von den Tarifpartnern frei ausgehan- nachholen; das ist der Nachholfaktor. Das halte ich für
delt; bei ihnen liegt die Verantwortung für die Lohnent- die Rentnerinnen und Rentner für gerecht und planbar.
wicklung in diesem Land. Wenn die Lohnentwicklung so Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land wissen:
schwach ist wie in den vergangenen Jahren, führt das au- Mit dieser großen Koalition gibt es keine Rentenkürzun-
tomatisch dazu, dass auch die Rente nicht steigt. Deswe- gen, aber es gibt auch keine riesigen Sprünge nach oben,
gen ist die zentrale Stelle, an der sich entscheidet, ob da die nicht eingetretenen Kürzungen irgendwann ein-
künftig wieder Rentenerhöhungen möglich sind, die Ent- mal ausgeglichen werden müssen.
1688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) Das ist eine einfache mathematische Rechnung, Herr rungsbeitrag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (C)
Kolb. Die Rente hat etwas mit Mathematik zu tun und – vor allen Dingen der jungen Generation – nicht in dem
wer die Mathematik außer Kraft setzen will, der macht Maße ansteigt, wie er stiege, würden wir nicht gesetzlich
die Rente kaputt. Das ist die Wahrheit. handeln.
Die Deutsche Rentenversicherung hat am Dienstag
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dieser Woche zu einem Gespräch eingeladen – Sie waren
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dabei – und das Szenario bis zum Jahr 2030 vorgestellt.
Kollegen Kolb? Das ist eine lange Zeit.
(Anton Schaaf [SPD]: Er hat doch schon (Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] nimmt
zweimal geredet!) wieder Platz)
– Das ist noch die Antwort auf Ihre Frage.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ja.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Präsidentin hat mich gebeten, mich zu setzen.
Herr Kollege Weiß, ich weiß, dass auch Ihre Redezeit
begrenzt ist. Deswegen möchte ich Ihnen die Gelegen- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
heit geben, noch einige Zeit dranzuhängen. Anhand dieses Szenarios kam zum Ausdruck, dass
wir, wenn wir nicht so handeln würden, wie wir handeln,
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): im Jahr 2030 bei einem Rentenversicherungsbeitrag in
Danke schön. Höhe von 22,5 Prozent landen würden. Indem wir han-
deln, halten wir den Rentenversicherungsbeitrag unter
22 Prozent. Das ist eine gute Botschaft für die jüngere
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Generation; denn sie weiß: Durch unser Handeln wird
Wenn man so redet wie Sie – Sie sagen, Sie wollen der Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages deutlich
eine generationengerechte Politik –, dann müsste man und klar begrenzt. Darum geht es.
eigentlich anders handeln. Dann dürfte man den Zeit-
raum für die Inanspruchnahme der Frühverrentung nicht Nun muss man in einer solchen Debatte der Wahrheit
verlängern, wie Sie es beschlossen haben, weil das eine halber dazusagen:
Subvention der jetzigen Rentnergeneration zulasten (Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt die Wahrheit!
(B) künftiger Rentnergenerationen ist. Das ist gut!) (D)
(Beifall bei der FDP) Wir müssen deutlich machen, worauf es wirklich an-
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen. Aber eigentlich kommt. In der deutschen Rentenpolitik hat es einen
dürfte man dann auch nicht das vorliegende Gesetz be- grundlegenden Wechsel dahin gehend gegeben, dass die
schließen. Denn das Grundprinzip der Umlagefinanzie- gesetzliche Rente für die Zukunft nicht mehr die allei-
rung eines sozialen Sicherungssystems besagt: Man nige Alterssicherung darstellt, sondern sie ist nur noch
kann nicht mehr ausgeben, als eingenommen wird. Das ein wichtiger Teil dieser Alterssicherung. Deswegen ist
heißt, wenn sich die Einkommen der erwerbstätigen Ge- es wichtig, dass für jeden Arbeitnehmer in Deutschland
neration aufgrund einer schlechten wirtschaftlichen Ent- zusätzlich eine zweite und dritte Säule der Altersvor-
wicklung nicht positiv bewegen, können die Renten ei- sorge aufgebaut wird. Es ist gut, dass in dem Alterssi-
gentlich auch nicht steigen. Oder wie sehen Sie das? cherungsbericht der Bundesregierung, der gestern vorge-
legt worden ist, deutlich gemacht wird: Bei den
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Betriebsrenten in Deutschland geht es wieder aufwärts.
Diese Entwicklung muss so weitergehen. Es ist auch gut,
Herr Kollege Kolb, ich bin doch erstaunt, dass Sie
dass in dem Alterssicherungsbericht der Bundesregie-
nach Ihrer Rede, in der Sie sich über mehrere Nullrun-
rung klar gemacht wird, dass die dritte Säule, nämlich
den besorgt geäußert haben, in Ihrer Zwischenfrage of-
die private kapitalgedeckte Altersvorsorge, in Deutsch-
fensichtlich den wahren rentenpolitischen Kurs der FDP
land gestärkt wird und immer mehr Bürger fürs Alter zu-
erkennen lassen, nämlich dass Sie einer Rentenkürzung
sätzlich vorsorgen.
das Wort reden. Sehe ich das richtig?
Die große Koalition wird die private kapitalgedeckte
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Altersvorsorge noch interessanter und attraktiver ma-
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das ist ganz
chen, indem wir uns entschlossen haben, zum 1. Janu-
daneben gegriffen!)
ar 2007 auch den Bau eines Hauses oder den Erwerb ei-
Ich habe soeben ausgeführt, dass es in der Rentenver- ner Wohnung in die Riester-Förderung aufzunehmen. Ab
sicherung nichts zu verschenken gibt. Einnahmen und dem Jahr 2008 wird der Förderbetrag, den der Staat pro
Ausgaben müssen zueinander passen. Die Mittel, die wir Kind für die private Altersvorsorge bereitstellt, deutlich
dafür aufwenden, eine Rentenkürzung zu vermeiden, erhöht. Wir werden uns im kommenden Jahr darüber un-
müssen in besseren Zeiten ausgeglichen werden. Die terhalten, ob wir nicht noch weitere Maßnahmen ergrei-
rentenpolitischen Maßnahmen der großen Koalition wer- fen müssen, damit die zweite und die dritte Säule der
den auf Dauer dazu führen, dass der Rentenversiche- Altersversorgung gestärkt werden und das Gesamtver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1689
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) sorgungsniveau – darauf kommt es an – der älteren Ge- Am Dienstag – das ist ganz aktuell – hat Dr. Rische (C)
neration in Zukunft ein Leben in Würde ermöglicht. von der Deutschen Rentenversicherung den Anstieg der
Bruttolöhne und -gehälter nur für die sozialversiche-
(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ rungspflichtig Beschäftigten mit 0,1 Prozent beziffert.
CSU]) Ich betone: Die 1-Euro-Jobs sind in diese Zahl bereits
Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass Karl eingerechnet.
Doemens, der die Rentenpolitik der Regierung nicht im-
mer lobt, in der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts“ (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also herausge-
geschrieben hat: Schwarz-Rot ist in der Rentenpolitik rechnet!)
auf dem richtigen Weg. – Gehen Sie diesen Weg mit uns. Wie der Kollege Kolb frage ich mich, meine Damen und
Vielen Dank. Herren von der Regierungskoalition: Was motiviert Sie,
einen Gesetzentwurf einzubringen, der etwas verhindern
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) soll, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit so ohnehin nicht eintritt? Plagt da einige aus der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorhergehenden Regierungskoalition die Angst, bei ih-
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion ren Reformen übersteuert zu haben? Oder setzen die
Die Linke. „Spezialdemokraten“ Traditionen der Regierung
Schröder fort?
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Jetzt ist er kein Jungfernredner (Ute Kumpf [SPD]: Das ist hier keine Wahl-
mehr! Jetzt können wir zwischenrufen!) kampfveranstaltung, sondern das Parlament,
Herr Kollege Schneider!)
Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Bundesminister Müntefering hat beim Vorziehen der
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erhöhung des Rentenalters gezeigt, wie es geht: Erst
Es war hier eben die Rede davon, dass es keine Renten- wird die Öffentlichkeit informiert und dann vollzieht es
kürzungen geben wird. Ich habe die Situation von vor die Fraktion zähneknirschend nach. Das ist wahrlich
zwei Wochen etwas anders in Erinnerung: Bundesminis- eine würdige Umsetzung des schröderschen Basta-Prin-
ter Müntefering ist als Sheriff von Nottingham durch die zips.
Lande gezogen und hat den eingeschüchterten Unterta-
nen nichts anderes verkündet, als dass die meisten von Da bietet es sich doch an, ein weiteres Merkmal
ihnen zwei Jahre länger arbeitslos bleiben oder auf schröderscher Politik zum Einsatz zu bringen: Schwä-
(B) 7,2 Prozent ihrer Renten verzichten müssen. chen der Politik werden durch ein gutes Marketing über- (D)
tüncht. Ganz im Sinne des orwellschen Neusprechs sagt
(Widerspruch bei der SPD) man nicht: Liebe Rentnerinnen und Rentner, ihr erhaltet
Was ist das anderes als eine Rentenkürzung? 2006 keinen einzigen Cent mehr. Nein, das Vorhaben
wird stattdessen so verkauft, dass man den Betroffenen
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- verkündet: Wir verhindern, dass euch in diesem Jahr
Eckardt) auch nur ein einziger Cent von eurer Rente weggenom-
Weil solche Ankündigungen in Zeiten von Wahlen men wird. – So klingt das wirklich gleich viel besser.
– in drei Wochen werden bekanntlich in drei Bundeslän- Kompliment an den leider nicht mehr anwesenden Vize-
dern neue Landesparlamente gewählt – denkbar schlecht kanzler: Er ist der wahre und würdige Nachfolger des
ankommen, erleben wir heute eine Fortsetzung dieser letzten „spezialdemokratischen“ Kanzlers.
Soap auf unserer Staatsbühne. Der erste Diener des (Beifall bei der LINKEN)
Hauptdarstellers hat das grüne Wams von Robin Hood
angezogen und verkündet der staunenden Menge: Fürch- Wie dem auch sei, die Fraktion Die Linke kann dem
tet euch nicht! Wir werden verhindern, dass man euch Gesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellen
auch nur einen Cent eurer Rente wegnimmt. Rentenwerte selbstverständlich zustimmen; es könnte
schließlich doch irgendwie der schlimmste aller schlim-
Das ist zwar sehr löblich, aber diese Inszenierung hat men Fälle eintreten und insofern stimmen wir Ihnen zu,
einen kleinen Schönheitsfehler. Wo sind denn bitte die dass eine verlässliche Rentenhöhe für die Rentenbezie-
Räuber, vor denen dieser Robin Hood die Untertanen her gegenwärtig von größter Bedeutung ist.
schützen möchte? Eine Verringerung des Renteneck-
werts aufgrund der maßgeblichen Lohnentwicklung se- Damit wir das nun aber nicht in jedem Jahr wieder neu
hen selbst Sie, wenn ich die Begründung Ihres Antrages beschließen müssen und nicht jedes Jahr erneut die Ge-
richtig lese, als kaum wahrscheinlich an. Das hat in den fahr entsteht, dass es aufgrund der Berechnung der Brut-
letzten Wochen auch kein Experte ernsthaft ins Kalkül tolöhne zu diesem Worst Case kommt, sollten wir aber
gezogen. eines schleunigst beschließen, nämlich die 1-Euro-Jobs
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpas-
sung herauszunehmen und die Rentenanpassung auf der
Woher der Kollege Stiegler seine andersartigen Informa- Basis der solchermaßen bereinigten Berechnungsgrund-
tionen bezieht, die er noch letzten Sonntag in der ARD lage durchzuführen. Nach den aktuellen Berechnungen
verkündet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. des Statistischen Bundesamtes dämpfen die 1-Euro-Jobs
1690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Volker Schneider (Saarbrücken)


(A) die Entwicklung der Bruttodurchschnittsverdienste in Nach den Schätzungen der Regierung wäre es mög- (C)
2005 um 0,8 Prozent. lich gewesen, dass die Renten in diesem Jahr hätten ge-
kürzt werden müssen. Wir erwarten Ende März den end-
1-Euro-Jobs sind keine Beschäftigungsverhältnisse. gültigen Bericht; aber ich denke, es ist auch wichtig,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vorsorge zu treffen. Zu einer Kürzung der Renten
könnte es auch deshalb kommen, weil nach den beste-
Für sie wird kein Lohn gezahlt. 1-Euro-Jobs gehören henden gesetzlichen Grundlagen die 1-Euro-Jobs in die
insoweit weder in die Statistik der Bruttolöhne und -ge- Berechnung der Löhne einbezogen werden müssen und
hälter noch in die Beschäftigtenstatistik. Ihre Berück- die Entwicklung der Renten bekanntlich grundsätzlich
sichtigung hat eine sachlich nicht zu rechtfertigende der Entwicklung der Löhne folgt. Das ist der wesentliche
Minderanpassung der Renten zur Folge. Grund, den die Bundesregierung für den vorliegenden
Das Kabinett hat gestern angekündigt, die 1-Euro- Gesetzentwurf und ihr Anliegen, den bisherigen aktuel-
Jobs aus ihren längerfristigen Vorausberechnungen zur len Rentenwert „freihändig“ zu stabilisieren, genannt
Rentenentwicklung herausnehmen zu wollen. Wir freuen hat. Wir unterstützen diesen Gesetzentwurf, weil wir der
uns, dass sich die Bundesregierung insoweit unserer For- Auffassung sind, dass die Rentnerinnen und Rentner
derung angeschlossen hat. nicht die Folgen der Einführung der 1-Euro-Jobs tragen
sollten. Wir dürfen sie nicht für unsere Arbeitsmarktpoli-
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ tik verantwortlich machen.
DIE GRÜNEN]: Ach du liebe Zeit! – Peter
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das hat- Herr Kollege Schneider, Sie haben gesagt, dass Sie
ten wir aber schon vorher beredet! Dazu hätten die Ersten gewesen seien. Ausweislich des Stenografi-
wir Ihren Antrag nicht gebraucht!) schen Berichts hatte ich aber schon im Januar dieses Jah-
res vorgeschlagen, dass die 1-Euro-Jobs aus der Brutto-
– Ich glaube, unser Antrag hat an einem Dienstag vorge- lohn- und -gehaltssumme herauszurechnen sind. Das
legen und Sie haben Ihr Vorhaben am Mittwoch verkün- Arbeitsministerium hat uns damals die Auskunft gege-
det. ben, dass das Europäische System der Volkswirtschaftli-
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) chen Gesamtrechnungen die maßgebliche Rechengröße
der gesetzlichen Rentenversicherung sei und eine Ände-
Nachdem Sie schon A gesagt haben, müssen Sie nur rung dieses Verfahrens nur per Gesetz möglich sei. Mit
noch B sagen und die 1-Euro-Jobs aus der Berechnungs- dem Rentenversicherungsbericht hat die Bundesregie-
grundlage für die aktuelle Rentenanpassung herausneh- rung nun Eckpunkte beschlossen, aus denen hervorgeht,
men. Die Fraktion Die Linke hofft auch in diesem Punkt dass sie entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen
(B) auf Ihre Lernfähigkeit. einleiten wird. Wir unterstützen dieses Vorhaben. Inso- (D)
fern ist der Antrag der Linken obsolet.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir sind allerdings der Meinung: Es macht keinen
(Beifall bei der LINKEN)
Sinn, langfristig wirkende rentensichernde Gesetze zu
beschließen, um dann ständig tagespolitisch eingreifen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zu müssen. Vor diesem Hintergrund bewerten wir den
Herr Kollege Schneider, nachdem wir hier des Öfte- Rentenversicherungsbericht und die Eckpunkte der Bun-
ren darüber diskutiert haben, ob die Fraktion Die Linke desregierung zur Stabilisierung der gesetzlichen Ren-
als PDS bezeichnet werden darf, gehe ich davon aus, tenversicherung als unzureichend. Der Arbeitsminister
dass es ein Versprecher war, als Sie die Sozialdemokra- hat wesentliche Entwicklungen, die in den letzten Jahren
ten als „Spezialdemokraten“ bezeichnet haben. zu veränderten Rahmenbedingungen geführt haben,
nicht aufgegriffen und demzufolge keine Vorschläge ge-
Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-
macht. Das wurde deutlich, als wir gestern in der Regie-
Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
rungsbefragung nachgefragt haben. Ich nenne in diesem
Zusammenhang vor allem die sinkende Zahl der sozial-
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, und
NEN): zwar trotz Zunahme der Beschäftigung, Herr Kollege
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kolb
Unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ set-
zen sich die Grünen seit langem dafür ein, die Renten für (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zahl der Er-
alle Generationen zukunftstauglich zu machen. Wir ha- werbstätigen ist gleich geblieben!)
ben unter Rot-Grün für umfassende Rentenreformen ge- – Sie sind also gegen die 400-Euro-Jobs –,
stritten, die kurz- und mittelfristig den Beitragssatz und
das Rentenniveau sichern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!)
Ohne die unter grüner Regierungsbeteiligung be- die fortwährende Tendenz bei Großunternehmen, ältere
schlossenen Rentengesetze läge der Beitragssatz zur Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Teilzeit oder
Rentenversicherung heute bereits bei über 22 Prozent Altersteilzeit nach dem Blockmodell zu schicken und
der Löhne und Gehälter. In den letzten Jahren sind die damit zulasten der Sozialversicherungen Betriebe zu ra-
Löhne und Gehälter nur sehr moderat gestiegen. Das tionalisieren, neue Formen von Selbstständigkeit und
hatte auch Folgen für die Einnahmen der Rentner. prekären, unsteten Arbeitsverhältnissen, die nicht mit ei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1691
Irmingard Schewe-Gerigk
(A) ner ausreichenden sozialen Absicherung verbunden sind, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
und die insgesamt fehlende Arbeitsintegration von älte- der CDU/CSU)
ren Beschäftigten und nicht zuletzt von Frauen.
Gleichzeitig steht in Ihrem Programm, Sie wollten
Herr Staatssekretär Thönnes, auch die ablehnende den Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 19 Prozent
Stellungnahme Ihres Ministeriums zu den Vorschlägen senken. Das würde bedeuten, dass wir die zukünftigen
der Europäischen Kommission, aus denen hervorgeht, Generationen zusätzlich zu dem, was wir schon auf den
wie Beschäftigte erworbene Ansprüche bei den Weg gebracht haben, belasten würden, weil sie zusätz-
Betriebsrenten verstetigen, das heißt in einen anderen lich privat vorsorgen müssten.
Betrieb mitnehmen können, ist sehr enttäuschend. Ich
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sowieso!)
finde, moderne Arbeitsmärkte erfordern mobile Be-
schäftigte. Daher macht es keinen Sinn, dass man diese Wir haben die private Vorsorge auf den Weg gebracht.
Rentenansprüche erst dann mitnehmen kann, wenn man Ich erinnere in dieser Debatte gerne daran, dass wir von
mindestens 30 ist und mindestens fünf Jahre eingezahlt Rot-Grün es waren, die gesagt haben, man müsse privat
hat. Sie sollten darüber noch einmal nachdenken und das vorsorgen. Wir haben entsprechende Anreize geliefert.
dann ändern. Ich finde, die betriebliche Altersvorsorge
Sie haben die Betriebsrente erwähnt. Zu der Be-
sollte flexibler werden. Sie darf außerdem nicht als Fi-
triebsrente ist zu sagen, dass wir die Sozialabgabenfrei-
nanzierungsmasse der Arbeitgeber verwendet werden
heit bis zum Jahre 2008 beschlossen haben.
und muss stärker vor Insolvenz geschützt werden. Dann
können Sie, Herr Staatssekretär Thönnes, mit mehr Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum lasst ihr
rechtigung ein Gesamtrentenniveau ausweisen, wie es das auslaufen?)
im Rentenversicherungsbericht vorgesehen ist.
Als wir das Gesetz damals beschlossen haben, haben wir
Die große Koalition hofft offenbar auf Wachstum. eine Anschubfinanzierung bezweckt,
Den von mir gerade genannten Problemen weichen aber
(Zuruf von der SPD: So ist es!)
SPD und Union aus. Wir sind sehr gespannt, ob Sie mit
der für Mitte des Jahres angekündigten Initiative um die Betriebsrenten in Deutschland üblicher zu ma-
„50 plus“ über die Maßnahmen hinausgehen werden, die chen, als sie in diesem Lande waren. Zu solchen Maß-
schon unter Rot-Grün beschlossen wurden. Bislang ha- nahmen waren Sie, als Sie an der Regierung beteiligt
ben wir von Ihnen nichts Ergänzendes gehört. Die Zeit waren, nie in der Lage.
der Werbung um Arbeitgeber ist aber nun vorbei. Sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
sollten jetzt Taten folgen lassen.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) Vielen Dank. (D)
Man könnte durchaus diskutieren, ob man den Zeit-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) raum der Sozialabgabenfreiheit verlängert. Dann muss
man allerdings ehrlicherweise auch sagen, dass die So-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zialabgabenfreiheit dazu führt, dass die gesetzliche Ren-
tenversicherung Mindereinnahmen hat. Wen trifft das
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf, SPD-Frak-
am Ende? Das trifft am Ende diejenigen, die keine pri-
tion.
vate Altersvorsorge betreiben wollen oder können, und
(Beifall bei der SPD) diejenigen, die keine Betriebsrente haben, also diejeni-
gen, die auf die Alterssicherung in der Form, die wir be-
Anton Schaaf (SPD): schlossen haben, angewiesen sind. Sie wird es treffen,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wenn das Sicherungsniveau abgesenkt werden muss.
Auch bei der heutigen rentenpolitischen Debatte handelt Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Daher: Über-
es sich um die übliche Gemengelage, die ich als gnaden- prüfen Sie noch einmal Ihre Argumente.
los bezeichne: gnadenlose Klientelpolitik und gnadenlo- Ich will einige Sätze zu dem gnadenlosen Populismus
ser Populismus. sagen, weil wir diesen Populismus in letzter Zeit öfter
erleben. Sie von der Linken wollen die Gut- und Besser-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
verdienenden, die Reichen und die Unternehmen in die-
der CDU/CSU)
sem Lande zur Finanzierung der sozialen Sicherungssys-
Herr Kolb, Sie beklagen, dass diejenigen, die jetzt Leis- teme zusätzlich heranziehen. Nach den letzten 30 bis
tungserbringer in der gesetzlichen Rentenversicherung 40 Reden, die ich von der Fraktion der Linken gehört
sind, enorm belastet sind – obwohl sie in Zukunft länger habe, sollen wir die Besserverdienenden für alles he-
arbeiten müssen, müssen sie ein geringeres Rentenni- ranziehen: für Bildung, für die Finanzierung von
veau verkraften und werden sie weniger Leistungen er- Hartz IV, für die Rente usw. Würden wir Ihren Vorschlä-
halten –, und fordern gleichzeitig, die Mehrwertsteuer gen folgen, dann hätten wir die Hälfte der Besserverdie-
nicht zu erhöhen. Man kann sicherlich darüber streiten, nenden in diesem Lande schon enteignet.
ob eine Mehrwertsteuererhöhung richtig ist. Ich war an-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
derer Meinung als die Mehrheit. Wenn wir aber die
bei Abgeordneten der FDP)
Mehrwertsteuer nicht erhöhen, um die Lohnnebenkosten
zu senken, dann belasten wir zusätzlich die jetzigen Irgendwann ist auch das zu Ende. Ich bin schon der
Leistungserbringer. Das ist ein Widerspruch in sich. Meinung, dass man über Beitragsbemessungsgrenzen
1692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Anton Schaaf
(A) realistisch diskutieren kann, aber irgendwo hat alles nommen. Die Kollegen der FDP beklagen die Situation (C)
seine Grenzen. So wie Sie von der FDP immer nach Pri- – das ist aus Sicht der Opposition vielleicht auch ver-
vatisierung rufen, so reden Sie von der Linken immer ständlich –, dass es keine Rentenerhöhung gibt und da-
von Verstaatlichung. Ich glaube, beide Wege sind nicht rüber hinaus die Beitragssatzstabilität nicht so gewähr-
zielgerichtet. leistet ist, wie es ihren Vorstellungen entspricht.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Zusam-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: menfassung!)
Herr Kollege Schaaf, es gibt eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider. Die Linken, die ehemalige SED-PDS,
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
Anton Schaaf (SPD): LINKE]: Frau Präsidentin!)
Nein. Danke.
stellt die Situation so dar, als sei die Rente ein Füllhorn
Kurz zum vorliegenden Gesetzentwurf: Das, was wir für die Menschen in Deutschland, ohne darauf hinzuwei-
für dieses Jahr beschließen, ist eine Vorsichtsmaßnahme. sen, dass die Rente einer wirtschaftlichen Grundlage be-
Das ist ohne Zweifel richtig. Die Botschaft an alle betei- darf.
ligten Akteure im Zusammenhang mit der gesetzlichen
Ich glaube, das ist der Diskussion hier nicht würdig;
Rentenversicherung, insbesondere aber an die Rentne-
denn die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland
rinnen und Rentner, heißt: Der Rentenwert, der für die-
ist insgesamt ein großer Erfolg.
ses Jahr gilt, wird fortgeschrieben. Es wird also keine
Rentenkürzung geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Wenn hier gesagt wird, man könnte den Rentenwert
weiter fortschreiben, dann sage ich, dass bei uns ein biss- Ich möchte unter anderem herausstellen: Die gesetzliche
chen Realismus in Sachen Rente eingekehrt ist. Das Rentenversicherung ist die beste Grundlage dafür, dass
kann man nicht von all denen sagen, die früher Renten- in Deutschland im Alter niemand in Armut leben muss.
versicherungsberichte verfasst haben. Das gebe ich zu. Das zeigen auch die Alters- und Armutsberichte. Durch
Jetzt ist etwas Realismus eingekehrt. Wir beziehen uns unser System der gesetzlichen Rentenversicherung ist
bei dem, was wir machen, nicht nur auf die Projektion Altersarmut in der Vergangenheit mit verhindert wor-
und wir rennen der Projektion nicht mit Gesetzen hinter- den.
her, weil wir feststellen, dass wir immer wieder nachbes-
sern müssen, sondern wir schreiben den Rentenwert vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(B) dem Hintergrund verlässlicher Daten, die erhoben wer- Ich bin überzeugt, dass diese Form der Armut durch die (D)
den, fort. Ich halte das für absolut richtig. Wir sollten an gemeinsame Politik von CDU/CSU und SPD auch in der
dieser gesunden Praxis nichts ändern. Zukunft verhindert werden kann.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass es in den Dieser Gesetzentwurf zielt darauf ab, dass die Renten
nächsten Jahren definitiv keine Rentenkürzungen geben im Jahr 2006 nicht gekürzt werden müssen, was auf-
wird. Das ist nicht die freudigste Botschaft, die man sich grund der Lohnentwicklung unter Umständen notwen-
vorstellen kann. Wir alle könnten uns freudigere Bot- dig erscheinen könnte. Der Kollege Kolb hat dies be-
schaften vorstellen. Aber ist es eine Botschaft, auf die zweifelt. Er hat behauptet, es handele sich nur um ein
sich die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande defi- Vorschaltgesetz, für das es eigentlich gar keine Grund-
nitiv verlassen können. Es ist schon eine Leistung, dass lage gebe; schließlich wüssten wir gar nicht, wie sich die
man Aussagen für die Zukunft trifft, auf die sich die Löhne entwickelt hätten. Ein Blick in die Statistik hätte
nachfolgenden Generationen verlassen können. Es ist vielleicht für Aufklärung gesorgt. Dort wird nämlich
eine gute Botschaft, weil diese Generationen über das hi- dargelegt, dass die Bruttolöhne und -gehälter von 2004
naus, was wir jetzt machen, nicht zusätzlich belastet auf 2005 gesunken sind. Wohlgemerkt, die 1-Euro-Jobs
werden. sind dabei mitgezählt. Trotzdem zeigt das sehr deutlich
Ich danke für die Aufmerksamkeit. die Tendenz aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung
hier in den vergangenen Jahren. Dem will unsere Bun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desregierung Rechnung tragen, indem sie dafür sorgt,
der CDU/CSU) dass die Rentnerinnen und Rentner zumindest an dieser
Abwärtsspirale zukünftig nicht beteiligt sind.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Löhne und Gehälter werden in Deutschland mög-
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/ licherweise – aus welchen Gründen auch immer – nicht
CSU-Fraktion. steigen. Wir haben bereits eine Sicherungsklausel in die
gesetzliche Rentenversicherung eingebaut und werden
Max Straubinger (CDU/CSU): mit dem vorliegenden Gesetzentwurf quasi eine weitere
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! einbauen. Die Lohnentwicklung wird sich in Deutsch-
Die Debatte in der heutigen Aktuellen Stunde und die land in der Zukunft nur verbessern, wenn wir insgesamt
jetzige über den Gesetzentwurf der Bundesregierung, bessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Entschei-
der zum Ziel hat, dass die Renten in unserem Land nicht dend ist, dass die Wirtschaft in Deutschland in Gang
sinken, haben einen sehr bemerkenswerten Verlauf ge- kommt. Wir brauchen mehr sozialversicherungspflich-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1693
Max Straubinger
(A) tige Beschäftigungsverhältnisse. Die erfolgreiche Be- (Beifall des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] (C)
kämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Grundlage dafür, [CDU/CSU] sowie des Abg. Bernhard Kaster
dass die Löhne und Gehälter in Deutschland wieder stei- [CDU/CSU])
gen.
5,6 Millionen Riester-Verträge sind angesichts des-
Wir dürfen nicht der Forderung der Linken folgen, für sen, dass 40 Millionen Menschen dieses Instrument in
Mindestlöhne in Höhe von 8 oder 9 Euro zu sorgen Anspruch nehmen könnten, ein – ich sage es vielleicht
einmal so – bescheidener Erfolg. Deshalb gilt es, diese
(Bodo Ramelow [DIE LINKE]: 8 Euro sind Initiative noch zu verstärken. Wir werden uns in der
gut! Das ist ein Anfang!) Koalition natürlich darüber zu unterhalten haben, ob in
der Zukunft wirklich nur die Form der Rentenauszah-
und darüber hinaus anderweitig kräftige Lohnsteigerun- lung das entscheidende Modell sein kann oder ob nicht
gen zu ermöglichen. Solche Forderungen sind für man- auch mietfreies Wohnen im Alter ein hohes Gut ist, viel-
che wie Schalmeienklänge. Würde man dieser Forde- leicht ein gleichzustellendes Gut. Diese Form der
rung folgen, würde die Arbeitslosigkeit in Deutschland Riester-Förderung könnte einen zusätzlichen Impuls da-
noch weiter steigen, weil die Wettbewerbsfähigkeit un- für geben, dass Menschen Altersvorsorge betreiben.
seres Wirtschaftsstandortes darunter leiden würde.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie des Abg. Otto Fricke [FDP])
Genauso wie viele Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, der SPD und der FDP bin ich der Auffas- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sung, dass wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingun- Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Herr Kollege.
gen in unserem Land verbessern müssen.
Max Straubinger (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Verehrte Damen und Herren, lassen Sie uns diese De-
Dies hat diese Bundesregierung aber bereits in die Wege batte in diesem Sinne gemeinsam aufnehmen, sie nicht
geleitet. Die Genshagener Beschlüsse sehen ein Investi- mit Parolen überfrachten, sondern in großer Sachlich-
tionsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro für diese keit, mit der nötigen Gelassenheit, aber vor allem ziel-
Legislaturperiode vor. Hinzu kommen verbesserte Ab- orientiert für die Menschen in unserem Land entspre-
schreibungsbedingungen für die Betriebe, insbesondere chende Beschlüsse herbeiführen!
für den Mittelstand, und die Absetzbarkeit von Handwer-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(B) kerrechnungen für Privatpersonen. Ich bin überzeugt, (D)
dass dies Beschäftigungsimpulse im Handwerk setzen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
und kräftige Investitionen herbeiführen wird. Damit wer-
den auch mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich schließe die Aussprache.
NEN]: Nur bis die Mehrwertsteuererhöhung
kommt!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/794 und 16/826 an die in der Tages-
Diese Arbeitsplätze sind eine Grundlage dafür, dass wir ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
in Deutschland zukünftig stabile Rentenverhältnisse ha- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
ben. Überweisung so beschlossen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
neten der SPD) habe ich einen Nachtrag zur Sitzung heute Vormittag zu
machen. Es gab eine Geschäftsordnungsdebatte, bei der
Natürlich ist es wichtig und entscheidend, dass wir ich nach der zweiten Abstimmung versäumt habe, im
zukünftig auch die private Altersvorsorge verstärkt för- Präsidium das Einvernehmen mit einem der beiden
dern. Ich möchte aber vorausschicken: Nicht erst seit Schriftführer herzustellen. Das tut mir Leid und dafür
Einführung der Riesterrente nutzen die Menschen in entschuldige ich mich.
Deutschland die Möglichkeit zur privaten Altersvor-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
sorge. 80 Millionen oder 90 Millionen Lebensversiche-
rungsverträge sind ein beredtes Beispiel dafür, dass die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Menschen in unserem Land die Zeichen der Zeit erkannt CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
haben und wissen, dass sie für das Alter vorsorgen müs- SES 90/DIE GRÜNEN
sen. Das wurde auch von staatlicher Seite ständig geför-
dert, und zwar mit vielen Regierungsbeschlüssen unter Belarus vor den Präsidentschaftswahlen 2006
den jeweiligen Koalitionen, etwa mit der steuerlichen – Drucksache 16/816 –
Absetzbarkeit von Lebensversicherungsbeiträgen. Es ist
also nicht so, dass man dies erst hätte neu erfinden müs- Interfraktionell ist dafür eine halbe Stunde Ausspra-
sen. Dies gilt es aber zu stärken, damit dies breiter zum che verabredet. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Tragen kommt. Dann ist so beschlossen.
1694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
Kollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion. der SPD)
so neben dem bisherigen Präsidenten ein gemeinsamer
Manfred Grund (CDU/CSU): Kandidat der demokratischen Kräfte, Alexander
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen Milinkewitsch. Alexander Milinkewitsch ist ein respek-
und Herren! Belarus, Weißrussland, beginnt dort, wo die tabler Kandidat. Er war im Februar dieses Jahres zu poli-
Spurbreite der Eisenbahn 89 Millimeter breiter ist als im tischen Gesprächen bei der Europäischen Union in Brüs-
übrigen Europa. Dies ist allerdings leider nicht der ein- sel und dankenswerterweise hat ihn Angela Merkel hier
zige Unterschied. Im Unterschied zu allen Nachbarn, im in Berlin im Kanzleramt zum Gespräch empfangen.
Unterschied zu den europäischen Demokratien ist Bela-
rus eine Diktatur, eine gut funktionierende Diktatur, eine Mit unserem Antrag wollen wir die Menschen in
Präsidialdiktatur. Seit 1994 hat Präsident Alexander Belarus ermutigen, sich selbst als Staatssouverän zu be-
Lukaschenko Belarus fest im Griff. Diesen festen Griff greifen, Angst abzulegen und sich von einer Diktatur zu
erleben viele Menschen in Belarus als Würgegriff. Er emanzipieren. Wir erwarten, dass es zu freien, fairen und
verhindert das Entstehen einer Bürgergesellschaft. Er transparenten Wahlen kommt. Wir fordern Chancen-
verhindert das lebendige Atmen der Demokratie. Die Ge- gleichheit für alle Kandidaten, gleichen Zugang zur Öf-
sellschaft in Belarus ist unter einem Eismantel aus Be- fentlichkeit sowie Fairness und Gewaltlosigkeit auch für
vormundung, staatlichem Terror, Demagogie, Desinfor- die Tage nach der Wahl.
mation und nackter Angst begraben. Diese Angst lähmt.
Die Menschen haben sich ins Private, ins Häusliche, ins (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
Unpolitische zurückgezogen. Der Präsident, die Staats- bei Abgeordneten der FDP)
macht, die Staatssicherheit sind allgegenwärtig. Es gibt
nur eine Wahrheit: Das ist die Wahrheit des Präsidenten. Es geht uns um die Menschen in Belarus. Sie sind uns
Es gibt nur einen Willen: Das ist der Wille des Präsiden- nicht gleichgültig, wir nehmen Anteil an ihrem Schick-
ten. Presse, Funk und Fernsehen sind staatlich und sal. Wir nehmen deshalb besonderen Anteil, weil die
gleichgeschaltet. Es gibt so gut wie keine unabhängige belarussische Bevölkerung dramatisch unter den Folgen
Öffentlichkeit, keine Gegenöffentlichkeit. Ausländische des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatte. 1945 waren alle
Nachrichtensendungen werden gestört, den Menschen Städte zerstört, jeder vierte Einwohner getötet, mehr als
werden neutrale Informationen vorenthalten. Über allem 8 000 Dörfer vernichtet. Wir nehmen auch deshalb be-
wacht als Schild und Schwert des Präsidenten der bela- sonders Anteil, weil Belarus bis heute unter den Folgen
russische KGB. der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu leiden
(B) hat. Es gibt dankenswerterweise mehr als 800 private (D)
Wer die Wirklichkeit eines real existierenden Sozia- deutsche Initiativen, die mit Sachspenden, finanziellen
lismus kennen lernen will, muss Belarus besichtigen. Es Mitteln und Kinderaustausch versuchen, das Leid und
ist ein großer Feldversuch mit 10 Millionen Menschen, die Not dort zu lindern. Die staatlichen und privaten Hil-
die diesem System und einem diktatorischen Präsidenten fen aus Deutschland summieren sich auf über 300 Mil-
ausgeliefert sind. Fast alle Belarussen sind wirtschaftlich lionen Euro. Mehr als 100 000 Kinder waren in den
und existenziell vom Präsidenten und von seinem Wohl- letzten Jahren zu einem Erholungsaufenthalt in Deutsch-
wollen abhängig. Nahezu alle Unternehmen sind Staats- land. Diese, meist privaten, Tschernobylinitiativen sind
unternehmen und an der Spitze des Staates steht der Prä- praktizierte, gelebte Menschlichkeit.
sident. Präsident Lukaschenko sieht alles, weiß alles,
regelt alles. Wer nicht spurt, wer Widerspruch in der Sa- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
che oder gegen seine Person riskiert, der riskiert Leib BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Leben. Oppositionelle politische Widersacher und
Journalisten verschwinden in Administrationshaft oder Auch dies beweist: Die Menschen in Belarus sind uns
in der Verbannung – manche spurlos bis heute. nicht egal.
Jenseits dieser politischen Pression gibt es in der Be- Wir möchten, dass die Selbstisolierung von Belarus
völkerung durchaus auch eine gewisse Zufriedenheit mit aufhört. Wahlen, die internationalen Standards entspre-
der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Situa- chen, sind dazu eine wichtige Voraussetzung. Belarus ist
tion. In der Abwägung zwischen sozialer Sicherheit auf ein europäisches Land mit einer europäischen Tradition,
der einen Seite und politischer Freiheit auf der anderen keine zwei Flugstunden von hier entfernt. Es ist in aller
Seite würde wohl eine Mehrheit der Belarussen einer ge- Interesse, dass Belarus zu einem wertvollen und geach-
wissen Sicherheit den Vorrang geben. teten Teil der europäischen Völkerfamilie wird. Wir
möchten, ohne uns aufzudrängen, ohne uns einzumi-
Nun finden am 19. März Präsidentschaftswahlen in schen, daran mitwirken. Es wäre schön, liebe Freunde,
Belarus statt. Dazu heute diese gemeinsame Debatte im wenn in Zukunft lediglich die Spurbreite der Eisenbahn
Deutschen Bundestag. Wir debattieren auf der Grund- Belarus von seinen Nachbarn trennen würde.
lage eines gemeinsamen Antrags. Mit diesem Antrag
und mit dieser Debatte wollen wir die Menschen in Bela- Herzlichen Dank.
rus ermutigen, sich frei und unabhängig zu entscheiden.
Wir begrüßen, dass mehrere Kandidaten zur Wahl ste- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
hen: und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1695

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: erwähnt – heute ein starkes Signal aussenden, dass der (C)
Das Wort hat der Kollege Michael Link von der FDP- Deutsche Bundestag den Vorgängen in diesem Land
Fraktion. nicht weiter zusehen möchte. Wir schließen uns den ent-
sprechenden Initiativen des Europäischen Parlaments,
Michael Link (Heilbronn) (FDP): des Europarats und der OSZE an und fordern für die
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Weltweit gibt es Wahlen am 19. März eine faire Chance für alle Kandi-
noch zahlreiche Diktaturen, autoritäre und diktatorische daten.
Regime. Vom Triumph der Demokratie kann zurzeit lei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
der keine Rede sein. Regime wie Nordkorea, Simbabwe und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Syrien, um nur einige zu nennen, unterscheiden sich
von Belarus jedoch in einem Punkt: Sie alle sind weit Es ist gut, dass wir in diesem Parlament über fast alle
weg. Das relativiert nicht unsere Betroffenheit und un- Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit herstellen konnten.
sere Sorge bezüglich dieser Regime; aber manchmal, Es ist wichtig, dass dieses Signal deutlich wird.
seien wir ehrlich, relativiert es doch ein bisschen unsere
unmittelbare Beschäftigung mit diesen Ländern. Belarus Ich würde mir wünschen, dass auch die PDS bereit
dagegen – Herr Grund hat es angesprochen; das ist ein wäre, ein entsprechendes Signal auszusenden. Da habe
sehr wichtiger Punkt, den wir uns selten klar machen – ich allerdings manchmal meine Zweifel, wenn ich Aus-
ist gerade einmal gut eine Flugstunde Richtung Osten sagen in Zeitungen lese, die Ihnen nicht fern stehen. In
entfernt. Deshalb sollten wir als Parlamentarier dieses der „Jungen Welt“ vom 18. Februar heißt es zum Bei-
Thema weiterhin auf die Tagesordnung setzen; denn die- spiel: „Umsturzhilfe Ost für Belarus“. Am 25. Februar
ses Nachbarland der Europäischen Union ist die letzte konnte man lesen: „EU-Propaganda gegen Belarus“.
ausgewachsene Diktatur auf europäischem Boden. Ein Zitat vom 4. März: „Belarus ist nicht die
In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, werden Jour- Ukraine.“ – Stimmt so weit.
nalisten, Studenten und Oppositionelle verhaftet und
Hier gibt es keine Oligarchen und keine Obdachlo-
körperlich misshandelt. Freie Universitäten werden ge-
sen. Hier hat das soziale Sicherungssystem seine
schlossen und das Internet und der Postverkehr werden
Autonomie gegenüber der Marktautonomie be-
systematisch gestört. Ein wortgewaltiger Alleinherrscher
wahrt. Hier ist die Wirtschaftspolitik auf die Erhö-
verbreitet dort eine Stimmung der Angst unter Menschen
hung des allgemeinen Wohlstands ausgerichtet.
freier Gesinnung.
Weil der Großteil der belarussischen Bevölkerung
In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, herrscht das zu schätzen weiß, gibt es auch kaum einen
(B) – sagen wir auch das deutlich – noch so etwas wie kalter Zweifel über den Wahlausgang. (D)
Krieg und gibt es noch so etwas wie einen eisernen Vor-
hang. Wie sonst kann man die Grenze zwischen Polen Das ist gewagt, würde ich sagen.
und Weißrussland, zwischen der Europäischen Union Ein Zitat aus einer Quelle, die Ihnen vielleicht noch
und Weißrussland, betrachten? Wer heute mit dem Zug näher ist, nämlich von der Website „sozialisten.de“:
über die Grenze fährt und die Grenzkontrollen dort er-
lebt, wer die öffentlichen Auseinandersetzungen zwi- Offensichtlich geht es den USA und der EU darum,
schen Polen und Weißrussland in den Medien erlebt, der einen eigenständigen Weg von Belarus nicht zuzu-
kann fast nur noch von kaltem Krieg sprechen. Das Pro- lassen und dem Land die eigenen kapitaldominier-
blem dabei ist: Es ist nicht noch kalter Krieg, sondern es ten Werte aufzuzwingen.
ist wieder kalter Krieg.
Ich bitte Sie einfach: Sorgen Sie hier für Klarheit und
Vergessen wir nicht: Weißrussland war Anfang der bekennen Sie sich dazu, in einem gemeinsamen Anlauf
90er-Jahre schon weiter. Damals war es unter Präsident mit uns zusammen, über alle Fraktionsgrenzen hinweg,
Schuschkjewitsch auf dem Weg der Integration in die demokratische Wahlen in Belarus zu fordern!
euroatlantischen Strukturen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es war bereits auf dem Weg, Mitglied des Europarates
zu werden. Leider ist es das heute nicht mehr. Wir wis- Herr Grund hat das gesagt, was zum stärksten Kandi-
sen alle, weshalb. Seit Präsident Lukaschenko das Re- daten der Opposition, Herrn Milinkewitsch, zu sagen
gime umgebaut und das Land zu einem KGB-Staat spät- ist. Auch wir unterstützen ihn. Er hat eine mutige Politik
kommunistischer Prägung gemacht hat, regiert er dort gemacht und trotz aller Behinderungen – gestern wurde
nicht nur mit starken Worten – mit einer kruden rhetori- zum Beispiel sein stellvertretender Wahlkampfleiter ver-
schen Mischung aus sozialistischen und manchmal sogar haftet – bisher einen guten Wahlkampf gemacht. Wir
nationalsozialistischen Anleihen –, sondern vor allem möchten, Herr Staatsminister Erler, an dieser Stelle aber
mit harter Hand. Wer nicht pariert, wird mundtot ge- auch – das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt – die
macht; in einigen Fällen in den letzten Jahren muss man Deutsche Botschaft in Minsk einmal ausdrücklich loben.
sogar von politisch motiviertem Mord ausgehen. Das, was die Deutsche Botschaft in Minsk seit vielen
Jahren mit dem Minskforum, übrigens gemeinsam mit
Mit unserem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, der deutsch-belarussischen Gesellschaft, macht, ist vor-
SPD, Grünen und FDP wollen wir – Herr Grund hat es bildlich. Das verdient den Respekt dieses Parlaments.
1696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Michael Link (Heilbronn)


(A) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Lukaschenko nicht im wohlverstandenen Interesse Russ- (C)
SPD) lands sein kann. Ich denke, dies ist ein wichtiges Feld für
die europäische Diplomatie.
Viele Kollegen nehmen regelmäßig am Minskforum
teil. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass eine
Mein Kompliment und mein Dank gelten ausdrück- Flugstunde östlich von uns die Menschen bald die demo-
lich unseren Diplomaten, die dort seit vielen Jahren auf kratischen Rechte haben werden, die für uns in Europa
diesem sehr schwierigen Posten ihren Dienst tun und schon selbstverständlich geworden sind!
ohne die Deutschland heute bei weitem nicht so gut in- Ich danke Ihnen.
formiert dastehen würde.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Belarus ist SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
heute eines der wichtigsten Felder, auf dem die Länder SES 90/DIE GRÜNEN)
der EU gemeinsam handeln müssen. Wir müssen dabei
auch Polen und Litauen, zwei ganz wichtige Stimmen im
europäischen Konzert, immer mit an Bord haben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Wenn Sie erlauben, Herr Staatsminister, möchte ich
noch eine Bitte an die Bundesregierung äußern. Belarus
ist auch ein entscheidendes Thema für die deutsch-russi- Uta Zapf (SPD):
schen Beziehungen. Skeptiker sagen, solange die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
manchmal offene, manchmal verdeckte Unterstützung Auch ich bin sehr froh, dass es uns diesmal gelungen ist,
Russlands für Lukaschenko unausgesprochen bestehen einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen einzubringen.
bleibt, so lange bleibt Belarus auch ein Modell russi- Es ist ja im Vorfeld von Wahlen nicht das erste Mal, dass
scher Möglichkeiten. wir einen gemeinsamen Antrag beschließen. Leider ha-
ben wir es 2004 nicht geschafft, einen gemeinsamen An-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: trag zu formulieren; damals gab es zwei. Aber ich erin-
Herr Kollege Link, Sie könnten Ihre Redezeit weiter nere mich sehr deutlich daran, dass die Kolleginnen und
verlängern, wenn Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kollegen von der CDU/CSU und ich uns darüber einig
Dehm beantworten möchten. waren, dass es keinen inhaltlichen Widerspruch gab,
sondern dass es im Vorfeld der Verabschiedung dieses
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Antrags sozusagen an der Feinabstimmung gemangelt
NEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE hat. Diesmal haben wir es aber geschafft.
(B) (D)
GRÜNEN]: Das ist ein Vorschlag!)
Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass in der Bundes-
republik ein breites Engagement für Belarus, für die
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Menschen, wie Kollege Grund gesagt hat, und für eine
Bitte schön. Demokratisierung vorhanden ist. An dem Umgang mit
den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl am
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): 26. April vor 20 Jahren lässt sich das sehr gut festma-
Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Werben um das chen. Seitdem gibt es überall Initiativen, die sich um die
Überschreiten von Fraktionsgrenzen vielleicht wir- Opfer dieser Katastrophe kümmern, die Unterstützung
kungsvoller ausfallen könnte, wenn Sie auf solche For- leisten, Hilfssendungen verschicken und Erholungs-
mulierungen wie „Er stellt sich sozialistisch, ja sogar na- urlaube für Kinder organisieren. Das wurde hier schon
tionalsozialistisch dar“ verzichten würden? geschildert. Das verbindet die Deutschen ganz eng mit
diesem Land und seiner Bevölkerung. Darüber hinaus
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Aber
gibt es eine historische Schuld, die wir gegenüber die-
wenn es so ist!)
sem Volk haben und an die wir immer wieder erinnern
müssen. Das tut zum Beispiel auch die Botschaft in
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Minsk.
Ich würde gerne darauf verzichten. Aber leider hat
Lukaschenko vor einiger Zeit selbst gesagt, dass nicht Belarus ist uns also nicht nur geografisch und als
alles im Nationalsozialismus schlecht gewesen sei. So- Nachbar der Europäischen Union so nahe.
lange dieses Zitat im Raum steht, kann ich leider nichts (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
anderes sagen. CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Deshalb richten wir eine so große Aufmerksamkeit auf
SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bre-
die politischen Vorgänge in diesem Land. Dies ist keine
men] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Einmischung in die inneren Angelegenheiten, sondern
Mein Schlussappell. Das Verhältnis Belarus zu Russ- eine Aufforderung an die belarussische Administration,
land sollte zu einem wichtigen Thema der EU-Diploma- also an den Präsidenten und die Regierung, sich an das
tie gemacht werden. Es kann und muss gelingen, Russ- zu halten, wozu sie sich als Mitglied der OSZE ver-
land im Zuge weitsichtiger Diplomatie davon zu pflichtet haben. Dort haben sie sich zur Einhaltung der
überzeugen, dass die Fortsetzung des Regimes von Menschenrechte, zu fairen und freien Wahlen, zur Pres-
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Uta Zapf
(A) sefreiheit und zu einer demokratischen Entwicklung ver- lich groben Worten an die Wand malt. Diese Menschen (C)
pflichtet. klagen vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarus
gegenüber der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstüt-
Wir haben jeden Grund, dies zu unterstützen. Das tun zen sie darin.
wir auch. Wir haben in Deutschland kurz nach der Sou-
veränität Weißrusslands eine Parlamentariergruppe (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
gebildet. Das ist eine kleine Gruppe. Ich hoffe, sie erhält und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ein bisschen mehr Zulauf. Ich werde bald die Vorsit-
zende sein. Wir haben immer gearbeitet und Aktivitäten Deshalb kritisieren wir, dass im Moment die Wahl-
unternommen, auch wenn wir während der Zeit des von kämpfe der anderen Kandidaten – Gott sei Dank gibt es
Lukaschenko handverlesenen Parlaments keinen direk- immerhin vier Kandidaten, zwei davon sehr demokra-
ten parlamentarischen Austausch hatten. tisch ausgerichtet – ständig gestört werden. Heute kam
die Tickermeldung, dass Viacorka, den viele von uns
Die OSZE hat eine Arbeitsgruppe zu Belarus einge- persönlich kennen und der der stellvertretende Wahl-
richtet. Ich bin die Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe. kampfleiter von Milinkewitsch ist, zu 15 Tagen Haft ver-
Deshalb bin ich häufig in Belarus und rede mit den Men- urteilt worden ist, weil er eine nicht genehmigte Wahl-
schen, und zwar mit allen, auch mit Parlamentariern und kampfveranstaltung abgehalten hat.
Vertretern der Administration. Ich halte dies für wichtig.
Auch der Europarat und die EU beschäftigen sich mit (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Unglaublich!)
Belarus. Dies ist reine Willkür.
Sie finden in allen unseren Anträgen, die wir gemein- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
sam verabschiedet haben, einen Satz, den wir jetzt wie- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der aufgenommen haben und der lautet:
Das müssen wir laut sagen und kritisieren.
Die Durchführung freier und fairer Wahlen ist eine
Voraussetzung dafür, dass Belarus den Weg zur De- Wir müssen ebenso kritisieren, dass die Zeitungen
mokratisierung einschlägt. Nur ein Land, das sich seit Jahren zunehmend unter Druck stehen. „Narodnaja
demokratischen Grundsätzen verschreibt, hat sei- Wolja“ zum Beispiel hat, mit Fotos illustriert, gedruckt,
nen Platz in der europäischen Familie, kann die An- dass der Kandidat Kozulin und ein Journalist zusammen-
gebote zur Annäherung an die europäischen Struk- geschlagen worden sind und nun wegen Hooliganism,
turen nutzen und wirtschaftliche, soziale und also wegen groben Benehmens, angeklagt werden sol-
politische Vorteile daraus ziehen. len. Diese Auflage ist völlig kassiert und ihr Nachdruck
verhindert worden, einmal abgesehen davon, dass die
(B) Dies ist gewissermaßen das Versprechen, dass es freie Presse sowieso an dem Erscheinen ihrer Druck- (D)
dann, wenn freie und faire Wahlen stattfinden und damit erzeugnisse gehindert wird.
eine Rückkehr zur Demokratie erfolgt, Benefits bzw. po-
sitive Effekte für die belarussische Bevölkerung geben Ich glaube, wir sollten auch bei dieser Gelegenheit
wird. Man muss immer wieder betonen: Es geht uns immer wieder an die politischen Gefangenen erinnern
nicht darum, den so genannten letzten Diktator Europas – wir sind es ihnen schuldig –, an die Verschwundenen,
zu beschimpfen und sein Regime aus dem Amt zu jagen. aber auch an die, die jetzt wegen zum Teil ganz gering-
fügiger Vergehen im Gefängnis sitzen. Ich denke hierbei
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ an den Sozialdemokraten Statkevich: Er sitzt im Gefäng-
DIE GRÜNEN]: Ihn aus dem Amt zu jagen nis, weil er nach den letzten Wahlen aus Protest gegen
wäre auch nicht schlecht!) die Manipulationen an einer Demonstration teilgenom-
– Ich bin gar nicht dafür, ihn aus dem Amt zu jagen. Das men hat. Er ist zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wor-
müssen die Belarussen schon selber tun. den; die Haft ist jetzt auf zweieinhalb Jahre verkürzt
worden.
(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE
LINKE]) Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!
Bei uns würde man vielleicht eine kleine Geldstrafe be-
Uns geht es vielmehr um Demokratie, Menschen- kommen, wenn man polizeiliche Auflagen nicht einhält.
rechte und freie Wahlen. Deshalb wollen wir uns für die Allerdings würde bei uns erst gar nicht verboten werden,
zivile Gesellschaft in Belarus einsetzen. Im Zusam- dass die Menschen gegen etwas protestieren. Das ist ihr
menhang mit den Wahlen in 2004 hat die OSZE-Wahl- gutes Recht. Die Hintertürchen, die da immer aufgetan
beobachtermission festgestellt, dass es eine ganz leben- werden, alle möglichen Gründe, die vorgeschoben wer-
dige, tüchtige, wunderbare zivile Gesellschaft gibt, die den, um irgendwelche demokratischen Aktionen zu ver-
sich für eine Demokratisierung in Belarus einsetzt. Wir hindern, sind zum Teil schon hanebüchen.
haben dann erleben müssen, dass es nach diesen Wahlen
eine verstärkte Repression gerade gegenüber diesen Dabei brauchte Herr Lukaschenko – Herr Grund hat
Gruppen gegeben hat. das gesagt – nicht so viel Angst zu haben, dass er seine
Macht verliert. Alle Umfragen aus seriösen Quellen be-
Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik sollte es sagen zwar, dass die Opposition Zustimmung bekommt
sein, diese Zivilgesellschaft zu schützen und zu unter- und einen gewissen Bekanntheitsgrad hat. Wenn es aber
stützen. Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Re- um die Frage geht, wen man wählen würde, dann tun die
volution, wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziem- Menschen genau das, was Herr Grund gesagt hat. Sie
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Uta Zapf
(A) denken sich: „Sicher ist sicher! Es geht uns im Verhältnis Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
zu anderen noch einigermaßen gut.“ Deshalb würden Bitte schön.
sich viele wieder für Lukaschenko entscheiden, sicher
nicht 75 Prozent – das war das letzte manipulierte Er-
gebnis –, aber wahrscheinlich doch 50 Prozent. Ich habe Monika Knoche (DIE LINKE):
gerade ein Interview mit jemandem, der solche Umfra- In Belarus ist kein Weg zu einer Demokratie zu erken-
gen macht, gelesen. Er sagte, dass Lukaschenko mit ei- nen. Im Gegenteil: Meinungsfreiheit und politische Betä-
nem Sieg im ersten Wahlgang rechnen könne. tigung, die nicht regierungskonform ist, werden starken
Repressionen ausgesetzt. Das gilt auch für kommunisti-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sche Kräfte in diesem Land. Es gibt also keinen Grund,
diese diktatorischen Strukturen zu verteidigen.
Frau Zapf, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Uta Zapf (SPD):
Wer in Belarus Reformkräfte sucht, die das Land im
Ich komme zum Schluss. Ich würde aber gern, wenn postsowjetischen Prozess in ein demokratisches, nicht
Sie erlauben, ein recht hysterisches Zitat von Herrn kapitalistisches System überführen wollen, wird kaum
Lukaschenko wiedergeben. Er hat nämlich gesagt, er offizielle Repräsentanten und Repräsentantinnen finden.
würde jeden Versuch, eine Revolution anzuzetteln, un- Das ist zum Beispiel für aufgeklärte Linke eine traurige
terbinden, indem er all denen, die das versuchen, den Tatsache. Dennoch: Lukaschenko hat sich zur Einhal-
Hals umdrehe und sie zu Boden walze. Ich denke, das ist tung der OSZE-Standards verpflichtet. Daran ist der
Gewaltandrohung, nicht das, was die wahlkämpfenden Wahlverlauf zu messen. Es ist abzusehen: Das Wahl-
oppositionellen Kandidaten verkünden. Sie haben unsere ergebnis wird, obgleich eine Opposition antritt, zuguns-
Unterstützung. ten des Amtsinhabers ausfallen. Nun kann man darüber
Herzlichen Dank. reden – wir hätten das gern mit den Antragstellenden
getan –, wie der innergesellschaftliche Prozess in Weiß-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP russland hin zu einem demokratischen Gebilde gefördert
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden kann. Aber auf die spezifischen Kenntnisse der
Linksfraktion haben Sie keinen Wert gelegt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Welche spezifi-
Das Wort hat Monika Knoche, Die Linke. schen Kenntnisse?)
(B) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wichtig ist, dass die Menschen in Weißrussland poli- (D)
tisch wach sind und beobachten, was aus den Transfor-
Monika Knoche (DIE LINKE): mationsprozessen der ehemaligen Sowjetstaaten gewor-
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Abgeordneter den ist. Das ist große Armut für viele und großer
Link, Sie hätten Ihre wertvolle Zeit nicht darauf verwen- Reichtum für wenige. In Ex-Jugoslawien herrscht heute
den müssen, Zitate aus Zeitungen zu suchen, um die Po- teilweise eine Mafiastruktur. Von Rechtsstaat kann vie-
sition der Linken zu erfahren. Sie hätten uns schlichtweg lerorts keine Rede sein.
zu den Gesprächen über einen gemeinsamen Antrag ein-
Natürlich beobachten die Menschen und wägen ab,
laden können.
welches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem sie bekä-
(Beifall bei der LINKEN – Uta Zapf [SPD]: men, würde der politische Begriff Demokratie realiter
Das haben wir gemacht! Sie haben nicht da- mit Lissaboner Wirtschaftsordnung gleichgesetzt wer-
rauf reagiert! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das den. Für welchen anderen Reformweg sich die Bevölke-
hat die Kollegin Zapf gemacht!) rung entscheiden würde, wissen wir nicht, weil sie dazu
keine Chance erhält.
Wir hätten Ihnen dort sehr gern die Position dargelegt.
Wir sagen zu Ihrem interfraktionellen Antrag:
Es besteht, meine sehr geehrten Herren und Damen, Wenn Sie unser Petitum aufnehmen könnten, dass erstens
kein Zweifel: Lukaschenko ist kein Demokrat; er ist ein ausgeschlossen werden muss, dass die zutreffende Kritik
Autokrat. Es herrscht ein staatliches Diktat. an den Verhältnissen missbräuchlich verwendet wird, um
staatliche Souveränität aufzuweichen, dass zweitens die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Unterstützung der reformwilligen Kräfte zweckfrei er-
Frau Kollegin Knoche, es gibt eine Zwischenfrage folgt und keinesfalls – wie sie existieren – antisemitische,
von Frau Zapf. Möchten Sie sie zulassen? rassistische Kräfte in der Opposition unterstützt werden
(Uta Zapf [SPD]: Ach du lieber Himmel!)
Monika Knoche (DIE LINKE):
Wenn Sie gestatten, würde ich einfach weiterspre- und dass drittens demokratische Verhältnisse in Weiß-
chen; vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage. russland immer auch bedeuten, dass die dortige Bevöl-
kerung ihren Weg als Europäerinnen und Europäer – das
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Mangelnde betone ich – selbst bestimmen kann, dann hätten Sie un-
Souveränität!) sere Unterstützung.
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Monika Knoche
(A) Ich vermute allerdings, dass viel Sympathie für das Über die Frage, wie wir die Revolutionen, die jetzt (C)
besteht, was der Oppositionsführer Lebedko politisch mithilfe verschiedener Farben gekennzeichnet werden,
ausführte, als er kürzlich in der „taz“ sagte, dass „für die einschätzen, sollten wir gesondert diskutieren. Meines
Orange Revolution Europa eine Strategie fehle. Heute ist Erachtens war der Prozess in der Ukraine ein großer Sieg
politischer Wille spürbar, eine Strategie und einen kon- einer demokratisch orientierten Bevölkerung, die sich
kreten Aktionsplan zu erarbeiten.“ Ich sage: Die Orange Wahlbetrug und Wahlmanipulation nicht mehr gefallen
Revolution hat weder mehr Freiheit und Demokratie lassen wollte.
noch wirtschaftlichen Benefit für die breite Bevölkerung
gebracht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Da meine Redezeit leider sehr begrenzt ist, möchte SES 90/DIE GRÜNEN)
ich mir zum Schluss nur noch einen Satz erlauben: Zum
ideologisch motivierten Support darf europäische Men- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
schenrechtspolitik nicht werden. Da wir genau das in der Ich erteile das Wort zu einer weiteren Kurzinterven-
Intention Ihres Antrages nicht gewährleistet sehen, wer- tion dem Kollegen Michael Link.
den wir uns heute der Stimme enthalten.
(Beifall bei der LINKEN) Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Frau Präsidentin, danke schön. – Ich will mich ganz
ausdrücklich den Worten von Frau Zapf anschließen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir haben natürlich zunächst gemeinsam darüber ge-
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uta sprochen – übrigens hatten Grüne und FDP zuerst einen
Zapf das Wort. eigenen Antrag, dann haben CDU/CSU und SPD einen
entworfen –, wir haben verhandelt und wir haben uns
Uta Zapf (SPD): dann ganz bewusst dem Entwurf der Koalition ange-
schlossen, weil es hier nicht um Klein-Klein geht, son-
Ich möchte mich ganz energisch gegen zwei Unter-
dern um die Sache.
stellungen verwahren, die die Kollegin Knoche in ihrer
Rede vorgetragen hat. Das eine ist die Unterstellung, wir (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
hätten kein Angebot an die Linke gemacht, diesen An- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
trag mitzutragen. Er ist an alle Parteien gegangen und
die anderen Parteien, die ursprünglich nicht an der For- Das muss einmal deutlich ausgesprochen werden. Leider
mulierung beteiligt waren, nämlich FDP und Grüne, ha- haben Sie heute die Chance verpasst, sich dem anzu-
(B) ben Rückmeldungen gegeben und mit uns über Inhalte schließen. Hierbei geht es nicht um links oder rechts, (D)
diskutiert. Anschließend haben wir eine gemeinsame hierbei geht es um demokratisch oder nicht demokra-
Formulierung gefunden. Von der Linkspartei ist in kei- tisch.
ner Weise, weder durch Anruf noch durch Mail, eine Re- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
aktion erfolgt. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Unglaublich!) Ich stelle fest, dass sich die PDS dem nicht anschließt.
Deshalb weise ich Ihre Unterstellung, wir hätten Sie Sie haben leider keine Stellung zu dem Zitat auf Ihrer
nicht mit einbeziehen wollen, zurück und halte Ihre Be- Homepage genommen:
hauptung, Sie hätten gern mit uns über dieses und jenes
Offensichtlich geht es … der EU darum, einen ei-
diskutiert, für reine Augenwischerei.
genständigen Weg von Belarus nicht zuzulassen
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Land die eigenen kapitaldominierten
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Werte aufzuzwingen.

Darüber hinaus – das ist der zweite Punkt – haben Sie Welches Weltbild steht dahinter? Ein demokratisches?
durch Ihre Formulierungen unterstellt, dass wir die Op- Ich habe meine Zweifel daran.
position unterstützen, um subversive und revolutionäre (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Tendenzen zu schüren und damit dem zu dienen, was ich der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-
in meiner Rede sogar ausdrücklich abgelehnt habe, näm- SES 90/DIE GRÜNEN)
lich Lukaschenko aus dem Amt zu fegen. Ich denke, die
demokratische Unterstützung einer Opposition ist legi-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
tim. Das haben wir auch schon in der Vergangenheit ge-
macht. Dass Spanien und Portugal zum Beispiel den Herr Kollege Link, ich möchte Sie, weil Sie die Frak-
Wechsel von der faschistischen Periode hin zu einer de- tion angesprochen haben, bitten, den korrekten Namen
mokratischen Regierung geschafft haben, war nicht zu- der Fraktion zu verwenden, nämlich Die Linke und nicht
letzt der demokratischen Unterstützung vieler Länder zu PDS.
verdanken. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir sind die
Linke! Das ist die PDS!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Knoche, Sie wollen antworten.
1700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

(A) Monika Knoche (DIE LINKE): Zweitens möchte ich sagen: Wenn das, was aus den (C)
Also, diese Fraktion heißt Die Linke im Deutschen Stiftungen, aus der OSZE und aus demokratischen Insti-
Bundestag. tutionen an Unterstützung für die Opposition in Belarus
kommt, hier als ideologisch motivierter Support be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Noch!) zeichnet wird, dann, so glaube ich, ist doch sehr offen-
Sicherlich sind viele Vertreterinnen aus den neuen Bun- sichtlich, dass die Kolleginnen und Kollegen von der
desländern mit einer PDS-Geschichte hier. Aber es gibt, Linksformation offensichtlich nicht zustimmen wollen.
wie Sie wissen, auch viele Linke aus ganz anderen So- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zialisationen, die sich zu dieser neuen Formation zusam- NEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der
mengefunden haben. Daher ist es ganz gut, von der Lin- FDP)
ken zu sprechen. Die Linke hat in der Tat, wie ich hier
vorgetragen habe, eine sehr differenzierte Position zu Wenden wir uns wieder den demokratischen Kräften
Weißrussland in diesem Haus zu.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Hauptsache (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! Das
sozialistisch!) ist viel besser!)
Es ist gut, dass wir uns in vielen Punkten einig sind.
und die ist unmissverständlich zum Ausdruck gekom-
men. Deshalb wird es Ihnen auch im Nachgang nicht ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
lingen, uns in der Frage zu Belarus ein zweifelhaftes De-
Manche Erwartungen, die in dem vorliegenden Antrag
mokratieverständnis anzudichten.
formuliert worden sind, wurden leider schon durch die
Aber ich muss Ihnen sagen – Sie haben ja eine ge- Wirklichkeit widerlegt. Manches ist hier angesprochen
wichtige Gegenbemerkung gemacht –: In der Runde der worden. Wir haben formuliert, dass wir erwarten, dass
Parlamentarischen Geschäftsführer war eindeutig klar, die Wahlkämpfe nicht behindert werden. Doch jetzt wis-
dass der Linksfraktion kein Antrag zugegangen war. sen wir, dass sie massiv behindert werden, dass die freie
Darüber hinaus möchte ich Sie über folgende demokrati- Presse in Belarus nicht nur nicht mehr verteilt, sondern
sche Gepflogenheiten in diesem Hause erinnern – ich bin auch gar nicht mehr gedruckt werden darf. Wir wissen,
in meiner Vorzeit bei der Grünenfraktion eine Initiatorin dass der Aufforderung, die Oppositionskandidaten unan-
von vielen Gruppenanträgen, die fraktionsübergreifend getastet zu lassen, nicht nachgekommen worden ist. Der
getragen wurden, gewesen –: Es ist gute Übung in die- Oppositionskandidat Alexander Kozulin ist auf einer
sem Hause, sich an die Abgeordneten zu wenden und, dieser ominösen Volksversammlungen zusammenge-
schlagen worden.
(B) bevor ein Antrag eine textliche Fassung hat, die Positio- (D)
nen zu kennen bzw. sie zu eruieren und zu einem ge- Es ist gut, wenn wir jetzt, im Vorfeld der Wahlen,
meinsamen Text zu kommen nach Belarus schauen. Auch die Wahlbeobachtung ist
(Beifall bei der LINKEN) wichtig. Ich glaube aber, dass mindestens genauso wich-
tig ist, was nach der Wahl passiert; denn die Opposi-
und nicht nach dem Motto „Friss, Vogel, oder stirb!“ ei- tionsmitglieder haben zu Recht Angst, dass sich
nen Antrag vorzulegen, zu dem dann gesagt wird: Lukaschenko nach einem vermutlichen Wahlsieg noch
Schließt euch an oder ihr seid draußen. Für diese billige sicherer fühlen wird, es weitere Verhaftungen und noch
Feindbildprojektion möchten wir als Linke im Bundes- mehr Repressionen gegenüber allen zivilgesellschaftli-
tag nicht zur Verfügung stehen. Das sei hiermit eindeutig chen und demokratischen Bewegungen geben wird.
gesagt.
Ich möchte die mutigen Vertreter der demokrati-
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei schen Bewegung nennen. Stellvertretend für viele nenne
der CDU/CSU und der SPD) ich die politischen Gefangenen Valeri Levanowski,
Sergej Skrebets, Nikola Statkevich – er ist schon genannt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: worden –, Michail Marinich und Pavel Severinets. Es
Ich erteile das Wort der Kollegin Marieluise Beck, gibt viele andere, die wir hier nicht nennen. Wir müssen
Bündnis 90/Die Grünen. in der Zeit nach den Wahlen, wenn sich Lukaschenko
vielleicht sicher fühlt, ein Auge auf sie haben.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NEN): sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der SPD)
Kollegen! Erstens: Ich glaube, eigentlich haben die de- Viele mutige Menschen in der RADA, in der Kinder-
mokratischen Kräfte in diesem Haus keine Veranlas- und Jugendbewegung, von ZUBR, der demokratischen
sung, sich von demokratischen Revolutionen zu distan- Studenten- und Jugendbewegung, der zivilen Initiative
zieren. Ich finde demokratische Revolutionen „Charta 97“ und des Helsinkikomitees sind darauf an-
ausnahmslos gut. gewiesen, dass wir nach den Wahlen nach Belarus
schauen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was tut
SPD und der FDP) dem Regime Lukaschenko nach den Wahlen weh? Wir
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Marieluise Beck (Bremen)
(A) sind uns hier im Hause einig, dass zum Beispiel das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
NGO-Gesetz – genau wie in Russland wirkt es hier ver- Frau Kollegin, Ihre Redezeit.
heerend – weiterhin auf der Tagesordnung bleiben muss.
Die Stiftungen müssen weiterhin tätig sein und diese
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mutigen Pflänzchen unterstützen.
NEN):
Es gibt – darüber wird zu sprechen sein – einen reich- Ich kenne diese Situation aus meinem vorherigen
haltigen Instrumentenkasten – von der ILO bis zur EU –, Amt. Ich meine, dass wir Außenpolitiker unseren Kolle-
der angewandt werden muss, wenn die Verpflichtungen, gen Innenpolitikern sagen sollten, dass neben dem be-
denen sich Belarus selbst unterstellt hat – von gewerk- rechtigten Wunsch nach Sicherheit und Schutz vor unbe-
schaftlichen Rechten bis hin zu demokratischen Freihei- rechtigter Einreise auch die Notwendigkeit der Politik
ten –, nachweisbar nicht eingehalten werden. der Öffnung besteht, um Demokratiebewegungen zu
stärken.
Deutschland ist als starker Handelspartner in der Ver-
pflichtung. Es gibt schon jetzt Visabeschränkungen. Es Wenn wir uns hierin vielleicht doch einig sind, dann
tut weh, wenn Funktionäre nicht ins demokratische Aus- unterstützen wir Belarus weiterhin in diesem Sinne. Ich
land reisen dürfen. Wir werden über all das zu sprechen denke, wir schaffen das auch ohne die Linke.
haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Es wird auch – in diesem Punkt schließe ich mich Ih- bei der CDU/CSU und der SPD)
nen, Herr Kollege Link, an – eine Frage an den, wie er
jetzt heißt, strategischen Partner Russland zu stellen sein, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nämlich wie lange Russland das System Lukaschenko, Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach, CDU/
wenn auch mit geteilten Gefühlen, unterstützen wird. CSU-Fraktion.
Diese Frage müssen wir Russland stellen, einem Land,
das den Vorsitz in der G 8 inne hat und am 9. Mai den
Vorsitz im Europarat übernehmen wird. Das ist eine Ver- Erika Steinbach (CDU/CSU):
pflichtung, an die wir Russland erinnern sollten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Tagen urteilte der ledige Präsident von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Belarus, Alexander Lukaschenko, über sich selbst wie
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der folgt: „Eine Frau, die mit mir hätte leben müssen, wäre
CDU/CSU und der FDP) zu bemitleiden gewesen.“ Ich will diese Selbsteinschät-
zung ergänzen und sagen: Das belarussische Volk, das
(B) Ganz kurz möchte ich noch einen Punkt ansprechen, mit diesem Präsidenten leben muss, ist zu bemitleiden. (D)
an dem es in diesem Haus vielleicht keine Einigkeit gibt.
Demokratie braucht Freiheit und Diktatoren fürchten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Freiheit. Nichts ist besser, als wenn möglichst viele neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
junge Menschen, junge Akademiker, junge Wissen- SES 90/DIE GRÜNEN)
schaftler, Schüler und Studenten, sehen, was Freiheit im
Es gibt in Europa wirklich keinen anderen Präsiden-
Alltag bedeutet. So wie die Amerikaner im Nachkriegs-
ten, der sein eigenes Volk dermaßen knechtet, seine
deutschland mit den Projekten „American Field Service“
Würde verletzt und die Menschenrechte so mit Füßen
und „Youth for Understanding“ ein demokratisches Be-
tritt wie Präsident Lukaschenko. Es ist gut, dass wir die
wusstsein stiften wollten – womit sie erfolgreich
in Belarus bevorstehende Präsidentschaftswahl heute
waren –, müssen wir Möglichkeiten für den Kontakt
zum Anlass nehmen, um auf die politische Lage und auf
mit Demokratien eröffnen. Das heißt, keine kleinmü-
die massiven Menschenrechtsverletzungen in dieser
tige Abschottung durch eine restriktive Visapolitik, son-
Diktatur hinzuweisen.
dern Möglichkeiten schaffen, um zu reisen oder in einem
anderen Land zu studieren. Durch einige konkrete Beispiele, die manchmal plas-
tischer als pauschale Urteile sind, möchte ich ein Schlag-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN licht auf die Unterdrückungsmechanismen und auf die
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Verletzung der Menschenrechte in Belarus werfen: Mit
CDU/CSU und der FDP) Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski
Ich schlage mich in meinem Wahlkreis gerade mit ver- und Dimitri Sawadski verschwanden vier Oppositionelle
sagten Visen für Studenten herum. Wir müssen Kontakte völlig spurlos; ihr Verbleiben ist bis heute absolut unge-
zwischen Wissenschaftlern ermöglichen, Stipendien an- klärt. Professor Juri Bandaschewski wurde im Juni 2001
bieten und Aupairmöglichkeiten bieten. Auch die Kos- zu acht Jahren Gefängnis verurteilt; seine Verurteilung
ten in Höhe von 60 Euro für ein Visum, die mit dem steht offenbar allein im Zusammenhang mit kritischen
Schengenvisum entstehen, stellen faktisch eine Kontakt- Äußerungen zur Regierungspolitik. Im Mai letzten Jah-
sperre für ganz viele Menschen aus einem Land wie res wurden die Oppositionspolitiker Nikola Statkevich
Belarus, wo 60 Euro unendlich viel Geld sind, dar. und Pavel Severinets zu zwei Jahren Arbeitslager verur-
teilt – wegen der Demonstrationen nach den gefälschten
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- letzten Parlamentswahlen. Und erst im November letz-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und ten Jahres wurde die Studentin Tatiana Khoma wegen ei-
der SPD) ner so harmlosen Sache wie der Teilnahme an einem
1702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Erika Steinbach
(A) Studentenkongress in Frankreich von der staatlichen für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – (C)
Universität verwiesen. Der Antrag ist angenommen mit Zustimmung des gan-
zen Hauses bei Enthaltung der PDS.
Der heute vorliegende interfraktionelle Antrag hebt
zu Recht positiv hervor, dass Beobachter der Präsident- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
schaftswahlen zugelassen sind. Sie dürfen aber nicht,
– Der Linksfraktion, Entschuldigung.
wie es bei der letzten Parlamentswahl der Fall war, letzt-
lich nur Feigenblätter für Wahlfälschungen und für die (Zuruf von der FDP: Das ist Die Linke, Frau
Unterdrückung der Opposition sein. Präsidentin!)
Schon heute, zehn Tage vor der Wahl am 19. März, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
lassen die Berichte, die uns aus Belarus erreichen, nur
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ungutes erahnen: Schülern und Studenten, die im Fe-
Mechthild Dyckmans, Birgit Homburger,
bruar öffentliche Bekenntnisse gegen Lukaschenko und
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), weiterer Abgeord-
für die Freiheit in diesem Lande abgelegt haben, drohen
neter und der Fraktion der FDP
der Verweis von den Universitäten und Verurteilungen.
Unabhängigen Umfrageinstituten wird der Prozess we- GmbH-Gründungen beschleunigen und ent-
gen angeblicher Wahlmanipulationen und wegen Staats- bürokratisieren
verschwörung gemacht. Ausländischen Journalisten
– Drucksache 16/671 –
wurde in der vergangenen Woche zum Teil die Einreise
verweigert; ein Journalist wurde sogar deportiert. Am Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
letzten Donnerstag wurde der Präsidentschaftskandidat Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Alexander Kozulin von zivil gekleideter Miliz massiv
verprügelt und für acht Stunden in Haft genommen. Es ist verabredet, darüber eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
Vorgestern – darauf ist schon hingewiesen worden – schlossen.
wurde der Vorsitzende der oppositionellen Vereinigten
Bürgerpartei im Anschluss an eine Wahlkampfveranstal- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
tung festgenommen und direkt zu 700 Dollar Strafe Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.
verurteilt – 700 Dollar sind in diesem Lande ein unbe-
zahlbares Vermögen –, und das allein wegen der Durch- Mechthild Dyckmans (FDP):
führung einer angeblich nicht zulässigen Veranstaltung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
Erst gestern Nachmittag hat die Miliz den Vorsitzenden dieser Diskussion über einen unserer Nachbarn im nahen
(B) der oppositionellen Belarussischen Volksfront, Vincuk Ausland kommen wir wieder zurück nach Deutschland (D)
Viacorka, festgenommen. Vor wenigen Stunden ist er zu und wenden uns den Problemen in unserem Land zu.
15 Tagen Haft verurteilt worden – wegen des Abhaltens
Wir Liberalen reden nicht nur von Entbürokratisie-
unerlaubter Wahlkampfveranstaltungen. Liebe Freunde,
rung, sondern wir tun auch etwas dafür.
mit Demokratie und Menschenrechten ist all das völlig
unvereinbar. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Anders als die Bundesregierung, die sich zwar auch den
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abbau von Bürokratie auf die Fahne geschrieben hat,
aber weder das angekündigte Programm zur Bürokratie-
Wir in diesem Hause tun gut daran, die demokrati-
kostenmessung vorlegt, noch den Normenkontrollrat
schen Kräfte in Belarus zu unterstützen. Wir erwarten
eingesetzt hat, geht die FDP mit dem Ihnen heute vorlie-
von der dortigen Regierung, dafür zu sorgen, dass die
genden Antrag den eingeschlagenen Weg konsequent
Kandidaten, ihre Parteien und ihre Unterstützer bei ihren
weiter, sich für Entbürokratisierung einzusetzen. Wie be-
Wahlkämpfen und die Journalisten bei ihrer Bericht-
reits in der letzten Legislaturperiode zeigt unsere Frak-
erstattung in keiner Weise behindert werden. Wir erwar-
tion in fast jeder Sitzungswoche exemplarisch auf, wo
ten nichts anderes als freie und gerechte Wahlen und ei-
unnötige Bürokratie konkret abgebaut werden kann. Der
nen fairen Umgang mit den Wahlverlierern, wer auch
Antrag, der Ihnen heute vorliegt, ist in dieser Wahl-
immer das sein mag.
periode bereits der sechste Antrag, den die FDP-Bundes-
Danke schön. tagsfraktion zum Thema Bürokratieabbau vorgelegt hat,
und ich darf Ihnen ankündigen und versichern, dass wir
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weiterhin Wege zur Entbürokratisierung aufzeigen wer-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- den.
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich komme zu dem Antrag. Auch der FDP ist natür-
Ich schließe die Aussprache. lich nicht entgangen, dass die Regierungskoalition das
GmbH-Recht ändern will; das hat die Bundesjustiz-
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
ministerin wiederholt angekündigt.
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/816 mit dem Titel „Bela- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es freut uns,
rus vor den Präsidentschaftswahlen 2006“. Wer stimmt dass Sie das mitbekommen haben!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1703
Mechthild Dyckmans
(A) Aber Ankündigungen allein reichen nicht. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Aber er (C)
darf nicht mehr tätig werden, gnädige Frau!)
(Beifall bei der FDP)
Eine Löschung von Amts wegen ist grundsätzlich nicht
Zum jetzigen Zeitpunkt liegen noch nicht einmal offi- gerechtfertigt und selbst eine zu Unrecht erfolgte Eintra-
zielle Eckpunkte vor. gung in das Handelsregister bleibt zunächst bestehen.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Seriöse Arbeit (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja noch
braucht ein bisschen Zeit!) schlimmer, als ich gedacht habe!)
Der Bürger muss sich bisher auf die wenigen, sehr gro- Die notwendige Genehmigung wird nachgefordert und
ben Zielvorgaben im Koalitionsvertrag verlassen. im üblichen Genehmigungsverfahren notfalls mit
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Dann ist er Zwangsgeldern erzwungen.
verlassen!) Es gibt somit keinen Grund, an der Regelung des § 8
Mit unserem heutigen Antrag sprechen wir von der Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz festzuhalten. Auch nach der
FDP einen wichtigen Aspekt der Entbürokratisierung an Streichung dieser Vorschrift bleiben die Verantwortli-
und zeigen gleichzeitig, in welche Richtung eine Reform chen der GmbH ebenso wie die Fachbehörden verpflich-
des GmbH-Rechts gehen muss. tet, alle notwendigen Genehmigungen einzuholen bzw.
auf deren Einholung zu achten.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Alles im Auftrag
der „Stiftung Marktwirtschaft“!) Für den Existenzgründer ist jedoch wichtig, dass er
seine wirtschaftliche Betätigung umgehend und unbüro-
Wenn die GmbH mit ihrer über 100-jährigen Tradition kratisch aufnehmen kann.
im Wettbewerb der Rechtsformen bestehen und der eu-
ropäischen Privatgesellschaft als Vorbild dienen soll, (Beifall bei der FDP)
dann muss vor allem die Schwerfälligkeit des Grün- Hierfür ist es erforderlich, dass er die Vorteile, die ihm
dungsvorgangs behoben werden: Die Gründung einer die Rechtsform der GmbH bietet, möglichst schnell nut-
GmbH in Deutschland ist zu langwierig und zu kostspie- zen kann, das heißt, dass die GmbH schnell entsteht.
lig.
(Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Während andere europäische Staaten die Möglichkeit ei- Frau Dyckmans, kommen Sie bitte zum Schluss.
ner Blitz-GmbH – so Spanien –, einer Online-GmbH
(B) – Dänemark – oder ganz einfach allgemein die rasche Mechthild Dyckmans (FDP): (D)
und einfache Gründung von Gesellschaften propagieren, Ich komme zum Schluss. – Abschließend möchte ich
wie England mit der Limited, vergehen in Deutschland noch klarstellen, dass wir mit diesem Antrag natürlich
von der Beurkundung des Gesellschaftsvertrages bis zur nur einen Teilaspekt der GmbH-Reform aufzeigen. Das
Eintragung in das Handelsregister mehrere Wochen. geltende Recht ist an vielen Stellen reformbedürftig.
Hier setzt unser Antrag an.
Wenn uns der Herr Staatssekretär sagen kann, wann
Mit der Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Ge- das Justizministerium einen entsprechenden Gesetzent-
setz kann der Gründungsvorgang vereinfacht und be- wurf vorlegt, dann werden wir zu gegebener Zeit sicher-
schleunigt werden, ohne dass wirklich notwendige und lich noch darüber zu diskutieren haben.
effektive Kontrollmöglichkeiten des Staates beeinträch-
tigt werden. In § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz wird für Ich danke Ihnen.
die Eintragung einer GmbH die Vorlage sämtlicher be- (Beifall bei der FPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
hördlicher Genehmigungsurkunden verlangt, wenn der Das würde er selbst gerne wissen!)
Unternehmensgegenstand der GmbH nach anderen
Rechtsvorschriften einer solchen staatlichen Genehmi-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gung bedarf. Hierdurch wird die Eintragung erheblich
verzögert, da zunächst die Frage der Genehmigungsbe- Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb,
dürftigkeit oder Genehmigungsfähigkeit beantwortet CDU/CSU-Fraktion.
werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU)
Einziger Sinn dieser Regelung ist, zu verhindern, dass
eine juristische Person entsteht, der im Zeitpunkt der Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU):
Eintragung die wegen ihres Unternehmensgegenstands Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So, wie
notwendige staatliche Genehmigung fehlt. Alle staatli- sich die Marke VW Golf in der Automobilbranche mil-
chen Behörden sind jedoch auch außerhalb dieses Para- lionenfach als Erfolgsmodell für die gute Mittelklasse
grafen dazu verpflichtet, eine Tätigkeit, die ohne eine etabliert hat, so ist die GmbH seit ihrer Geburtsstunde im
erforderliche Genehmigung betrieben wird, zu unterbin- Jahre 1892 zu dem bevorzugten Modell für unsere mit-
den. Wird zum Beispiel eine zuvor erteilte Genehmigung telständischen Unternehmen geworden. In unserem
nach der Eintragung in das Handelsregister widerrufen, Land gibt es über 1 Million Gesellschaften mit be-
dann hat dies weder auf die Eintragung noch auf den ein- schränkter Haftung. Wie schön also, dass die GmbH rollt
getragenen Unternehmensgegenstand Einfluss. und rollt und rollt.
1704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Jürgen Gehb


(A) Doch Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, es derung – Frau Dyckmans, Sie haben es gesagt – war nur (C)
wäre völlig verkehrt, sich selbstzufrieden auf den ver- ein Teilschritt. Damit allein kann man das Problem nicht
meintlichen Lorbeeren auszuruhen. lösen. Das ist ein sektoraler Begriff und würde zu kurz
greifen, wie Sie selbst eingeräumt haben.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Tun wir doch
nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Widerspruch bei der FDP)
Denn, Herr Benneter, Erfolgsmodelle bleiben nur dann
erfolgreich, wenn sie den veränderten Wünschen und Schnelligkeit und Unkompliziertheit sind das eine.
Bedürfnissen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Dabei Wir müssen uns neben vielen anderen Fragen auch die
stehen nicht nur die Wünsche der Kunden im Vorder- Frage stellen, ob wir auf ein Mindestkapital bei der be-
grund. Selbstverständlich spielen auch der Markt insge- stehenden GmbH oder einer anderen, neuen Rechtsform
samt und damit auch die Konkurrenten und deren attrak- verzichten wollen, und, wenn ja, wie dies durch andere
tive oder auch nicht attraktive Angebote eine Rolle. Instrumente des Gläubigerschutzes aufgefangen werden
Nun hat sich der Markt – um präzise zu sein: der eu- muss.
ropäische Markt – auch im Gesellschaftsrecht erheblich Nun ist mir der Hinweis sehr wichtig, dass wir nicht
verändert. Lange lebten wir in Deutschland quasi abge- nur die Wünsche und Interessen einer bestimmten
schottet in einer Art Paradies. Neben der GmbH als Gruppe von Existenzgründern im Auge haben dürfen
Golf-Klasse gab es auch die gut etablierte Aktiengesell- – so berechtigt das ist –, sondern auch einer Antwort des
schaft, wenn man so will: die S-Klasse von Mercedes. Gesetzgebers bedürfen. Es gibt auch ein paar Missstände
Attraktive Kleinwagen waren dagegen nicht im Angebot und offene Punkte im bestehenden GmbH-Recht, die
und entsprechenden Modellen aus dem Ausland war der ebenso entschlossen und gründlich anzugehen sind. Las-
Zutritt auf den deutschen Markt nicht gestattet. sen Sie mich in diesem Kontext nur die Geschäftsführer-
Diese Zeiten gehören inzwischen der Vergangenheit haftung und die so genannten Bestattungsfälle – komi-
an. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes scher Ausdruck, aber so heißt das nun einmal –
– zuletzt die Inspire-Art-Entscheidung aus dem erwähnen, ohne dass ich jetzt darauf näher eingehen
Jahre 2003 – hat dazu geführt, dass europäische Gesell- will.
schaften hierzulande unter fremder Flagge operieren Der Reformbedarf jedenfalls ist eindeutig vorhanden
dürfen. So stehen Firmengründern aus Deutschland alle und in diesem Haus offenbar auch unstreitig. Nach mei-
in der EU angebotenen Gesellschaftsformen zur Verfü- ner Überzeugung – diese Überzeugung wird von meiner
gung. Auf diese ausländischen Gesellschaftsformen Fraktion geteilt – ist die Reform des GmbH-Rechts eines
wird in Deutschland rege zugegriffen. Wir als Gesetzge- der wichtigsten Projekte in der Rechtspolitik. Manchmal (D)
(B)
ber müssen wissen, dass wir damit spätestens seit 2003 hat man hier den Eindruck, die Reformen beschränken
innerhalb Europas in einem echten Wettbewerb stehen. sich auf das Strafrecht.
Auch beim Verbraucher dürften die für ihn neuen Kürzel
Ltd., S.L., Inc., IBC oder Corp. der Firmen für mancher- (Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild
lei Verwirrung sorgen. Dyckmans [FDP]: Man muss das aber mal an-
gehen!)
Am bekanntesten und attraktivsten scheint dabei für
deutsche Existenzgründer die britische Limited zu sein. Ich kann Ihnen deshalb hier und heute versichern,
Mittlerweile erfolgt fast jede fünfte Neugründung einer dass die CDU/CSU-Fraktion an dieser Diskussion enga-
Kapitalgesellschaft in unserem Land in der Form der giert und sachkundig teilnehmen wird.
Limited. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Mehr (Otto Fricke [FDP]: Ihr müsst es machen!)
als 30 000 Limiteds haben sich in unserem Land inzwi-
schen etabliert. Offensichtlich stellt aus der Sicht vieler Schließlich haben wir in unserem Koalitionsvertrag als
Existenzgründer der mit einer GmbH-Gründung verbun- Ziel einer Novellierung des GmbH-Gesetzes die Erleich-
dene Zeit- und Kapitalaufwand eine Hürde dar, terung und Beschleunigung der Gründung, die Steige-
rung der Attraktivität als Unternehmensform und die
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Eben!) Bekämpfung von Missbräuchen bei Insolvenzen aus-
die sie dazu veranlasst, nach anderen rechtlichen Ein- drücklich benannt.
kleidungen ihrer Unternehmungen zu suchen. Allerdings
(Beifall bei der CDU/CSU)
zweifle nicht nur ich sehr daran, dass jeder auch wirklich
weiß, auf was er sich einlässt, wenn er sein Geschäft in Aber bei aller Reformnotwendigkeit und Reform-
der Form der Limited gründet. freude sollten wir eines nicht aus den Augen verlieren
– das ist jedenfalls mir ein wichtiges Anliegen –: Die
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die Notare
millionenfach real existierende GmbH ist ein wohl ein-
werden nicht überflüssig!)
geführtes Markenprodukt, das als durch und durch solide
Dennoch müssen wir uns als Gesetzgeber fragen las- Rechtsform für den Mittelstand konzipiert worden ist.
sen: Warum werden deutsche Rechtsformen mehr und Die Entwicklung nach unten – das bekannte Schlagwort
mehr verschmäht? Warum gibt es bisher kein entspre- lautet „race to the bottom“ –, die sie in den letzten Jahr-
chendes Angebot in der Modellpalette unseres deutschen zehnten genommen hat, hat der Rechtsform bereits er-
Gesellschaftsrechts? Wollen wir ein Angebot offerieren heblich geschadet. Daher werbe ich sehr dafür, dass wir
und, wenn ja, in welcher Form? Die vorgeschlagene Än- bei der Gesamtreform ständig im Auge behalten, vor al-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1705
Dr. Jürgen Gehb
(A) lem die Solidität der GmbH aufrechtzuerhalten oder sie Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): (C)
wieder neu herzustellen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie ahnen bereits: Wenn hier ein Vertreter der SED-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Nachfolgeorganisation spricht, dann muss es um den
neten der SPD)
Kampf gegen den Staatsbürokratismus gehen.
Es wäre mehr als bitter, wenn das deutsche Marken- und
(Otto Fricke [FDP]: Die Linke ist die Nach-
Erfolgsprodukt GmbH nach einer Reform in dieser Le-
folgeorganisation der SED?)
gislaturperiode dadurch abgewertet würde, dass man
diese Rechtsform nur noch als GmbH light wahrnimmt. – Warten Sie einen Moment! Sie werden vielleicht noch
einen Grund haben, das freundliche Lachen beizubehal-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten.
neten der SPD)
Die Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz,
Wir müssen daher in unserer Diskussion ernsthaft der die die FDP fordert, kann tatsächlich Start-ups und Exis-
Frage nachgehen, ob alle Wünsche, Bedürfnisse und Re- tenzgründern den Papierkrieg erleichtern, und dies kon-
formnotwendigkeiten in einer einzigen Rechtsform opti- kret über das hinaus, was der Koalitionsvertrag im Duk-
mal zu befriedigen sind. tus sattsam bekannter Mittelstandssonntagsreden wolkig
Schließlich müssen sich auch Autobauer – um auf verkündigt. Ich habe in meinem Leben schon einige
diese Metapher zurückzukommen – immer wieder über- GmbHs gegründet, die übrigens alle noch erfolgreich ar-
legen, mit welchen Produkten sie am Markt Erfolg ha- beiten
ben. Reicht ein Modell für alle Zielgruppen? Reicht es (Beifall bei der LINKEN)
aus, den von mir bereits erwähnten Golf abzuspecken,
um zusätzliche Kleinwagenkäufer zu gewinnen? Verliere – Sie sehen, das ist unsere Mittelstandsorientierung –,
ich, wenn ich dies tue, dadurch vielleicht alte Golflieb- und weiß, welcher Irrsinn vor der Registereintragung
haber, für die der Golf dann nicht mehr der solide, starke lauert.
Mittelklassewagen ist? Ist es dann vielleicht doch besser,
zusätzlich einen Kleinwagen in die Angebotspalette mit Der Alltag der Klein- und Mittelverdiener in diesem
aufzunehmen, damit die spezifische Nachfrage trenn- unserem Land ist hoffnungslos überreguliert – das habe
scharf und zielgenau bedient wird? ich übrigens auch festgestellt, lieber Reinhard Schultz,
als ich Bundesvorsitzender der 43 000 sozialdemokrati-
(Otto Fricke [FDP]: Nehmen Sie doch mal schen Unternehmer in Ihrer Partei war –, während über
einen anderen Hersteller!) der Deutschen Bank, dem Allianzkonzern und BMW der
(B) blaue Himmel von Steuerfreiheit und Regelfreiheit (D)
Es ist nicht nur für Autobauer bitter, wenn ein neues strahlt. Das ist die Wahrheit.
Produkt weder Fisch noch Fleisch ist und dadurch
schlicht und einfach vom Kunden verschmäht wird. Dies (Beifall bei der LINKEN)
sollte jedenfalls nicht das Ergebnis zu vieler und wo-
möglich fauler Kompromisse innerhalb einer – ich be- Der Gläubiger – gerade im Handwerk – muss bei jeg-
tone: notwendigen – GmbH-Reform sein. licher GmbH-Novellierung künftig stärker geschützt
werden. Dabei sollte das gezeichnete Stammkapital für
Lassen Sie uns deshalb die Reform unseres Gesell- Geschäftspartner transparenter werden. Möglicherweise
schaftsrechts zügig anpacken und mutige Schritte gehen. muss das Stammkapital auch sukzessive dem Umsatz
Orientieren wir uns am Mut des Gesetzgebers im angepasst werden. Es geht nicht an, Kollege Gehb, dass
Jahr 1892. Damals wurde der bereits etablierten Aktien- jemand mit einer Mindesteinlage von 25 000 Euro Ge-
gesellschaft eine Innovation namens GmbH zur Seite ge- schäfte mit einem Umsatz von vielen Millionen tätigt
stellt, die äußerst skeptisch beäugt wurde. Das Vorhaben und der Gläubiger regelmäßig und vorgezeichnet ins
wurde trotzdem zum größten Erfolg des deutschen Ge- Leere greifen muss.
sellschaftsrechts. Vielleicht wäre ja einem neuen Gesell-
schaftsrechtstyp – freilich neben der zu reformierenden (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ja auch
GmbH und unabhängig von seiner Etikettierung als nicht dafür gedacht! Das wissen wir auch!)
„Kaufmanns-mbH“, „Unternehmensgründergesellschaft“ – Sie kennen die Realität. In meinem Heimatort Eiterfeld
oder wie auch immer – eine ähnliche Erfolgsgeschichte ist ein Handwerksunternehmen einem Generalunterneh-
beschieden wie der in die Jahre gekommenen GmbH. mer aufgesessen, dem er Fenster eingebaut hat. Wie Sie
Wie Franz Beckenbauer sagen würde: „Schau’n mer wissen, kann man die Fenster dann nicht mehr zurückho-
mal!“ len. Das alles sind auch die Folgen von Intransparenz.
Ich denke, an dieser Stelle sollte bei der Novellierung
Danke schön.
nachgearbeitet werden. Darin sollten wir uns in diesem
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Otto Hause einig sein.
Fricke [FDP]: Aber nicht zu lange schauen!)
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
machen es mir als dem Dachverbandsvorsitzenden der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: linken Mittelstandsorganisation OWUS nicht eben leicht
Das Wort hat der Kollege Dieter Dehm, Fraktion Die mit Ihrem Antrag. Im Feststellungsteil zitieren Sie mei-
Linke. nes Erachtens zu oft die Stiftung Marktwirtschaft. Das
1706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Diether Dehm


(A) ist eine Lobby der Konzerne und Großbanken im mittel- tionsvertrag festgelegt. Wir haben schon zum Ende der (C)
ständischen Tarnanzug. letzten Legislaturperiode den Entwurf eines Gesetzes zur
Herabsetzung des Mindestkapitals eingebracht, um eines
(Beifall bei der LINKEN)
der größten Hindernisse, gerade was die Wettbewerbs-
Das Hauptproblem unserer Kleinunternehmen ist fähigkeit von kleinen Kapitalgesellschaften angeht, zu
nicht der überkommene GmbH-Eintragungsmarathon, beseitigen und die GmbHs zu stärken. Dieser Gesetzent-
den Sie verkürzen wollen, sondern es sind die man- wurf ist aber der Diskontinuität zum Opfer gefallen.
gelnde Binnenkaufkraft und die Arbeitslosigkeit. Der
Nun befindet sich der Entwurf eines Gesetzes in der
Feind der Kleinunternehmen sind erst recht nicht die Ge-
Ressortabstimmung – das werden Sie sicherlich wissen;
werkschaften, wie uns die Stiftung Marktwirtschaft und
der Stiftung Marktwirtschaft wird das jedenfalls nicht
die Arbeitgeberverbände einbläuen wollen. Der Gegner
verborgen geblieben sein –, das dem Abbau von Über-
unseres Handwerks ist vielmehr die politische Über-
regulierung dienen soll. Überregulierung ist aber nur das
macht der Konzerne und der Großbanken. Deshalb
eine. Die Stiftung Marktwirtschaft spricht ständig von
unterstütze ich als linker Unternehmer den Streik von
einem Regelsumpf, den es auszutrocknen gelte. Das will
Verdi; denn eine um 18 Minuten kürzere Arbeitszeit
ich so nicht stehen lassen. Es gibt sehr wohl vernünftige
kann 250 000 Arbeitsplätze und damit die entsprechende
staatliche Genehmigungsvorschriften. Ich erinnere bei-
Kaufkraft retten.
spielsweise daran, dass jemand, der eine Makler-GmbH
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der gründen will, nach § 34 c der Gewerbeordnung eine ent-
CDU/CSU: Mein Gott!) sprechende Genehmigung benötigt. Diese Genehmigung
ist nicht Ausdruck von Überregulierung, sondern dient
Ich bin außerdem für Mindestlöhne als Maßnahme zur
ganz konkret dem Verbraucherschutz und letztlich
Erhöhung der Kaufkraft und gleichzeitig gegen eine Er-
auch dem Gläubigerschutz. Das sollten wir bei der an-
höhung der Mehrwertsteuer. Des Weiteren streite ich für
stehenden Reform berücksichtigen.
eine aktive Mittelstandspolitik und den Gläubigerschutz,
aber auch für die Entrümpelung starrer Regeln, welche (Beifall bei der SPD)
die Kleinunternehmen drangsalieren.
Zur baden-württembergischen FDP scheint die Stif-
Undogmatisch, wirtschaftskompetent und pragma- tung Marktwirtschaft übrigens keinen direkten Zugang
tisch, wie wir Linken von Haus aus sind, zu haben; denn Baden-Württemberg hat, wie ich mir
habe sagen lassen, im Bundesrat – wahrscheinlich we-
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
gen des Wahlkampfes – einen Antrag im Zusammen-
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
hang mit der Einführung des elektronischen Handels-
GRÜNEN)
(B) registers eingebracht, der vorsieht, dass die IHKs als (D)
nehmen wir uns also die Freiheit, sowohl für den Streik Vorprüfstelle bundesweit neu tätig werden sollen. So
von Verdi einzutreten als auch für den FDP-Antrag zu viel zur Überregulierung im Gründungsstadium.
votieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb
[CDU/CSU]: Das ist der falsche Tagesord- Wie gesagt, das muss daran liegen – anders ist es nicht
nungspunkt gewesen!) zu erklären –, dass die Stiftung Marktwirtschaft auf die
baden-württembergische FDP keinen so direkten Zugriff
hat wie offensichtlich auf die Kasseler FDP – auf die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: FDP, Herr Kollege Gehb, auf sonst niemanden.
Das Wort erhält der Kollege Klaus Uwe Benneter,
SPD-Fraktion. Das Entfallen aller staatlichen Genehmigungen im
Gründungsvorgang muss man sich genau anschauen. Es
gibt hier viele Schutzvorschriften für die Verbraucher
Klaus Uwe Benneter (SPD):
und für die Gläubiger. Sie wissen, der Regierungsent-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-
wurf beschäftigt sich gerade damit, den Gläubigerschutz
ginnen und Kollegen! Ich habe ebenfalls schon viele
zu verbessern und insbesondere die Haftung der Ge-
GmbHs gegründet, allerdings nicht für mich. Herr Kol-
schäftsführer stärker ins Auge zu fassen. Das betrifft die
lege Dehm, ich weiß, dass Sie sehr viele gegründet ha-
Phase, in der die GmbH schon zahlungsunfähig ist und
ben. Ich hoffe, dass Sie nicht allzu viele zugrunde gerit-
dennoch luftige Geschäfte zum Schaden derer gemacht
ten haben.
werden, die sich von solchen GmbHs Geld abknöpfen
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!) lassen.
Ich weiß zwar, dass es bürokratische Hindernisse und Wir alle wissen, dass das Stammkapital einer GmbH
Überregulierung beim Gründungsvorgang gibt. Aber längst nicht mehr tatsächlich zur Haftung beiträgt. Die
bei der Lösung der Probleme im Parlament isoliert vor- Banken und diejenigen, die sich sonst in Geldgeschäften
zugehen und ausschließlich den Schlussfolgerungen der auskennen, begnügen sich nicht mit der Aussage etwa
Stiftung Marktwirtschaft zu folgen, wie es die FDP tut, eines Herrn Dehm, er habe eine GmbH gegründet, und
halte ich nicht für den richtigen Ansatz. Sie wissen ge- betrachten diese Gründung nicht ohne weiteres als se-
nau, dass wir längst dabei sind, eine gründliche und se- riöse Firma, der man Geld leihen kann, sondern sie ver-
riöse Reform des GmbH-Rechtes zu machen. Wir haben langen auch von Herrn Dehm die Grundbuchauszüge der
das – Herr Dr. Gehb hat es schon dargelegt – im Koali- ihm persönlich gehörenden Grundstücke. Erst dann ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1707
Klaus Uwe Benneter
(A) ben sie Geld, damit Herr Dehm seine Aktivitäten entfal- Vielleicht können Sie bis dahin Ihr isoliertes Anliegen (C)
ten kann. zurückstellen.
Wir machen eine GmbH-Reform aus einem Guss. Wir
schauen uns das genau an und prüfen auch die Frage der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Überregulierung. Wir schauen uns auch den § 8 an. Das ist eigentlich ein schönes Schlusswort.

(Zuruf von der FDP: Das ist richtig!) Klaus Uwe Benneter (SPD):
Sie können sicher sein, dass wir eine seriöse und gründ- Ja?
liche Reform machen. Danke schön.
(Beifall bei der SPD – Abg. Otto Fricke [FDP] (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
meldet sich zu einer Zwischenfrage)
– Jetzt wollten Sie eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Matthias Berninger, Bündnis 90/Die
Grünen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Würden Sie die genehmigen?
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Klaus Uwe Benneter (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
Aber bitte. zunächst einmal sehr froh über die Ankündigung, dass
wir noch vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf zur
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Novellierung des GmbH-Rechts bekommen. Ich halte es
Bitte schön. für richtig, dass wir hier für Tempo sorgen. Ich halte es
für notwendig, dass im Jahr 2007 für die Unternehmerin-
nen und Unternehmer, und zwar nicht nur für diejenigen,
Otto Fricke (FDP): die neu gründen, sondern auch für solche, die schon tätig
Herr Kollege Benneter, Sie haben jetzt erzählt, wie sind, was das GmbH-Recht angeht, für Klarheit gesorgt
viele Augen Sie auf alle möglichen Dinge in diesem Be- wird. Denn die Diskussion über die Novellierung des
reich werfen wollen und was die anderen schlecht, zu GmbH-Rechts, die schon zu Zeiten der rot-grünen
wenig oder zu viel machen. Sie sagen, Sie wollten etwas Koalition begonnen hat, kann in der Tat langsam zum
tun. Kriege ich von Ihnen hier die Zusage, dass wir im Abschluss kommen. Daher freue ich mich sehr über die (D)
(B) Parlament noch vor der Sommerpause einen Gesetzent-
Ankündigung.
wurf bekommen, und bekomme ich von Ihnen die Zu-
sage, dass zum Ende des Jahres ein Gesetz im Gesetz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
blatt steht? Ich will auch sehr deutlich sagen, dass wir das Anlie-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) gen der FDP-Fraktion unterstützen; denn die eine Frage
ist, ob sich ein Unternehmer an alle rechtlichen Regeln
Es ist ja einerseits schön, wenn man etwas kritisiert; an- halten muss, beispielsweise der gefürchtete Makler, und
dererseits haben Sie aber bisher keine konkreten Zu- die andere Frage ist, ob der Prozess einer Unterneh-
sagen gemacht. mensgründung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-
schoben werden muss. Ich glaube, dass man im Ver-
(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Du trauen darauf, dass sich die Unternehmerinnen und
kannst Ja sagen!) Unternehmer an die Regeln halten, den Gründungsvor-
Fragen Sie erst einmal die Regierung! gang – nur darum geht es bei dem Antrag – durchaus be-
schleunigen kann.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Dass die FDP allerdings stolz darauf ist, jede Woche
Ich bin zwar nicht der Bundesjustizminister, ich höre einen kleinen Antrag zum Bürokratieabbau zu präsen-
aber von dem zuständigen Parlamentarischen Staatssek- tieren, trägt zum Bürokratieaufbau bei.
retär, dass ich Ihnen zusagen kann, dass wir bis zur Som- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
merpause einen Entwurf haben werden. Wenn wir den DIE GRÜNEN und bei der SPD – Otto Fricke
bis zur Sommerpause hier im Parlament haben, dann [FDP]: Das liegt dann aber an der Regierung!)
werden wir ihn auch bis Ende des Jahres beraten und
verabschiedet haben. Es gibt beispielsweise die Möglichkeit – das wäre ein
Kompromiss –, immer fünf Anträge zu bündeln, sodass
(Otto Fricke [FDP]: Danke!) wir hier schneller vorankommen können. So wichtig Bü-
Sie können also Ihre Klientel von der Stiftung Markt- rokratieabbau ist: Man darf es letzten Endes nicht zu ei-
wirtschaft trösten. Sagen Sie ihnen, dass wir einen Ent- ner Schauveranstaltung kommen lassen.
wurf einbringen. (Otto Fricke [FDP]: Das ist in Ordnung!)
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Ganz Deutsch- Ich hoffe, dass dieser Antrag ein Signal für den Re-
land wartet darauf!) gierungsentwurf ist, Herr Staatssekretär Hartenbach, das
1708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Matthias Berninger
(A) dann auch aufgegriffen wird; denn damit ist in der Tat Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
eine kleine, aber feine Beschleunigung des alten Käfers Das Wort hat zum Schluss der Debatte der Kollege
oder Golfs GmbH-Recht verbunden. Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Ich habe heute genau zugehört, um zu erfahren, was
in der großen Koalition so über die Frage, ob es aus- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD):
reicht, am GmbH-Recht Änderungen vorzunehmen, dis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
kutiert wird. Der Kollege Gehb hat hier ein paar weiter Auch ich halte die isolierte Perspektive, sämtliche Nach-
gehende Vorschläge gemacht – wir kennen uns aus Kas- weispflichten ersatzlos zu streichen und anonyme Ge-
sel –, die mir – das kommt ja nicht so oft vor – sehr sym- stalten mit möglicherweise nicht vorhandenem Kapital
pathisch sind. – sie haben nach anderen Geschäften eventuell Über-
schuldung hinterlassen –, die sich strafbar gemacht ha-
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist mal ben und ohne festen Wohnsitz sind, eine GmbH anmel-
festzuhalten! Nicht, dass Sie Ärger kriegen zu den zu lassen, für nicht besonders günstig. Insofern muss
Hause! Und ich auch!) man sich genau überlegen, welche Nachweispflichten
zum Zeitpunkt der Eintragung erforderlich sind, welche
– Das ist mal festzuhalten. In Kassel wird das das Thema möglicherweise nachzureichen sind und auf welche man
des Wochenendes sein. verzichten kann. Bestimmte Nachweise sind aber unver-
Die Frage, welche Gesellschaftsform die richtige ist, zichtbar. Das gilt auch für diejenigen hinsichtlich der
beschäftigt uns schon sehr lange. Stellt man sich die Zulassung von besonderen Berufen.
Frage, ob die Limited, die Limited Liability Partnership Was hat ein Gründer, der als Makler, Bauträger oder
oder andere aus dem Amerikanischen kommende Ge- Finanzdienstleister tätig werden will, davon, wenn er
sellschaftsformen als Wettbewerber die richtige Gesell- Chef einer eingetragenen GmbH ist, aber noch nicht tätig
schaftsform sind, dann erkennt man, dass wir zu kurz werden darf, weil er noch keine Genehmigung nach
springen, wenn wir uns nur um die GmbH kümmern. § 34 c Gewerbeordnung hat? Falls er tätig würde, machte
Der Kollege Gehb hat völlig Recht, dass wir uns darüber er sich sogar strafbar. Man muss also den Zusammen-
hinaus viel stärker um die anderen Gesellschaftsformen, hang sehen. Selbst das formale Vorziehen eines Grün-
um die klassischen Personengesellschaften, kümmern dungsaktes nützt einem Gründer nichts, wenn er nicht tä-
müssen. tig werden darf.
Das macht auch Sinn. Vergleichen wir einmal diese Trotzdem bin ich für eine Straffung. Man muss das
Debatte um Gesellschaftsformen mit der Debatte um das Ganze aber in eine GmbH-Reform einbetten, bei der
Unternehmenssteuerrecht. Da wollen wir eine Anglei- auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ich
(B) chung; wir wollen den Unternehmerinnen und Unterneh- bin froh darüber, dass das Justizministerium angekündigt (D)
mern möglichst viele Wahlfreiheiten offerieren. Es hat, bereits Ende März/Anfang April einen Referenten-
macht Sinn, dass wir auch bei der Wahl der Gesell- entwurf einzubringen. Das würde bedeuten, dass uns vor
schaftsform in diese Richtung gehen. Daher glaube ich, der Sommerpause tatsächlich ein Gesetzentwurf vor-
dass die Änderungen im BGB und im Handelsrecht, die liegt. Daran könnten wir uns alle fantasiereich abarbei-
dazu zu erfolgen haben – die Personengesellschaften ten.
müssen stärker als Unternehmensform mit beschränkter Natürlich gibt es Herausforderungen von außen wie
Haftung gelten –, der richtige Weg sind. die Limited. Ich sehe, dass es zwar eine große Zahl von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Firmen gibt, die als eine solche Gesellschaftsform ge-
gründet worden sind. Spaß bereitet das aber all diesen
Wir werden hierzu konkrete Vorschläge unterbreiten. Firmen nicht unbedingt; denn die Gründung muss in
England erfolgen. Hier haben sie nur eine Zweignieder-
Man muss sagen: Es wachsen schon ein paar zarte lassung. Sie haben einen englischen Notar zu beschäfti-
Pflänzchen. Bayern, das im Bundesrat initiativ geworden gen. Selbst Kleinstunternehmen haben jährlich Berichte
ist, tritt für einen Kaufmann mit beschränkter Haftung abzuliefern, die gegen horrende Gebühren notariell be-
ein. Das ist fein. Die einzige Frage, die man beantworten stätigt werden müssen. Das heißt, sie haben am Anfang
muss, ist: Warum soll es nur einen Kaufmann mit be- zwar nur geringe Kosten, aber laufend relativ hohe Kos-
schränkter Haftung geben? Es gibt auf dem ganzen boo- ten, und zwar in England, mit all den damit verbundenen
menden Markt industrienaher Dienstleistungen viele Problemen. So lustig ist das alles für die überhaupt nicht.
neue Formen von Kooperation und viele neue Anforde- Das spricht sich auch zunehmend herum. Insofern sehe
rungen auch an ein vernünftiges Gesellschaftsrecht. Wir ich da die Konkurrenz nicht.
wären richtig gut beraten, wenn wir der Limited oder an-
deren ausländischen Gesellschaftsformen nicht hinter- Die Frage der Höhe des Eigenkapitals ist zu diskutie-
herrennen würden; vielmehr sollten wir dafür sorgen, ren. Da sind zwei Dinge zu beachten. Auf der einen Seite
dass wir in Deutschland einfach das modernste Recht wollen wir die Eigenkapitalstärkung der Unternehmen
und damit sehr viel Freiheit haben. Das sollte unser Ziel – das ist ein großes Wort – und auf der anderen Seite soll
sein. An der Erreichung dieses Ziels wollen wir Grüne hier jemand mit beschränkter Haftung tätig werden, der
gerne mitarbeiten. nur einen Euro auf der Bank hat. Das ist natürlich eine
ganz witzige Angelegenheit. Es ist schon dargestellt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN worden: Das läuft sich letztlich tot, weil die Haftung des
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Unternehmens selber dann so gut wie keine Rolle mehr
der FDP) spielt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1709

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ihren Hinweis auf die Unternehmensteuerreform, (C)
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Herr Berninger, finde ich wichtig. Wenn wir wirklich das
Berninger zulassen? Ziel verfolgen, eine Unternehmensteuerreform im Gro-
ßen und Ganzen rechtsformneutral und finanzierungs-
neutral hinzubekommen, dann müssen wir natürlich
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): auch bei der Ausgestaltung des Unternehmensrechts, ob
Selbstverständlich. Den Berninger kann ich gut lei- bei der GmbH oder bei der Personengesellschaft,
den. schauen, wie das eigentlich passend zu machen ist. Das
hat ohne Frage Auswirkungen. Insofern könnte die
(Zurufe) kleinste Gesellschaft oder eine ganz kleine Gesellschaft,
– Ich komme nicht aus Kassel. die sozusagen aus der Personengesellschaft hervorgeht,
dann aber in Grenzen bilanzierungspflichtig wäre, eine
Möglichkeit sein. Darüber denken wir – ich bin ja Fi-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nanzpolitiker – auch nach. Da müssen diejenigen, die
Bitte schön. über das Gesellschaftsrecht nachdenken – deswegen
rede ich heute auch, obwohl ich mit euch sonst nichts zu
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tun habe –, und diejenigen, die über das Steuerrecht
NEN): nachdenken, sehr eng zusammenrücken. Das werden wir
in den nächsten Monaten, in diesem Sommer auch tun.
Herr Kollege Schultz, das beruht, wie Sie seit der
Biokraftstoffdebatte wissen, auf Gegenseitigkeit. Die Frage zum Kaufmann war eine Sachfrage, die ich
Ihnen gern beantworten will. Weil jeder, der ein Ge-
Weil Sie wieder diesen Habenichts angesprochen ha- schäft betreibt, im Sinne des BGB Kaufmann ist, auch
ben, der mit einem Euro in der Tasche etwas gründet, wenn er Installateur ist,
frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die
Gründer von Google, die nicht mal einen Dollar in der (Otto Fricke [FDP]: Nein, ich bin als Anwalt
Tasche hatten, ihr Unternehmen in Deutschland mögli- kein Kaufmann!)
cherweise nicht gegründet hätten, sondern in den öffent-
lichen Dienst gegangen wären, weil in Deutschland das ist der Begriff des Kaufmanns oder der Kaufmannsge-
Klima herrscht, dass man erst Geld braucht, bevor man sellschaft keine in dem Sinne berufsspezifische, sondern
eine Idee in Arbeitsplätze umsetzen kann? eigentlich eine aus dem bürgerlichen Recht hergeleitete
Bezeichnung.
(B) Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): (Otto Fricke [FDP]: Das wollen wir ausdrück- (D)
lich bestreiten!)
Herr Berninger, ich gebe Ihnen völlig Recht. Zu-
nächst einmal hängt der Kapitalbedarf natürlich auch Nur am Rande: Weiterbildung im Parlament ist zulässig.
vom Unternehmensgegenstand ab. Wenn man kein
schweres Gerät braucht, sondern wenn es lediglich gilt, (Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
pfiffige Ideen an einem Computer, den man noch aus der NEN]: Das war aber nicht das Problem!)
Studentenzeit hat, zu verwirklichen, ist der Kapitalbe-
Tschüss!
darf natürlich deutlich geringer als bei anderen Geschäf-
ten, bei denen man mit Kunden größere Gewerke durch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
irgendeine Art von Haftung abzusichern hat. Die kann
durch das Gesellschaftskapital oder – wie am Beispiel
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vom Kollegen Dehm dargestellt worden ist – durch das
persönliche Vermögen gegeben sein. Nur, je geringer das Ich schließe die Aussprache.
haftende Kapital ist, umso mehr werden natürlich die Interfraktionell ist verabredet, die Vorlage auf
Gesellschafter persönlich in Haftung genommen. Die Drucksache 16/671 an die Ausschüsse zu überweisen,
Idee der Gesellschaft mit beschränkter Haftung hebt sich die in der Tagesordnung vorgesehen sind. – Sie sind of-
dann auf. Im Grunde genommen haben wir in Wirklich- fensichtlich damit einverstanden. Dann wird das so ge-
keit haftungsmäßig dann die BGB-Gesellschaft, bei der schehen.
sozusagen jeder gesamtschuldnerisch haftet. Das ist
schon längst die Situation. Insofern muss man immer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-
schauen, wo man letztlich landet. Aber ich gebe Ihnen punkt 7 auf:
Recht – da pflichte ich Ihnen voll bei –: Natürlich muss
nicht jeder 25 000 Euro haben, um eine Geschäftsidee zu 9 Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN
verwirklichen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes über das Kreditwesen
Nur, es gibt ein Spannungsverhältnis. Auf der einen
–Drucksache 16/731 –
Seite haben Firmen einen bestimmten Eigenkapitalbe-
darf und auf der anderen Seite besteht die Versuchung, Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
es den Leuten leicht zu machen; dann besteht aber die Ausschuss für Wirtschaft und
Gefahr, dass die als Gründer die Risiken häufig unter- Technologie
schätzen. Ausschuss für Arbeit und Soziales
1710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel genheit im Interesse dieser Menschen zu regeln. Die (C)
Höhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese freiwillige
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Selbstverpflichtung nicht zu einem guten Ergebnis ge-
SES 90/DIE GRÜNEN führt hat. Auch in Prozessen, die um diese Frage geführt
wurden, wurde festgestellt, dass für die betroffenen
Recht auf Girokonto auf Guthabenbasis ge- Menschen kein Anspruch auf Eröffnung eines Kontos
setzlich verankern besteht. Deshalb glauben wir, dass es jetzt an der Zeit ist,
– Drucksache 16/818 – die Kreditwirtschaft durch ein Gesetz zu verpflichten
Überweisungsvorschlag: – das ist unser Vorschlag –, solchen Kontoeröffnungen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und zuzustimmen, auch dann, wenn die Antragsteller in Not
Verbraucherschutz (f) sind. Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit dieses Hau-
Rechtsausschuss ses diesem Anliegen zustimmt, weil es unwürdig ist,
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
wenn Menschen, die auf die Bank geschickt werden,
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dort mit der Erfahrung konfrontiert werden, dass sie ein-
fach abgewiesen werden.
Interfraktionell ist verabredet, hierfür eine halbe
Stunde vorzusehen. – Dazu höre ich keinen Wider- (Beifall bei der LINKEN)
spruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Oskar Lafontaine. Das Wort hat Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig


Thiele [FDP]: Guter Mann!)
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Leo Dautzenberg (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
betrifft eine Minderheit der Gesellschaft. Es häufen sich Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lafontaine,
in letzter Zeit Berichte in der Presse, dass immer mehr das Anliegen, das Sie haben, wird durchaus auch von
Menschen, die in Not geraten sind, von Banken abge- uns geteilt. Es ist nur die Frage, ob die von Ihnen bean-
wiesen werden, wenn sie ein Konto beantragen, bzw. tragte Änderung des KWG und damit das Recht auf
von Banken mitgeteilt bekommen, nachdem sie Pfän- Kontoeröffnung dem gerecht wird. Ich möchte nun ver-
suchen, in einigen Punkten darzulegen, warum wir wei-
(B) dungen erlitten haben, dass das Konto nicht weiter ge- terhin auf das bauen, was 1995 mit der Kreditwirtschaft (D)
führt werde. Wir sehen darin – ich nehme an, dass be-
züglich dieses Punktes große Zustimmung hier im Hause vereinbart worden ist. Ihrer Schlussfolgerung, dass das
herrscht – eine Demütigung. Diese Demütigung der gescheitert sei, können wir nicht folgen.
Menschen, die davon betroffen sind, sollte auf dem Ge- (Zuruf von der LINKEN)
setzeswege abgestellt werden.
Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in unserer
(Beifall bei der LINKEN) heutigen modernen Gesellschaft eine wichtige Grund-
Man sollte sich einmal kurz vorstellen, wie sich eine lage für die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesell-
Rentnerin fühlt, der, nachdem sie, vielleicht aufgrund schaftlichen Leben. Daher muss auch einkommens-
falscher Entscheidungen, die sie getroffen hat, eine Pfän- schwachen Haushalten der Zugang zum Girokonto
dung erlitten hat, das Konto gekündigt wird ermöglicht werden.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So schnell (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


geht das nicht!) In dieser Einschätzung sind wir uns fachlich und auch
und die, wenn sie dann versucht, bei einer anderen Bank fraktionsübergreifend in diesem Hause bisher einig ge-
ein Konto zu eröffnen, abgewiesen wird. wesen. Uneinig sind wir uns allerdings sowohl bezüglich
der Bewertung, wie weit das Girokonto heute tatsächlich
Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der verbreitet ist, als auch bezüglich der Frage, welche Kon-
auch die staatlichen Zahlungen nicht in bar ausgezahlt, sequenzen daraus zu ziehen sind.
sondern per Überweisung geleistet werden. Es kommen
auch immer mehr Hartz-IV-Empfänger in eine solche Si- Erstaunt hat mich schon, liebe Kolleginnen und Kolle-
tuation. Sie sind dann nicht in der Lage, ihre Geschäfte gen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie den Schulter-
und ihr Leben ordentlich zu regeln, weil ihnen der Zu- schluss mit der Fraktion Die Linke suchen. Gemeinsam
gang zu einem Konto verwehrt wird. Hinzu kommt – wenn auch in leicht unterschiedlichem Wortlaut – be-
noch, dass Zusatzkosten entstehen. Das heißt, gerade bei finden Sie, die im Jahre 1995 beschlossene Selbstver-
denjenigen, die wirklich in Not sind, fallen dann bei den pflichtung des Zentralen Kreditausschusses, ZKA, zum
simpelsten Bankgeschäften Zusatzkosten an. Wir glau- „Girokonto für jedermann“ funktioniere nicht. Ihre
ben, dass das ein unhaltbarer Zustand ist. Schlussfolgerung daraus ist ebenso nahe liegend wie
falsch: Der Staat soll es richten; anstelle der Selbstver-
Seit zehn Jahren versuchen Sie, durch freiwillige pflichtung soll eine gesetzliche Regelung sicherstellen,
Selbstverpflichtungen der Kreditwirtschaft die Angele- dass jeder Bürger ein Girokonto erhält – und behält.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1711
Leo Dautzenberg
(A) (Zuruf von der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
der FDP)
Dabei ist gerade das „Girokonto für jedermann“ ein Bei-
spiel dafür, dass der Staat nicht alles regeln und schon Beim Stichwort „ideologiegetriebene Debatte“
gar nicht alles besser regeln kann als die Wirtschaftsteil- möchte ich gerne auch noch auf eine Zahl eingehen, die
nehmer im Rahmen einer bestimmten Selbstregulierung, im Gesetzentwurf der Linken, Herr Lafontaine, genannt
auf die wir im Grunde weiterhin setzen. wird. Um Ihre – nicht explizit ausgesprochene, aber
doch unterstellte – These der so genannten Diskriminie-
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto rung sozial benachteiligter Menschen durch die Kredit-
Solms) wirtschaft zu untermauern, führen Sie an, dass alleine
Meine Damen und Herren, doch zunächst zur Analyse bei der Bundesagentur für Arbeit über 100 000 Leis-
und Bewertung der heutigen Situation – rund zehn Jahre tungsempfänger ohne Girokonto gemeldet seien. Ich
nach Einführung der Selbstverpflichtung zum „Giro- zweifle diese Zahl nicht an. Ich möchte Sie nur bitten,
konto für jedermann“. Unisono stützen sich die Kollegen diese nicht losgelöst zu betrachten und sie ins richtige
von der Linken und auch vom Bündnis 90/Die Grünen Verhältnis zu setzen.
dabei auf Informationen der Arbeitsgemeinschaft der Es ist richtig, dass laut Bundesagentur für Arbeit im
Schuldnerberatung der Verbände, wonach noch immer Mai 2004 115 000 Leistungsempfänger – das sind
„hunderttausende Verbraucher“ in Deutschland vom bar- 2,74 Prozent – kein Konto angegeben haben. Über die
geldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen seien, weil Gründe dafür lässt sich allerdings trefflich streiten.
Banken ihnen die Eröffnung eines Girokontos verwei- Ebenso wahr ist auch, dass – diese Zahl bitte ich dazu ins
gern würden. Verhältnis zu setzen – 4,102 Millionen Leistungsemp-
Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht falsch fänger – das sind 97,25 Prozent – ihre Monatszahlung
verstehen: Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ein Konto erhalten haben. Nur 383 Leistungsemp-
kennt die jüngsten Berichte der Schuldnerberatungsstel- fänger haben ihre Zahlung als kostenfreie Zahlungs-
len und nimmt sie ernst. Unsere Kollegin Julia Klöckner anweisung zur Verrechnung der Postbank erhalten. Die
hat dazu bereits im Januar öffentlich Stellung bezogen. tatsächliche Anzahl der Zahlungsempfänger, die ohne ei-
Aber ich rate dringend dazu, die Bewertung der heutigen genes Verschulden kein Konto erhalten haben, lag laut
Situation nicht ausschließlich diesen Stellen zu überlas- Bundesagentur für Arbeit im Mai 2004 noch wesentlich
sen. Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr ei- unter der Zahl von 383.
nen ausführlichen Bericht zur Umsetzung der Empfeh- Dennoch, meine Damen und Herren, möchte ich nicht
lung des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokonto bestreiten, dass es auch zehn Jahre nach Einführung der
(B) für jedermann“ vorlegen. Ein wichtiger Bestandteil die- Selbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschusses (D)
ses Berichts werden verlässliche Zahlen darüber sein, möglicherweise in der Fläche zum Teil noch oder wieder
wie vielen Haushalten tatsächlich ein Girokonto ver- Probleme bei der Umsetzung gibt und Haushalte unver-
wehrt worden ist und aus welchen Gründen. schuldet kein Girokonto erhalten. Diesem Problem ver-
schließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Verehrte Kollegen der Grünen, wenn Sie noch in der
keineswegs. Ein abschließendes Meinungsbild werden
Regierung wären, würden Sie das wahrscheinlich ge-
wir uns dazu aber erst auf der Basis eines fundierten Be-
nauso sehen, weil auch Sie dann zur Kenntnis genom-
richtes der Bundesregierung bilden, nicht auf der Grund-
men hätten, dass die Berichterstattung in einem zweijäh-
lage nur einer Zahl der Schuldnerberatungsstellen.
rigen Zeitraum erfolgt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Klaus Uwe Benneter [SPD])
neten der FDP)
Ich schließe dabei keineswegs aus, dass wir mögli-
Sie wissen sehr genau, dass dieser Bericht noch in die- cherweise zu dem Ergebnis kommen werden, dass die
sem Jahr vorgelegt wird. Selbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschusses
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Der sollte an einigen Stellen durchaus der Nachbesserung bedarf.
schon lange vorliegen!) Ich bezweifle aber sehr stark, dass eine gesetzliche Re-
gelung, wie sie von der Linken und Bündnis 90/Die Grü-
Schließlich haben wir die Bundesregierung im nen gefordert wird, diejenigen Probleme beseitigen
Jahre 2002 gemeinsam dazu aufgefordert, alle zwei könnte, die beim „Girokonto für jedermann“ heute noch
Jahre einen Bericht über die Umsetzung der Selbstver- bestehen mögen.
pflichtung vorzulegen.
Beim „Girokonto für jedermann“ stehen wir immer in
Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Bericht ge- dem Konflikt zwischen Kontrahierungszwang und Zu-
meinsam abgewartet hätten, um ihn sachlich und kritisch mutbarkeit für die Kreditinstitute. Diesen Konflikt wird
im Finanzausschuss zu diskutieren und daraus gemein- auch eine gesetzliche Regelung nicht lösen können.
sam Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen haben Sie mit Denn auch ein Gesetz müsste Ausnahmen vorsehen, in
Ihren heute eingebrachten Anträgen eine ideologiege- denen die Verpflichtung eines Kreditinstituts zur Konto-
triebene Debatte über das „Girokonto für jedermann“ führung unzumutbar sein kann. Der Zentrale Kreditaus-
vom Zaun gebrochen, wie wir sie aus den vergangenen schuss nennt nachvollziehbare Gründe und gibt Bei-
Jahren in bestimmten Bereichen schon kennen. spiele für Unzumutbarkeit.
1712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Leo Dautzenberg
(A) Welche Konsequenzen die Verankerung von Unzu- Meine Kollegen von den Linken, Sie drücken damit Ihr (C)
mutbarkeitsregelungen im Gesetz hätte, ist uns allen tiefes Misstrauen gegenüber Wettbewerb und sozialer
klar: Die Entscheidung von Streitfällen würde auf die Marktwirtschaft aus.
Gerichte verlagert werden. Ich sehe nicht, dass dies im
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
Sinne der Bürger sein soll. Vielmehr sind wir der Über-
LINKEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
zeugung, dass die heute praktizierte kostenlose und zeit-
Rhetorischer Stapellenker!)
nahe Bearbeitung von Streitfällen durch außergerichtli-
che Schlichtungsstellen sachgerechter und bürgernäher Die Zahlen, die im Antrag der Fraktion der Linken
ist. genannt werden, sind nicht verifizierbar. Dort ist von
Nun monieren Sie, meine Damen und Herren Kolle- über 100 000 Leistungsempfängern ohne Girokonto
gen von den Grünen, dass die kostenlosen Schlichtungs- die Rede. Woher stammt diese Zahl? Aus der Antwort
stellen den Betroffenen weitgehend unbekannt seien. der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage aus dem
Was Sie unter „weitgehend unbekannt“ verstehen, verra- Februar dieses Jahres können Sie sie sicherlich nicht ab-
ten Sie uns leider nicht. Ich kann Ihre Einschätzung we- leiten. Die Antwort enthält im Kern die Aussage, dass
der mit einer Zahl belegen noch könnte ich sie zum heu- die Regierung keine Kenntnisse darüber hat.
tigen Zeitpunkt mit einer Zahl entkräften. Fest steht nur, Ich zitiere aus Ihrer Anfrage:
dass die Kreditwirtschaft in den vergangenen Jahren ei-
niges getan hat, um diese Kommunikationsprobleme zu Welche Gruppen von Leistungsfällen ohne Giro-
beheben. Vielleicht muss in dieser Hinsicht noch mehr konto sind der Bundesregierung bekannt und wie
getan werden. Wenn Sie die Zahlen von 1999 bis heute lassen sie sich quantifizieren?
vergleichen, die von den verschiedenen Bankengruppen Ihre Begriffswahl ist an dieser Stelle entlarvend. Sie
und gerade auch von den Banken des öffentlichen Sek- sprechen nicht vom Menschen, sondern von Leistungs-
tors veröffentlicht werden, dann können Sie feststellen, fällen. Das ist sehr problematisch.
dass sich die Zahl der Konten für jedermann teilweise
bis auf das Dreifache erhöht hat. Man kann also nicht (Beifall bei der FDP)
folgern, dass sich die Selbstverpflichtung als nicht er- Die Bundesregierung antwortet Ihnen, nachdem sie
folgreich erwiesen hat. einige Zahlen aus der BA-Statistik genannt hat:
Meine Bitte ist daher: Lassen Sie uns den Bericht der Die Gleichsetzung dieser Zahlen im Hinblick auf
Bundesregierung abwarten und dann kritisch diskutie- Empfängerinnen und Empfänger ohne Girokonto
ren! Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, ob und an ist nicht zulässig.
welchen Stellen die Selbstverpflichtung des Zentralen
(B) Kreditausschusses noch verbessert werden muss, damit Das sehe ich genauso. (D)
wir die Anzahl derjenigen Fälle minimieren, in denen Man kann doch nicht den Schluss ziehen, dass Kinder-
Haushalten unverschuldet ein Girokonto verwehrt wird. geldauszahlungen per Zahlungsanweisung oder Zahlungs-
Denn das war und bleibt unser gemeinsames Ziel: Ohne anweisungen zur Verrechnung in der Größenordnung von
eigenes Verschulden soll keinem ein Girokonto verwehrt 360 000 Fällen im Jahr nur deshalb durchgeführt wur-
werden. den, weil die betroffenen Empfänger gegen ihren Willen
Vielen Dank. kein Girokonto erhalten. Noch ist es nicht so weit, dass
wir in Deutschland verpflichtet werden, bei Zahlungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie empfängen zwingend ein Girokonto angeben zu müssen.
bei Abgeordneten der FDP) Dass Sie dieses Stückchen Freiheit auch noch beschnei-
den wollen, traue ich Ihnen zu.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von (Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
der FDP-Fraktion. LINKE])

(Beifall bei der FDP) Fakt ist: Jeder Bürger in diesem Land hat den Zugang
zu einem Girokonto auf Guthabenbasis, unabhängig von
seiner Bonität.
Frank Schäffler (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
und Kollegen! Was die Grünen und die Linken heute Dies hat der Zentrale Kreditausschuss, also die Vertre-
hier vorlegen, ist billiger Populismus. tung der Branche, zugesagt. Ein gut funktionierendes
(Beifall bei der FDP – Zurufe von der LIN- Beschwerdesystem der Branche jetzt durch einen gesetz-
KEN: Oh! – Volker Schneider [Saarbrücken] lichen Zwang zu ersetzen, sorgt gerade für die Bürokra-
[DIE LINKE]: Ihr macht euren Populismus!) tie, die wir hoffentlich alle abbauen wollen.
Nächste Woche erhalten wir sicherlich Ihre Anträge zum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Recht auf Brötchen, Arbeit oder eine Haftpflichtversi- der CDU/CSU)
cherung.
Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es gibt
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist hier 84 Millionen Girokonten in Deutschland. Die Zahl der
Populismus?) Konten auf Guthabenbasis, also des Kontos für jeder-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1713
Frank Schäffler
(A) mann, ist zwischen 1999 und 2003 um 550 000 gestie- blem haben. Wir haben die Verpflichtung, uns mit die- (C)
gen und liegt inzwischen bei über 1,1 Millionen. Es gab sem Problem auseinander zu setzen.
in 2004 – Herr Dautzenberg hat das angemerkt – bei Pri-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
vatbanken lediglich 134 Kundenbeschwerden zum
Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Gute Einstel-
Konto für jedermann.
lung!)
Was wollen Sie also? Warten Sie doch erst einmal den Das Problem ist nicht neu. Genau aus diesem Grunde
Bericht der Bundesregierung ab – auch darauf ist schon kam es 1995 durch politischen und gesellschaftlichen
hingewiesen worden –, der in diesem Jahr erscheinen Druck zur freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschen
soll. Dieser Bericht wird alle zwei Jahre vorgelegt. Ich Kreditinstitute. Man verpflichtete sich, jedem, der es
halte ihn für das richtige Instrument. wünscht, zumindest ein Girokonto auf Guthabenbasis
Nur, eines verwundert mich – lassen Sie mich das einzurichten. Die Sparkassen sind in vielen Bundeslän-
zum Schluss sagen –: Ein Tag nach dem Internationalen dern Vorreiter gewesen – sie sind es noch, aber leider
Frauentag verwenden Sie von der Linken in Ihrem An- nicht in allen –, weil viele die besondere Verpflichtung,
trag Formulierungen wie „Konto für jedermann“ oder ein so genanntes Girokonto für jedermann anzubieten, in
sprechen sich die Grünen für einen Forschungsauftrag ihre Sparkassenverordnung aufgenommen haben. Ich
aus, im Rahmen dessen die Lebenssituation von kontolo- möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedan-
sen Bürgern – also nicht von Bürgern und Bürgerinnen, ken, dass sich gerade diese Kreditinstitute, die in der Flä-
sondern nur von Bürgern – und deren Schwierigkeiten che noch immer am stärksten vertreten sind, dieses Pro-
im Wirtschaftsgeschehen untersucht werden soll. blems schon frühzeitig angenommen haben.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Gender Main- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
streaming beim Girokonto! – Dr. Gesine Aber auch bei den anderen Kreditinstituten hat sich
Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist jetzt aber sehr etwas getan. Bei aller Kritik, die so lange geäußert wer-
aufgesetzt!) den muss, bis ein akzeptabler Zustand erreicht ist, will
Dass Sie hiermit mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft ich auf die positiven Entwicklungen hinweisen, vor al-
schlicht ignorieren und außen vor lassen, lem deshalb, um denen, die sich bemüht haben, zu zei-
gen, dass wir dies registrieren und honorieren. So hat
(Otto Fricke [FDP]: Unglaublich!) sich zum Beispiel die Anzahl der Girokonten merklich
erhöht. Bei drei Verbänden, die Zahlenmaterial geliefert
verwundert mich und halte ich für unglaublich. Ich hatte haben, hat sich die Zahl der Konten in den letzten sechs
inzwischen andere Vorstellungen davon, was Feministin- Jahren von etwa 630 000 auf über 1 Million erhöht.
(B) nen Ihrer Fraktionen bei der Formulierung von Anträgen (D)
tatsächlich bewegen können. Die jetzige Vorgehens- Dennoch weist die Verbraucherzentrale darauf hin,
weise enttäuscht mich zutiefst. dass es in Deutschland noch immer Hunderttausende
Verbraucherinnen und Verbraucher gibt, die ohne eige-
Ich darf mich trotzdem für Ihre Aufmerksamkeit, nes Verschulden kein Girokonto besitzen. Ich habe sehr
liebe Kolleginnen und Kollegen, bedanken. lange gesucht; aber ich habe leider kein verlässliches
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Datenmaterial zu dieser Aussage gefunden. Ich habe viel
über Stichproben und Hochrechnungen gefunden. Aber
mir persönlich genügt das nicht; denn ich möchte diese
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zahl nicht einfach unkommentiert im Raum stehen las-
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka von der sen. Ich gehe aber davon aus, dass es natürlich noch
SPD-Fraktion. viele solche Fälle gibt und an einem weiteren Abbau ge-
arbeitet werden muss, egal von wie vielen Fällen wir
Simone Violka (SPD): sprechen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Wir sollten ehrlich sein. Da ich im Antrag der Linken
glaube, die meisten können es sich nicht vorstellen, wie gelesen habe, dass bei der Bundesagentur für Arbeit über
es ist, ohne Konto leben zu müssen. Denn viele Dinge, 100 000 Leistungsempfänger ohne Girokonto gemeldet
die im Alltag anfallen, wie zum Beispiel Überweisungen sind, habe ich mir einfach die Freiheit genommen, nach-
der Miete, der Kfz-Steuer usw., werden häufig über ei- zufragen, wie viele es denn wirklich sind. Ich habe hier
nen Dauerauftrag allein von der Bank erledigt. Man die aktuellen Zahlen vom Januar dieses Jahres: Bei der
muss sich nicht darum kümmern, solange das Konto ge- Bundesagentur für Arbeit sind 161 438 Empfängerin-
deckt ist. Dennoch gibt es in Deutschland immer noch nen und Empfänger von Leistungen gemäß SGB III und
Menschen, die ohne eigenes Verschulden nicht in den SGB II ohne Girokonto gemeldet. Allerdings muss man
Genuss dieser Vorteile kommen können, weil ihnen ein sehen, dass davon nur 2 374 Personen ihre Zahlungs-
Konto verwehrt wird. anweisung gebührenfrei bekommen. Das heißt, diese ha-
ben nachgewiesen, dass sie unverschuldet kein Konto
Wir führen nicht die erste Debatte zu diesem Thema.
besitzen. Die Übrigen nehmen diese Gebühren hin, aus
Ich möchte dieses Thema auch nicht so herunterspielen,
welchen Gründen auch immer.
wie es mein Vorredner getan hat, der ab und zu ein biss-
chen ins Lächerliche abgewichen ist. Es ist durchaus so, Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der mit
dass hier Menschen – egal wie viele es sind – ein Pro- gutem Grund anführen kann, er sei von den Gebühren
1714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Simone Violka
(A) befreit, weil er – obwohl er nichts angestellt hat – kein Wir haben 2004 den letzten Bericht der Bundesregierung (C)
Girokonto eröffnen kann, dies der Bundesagentur für zu dieser Frage bekommen. Alle zwei Jahre erscheint
Arbeit nicht anzeigt. Man sollte also genau hinschauen. dieser Bericht. Jetzt haben wir 2006. Das heißt, wir wer-
Man kann nämlich niemanden zwingen, ein Konto zu den den Bericht noch in diesem Jahr erhalten. Erst dann
führen oder anzugeben, warum er keines führt. Es gibt haben wir aktuelles Material mit konkreten Zahlen, die
durchaus Menschen, die einen guten Grund haben, das wir brauchen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.
nicht zu tun.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Ich stimme zu, dass jeder Mensch, der das möchte, Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])
ein Konto erhalten soll. Allerdings gibt es tatsächlich
Fälle, wo es legitim ist, wenn jemandem ein solches An- Ich befürchte, dass bei einem solchen Gesetz, wie es
liegen vonseiten des Kreditinstituts verwehrt wird. Wenn jetzt verlangt wird, die Betroffenen zwar einen theoreti-
ein Kunde zum Beispiel die Leistungen des Kreditinsti- schen Anspruch hätten, ihn aber im Zweifelsfall vor Ge-
tutes durch Betrug, Geldwäsche oder anderes miss- richt durchsetzen müssten. Ich glaube nicht, dass das im
braucht hat, wenn er falsche Angaben macht, wenn er Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist; denn
Mitarbeiter oder Kunden grob belästigt oder gar gefähr- wer sich heute schwer tut, seinen Fall vor die Schlich-
det, dann kann nicht gesagt werden: Der muss aber ein tungsstelle zu bringen, der wird sich später mit Sicher-
Konto bekommen. – Insoweit sollte es im Ermessen der heit noch schwerer tun, vor ein Gericht zu ziehen, noch
Sparkassen und der Banken liegen. Das ist bei den Spar- dazu, wenn dies mit erheblichen Kosten verbunden sein
kassen schon heute der Fall, obwohl sie eine entspre- wird, auch wenn sie eventuell im Rahmen der Prozess-
chende Verpflichtung abgegeben haben. Das ist auch gut kostenbeihilfe übernommen würden. Ich glaube nicht,
so. dass es im Einzelfall zu einer Verbesserung käme.

(Olav Gutting [CDU/CSU]: So ist es!) Wir sollten einfach abwarten,

Man stelle sich vor, es kommt jemand, der negativ (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
aufgefallen ist, vielleicht nach verbüßter Haftstrafe in LINKE] – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
die gleiche Filiale, zu der Frau oder zu dem Mann, die Abwarten? Jawohl!)
bzw. den er bedroht hat, und sagt, er wolle gerne ein nicht ewig, aber bis zum Erscheinen des nächsten Be-
Konto eröffnen, und die Kasse würde per Gesetz ge- richts, und die dann vorliegenden Erkenntnisse als Ar-
zwungen, dem nachzukommen. Ich halte das für nicht beitsgrundlage für ein gemeinsames Vorgehen bei der
nachvollziehbar. Man braucht weiterhin diese Freiheit. Frage nutzen, wie wir diesen Menschen, die es nach wie
(B) Allerdings sollten die Banken gute Gründe für die vor gibt und denen geholfen werden muss, in Zukunft (D)
Ablehnung haben und diese dem Kunden schriftlich mit- ordentlich helfen können. Es sollte aber nicht zu einer
teilen, damit sich dieser gegebenenfalls dagegen wehren Gesetzesflut, zu einer Regelungswut kommen, wo man
kann. Diesbezüglich haben sich in den letzten Jahren die hofft, dass man etwas tun kann, und letztendlich die Be-
Schlichtungsstellen bewährt. Ich bin nicht unglücklich troffenen allein lässt, indem man sagt: Dann musst du
darüber, dass die Zahl derer, die diese Leistung in An- halt zum Anwalt gehen und dein Recht vor Gericht
spruch genommen haben, zugenommen hat, und zwar durchsetzen. – Ich glaube nicht, dass damit jemandem
nicht weil es mehr Fälle gab, sondern weil es sich he- geholfen ist.
rumgesprochen hat, dass es solch eine Möglichkeit gibt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Das zeigt, dass die Akzeptanz dieser Stellen und das Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Es gibt auch
Wissen über ihre Existenz zunehmen. Natürlich ist hier so etwas wie eine Berichtsflut!)
die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem vonseiten der Kre-
ditinstitute, noch verbesserungswürdig.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Positiv ist in diesem Zusammenhang zu werten, dass Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick
der Bankenverband den Verbraucher- und Schuldnerbe- von Bündnis 90/Die Grünen.
ratungsverbänden mehrfach angeboten hat, den Spitzen-
verbänden der Kreditwirtschaft konkrete Fälle, in denen
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Führung eines Kontos verwehrt wurde, zu melden,
NEN):
damit man diese Fälle gemeinsam zügig klären kann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube
Abschließend komme ich zu der Beurteilung, dass nicht, dass es sinnvoll ist, von einer „ideologiegetriebe-
sich in den Jahren seit der Einführung der freiwilligen nen“ Debatte zu sprechen und uns gegenseitig Populis-
Selbstverpflichtung tatsächlich viel getan hat. Deswegen mus vorzuwerfen. Es ist eine Tatsache, dass diese Pro-
sollte man – natürlich mit regelmäßiger Erfolgsüberprü- blemlage besteht. Da die Zahlen uns kein eindeutiges
fung – weiter auf diese freiwillige Leistung bauen, aber Bild liefern, wissen wir jedoch nicht, wie groß das Pro-
keine zusätzlichen Gesetze verabschieden, jedenfalls blem ist. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir so
nicht in den vorliegenden Fassungen und zum heutigen tun, als gäbe es dieses Problem nicht.
Zeitpunkt.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn sie
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ nicht eindeutig sind, dann kann man auch die-
CSU]) sen Schluss nicht ziehen!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1715
Dr. Gerhard Schick
(A) Die Verbraucherzentralen sagen uns, dass es immer noch noch stellt sie ein Problem dar. Wir müssen uns daher (C)
eine große Rolle bei der Beratung spielt. nach besseren Alternativen umsehen. Das Oberlandesge-
richt Bremen sagt, dass sie nicht ausreicht. Länder wie
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Menschen,
Belgien und Frankreich machen uns vor, dass auch eine
die schon einmal gescheitert und in finanzielle Schwie-
unbürokratische Lösung möglich ist.
rigkeiten geraten sind, nicht sofort dagegen wehren, son-
dern eher geneigt sind, die Gebühren hinzunehmen, als Das Problem, dass die Menschen nicht wissen, an
andere. wen sie sich wenden sollen, weil ihnen die Schlichtungs-
(Frank Schäffler [FDP]: Es gibt keine Gebüh- stelle nicht bekannt ist, kann durch eine klare gesetzliche
ren!) Regelung gelöst werden. Das Hin und Her über Zahlen
– manche beziehen sich auf die Zahlen des Bankenver-
Das ist ganz normal. Dazu kommt: Oft haben wir über bandes, andere auf die der Verbraucherschützer – kann
diejenigen, die einmal gescheitert sind oder in Armut le- man bei einer klaren gesetzlichen Regelung, die für alle
ben, keine genauen Zahlen. Das heißt aber nicht, dass transparent ist, vermeiden. Das übliche Problem bei
wir in diesem Bereich nichts tun müssen. Das wäre ein Selbstverpflichtungen besteht darin, dass wir nicht wis-
Fehlschluss. sen, was daraus wird, und wir Schritt für Schritt einfor-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die Frage ist, dern müssen. Das wäre nicht erforderlich, wenn es von
was man tut, Herr Kollege!) vornherein gesetzlich klar geregelt wäre.

Der Anlass für diese Debatte besteht nicht darin, dass Aus grüner Perspektive ist der Gesetzentwurf der Lin-
wir irgendetwas aus der Luft gegriffen hätten; vielmehr ken, der uns vorgelegt wurde, nicht ausreichend, weil es
gab es eine Äußerung der Bundesjustizministerin, einer auch für die Kreditinstitute Kriterien geben muss, bei de-
Ministerin der Regierung, die Sie mittragen. Sie sagte, nen sie Nein sagen dürfen. Ein absoluter Rechtsanspruch
dass eine gesetzliche Regelung geschaffen werden soll. ist meines Erachtens nicht zielführend. Die Einschrän-
Von daher haben wir einen Anlass für diese Debatte und kungen, die in der Selbstverpflichtung genannt sind,
ich finde es merkwürdig, dass hier von Geduld gespro- weisen in die richtige Richtung. Sie beziehen sich auf
chen wird. Personen, die falsche Angaben in Bereichen machen, die
für das Vertragsverhältnis wichtig sind, beispielsweise
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber diese wenn es um Geldwäsche geht. Deswegen haben wir die
Initiative ist nicht wiederholt worden!) Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vor-
Wenn etwas angekündigt wird, dann können wir auch zulegen. Darin kann man diese Regelungen der Selbst-
darüber reden. Die Bundesjustizministerin ist am verpflichtung aufgreifen. Wir brauchen eine eindeutige
(B) 24. Januar dieses Jahres entsprechend zitiert worden. Regelung, damit die jetzige unklare Situation im Inte- (D)
resse der betroffenen Menschen – das sind wirklich nicht
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber das ist die Begünstigten in unserem Land – verbessert werden
nicht mehr wiederholt worden!) kann.
Warum ist es nötig, etwas zu tun? Diese Frage sollte
Danke schön.
man aus marktwirtschaftlicher Perspektive genau be-
trachten. Wir fordern mehr Existenzgründungen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
eine Kultur der zweiten Chance. Die Kultur der zwei-
ten Chance muss aber auch die Sicherheit umfassen,
dass Menschen, die einmal gescheitert sind, neu begin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen können. Dafür ist es extrem wichtig, dass eine Ich schließe die Aussprache.
Grundlage vorhanden ist. Deshalb ist es auch richtig,
dass Menschen ein Girokonto haben können. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/731 an
(Frank Schäffler [FDP]: Die bekommen auch die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
ein Konto!) schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
Ein Girokonto zu besitzen, ist heute der Normalfall. nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir wissen, dass Menschen, die kein Girokonto haben, Zusatzpunkt 7. Der Antrag der Fraktion des Bündnis-
mehr Geld für den Zahlungsverkehr aufwenden müssen ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/818 soll an die in
als Menschen, die ein Konto haben. Gerade den Men- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
schen also, die in Schwierigkeiten geraten sind, wird es werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Frak-
im Zahlungsverkehr besonders schwer gemacht. Darin tionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federfüh-
kann ja nicht die Kultur der zweiten Chance bestehen. rung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/
Wir können nicht zulassen, dass Menschen, die schon Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
einmal in Schwierigkeiten geraten sind, noch eine wei- Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
tere Last tragen müssen.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das will ja
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen. Wer
keiner!)
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegen-
Ich möchte noch einmal auf die Selbstverpflichtung stimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
eingehen, die wir bereits seit zehn Jahren haben. Immer schlag ist mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei
1716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- deren Verbraucherschutzpolitik gekommen sind. Die (C)
nen abgelehnt. Verbraucherschutzpolitik hat eine vollkommen andere
Dimension bekommen. Das ist auch gut so. Es ist viel
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
erreicht worden. Es wurde übrigens leider auch viel ver-
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – zur Erinne-
hindert, insbesondere von den Bundesländern im Bun-
rung: Federführung beim Finanzausschuss – abstimmen.
desrat. Es gibt aber noch sehr viel zu tun. Deshalb haben
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Ge-
wir diesen umfänglichen Antrag vorgelegt. Wir sagen:
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
Moderner Verbraucherschutz kann nicht in sechs Jahren
schlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen-
umgesetzt werden; moderner Verbraucherschutz ist viel
stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
umfangreicher. Es gibt noch sehr viel zu tun. Deshalb
angenommen.
sollten Sie uns beim modernen Verbraucherschutz unter-
Damit liegt die Federführung beim Finanzausschuss. stützen!
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zusatzpunkt 8 auf: Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie haben uns viel
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike hinterlassen!)
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Einzelne Erfolge, Herr Bleser, haben wir bereits er-
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- reicht. Das sieht man schon, wenn man sich einmal die
SES 90/DIE GRÜNEN Zusammensetzung des Ausschusses betrachtet. Vor
Moderne Verbraucherpolitik fortführen und 15 Jahren war der Agrarausschuss eine reine Männerdo-
weiterentwickeln mäne. Jetzt, da der Verbraucherschutz ein stärkeres Ge-
wicht bekommen hat, haben wir in diesem Ausschuss
– Drucksache 16/684 – zumindest eine gute Quotierung. Selbst bei der CDU/
Überweisungsvorschlag: CSU hat der moderne Verbraucherschutz das schon be-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und wirkt.
Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Peter Bleser [CDU/CSU]: Was hat das mit
Ausschuss für Gesundheit Verbrauchern zu tun?)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Uns, Herr Bleser, geht es aber darum, dass er noch
Technikfolgenabschätzung mehr wirken soll und in dieser neuen Legislaturperiode
(B) Ausschuss für Tourismus nicht zurückgeschraubt wird. Da haben wir schon Sorge. (D)
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Denn das Erste, was der Bundesminister gemacht hat,
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, ist, dass er den Namen seines Ministeriums geändert hat
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der und den Verbraucherschutz von der ersten auf die letzte
Fraktion der FDP Stelle degradiert hat. Das ist kontraproduktiv.

Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft Unsere Meinung ist, dass ein moderner Verbraucher-
durch mündige und aufgeklärte Verbraucher schutz an erster Stelle Verbraucherinformation bedeu-
sicherstellen tet. Wenn ich mir ansehe, was der Bundesminister beim
Verbraucherinformationsgesetz vorhat, dann muss ich
– Drucksache 16/825 – sagen: Es enthält zwar ein Recht auf Information, aber es
Überweisungsvorschlag: ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Wenn Sie alle
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausnahmen berücksichtigen – man darf nur die Behörde
Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss fragen und nicht das Unternehmen, man darf nur zu Le-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bensmitteln fragen und nicht zu Bedarfsgegenständen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Dienstleistungen und man muss Geschäfts- und Be-
Ausschuss für Gesundheit triebsgeheimnisse wahren –, dann wissen Sie, dass
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
nichts dabei herauskommt. De facto gibt es so viele Aus-
Technikfolgenabschätzung nahmen, dass am Ende vom Verbraucherinformationsge-
Ausschuss für Tourismus setz nichts übrig bleibt. Das ist schade. Die Verbraucher
haben ein gutes Verbraucherinformationsgesetz nötig.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Der zweite Punkt ist, dass eine moderne Verbraucher-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- schutzpolitik auch Wahlfreiheit umfasst. Wahlfreiheit
nerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn von heißt zum Beispiel auf dem Gebiet der Gentechnik, dass
Bündnis 90/Die Grünen. beachtet werden sollte, dass 75 Prozent der Bevölkerung
in diesem Land gentechnikfreie Lebensmittel wollen.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber was Sie in der Koalitionsvereinbarung festgelegt
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben, wird dazu führen, dass diese Wahlfreiheit immer
haben in den letzten Jahren erlebt, dass wir zu einer an- mehr ausgehöhlt wird. Deshalb brauchen wir in einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1717
Bärbel Höhn
(A) modernen Verbraucherschutzpolitik eben auch mehr In- ner Zeit, in der Sie, meine sehr geehrten Damen und (C)
formationen und mehr Wahlfreiheit. Herren von Bündnis 90/Die Grünen, regiert haben.
Drittens. Eine moderne Verbraucherpolitik muss auch Die in diesem Entschließungsantrag formulierten
bedeuten, dass wir bei wirtschaftlichen Fragen mehr Ziele und Anforderungen an eine wirksame Verbrau-
Verbraucherschutz erreichen. Ein Beispiel sind die ge- cherpolitik sind in Ihrem jetzigen Antrag wörtlich über-
gen hohe Gasrechnungen protestierenden Kunden. nommen worden. Nicht ein einziger Punkt im Forde-
Mittlerweile protestieren 500 000 Menschen gegen die rungskatalog fehlt. Da frage ich mich natürlich: Was
Erhöhung der Gaspreise. Sie sagen: „Wir wollen wissen, haben Sie denn eigentlich in dem verbleibenden halben
wie sich die Kosten zusammensetzen. Warum sind die Jahr bis zur Bundestagswahl, in dem Sie die Regierungs-
Preise so hoch? Wir können die Kosten nicht aufschlüs- verantwortung trugen, für den Verbraucherschutz er-
seln.“ Wenn man berücksichtigt, dass die Kosten um reicht?
25 Prozent, die Gewinne der Unternehmen, zum Bei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
spiel von Eon um 85 Prozent gestiegen sind, muss man
Hans-Michael Goldmann [FDP])
sagen: Diese Gewinne haben die armen Verbraucher mit-
bezahlen müssen. Was ist denn in diesem Zeitraum in Sachen Verbraucher-
schutz tatsächlich bewegt worden, auf einem Terrain,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
das Sie als ureigenes grünes Claim für sich beanspru-
SES 90/DIE GRÜNEN)
chen?
Gestern gab es eine Nullantwort des Staatssekretärs
Eines ist richtig: Frau Kollegin Künast hat viele Ver-
Schauerte auf die Frage, wie die Bundesregierung die
sprechungen gemacht. Es gab medienwirksame Insze-
500 000 Menschen, die in diesem Land zu hohe Gas-
nierungen und richtig teure Kampagnen. Ich denke da
und Energiepreise zahlen, unterstützen will.
zum Beispiel an die Kampagne „Echt gerecht. Clever
Ein letzter Punkt für die letzten zehn Sekunden. kaufen“, von der man nichts mehr hört. Diese Aktion hat
Fahrgastrechte bei der Bahn. Jeder – auch Sie, Herr in den Jahren 2004 und 2005 insgesamt über
Bleser, das sehe ich Ihrem Gesicht an – hat sich schon 1,9 Millionen Euro gekostet. Das waren Ausgaben, die
einmal darüber geärgert, dass die Leistungen bei der den Steuerzahler belastet und dem Verbraucher schlicht-
Bahn nicht ausreichend waren. weg nichts gebracht haben.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Wer hat denn re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
giert? Wer hat regiert bis September letzten
Auch an die pressewirksamen Angriffe auf Bahnchef
Jahres? Das waren Sie doch!)
Mehdorn erinnern wir uns alle noch recht gut. Dem-
(B) (D)
Deshalb geht es darum, die Rechte der Verbraucher, der gegenüber lassen wir zurzeit von einem Bund-Länder-
Fahrgäste zu stärken, und zwar auf Grundlage eines ver- Arbeitskreis prüfen, wie und in welchem Umfang wir
brieften Rechts. Man muss einen Rechtsanspruch auf den zivilrechtlichen Verbraucherschutz für Bahnkun-
Entschädigung haben und darf nicht auf den Goodwill den konkret verbessern können.
der Bahn angewiesen sein.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Es gibt noch tausend Punkte – ich nenne nur Scoring Wie finden Sie denn die Politik von
und RFID –, bei denen es darum geht, den wirtschaftli- Mehdorn?)
chen Verbraucherschutz, die Rechte der Verbraucherin-
nen und Verbraucher zu stärken. Sie sind seit 100 Tagen – Es ist ein zu Recht angerissenes Thema. Das, was Sie
an der Regierung. Wir sehen, dass eine moderne Ver- betrieben haben, könnte man auch als Themenhopping
braucherpolitik anders aussieht. Strengen Sie sich also bezeichnen.
an und machen Sie eine gute Arbeit! (Beifall bei der CDU/CSU)
Vielen Dank. Aus Sicht des Verbrauchers muss der Verbraucher-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schutz angepackt und vor allen Dingen verbessert wer-
Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie hatten sieben den. Die neue Bundesregierung hat ihn als einen festen
Jahre Zeit!) Bestandteil im Koalitionsvertrag verankert. Ich denke,
das ist wichtig und nicht der Name.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Das Wort hat die Kollegin Uda Heller von der CDU/ Bundesminister Seehofer hat in den vergangenen Wo-
CSU-Fraktion. chen und Monaten erfolgreich unter Beweis gestellt,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass er mit großem Geschick Krisen wie den Gammel-
fleischskandal oder die Vogelgrippe bewältigen kann.
Er handelte besonnen, schnell, effektiv und verantwor-
Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU):
tungsbewusst und ohne den Anspruch, in den Medien
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Alleinunterhalter zu sein.
Kollegen! Frau Höhn, fast exakt vor einem Jahr ist von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ein Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
schließungsantrag zum Verbraucherpolitischen Bericht Peter Bleser [CDU/CSU]: Das hat Frau Höhn
2004 der Bundesregierung vorgelegt worden, also zu ei- ja gemacht!)
1718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Uda Carmen Freia Heller


(A) Er hat die Kompetenzprobleme und den dringenden Produkten und Dienstleistungen sind. Diese Unterle- (C)
Handlungsbedarf, der sich aus den Seuchen wie im aku- genheit der Konsumenten zeigt sich auch daran, dass
ten Fall der Vogelgrippe ergeben hat, klar aufgezeigt. der einzelne Verbraucher oft Probleme hat, die ihm zu-
Hätte man das nicht auch schon bei früheren Seuchen stehenden Ansprüche im konkreten Fall durchzusetzen,
wie den BSE-Skandalen so klar erkennen und in Angriff zumal die Anbieter die üblichen allgemeinen Geschäfts-
nehmen können? bedingungen regelmäßig einseitig zu ihren Gunsten aus-
gestalten. Ich denke, in dieser Analyse herrscht unter uns
Auch in Fragen der Verbraucherpolitik sucht Minister
allen Einigkeit.
Seehofer den Dialog mit allen Akteuren, nicht die Kon-
frontation. Allerdings unterscheiden wir uns deutlich in den
Konsequenzen, die wir aus dieser Tatsache ziehen. Für
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Union gilt, dass wir die Gesundheit, die Sicherheit
Das zahlt sich aus, war aber in der Vergangenheit leider und die wirtschaftlichen Interessen und Rechte der Ver-
nicht der Fall. So ist es ihm gelungen, in den wenigen braucher schützen müssen. Dabei legen wir das Leitbild
Monaten seiner Amtszeit einige wichtige Dinge auf den des mündigen Verbrauchers zugrunde. Das ist, wie ich
Weg zu bringen, zum Beispiel das Zehnpunkteprogramm finde, eine ganz wichtige Aussage.
als Konsequenz aus dem Gammelfleischskandal
Die Union wehrt sich strikt dagegen, den Verbraucher
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in irgendeiner Weise zu bevormunden und ihm mit mo-
Was ist denn davon umgesetzt? – Wolfgang ralisch erhobenem Zeigefinger zu sagen, was er gefäl-
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pa- ligst zu tun oder zu lassen hat.
pier ist geduldig!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und – ganz aktuell – den Entwurf des Verbraucherinfor- neten der SPD)
mationsgesetzes, welches schlank, effizient und ausge-
Damit erteilt die Union einer ideologisch geprägten Ver-
wogen ist und – ganz wichtig – auch von der Wirtschaft
braucherlenkung eine klare Absage.
akzeptiert wird. Das ist ein bedeutender Aspekt; denn
auch die Wirtschaft müssen wir ins Boot holen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn Unserer Ansicht nach geht der Konsument souverän
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit Produkten und Dienstleistungen um, nicht zuletzt
getan worden? Außer Reden nichts gewesen! – auch aufgrund der offenen und vielfältigen Informa-
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionsangebote seitens der Wirtschaft. Neutrale Institutio-
NEN]: Außer Themenhopping und Reden ist nen wie die „Stiftung Warentest“ bieten Waren und
(B) (D)
doch nun wirklich nichts passiert!) Dienstleistungen als Entscheidungshilfen an. Das Ziel
besteht darin, transparente Informationen über den
– Im Gegensatz zu Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin,
Markt anzubieten, damit die Verbraucher bewusst und
hat Minister Seehofer es sehr schnell geschafft, die Kon-
selbstständig ihre Konsumentscheidung treffen können.
ferenz der Agrarminister der Bundesländer ähnlich der
turnusmäßig in Brüssel stattfindenden EU-Agrarminis- Neben den gesetzlichen Regelungen ist auch weiter-
terkonferenz zu einer regelmäßigen Einrichtung werden hin eine gute Verbraucheraufklärung notwendig, da-
zu lassen, mit die Verbraucher auf Grundlage einer soliden Infor-
mationspolitik sachgerecht entscheiden können. Daher
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kommt einer unabhängigen Verbraucherberatung eine
NEN]: Ach was! Bei den Gesundheitsminis-
zentrale Bedeutung zu.
tern hat man ihn doch gar nicht reingelassen!
Da stand er vor der verschlossenen Tür!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Also doch Verbraucherlenkung! – Ge-
getreu dem Motto: Dialog statt Konfrontation.
genruf der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- CSU]: Nein! Das ist doch etwas völlig ande-
neten der SPD) res!)
Dies ist meiner Ansicht nach der richtige Weg. Nur so – Sie müssen mir zuhören, Herr Kollege. Ich habe ge-
lassen sich anstehende Probleme frühzeitig erkennen sagt, dass einer unabhängigen Verbraucherberatung eine
und Verbraucherschutzfragen nachhaltig lösen. zentrale Bedeutung zukommt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Handwerk statt Mit einer schlagkräftigen Verbraucherberatung auf
Mundwerk! – Wolfgang Wieland [BÜND- Bundes- und Landesebene kann der Konsument den An-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Seehofer ist doch bietern auf gleicher Augenhöhe begegnen. Dann wird er
der größte Schaumschläger überhaupt! – auch ernst genommen.
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was hat er bisher gemacht?)
Gucken Sie sich das mal genau an! Wo sind
Gerne stelle ich nun die Position der Union heraus: denn die Verbraucherberatungen? Gucken Sie
Verbraucherpolitik legitimiert sich für uns allein aus der mal, wo da gekürzt worden ist! – Gegenruf
Tatsache, dass die Verbraucher als Marktteilnehmer in von der CDU/CSU: Ach was! Wir haben gar
einer deutlich schwächeren Position als die Anbieter von nichts gekürzt! – Gegenruf der Abg. Bärbel
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1719
Uda Carmen Freia Heller
(A) Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, Grundsätzlich vertrauen wir auf die gestaltende Funktion (C)
dann sehen Sie sich aber mal an, wie es in den der Verbraucherpolitik in einem fairen Wettbewerb:
Ländern aussieht!) Wettbewerbspolitik ist die effektivste Form der Verbrau-
cherpolitik, insbesondere dann, wenn der Verbraucher
– Die Verbraucherberatungen sind gut ausgestattet. In die Wahl zwischen vielen Alternativen hat.
Sachsen-Anhalt sind sie sogar am besten ausgestattet,
verehrte Kollegin.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gleichermaßen sind beim Thema Verbraucherschutz Frau Kollegin Heller, denken Sie bitte an die Zeit.
die Eigeninitiative und die Selbstverpflichtung der Wirt-
schaft zu respektieren und zu unterstützen. Für uns Poli- Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU):
tiker stellt sich die Frage: Wie können wir die Macht der
Das betrifft besonders die Bereiche Energieversor-
Verbraucher stärken? Mit dem am 6. März 2006 vorge-
gung, Telekommunikation, Briefdienst und Personenver-
legten Entwurf eines Verbraucherinformationsgeset-
kehr auf der Schiene.
zes wird der berechtigten Forderung nach einer gesetzli-
chen Verankerung der Rechte der Bürger Rechnung 100 Tage nach dem Regierungswechsel können wir
getragen. Unbestritten haben die Verbraucher diesbezüg- bereits eine sehr positive Bilanz vorweisen: Handeln
lich noch Bedarf an zusätzlichen Informationen; denn statt reden, Dialog statt Konfrontation.
immer wieder erschüttern Lebensmittelskandale das Ver-
trauen der Verbraucher. Was täglich auf unseren Tisch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
kommt, soll aber gesund und sicher sein. Nur, was nüt- neten der SPD)
zen gute Verbraucherstandards, wenn sie den meisten Von diesen Grundsätzen lassen wir uns leiten und wir
Bürgern unbekannt oder rechtlich nicht durchsetzbar sind damit auf einem guten Weg.
sind?
Vielen Dank.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein weiterer
Schritt hin zu einer verbesserten Verbraucherinformation (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und zu mehr Markttransparenz getan. neten der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
neten der SPD) Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Nach zähem Ringen mit den Ländern und der Wirtschaft Goldmann von der FDP-Fraktion.
(B) um einen Konsens über die Ausgestaltung des Verbrau- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (D)
cherinformationsgesetzes soll dieses jetzt möglichst
schnell auf den Weg gebracht werden. Durch eine deutli-
Hans-Michael Goldmann (FDP):
che Ausweitung der Befugnisse der Behörden, von sich
aus die Öffentlichkeit zu informieren und bei Skandalen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Ross und Reiter zu benennen, wird so mancher Produ- Kollegen! Ihnen liegen zwei Anträge vor, die nach mei-
zent oder Händler sich hoffentlich dreimal überlegen, ner Auffassung von völlig unterschiedlichen Gesell-
umetikettiertes Gammelfleisch in die Regale zu legen. schaftsbildern ausgehen. Mit dem einen Antrag soll sehr
Aus der bisherigen Kannvorschrift im Gesetzentwurf ist viel geregelt und legitimiert werden; im Grunde genom-
eine Sollvorschrift gemacht worden. Das bedeutet einen men wird der Staat an die erste Stelle gestellt. Das ist der
Paradigmenwechsel, hin zum Grundsatz der Aktenöf- Antrag von Ihnen, von Bündnis 90/Die Grünen. Frau
fentlichkeit. Höhn, da muss man natürlich schon sagen: Wenn jemand
nach so vielen Jahren Regierungsverantwortung einen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Antrag vorlegt, in dem 26 Punkte enthalten sind, die neu
neten der SPD) geordnet werden müssen, dann fragt man sich schon:
Was haben Sie bis jetzt eigentlich gemacht?
Trotzdem wird dem Schutz von Betriebs- und Geschäfts-
geheimnissen und der Rechte Dritter noch ausreichend (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Rechnung getragen. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die anderen Punkte geregelt, die nicht drin ste-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – hen!)
Julia Klöckner [CDU/CSU]: Und der Arbeit-
geber!) Vieles ist nett formuliert in Ihrem Antrag, aber im
Grunde genommen geht es in ihm immer darum, mehr
Wie Sie der Antwort der Bundesregierung – Druck- Geld auszugeben, mehr zu bevormunden, kurz: Es geht
sache 16/777 – auf Ihre Anfrage zu den Schwerpunkten um mehr Staat. Das ist nicht unsere Welt. Deswegen bin
des Verbraucherschutzes deutlich entnehmen können, ich froh, dass Frau Heller unseren Antrag so positiv ge-
streben wir eine stärkere Patientenorientierung des Ge- sehen hat, dass sie über ihn eigentlich gar nichts gesagt
sundheitswesens an. Geplant ist unter anderem, Patien- hat.
tenvertretern mehr Mitspracherechte in den verschiede-
nen Gremien des Gesundheitssystems zu geben. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Weil der so unwichtig war!)
1720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Hans-Michael Goldmann
(A) Liebe Frau Heller, ich nehme an, dass wir dann davon der Gesellschaft begleitet werden kann, dazu führt, einen (C)
ausgehen können, dass Sie unserem Antrag im Aus- mündigen und aufgeklärten Verbraucher zu haben,
schuss mit vollem Herzen zustimmen,
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP – Uda Carmen Freia der sich dann mit dem vorhandenen Kenntnisstand ent-
Heller [CDU/CSU]: Schaun mer mal!) scheidet.
wie Sie das ja vor der Regierungsteilübernahme immer Wir sagen auch klar Ja zur Werbung. Wir halten gar
getan haben. nichts von der Idee, jede Form von Werbung zu diskri-
(Zuruf von der SPD: Da sind wir gemeinsam minieren und schlecht zu machen. Wir sind dafür, dass
vor!) ein gutes Unternehmen für sein gutes Produkt gut wer-
ben kann und dass sich dieses Unternehmen damit auch
Frau Heller, wir sind sehr gespannt darauf, wie Sie sich Marktanteile erschließen kann.
im Ausschuss verhalten.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Lassen Sie mich nun etwas zu dem Antrag sagen, den Zu häufig werben sie für ein schlechtes Pro-
wir einbringen. Ich schaue mir immer gerne die Über- dukt!)
schriften an: Wir sind dafür, dass Verbraucherschutz in
einer Marktwirtschaft einen hohen Stellenwert hat. – Überlassen Sie doch dem Verbraucher die Entschei-
dung.
(Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan
[FDP]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir reden immer vom mündigen Wähler und Bürger und
Das ist völlig klar, weil guter Verbraucherschutz eine zu-
tun gerade so, als ob es in Deutschland in allen Berei-
sätzliche Chance für die Marktwirtschaft und für die Un-
chen nur noch eine Bildungskatastrophe gibt.
ternehmen bietet. Deswegen, Frau Höhn, wollen wir die
Dinge klug einbinden. Wir wollen die Dinge mit der (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Es gibt ja auch ver-
Wirtschaft zusammen machen, weil wir davon überzeugt schiedene Parteien, die gewählt werden!)
sind, dass guter Verbraucherschutz nur in dem Miteinan-
der von Unternehmen und Gesellschaft – sprich: auch Das ist doch nicht so. Wir haben auch in den Geschäften
denjenigen, die die Gesetze machen – zu leisten ist. gute Fachkräfte.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der FDP)
Lasst den Kunden doch auch die Fachkraft in Anspruch
(B) Sie können an dieser Stelle ruhig einmal auf etwas nehmen. Die Fachkraft hat dann die Chance, ihr Wissen (D)
Gutes verweisen: Die Plattform „Ernährung und Bewe- an den Kunden heranzubringen.
gung“ ist eigentlich ein klassisches Beispiel dafür, wie
man die Dinge zusammenführt. (Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann waren Sie das
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: letzte Mal einkaufen?)
Aber nur dann, wenn es auch Sinn macht!)
– Frau Höhn, in diesem Wettbewerb miteinander werden
Die Wirtschaft ist dabei und die Krankenversicherungen Fachgeschäfte eine Überlebenschance haben.
sind auch dabei. – Ja, Frau Höhn, ich habe mich ja auch
darüber gefreut, dass ich da mitarbeiten darf; das ist (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
überhaupt keine Frage. Ich habe mich allerdings darüber Welche Vorstellung von Geschäften haben Sie
geärgert, dass bis jetzt nichts dabei herausgekommen ist. denn?)
Das müssen wir leider auch feststellen. – Liebe Frau Höhn, wir führen zu Hause ein Fachge-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schäft und ich kann Ihnen sagen, dass wir über die
Dann können wir auch sagen, dass das nicht Schiene der Fachinformation, über die Schiene der Kun-
immer funktioniert, wenn man es so macht!) denbegleitung, über die Schiene der guten Werbung und
über die Schiene der Bildung und Information durchaus
– Ja, das stimmt, bei Ihnen funktioniert das nur selten. im Markt sind. Allerdings gibt es in der Nachbarschaft
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch Betriebe, die relativ wenig für die Kundenaufklä-
der CDU/CSU) rung tun.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wir wollen sicherstellen, dass es mündige und aufge-
Da sehen Sie es!)
klärte Verbraucher gibt. Wir wollen den Verbraucher-
schutz in die Bildung einbinden. Wir wollen, dass die Lassen Sie uns deswegen doch gemeinsam dafür sorgen,
Menschen die nötigen Informationen haben, um sich dass die, die uns am Herzen liegen, die Arbeitsplätze
frei so zu entscheiden, wie das kluge Verbraucher tun schaffen und sichern, im Markt bleiben.
können. Das ist das, was auch Sie ansprechen. Deswe-
(Beifall bei der FDP)
gen setzen wir auf Bildung und Information und nicht
darauf, bestimmte Dinge zu diskriminieren. Wir treten Lassen Sie mich noch eines zur Kennzeichnung sa-
dafür ein, dass eine kluge und gute Informationspolitik, gen, weil Sie uns hier auch immer Unrecht tun. Wir sind
die von der Wirtschaft getragen und durchaus auch von für eine klare Kennzeichnung. Wir sind aber nicht dafür,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1721
Hans-Michael Goldmann
(A) etwas auszuschließen. Wir wissen, dass die Menschen in Mechthild Rawert (SPD): (C)
Deutschland zum überwiegenden Teil noch keine gen- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
technisch veränderten Produkte wollen. Lassen Sie uns Herr Goldmann, es ist ja schön, wenn Sie von Ehrlich-
aber doch in den Wettbewerb der gentechnisch veränder- keit reden. In den letzten Ausschusssitzungen hätte ich
ten Produkte mit den traditionellen Produkten eintreten. mir mehr davon gewünscht.
Lassen Sie uns für diese Schiene werben und lassen Sie
uns den Menschen ehrlich gegenübertreten. Sagen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nicht Nein zur Grünen Gentechnik, wann immer es Ih- der CDU/CSU)
nen passt, während Sie gleichzeitig Ja zum Impfen auf Die Vogelgrippe und das Gammelfleisch, die einge-
der Basis von gentechnisch verändertem Impfstoff sa- knickten Strommasten als Ausdruck mangelnder Versor-
gen. Frau Höhn, das ist nicht miteinander in Einklang zu gungssicherheit im Strombereich, der preistreibende
bringen und das ist zu kritisieren. Wettbewerbsrahmen auf dem Gasmarkt, die fehlende
(Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND- Transparenz bei Telefonmehrwertdiensten – also bei die-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch zwei sen miesen Geschäften mit den 0190er-Nummern – und
vollkommen verschiedene Sachen!) unfaire Verträge von Lebensversicherungen haben für
Schreckensmeldungen und Schlagzeilen gesorgt.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Verbraucher-
informationsgesetz sagen. Wir werden das Verbraucher-
informationsgesetz auf den Prüfstand stellen. Ich denke, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das müssen wir auch. Frau Kollegin Rawert, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Goldmann?
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sind
die fünf Minuten noch nicht herum?)
Mechthild Rawert (SPD):
Ich sage auch hier: Seien Sie froh, dass die FDP diesen Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Teil im Vermittlungsausschuss verhindert hat, sonst hät-
ten Sie heute nämlich gar kein Verbraucherinformations- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gesetz mehr auf den Weg bringen können.
Sie erlauben also keine Zwischenfrage.
(Beifall bei der FDP)
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben wir
Ihre lieben Mitstreiter von der CDU – ich denke da an gerne! Aber zuerst draufhauen! Feigling!)
meine geschätzte Kollegin Ulla Heinen – waren damals
eigentlich dafür, das beim Futtermittelgesetz und beim Mechthild Rawert (SPD):
(B) Lebensmittelgesetz eben mal holterdiepolter über die (D)
Diese haben den Blick auf Missstände und Skandale
Bühne gehen zu lassen.
im Verbraucherschutzbereich offen gelegt. Diese Schre-
Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen, liebe ckensmeldungen haben vielfache Ursachen, aber immer
Frau Heller: So doll ist das mit den Leistungen von ein Ergebnis: Sie tragen zur Verunsicherung der Ver-
Herrn Seehofer nicht. Lassen Sie also die Kirche einmal braucherinnen und Verbraucher bei. Sie untergraben das
im Dorf. Vertrauen in ganze Wirtschaftszweige und verlangen
dringend nach effektiven politischen Rahmensetzungen.
(Beifall bei der FDP)
Frau Kollegin Heller hat hierzu einige Ausführungen ge-
Jetzt liegt zum ersten Mal ein wirkliches Gesetz vor. macht.
Beim Zehnpunkteprogramm sind wir meilenweit von
Lösungen entfernt und bei der Vogelgrippe haben wir es Wir reagieren hierauf je nach politischem Standort.
auch mit einem Versagen zu tun, Die Oppositionsfraktionen des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und der FDP haben heute Anträge dazu vorgelegt.
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ganz schlechte Diese Anträge enthalten eine sehr lange Liste von Forde-
Rede!) rungen, die wir selbstverständlich zur Kenntnis nehmen.
das auch bei dem Herrn Minister liegt. Das wollte ich Wir, die Regierungsfraktionen und unsere Regierung,
zum Schluss doch noch einmal sagen. haben im Gefolge des Gammelfleischskandals mit einem
Zehnpunktekatalog die angemessenen Schutz- und Prä-
Herzlichen Dank. ventivmaßnahmen schnell und kompetent getroffen und
(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ sind damit auf dem richtigen Weg der Fortführung einer
CSU: Wenn die letzten Sätze nicht gewesen modernen Verbraucher- und Verbraucherinnenpolitik.
wären, hätte man fast klatschen können! – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich hätte fast ge-
klatscht!) Wir orientieren uns am Leitbild der selbstbestimmten
und informierten Verbraucherin; Gleiches gilt selbstver-
ständlich auch für die Männer. Dennoch reicht dies nicht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
aus; denn nicht nur Orientierung ist gefragt, sondern
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert von der
auch Taten. Als neue Parlamentarierin habe ich manch-
SPD-Fraktion.
mal den Eindruck, dass Verbraucherschutzpolitik immer
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch eher – jetzt schaue ich ganz gezielt nach rechts – als
der CDU/CSU) nachsorgende Politik einer Reparatur des ökonomischen
1722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Mechthild Rawert
(A) Wildwuchses angesehen wird und nicht als selbstver- die EU-Kommission ansonsten sehr zukunftsorientierte (C)
ständlicher, integrierter und integraler Teil von Wirt- und innovative Themen auflegt. Erwähnt wurden hier
schafts- und Wettbewerbspolitik. schon alle Maßnahmen des Grünbuches zur Prävention.
Dieses Grünbuch ist ein gutes Beispiel dafür, wie mo-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
derne Verbraucherinnen- und Verbraucherpolitik in ef-
der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
fektiver Zusammenarbeit auf nationaler und europäi-
DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)
scher Ebene aussehen kann.
Herr Goldmann, Sie hatten vorhin angemerkt, dass
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
man Ihren Antrag möglicherweise nicht gelesen habe. In
Ihrem Antrag steht: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
In einer sozialen Marktwirtschaft hat der Schutz der
Verbraucher seinen festen Platz. Es kann aber nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
angehen, dass die Marktwirtschaft durch vermeint- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
lich gut gemeinte Überregulierung zum Schutz der Kollegen Goldmann.
Verbraucher gelähmt wird.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Hier geht es nicht um Sozialarbeit. Hier geht es um Poli-
Liebe Kollegin Rawert, ich kann mich nicht erinnern,
tik, und zwar um Querschnittspolitik.
dass Sie in der letzten Ausschusssitzung etwas gesagt
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uda haben.
Carmen Freia Heller [CDU/CSU])
(Jörg Tauss [SPD]: Was?)
Ich will das am Beispiel der EU-Dienstleistungs-
Insofern ist es relativ angriffsfreudig, jemand anderem
richtlinie deutlich machen. Wir alle wissen, wie umstrit-
vorzuwerfen, er habe die Unwahrheit gesagt. Das müss-
ten diese Richtlinie ist und war. Meines Erachtens ist der
ten Sie schon belegen.
Grund dafür, dass der Entwurf der Kommission genau
die Wettbewerbspolitik befördern will, die vom Modell Ich darf Ihnen die Themen noch einmal in Erinnerung
der modernen Marktwirtschaft weit entfernt ist. Verbrau- rufen: Schweinepest, Geflügelpest und die Problematik
cherinnen und Verbraucher müssen die Wahlmöglichkeit des verdorbenen Wildfleischs aus Bayern. Wir können
ohne großen Informationsaufwand haben. Dies geht nur uns gerne noch einmal darüber austauschen. Es wäre in-
über Qualität, Leistung und Kosten. teressant, zu wissen, an welcher Stelle Sie mir Unehr-
lichkeit oder Unwahrhaftigkeit vorwerfen.
Mit den Regeln des Herkunftslands der Dienstleister
(B) wäre diese Grundvoraussetzung für verbraucherfreundli- Wenn Sie darauf anspielen, dass ich meiner Meinung (D)
ches Wirtschaften nicht machbar gewesen. Daher bin ich nach sehr interessiert danach gefragt habe, wie die Wild-
ebenso wie viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen geflügelverordnung umgesetzt werden soll, dann darf
froh, dass das Herkunftslandprinzip durch das Europäi- ich Sie darauf hinweisen, dass es in der Presse heute eine
sche Parlament am 16. Februar gekippt wurde. Berichterstattungsflut zu der Frage gibt, wie zukünftig
mit Katzen umzugehen ist, die eingesperrt werden müs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sen. Ich bin froh darüber, dass auch Landesminister er-
der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/
klärt haben, dass sich die Jäger nach wie vor an die gute
DIE GRÜNEN]: Aber nicht im Verbraucher-
jagdliche Praxis zu halten haben und Katzen nicht ein-
schutz!)
fach abschießen dürfen. Ich finde, es tut den Jägern gut,
Hierzu haben die Proteste und Demonstrationen der Ge- dass die Position klar ist, und es tut auch den Haltern
werkschaften wesentlich beigetragen. gut.
Ich verweise auch auf die klarstellende Antwort auf (Zuruf von der CDU/CSU: Den Katzen auch!)
mein Schreiben an Herrn Bundesminister Seehofer, die
– Das tut auch den Katzen gut.
mich just heute erreichte. Darin wird versichert, dass der
Ausschluss vertraglicher und außervertraglicher Schuld- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
verhältnisse aus dem Anwendungsbereich dieser Richtli- Die kommen bei Ihnen erst zum Schluss!)
nie bedeutet, dass der Verbraucher in jedem Fall in den
– Jetzt auch noch Sie, Frau Höhn!
Genuss des Schutzes kommt, den ihm das geltende Ver-
braucherschutzrecht in seinem Mitgliedstaat gewährt. – (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD)
Weil Herr Schäffler vorhin die geschlechtergerechte
– Lassen wir das doch. Wir sollten wieder so miteinan-
Sprache erwähnt hat, gilt diese Klarstellung selbstver-
der umgehen, wie wir das auch sonst machen.
ständlich auch für Verbraucherinnen. Wichtig ist es, zu
sagen, dass das Ziellandprinzip eine wesentliche Rolle (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem
gespielt hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred
Zöllmer [SPD]: Bloß nicht!)
Wir werden den Prozess der EU-Dienstleistungsricht-
linie aktiv begleiten; denn wir wissen: Effizienter Lohn-, Sie sind sicherlich viel in Berlin unterwegs. Besuchen
Sozial- und Verbraucherschutz sind integraler Bestand- Sie doch einmal die Tierheime und erkundigen Sie sich,
teil einer Öffnung des Dienstleistungsmarktes. Danach wie viele Katzen in der letzten Woche dort abgegeben
handeln wir. Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass worden sind! Es gibt ein hohes Maß an Verunsicherung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1723
Hans-Michael Goldmann
(A) Ich denke, dass man im Ausschuss die Aufgabe hat, trägen, die Sicherung der Postversorgung im ländlichen (C)
nachzufragen. Raum und vieles mehr.
Allerdings unterscheidet uns, glaube ich, die Sicht auf
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke hat
Denken Sie an Ihre Redezeit. ein anderes Grundverständnis von Verbraucherschutzpo-
litik: Für uns steht der Mensch als Sozialwesen im Mit-
Hans-Michael Goldmann (FDP): telpunkt, das seinen Mitmenschen, aber auch der Um-
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Sie er- welt und den nachfolgenden Generationen verpflichtet
innern sich möglicherweise daran, dass ich über die De- ist. Dieser Mensch ist aufgrund der Machtverhältnisse in
finition des Verdachtsfalls geredet habe. der Marktwirtschaft schutzbedürftig, Herr Goldmann,
und zwar als Konsument von Sach- und Dienstleistun-
(Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) gen, als alltäglicher Vertragspartner und als Adressat von
Vielleicht sind auch Sie angerufen worden. Es hat einen hoheitlichen Vorschriften, Informationen und behördli-
Verdachtsfall gegeben. Ein Schwein ist auf dem Trans- chem Handeln.
port zu einem Schlachtbetrieb in Südoldenburg zu Tode Historisch gesehen resultiert der Verbraucherschutz-
gekommen. Die Gesamtladung des Transporters ist gedanke aus der Erkenntnis, dass wirtschaftliche Macht-
durch Keulung getötet worden. Die Arbeit in der Versand- unterschiede zwischen Vertragsparteien oft zu Defiziten
schlachterei in Südoldenburg stand fünf Stunden still. beim Interessenausgleich führen.
Heute wurde bei uns angefragt, wer die Kosten dafür
trägt. Es ist eine entscheidende Frage, ob es ein Ver- (Beifall bei der LINKEN)
dachtsfall war, der auf behördliche Anordnung abgewi- Mündigkeit und Aufgeklärtheit allein – darauf reduziert
ckelt wurde, oder ob sich sozusagen nur jemand etwas es die FDP – ändern noch nichts am Bedarf der Sicher-
ausgedacht hat. stellung eines gerechten Interessenausgleichs.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)
Herr Kollege Goldmann. Verbraucherinteressen unterliegen ganz konkreten sozia-
len Rahmenbedingungen. Daher fordern wir, dass die
Hans-Michael Goldmann (FDP): Wahrnehmung von Verbraucherrechten nicht von den
Insofern bin ich der Meinung, dass Sie zuhören soll- sozialen Lebensbedingungen abhängig sein darf.
ten, bevor Sie Vorwürfe erheben. (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
Das erfordert unter anderem kostenlose Informationszu-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gänge, langfristig gesicherte, kostenfreie und dezentral
Herr Kollege Goldmann, die drei Minuten sind abge- verfügbare Beratungsstrukturen sowie ein Verbands- und
laufen. Vereinsklagerecht, das es auch den Armen ermöglicht,
ihre Rechte wahrzunehmen.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ganz
Ich bin auch fertig. Danke.
wichtig!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rot-Grün hat unbestritten das Verdienst, Fragen des
Frau Rawert, wollen Sie etwas erwidern? Verbraucherschutzes politisch aufgegriffen und die Sen-
sibilität dafür verstärkt zu haben. Das war und bleibt
richtig. Allerdings fordern wir zum Beispiel einen Infor-
Mechthild Rawert (SPD): mationsanspruch statt einer elitären Informationsgewäh-
Nein, das klären wir so. rung. Diese unterschiedliche Sichtweise zeigte sich
(Heiterkeit bei der SPD) kürzlich bei § 28 a des Gentechnikgesetzes, den wir als
einzige Fraktion abgelehnt haben, weil er eben keinen
Anspruch auf Informationen sichert, erst recht keinen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: umfassenden.
Dann erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
So ganz freiwillig war aber auch die Neuorientierung
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): hin zu mehr Verbraucherschutz nicht. Erst die BSE-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Krise hat den Stein richtig ins Rollen gebracht. Ob aus
Kollegen! Liebe Gäste! Viele der im Antrag der Grünen den damaligen Analysen wirklich die richtigen Schluss-
konkret genannten Forderungen waren und sind auch folgerungen gezogen wurden, muss angesichts immer
Forderungen meiner Fraktion. Wir selbst haben bereits neuerer Skandale hinterfragt werden. Bei den damals
die Streichung der Ministererlaubnis beantragt. Unsere neu gegründeten Bundesämtern, dem BVL und dem
Kritik am Herkunftslandsprinzip der EU-Dienstleis- BfR, wurden immerhin die personellen Voraussetzungen
tungsrichtlinie war unüberhörbar. Ebenso wichtig ist uns geschaffen, um den neuen Anforderungen gerecht zu wer-
die Forderung nach Unisextarifen bei Versicherungsver- den. Das muss nun für den Bereich der Risikobewertung
1724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Kirsten Tackmann


(A) bei Infektionskrankheiten von Tieren im Friedrich- wenn die Kunden ihre Wahl nicht ausschließlich nach (C)
Loeffler-Institut dringend nachgeholt werden. Hier muss dem Preis oder der besseren Werbung, sondern nach der
die Bundesregierung endlich die richtigen Schlussfolge- Qualität treffen.
rungen aus den vergangenen Wochen ziehen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Hans-
Werden andererseits die Bewertungen der politikbe- Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig!)
ratenden Bundesforschungseinrichtungen von den Ent-
scheidungsträgern ernst genug genommen? War bei- Unser Leitbild ist der mündige Verbraucher, der ei-
spielsweise die Entscheidung zugunsten niedrigerer genverantwortlich und bewusst am Marktgeschehen teil-
Altersgrenzen bei BSE-Untersuchungen – das soll nun nimmt und dadurch den Markt mitgestaltet.
korrigiert werden – wirklich wissenschaftlich begrün- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig!
det? Warum reagiert die Bundesregierung so zögerlich Sie stimmen also unserem Antrag auch zu! Es
auf den Nachweis der Druckerchemikalie ITX in Geträn- werden ja immer mehr!)
ken, obwohl das BfR feststellt, dass „die zum Teil hohen
Rückstände … aus Sicht der Risikobewertung nicht Die aktive Verbraucherpolitik, für die wir stehen, be-
akzeptabel“ sind? Warum wird hingenommen, dass die schränkt sich nicht allein auf den Schutz der Verbrauche-
Industrie die zur Bewertung notwendigen Daten erst rinnen und Verbraucher. Vielmehr wollen wir die Nach-
2010 bzw. 2015 vorlegen will, obwohl das BfR das be- frageseite des Marktes als gestaltende Kraft stärken, die
anstandet hat? auch qualitative Ziele des Umwelt- und des Gesund-
heitsschutzes sowie Produktinnovationen und Qualitäts-
Allein diese Fragen zeigen, wie wichtig das Anliegen verbesserungen im Marktgeschehen verankert.
der vorliegenden Anträge ist. Aber über die Umsetzung
werden wir uns noch streiten müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann
Recht herzlichen Dank. [FDP]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Wir wollen, dass die Menschen nachhaltig konsumie-
Mechthild Rawert [SPD]) ren können, das heißt, dass sie ihre Möglichkeiten nut-
zen, durch bewusste Kaufentscheidungen Verantwortung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu übernehmen,
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski- der am schonenden Umgang mit unseren natürlichen
Weiß von der SPD-Fraktion. Ressourcen, an Gesundheits- und Sozialstandards und
dem Erhalt von Arbeitsplätzen festhält und diese nicht
(B) für kurzfristige Gewinne an der Börse opfert. (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Dass es bei den Verbrauchern die Bereitschaft gibt,
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
durch bewusste Kaufentscheidungen den Markt mitzu-
Sagt den Leuten nicht, wie gut Ihr die Güter macht, gestalten, zeigen die enormen Zuwachsraten im Bereich
sagt ihnen, wie gut Eure Güter sie machen. der Ökolebensmittelwirtschaft.

Das ist ein Zitat eines amerikanischen Werbefachmanns (Widerspruch des Abg. Hans-Michael
namens Leo Burnett. Es verdeutlicht auf einfache Weise Goldmann [FDP])
den Unterschied zwischen Verbraucherinformation und
Dort ist inzwischen die Nachfrage größer als das Ange-
Werbung. Den informierten Verbraucher fordern alle in
bot. Wir haben vorletzte Woche darüber diskutiert. Vo-
diesem Haus. Aber wer informiert ihn in welcher Form
raussetzung für die Bereitschaft der Konsumenten, sich
und worüber? Hier stehen auch die Anbieter in der Ver-
mit der Wahl bestimmter, eventuell auch teurerer Pro-
antwortung, die schließlich ihre Ware an den Mann bzw.
dukte in das Wirtschaftsgeschehen einzumischen, ist al-
an die Frau bringen wollen.
lerdings, dass für den Käufer der Vorteil dieses Produk-
(Beifall bei der SPD) tes erkennbar ist.

Auf unserem Markt, auf dem es an nichts mangelt, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sind die Produkte angesichts des reichhaltigen Angebots Genau!)
schwer zu unterscheiden. Er will und er muss über die Qualität der Produkte infor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) miert sein; denn nur dann kann er Produkte unterschei-
den und sich bewusst für Qualität entscheiden. Qualität
Deshalb sind Informationen über Produkte für die Kauf- ist nicht nur im Interesse der Verbraucher, sondern auch
entscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucher im Interesse unserer Wirtschaft; denn der weltweite
wichtig. Sie können ein echter Wettbewerbsvorteil sein, Wettbewerb um Niedrigpreise ist für unsere Wirtschaft
nicht zu gewinnen, der Wettbewerb um Qualität schon.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es gibt Mer-
cedes und Porsche!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1725
Elvira Drobinski-Weiß
(A) Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
Nachfrageseite. Verbraucherinteressen müssen ein inte- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
graler Bestandteil des politischen Handelns sein. Die keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wirtschaft muss den Verbrauchern nützen; denn wo der
Kunde König ist, da kauft er, und das nützt der Wirt- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
schaft. Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Frak-
tion.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
Ein funktionierender Wettbewerb erfordert starke Hans-Michael Goldmann (FDP):
Verbraucherrechte. Ein Gleichgewicht zwischen Anbie- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
tern und Nachfragern ist für eine moderne und innova- Kollegen! Liebe Besucher! Es geht hier um Nutztiere.
tive Wirtschaft unverzichtbar. Vielleicht weiß der eine oder andere Besucher nicht, was
ein Nutztier ist. Es geht hier konkret um das Halten von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schweinen mit dem Ziel, sie zu mästen, um mit Schwei-
der CDU/CSU) nefleischprodukten zu wirtschaften.
Wir wollen mehr Markttransparenz und Orientierung auf (Jörg Tauss [SPD]: Die Phase der Katzen liegt
immer unübersichtlicheren und komplexeren Märkten. also hinter uns!)
Dazu gehört auch, dass wir die unabhängige Verbrau-
cherberatung sicherstellen, damit sich Abnehmer und – Wir sind jetzt in der Bildungsphase, Herr Tauss. Hören
Anbieter auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen. Sie ruhig einmal zu! Das tut Ihnen gut.
(Beifall bei der SPD – Hans-Michael (Jörg Tauss [SPD]: Okay! Wir steigern uns!)
Goldmann [FDP]: Jawohl!) Ich weiß wohl, dass dieser Sachverhalt nicht so wahn-
Die Verbraucherzentralen der Länder und des Bundes- sinnig viele Menschen direkt berührt, weil sie nicht wis-
verbandes sowie die Stiftung Warentest sind von zentra- sen, welche Problematik dahintersteckt. Wir alle verlan-
ler Bedeutung für die Beratung und Information der Ver- gen von der Landwirtschaft, dass sie sich am Markt
braucher. orientiert, dass sie ihr Geld auf dem Markt verdient.
Manche beschimpfen die Landwirtschaft und stellen sie
Die Anträge der Opposition lehnen wir ab. Die Forde- als Subventionsempfänger hin. Frau Höhn, Ihre Aus-
rungen der Grünen stehen längst auf unserer Agenda. sage, die heute auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung zu
Der Antrag der FDP steckt voller Widersprüche und lesen ist, ist durchaus richtig. Auch ich bin für Transpa-
(B) Wortmonstren wie – ich zitiere – „einem staatlich regle- renz. Aber ich bin entschieden dafür, das, was den Bau- (D)
mentierten subsidiären Verbraucherschutz“. Es bleibt ern gegeben wird, nicht als Subvention im klassischen
unklar, was Sie wollen. Diesen Antrag hätte man diesem Sinn zu bezeichnen. Vielmehr ist es eine Ausgleichs-
Haus wohl besser erspart. hilfe, damit es in Deutschland überhaupt Landwirtschaft
Vielen Dank. gibt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn wir in Deutschland Landwirtschaft haben wol-
len, dann muss man den Landwirten eine Chance geben.
Die Landwirte selbst sind sehr wohl bereit, ihre Chance
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass die deutschen
Ich schließe die Aussprache. Landwirte von der fachlichen Seite her die besten in der
Welt sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/684 und 16/825 an die in der Tages- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind der CDU/CSU)
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen. Wir haben hervorragende Strukturbedingungen. Wir
sind beim Landmaschinenbau absolute Spitze. Wir haben
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: großartige Forschungseinrichtungen. Außerdem sind die
klimatischen Bedingungen bei uns vielerorts sehr güns-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- tig. Wie ich schon sagte, sind die infrastrukturellen und
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, damit auch die Vermarktungsbedingungen sehr gut. Des-
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne- wegen kommt es nicht von ungefähr, dass wir durchaus
ter und der Fraktion der FDP den Weltmarkt erobern. Im letzten Jahr hatten wir in die-
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Land- sem Bereich einen Zuwachs von 6,5 Prozent.
wirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie So wie wir alle vom mündigen Verbraucher sprechen,
zur Haltung von Nutztieren in nationales so sollten wir auch den mündigen Produzenten im
Recht Blick haben. Warum in drei Teufels Namen muss eine
– Drucksache 16/590 – Verordnung der europäischen Ebene – sonst lasten wir
Überweisungsvorschlag:
solche Verordnungen sehr schnell den bösen Bürokraten
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und in Europa an – bei uns überholt werden? Warum müssen
Verbraucherschutz wir national draufsatteln, wenn wir doch wissen, dass
1726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Hans-Michael Goldmann
(A) der Landwirt die Entscheidung darüber, was für das Tier, (Widerspruch bei der CDU/CSU und der (C)
was für die Produktion und was für den Ertrag gut ist, SPD – Beifall bei der FDP)
am besten allein treffen kann? Warum gehen wir diesen
– Frau Kollegin Rawert, Vorsicht! Ich hatte schon vorhin
Weg auch jetzt noch?
den Eindruck, dass Sie nicht gut zuhören. Jetzt habe ich
(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Bärbel auch noch den Eindruck, dass Sie die Fachpresse nicht
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lesen. Wenn Sie die Fachpresse läsen, wüssten Sie, dass
die FDP für ihren mutigen Einsatz in dieser Frage nach-
– Frau Höhn, jetzt sind Sie aus dem Geschäft. Ihre Idee
haltig unterstützt worden ist.
war früher: Immer noch einen draufsatteln und dann
müsste das schon irgendwie klappen. Ihre Erfolge waren (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert
ja nicht so üppig. Ein Ökoanteil von 2,5 Prozent ist nicht [SPD]: Im „Wochenblatt“? Das glauben Sie
gerade eine glänzende Bilanz. doch selber nicht!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Glauben Sie mir: Unsere Fleischwirtschaft, unsere Be-
Nein, vervierfacht!) triebe sind in diesem Fall der FDP und den Länderland-
wirtschaftsministern dankbar; die haben nämlich Herrn
Alle, die im Bereich der Landwirtschaft tätig sind, sa-
Seehofer zur Vernunft gebracht. Jetzt testen wir so, wie
gen Ihnen: Die Landwirte haben darunter gelitten, dass
in Europa getestet wird, und belügen die Verbraucher
diese Vorgabe überholt wurde. Was machen Sie, liebe
nicht, indem wir sagen, dass das Rindfleisch, was auf
Freunde von CDU/CSU und SPD? Sie machen genauso
dem deutschen Markt ist, irgendwie besonders getestet
weiter. Das ist mir völlig unverständlich.
ist, weil Deutschland anders als andere Länder auch bei
Irgendwie ist man manchmal betroffen. Als Frau noch jüngeren Tieren testet.
Merkel hier vor einiger Zeit einmal sagte, ich bin für
(Mechthild Rawert [SPD]: Denken Sie dran!)
Sachlichkeit und Fachlichkeit, da habe ich gedacht: Das
ist die richtige Frau, sie sollte unser Land führen; wir In diesem Fall war es gut. Seien Sie vernünftig! Ma-
machen das mit. chen Sie eine Eins-zu-eins-Umsetzung! Dann können
wir agrarpolitische Freunde werden.
(Manfred Zöllmer [SPD]: Ihr seid nicht ge-
wählt worden!) (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD:
Oh!)
In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht – die trägst auch
du mit, Kollege Zöllmer –, man wolle diese EU-Verord-
nung eins zu eins umsetzen. Daher haben die Menschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) geglaubt, sie werde eins zu eins umgesetzt. Was passiert Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Röring von (D)
jetzt? Es wird draufgesattelt. Es ist zu viel und es gefähr- der CDU/CSU-Fraktion.
det die Existenz unserer Betriebe. (Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert
(Beifall bei der FDP) [SPD]: Jetzt kommt das Münsterland!)
Der Kollege Priesmeier hat gesagt: Irgendwann
Johannes Röring (CDU/CSU):
kommt von der europäischen Ebene möglicherweise
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
eine Verordnung, die über die bisherige hinausgeht. Man
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
kann das Vorgehen der Koalition daher als vorauseilen-
Jahrhundertelang wurden in Deutschland Tiere gehal-
den Gehorsam interpretieren. Warum eigentlich voraus-
ten – ohne Tierhaltungsverordnung.
eilender Gehorsam? Warum überlässt man die Entschei-
dung nicht denjenigen, die es genau wissen? Wer meint, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!)
er müsse über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinausge-
Man hat den Menschen ganz einfach zugetraut, mit ihren
hen, der sollte das tun. Für denjenigen, der sich auf dem
Tieren, mit ihrem Vieh verantwortungsvoll umzugehen.
internationalen Markt bewähren muss, ist eine Eins-zu-
Dieser Bereich ist heute wie fast alle Bereiche natürlich
eins-Umsetzung völlig ausreichend, weil er den Wettbe-
genauestens geregelt. Da die Landwirtschaft in Europa
werb mit den Niederländern, mit den Dänen und mit den
wie kein anderer Wirtschaftszweig vergemeinschaftlicht
Franzosen sonst verliert. Genau das wird passieren,
ist, übernimmt dies natürlich die Europäische Union.
wenn Sie die Schweinehaltungsverordnung nicht eins zu
Dies geschieht dann durch Richtlinien und Verordnun-
eins in nationales Recht umsetzen.
gen, die sie erlässt.
(Beifall bei der FDP)
Die Änderung der EU-Richtlinie zur Haltung von
Ich möchte noch etwas zu den vorhin angesprochenen Nutztieren vom 9. November 2001 muss in Deutschland
Erfolgen sagen. Im Agrarbereich ist bis jetzt ein einziger dringend umgesetzt werden, da wir sonst hohe Strafzah-
Erfolg erzielt worden: Wir sind, was das BSE-Testalter lungen leisten müssten.
angeht, endlich vernünftig geworden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP)
Die vorherige Verbraucherschutzministerin Künast hat
Dafür ist aber nicht Herr Seehofer verantwortlich; viel- mehrere Anläufe unternommen – glücklicherweise ver-
mehr haben wir, die FDP, gedrängt und gedrängt und ge- geblich –, die Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Hierbei
drängt und gedrängt. hat sie völlig überzogen und versucht, die Vorgaben der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1727
Johannes Röring
(A) EU in einer Weise zu verschärfen, die der deutschen gebaute Stall ist ein Fortschritt bei der Tierhaltung und (C)
Land- und Agrarwirtschaft großen Schaden zugefügt damit für den Tierschutz.
hätte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Michael
Goldmann [FDP]: Ihr macht genau das Glei- Beheizte und voll klimatisierte Schweineställe verbes-
che!) sern nicht nur die Bedingungen für die Tiere, sondern
schaffen auch einen für den Tierhalter angenehmen Ar-
– Moment, Herr Goldmann! – Die 26 Millionen Schwei- beitsplatz. Wer möchte da noch zurück zu den Verhält-
ne, gehalten von 91 000 verantwortungsvollen Bäuerin- nissen der guten alten Zeit? Ich nicht, da ich diese Zeit
nen und Bauern, haben nämlich in dieser Zeit der Nicht- und diese Verhältnisse noch selbst erlebt habe.
umsetzung in Form einer Schweinehaltungsverordnung
nicht gelitten. Sie haben keinen Schaden genommen. Sie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Du bist
sind nicht gequält worden. Sie haben sich wohl gefühlt. doch ein jungen Kerl!)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – Aber ich habe Erfahrung, Herr Goldmann. – Für die
Hans-Michael Goldmann [FDP]) Milchviehhaltung haben die Tierhalter – übrigens ohne
gesetzliche Regelung – völlig neue Haltungsformen ent-
Tierhaltung ist keine starre Angelegenheit; Tierhal- wickelt. Die Tiere werden hier nicht mehr den ganzen
tung wird ständig fortentwickelt. So ist es in den letzten Winter angekettet, sondern laufen mittlerweile frei he-
Jahrzehnten gelungen, durch ein sehr gutes Zusammen- rum und liegen teilweise sogar auf Wasserbetten.
arbeiten von Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft die
Schweinehaltung in Deutschland auf ein weltweit füh- (Mechthild Rawert [SPD]: Worauf liegen die?)
rendes Niveau zu bringen. – Auf Wasserbetten. Sie können das nicht kennen, da Sie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie nicht aus der Praxis kommen.
des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Nur ein kleines Beispiel für die Innovationsfähigkeit der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Das
der Branche in der landwirtschaftlichen Tierhaltung stimmt! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: So
möchte ich Ihnen geben: Die tierischen Leistungen in etwas haben Sie in Wirklichkeit nur zu
unseren Haltungssystemen haben sich enorm verbessert. Hause!)
Waren für die Erzeugung von 1 Kilogramm Schweine- Kommen wir zurück zu den Schweinen.
fleisch in früheren Jahren – in Teilen Osteuropas trifft
(B) das noch heute zu – etwa 6 bis 7 Kilogramm Futter not- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (D)
wendig, haben es die Tierhalter geschafft, dass heute mit
etwa 2,7 Kilogramm Futter 1 Kilogramm hochwertiges Wir diskutieren hier und heute über eine neue Schweine-
Schweinefleisch erzeugt wird. haltungsverordnung, die den Anforderungen an eine mo-
derne Tierhaltung gerecht wird. Sie entspricht den Be-
Das hört sich einfach an, ist aber ein Beispiel mit gra- dürfnissen der Tiere, indem sie ihnen mehr Platz und
vierenden Auswirkungen. Wenn man diese Zahl auf die Licht zugesteht, als die Vorgaben der EU vorsehen.
4,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch hochrechnet, die
in Deutschland im Jahr erzeugt werden, entspricht das (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!)
einer Ersparnis von 18 Millionen Tonnen Getreide. Das Die Schweinehaltungsverordnung entspricht auch den
ist mehr als ein Drittel der deutschen Getreideproduk- Bedürfnissen des Verbrauchers, denn dieser will – das
tion. Zu berücksichtigen ist, dass ähnliche Effekte auch hat er in vielen Umfragen deutlich bekundet – deutsches
bei den anderen Tierarten zu erreichen sind. Da kommt Schweinefleisch. Das bekommt er aber nur, wenn die
also noch einiges hinzu. Tierhaltung bei uns im Lande bleibt.
Wenn ich diese Ergebnisse der heutigen zukunftsori- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Michael
entierten, modernen und innovativen Landwirtschaft, Goldmann [FDP]: Richtig! Deswegen ist die
diese gewaltigen Verbesserungen zusammen betrachte, Verordnung falsch!)
dann muss ich klar sagen: Wenn wir dies nicht geschafft
hätten, dann dürften wir zum Beispiel über Biomasse Aktuell wird 90 Prozent unseres Bedarfes mit heimi-
und deren Einsatz zur energetischen Verwertung über- schem Schweinefleisch gedeckt.
haupt nicht reden. Dann würden nämlich sämtliche Er-
träge unserer Ackerflächen für die Tierhaltung benötigt. Die Schweinehaltungsverordnung entspricht darüber
Wir hätten nicht so große Potenziale, zusätzlich auch hinaus den berechtigten Forderungen der Bevölkerung
noch Energie und Rohstoffe auf unseren Äckern zu er- nach Tierschutz. Doch eines ist ebenso klar: Nehmen wir
zeugen. keine Abwägung zwischen Tierschutz und Wettbe-
werbsfähigkeit bei der heimischen Produktion von tieri-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schen Nahrungsmitteln vor, besteht die große Gefahr,
Hans-Michael Goldmann [FDP]) dass die Erzeugung aus Kostengründen in andere Stand-
orte außerhalb Deutschlands verlagert wird.
Tierhaltung, meine Damen und Herren, ist in der Ver-
gangenheit ständig weiterentwickelt worden. Jeder neu (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
1728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Johannes Röring
(A) Dort hätten wir wenig Einfluss auf den Umgang mit den Jetzt geht es also um das Schwein an sich und um ei- (C)
Tieren und wir würden hier bei uns Arbeitsplätze in er- nen Verordnungsentwurf, den das Bündnis Tierschutz
heblichem Maß verlieren. den Schweinekompromiss nennt und der ein weiteres
Beispiel dafür ist, wie im Bund-Länder-Kompetenzge-
Dies gilt neben Schweinen in besonderem Maße auch
rangel und politischen Profilierungsdschungel manch
für Legehennen, also für die Erzeugung von Eiern. Hier
wichtiges Anliegen auf der Strecke bleibt.
versorgen wir uns in Deutschland zu 69 Prozent selbst;
vor vier Jahren, 2002, waren es noch 74 Prozent. Diesen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
Warnhinweis sollten wir beachten. Über die zukünftigen der FDP)
Haltungsvorschriften wird auch in diesem Fall schon
viel zu lange diskutiert. Lassen Sie uns deshalb dafür Es geht in der Bundesrepublik immerhin um knapp
Sorge tragen, dass wir, wie jetzt bei den Schweinen ge- 27 Millionen Schweine in etwa 90 000 Beständen. Das
plant, möglichst schnell die neue Form der Legehennen- heißt, hier geht es unbestritten auch um wirtschaftliche
haltung beschließen, damit die Landwirtschaft auch in Existenzen.
diesem Bereich endlich wieder Planungssicherheit be- Die von der FDP als letztes Wort beschworene EU-
kommt. Richtlinie sollte bis 2003 in nationales Recht umgesetzt
(Beifall bei der CDU/CSU) sein und sieht bereits in zwei Jahren ohnehin eine Revi-
sion vor. Angesichts dieser Situation greift nun die FDP
Wir müssen wissen, dass wir durch zu zögerliches in ihr Antragsarchiv 2002 und fordert erneut eine Eins-
Handeln nicht nur Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, zu-eins-Umsetzung mit dem Argument der Wettbe-
also direkt auf den Bauernhöfen, verlieren, sondern noch werbsverzerrung.
weit mehr krisenfeste Arbeitsplätze in den vor- und
nachgelagerten Bereichen gefährden, die wir dringend Nun haben solche Argumente ja im Moment Hoch-
benötigen und erhalten müssen. Die deutsche Agrarwirt- konjunktur. Standardabbau wird, neben Bürokratieab-
schaft ist immerhin der viertgrößte Gewerbezweig mit bau, zum Generalschlüssel erklärt. Natürlich kann jeder
4 Millionen Arbeitsplätzen. Dabei nimmt die Tierhal- von uns treffliche Beispiele als Beleg dafür nennen.
tung den größten Anteil ein. Darüber hinaus – das wird Aber auf einen merkwürdigen Umstand wurden wir neu-
viel zu oft vergessen –, sorgen wir für die Ernährung un- lich bei einer Anhörung unserer Fraktion zum Koali-
serer 82 Millionen Einwohner, und das fast zu 100 Pro- tionsvertrag hingewiesen: In der EU hat man sich sehr
zent. schnell auf so absonderliche Standards wie die Krüm-
mung der Banane oder die Länge der Gurke einigen kön-
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Der nen; nur bei gesellschaftlich wichtigen Standards wie
(B) Antrag der FDP, Herr Goldmann, wurde von der Wirk- Sozial-, Umwelt-, Steuer- oder Tierschutzstandards ver- (D)
lichkeit überholt. Die gute fachliche Praxis auf unseren sagt der politische Wille zur Einigung oft sehr jäh.
Bauernhöfen ist schon einige Schritte weiter.
Aber davon abgesehen: Es muss doch die so liebevoll
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Herr Röring, das gepflegten politischen Vorurteile mächtig ins Wanken
stimmt nicht, was Sie hier sagen!) bringen, wenn jetzt ausgerechnet die Fraktion Die Linke
Nichts anderes berücksichtigt die unionsgeführte Bun- die FDP in diesem Hohen Haus daran erinnern muss,
desregierung in der jetzigen Verordnung. Daher lehnen dass in der vorneoliberalen Zeit gerade die hohen Stan-
wir Ihren Antrag ab. dards den Wirtschaftsstandort Deutschland international
konkurrenzfähig gemacht haben. Hohe Löhne können
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wir nur mit hohen Qualitätsstandards sichern.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber das
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kann doch jeder Schweinehalter machen! Das
Herr Kollege Röring, ich gratuliere Ihnen im Namen hindert einen Schweinehalter doch gar nicht
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen daran! Es ist die Frage, was die gesetzliche
Bundestag. Grundlage ist; das wissen Sie doch!)
(Beifall) – Gemach, gemach. – Das hat man mir in der vergange-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann nen Woche in Neuruppin in einem mittelständischen Un-
von der Fraktion Die Linke. ternehmen, das Feuerlöscher herstellt, erklärt. Diese ho-
hen Qualitätsstandards solle ihnen die Politik unbedingt
(Beifall bei der LINKEN) erhalten.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Das ist doch meine Rede seit 1999!)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste und Besucher! Es ist schon er- Das sei erfolgreiche Mittelstandpolitik, liebe Kollegin-
staunlich, welche Konjunktur die Schweine in diesen Ta- nen und Kollegen.
gen in der Öffentlichkeit haben. Das Schwein ist poli-
Aber gut. Fragen wir konkret, welche Regelungen
tisch gesehen sozusagen in aller Munde.
denn in dem vorliegenden Entwurf der Schweinehal-
(Heiterkeit bei der LINKEN und der CDU/ tungsverordnung den Wettbewerb verzerren könnten.
CSU) Der Entwurf orientiert sich sehr stark an dem Arbeits-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1729
Dr. Kirsten Tackmann
(A) stand im Dezember 2004 und tritt damit gleichzeitig (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir hätten (C)
wieder zwei Schritte hinter bereits Erreichtes zurück. noch mehr gewonnen, wenn wir es anders ge-
macht hätten! – Lachen bei Abgeordneten der
An folgenden zweieinhalb Punkten geht der Entwurf
SPD)
der Verordnung in der Tat über Angaben in der EU-
Richtlinie hinaus: Er genehmigt den Schweinen 3 Pro- Wenn Sie sich ein bisschen mit Statistik beschäftigen
zent Fensterfläche, bei bestimmten Stalltypen 1,5 Pro- würden, dann wüssten Sie, dass allein im Zeitraum von
zent. Das sind 60 bis 80 Lux Tageslicht – welch ein 1998 bis 2005 die deutsche Schweineproduktion um
Luxus! – statt 40 Lux Kunstlicht in der EU-Richtlinie. 20 Prozent gestiegen ist,
Zum Vergleich: Selbst ein trüber Dezembertag bringt
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auf Grund-
3 000 Lux. Zweitens sollen jedem Mastschwein mit
lage der alten Verordnung!)
0,75 Quadratmetern 0,1 Quadratmeter mehr Fläche als
in der EU-Richtlinie zugestanden werden. und zwar auch in Niedersachsen zum überwiegenden
Teil auf Grundlage einer Rechtslage, die genau das be-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kann
inhaltet, was Bestandteil der jetzt im Bundesrat zur Be-
doch jeder Halter machen!)
ratung anstehenden Schweinehaltungsverordnung ist.
Außerdem werden fünf Kategorien aufgestellt, die die
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt
EU-Richtlinie nicht enthält, wobei der Sinn von drei die-
nicht! Das ist nicht die Rechtsgrundlage! Es ist
ser Kategorien kaum bestritten wird. Und das soll den
eine freiwillige Vereinbarung!)
Wettbewerb tief greifend verzerren?
Wagen wir einmal einen Blick über den Tellerrand: – Der alte Erlass beinhaltet genau das. Wenn Sie das
Auch ein Land wie Dänemark, das mit 85 bis 90 Prozent nicht glauben, dann darf ich aus der Pressemitteilung des
Schweinefleischexport auf den internationalen Märkten niedersächsischen Landschaftsministers Ehlen zitieren:
sehr erfolgreich ist – leider ohne ein Musterland in Sa- Seitens der niedersächsischen Schweinehalter ist
chen Tierschutz zu sein –, spendiert seinen Sauen eine festzustellen, dass der von der Bundesregierung vor-
größere Fläche, als in der EU-Richtlinie vorgesehen. gelegte Kompromiss für eine nationale Schweine-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ein ganz haltungsverordnung weitestgehend der hiesigen
schlechtes Beispiel!) Landesregelung entspricht.

In den Niederlanden trifft das auf Ferkel und Mast- (Zuruf von der SPD: Aha! – Hans-Michael
schweine zu. Goldmann [FDP]: Weitestgehend! Das ist ge-
nau der Punkt!)
(B) Gönnen wir also den Schweinen etwas mehr als das (D)
EU-Minimum! Standarddumping würde die Marktchan- Der Bundesvorschlag beinhaltet Mindestanforde-
cen unserer Landwirtschaft nur schwächen. rungen, die zu Beginn der seit Jahren andauernden
politischen Debatte mit landwirtschaftlichen Inte-
Danke schön. ressenverbänden, dem Tierschutzbeirat, Veterinär-
(Beifall bei der LINKEN) behörden und Wissenschaftlern beraten bzw. abge-
stimmt wurden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was wollen Sie, Herr Goldmann? Sie wollen auf
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Standards zurück, die auf Erkenntnissen von 1991 beru-
Priesmeier von der SPD-Fraktion. hen. Sie nehmen einfach nicht zur Kenntnis – der Herr
Kollege hat es Ihnen vorhin bewiesen –, was sich zwi-
schenzeitlich in Deutschland in der Schweinehaltung ge-
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
tan hat und welche Fortschritte wir erreicht haben.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Was wir heute erleben, ist die Fortsetzung der un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
endlichen Geschichte des Herrn Goldmann: der CDU/CSU)
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh!) Diese Entwicklung ist nicht durch die niedersächsische
Erlasslage aufgehalten worden, die genau das wieder-
Er begründet einen relativ kurzen Antrag, der aber in der
gibt, was wir jetzt in der Schweinehaltungsverordnung
Sache relativ unpräzise, in den Grundaussagen falsch
im Wesentlichen umsetzen werden.
und daher vollständig überflüssig ist.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wilhelm
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach
Priesmeier, du warst doch in Osnabrück!)
Wilhelmken!)
Herr Kollege Goldmann, wenn es um Wettbewerb,
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, Herr Goldmann:
Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenz geht, schauen Sie
… da das zwangsläufig zum Verlust weiterer doch einmal über die Grenze auf die Niederlande. Es
Marktanteile in der Schweineproduktion … führt. gibt nur eine große Region, in der die Niederländer
Schweine produzieren. Grundsätzlich gibt es fast die
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!)
gleichen Voraussetzungen. Aber die niederländische
Ich frage Sie, Herr Goldmann: Wie viele Marktanteile Schweineproduktion zeichnet sich, was ihre Entwick-
haben wir denn in den letzten Jahren verloren? lung angeht, durch das genaue Gegenteil aus.
1730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): (C)
Während bei uns die gesamte Schweineproduktion seit Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass die Land-
1998 um 750 000 Tonnen zulegte, verringerte sie sich in wirte aus Holland nicht zu uns kommen, weil es hier
den Niederlanden um exakt 472 000 Tonnen und damit Wettbewerbsnachteile gibt, sondern weil es sich lohnt, in
um 30 Prozent. unserem Land zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen
und zu produzieren.
(Zuruf von der SPD: Aha!)
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Weil sie
Aber Sie reden davon, dass es unter diesen Marktbedin- gefördert werden!)
gungen keine Wettbewerbsgerechtigkeit gibt und dass
wir nicht wettbewerbsfähig sind. Einige gehen natürlich auch woanders hin, weil es
dort unter Umständen aussichtsreichere Märkte gibt.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Völliger Aber wenn man in der EU unter hervorragenden Bedin-
Schwachsinn!) gungen produzieren will, dann kann man das in unserem
Das, lieber Herr Kollege Goldmann, kauft Ihnen doch Land tun.
wirklich keiner ab. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: In Deutschland haben wir 20 Prozent aller Mast-
Herr Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des schweine EU-weit. Da sind wir in der Tat wettbewerbs-
Kollegen Goldmann? fähig.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Noch!)
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Ja, ich erlaube das immer. – Das wird auch so bleiben, Herr Goldmann, ob Sie Ih-
ren Antrag zurückziehen oder nicht. Denn ich halte ihn,
wie gesagt, von der Sache her für vollständig daneben
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und falsch.
Bitte, Herr Goldmann.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das weiß
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber nicht eine ich!)
Stunde!)
Sie wiederholen in Ihrem Antrag all das, was Sie schon
Hans-Michael Goldmann (FDP): vor vier Jahren gesagt haben. Da hat sich in Ihrem Kopf
Ich mache es ganz kurz; sonst sind Sie überfordert, anscheinend nicht allzu viel bewegt. Gegenüber neuen
(B) Erkenntnissen (D)
Frau Kollegin.
Lieber Wilhelm Priesmeier, ist dir bekannt, dass die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jetzt kommt
Niederländer völlig andere Voraussetzungen in ihrem Klasse!)
Staat haben? Sehr viele Menschen leben dort auf relativ
sind Sie resistent.
wenigen Quadratkilometern. Deshalb haben die Nieder-
länder mit enormen finanziellen Mitteln ein Modell ent- Gehen Sie doch einmal auf Beratungstour, Herr Kol-
wickelt, das es vielen Landwirten ermöglicht, außerhalb lege! Gehen Sie einmal in die Bundesländer, an deren
des Landes tätig zu sein. Die niederländischen Land- Landesregierungen Ihre Partei beteiligt ist! Gehen Sie
wirte betreiben heute im großen Stil Schweinewirtschaft einmal nach Niedersachsen und überzeugen Sie die Nie-
beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern. dersachsen davon, dass diese EU-Richtlinie vom Bun-
desrat eins zu eins umgesetzt werden muss! Gehen Sie
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): nach Nordrhein-Westfalen und überzeugen Sie Ihre Kol-
Weil dort die Erlasslage ähnlich ist wie in Niedersach- legen im Landtag von Nordrhein-Westfalen davon, da-
sen. rauf zu bestehen, dass die Landesregierung die EU-
Richtlinie eins zu eins umsetzt!
Hans-Michael Goldmann (FDP): (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr wollt es
Herr Kollege, Sie müssen mich wenigstens ausreden doch nicht!)
lassen. – Ist dir ferner bekannt, dass die Regelungen, die
die Niederländer in ihrer Schweinehaltungsverordnung Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg.
getroffen haben, auf Vorgaben der EU beruhen? Wenn Die Entwicklung und die Diskussion sind an Ihnen
einer mehr machen will, dann kann er es dort tun. Genau vorbeigegangen, Herr Goldmann. Sie haben es nur nicht
das ist die Grundlage der Vereinbarung in Niedersach- gemerkt.
sen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
Niedersachsen hat sich bis jetzt eindeutig auf einer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael
Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Richtlinien bewegt Goldmann [FDP]: Herr Kollege, ich bin er-
und hat den Landwirten die Freiheit gegeben, dass derje- schöpft! Darf ich mich setzen?)
nige, der will, beispielsweise eine besondere Form der
Züchtung ausüben oder Ökolandwirtschaft betreiben – Selbstverständlich. – Sie haben es nicht gemerkt; so ist
kann. Ist dir das bekannt? das nun einmal. Wenn man Anträge gründlicher erarbei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1731
Dr. Wilhelm Priesmeier
(A) ten würde, würde einem manches auffallen und würde (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist Tier- (C)
man einiges mitbekommen. schutz! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die
essen auch mehr Käse als wir!)
Sie verlangen natürlich nicht die Eins-zu-eins-Umset-
zung der EU-Richtlinie bei der Hennenhaltung in Es ist bei weitem nicht richtig, was Sie eben behauptet
Deutschland. haben. Sie haben behauptet, die Holländer lägen unter
den Standards, die wir im Augenblick formulieren. Das
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Doch! Na ist nicht zutreffend und sachlich falsch, Herr Kollege
klar!) Goldmann.
– Das verlangen Sie jetzt auch? Zurück in die alten Kä- Ich hoffe, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag
fige bis 2012! Das ist Tierschutz, wie er im Buche steht, das letzte Mal über die Schweinehaltungsverordnung
Herr Goldmann. Wenn das die Position der FDP zum streiten und unterhalten. Denn die ist längst überfällig;
Tierschutz ist, dann tut mir das Leid. das wissen wir. Es hat eine unsägliche Verknüpfung zwi-
schen der Schweine- und der Hennenhaltung gegeben.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wann wollt
ihr denn aussteigen?) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kommt
aber noch!)
Eines muss man doch erkennen: Ich kann mich noch
an die Zeiten erinnern, als es in diesem Zusammenhang Ich halte es auch heute noch nicht für richtig, dass man
überhaupt keine Regelung gegeben hat. Da waren bis zu so vorgegangen ist. Wir hätten so nicht zu vernünftigen
35 bzw. 40 Prozent der Bestände überbelegt. Da habe ich Regelungen kommen und Rechtssicherheit und Pla-
als Tierarzt relativ gutes Geld verdient, nungssicherheit für die landwirtschaftlichen Betriebe
schaffen können. Das können wir jetzt tun. Ich glaube,
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: In deiner das werden die Bundesländer mit der Unterstützung und
Gegend gab es das doch gar nicht! Erzähl doch der Unterschrift des Bundesministers in die Tat umset-
nichts!) zen.
weil sich der Einsatz von Antibiotika zum Teil in Grö- Positionen, wie sie heute von Ihrer Seite vertreten
ßenordnungen bewegt hat, die wir alle heute Gott sei werden, werden zwangsläufig nicht zum Zuge kommen.
Dank nicht mehr kennen. Sie sollten in diesem Hause keine Schwarzmalerei be-
treiben und nicht versuchen, den schwarzen Peter hin
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hast du die und her zu schieben. Das ist nicht zweckdienlich. Das
Medikamente mit dem Auto nach Niedersach- führt nicht weiter. Der vernünftige Konsens, den wir in
(B) sen gefahren?) reiflicher Auseinandersetzung und Diskussion mit den (D)
Kollegen von der CDU/CSU in diesem Zusammenhang
Man muss einmal zur Kenntnis nehmen, was sich in erreicht haben, trägt. Er wird auch im Bundesrat tragen;
diesem Bereich getan hat. Das ist nicht darauf zurückzu- davon bin ich fest überzeugt.
führen, dass wir keine Regelung hatten, sondern darauf,
dass man irgendwann angefangen hat, über diese Ver- Herr Kollege Goldmann, Ihre Argumente – das wird
hältnisse nachzudenken und adäquate Regelungen im man rückblickend sehen – laufen ins Leere.
Sinne des Tierschutzes zu treffen. Denn all das, was wir
in einer Verordnung festschreiben, hat seine Grundlage. Danke schön.
Die Ermächtigungsgrundlage für eine Verordnung ist das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Tierschutzgesetz. Also ist sie zunächst einmal unter der CDU/CSU)
Tierschutzaspekten zu sehen und abzuhandeln. Dabei
geht es natürlich um den Ausgleich von ökonomischen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Interessen auf der einen Seite und Tierschutzaspekten
auf der anderen Seite. Tierschutz und Ökonomie wi- Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom
dersprechen sich im Grunde überhaupt nicht. Im Gegen- Bündnis 90/Die Grünen.
teil: Die Mastleistung und der Gesundheitsstatus, den
man in den Betrieben erreichen kann, Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hör auf! Herr Goldmann, ich freue mich, dass Sie mit Ihrer wirk-
Die Zuhörer schalten ab!) lich veralteten Position der Eins-zu-eins-Umsetzung des
sind natürlich unmittelbar von den Bedingungen abhän- Schweinehaltungserlasses allein in der Ecke stehen. Es
gig, unter denen die Tiere aufwachsen und gehalten wer- ist richtig, dass Sie dafür keine Unterstützung bekom-
den. men.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine Bemerkung zu dem, was Sie zu Holland gesagt sowie bei Abgeordneten der SPD)
haben: Die Holländer schreiben bei Stallneubauten
0,8 Quadratmeter pro Schwein vor. Das ist mehr als das, Ich freue mich auch, dass die Bundesregierung schon
was wir im Augenblick vorschreiben. Ab 2012 schreiben beim ersten wichtigen Fall von dem abweicht, was sie
sie 1 Quadratmeter in der Mastgruppe 85 bis 110 Kilo- vorher verkündet hat. Im Koalitionsvertrag steht näm-
gramm vor. lich, alles werde eins zu eins umgesetzt. Schon beim
1732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Bärbel Höhn
(A) ersten konkreten Fall wird das nicht getan. Das ist richtig Goldmann [FDP]: Ich schaue Sie nicht mehr (C)
so. an, Frau Höhn!)
Herr Goldmann, wie sollen denn die Landwirte in Deswegen sollte wenigstens das, was diese und die vor-
Deutschland Spitze bleiben – das haben Sie zu Recht ge- herige Bundesregierung vorgesehen haben, eingehalten
sagt –, wenn es nur zu einer durchschnittlichen Eins-zu- werden: ein Quadratmeter für ein 110-Kilo-Schwein.
eins-Umsetzung kommt? Mit dem Durchschnitt kann Zwei Schweine im Bett, das finde ich okay.
man nicht Spitze sein, Herr Goldmann. Das wissen ge-
rade Sie von der FDP. (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der
SPD und der CDU/CSU)
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das
stimmt!) Unabhängig davon, dass Diskussionen über Schweine
manchmal belustigend sein können, will ich noch auf ei-
– Ja, weil Sie mit einer Eins-zu-eins-Umsetzung Durch- nen wichtigen Punkt hinweisen. Wir müssen nämlich
schnitt sein wollen, können Sie nicht Spitze sein. Das überlegen, was das für die Landwirte bedeutet. Wir ha-
haben Sie mittlerweile verstanden. ben eben über die Niederländer gesprochen, die in die
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir wollen nicht neuen Bundesländer gehen und dort große Schweine-
vorschreiben, wie wir Spitze werden!) ställe bauen. Teilweise sind bis zu 90 000 Schweine in
einem Schweinestall geplant.
Herr Goldmann, was Sie wollen, ist auch deshalb un-
gehörig – auch den Schweinen gegenüber –, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, das
stimmt nicht!)
(Heiterkeit und Beifall – Hans-Michael
Goldmann [FDP]: Was ist hier los?) 90 000 Schweine in einem Schweinestall!
weil sich die FDP noch 2002 vollmundig für die Auf- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: In einem
nahme des Tierschutzes in die Verfassung ausgespro- Betrieb!)
chen hat. Aber beim ersten konkreten Fall sagen Sie:
Herr Röring, das ist eben etwas anderes als das, was
Tierschutz muss bei wirtschaftlichen Gesichtspunkten
Bauern vor hundert Jahren gemacht haben.
zurückstehen.
Ich glaube, wir alle sind uns – unabhängig davon, was
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch
wir genau wollen – in einem Punkt einig: Wir wollen die
Quatsch!)
Batteriekäfighaltung nicht mehr.
Also, Herr Goldmann: Nicht einfach nur lautstark etwas
(B) fordern, sondern es am Ende auch in die Tat umsetzen! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) (D)
Der Tierschutz steht heute in der Verfassung. Zudem Wir müssen aufpassen, dass wir mit den Ställen für
gibt es ein Verfassungsgerichtsurteil von 1999, das sich 90 000 Schweine nicht wieder zu einer Form der Indus-
auf die Käfighaltung bei Hennen bezieht, aber bei ande- trialisierung in der Landwirtschaft kommen, wie wir
ren Tieren, zum Beispiel bei Schweinen – das sagen die sie mit den Batteriekäfigen hatten und leider in einigen
Richter –, genauso umgesetzt werden muss. Betrieben noch immer haben. Ställe für 90 000 Schweine
bedeuten nämlich, dass auf der anderen Seite 50 Fami-
Deshalb finde ich es wichtig, dass man sich einmal lienbetrieben à 2 000 Schweine die Existenzgrundlage
überlegt, was das, was Sie, Herr Goldmann, wollen, be- entzogen wird.
deutet.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt
Wir haben gerade über die Fläche gesprochen. nicht!)
Schauen wir uns jetzt einmal genau an – ich habe hier
die Tabelle –, was die EU vorschreibt. Die EU fordert für Die Leute werden nicht deshalb mehr Schweinefleisch
Schweine von 86 bis 110 Kilogramm eine Fläche von essen, weil in Mecklenburg-Vorpommern neue Schwei-
0,65 Quadratmetern. 110 Kilogramm, das kann sich je- neställe gebaut werden.
der vorstellen. Es gibt ein paar Kaventsmänner, die viel- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Höhn,
leicht 110 Kilogramm wiegen. die machen doch keine Regionalvermark-
(Heiterkeit) tung!)
Herr Goldmann, jetzt beziehen Sie das einmal auf Auf dieses Problem gibt die Schweinehaltungsverord-
Ihre Wohnung. Wir nehmen nicht das Ehebett, sondern nung keine Antwort. Eine solche Antwort müssen wir
ein Einzelbett. Ein Einzelbett hat eine Größe von einem finden, auch um Arbeitsplätze zu erhalten.
Meter mal zwei Metern, also zwei Quadratmetern. Jetzt
Vielen Dank.
rechnen Sie sich das einmal aus: Drei Schweine
à 110 Kilogramm sollen in dieses Einzelbett passen. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sage Ihnen: Drei Schweine im Bett, das ist zu viel! Das sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
dürfen wir nicht zulassen. KEN)
(Heiterkeit – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ordneten der LINKEN – Hans-Michael Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1733
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf zugeschnitten sind. Die Kunden, das heißt wir, werden in (C)
Drucksache 16/590 an den Ausschuss für Ernährung, diesem Verfahren mit Punkten zwischen eins und
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. 1 000 bewertet. Diese Bewertung entscheidet dann mit
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann darüber, ob und zu welchen Konditionen wir einen Kre-
ist die Überweisung so beschlossen. dit oder einen Mobilfunkvertrag erhalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Wir sehen in diesem Verfahren die Gefahr einer wei-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke teren Diskriminierung sozial Schwächerer in unserer Ge-
Stokar von Neuforn, Bärbel Höhn, Ulrike sellschaft. Kein Betroffener darf allein aufgrund von
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Score-Werten bei Vertragsabschlüssen schlechter gestellt
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN werden. Jeder hat einen Anspruch darauf, zu erfahren,
welche Gründe zur Ablehnung eines Vertrages geführt
Mehr Datenschutz beim so genannten Scoring haben.
– Drucksache 16/683 – Die Zusammensetzung dieser Score-Werte hütet die
Überweisungsvorschlag: Schufa wie ein Geschäftsgeheimnis. Sie verspricht zwar
Innenausschuss (f) auf ihrer Internetseite: Wir haben kein Geheimnis. Trotz-
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
dem erfahren die Bürgerinnen und Bürger über ihren
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und aktuellen Score-Wert hinaus nicht, aus welchen Informa-
Verbraucherschutz tionen er sich zusammensetzt und an wen dieser Score-
Wert weitergeleitet wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Deswegen fordern wir hier mehr Transparenz und
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Verbraucherschutz. Ich rege an, dass wir uns auf einen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- interfraktionellen Antrag verständigen, mit dem die Aus-
nerin das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neuforn kunftsrechte der Betroffenen im Bundesdatenschutzge-
von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. setz erheblich gestärkt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Jörg Tauss [SPD]: Da macht Frau Philipp si-
GRÜNEN): cherlich auch mit!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-
deskanzlerin Merkel hat in ihrer Rede zur Eröffnung der Ich will aber nicht nur über die Schufa reden. Auch in
(B) CeBIT in Hannover in sympathischer Offenheit gesagt: Deutschland hat sich längst ein breiter Markt privater (D)
Es wird für die Politik immer schwieriger, der rasanten Auskunfteien entwickelt. Sozialdaten wie Wohngegend,
Entwicklung im IT-Bereich zu folgen und die Auswir- Beruf, Familienstand, Einkommen und Vermögen wer-
kungen der neuen Begrifflichkeiten wie RFID zeitnah zu den gesammelt, mit Privatadressen kombiniert und dann
bewerten. Ich kann ihr hier nur zustimmen. verkauft. So werden Kunden- und Konsumprofile über
uns erstellt, ohne dass wir es bemerken. In Verbindung
Auch wir verwenden in unserem heutigen Antrag den mit der RFID-Technik werden die Bürgerinnen und Bür-
Ausdruck „Scoring“, so wie er sich in der Fachöffent- ger zunehmend zum Objekt kommerzieller Interessen
lichkeit durchgesetzt hat. Ich habe aber zunehmend das und damit zum gläsernen Kunden.
Gefühl, dass mit diesen angelsächsischen Fachbegriffen
der Datenverarbeitung das eigentliche Problem für die Wir müssen uns dieser bürgerrechtlichen Herausfor-
Menschen immer mehr verdeckt wird. Viele haben mich derung dringend stellen. In den Fachausschüssen sollten
gefragt: Zu was redest du? Scoring, was ist das eigent- wir uns gemeinsam darauf verständigen, die Lücken im
lich? – Auch Leute, die sich mit Themen wie Daten- Datenschutzgesetz zu schließen. Wir brauchen eine Do-
schutz oder IT befassen, wissen das nicht. kumentationspflicht über die Erstellung von Scores und
darüber hinaus ein Auskunftsrecht für die Betroffenen.
(Jörg Tauss [SPD]: Vor allem sind sie schön Ich freue mich auf die fachliche Diskussion, die erhebli-
gescoret worden!) che gesellschaftspolitische Auswirkungen haben wird.
Wir müssen erkennen, dass wir alle ohne unser Wis- Zu Recht hat die Europäische Kommission heute im Zu-
sen und auch gegen unseren Willen zum Objekt privater sammenhang mit der CeBIT gefordert, breite öffentliche
Ausforschung werden. Dies hat zunehmend Einfluss auf Debatten über die Folgen dieser neuen Technologie in
unsere ganz persönliche Lebensgestaltung. Wir brauchen unseren Gesellschaften zu führen.
eine breite gesellschaftliche Debatte über die Risiken der Ich hoffe, dass wir mit unserem heutigen Antrag eine
modernen Informationstechnologien. Anregung geben und einen Impuls setzen, endlich eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) grundlegende Reform des Bundesdatenschutzgesetzes in
Angriff zu nehmen. Wir müssen es schaffen, bürger-
Die Schufa verfügt deutschlandweit über 362 Millio- rechtliche Standards auf der Grundlage einer völlig ver-
nen Einzeldaten von 62 Millionen Bundesbürgern. Mit änderten Technik neu festzuschreiben. Ich freue mich
dieser Datensammlung bietet die Schufa verschiedene so auf die Zusammenarbeit.
genannte Scores an, die auf einzelne Branchen wie Ban-
ken, Versandhandel oder Telekommunikationsanbieter Ich danke Ihnen.
1734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Silke Stokar von Neuforn


(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen beunruhigen muss, wenn man weiß, dass Daten (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP gesammelt werden und das Scoringverfahren angewen-
und der LINKEN) det wird. Die meisten kennen die Schufa oder die Cre-
ditreform, die Prognosen basierend auf mathematisch-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: statistischer Analyse von Erfahrungswerten erstellen,
Das Wort hat jetzt die Kollegin Beatrix Philipp von und zwar unabhängig vom tatsächlichen Verhalten des
der CDU/CSU-Fraktion. oder der Betroffenen. Es gibt ein Punktesystem von eins
bis 1 000. Dort finden die so genannten Vertragsdaten
(Jörg Tauss [SPD]: Ich bin froh, dass Sie mich der Betroffenen Verwendung – das ist noch in Ord-
heute nicht angeschrieen haben, Frau Stokar!) nung –, zum Beispiel Bankverbindungen, Kredite, Ver-
pflichtungen und Kontoumsätze, aber nicht das tatsächli-
Beatrix Philipp (CDU/CSU): che Vermögen. Das möchte ich nur anmerken, weil das
Das kommt vielleicht noch, Herr Tauss. Aber wenn bei der Vergabe von Krediten eigentlich eine gewisse
Sie nicht dauernd dazwischenquatschen, muss ich auch Rolle spielen sollte.
nicht zurückkeilen. Aber nun wird es spannend; denn die Daten der be-
(Heiterkeit und Beifall) troffenen Personen werden so genannten Vergleichs-
gruppen zugeordnet. Zu den angewandten Kriterien ge-
Meine Damen und Herren! Frau Stokar und mich hören Alter, Geschlecht, Wohndauer und Häufigkeit der
wird es nicht erstaunen. Diejenigen, die kundig sind, was Umzüge, soziales Milieu, Geschlecht, Familienstand,
sich im Bereich des Datenschutzes in den letzten Legis- Anzahl der Kinder, Haushaltstyp, Bildungsstand, Beruf
laturperioden abgespielt hat, werden wissen, dass wir ei- und berufliche Qualifikation, Art und Dauer der Be-
gentlich immer sehr vernünftig und an der Sache orien- schäftigung, Arbeitgeber, möglicherweise eine Haft, die
tiert miteinander umgegangen sind. Sonst hätte es keine man abgesessen hat, Nationalität, Kfz-Besitz, Gesund-
gemeinsamen Entschließungen gegeben. Frau Stokar, heitszustand und Religion. Diese Merkmale werden
Sie wissen natürlich, dass sich die CDU/CSU vernünfti- dann gewertet. Das heißt, sie sind nicht mehr auf die
gen Argumenten noch nie verschlossen hat, und Angst Person bezogen, sondern werden auf Gruppen übertra-
vor den Grünen hatten wir auch noch nie. gen und dann verglichen. So wird eine Prognose über
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – das zukünftige Verhalten der infrage stehenden Person
Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE erstellt. Das Besondere an dieser Prognose ist, dass sie
GRÜNEN]: Deshalb ringe ich darum! Wir besagt, wie sich eine Person wahrscheinlich verhalten
brauchen Sie!) wird.
(B) (D)
Deswegen bin ich voller Hoffnung und Zuversicht, dass Nun könnte man sagen, dass das, wenn es dem Ein-
das klappt. zelnen bekannt ist, hinnehmbar wäre. Es ist dem Einzel-
nen aber nicht bekannt. Wie weit dies verbreitet ist, dass
(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) es im täglichen Kreditgeschäft, aber auch im Wirt-
– Jetzt geht es schon los. schaftsleben, bei Kaufverträgen – insbesondere bei
Versandhäusern –, bei Handyverträgen, bei Mietverträ-
Auch ich habe gestern vernommen, dass die Bundes- gen und Ähnlichem, ständig an Bedeutung gewinnt, wis-
kanzlerin auf der CeBIT die Sorge zum Ausdruck ge- sen vielleicht auch nicht alle.
bracht hat, die man nur teilen kann, dass die Politik
Mühe hat, der rasanten Entwicklung im technologischen Auf der anderen Seite wird man verstehen, dass sich
Bereich nachzukommen. Ich stimme Ihnen auch ganz Kreditgeber bzw. Unternehmen in irgendeiner Weise ab-
ausdrücklich darin zu, dass wir für das Thema, über das sichern müssen. Früher fand das, wie Ältere wissen,
wir uns auf der Grundlage Ihres Antrages unterhalten, durch ein persönliches Gespräch bei der Bank statt.
eine breite fachliche und, wenn möglich, ideologiefreie Heute ist es so, dass praktisch keine kommerzielle Ent-
Diskussion brauchen. scheidung ohne vorangegangenes Scoring gefällt wird.
So läuft beispielsweise bereits während eines Bestellvor-
(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])
gangs im Internet im Hintergrund ein entsprechendes
Wir müssen uns Zeit dafür nehmen. Es gibt einige Bei- Scoring ab. Die Kreditwürdigkeit eines Kunden wird ge-
spiele aus der letzten Legislaturperiode, bei denen das prüft. Je nach Ergebnis wird veranlasst, dass man per
leider nicht möglich war. Aber wir geben die Hoffnung Vorkasse, per Nachnahme oder gegen Rechnung bezahlt.
nicht auf. Böse Zungen behaupten, es gäbe Stadtteile, beispiels-
weise in Berlin – da wohnen die beiden Herrschaften si-
(Jörg Tauss [SPD]: Was meinen Sie denn?) cherlich nicht –, die nur noch per Nachnahme beliefert
– Herr Tauss! – Deswegen setzen wir uns intensiv mit werden. Das ist zweifellos nicht in Ordnung; denn es
Ihrem Antrag auseinander. könnte ja sein, dass ich in den Besitz einer Wohnung
oder eines Hauses gekommen bin und deshalb dort
Sie haben zu Recht gesagt, dass, wenn man über wohne, wo mich niemand vermutet.
Scoring spricht, viele fragen: Was ist das denn? Man
muss sicherlich nicht nur erreichen, dass die Bevölke- Es ist wichtig, zu wissen, dass der Umgang mit diesen
rung diesen Begriff versteht und weiß, was sich dahinter Daten und Merkmalen datenschutzrechtlich, aber auch
verbirgt, sondern man muss auch auf das eingehen, was gesellschaftspolitisch äußerst bedenklich ist. Der Ein-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1735
Beatrix Philipp
(A) zelne hat keine Möglichkeit, auf sein Erscheinungsbild hat im Auftrag der damaligen Ministerin Künast ein (C)
in der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, weil ihm die Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, dessen Endfas-
zugrunde gelegten Daten und Merkmale nicht bekannt sung, wie wir herausgefunden haben, am 25. Januar
sind. Schon gar nicht ist ihm bekannt, wie sie gewertet 2006 übergeben wurde. Nun muss man über den Wert
werden. Das ist bereits mehrfach Gegenstand kritischer dieses Forschungsprojektes ein bisschen länger nachden-
Nachfragen gewesen. Auch ich habe im Januar und Fe- ken; denn von 500 Fragebögen sind nur 29 zurückge-
bruar die Bundesregierung gefragt. kommen. Das ist nicht besonders viel und als Basis für
eine sachliche, fachliche Diskussion nicht ausreichend.
Aus § 6 des Datenschutzgesetzes geht eindeutig her- Wir sind aber – nicht nur in dieser Frage, sondern auch
vor, dass eine negative Entscheidung dann unzulässig sonst – voller Vertrauen in das Bundesinnenministerium.
ist, wenn sie ausschließlich auf eine automatisierte Ver-
arbeitung personenbezogener Daten gestützt wird. Das (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
weiß aber kein Verbraucher bzw. Betroffener. GRÜNEN]: Das ist beim Datenschutz ein Feh-
ler!)
(Jörg Tauss [SPD]: Gutes Gesetz!)
– Das unterscheidet uns.
– Das war für Ihre Verhältnisse ausgesprochen sparsam;
das gebe ich zu. Ich muss Sie auch einmal loben. Aber Sie sind ja lernfähig. Deswegen glaube ich, dass
Sie diese Einschätzung teilen werden.
(Jörg Tauss [SPD]: Danke schön!)
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/
Wir werden den Kreditinstituten selbstverständlich DIE GRÜNEN]: Das müssen wir aber hier im
nicht vorschreiben können, wie und an wen sie Kredite Parlament machen!)
vergeben. Dass die Gesetze, auf die sie sich beziehen, Natürlich wissen auch Sie, dass entsprechend dem Auf-
eingehalten werden, muss aber schon gewährleistet sein. trag des Datenschutzberichts im Bundesministerium des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Innern heftig und mit Dampf daran gearbeitet wird, das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des zu erledigen, was in der letzen Legislaturperiode eigent-
Abg. Jörg Tauss [SPD]) lich noch Ihre Aufgabe gewesen wäre.

Dazu gehört zweifellos, dass das ganze Verfahren trans- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/
parent gemacht wird. DIE GRÜNEN]: Wir durften ja nicht bis 2005
zu Ende regieren!)
Es gibt zweifellos Handlungsbedarf. Bei aller Bereit- Aber wir machen das schon; darüber müssen wir nicht
(B) schaft zu einer offenen und breiten Diskussion muss ich reden. (D)
aber sagen, dass das so einfach nicht ist. Frau Stokar, Sie
haben eben gesagt – das wusste ich bisher nicht –, dass In ein bis zwei Monaten wird vom BMI ein Bericht
Sie den Antrag nur als Anregung verstanden wissen wol- vorgelegt.
len. Bisher wollten Sie ja immer, dass Ihre Anträge auch
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
beschlossen werden. Wenn Ihr Antrag nur eine Anre-
DIE GRÜNEN]: Und was für einer!)
gung ist, muss ich ja nicht weiter darauf eingehen. Aber
so einfach, wie es in dem Antrag steht, ist es natürlich – Ich kenne ihn noch nicht. Sie schon?
nicht.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
Erstens. In den beiden letzten Datenschutzberichten DIE GRÜNEN]: Nein!)
– ich habe mich eben schon darauf bezogen – ist bereits Herr Winkler, dieser Bericht wird sich zumindest da-
auf die Problematik des Scoring-Verfahrens aufmerksam durch von dem Forschungsprojekt unterscheiden, dass
gemacht worden. sein Inhalt seriös und belastbar sein wird.
Zweitens. In der Beschlussempfehlung zum 19. Tä- (Jörg Tauss [SPD]: Na! Jetzt reicht es aber,
tigkeitsbericht ist die damalige Bundesregierung aufge- Frau Philipp!)
fordert worden, bis zum Ende des Jahres 2005 einen Be-
richt darüber vorzulegen, welche Maßnahmen zur Das wird dann auch der Bedeutung des Themas gerecht.
Stärkung der Rechtsposition und zum wirksamen Schutz Denn bei aller Neigung, hier etwas lockerer zu formulie-
der Betroffenen insbesondere bei der Verarbeitung un- ren, muss ich sagen: Es geht immerhin um das Recht
richtiger Daten – das passiert natürlich auch, wenn auch auf informationelle Selbstbestimmung.
selten – ergriffen werden müssen. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/
(Ulrike Flach [FDP]: Hat sie das denn DIE GRÜNEN]: Richtig!)
gemacht?) Ich will ausdrücklich zusätzlich betonen: Hier macht
Drittens. Das Unabhängige Landeszentrum für Daten- sich der Mittelstand im Zusammenhang mit Basel II
schutz Schleswig-Holstein – so heißt es – große Sorgen.
(Jörg Tauss [SPD]: Ja, genau!)
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist das einzige, das unabhän- Die Kundigen wissen, dass vonseiten der Banken bei der
gig ist! Das ist wichtig!) Prüfung der Schuldnerbonität strenge Maßstäbe angelegt
1736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Beatrix Philipp
(A) werden. Dabei geht es um Existenzen und um Arbeits- ungefähr drei Stunden liegt uns die Antwort vor, die wir (C)
plätze. genau prüfen werden. Für uns Liberale ist eines aller-
dings klar: Scoring darf nicht dazu führen, dass dem ein-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
zelnen Bürger die Möglichkeit genommen wird, selbst
Man kann nicht einfach in einem Hauruckverfahren über sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zu ent-
und auf der Basis des Schlussberichts eines von wem scheiden oder dieses auch nur durch eigenes rechtstreues
auch immer erarbeiteten Forschungsprojekts – wie ge- Verhalten zu beeinflussen.
sagt: das ist bis auf seinen Umfang ein bisschen dünn – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zu dem Ergebnis kommen, dass das schon ausreichen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
wird. Deswegen, Frau Stokar, muss ich Ihnen Folgendes DIE GRÜNEN)
sagen: Ihr Antrag datiert vom 15. Februar dieses Jahres.
Es kann und darf nicht sein, dass ein Bürger, nur weil
(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) er zum Beispiel in der „falschen“ Straße wohnt, keinen
Dieser hervorragende Schlussbericht des Forschungs- Handyvertrag bekommt oder nur noch gegen Vorkasse
projekts ist der Öffentlichkeit trotz mehrfacher Nach- beliefert wird. Rechtstreue Bürger gibt es überall, nicht
frage erst am 27. Februar, also fast 14 Tage nachdem Sie nur in bestimmten Stadtteilen und Straßenzügen. Mit an-
Ihren Antrag formuliert hatten, zugänglich gemacht wor- deren Worten: Mein Auto, mein Familienstand, die An-
den. Wir haben diese Informationen, weil wir uns darum zahl meiner Kinder oder der Bildungsabschluss meiner
bemüht haben, allerdings erst am 1. März bekommen Eltern darf ebenso wenig über mein wirtschaftliches
und gehen davon aus, dass das Bundesinnenministerium Schicksal entscheiden wie die Straße, in der ich wohne.
mit diesem sensiblen Thema auch sensibel umgehen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
wird. Nun brauchen wir eine gemeinsame Basis für eine DIE GRÜNEN)
Debatte, die diesem Thema gerecht wird. Auf diese Dis-
kussion freue ich mich. Wir schielen dabei aber nicht einzig und allein auf
den Gesetzgeber. Mindestens genauso wichtig ist es, die
Frau Stokar, trotz aller Hase-und-Igel-Spielchen, die massiven Vollzugs- und Informationsdefizite zu besei-
im Zusammenhang mit Ihrem Antrag stattgefunden ha- tigen. Wenn Scoringunternehmen ihre Informations-
ben – als es zum Beispiel darum ging, dass er ein biss- pflicht unterlaufen, müssen wir uns fragen, woran das
chen dünn ist –, könnte er eine Basis und Anregung sein. liegt. Hier kommt es ganz wesentlich auf die richtige
Deswegen sind wir mit der Überweisung an den Aus- Anwendung der vorhandenen Gesetze an. Es ist in der
schuss selbstverständlich einverstanden. Tat nicht hinnehmbar, wenn die Erteilung einer Auskunft
Vielen Dank. unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse
(B) (D)
verweigert wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Silke Stokar von Neuforn (Beifall bei der FDP)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich gebe Ih- Wir müssen uns überlegen, wie wir den Druck erhöhen,
nen die 174 Seiten als Anlage!) damit wie vorgeschrieben Auskunft erteilt wird. Als Ul-
tima Ratio könnten fehlerhafte oder unvollständige Aus-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: künfte mit einem Bußgeld sanktioniert werden.
Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kolle-
(Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland
gin Marina Schuster.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann
(Beifall bei der FDP) aber nur der Gesetzgeber! – Silke Stokar von
Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Marina Schuster (FDP): Ohne Gesetz geht das nicht!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Außerdem müssen wir alles tun, um die Verbraucher
nen und Kollegen! Mit dem Begriff „Verbrau- zu informieren; wir müssen den Verbrauchern durch
cherscoring“ sind Verfahren gemeint, bei denen unter Informationen den Rücken stärken. Es gibt bereits eine
Verwendung mathematisch-statistischer Methoden ver- Reihe von Institutionen, an die sich der Verbraucher
sucht wird, ein bestimmtes Konsumentenverhalten vor- wenden kann: Datenschutzaufsichtsbehörden, Verbrau-
herzusagen. Im vorliegenden Antrag der Grünen wird cherzentralen und eine ganze Reihe von Schlich-
explizit nur die Schufa genannt. Solches Scoring findet tungsstellen. Das Problem ist, dass das nicht jedem Ver-
aber auch in vielen anderen Bereichen unseres täglichen braucher bekannt ist. Hier herrscht ein massives
Lebensumfeldes statt, beispielsweise bei Versicherungs-, Informationsdefizit. Aber nur ein mündiger, informierter
Handy-, Kfz- oder Leasingverträgen. Verbraucher kann sich auch wehren. Eine Idee wäre ein
Bei den Scoringverfahren handelt es sich in der Tat so genanntes Datenschutzaudit, eine Art datenschutz-
um ein datenschutzrechtlich sensibles und gesellschafts- rechtliches Gütesiegel. Seit Jahren ist diese Möglichkeit
politisch bedenkliches Phänomen. im Bundesdatenschutzgesetz verankert. Leider läuft
diese Vorschrift bis heute ins Leere, weil Rot-Grün es
(Beifall bei der FDP) versäumt hat, ein entsprechendes Ausführungsgesetz zu
initiieren.
Zu genau diesem Problem hat die FDP-Fraktion gerade
erst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Seit (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1737
Marina Schuster
(A) Unabhängig von diesen Versäumnissen möchte ich an giefreien Diskussion bereit; denn bei dem, was wir bei (C)
die Verbraucher grundsätzlich appellieren: Lassen Sie diesem Thema lernen, ist es mir so wie Ihnen ergangen:
sich nicht abspeisen, wenn es um Ihre Daten geht! For- Manches in der Welt des Internets und der Daten, die
dern Sie Ihr Recht ein! Seien Sie wachsam beim heute ausgetauscht werden, erinnert in der Tat an
Scoring, bei Kundenkarten, bei Gewinnspielen und auch „1984“: Wir sind der gläserne Mensch und die Daten
bei harmlos ausschauenden Fragebögen! Manchmal ist werden ohne unser Wissen ausgetauscht und bewertet,
es sinnvoller, auf 2 Prozent Rabatt zu verzichten und da- und zwar zu unserem Nachteil, ohne dass wir dort tat-
für die Herrschaft über die eigenen Daten zu behalten. sächlich nachfassen können.
(Beifall bei der FDP) Die statistische Bewertung der Kreditwürdigkeit wirft
also auch aus Sicht der SPD eine Reihe von Problemen
Abschließend appelliere ich an die Wirtschaft. Um
auf, die von der Öffentlichkeit bisher nicht wahrgenom-
Missverständnisse auszuschließen, sage ich: Wir wissen,
men worden sind und die uns alle – jede Verbraucherin
dass sich Unternehmen vor Betrügern und vor zahlungs-
und jeden Verbraucher – betreffen. Insofern meinen
unfähigen und -unwilligen Kunden schützen müssen.
herzlichen Dank an die Adresse der Grünen, die das als
Gleichwohl sehen wir datenschutzrechtliche Gefahren,
Erste aufgegriffen und zu einem Antrag formuliert ha-
wenn Auskunftssysteme beliebig zusammengeschaltet
ben.
werden und aus verschiedenen Systemen beliebig Infor-
mationen abgerufen werden können. Hier ist die Wirt- Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon die
schaft gefordert: Entwickeln Sie Best-Practice-Stan- Frage beantwortet, was mit dem Begriff „Scoring“ ei-
dards, kommen Sie Ihrer Verantwortung nach! gentlich gemeint ist. Wenn man in ein Lexikon sieht,
Sehr geehrte Damen und Herren dieses Hohen Hau- dann weiß man, dass das auf gut Deutsch so viel heißt
ses, Datenschutz ist für uns Liberale nicht nur eine Frage wie rechnen, zählen und einstufen. Gerade im Bereich
der Gesetzgebung, es ist für uns eine umfassende Auf- der Vergabe von Kleinkrediten und Krediten an Privat-
gabe. kunden, beim Versandhandel und im Bereich der Tele-
kommunikation wird diese Methode genutzt, um lang-
(Beifall bei der FDP – Silke Stokar von wierige Bonitätsprüfungen der jeweiligen Personen zu
Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vermeiden.
Ganz besonders in Niedersachsen!)
Die große Gefahr liegt darin – darauf ist hingewiesen
worden –, dass bei der Ermittlung eines solchen Erfah-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rungswertes nicht nur die individuell zurechenbaren In-
Frau Kollegin Schuster, das war Ihre erste Rede in formationen über die Personen verwendet werden, son-
(B) diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herz- dern dass auch zusätzliche Daten in die Berechnung mit (D)
lich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles einfließen, auf die der Einzelne gar keinen Einfluss hat
Gute. und von denen er auch gar nichts weiß. Die Beispiele
(Beifall) sind genannt worden: der Wohnort, das Geschlecht, die
Rasse usw.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Bürsch, SPD-Fraktion. Manche Bewertung ist nicht nur datenschutzrechtlich
zu kritisieren, sondern – und darin liegt nun wirklich ein
Problem – manche Bewertung basiert nicht einmal auf
Dr. Michael Bürsch (SPD):
der persönlichen Vorgeschichte des Kunden, sondern auf
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- anderen, teilweise wirklich diskriminierenden Merkma-
gen! Heute Abend zeigt sich: Der Bundestag ist doch ein len.
Ort lebenslangen Lernens. Wir müssen uns ständig fort-
bilden. Wir alle lernen heute, was es mit dem neudeut- Insofern richtet sich die erste Kritik dagegen, welche
schen Begriff „Scoring“ auf sich hat. An dieser Stelle Daten, auf die der Kunde keinen Einfluss hat, überhaupt
richte ich ein altmodisches Wort an die Grünen: Ich bin verwendet werden. Die zweite Kritik kommt aus der
ein großer Freund und Verfechter der deutschen Sprache. Richtung des Datenschutzes; auch sie ist schon genannt
Ich habe das schon bei den öffentlich-privaten Partner- worden. Hier müssen wir kritisieren, dass die Auskunf-
schaften betrieben und werbe auch an dieser Stelle dafür, teien die Berechnung ihrer Scoringwerte gewöhnlich ge-
einen deutschen Begriff für „Scoring“ zu finden. Denn heim halten. Dadurch kann der Bürger überhaupt nicht
die englischen Begriffe sind abschreckend und verwir- nachvollziehen, welche Daten und Merkmale mit wel-
rend und dem Publikum ist nicht geläufig, was damit ge- chem Gewicht in die Berechnung des Prognosewertes
meint ist. Mein Angebot: „die statistische Bewertung eingeflossen sind.
der Kreditwürdigkeit“.
Auf diesen Bericht, den das Bundesministerium für
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erar-
NEN]: Das ist es nun nicht!) beitet hat, ist schon hingewiesen worden. Ich meine, wir
Das ist ein bisschen länger, aber es beschreibt vielleicht, müssen alle Erkenntnisse, die es dazu gibt – nicht nur
was wir meinen. diesen Bericht, sondern auch andere Erkenntnisse, viel-
leicht auch Erkenntnisse aus anderen Ländern –, hinzu-
An Frau Philipp gerichtet sage ich: Frau Philipp, ge- ziehen, um auszuwerten, was die Ansatzpunkte sind, um
rade bei diesem Thema sind wir sehr gerne zur ideolo- diese Verfahrensweisen, die es gibt, wirklich transparent
1738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Dr. Michael Bürsch


(A) zu machen und für den Kunden mit einem solchen Antrag der Grünen formuliert, dringenden Handlungsbe- (C)
Schutz zu versehen, dass ihm dort kein Leid und keine darf.
Unbill droht.
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
Der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist gut. Das GRÜNEN]: Was sagt die WASG dazu?)
kann ich eindeutig sagen.
Die Regelungslücke im Bundesdatenschutzgesetz
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ führt dazu, dass jeder einer allmächtigen Schufa ausge-
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) liefert ist. Der Verbraucher kann nicht einschätzen, wel-
Er bietet Anlass, über das Thema zu diskutieren. ches Tun oder Unterlassen den Score und damit meistens
auch die Kreditwürdigkeit positiv oder negativ beein-
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ flusst. Selbst tadelloses Bedienen von Krediten hilft
DIE GRÜNEN]: Nicht, dass er jetzt auch noch nicht, wenn man einer Gruppe zugeordnet wird – auch
einen Scoringwert bekommt!) darauf ist hingewiesen worden –, in der es öfter zu Zah-
lungsausfällen kommt. Ebenso ist erwähnt worden, dass
Es ist aber vielleicht noch ein bisschen zu früh dafür, hier das informationelle Selbstbestimmungsrecht tan-
verehrte Kollegin Stokar von Neuforn, weil wir uns, giert wird.
wenn wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirk-
lich etwas bieten wollen, den komplexen Problemen, die Der Antrag der Grünen geht also in die richtige Rich-
wir damit erfassen wollen, handwerklich wirklich sauber tung. Wir brauchen eine Begrenzung solcher Auskunfts-
nähern müssen. verfahren, die nicht auf relevante individuelle Daten set-
zen, sondern Aussagen allein aufgrund statistischer
Deshalb schlage ich vor, dass auch hier der Grundsatz
Daten und Wahrscheinlichkeit errechnen. Damit wäre
gilt, den sich die große Koalition vorgenommen hat:
dann auch der Forderung des § 6 a des Bundesdaten-
Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
schutzgesetzes Genüge getan. Im Übrigen könnten wir
Danke schön. damit eine soziale Schieflage beseitigen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ NEN]: Genau!)
DIE GRÜNEN]: Und wie lange dauert das?)
Das heißt, die Auskunfteien müssen für Transparenz
sorgen. Der Verbraucher hat das Recht und muss das
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Recht haben, bei einer Selbstauskunft mehr zu erfahren
Das Wort hat nun der Kollege Jan Korte, Fraktion Die als den tagesaktuellen Score. Die Auskunfteien müssen (D)
(B) Linke.
Rechenschaft ablegen, welche Faktoren den Score wie
(Beifall bei der LINKEN) beeinflussen und welcher Score weitergeleitet wird.
Bedauerlich finde ich – das muss ich sagen –, dass
Jan Korte (DIE LINKE): von den grünen Verbraucherschützern eine solche Initia-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! tive nicht schon früher gestartet wurde, und zwar in der
Ich schließe mich hier heute ausnahmsweise einmal den Zeit, in der sie noch mitregiert haben; denn der Bundes-
anderen Fraktionen an. Es ist eine schöne Sache, einen datenschutzbeauftragte hat zuletzt in seinem Tätigkeits-
gemeinsamen Lernort hier im Bundestag zu deklarieren. bericht 2003/2004 ebenso wie 2001/2002 auf diese Pro-
Ich hoffe, wir setzen das auch um; denn hier herrscht Ei- blematik eindringlich hingewiesen. Das steht alles ab
nigkeit darüber – das sehen wir genauso –, dass die Seite 129 des Berichts.
Scoringverfahren insbesondere der Schufa,
(Beifall bei der LINKEN)
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Es ist aber un-
gerecht, wenn man nur die nennt!) All das hätte man in der Zeit Ihrer Regierungsbeteili-
gung gut machen können.
aber auch anderer Auskunfteien elementare Interessen
der Verbraucherinnen und Verbraucher betreffen und (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
dass es hier eine Lücke im Datenschutz gibt, die ge- GRÜNEN]: Meinen Sie, wir haben allein re-
schlossen werden muss. Die Wertermittlung ist dem giert, oder was? – Jörg Tauss [SPD]: Ihr habt
Zufall überlassen. So kann es sein – das ist schon ge- uns gefehlt!)
nannt worden –, dass ein Selbstständiger benötigte Kre- – Ich habe schon festgestellt, dass wir hier gefehlt haben.
dite nicht bekommt, nur weil er in der falschen Gegend Ich halte den Antrag für gut. Deswegen sollten wir ins-
wohnt, das falsche Alter oder Geschlecht hat und – auch besondere dem Datenschutz in Zukunft mehr Beach-
das haben wir schon gehört – mehrere Kreditangebote tung schenken.
eingeholt oder ein Bankkonto zu viel hat. Bereits das
kann zu einem schlechten Wert führen. Daraus können (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das haben wir
sich durchaus existenzbedrohende Situationen ergeben. schon vor Ihrer Zeit gemacht!)
Gerade vor dem Hintergrund, dass Unternehmen das Liebe Silke Stokar, eine Anmerkung muss ich noch
Scoringverfahren inzwischen – darauf ist hingewiesen machen. Ich finde es gut, Silke, diesen Antrag einzubrin-
worden – exzessiv nutzen, sieht die Linke, wie in dem gen. Aber wenn man Anträge schreibt und alles aus dem
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1739
Jan Korte
(A) Datenschutzbericht ab Seite 129 fast wortgleich ab- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ich habe sie so- (C)
schreibt, gar gelesen, obwohl keine Bilder drin sind!)
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Einige sind bereits angesprochen worden, beispielsweise
GRÜNEN]: Das haben wir nicht!) die Frage der Bewertung des Wohnortes. Dazu hat das
Gutachten deutlich Stellung genommen.
sollte man sich wenigstens die Mühe machen, den Satz-
bau ein wenig zu verändern. Trotzdem ist der Antrag Was zu dem Rücklauf von 29 Antworten gesagt
richtig und wir unterstützen ihn. wurde, hat sich ein bisschen negativ angehört.
(Beifall bei der LINKEN – Beatrix Philipp (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das ist aber so!)
[CDU/CSU]: Man guckt nur hinter den Busch,
hinter dem man selbst einmal gesessen hat!) – Das ist zwar so, aber ich würde zum Umkehrschluss
kommen. Es war doch so, dass der beauftragte Gutachter
500 Kreditinstitute angeschrieben hat, von denen nur 29
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
geantwortet haben. Das halte ich für den eigentlich pro-
Das Wort hat nun der Kollege Jörg Tauss von der
blematischen Hintergrund.
SPD-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Jörg Tauss (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Frau Präsidentin! Lieber Kollege Korte, lesen Entweder nimmt die Kreditwirtschaft das nicht ernst
Sie das Ganze noch einmal nach. Das, was Sie hier ange- oder sie will etwas vertuschen. Letzteres will ich nicht
sprochen und angemahnt haben, ist in der Tat bereits hoffen, aber ich denke, dass wir in diesem Punkt mit den
2001 umgesetzt worden. 2001 hat die damalige Koali- Banken bzw. mit dem Bundesverband deutscher Banken
tion mit der Einführung des § 6 a des Bundesdaten- eine heftige Diskussion führen müssen. So geht es näm-
schutzgesetzes Regelungen, die es bis dahin noch nicht lich nicht.
gab, zur automatisierten Einzelfallentscheidung getrof-
fen. Es ist also nicht richtig, dass in der letzten Legisla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
turperiode unserer Regierungszeit nicht gehandelt wor-
den ist. Es gab hier – da waren Sie noch nicht Mitglied Aus diesem Bericht ist eine ganze Reihe von Erkennt-
dieses Hauses – eine ganze Reihe von parteiübergreifen- nissen gezogen worden, so zum Beispiel, dass die Zu-
den Stellungnahmen zu diesem Thema. sammenhänge mit dem Wohnort evident sind. Ich habe
es übrigens kürzlich in eigener Sache gemerkt. Ich hatte
(Jan Korte [DIE LINKE]: Dann bräuchten wir bei einer Bank Gelegenheit, einzusehen, was zu meiner
(B) heute den Antrag nicht! – Gegenruf der Abg. Person gespeichert ist. Es war hochinteressant: Eine (D)
Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Schufa-Auskunft ergab „unklare Wohnverhältnisse“ bei
GRÜNEN]: Wir haben mehr geschafft als in Jörg Tauss.
16 Jahren der Regierung Kohl!)
(Heiterkeit – Beatrix Philipp [CDU/CSU]:
Ganz nebenbei will ich ein paar Worte an die FDP Herr Tauss, das wussten wir alles!)
richten. Kollegin Schuster, Sie können nichts dafür, aber
Ihre Fraktion hat damals explizit gegen diese Regelun- Ich weiß nicht, womit das zusammenhängt. Ich bin
gen bestimmt; das haben wir sehr bedauert. Aber, wie glücklich verheiratet, wohne mit meiner Frau in einem
gesagt, ich finde es gut, wenn ihr von der Realität einge- netten Häuschen auf dem Dorf und habe eine Wohnung
holt werdet. in Berlin. Es ist alles wunderbar geregelt. Ich weiß des-
halb nicht, wie es zu dieser Einschätzung kam. Ich ver-
Der Deutsche Bundestag hat – insofern haben wir ge- mute, dass es mit unserem unsoliden Lebenswandel in
handelt – am 17. Februar 2005 die Bundesregierung ge- Berlin zusammenhängt; wir haben nämlich zwei Wohn-
beten, einen Bericht vorzulegen. Dieser Bericht ist in sitze. Das ergibt wohl solche so genannten unklaren
Arbeit. Er wird im Bundesinnenministerium auf den Wohnverhältnisse.
Weg gebracht. Ich denke, Frau Kollegin Philipp, wir
sollten anhand dieses Berichtes in eine Diskussion ein- Es gibt auch den umgekehrten Fall. Bevor ich umge-
steigen. zogen bin, habe ich in einem schönen Häuschen zur
Miete gewohnt. Es gehörte einem Zahnarzt, der Geld
Ich habe eine Anmerkung – vielleicht war es ein hatte und es entsprechend hergerichtet hat. Ich habe es
Missverständnis Ihrer Bewertung des vorliegenden Be- dann bewohnt.
richts eines Forschungsprojekts –: Sie haben über das
Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz, gegrün- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Dass er noch
det von Herrn Bäumler, einem der anerkanntesten Geld hatte, war vor Ihrer Regierungszeit!)
Experten auf dem Gebiet, sehr negativ geredet.
– Nein, denen geht es immer noch gut. Gejammert haben
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Nein!) sie immer, aber das ist ein anderes Thema. Es geht jetzt
nicht um die Gesundheitsreform.
– Dann war es in der Tat ein Missverständnis; denn ich
glaube, dass uns die Expertise, die wir aus Schleswig- Seinerzeit ging aus einer entsprechenden Auskunft
Holstein bekommen haben, weiterbringen kann. Sie ent- hervor: Herr Tauss gilt als Eigentümer eines Einfami-
hält eine ganze Reihe von bedenkenswerten Punkten. lienhauses. Das hat meine Kreditwürdigkeit ungeheuer
1740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Jörg Tauss
(A) erhöht, aber das Haus hat mir gar nicht gehört. Es hat Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
entweder meinem Zahnarzt oder einer Sparkasse gehört. NEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-
Daran wird deutlich, dass solche Angaben gelegent- ben in den letzten Wochen und Monaten bei den offenen
lich von zweifelhaftem Wert sind. Ich glaube, wir sind Immobilienfonds eine erhebliche Verunsicherung er-
uns alle darin einig, dass es nicht sein kann, dass bei- lebt. Das hat damit angefangen, dass die Deutsche Bank
spielsweise aufgrund von Fehlern, die in solchen Gut- Real Estate die Rücknahme der Anteile an dem Fonds
achten enthalten sind, die Existenz eines Menschen ge- Grundbesitz-Invest ausgesetzt hat, und ist im Januar
fährdet wird. weitergegangen, als bei zwei weiteren Fonds die Rück-
nahme der Anteile ausgesetzt wurde. Das hat zu erhebli-
Frau Präsidentin, Sie leuchten.
cher Verunsicherung bei den Anlegern und zu einer Dis-
(Heiterkeit) kussion in der Branche über die Zukunft dieses Produkts
geführt. Aber als die Deutsche Bank in der letzten Wo-
Ich komme deshalb zum Ende. che die Rücknahme eingeführt hat, war der Abschlag mit
2,4 Prozent nicht so dramatisch hoch wie teilweise be-
Dass Handlungsbedarf besteht, ist eindeutig festge- fürchtet. Nun ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Trotz-
stellt worden. Wir müssen das gemeinsam beraten. Ich dem bleibt die Unsicherheit. Die Anleger wissen nicht,
halte es für sinnvoll, Frau Kollegin Stokar – auch Frau wie es mit einem Produkt weitergehen soll, das ihnen
Kollegin Philipp hat das positiv erwähnt –, zu einer ge- häufig als „so sicher wie Omas Häuschen“ – wir alle
meinsamen Initiative zu kommen. Lassen Sie uns in kennen den Spruch – verkauft worden ist.
Fortsetzung dessen, was wir in datenschutzrechtlicher
Hinsicht bereits auf den Weg gebracht haben, mit den Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
Gutachten befassen. auf, hier gesetzgeberisch tätig zu werden; denn man darf
nicht zur Tagesordnung übergehen, weil sich die Situa-
Danke schön. tion beruhigt hat, und warten, bis wieder Unruhe ent-
steht. Es ist richtig, nun gesetzgeberisch zu handeln.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN) Schließlich ist es nicht das erste Mal – Stichwort
„Deka“ –, dass so etwas passiert.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sind nach wie vor
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- der Meinung, dass offene Immobilienfonds gute Pro- (D)
(B) nungspunkt.
dukte sind. Sie ermöglichen Kleinanlegern, an der Wert-
entwicklung auf dem Immobilienmarkt teilzuhaben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Wichtig ist aber, dass wir nun aufgrund der Erfahrungen,
Drucksache 16/683 an die in der Tagesordnung aufge- die wir in den letzten Wochen und Monaten gesammelt
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- haben, die gesetzlichen Rahmenbedingungen anpas-
verstanden? – Ich sehe, dass das der Fall ist. Dann ist die sen. Unseres Erachtens reicht es nicht, dass die Branche
Überweisung so beschlossen. selber etwas tut; denn dort gibt es die Tendenz, irgend-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: wann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Vielmehr
ist es Aufgabe des Staates, den gesetzlichen Rahmen da-
Beratung des Antrags der Abgeordneten für zu schaffen, dass diese Produkte gut und sicher sind,
Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Kerstin dass die Marktstabilität gewährleistet ist und dass das
Andreae, Bärbel Höhn und der Fraktion des Anlegervertrauen langfristig gestärkt wird.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Offene Immobilienfonds – Marktstabilität Wir verfolgen mit unserem Antrag drei Ziele. Das
sichern, Anlegervertrauen stärken erste Ziel ist, zukünftig Unsicherheiten bei der Bewer-
tung zu vermeiden. Sie wissen, dass das bei der Deut-
– Drucksache 16/661 – schen Bank eine Rolle gespielt hat. Ich möchte noch et-
Überweisungsvorschlag: was hinzufügen, was für die zukünftige Diskussion
Finanzausschuss (f) wichtig werden könnte. Es wird allgemein darüber dis-
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
kutiert, ob wir REITs einführen sollen. Wir wenden uns
Verbraucherschutz strikt dagegen, REITs-Anteile offenen Immobilienfonds
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beizumischen; denn das würde die Unsicherheit bei der
Bewertung massiv erhöhen. Das sollte auf keinen Fall
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die geschehen.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Unser zweites Ziel ist, die Liquidität zu sichern. Wir
müssen bei den Regelungen betreffend die Mindestliqui-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster dität nachjustieren. Außerdem brauchen wir Lösungen
Redner Herr Dr. Gerhard Schick von der Fraktion des bei der Fristeninkongruenz. Hierzu erwarten wir kon-
Bündnisses 90/Die Grünen. krete Vorschläge von der Bundesregierung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1741
Dr. Gerhard Schick
(A) Unser drittes Ziel ist, mehr Transparenz für die An- schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wir werden das so (C)
leger zu schaffen. Das bedeutet, dass einzelne Verkehrs- nicht unterstützen können.
werte zu veröffentlichen sind und dass in den Verkaufs-
prospekten konkret gesagt wird, wo die Risiken liegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es darf nicht passieren, dass Menschen durch eine Bera- neten der FDP)
tung, in der die wahren Risiken verschwiegen werden, In Ihrem Antrag gibt es zahlreiche positive Ansätze.
dazu gebracht werden, ihr gesamtes Vermögen in offene Ihr zentraler Punkt ist, dass Sie den Anlegerschutz stär-
Immobilienfonds zum Zwecke der Altersvorsorge zu in- ken wollen. Das ist gut gemeint,
vestieren. Offene Immobilienfonds sind zwar gute Pro-
dukte und können Teil eines Anlegerportfolios sein. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist das
Aber in diese Fonds sollte nicht alles angelegt werden, Gegenteil von gut!)
weil das Risiko zu groß ist. aber es ist nicht gut gemacht. Wenn Sie umsetzen, was
Unser Ziel ist, für eine nachhaltige Finanzmarktent- Sie in Ihrem Antrag fordern, dann machen Sie das Pro-
wicklung zu sorgen. Das geht nur, wenn der Humus für dukt des offenen Immobilienfonds kaputt. Dabei können
den Finanzmarkt, das Anlegervertrauen, gut gepflegt wir natürlich nicht mitmachen.
wird. Wir bitten Sie deswegen, unserem Antrag zuzu- (Beifall bei der CDU/CSU)
stimmen, damit wir hier zu stabilen gesetzlichen Rah-
menbedingungen kommen. Die Schließung des Fonds hat überhaupt nichts mit
der Qualität der Fonds zu tun. Das ist ein bewährtes Pro-
Danke schön. dukt, aber wir müssen hier differenzieren. Ein offener
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Immobilienfonds ist kein Sparbuch, kein Sparbrief und
auch kein festverzinsliches Papier. Bedenken Sie einmal,
was mit Rentenfonds und Rentenpapieren, die notiert
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sind und gehandelt werden, passiert, wenn die Zinsen
Das Wort hat nun der Kollege Klaus-Peter Flosbach, steigen: Die Kurse sinken; sogar Verluste in zweistelli-
CDU/CSU-Fraktion. ger Höhe sind für Anleger im Bereich der festverzinsli-
chen Wertpapiere möglich. Müssen wir dafür Sicherun-
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): gen seitens des Staates einrichten? Das kann sicherlich
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht der Sinn sein. Ein offener Immobilienfonds bewegt
Wer ruhig schlafen möchte, setzt auf Beton. Das ist ein sich wie eine Einzelimmobilie im Markt. Wir müssen
bekannter Spruch aus der Baubranche. Aber das Welt- darauf achten, dass der einzelne Anleger durch die Ban-
(B) bild ist in den letzten Monaten gründlich in Unordnung ken und durch die Vermittler aufgeklärt ist, damit er (D)
geraten. Der offene Immobilienfonds ist als Produkt seit weiß, was er tut.
47 Jahren bekannt und so lange weist er jedes Jahr Stei-
Der offene Immobilienfonds war bis zum Jahr 2000
gerungen – manchmal waren es nur 3 Prozent, ein ande-
im Grunde ein langweiliges Produkt. Viele haben ihre
res Mal 8 Prozent – auf. So etwas kennt man sonst in der
Altersversorgung dort hineingesteckt, weil diese Anlage-
Finanzbranche nicht. Der offene Immobilienfonds war
form sicher war und immer zwischen 3 und 7 Prozent
für viele Anleger ein stabiler Baustein der Vermögens-
brachte. Es gab aber niemals die Sprünge, die es am Ak-
bildung. Es gibt Kleinanleger, die bereits mit 50 Euro
tienmarkt gegeben hat. Erst im Jahr 2000, als die Aktien-
eingestiegen sind, und natürlich auch Großanleger.
blase – vor allem am Neuen Markt – platzte, hat man er-
Heute verfügen diese Fonds noch immer über ein Volu-
kannt, wie wertvoll ein solches Produkt am Kapitalmarkt
men von 85 Milliarden Euro.
ist. Deswegen ist es sehr problematisch, wenn Sie in Ih-
Für viele Personen, die im Alter nicht auf die gesetzli- rem Antrag von Totalverlust sprechen, auf den der An-
che Rentenversicherung oder eine betriebliche Alters- leger hingewiesen werden müsse. Das verkennt völlig
vorsorge zurückgreifen können und auch nicht Leistun- die Tatsachen. Vor allem aber schadet es dem einzelnen
gen von Versorgungswerken oder eine Pension beziehen, Produkt. Es kann nicht der Sinn eines Antrags sein, in
waren die offenen Immobilienfonds, wie der Kollege eine politische Diskussion etwas einzubringen, was mit
Schick bereits dargelegt hat, ein Stabilisator der Alters- dem Produkt überhaupt nichts zu tun hat.
versorgung, ein – im Rahmen einer gewissen Streu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ung – ganz wesentlicher, stabiler Baustein.
neten der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Es ist
Nun hat es durch die kurzfristigen Schließungen von schlicht falsch!)
insgesamt drei Fonds und die Ankündigung der Neube-
wertungen ordentliche Turbulenzen gegeben. Inzwi- – Das ist in der Tat falsch, lieber Kollege.
schen ist sicherlich etwas Ruhe eingekehrt, aber es ist 47 Jahre ist dieses Produkt positiv gewesen. Es ist si-
unsere Aufgabe, jetzt die Probleme aufzulisten und zu cherlich eine Illusion, zu glauben, dass die Rendite im-
prüfen, was die Branche leisten kann und wo der Gesetz- mer positiv sein muss. Es hat aber nur fünf von 38 Fonds
geber gefordert ist. gegeben, die einen Wertberichtigungsbedarf hatten. Die-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) ser bewegte sich in der Größenordnung von 2 bis
7 Prozent. Deshalb sollten wir die Kirche im Dorf lassen
Der Antrag allerdings, den die Kolleginnen und Kolle- und nicht von der Möglichkeit eines Totalverlustes spre-
gen des Bündnisses 90/Die Grünen vorgelegt haben, chen.
1742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Klaus-Peter Flosbach
(A) Wir sollten uns auf die wirklichen Probleme konzen- Wir sollten im Rahmen der weiteren Beratungen über (C)
trieren. Das erste Problem ist, dass ein offener Immobi- die weiteren Maßnahmen diskutieren. Gefragt wird bei-
lienfonds wie jede Immobilie eine langfristige Anlage spielsweise, ob die Mindestliquiditätsquote von 5 Pro-
ist, zent auf 10 Prozent erhöht werden muss. Wir alle wis-
sen, dass das selbstverständlich zulasten der Rendite
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) geht. Aber man kann darüber natürlich diskutieren. Ge-
fragt wird außerdem, ob der Vertrieb eingestellt werden
viele ihn aber als kurzfristige Anlage nutzen. Für diese
langfristige Anlage musste ein Fonds bislang 5 Prozent muss, wenn ein Fonds über mehr als 40 Prozent Liquidi-
Liquidität vorhalten, damit der einzelne Anleger, wenn tät verfügt. Vor vier oder fünf Jahren war die Liquidität
er Geld braucht, an dieses Geld herankommt. Ein Pro- so hoch, dass man kaum genügend Immobilien kaufen
blem ergibt sich, wenn große, auch institutionelle Anle- konnte. Zu diesem Zeitpunkt hat man im Rahmen dieser
ger oder Banken erkennen, dass die Rendite in einem of- Fonds zu teure Immobilien gekauft.
fenen Immobilienfonds größer als die bei Festgeld ist, Wir werden über die Kündigungsfristen bei großen
entsprechend große Beträge anlegen und kurzfristig wie- Anlagebeträgen diskutieren müssen. Sie haben die Frage
der dem Fonds entziehen. Noch problematischer finde der Beimischung von REITs angesprochen. Das wird
ich allerdings, dass die großen Anleger gegenüber dem möglicherweise ganz anders gesehen. Man fragt, ob
Kleinanleger einen Informationsvorsprung haben. In nicht gerade diese Immobilienaktien wieder ein Stück
diesem konkreten Fall wussten sie, dass es zu einem Liquidität schaffen können und ob sie beigemischt wer-
Wertberichtigungsbedarf kommen könnte; daraufhin ha- den sollen. Eine andere Frage ist natürlich, ob es richtig
ben sie die Beträge abgerufen und damit die 5 Prozent an ist, die Bewertung, wie derzeit, einmal im Jahr vorzu-
Liquidität ausgeschöpft. Somit kam es zur Schließung, nehmen, oder ob man, wie in anderen Ländern, kürzere
was im Grunde genommen nichts Schlimmes ist; denn Fristen braucht. Gefragt wird auch nach der Rotation
das könnte auch zum Schutz der Kleinanleger sein. Da- von Sachverständigen und – das haben auch Sie getan –
raus ist die Vertrauenskrise entstanden. Diese ist auch nach der Transparenz bezüglich der Details der einzel-
nicht aufgefangen worden – höchstens zum Teil – durch nen Formen im Rahmen dieser Anlage.
den Schadensausgleich, den eine große deutsche Bank
angeboten hat. Das führt natürlich dazu, dass eine La- Das Fazit der ganzen Sache ist: Es besteht schon ein
wine losgetreten wird und viele Kleinanleger ebenfalls erheblicher Verbesserungs- und Änderungsbedarf im
ihr Geld abrufen. Rahmen des Investmentgesetzes, und zwar nicht erst seit
heute durch die Schließung dieser drei Fonds. Die Im-
Wir sollten also dort ansetzen, wo wir aus Gründen mobilie bleibt eine langfristige Anlageform. Machen Sie
(B) des Verbraucherschutzes den Kleinanleger schützen da bitte mit! Wir müssen dieses – sicherlich ganz gute – (D)
müssen. Die erste Frage ist, ob es überhaupt richtig ist, Produkt stärken und wir dürfen es nicht kaputtregulie-
dass Großanleger in diese Publikumsfonds Beträge ein- ren.
legen und auch wieder abziehen können. Es ist auch die
Frage zu stellen, ob nicht gerade an dieser Stelle Kündi- Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
gungsfristen einzuhalten sind, zum Beispiel je nach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Größe der Anlagesumme. neten der SPD und der FDP)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Aber bitte, liebe Antragsteller, fordern Sie nicht Siche- Das Wort hat nun der Kollege Frank Schäffler, FDP-
rungsinstrumente wie einen Sicherungsfonds oder die Fraktion.
Haftung der Muttergesellschaft. Dies entspricht über-
haupt nicht dem Produkt. Es handelt sich hier nicht um Frank Schäffler (FDP):
eine staatlich verordnete oder vom Staat gesicherte An- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
lage. Wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass hier legen! Auf diesen Antrag habe ich eigentlich längst ge-
eine Verlagerung der Risiken auf eine Gemeinschaft er- wartet. Da verhält sich ein Marktteilnehmer ungeschickt,
folgt. Davon sollten wir in der Tat Abstand nehmen. was dem Unternehmen selbst wirtschaftlich sicherlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der besonders geschadet hat, und die Grünen wollen gleich
SPD und der FDP) einen Paragrafen hinterherwerfen. Herr Kollege Schick,
ich glaube, wir sollten dem Wettbewerb an dieser Stelle
Wir als Gesetzgeber sind für die Rahmenbedingungen eine Chance geben.
zuständig. Dazu gehört natürlich auch, dass wir die Ba- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Fin beauftragen müssen, diesen Rahmen zu kontrollie- der CDU/CSU)
ren. Der offene Immobilienfonds ist nach wie vor ein
sicheres Instrument im Rahmen einer vernünftigen Gleichzeitig werfen Sie alle Marktteilnehmer in einen
Streuung. Der beste Tipp für einen Anleger ist eben im- Topf. So ist die Aussetzung der beiden Kan-Am-Fonds
mer eine vernünftige Streuung. Wer die Chance haben keine Frage der fehlenden Abwertungsnotwendigkeit ge-
möchte, einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen, der wesen, sondern eher eine Frage, wie sich eine Rating-
muss natürlich auch kalkulatorisch ein gewisses Risiko agentur verhalten hat. Sie spielen mit Ihrem Antrag der
eingehen. Verunsicherung des Marktes in die Hände. Dabei hat
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1743
Frank Schäffler
(A) sich der Markt für offene Immobilienfonds in den letzten schon gesagt – ist um knapp 2,5 Prozent abgewertet wor- (C)
Wochen erkennbar beruhigt und wir sollten froh sein, den. Die anderen Investmentfonds in diesem Bereich
dass hiermit keine weitere Verunsicherung der Finanz- sind am Ende sogar höher bewertet worden.
märkte einhergeht.
Es gibt aus meiner Sicht also nur einen eingeschränk-
(Beifall bei der FDP) ten Handlungsbedarf. Den sollten wir in Ruhe klären
und auch in Ruhe überlegen, was wir tun können. Einen
Ihre Vorschläge sind teilweise überlegenswert, teil- Schnellschuss an dieser Stelle sollten wir ablehnen. Des-
weise aber auch sehr gefährlich. Fakt ist jedoch, dass die halb würde ich mich freuen, wenn die Grünen ihren An-
Diskussion im Markt läuft. Und das ist gut so. Ich halte trag überdenken würden.
es daher für absolut richtig, dass wir jetzt nicht mit ei-
nem Schnellschuss reagieren, sondern im Sommer die- Vielen Dank.
ses Jahres überlegen, wie wir das Investmentgesetz no-
vellieren können. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo
Dautzenberg [CDU/CSU])
Vor umfassenden Änderungen will ich aber warnen.
Offene Immobilienfonds sind aufgrund der geringen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Schwankungsbreite und ihrer weitgehend steuerfreien Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer,
Wertentwicklung sehr beliebt. Ein vollständiges Verlust- SPD-Fraktion.
risiko ist ausgeschlossen, da ein Sachwert dahintersteht.
Wir sollten die Anlageklasse der offenen Immobilien-
fonds daher nicht verwässern. Wir sollten daraus keine Nina Hauer (SPD):
verkappten REITs oder Immobilienaktienfonds machen, Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Der
sondern diesem Markt mit seinen Besonderheiten Raum Antrag der Grünen greift ein aktuelles Thema auf. Ob er
lassen. zum jetzigen Zeitpunkt hilfreich ist, wird sich noch zei-
gen.
So bin ich auch skeptisch, ob eine Erhöhung der Li-
quidität den Fonds in Extremsituationen wirklich helfen Wir haben uns mit dem Thema der Schließung des of-
kann. Eine höhere Liquidität nimmt den Fonds allemal fenen Immobilienfonds der Deutschen Bank auch im Fi-
Renditechancen. Auch eine Beimischung von REITs nanzausschuss beschäftigt. Man kann sagen, dass wir ei-
muss kritisch geprüft werden. REITs werden zwangsläu- ner Meinung sind, was die Fragen betrifft: Wie stärken
fig risikoreichere Anlagen sein. Lassen wir diese Klasse wir das Vertrauen, das beim Anleger durch diese Schlie-
als Beimischung zu, dann erhöhen wir automatisch auch ßung verloren gegangen ist? Wie sorgen wir auch dafür,
(B) das Risiko für Anleger in offenen Immobilienfonds. dass für diese offenen Fonds in Zukunft klarere Regeln (D)
– die sind offensichtlich notwendig – gelten?
Eines ist in der öffentlichen Diskussion deutlich ge-
worden. Offene Immobilienfonds sind kein Sparbuch, Ihr Antrag nimmt das richtige Thema zum falschen
sondern haben eigene Risiken – und wenn es nur das Ri- Zeitpunkt auf und setzt auch die falschen Akzente.
siko ist, dass die Fonds bei starken Mittelabflüssen kurz- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
fristig nicht liquide sind und daher die Rücknahme der CSU])
Anteilscheine ausgesetzt werden muss.
Das ist der Grund dafür, dass er von meiner Fraktion ab-
Wir als Parlamentarier müssen dafür sorgen, dass Ver- gelehnt wird. Es besteht Anlass zu ein bisschen mehr
trauen in die Anlagemärkte wieder zurückgewonnen Gelassenheit. Wir haben in der letzten Woche eine posi-
wird. Das ist unsere Hauptaufgabe. Einen parteipoliti- tive Entwicklung bei der Deutschen Bank erlebt. Der
schen Streit über eine Veränderung in diesem Bereich Fondsbesitz wurde nur um 2,4 Prozent abgewertet und
halte ich für fatal. Wir sollten aufpassen, dass wir an die- die Anleger sollen entschädigt werden. Wenn man ein-
ser Stelle nicht dem Populismus zu viel Rechnung tra- mal bedenkt, dass die Bank davon geredet hat, es könne
gen. eine Abwertung um 10 oder 15 Prozent erfolgen, ist es
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo doch eine Blamage, die die Deutsche Bank da erlebt hat.
Dautzenberg [CDU/CSU] und des Abg. Klaus- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die
Peter Flosbach [CDU/CSU]) Verantwortung, ja! – Frank Schäffler [FDP]:
Sie von den Grünen haben viele beachtenswerte Vor- Ja! Die können auch woanders anlegen!)
schläge gemacht, aber auch vieles Falsche gesagt. Nach Ich kann verstehen, dass sich die Anleger – wenn ich
meinem Kenntnisstand ist es beispielsweise nicht so, das einmal auf Hessisch sagen darf – veräppelt fühlen,
dass in Frankreich die Immobilien quartalsweise über- wenn oben in der Chefetage darüber geredet wird, dass
prüft werden. Auch andere Länder haben dies nicht ge- der Fonds geschlossen wird, und am selben Tag unten
macht. Die Schweiz und Österreich beispielsweise über- am Schalter noch Anteile verkauft werden. Das darf na-
prüfen die Immobilien jährlich. Man muss sich auch türlich nicht passieren.
fragen, ob eine Immobilie innerhalb eines Vierteljahres
tatsächlich so radikal an Wert verlieren kann. Im Übri- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gen zeigen auch die aktuellen Beispiele, dass das nicht der CDU/CSU und des Abg. Frank Schäffler
nötig ist. Der Fonds der Deutschen Bank – das wurde [FDP])
1744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

Nina Hauer
(A) Ob die Entschädigungen über den Vertrauensverlust hört – festzustellen, wann welches Geld dem Fonds zu- (C)
hinweghelfen, muss die Deutsche Bank selbst beantwor- geflossen ist und wann es wieder abgezogen wurde,
ten. führt zu einer Bürokratisierung und einem irrsinnigen
Verwaltungsdruck, dem die Anlageform Fonds kaum ge-
Ich finde, dass Ihre Vorschläge, meine Damen und wachsen sein wird. Wenn das zur Auflage wird, können
Herren von den Grünen, zum Teil gar nicht auf dieses die Fonds eigentlich zumachen. Grundsätzlich halte ich
Problem eingehen. Sie wollen, dass viermal im Jahr der also den Vorschlag, eine Kündigungsfrist einzuführen,
Wert einer Immobilie durch Sachverständige beurteilt für sinnvoll. Das darf aber nicht dazu führen, den Fonds
wird. Das wird die Anleger nicht freuen; denn die Volati- Verwaltungsaufgaben aufzubürden, die am Ende ihre
lität der Verkehrswerte von Immobilien ist gering, die Rentabilität gefährden.
Kosten dieser Bewertungen sind hoch und am Ende zah-
len das die Anleger. Ich halte es für sinnvoller, das ein- Ich habe auch nichts dagegen, die liquiden Mittel zu
mal im Jahr zu machen. Das wird der Bewegung, die in erhöhen. Eine Mindestliquiditätsquote von 10 Prozent,
diesem Markt ist, gerecht, ohne dass ein unnötiges Ri- wie von einigen Seiten vorgeschlagen, hätte im aktuellen
siko eingegangen wird. Fall gereicht, wenn die Einschätzung der Deutschen
Bank richtig gewesen wäre. Natürlich kostet das etwas.
Sie wollen, dass die BaFin in Zukunft darüber ent-
scheidet, ob die Annahme von Anteilen ausgesetzt wer- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Rendite!)
den darf oder nicht. Wir haben diese Finanzmarktauf-
sicht zum einen gegründet, um alle Aufsichten über den – Es ist klar, dass das zulasten der Rendite geht. In An-
Finanzmarkt in einer Hand zu haben. Zum anderen soll betracht dessen, was da geschützt werden soll, sollte
dieser Behörde aber auch in einem hoch flexiblen Markt man aber in der Tat darüber nachdenken, ob dieser Vor-
Achtung zukommen. Vor diesem Hintergrund halte ich schlag sinnvoll ist.
es für problematisch, die Kompetenz für alles, was uns
Die schon geübte Kritik an der Einführung eines Hin-
auf dem Finanzmarkt begegnet, dieser Behörde zuzu-
weises auf die Möglichkeit eines Totalverlustes teile
schieben. Dem ehemaligen Arbeitsamt, der heutigen
ich. Wir haben die Pflicht zu diesem Hinweis in einigen
Bundesagentur für Arbeit, haben wir über Jahre hinweg
Bereichen eingeführt, zum Beispiel bei den Hedge-
Verantwortlichkeiten zugeschoben und uns dann gewun-
Fonds, wo er absolut angemessen ist. Wir entwerten die
dert, dass da nicht mehr viel funktionierte. Ich denke,
Bedeutung, die ein solcher Hinweis für die Kunden hat,
das darf sich bei der BaFin nicht wiederholen. Die BaFin
wenn wir ihn überall da zur Pflicht machen, wo ein Ri-
kann einen aktuellen Einzelfall wahrscheinlich nicht in
siko bestehen könnte. Schließlich versichern Sie sich,
(B) der Geschwindigkeit prüfen, in der das nötig wäre. Ab- wenn Sie auf einem Berg wohnen, auch nicht gegen (D)
gesehen davon würde sich so die Aufmerksamkeit der
Hochwasser. Wir würden also den Anlegern das Gefühl
Öffentlichkeit auf die Aufsicht lenken und nicht auf das
eines Risikos vermitteln, welches es bei diesem Anlage-
eigentliche Unternehmen, das die Schließung eines
produkt definitiv nicht gibt. Anders als etwa bei Aktien
Fonds plant. Umgekehrt kann die BaFin jedoch, wenn
wäre die Möglichkeit eines Totalverlustes bei Immo-
eine Schließung notwendig sein sollte, diese anordnen
bilien ja nur dann gegeben, wenn ihr Wert auf null sin-
bzw. nach einer Prüfung verlangen, dass die Anteile zu-
ken würde, was absolut unwahrscheinlich ist. Das ist
rückgenommen werden. Bei Ihrem Antrag hat man den
also kein adäquates Mittel, um auf die bei Immobilien-
Eindruck, dass die Aussetzung des Anteilshandels im
fonds bestehenden Risiken hinzuweisen. Außerdem
Ermessen der Kapitalgesellschaft liegt. Das ist nicht der
würden wir, wenn wir diesen Begriff, den wir als Warn-
Fall. Hierfür wurde schon längst eine gesetzliche Rege-
signal bisher gut im Aktienrecht eingeführt haben, hier
lung geschaffen, auf die die BaFin zurückgreifen kann
verwenden würden, auch Leute verwirren, die zu einem
und auf die sich die Anleger und Anlegerinnen verlassen
Produkt greifen wollen, wo wirklich der Totalverlust als
können.
Gefahr drohen kann und dieser Hinweis angebracht ist.
Auch ich finde, dass die Privatanleger gegenüber den Insgesamt greift Ihr Antrag die richtigen Themen auf,
Großanlegern und den institutionellen Anlegern gestärkt allerdings, wie ich finde, zum falschen Zeitpunkt. Wir
werden müssen, gerade vor dem Hintergrund, dass of- müssen jetzt einmal abwarten, wie es bei der Deutschen
fene Immobilienfonds als Tagesgeldanlage genutzt wer- Bank weitergeht. Ich finde, diese Gelassenheit sollten
den bzw. innerhalb kurzer Zeit Geld hineingepumpt und wir haben. Wir werden uns aber im Laufe dieses Jahres
dann wieder abgezogen wird. Deswegen ist die Überle- damit auseinander setzen, wie wir die Regeln, die von
gung, Kündigungsfristen von zwölf Monaten oder län- den Kolleginnen und Kollegen hier schon aufgegriffen
ger einzuführen, legitim. Wir müssen im Einzelfall noch und besprochen worden sind, zur Grundlage machen
einmal bereden, was da zweckmäßig ist. Ich denke aber, können, um die gesetzlichen Bestimmungen so zu ge-
dass der Vorschlag generell sinnvoll ist. Für problema- stalten, dass wir das Vertrauen, aber auch die Sicherheit
tisch halte ich es allerdings, die Rücknahmeabschläge der Anleger stärken. Für den Anleger muss klar werden:
analog zur Haltedauer festzusetzen, wie es in Ihrem An- Wo lege ich mein Geld an, wie hoch ist mein Risiko und
trag vorgeschlagen wird. Stellen Sie sich das einmal vor welchen Entscheidungen auf Unternehmensebene
ganz real vor: Die Pflicht, bei anonymen Anlagen werde ich als Anleger geschützt?
– schließlich kann ja im Regelfall gar nicht nachvollzo-
gen werden, wem welcher Anteil in welcher Höhe ge- Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1745
Nina Hauer
(A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Ute Kumpf [SPD]: Jetzt haben wir eine Vorle- (C)
sung!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol- Gemeint ist aber nicht die Sache mit der „schöpferischen
lege Dr. Herbert Schui von der Fraktion Die Linke das Zerstörung“, woran die Fatalisten sehr gerne glauben,
Wort. sondern seine etwas apodiktische Feststellung: Die
Bourgeoisie braucht ihren Herrn.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Be- Bis zu Schumpeter hat es Kollege Spiller, der finanz-
kanntlich ist es für die Linke nicht das politische Ziel politische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, noch
Nummer eins, das Geldvermögen der Anleger bei Im- nicht gebracht, auch nicht die letzte SPD-geführte Re-
mobilienfonds zu schützen. gierung. Kollege Spiller setzt auf Eigenverantwortung
der Institute, so das „Handelsblatt“ im Januar. Ähnlich
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Meister von der CDU/CSU, der in der gleichen
NEN]: Für Kleinanleger! – Leo Dautzenberg Zeitungsmeldung darauf baut, dass die Fondswirtschaft
[CDU/CSU]: Es sei denn, es geht um das PDS- selbst aktiv wird. Ob die Regierung weiterhin den Über-
Vermögen!) blick behält, ist offen; ich wünsche es. Immerhin haben
sich die Staatssekretäre Frau Hendricks und Herr Mirow
– Das ist unglücklicherweise nicht mein Vermögen. Ich für einen Eingriff des Gesetzgebers ausgesprochen.
habe als Mitglied der WASG auf der Liste der Linkspar-
tei kandidiert Weniger emphatisch formuliert als bei Schumpeter:
Der Staat muss Gegenpol zur Privatwirtschaft sein; sonst
(Zuruf des Abg. Christian Freiherr von Stetten
kann weder die Privatwirtschaft noch der Staat funktio-
[CDU/CSU])
nieren. Das ist der entscheidende Punkt. Infolgedessen
– ja, Herr Kollege Mittelbänkler –, sonst würde ich na- müssen wir, wenn wir ein solches Gesetz machen, über-
türlich höhere Nebeneinkommen angeben. legen, was zweckmäßig ist, und dürfen uns nicht durch
Zurufe aus der entsprechenden Branche aus der Balance
Wichtig ist die Sache natürlich insofern, als Kleinst- bringen lassen. Aber dazu gleich noch ein paar kleine
anleger betroffen sein könnten. Wichtig ist sie vor allen Bemerkungen.
(B) Dingen deswegen, weil eine Krise des Finanzsektors, die (D)
bei den Immobilienfonds ihren Anfang nehmen könnte, Eine konkrete Frage zum Antrag der Grünen ist:
sehr rasch Wirkungen auf den realen Sektor der Wirt- Wenn die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
schaft, auf Beschäftigung und Wachstum haben könnte. sicht im beginnenden Katastrophenfall die Liquidierung
von Fondsanteilen durch die Anleger aussetzen soll,
Auch wenn die Gefahr in Bezug auf den aktuellen Im- dann benötigt sie umfassende Informationen, um einer-
mobilienfonds einigermaßen gebannt zu sein scheint, seits nicht unnötig zu handeln und die sprichwörtlichen
machen wir uns nichts vor: Viele Immobilien in diesen Pferde nicht scheu zu machen und um andererseits stets
Fonds haben effektiv einen wesentlich geringeren Wert, dann zur Stelle zu sein, wenn alle anderen Mittel nicht
als das bei der Analyse der Bilanzen prima facie der Fall mehr greifen. Die notwendigen Informationen aber sind
zu sein scheint. nur zu haben, wenn die Fonds, die Unternehmen des
Die Maßnahmen, die der Antrag von Bündnis 90/Die Finanzsektors, einige wesentliche Geheimnisse, sozusa-
Grünen vorschlägt, sind meiner Auffassung nach ein gen Bankgeheimnisse, preisgeben. Werden sie dazu be-
Weg in die richtige Richtung. Die Ultima Ratio im An- reit sein, auch wenn das im wohlverstandenen Branchen-
trag der Grünen allerdings soll, wenn ich das richtig de- interesse liegt? Sicherlich kann das Gesetz sie dazu
chiffriert habe, darin bestehen, die Liquidierung von zwingen.
Fondsanteilen seitens der Anleger durch administrative
Maßnahmen zeitweise zu unterbinden. Eine flankierende Maßnahme wäre, den Fonds für
Zeiten einer bevorstehenden tiefen Krise Diskontmög-
Wenn ein solcher Antrag in den Bundestag einge- lichkeiten zu eröffnen, damit sie sich die erforderliche
bracht wird, dann wird eines deutlich: Die Privatwirt- Liquidität bei anhaltendem Abfluss von Einlagen ver-
schaft, im vorliegenden Fall vertreten durch die Immobi- schaffen können. Das aber dürfte politisch voraussetzen,
lienfonds, braucht einen regulierenden Staat. Die dass die Europäische Zentralbank mitspielt. Die aber ist
Autonomie der Unternehmer, der Erfindungsreichtum unpraktisch veranlagt, wie das auch die Bundesbank
und die Freiheit des Marktes müssen beschränkt werden, beim Börsenkrach im September 1987 war. Sie erinnern
um die Stabilität der Privatwirtschaft zu verbessern und sich: Greenspan, der damals ins Amt gekommen war,
die Existenz ganzer Geschäftszweige zu sichern. ließ durch seine Leute die Bundesbank als „Inflations-
Spontan ist man da an eine Bemerkung von Joseph neurotiker“ beschimpfen, weil die Bundesbank im Rah-
Schumpeter in „Kapitalismus, Sozialismus und Demo- men eines konditionierten Reflexes beim Verfall der
kratie“ erinnert. Börsenkurse den Zins erhöht hat.
1746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)


Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, dass Sie damit
nicht mehr beginnen können. Sie haben Ihre Redezeit
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
wirklich überschritten. Ich war schon großzügig.
Danke, für den Hinweis.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Gut. – Dann danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksam-
Aber nur heute!) keit und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Ver-
– Danke. gessen Sie nicht, das Licht auszumachen!
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
Weiter flankierende Maßnahmen – –
FDP: Das machen Sie!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Herr Kollege, das bedeutet, dass Sie zum Schluss Ich schließe die Aussprache.
kommen müssen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/661 an die in der Tagesordnung aufge-
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Gerne. Auch ich will nach Hause, Frau Präsidentin. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und sen.
der FDP) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Darum geht es allerdings nicht. destages auf morgen, Freitag, den 10. März 2006, 9 Uhr,
ein.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):
Die Sitzung ist damit geschlossen.
Es gäbe schon noch einige flankierende Möglichkei-
ten. Stellen Sie sich vor, es gäbe weniger Spekulation. (Schluss: 19.57 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2006 1747

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 09.03.2006 Kramer, Rolf SPD 09.03.2006


DIE GRÜNEN
Krichbaum, Gunther CDU/CSU 09.03.2006
Albach, Peter CDU/CSU 09.03.2006
Kunert, Katrin DIE LINKE 09.03.2006
Amann, Gregor SPD 09.03.2006
Lips, Patricia CDU/CSU 09.03.2006
Andres, Gerd SPD 09.03.2006
Mogg, Ursula SPD 09.03.2006
von Bismarck, Carl CDU/CSU 09.03.2006
Eduard Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 09.03.2006
DIE GRÜNEN
Dr. Botz, Gerhard SPD 09.03.2006
Müller-Sönksen, FDP 09.03.2006*
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 09.03.2006 Burkhardt
DIE GRÜNEN
Pflug, Johannes SPD 09.03.2006
Fograscher, Gabriele SPD 09.03.2006
Rachel, Thomas CDU/CSU 09.03.2006
Gabriel, Sigmar SPD 09.03.2006
Reichel, Maik SPD 09.03.2006
(B) Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 09.03.2006 (D)
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 09.03.2006
Dr. Geisen, Edmund FDP 09.03.2006
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 09.03.2006
Gleicke, Iris SPD 09.03.2006
Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 09.03.2006
Granold, Ute CDU/CSU 09.03.2006
Stünker, Joachim SPD 09.03.2006
Heinen, Ursula CDU/CSU 09.03.2006
Weisskirchen SPD 09.03.2006
Hilsberg, Stephan SPD 09.03.2006 (Wiesloch), Gert

Homburger, Birgit FDP 09.03.2006


* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 09.03.2006 sammlung des Europarates
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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