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Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/147

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

147. Sitzung

Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Inhalt:

Zusatztagesordnungspunkt 7: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-


brachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
geschlechtergerechten Besetzung
Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat
von Aufsichtsräten
am 9. Dezember 2011 in Brüssel . . . . . . . . . 17567 B
(Drucksache 17/3296) . . . . . . . . . . . . . 17590 A
Dr. Angela Merkel,
Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17567 B – Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 17571 D (Drucksache 17/6527) . . . . . . . . . . . . . 17590 A
Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17574 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 17576 D Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab-
geordneten Christel Humme, Caren
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17579 B Marks, Petra Crone, weiterer Abgeordne-
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion der SPD: Quotenre-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17581 B gelung für Aufsichtsräte und Vor-
stände gesetzlich festschreiben
Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 17583 B (Drucksachen 17/4683, 17/6527) . . . . . . . 17590 B
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17584 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 17585 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17590 B
Stefan Müller (Erlangen) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . . 17592 A
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17586 D Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17594 B
Dr. Andreas Schockenhoff Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17596 C
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17588 B
Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17597 D

Tagesordnungspunkt 34: Elisabeth Winkelmeier-Becker


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17599 A
a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast,
Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17601 A
geordneter und der Fraktion BÜND- Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 17602 C
NIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichberech-
tigte Teilhabe von Frauen in Führungs- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 17604 C
positionen umsetzen Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/7953) . . . . . . . . . . . . . . . . 17589 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17605 D
b) – Zweite und dritte Beratung des von Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17606 D
den Abgeordneten Renate Künast,
Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiteren Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Abgeordneten und der Fraktion DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17608 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17608 C Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17631 C


Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17609 D Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17632 C
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17611 B Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17633 D
Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17611 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17634 A
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17634 B
Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . 17611 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17634 C
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17613
. . . . . D,
. 17616 A Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17635 C
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17636 C
Tagesordnungspunkt 33:
– Zweite und dritte Beratung des von der Tagesordnungspunkt 35:
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs a) Beschlussempfehlung und Bericht des
eines Gesetzes zur Änderung des Rechts Ausschusses für Menschenrechte und
der Verbraucherinformation Humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung
(Drucksache 17/7374) . . . . . . . . . . . . . . . . 17612 A durch die Bundesregierung: Neunter Be-
richt der Bundesregierung über ihre
– Beschlussempfehlung und Bericht des Menschenrechtspolitik in den auswärti-
Ausschusses für Ernährung, Landwirt- gen Beziehungen und in anderen Poli-
schaft und Verbraucherschutz tikbereichen
(Drucksache 17/7993) . . . . . . . . . . . . . . . . 17612 A (Drucksachen 17/2840, 17/3110 Nr. 2,
Ilse Aigner, Bundesministerin 17/7941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17638 A
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17612 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 17618 A Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe zu der Unterrichtung:
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17619 B Menschenrechte und Demokratie in der
Welt – Bericht über die Maßnahmen
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17620 D der EU – Juli 2008 bis Dezember 2009 –
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . 17621 D Ratsdok. 8363/10 – (Folgedokument)
(Drucksachen 17/315 Nr. A.4, 17/4522) 17638 A
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17622 B Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17638 B
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 17639 B
Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17623 B
Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17640 C
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17624 D
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 17642 A
Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17626 B Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17627 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17643 A

Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17627 D Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17643 D


Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17644 D
Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 17646 A
Tagesordnungspunkt 36:
a) Antrag der Fraktion der SPD: Recht auf
ein Guthabenkonto einführen – Konto- Tagesordnungspunkt 38:
pfändungsschutz sichern Beschlussempfehlung und Bericht des
(Drucksache 17/7823) . . . . . . . . . . . . . . . . 17628 B Rechtsausschusses
b) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger, Lay, Harald Koch, Dr. Axel Troost, weite-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbrau- LINKE: Zinssätze für Dispositions- und
cherrecht auf Basisgirokonto für jeder- Überziehungskredite verbraucherge-
mann gesetzlich verankern recht deckeln
(Drucksache 17/7954) . . . . . . . . . . . . . . . . 17628 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 17628 C Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17630 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 III

Verbraucherinnen und Verbraucher – Beschlussempfehlung zu dem Antrag:


vor überhöhten Überziehungszinsen Quotenregelung für Aufsichtsräte und
schützen Vorstände gesetzlich festschreiben
(Drucksachen 17/2913, 17/3059, 17/3586) . . 17648 A (Tagesordnungspunkt 34) . . . . . . . . . . . . . . . . 17657 B
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 17648 A
Anlage 5
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 17648 D
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17649 C
Ingrid Fischbach, Frank Heinrich, Ewa
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 17650 C Klamt, Katharina Landgraf und Sabine Weiss
(Wesel I) (alle) CDU/CSU) zu den namentli-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ chen Abstimmungen:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17651 B
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechter-
gerechten Besetzung von Aufsichtsräten
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17652 D
– Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
Berichtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17653 A Quotenregelung für Aufsichtsräte und
Vorstände gesetzlich festschreiben
(Tagesordnungspunkt 34) . . . . . . . . . . . . . . . . 17657 D
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17655 A
Anlage 6

Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf


eines Gesetzes zur Neuordnung der landwirt-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten schaftlichen Sozialversicherung (LSV-Neu-
Sibylle Laurischk (FDP) zur namentlichen ordnungsgesetz – LSV-NOG) (Tagesord-
Abstimmung über den Entwurf eines Geset- nungspunkt 37)
zes zur geschlechtergerechten Besetzung von
Aufsichtsräten (Tagesordnungspunkt 34) . . . . 17656 B Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 17658 B
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 17659 C
Anlage 3 Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17660 D

Erklärungen nach § 31 GO zu den nament- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 17662 B
lichen Abstimmungen: Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . 17663 A
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechter- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
gerechten Besetzung von Aufsichtsräten DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17664 A
– Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
Quotenregelung für Aufsichtsräte und Anlage 7
Vorstände gesetzlich festschreiben
Zu Protokoll gegebene Reden zu den Anträ-
(Tagesordnungspunkt 34) gen:
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 17656 D – Zinssätze für Dispositions- und Überzie-
Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . 17656 D hungskredite verbrauchergerecht deckeln
– Verbraucherinnen und Verbraucher vor
überhöhten Überziehungszinsen schützen
Anlage 4
(Tagesordnungspunkt 38)
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 17664 D
Dr. Christel Happach-Kasan, Christine
Aschenberg-Dugnus, Gudrun Kopp und Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17665 B
Dr. Birgit Reinemund (alle FDP) zu den na-
mentlichen Abstimmungen:
Anlage 8
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechter-
gerechten Besetzung von Aufsichtsräten Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17665 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17567

(A) (C)

147. Sitzung

Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Dazu wird Herman Van Rompuy als Präsident des
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Europäischen Rates Vorschläge vorlegen. Natürlich kön-
nen wir heute diese Vorschläge nicht debattieren. Wir
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich können ihm nicht vorgreifen. Das wird auch jeder ver-
begrüße Sie herzlich und darf Ihnen zu Beginn unserer stehen. Aber ich glaube, wir können trotzdem sehr klar
Sitzung gleich die erfreuliche Mitteilung machen, dass sagen: Was werden die Leitlinien, was werden die Ziele
der Zusatzpunkt 8, die von der Fraktion Die Linke ur- sein, die wir in der nächsten Woche verfolgen? Die Leit-
sprünglich verlangte Aktuelle Stunde zu deutschen Rüs- linien und die Ziele, mit denen die Bundesregierung und
tungsexporten, von der Tagesordnung abgesetzt wird. auch ich persönlich in den Rat gehen, können wir heute
Können Sie damit leben? Morgen ausführlich und konkret beraten.
(Jörg van Essen [FDP]: Schwer, Herr Präsi-
dent!) Die Bundesregierung hat stets deutlich gemacht, dass
die europäische Schuldenkrise nicht mit einem einzigen
(B) – Schwer, aber ich stelle dazu Einvernehmen fest. Dann Befreiungsschlag über Nacht zu lösen ist. Es gibt diesen (D)
ist das so beschlossen. einen Befreiungsschlag, den einen Paukenschlag nicht.
Dann kommen wir gleich zu dem vereinbarten Zu- Es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen, schon
satzpunkt 7: gar nicht, wie manche vor jedem Gipfel sagen, den an-
geblich letzten Schuss. Weder ist das meine Sprache
Abgabe einer Regierungserklärung durch die noch mein Denken.
Bundeskanzlerin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zum Europäischen Rat am 9. Dezember 2011
in Brüssel Die Bewältigung der Staatsschuldenkrise ist ein Prozess.
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Frak- Dieser Prozess wird Jahre dauern.
tion Die Linke vor.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für NEN]: Der Weg ist das Ziel!)
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei- Wie ist die Lage heute, eine Woche vor dem nächsten
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs? Ei-
nerseits haben wir es mit der schwersten Krise seit Ein-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat führung des Euros, wenn nicht sogar in der Geschichte
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. der europäischen Einigung zu tun. Wir können das in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den täglichen Nachrichten verfolgen. Andererseits ist es
nicht übertrieben, festzustellen, dass wir bereits außeror-
dentlich viel geschafft haben. Der Blick dafür scheint in
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: diesen Tagen angesichts der täglichen Meldungen etwas
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit verstellt, aber ich bin zutiefst davon überzeugt.
Beginn der Krise im Euro-Raum tritt die Bundesregie-
rung dafür ein, die akute Krise zu bewältigen und gleich- Erstens. Es herrscht in ganz Europa Einigkeit über die
zeitig die notwendigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Ursachen der Krise. Das war bei weitem nicht immer so.
Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um Heute gibt es darüber überhaupt keine Diskussionen
eine Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ge- mehr.
nau dies, die nachhaltige Stärkung der Wirtschafts- und
Währungsunion, wird das zentrale Thema des Europäi- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schen Rates in der kommenden Woche sein. Na ja!)
17568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Zweitens. Es herrscht in ganz Europa Einigkeit, dass im Euro-Raum zwar mit einer Staatsschuldenkrise zu tun (C)
genau diese Ursachen bekämpft werden müssen, um die haben, vor allem aber auch mit einer Vertrauenskrise.
Krise zu überwinden und nicht von einer Krise in die
Es gibt zwei Institutionen, in die das Vertrauen in die-
nächste zu kommen, die dann noch schlimmer wäre als
ser ganzen Zeit weitestgehend unangetastet geblieben ist,
die davor. An dieser Stelle ist es mir wichtig, dass wir
deren Glaubwürdigkeit unverändert hoch ist. Das sind
uns einmal vor Augen führen, was schon alles passiert
zum einen die Gerichte – in Deutschland das Bundesver-
ist. Das bedeutet natürlich auch, dass wir uns vor Augen
fassungsgericht, in Europa der Europäische Gerichtshof –
führen, welche Aufgaben die Menschen in Spanien, in
und zum anderen die Notenbanken, die nationalen Noten-
Portugal und vor allem in Griechenland zu lösen haben.
banken sowie die Europäische Zentralbank.
Ich füge allerdings hinzu – das wird noch weniger be-
achtet –: auch diejenigen, die zum Teil nicht zum Euro- Es ist höchstes Gut unserer Demokratie, die Glaub-
Raum gehören, die baltischen Staaten, Bulgarien und würdigkeit und die Vertrauenswürdigkeit dieser beiden
Rumänien, wenn man bedenkt, welche Opfer dort von Institutionen, der Gerichte wie der Notenbanken, zu
den Menschen verlangt werden. schützen und zu wahren.
Ich glaube, wir machen uns oft keine Vorstellung da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von – das können wir vielleicht auch gar nicht –, wel-
Das geht, indem man ihr Wesen, also ihre Unabhängig-
chen Beitrag die Menschen in den Ländern, die ich ge-
keit, achtet, und zwar in jede Richtung.
nannt habe, dazu leisten, dass der Euro eine dauerhafte
und stabile Währung wird. Deshalb möchte ich heute (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-
noch einmal meine absolute Hochachtung vor diesen Be- NIS 90/DIE GRÜNEN])
mühungen ausdrücken. Denn das ist ein Beitrag zu ei-
nem zukunftsfähigen Europa, meine Damen und Herren. Deshalb werde ich auch in Zukunft nichts von dem kom-
mentieren, was nationale wie auch europäische Gerichte
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und nationale Notenbanken wie auch die Europäische
bei Abgeordneten der SPD) Zentralbank tun oder lassen. Allerdings ist es natürlich
wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen: Die Aufgabe
Drittens. Auf dem Weg, die Ursachen der Krise zu be-
der Europäischen Zentralbank ist eine andere als die der
kämpfen und sie damit auch überwinden zu können, sind
Fed in den Vereinigten Staaten von Amerika und bei-
wir in Europa bereits extrem weit vorangekommen. Wer
spielsweise der Bank of England.
vor einigen Monaten gesagt hätte, dass wir Ende des
Jahres 2011 sehr ernsthafte und sehr konkrete Schritte (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aha, doch! –
auf dem Weg zu einer europäischen Stabilitätsunion, ei- Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/
(B) ner europäischen Fiskalunion und Durchgriffsrechten in CSU]: Ist das für Sie neu?) (D)
Europa einleiten, der wäre damals noch für verrückt ge-
halten worden. Jetzt steht genau dies auf der Tagesord- – Da brauchen Sie gar nicht „aha“ zu sagen. Das ist in
den Verträgen festgeschrieben. Die Aufgabe heißt, die
nung.
Geldwertstabilität zu sichern. Genau das tut die Europäi-
Wir stehen kurz davor. Es gibt noch Schwierigkeiten sche Zentralbank; davon bin ich zutiefst überzeugt.
zu überwinden, keine Frage. Aber die Notwendigkeit ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
weitgehend anerkannt.
Den Gerichten und der Zentralbank steht ein Bereich
Wir reden nicht mehr nur über eine Fiskalunion, son-
gegenüber, bei dem in dieser Krise offenkundig gewor-
dern wir fangen an, sie zu schaffen. Ich glaube, das ist
den ist, dass er leider nahezu jedes Vertrauen verspielt,
nicht hoch genug einzuschätzen. Marathonläufer erzäh-
verwirkt und fast zerstört hat, und zwar über Jahre hin-
len oft, dass ein Marathonlauf ungefähr ab Kilometer 35
weg. Das ist – das müssen wir so schonungslos sagen –
besonders anstrengend und schwer werde. Aber sie sa-
die Politik.
gen auch, dass die ganze Strecke geschafft werden kann,
wenn man sich von Beginn an der Größe der Aufgabe Das begann erstens mit der Gründung der Wirt-
voll bewusst ist und die ganze Aufgabe entsprechend an- schafts- und Währungsunion selbst, als Konstruktions-
geht. fehler zugelassen wurden, die die Euro-Gruppe erst
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) schleichend und dann immer offenkundiger eingeholt
haben und jetzt mit voller Wucht einholen. Das geschah
Nicht der, der am schnellsten beginnt, ist zwangsläufig gewiss nicht mit böser Absicht, aber es ist eine Tatsache,
der Erfolgreichste, sondern der, der weiß, was insge- die nicht zu leugnen ist.
samt, also für die ganze Strecke, zu beachten ist.
Zweitens hat die Politik über die Jahre Vertrauen ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spielt, weil sie schon seit Gründung der Wirtschafts- und
Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aber wenn man Währungsunion die Prinzipien, die im Stabilitäts- und
am Anfang stehen bleibt, kann man es auch Wachstumspakt vorgesehen waren, nicht oder nicht voll-
nicht schaffen! Man muss mindestens starten!) ständig angewandt oder gar aufgeweicht hat. Dass wir
alle in Europa uns jetzt entschlossen haben, endlich da-
Wir haben bereits so viel geschafft, wie wir uns das
mit aufzuhören, das ist die wichtige, ermutigende Zwi-
noch vor einigen Monaten nicht haben vorstellen kön-
schenbilanz, die wir heute ziehen können.
nen. Um jetzt noch weiter voranzukommen, müssen wir
uns dem Kern der Krise stellen: der Einsicht, dass wir es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17569
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Denn, meine Damen und Herren, wir streiten und rin- schlechtzureden, sondern wir sollten mit realistischem (C)
gen in Europa um Einzelheiten, aber nicht mehr um das Blick mit der EFSF das machen, was möglich ist, und
Ganze, nicht mehr darum, dass die Politik zur dauerhaf- dazu haben wir hier in diesem Hause ausführlich bera-
ten Überwindung der Schuldenkrise das wiederherstel- ten.
len muss, was sie selbst infrage gestellt hat: ihre Glaub-
würdigkeit und ihre Vertrauenswürdigkeit. Sie muss das Weil die gegenwärtige Krise im Euro-Raum vor allem
tun, indem sie zum einen endlich Wege findet, bereits eine Vertrauenskrise ist, müssen wir neben der Bekämp-
beschlossene Maßnahmen einzuhalten und umzusetzen, fung der Ursachen dieser Krise – zu hohe Staatsver-
und indem sie zum anderen über Veränderungen der schuldung, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger
Grundlagen der Zusammenarbeit, zum Beispiel Ver- Euro-Staaten – die grundlegenden Mängel in der Kon-
tragsänderungen, bereit ist, in Europa eine Fiskalunion struktion der Wirtschafts- und Währungsunion beseiti-
mit starken Durchgriffsrechten zu schaffen, zumindest gen. Wenn wir das machen, dann zeigen wir im Übrigen,
im Euro-Raum. dass wir nicht nur die Mühen der Krise sehen, sondern
diese Krise vor allem als eine Wende zum Guten, als
Die Einhaltung bereits beschlossener Maßnahmen gilt eine Chance zur Umkehr begreifen und dass wir tatsäch-
aktuell für die Gipfelbeschlüsse vom 26. Oktober 2011. lich aus ihr lernen. Das sind ja ganz einfache Lehren:
Ziel des Ende Oktober 2011 im Deutschen Bundestag Regeln müssen eingehalten werden; ihre Einhaltung
mit großer Mehrheit geschnürten Pakets ist es, eine trag- muss kontrolliert werden; ihre Nichteinhaltung muss
fähige Lösung für Griechenland zu schaffen und zu ver- Konsequenzen haben. Nationale Eigenverantwortung
hindern, dass die Krise auf andere Euro-Staaten über- und europäische Solidarität bedingen einander.
greift. Die Finanzminister konnten dabei Anfang der
Woche wichtige Fortschritte erzielen. Die neue Regie- Meine Damen und Herren, um dies alles vorzuberei-
rung in Griechenland hat sich parteiübergreifend dazu ten, findet in diesen Tagen eine Vielzahl von Gesprächen
verpflichtet, das vereinbarte Reformprogramm umzuset- statt. Heute Mittag ist der österreichische Bundeskanzler
zen. Damit war der Weg für die Auszahlung der sechsten bei mir. Mit nahezu allen Kollegen werde ich telefonie-
Tranche frei geworden. ren, natürlich genauso mit dem Präsidenten des Rates
und dem Präsidenten der Kommission. Der französische
Jetzt geht es darum, möglichst bis Ende des Jahres das Präsident hat gestern eine wichtige Rede gehalten. Wir
neue Programm auch wirklich zu verhandeln. Das werden uns Montag abstimmen, mit welcher Haltung
schließt die Beteiligung des Privatsektors mit ein. Ich wir zum Rat fahren.
will daran erinnern, dass wir in der Sitzungswoche vor
den Sommerferien zum ersten Mal im Grundsatz darüber Wir haben vieles erreicht. Wir haben das Defizitver-
abgestimmt haben, dass wir ein neues Griechenland-Pro- fahren verbessert, soweit dies im Rahmen der geltenden
(B) gramm brauchen. Jetzt nähern wir uns der letzten Sit- Verträge möglich war. Sie erinnern sich an das soge- (D)
zungswoche vor Weihnachten, und ich finde, es ist nicht nannte Sixpack, das wir hier beschlossen haben. Aber
zu viel verlangt, dass jetzt endlich alle Akteure versu- wir müssen, um wirklich Vertrauen zu bekommen, da-
chen, dieses neue Programm zu verhandeln. rüber hinausgehen. Dort, wo wir heute Referenzwerte
haben, brauchen wir künftig rechtsverbindliche Grenz-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werte. Politischen Spielraum, wenn es darum geht, fest-
Auch Italien packt die großen Herausforderungen an zustellen, ob diese Grenzwerte verletzt worden sind oder
und stellt sich damit als drittgrößte Wirtschaftsnation nicht, darf es nicht mehr geben. Es muss wirkliche Auto-
Europas seiner Verantwortung für seine eigene gute Zu- matismen geben.
kunft genauso wie für die Zukunft der Euro-Zone insge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
samt.
Nur so kann Vertrauen, das sechzigmal verletzt wurde,
Auf dem Europäischen Rat am 26. Oktober 2011 ha- wiedergewonnen werden.
ben wir außerdem beschlossen, dass systemrelevante
Banken mehr Eigenkapitalpuffer vorhalten müssen. Das Euro-Staaten sollen bei der Überwindung ihrer
ist notwendig, um das Vertrauen in die Stabilität des eu- Schwierigkeiten künftig enger begleitet und wirkungs-
ropäischen Bankensektors zu stärken. Auch hier hoffe voller unterstützt werden. Gleichzeitig brauchen wir ef-
ich, dass die europäische Bankenaufsicht die Entschei- fektive Antworten auf fortgesetzte Regelverstöße, damit
dung jetzt schnell verkündet, damit auch in diesem Be- wir im Interesse aller eine verantwortungsvolle Haus-
reich Sicherheit entsteht. haltsführung durchsetzen können. Dabei müssen die eu-
ropäischen Institutionen, vor allem die Europäische
Vorgestern haben die EU-Finanzminister darüber hi-
Kommission und der Europäische Gerichtshof, eine
naus Grundsätze einer koordinierten Vergabe von Liqui-
wichtige Rolle spielen. Das geht, ohne dass der Deutsche
ditätsgarantien für Banken beschlossen; denn nur wenn
Bundestag seine Haushaltshoheit verliert. Denn es geht
die Refinanzierung von Banken sichergestellt ist, kann
darum, Regeln, die wir uns selbst gegeben haben, einzu-
der Bankensektor die Wirtschaft auch ausreichend mit
halten. Die automatischen Sanktionen bzw. die automati-
Krediten versorgen.
schen Durchgriffsrechte wirken nur dann, wenn genau
Die Verabschiedung der Leitlinien für die EFSF ein- diese Regeln verletzt werden. Was innerhalb des ge-
schließlich ihrer Schlagkraft ermöglicht es uns, die meinsam vereinbarten europäischen Rahmens geschieht,
Wirksamkeit des Euro-Rettungsschirms deutlich zu er- wird natürlich auch weiterhin jedem Mitgliedstaat selbst
höhen. Auch hier sage ich: Ich rate uns nicht, die EFSF vorbehalten sein.
17570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Glaubwürdige Durchgriffsrechte sind von einer ge- sächlich durchsetzen können, und zwar ohne Wenn und (C)
meinsamen europäischen Kontrolle über nationale Ein- Aber. Neben der Forderung nach wirksamen Durch-
nahmen und Ausgaben zu unterscheiden; ich will das griffsrechten tritt die Bundesregierung dazu auch für ein
hier ausdrücklich sagen. Solange das so ist, ist im Übri- Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof ein. Dies ist
gen auch eine gemeinsame Haftung für die Schulden an- umso wichtiger, als die Gerichte – ich sagte es zu Be-
derer nicht denkbar. ginn – neben den Notenbanken die Institutionen sind,
deren Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit wegen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ihrer Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme zu
Genau deshalb erledigt sich jetzt auch eine Diskussion jeder Zeit über jeden Zweifel erhaben waren und sind.
über sogenannte Euro-Bonds. Denn wer immer noch
Zentrales Element der neuen Stabilitätsunion, der Fis-
nicht verstanden hat, dass Euro-Bonds jetzt nicht als
kalunion, soll also eine neue europäische Schuldenbremse
Rettungsmaßnahme gegen die Krise eingesetzt werden
– so kann man es nennen – für die Mitglieder der Euro-
können,
Zone werden. Weitere Elemente müssen hinzukommen:
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir müssen stärkere und besser verzahnte Strukturen in
NEN]: Also später!) der Euro-Zone schaffen. Fehlentwicklungen müssen früh-
zeitig erkannt und korrigiert werden, damit Krisen gar
der hat genau das Wesen dieser Krise nicht verstanden.
nicht entstehen. Mit dem dauerhaften Krisenbewälti-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gungsmechanismus ESM müssen wir ein schlagkräftiges
Haben Sie das schon der CSU erklärt?) Instrument schaffen, das in Notsituationen hilft, Gefähr-
dungen der Stabilität der Euro-Zone insgesamt abzuwen-
– Herr Trittin, vielleicht darf ich es wiederholen: Wir ha-
den. Außerdem müssen wir durch weitere Strukturrefor-
ben nicht die Absicht, und wir sind davon auch entfernt.
men insbesondere auch im Arbeitsrecht der einzelnen
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitgliedstaaten gemeinsame Maßnahmen einleiten, damit
NEN]: Sie haben „nicht die Absicht“! Diese wir wieder zu mehr Wachstum kommen. Denn natürlich
Formulierung kenne ich!) werden die Menschen den Erfolg unserer Bemühungen
auch daran messen, ob die Arbeitslosigkeit zurückgeht.
Es ist auch nach unserem Grundgesetz gar nicht mög- Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist eines der drän-
lich, die Einnahmen und die Ausgaben eines Haushaltes gendsten Themen. Deshalb ist Wachstum auch zum Zwe-
über eine europäische Institution kontrollieren und be- cke der Schaffung von Beschäftigung eines der wichtigen
stimmen zu lassen. Ziele, allerdings nicht auf Pump, sondern durch die not-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wendigen Strukturreformen und vernünftige Investitionen
(B) der FDP) in die Zukunft. (D)
Solange genau dies nicht der Fall ist, haben wir die Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tuation, dass eine gemeinsame Haftung dem nicht ent-
Meine Damen und Herren, mit einem Wort: Wir müs-
sprechen würde. Deshalb erübrigt sich die Diskussion
sen die Fundamente der Wirtschafts- und Währungs-
über Euro-Bonds.
union nachhaltig stärken, wir müssen die Konstruktions-
Stellen wir uns einmal vor, dass es so etwas gäbe, fehler, die sich bei der Gründung der Wirtschafts- und
dass wir Euro-Bonds gar nicht mehr einzuführen brauch- Währungsunion eingeschlichen haben, überwinden und
ten, weil sie von allein entstehen. Das ist ja gerade das die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. Das
Interessante daran. Ziel ist eine Fiskalunion. Zu ihr gehört beides: eine mit
Durchgriffsrechten durchsetzbare Haushaltsdisziplin ih-
(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-
rer Mitglieder und ein wirksames Instrumentarium für
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Krisenfälle. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, die
Deshalb ist die Diskussion jetzt kein Beitrag zur Über- europäischen Verträge zu ändern oder – das wäre die
windung der Krise. zweitbeste Lösung – neue Verträge innerhalb der Euro-
Gruppe zu schaffen. Aber wir gehen – ich will das aus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
drücklich sagen – mit dem Ziel nach Brüssel, Vertrags-
chen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
änderungen durchzusetzen, und zwar in dem Geist, dass
DIE GRÜNEN)
wir eine Spaltung zwischen Euro-Mitgliedstaaten und
– Für die Grünen scheint das unglaublich lustig zu sein. Nicht-Euro-Mitgliedstaaten vermeiden wollen. Das
Für mich ist es absolut logisch. Aber das ist eben der Un- heißt, wir werden es jedem Nicht-Euro-Mitgliedstaat
terschied. freistellen, sich den stärkeren Verbindlichkeiten der
Euro-Zone anzuschließen.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht also darum – das ist ein großer Schritt im Denn eine Spaltung kann niemand wollen. Mehr noch:
Rahmen der Konstruktion der Wirtschafts- und Wäh- Auch die Euro-Gruppe muss offen bleiben für jeden, der
rungsunion –, die Autorität der Institutionen so zu stär- mitmachen will. Danken wir zum Beispiel Polen, das im-
ken, dass sie die vereinbarten europäischen Grenzwerte, mer wieder deutlich gemacht hat: Auch wenn wir den
konkret die Obergrenze von 3 Prozent und den Abbau- Euro noch nicht haben, wollen wir an dieser Stelle trotz-
pfad bei einem Schuldenstand von über 60 Prozent, tat- dem mehr Verpflichtungen eingehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17571
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einer Atmosphäre beigetragen zu haben, in der deutsche (C)
NEN]: Ja!) KFOR-Soldaten im Norden des Kosovo mit Schusswaf-
fen angegriffen und verletzt worden sind. Ich sage: Das
Polen ist zum Beispiel auch Mitglied des Euro-Plus-
ist nicht akzeptabel.
Pakts und hat in Gesprächen, die wir kürzlich geführt ha-
ben, wieder deutlich gemacht, dass es sich genau auf die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
sen Weg der Stabilitätsunion hinbewegen will. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Unsere Leitlinien für den Rat in der nächsten Woche
sind also klar. Aber – das ist mir heute Morgen auch Unsere Soldaten leisten dort einen großartigen Dienst,
wichtig zu sagen – sie haben nichts mit manchen Ängs- und für diesen Dienst sind wir ihnen dankbar.
ten, Sorgen oder Vorhaltungen zu tun, die man momen-
Europa befindet sich mitten in seiner wohl schwersten
tan lesen oder hören kann, dass Deutschland Europa do-
Bewährungsprobe. Als deutsche Bundeskanzlerin werde
minieren oder Ähnliches wolle. Das ist abwegig. Wir
ich, genauso wie die ganze Bundesregierung, alles dafür
treten – das ist allerdings richtig – für eine bestimmte
tun, dass Europa stärker aus dieser Bewährungsprobe
Stabilitäts- und Wachstumskultur ein, aber wir tun dies
hervorgeht, als es in sie hineingegangen ist. Zu viel steht
im europäischen Geiste Konrad Adenauers und Helmut
auf dem Spiel, gerade für Deutschland und die Deut-
Kohls.
schen. Trotz aller Turbulenzen, die wir in jüngster Zeit
(Joachim Poß [SPD]: Ob Kohl das nicht an- erlebt haben: Der Euro hat sich bewährt. Er ist stabil, er
ders gemacht hätte?) ist wertbeständiger, als es die D-Mark war, und als Ex-
portnation profitiert Deutschland in besonderem Maße
Deutsche und europäische Einigung waren und sind vom Euro. Aber der Euro ist eben auch weit mehr als nur
zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das werden wir eine Währung; denn mit der Wirtschafts- und Währungs-
nie vergessen. union haben wir eine neue Stufe der Integration in Eu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ropa erklommen. Der Euro steht für den Willen Europas,
seine innere Entwicklung zu festigen und sich den He-
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in diesen rausforderungen der heutigen Zeit und der Globalisie-
Tagen, in denen der Euro fast täglich im Mittelpunkt der rung gemeinsam zu stellen. Die Zukunft des Euro ist
Debatte steht, geraten andere europäische Fragen leider deshalb untrennbar mit der europäischen Einigung ver-
allzu oft in den Hintergrund. Dies gilt zum Beispiel für bunden. Der vor uns liegende Weg ist noch lang, und er
die Erweiterungspolitik, die traditionell auf der Tages- ist auch alles andere als einfach. Aber ich bin überzeugt:
ordnung eines Dezemberrates steht, so auch nächste Wo- Es ist der richtige Weg. Es ist der richtige Weg, um unser
che. Die Bundesregierung steht zur EU-Perspektive aller gemeinsames Ziel zu erreichen: ein starkes Deutschland (D)
(B)
Staaten des westlichen Balkans. Am Rande des Europäi- in einer starken Europäischen Union zum Wohle der
schen Rates werde ich für die Bundesrepublik Deutsch- Menschen in Deutschland und in Europa.
land den Beitrittsvertrag mit Kroatien unterzeichnen.
Zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montene- Herzlichen Dank.
gro hat der Bundestag seine Stellungnahme abgegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Für uns von entscheidender Bedeutung sind hier weitere
Fortschritte Montenegros bei der Festigung von Rechts-
staatlichkeit und der Bekämpfung von Korruption und Präsident Dr. Norbert Lammert:
organisierter Kriminalität. Wir werden sie einfordern, Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
aber wir werden Montenegro auch dabei unterstützen, Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion das
die Dinge, die zu verbessern sind, wirklich verbessern zu Wort.
können. (Beifall bei der SPD)
Der Europäische Rat entscheidet über den Kandida-
tenstatus von Serbien. Gute nachbarschaftliche Bezie- Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
hungen und regionale Zusammenarbeit sind über die Ko- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
penhagener Kriterien Teil der EU-Erweiterungspolitik. Frau Bundeskanzlerin, ich habe Ihnen sehr genau zuge-
Wir möchten langfristig nicht nur Serbien, sondern auch hört. Ich sage Ihnen bei allem Verständnis, das dieses
Kosovo an die EU heranführen und die EU voll funk- Parlament in der bisher schwersten Krise in Europa der
tionsfähig halten. Daher führt der Weg Serbiens in die Regierung zugebilligt hat: Sie haben heute wieder über
EU nur über eine Normalisierung seiner Beziehung zum vieles geredet, auch über Montenegro, am Kern der Sa-
Kosovo. che aber haben Sie vorbeigeredet. Das war bestenfalls
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die halbe Wahrheit.

EU und Bundesregierung haben hierzu frühzeitig Er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wartungen in Form von konkreten Schritten formuliert. DIE GRÜNEN)
Ich bedaure sehr, dass Serbien diesen Erwartungen bis- Ich weiß nicht, zum wievielten Mal, aber Sie haben
lang nicht ausreichend gerecht geworden ist und somit heute wieder gesagt, dass nun eine „tragfähige Lösung“
die Voraussetzungen für die Verleihung des Kandidaten- für die akute Finanzkrise vorbereitet wird. Sie wissen es
status bislang nicht gegeben sind. Serbien muss sich da- doch selbst: Noch nie in den letzten 18 Monaten hat das
rüber hinaus vorwerfen lassen, in den letzten Tagen zu gestimmt; jedes Mal haben Sie den Menschen in
17572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Deutschland Sicherheit vorgegaukelt, die am Ende keine Was ich Ihnen sagen will – ich glaube, Sie merken das (C)
war. Keiner, Frau Merkel, wirft Ihnen vor, dass es die selbst –: So wird das nicht weitergehen, nicht mit diesem
Krise gibt; aber wie Sie mit ihr umgehen, das geht auf Wankelmut und auch nicht mit einer Strategie „Jeder ge-
keine Kuhhaut. gen jeden“ in Europa. Das wird nicht helfen; ich be-
fürchte, das wird uns eher noch weiter in die Sackgasse
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führen.
DIE GRÜNEN)
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wan-
Sie reden von „Stabilität“ – das ist auch notwendig –, kelmeier!)
aber die Bilanz der vergangenen Monate sieht doch völ-
lig anders aus: Nichts ist stabiler geworden. Sie haben Wir sind jedenfalls tief überzeugt: Europa kann sich
eben in Ihrer Regierungserklärung gesagt: „Wir sind nur gemeinsam aus diesem Schlamassel wieder heraus-
weit gekommen“, das stimmt leider; die Krise Europas kämpfen, Griechen, Spanier, Franzosen, Luxemburger,
hat sich dramatisch zugespitzt. Immer mehr Menschen Holländer, Deutsche, alle gemeinsam, viele andere dazu.
haben das Gefühl, dass das Endspiel für die Währung Aber weil Sie das nicht akzeptieren, eskaliert die Krise.
angebrochen ist. Nicht die Opposition, nicht wir, son-
dern die Finanzaufsicht in London und große deutsche Aus einer kleinen griechischen Schuldenkrise ist
Unternehmen bereiten sich ganz offensichtlich auf Alter- eine vollwertige europäische Seuche geworden.
nativen vor. Sie, Frau Merkel, und diese Regierung sind Das sind nicht meine Worte, sondern die von Joe Nocera
nicht die Ursache; aber Wankelmütigkeit und Entschei- in der New York Times. Er fragt:
dungslosigkeit haben dazu beigetragen. Ihre Taktiererei
macht die Lage in Europa nicht stabil. Im Gegenteil: Verstehen die Deutschen nicht, dass ein Zusam-
Diese schwarz-gelbe Koalition, die sich in nichts, aber menbruch der Eurozone, der vor einem Jahr un-
auch rein gar nichts einig ist, gefährdet die Stabilität in denkbar war und jetzt vielleicht unvermeidlich ist,
Europa. Das ist die Wahrheit; darüber täuschen auch die Deutschen mehr treffen wird als Griechenland?
Fernsehbilder nicht hinweg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
DIE GRÜNEN) LINKEN)
Frau Bundeskanzlerin, wahr ist doch auch: Bisher ha- Meine Damen und Herren, wir Deutsche retten nicht
ben Sie noch jede Bastion geräumt, die Sie vorher für die Griechen oder die Italiener; wir retten vor allem uns
uneinnehmbar erklärt haben. Die Halbwertszeit Ihrer ro- selbst, unsere Banken, unser Vermögen, unsere Export-
ten Linien ist doch immer kürzer geworden. Zuletzt gab wirtschaft und unsere Arbeitsplätze. Darum geht es in
(B) es hier in diesem Haus – wir erinnern uns gut – das Tabu diesen Tagen. (D)
gemeinsamer europäischer Anleihen; wir alle haben das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
noch gut im Ohr. Aber wen überrascht es denn eigentlich DIE GRÜNEN)
noch, dass ein paar Tage nach der Debatte im Parlament
auf einmal der Testballon steigt, auf dem „Elite-Bonds“ Das auszusprechen, verlangt nun wahrhaftig keinen Hel-
steht! Der Testballon war in der Luft, und die Koalition denmut; denn es ist die Wahrheit. Ich bin davon über-
war ganz offensichtlich überrascht. Den Kollegen zeugt: Das von Anfang an zu sagen, Frau Merkel, hätte
Brüderle hat das zu ganz großer Kunstfertigkeit veran- auch Ihnen manches einfacher gemacht. Stattdessen ha-
lasst: ben Sie selbst noch die einsichtigsten, die freundlichsten
und die wohlmeinendsten Nachbarn gegen uns aufge-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) bracht durch penetrante und, wie ich finde, doppelzün-
Er war am Montagmorgen für die Elite-Bonds; am Mon- gige Schulmeisterei.
tagnachmittag war er gegen die Elite-Bonds. Das ist li- (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP –
berale Offenheit, wie wir sie kennen, meine Damen und Otto Fricke [FDP]: Das ist für Sie Doppelzün-
Herren. gigkeit?)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Sie waren doch selbst beteiligt.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Deutschland hat es doch früher gekonnt, europäische
Meinungsbildung zu prägen. Sie haben eben auf
Aber das ist mir – ich sage es Ihnen ganz offen – im-
Adenauer und Kohl hingewiesen. Ich sage: Auch Willy
mer noch lieber als das, was Ihr Generalsekretär in einer
Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder gehören
solchen wirklich ernsten Situation in Europa sagt; ihm
dazu.
fiel nichts anderes ein, als zu sagen, er sei überhaupt ge-
gen alle Bonds, auch gegen „James Bonds“. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Das
ist die Wahrheit! Genau das! – Volker Kauder
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
[CDU/CSU]: Es war Gerhard Schröder, der
So kann man Politik lächerlich machen, meine Damen die Haushaltsdisziplin gerissen hat!)
und Herren. Das verstehen die Menschen nicht.
Sie hatten miteinander gemein, dass sie ihre histori-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sche Aufgabe in Deutschland so verstanden, andere ohne
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tägliche öffentliche Belehrungen zu überzeugen und die
LINKEN) kleineren Staaten mit auf den Weg zu nehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17573
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Otto Fricke [FDP]: Gerade Schröder!) Es kam der Strandspaziergang von Deauville, der ganz (C)
Europa in Empörung versetzt hat. Frau Merkel, Sie und
Das ist die Aufgabe, die wir in der Vergangenheit in Präsident Sarkozy waren es doch – und nicht irgendwel-
Europa erfüllt haben. che Hallodris –,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD –
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das ist Teil einer Regierungskunst – das muss ich leider NEN]: Was ist denn jetzt los?)
sagen –, die der deutschen Regierung in diesen Tagen
und Monaten offenbar verloren gegangen ist. die im Handstreich die automatischen Sanktionen besei-
tigt haben. So war das, und daran erinnern wir uns.
Herr Kauder, in Europa wird jetzt deutsch gespro-
chen. Ich weiß, dass Sie die Kritik an diesem Satz nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
besonders ernst nehmen. Aber ich sage Ihnen: Wer Lehr- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
meister sein will, wer andere zum Sparen auffordert, der Jetzt stehen Sie ein Jahr später hier an diesem Mikro-
muss wenigstens sein eigenes Haus in Ordnung halten. fon und rufen laut: Haltet den Dieb! Von Stabilisierung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keine Spur: Italien infiziert, Frankreich strauchelnd, der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Euro am Abgrund. Ein Jahr später kommen jetzt ausge-
rechnet Sie heute hierher, um schärfere Sanktionen für
Herr Kauder – auch wenn Sie mir nicht zuhören –, Sie Schuldensünder zu fordern. Glauben Sie denn wirklich,
können nicht den Rest der Welt zum Sparen und zum die Erinnerung ist so kurz? Glauben Sie wirklich, keiner
Senken von Schulden auffordern und gleichzeitig im ei- merkt, was Sie hier für Kapriolen schlagen? Das ist
genen Land überflüssige Steuersenkungen keine Politik, das ist aus meiner Sicht Schauspielerei.
(Jan Mücke [FDP]: NRW! – Ingrid Fischbach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
[CDU/CSU]: NRW!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und sozial schädliches Betreuungsgeld auf den Weg Bei allem guten Willen, den wir haben, in der euro-
bringen päischen Sache zu helfen, müssen wir sagen: Es gibt
kein schwarz-gelbes Europa, und es gibt kein rot-grünes
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europa, sondern wir alle zusammen tragen Verantwor-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE tung für dieses Europa. Weil das so ist, finde ich, dürfen
GRÜNEN) wir die Menschen und darf man auch dieses Parlament
(B) und am Ende hierzulande die Neuverschuldung erhöhen, nicht hinters Licht führen. Sie werben jetzt für irgend- (D)
während die anderen sie vermindern sollen. Das fällt welche Veränderungen im EU-Vertrag. Einverstanden.
doch überall in Europa auf. Wir führen doch keine Auch über die Einschaltung des EuGH bei Verstößen ge-
Selbstgespräche. Ganz Europa spricht davon. Ich sage gen Haushaltsvorgaben reden Sie. Ich habe gar nichts
Ihnen auch, was die anderen Länder davon halten, und dagegen. Aber Sie können doch nicht so tun, als könnten
wie sie das nennen: Sie nennen das Heuchelei, Herr Sie damit eine Lösung für akute, buchstäblich täglich,
Kauder. stündlich dramatisch eskalierende Krisensituationen lie-
fern. Das steckt doch da nicht drin.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Jetzt kommt angeblich die Verschärfung des Stabili-
tätspaktes. Frau Merkel, ich bin wirklich gespannt, was Deshalb glaube ich: Ihr Kalkül ist eigentlich etwas
dieses Mal herauskommt. Ich sage „dieses Mal“, weil je- ganz anderes. Sie warten ab. Sie wollen eigentlich nicht
denfalls ich mich noch gut daran erinnern kann, wie Sie im Kern der Sache entscheiden. Sie servieren uns so et-
vor einem Jahr hier in diesem Haus zu gleicher Sache was wie Ersatzhandlungen. Im Stillen setzt diese Regie-
gesprochen haben. Nur für den Fall, dass das von den rung darauf, dass nicht sie, sondern jemand anders han-
Regierungsfraktionen irgendjemand vergessen hat: Im delt. Sie stehen sozusagen vor dem europäischen Haus.
September 2010, also vor mehr als einem Jahr, hat Kom- Das europäische Haus brennt lichterloh, und Sie haben
missionspräsident Barroso ein Maßnahmenpaket zur Angst, sich die Finger zu verbrennen. Sie scheuen die
wirtschaftlichen Steuerung vorgelegt. In diesem Maß- politische Verantwortung, die Sie tatsächlich haben, und
nahmenpaket wurde eine Regelung zur haushaltspoliti- schieben andere vor, die jetzt Verantwortung tragen müs-
schen Überwachung im Euro-Raum festgelegt. Was sen.
sollte das heißen? Das sollte heißen, dass es nach Fest- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stellung eines übermäßigen Defizits durch die Kommis- DIE GRÜNEN)
sion zu quasiautomatischen Sanktionen kommen soll.
Jetzt fragen wir alle uns doch einmal: Haben Sie das vor Ich kann meine Vermutung, wenn Sie wollen, auch
14 Monaten in diesem Hause unterstützt? noch etwas zugespitzter formulieren.
(Zurufe von Abgeordneten der SPD: Nein! – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann mal zu! –
Ulrich Kelber [SPD]: Eben nicht! Unglaub- Dagmar G. Wöhrl [CDU/CSU]: Bringen Sie
lich!) eine Lösung!)
17574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Ich kann sie zugespitzter formulieren und sagen: In den Ich zitiere einen Kolumnisten der Financial Times (C)
hellen Tagesstunden kritisieren Sie die anderen Euro- Deutschland auf Spiegel Online:
päer, die als letzte Rettung stärkere Aktivitäten der Euro-
Die Chance auf eine bezahlbare Euro-Rettung ist
päischen Zentralbank fordern, und wenn es dunkel wird,
vertan – und schuld ist die Bundeskanzlerin.
dann beten Sie, dass die EZB weiter Anleihen kauft. Ich
Angela Merkel wird uns alle ruinieren, weil sie mit
glaube, das steckt im Grunde genommen dahinter.
ihrem Zaudern die Krise verschärft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das sagt nicht die Opposition, sondern die deutsche
DIE GRÜNEN) Presse, und das sollte Ihnen zu denken geben.
Und während das so ist, fluten auch noch zusätzlich die Vielen Dank.
Notenbanken den Markt mit billigem Geld, um den Ab-
sturz abzuwenden. Noch jemand anderes, der handelt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Altmaier, ich habe Sie heute Morgen im Mor-
genmagazin erlebt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Da hätten Sie Rainer Brüderle ist der nächste Redner für die FDP-
etwas lernen können!) Fraktion.
Es geht doch nicht, dass wir uns als Politiker über Kurs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
feuerwerke an den Börsen freuen. Das geht doch nicht. der CDU/CSU)
Wir müssen doch sagen, was es heißt, wenn solche Kurs-
feuerwerke durch Geld mal eben ausgelöst werden. Rainer Brüderle (FDP):
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat,
manche Medien im Ausland sehen die Euro-Zone vor
Wir reden hier nichts herbei. Alle Welt redet darüber dem Endspiel. Man hat fast den Eindruck, dass da eine
– nur wir hier in diesem Hohen Hause reden nicht da- gewisse Lust am Untergang herrscht. Bei manchen Äu-
rüber –, dass diese Politik des billigen Geldes natürlich ßerungen der Opposition habe ich den gleichen Ein-
auch Inflationsgefahren steigert. Wir haben die Inflation druck.
nicht, aber die Gefahr wird gesteigert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wenn wir über die EZB reden, dann müssen wir den der CDU/CSU)
Menschen doch auch sagen – jetzt ganz ehrlich –: Wenn Ja, es ist Aufgabe der Opposition, die Regierung kritisch
(B) die EZB Anleihen kauft, haftet am Ende nicht irgendwer, zu begleiten. Aber das, was hier seit einigen Wochen (D)
sondern es gibt eine gemeinsame europäische Haftung. zum Teil abläuft, stellt Parteitaktik über das Schicksal
Daran kommen wir doch nicht vorbei. Europas. Das ist nicht in Ordnung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Joachim Poß [SPD]: Das müssen Sie gerade
sagen!)
Wissen Sie, Frau Merkel, deshalb verstehe ich einfach
nicht, warum Sie sich hier hinstellen und sagen: Mit uns Ich habe Verständnis dafür, dass die drei möglichen
kommt Gemeinschaftshaftung nicht infrage. Sie findet Kanzlerkandidaten vor dem SPD-Parteitag nervös wie
statt durch Anleihenaufkäufe der EZB, jeden Tag mehr. Rennpferde sind.
Fast 300 Milliarden Euro stehen mittlerweile in der Bi- (Zurufe von der SPD: Oh!)
lanz. Das ist in dieser Lage ja sogar unvermeidbar. Aber
geben Sie doch endlich zu, dass Sie das heimlich und Aber dass sie sich europapolitisch wie Ackergäule be-
nachdrücklich betreiben. Ich finde es einfach nicht in nehmen, das ist nicht in Ordnung.
Ordnung, wenn Sie das leugnen; denn das geht meilen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
weit an der Wahrheit vorbei. der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das
(Beifall bei der SPD) muss die FDP gerade sagen!)
Selbst Frau Nahles, wie sie uns im Spiegel offenbart,
Ich weiß, dass das, was wir von der Opposition zu sa-
nervt diese – so nennt sie es – K-Show, die Kanzlerkan-
gen haben, Sie nicht sonderlich kümmert. Sie haben die
didaten-Show der SPD.
Mehrheit hier im Hause. Wenn Sie die Opposition nicht
kümmert, dann vielleicht der Teil der Presse, der Ihnen (Thomas Oppermann [SPD]: Reden Sie mal
politisch näher steht. über den Euro!)
(Lachen bei der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Herr Gabriel machte Anfang der Woche einen Brüning-
Machen Sie doch einmal Vorschläge!) Vergleich und warnte die Bundeskanzlerin. Das hat mit
Seriosität und Anstand nichts zu tun; das ist unange-
– Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt. Früher waren bracht. Diese Kanzlerin kämpft engagiert um Europas
Sie sehr kreativ beim Vortrag von Zeitungslektüre. Zukunft. Wir stehen hinter ihr.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da kann ich mir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf
die Presseschau sparen, wenn Sie vorlesen!) der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17575
Rainer Brüderle
(A) Der europäische Gipfel muss und wird den Weg zu ei- Unternehmensteuer ist und dass eine Vermögensabgabe (C)
ner Stabilitätsunion weisen. Es heißt in manchen Kom- in die Substanz der Mittelstandsbetriebe eingreift. Ihre
mentaren: So deutsch war Europa noch nie. Diese Aus- Steuerpolitik ist ein Anschlag auf den deutschen Mittel-
sage zeigt Respekt, aber auch Vorbehalt vor deutscher stand und die deutschen Personengesellschaften.
Dominanz. Es geht jedoch nicht darum, ein deutsches
Europa, sondern ein gutes Europa zu schaffen. Das ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel
europäischer Patriotismus. Troost [DIE LINKE]: Quatsch!)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Grünen wollen vorbehaltlos Euro-Bonds. Sie las-
der CDU/CSU) sen außer Acht, dass die gegen deutsches und europäi-
sches Recht verstoßen. Normalerweise sind die Grünen
Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt für das Verursacherprinzip. Nur hier bei den Euro-Bonds
aller Zeiten. Der Historiker Michael Stürmer hat die Er- setzen sie das völlig außer Kraft. Es sollen nicht diejeni-
rungenschaften Europas auf eine ganz einfache Formel gen haften, die keine nachhaltige Haushaltspolitik ge-
gebracht. Er sagte: Nach dem Krieg machte sich macht haben, sondern es sollen diejenigen haften, die es
Deutschland auf den Weg, wieder ruhig zu schlafen, gut richtig gemacht haben. Da soll einmal einer verstehen,
zu essen und nie mehr allein zu sein. – Das ist Axiom wie das eine kluge Politik sein soll.
deutscher Politik. Deutschland darf sich nie wieder sin-
gularisieren bzw. isolieren. Deshalb ist es gut, dass die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bundeskanzlerin und der französische Präsident gemein-
sam Vorschläge für einen Stabilitätspakt II machen. Sie Wir hatten einmal nahezu einheitliche Zinssätze in
müssen das reparieren, was andere deutsche und franzö- Europa. Nur: Die Peripherie – die südeuropäischen Län-
sische Regierungen leichtfertig beschädigt haben. Da- der – hat sie nicht genutzt. Diese Länder haben weiter
rum geht es jetzt. die Schulden erhöht, keine Haushaltsdisziplin geübt.
Jetzt gibt es keine Abwertung nach außen mehr, sondern
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur noch eine innere Abwertung. Das ist schmerzhaft,
der CDU/CSU) aber notwendig. Nur so kann man wettbewerbsfähig
Der Gipfel wird die Ausgestaltung der EFSF be- werden.
schließen. Der Haushaltsausschuss hat die Leitlinien ge- Griechenland etwa braucht realwirtschaftliche Auf-
billigt. Wolfgang Schäuble hat gute Ergebnisse bei den bauhilfe. Hier hat der Bundeswirtschaftsminister erste
Finanzministern erreicht. Das ist eine gute Grundlage für Schritte eingeleitet. Der Rösler-Plan
die Kanzlerin. Der Gipfel wird Vertragsänderungen in
Angriff nehmen. Haushaltsdisziplin in allen Mitglied- (Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
(B) staaten besser zu kontrollieren und notfalls Sanktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
zu verhängen, das muss das Ziel sein. Das ist der richtige
setzt Schwerpunkte bei erneuerbaren Energien, bei Tou-
Weg. Wir, die christlich-liberale Koalition, leben das vor.
rismus und bei der Informationstechnologie.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Italien ist in einer ganz anderen Situation, hat eine an-
Die OECD hat uns dies wieder bestätigt. Das Wachstum dere realwirtschaftliche Stärke. Mit den Vorstellungen
ist intakt, der Arbeitsmarkt ist robust, die Schulden sind von Herrn Monti, der als EU-Kommissar sehr wohl den
tragfähig. Das ist gelebte Stabilitätskultur. Das ist ein er- Binnenmarkt vorangetrieben hat und für Wettbewerb
folgreicher Weg. Wenn auch Europa diesen Weg einge- stand, hat es beste Aussichten.
schlagen hätte, dann hätten wir die aktuellen Probleme
nicht. Beim Thema Euro-Bonds eiert die SPD. Mal springt
sie auf, mal springt sie ab. Man kann auch sagen: Die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten SPD „sigmar-gabrielt“ sich von Woche zu Woche – mal
der CDU/CSU) rauf, mal runter, nichts ist dabei klar.
Die Opposition will den Euro mit einem links-keyne- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
sianischen Programm stabilisieren. Sie setzt auf Umver- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
teilung in Deutschland und Vergemeinschaftung der NEN]: Es können nicht alle so klar sein wie
Schulden Europas. die FDP! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
Die Grünen haben ihren Steuererhöhungsparteitag GRÜNEN]: Ich finde den Gabriel in Ordnung,
hinter sich, die SPD hat ihren Steuererhöhungsparteitag aber dass er so eiern kann wie die Bundes-
vor sich. Mir ist ein Rätsel, wie man einerseits vor einer kanzlerin? Das kann er nicht!)
Rezession warnen kann und andererseits die Steuern um
30 Milliarden Euro erhöhen will. Das passt nun über- Präsident Dr. Norbert Lammert:
haupt nicht zusammen. Herr Kollege Brüderle, darf Ihnen eine Kollegin eine
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zwischenfrage stellen?
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das senkt die
Sparquote!) Rainer Brüderle (FDP):
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Das trifft nicht die Superreichen, das trifft den Mittel-
stand in Deutschland. Sie wissen nicht, dass für weite Andere in der SPD setzen auf eine entfesselte Geld-
Teile des deutschen Mittelstands die Einkommensteuer politik mit allen Inflationsgefahren. Das sind die Genos-
17576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Rainer Brüderle
(A) sen Gerhard Schröder und Peer Steinbrück. Sie wollen, Sie setzen konsequent auf die Drosselung deutscher Ex- (C)
dass die EZB alles öffnet und „in die Vollen“ geht. Aber portanstrengungen. Sie wollen Deutschland schlechter
das kann nur in Notsituationen geschehen und nicht die anderen besser machen. Es war konse-
quent, dass Sie Herrn Papandreou nach Kiel eingeladen
(Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜND- haben. Das war eine runde Sache.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der FDP)
und muss zeitlich begrenzt sein, wie gestern auch Präsi-
dent Draghi zu Recht klargestellt hat. Sie wollen, dass deutsche Arbeitnehmer weniger Autos
bauen, dass deutsche Arbeitnehmer weniger Chemiepro-
(Beifall bei der FDP und Abgeordneten der dukte herstellen und dass deutsche Arbeitnehmer beim
CDU/CSU) Maschinenbau weniger erreichen. Der ökonomische
Eine aktivistische Geldpolitik mit grenzenlosen Aufkäu- Sachverstand der Grünen, Herr Trittin, passt in eine
fen wäre fatal und falsch. Plastiktüte. Dafür wollen Sie noch eine Zwangsabgabe
in Höhe von 22 Cent haben. Nichts haben Sie verstan-
(Thomas Oppermann [SPD]: Kommt der den.
Wahrheit schon näher!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Europäischen Verträge untersagen der EZB langfris-
tige Staatsfinanzierungen. Die Europäischen Verträge Klar muss sein: Wer Wachstum schwächt, schwächt
verpflichten die EZB zur Preisstabilität, und die Euro- Deutschland. Wer Deutschland schwächt, schwächt Eu-
päischen Verträge gewährleisten die Unabhängigkeit der ropa. – Wenn Sie das wollen, müssen Sie Ihre Politik
EZB. Das ist das Erbgut der Deutschen Bundesbank und weiter so betreiben. Wir wollen etwas anderes: Wir wol-
unsere Mitgift für die europäische Zukunftsentwicklung. len Wachstum, Arbeitsplätze und eine gute Zukunft für
die europäische Entwicklung.
Sie können in Japan beobachten, wo es hinführt,
wenn man allzu großzügig, breit und langfristig angelegt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
die Geldmenge vermehrt. Sie haben ein Jahrzehnt und Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
jetzt schon fast die zweite Dekade verloren, in der sie NEN]: Das wollen 2 Prozent so wie Sie!)
keinen Aufschwung hatten. Auch die USA kommen
nicht richtig auf die Beine, obwohl die amerikanische Präsident Dr. Norbert Lammert:
Notenbank, die Fed, fast per Helikopter das Geld in die Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
amerikanische Landschaft bringt. Greenspan hat 10 oder Fraktion Die Linke.
15 Jahre lang auf jede Anspannung und jedes Krisenphä-
(B) nomen mit einer sehr lockeren Geldpolitik reagiert. Das (Beifall bei der LINKEN) (D)
hat möglicherweise nicht die Probleme der Finanz-
märkte ausgelöst, aber erheblich begünstigt und ver- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
schärft. Hier muss Solidität und eine klare Linie herr- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, ge-
schen. legentlich wird man hier überfordert.
Noch eines ist mir aufgefallen: Es gibt jetzt eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben wir!)
große Ratingagentur in den USA, die den USA in ihrer
– Ja, das will ich Ihnen gleich begründen.
Einstufung ein Jahr Bewertungspause gibt. Wenn ich mir
das „Rating-Stakkato“ der amerikanischen Ratingagen- Ich muss Ihnen sagen, Herr Brüderle: Wenn Sie den
turen zu europäischen Ländern vor Augen führe, dann Begriff „Genosse“ in den Mund nehmen, klingt das wi-
kann ich nur sagen: Diese Zahlenkonzerne haben offen- dernatürlich.
bar eine patriotische Ader oder einen politischen Knick
in der Optik. Deshalb ist es höchste Zeit, dass Europa (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN –
eine eigenständige Ratingagentur bekommt. Diese Ein- Rainer Brüderle [FDP]: Das ist auch widerna-
flussnahme, nur weil man einen Verdacht hat, ist nicht in türlich!)
Ordnung und nicht fair. Sie muss endlich auch ein Ge- Obwohl ich sehr fantasievoll bin, fällt es mir auch sehr
gengewicht in Europa bekommen. schwer, mir Frau Merkel bei einem Marathonlauf vorzu-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stellen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zitieren: (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)
Zum Ernst der Situation zurück: Die Diktatur der Fi-
Die Bundesregierung muss endlich ihre Blockade-
politik gegen Möglichkeiten aufgeben, Sanktionen nanzmärkte hat sich verschärft. Sie ist doch nicht abge-
nicht nur bei übermäßigen Defiziten, sondern auch baut worden, ganz im Gegenteil. Die Ursachen schildern
bei übermäßigen Leistungsbilanzüberschüssen ver- Sie falsch, Frau Bundeskanzlerin. Nicht die Staatsver-
hängen zu können, um makroökonomische Un- schuldung ist die Ursache der Krise, sondern die Macht
gleichgewichte abzubauen. der Banken, der Versicherungen, der Fonds und ihre welt-
weiten Spekulationen sind die Ursachen der Krise. Genau
Das ist ein Beschluss des Parteitages der Grünen. das führt zu der hohen Staatsverschuldung. Das ist die
Wahrheit.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr vernünf-
tig!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17577
Dr. Gregor Gysi
(A) Wenn man hier nicht mitgeht, dann kann man die Ur- trug die Staatsverschuldung Griechenlands 140 Prozent (C)
sachen nicht wirksam bekämpfen. Ich sage auch: Frau der Wirtschaftsleistung. Nun beträgt sie 200 Prozent der
Merkel, Sie finden keinen Weg aus der Krise heraus. Im Wirtschaftsleistung. Sie ist also um 60 Prozentpunkte
Gegenteil: Schon die EU-Gipfelbeschlüsse vor sechs gestiegen. Das ist das Ergebnis Ihres angeblichen Schul-
Wochen sind doch überholt. Inzwischen wird auch gegen denabbaus. Das Gegenteil kommt dabei heraus, weil der
Italien, Belgien, selbst gegen Österreich und Finnland Weg falsch ist.
spekuliert. Frankreich muss höhere Zinsen auf seine
Staatsanleihen zahlen. Deutschland versuchte, Staatsan- (Beifall bei der LINKEN)
leihen für 6 Milliarden Euro zu verkaufen. Was erreichte Wenn Sie das Vertrauen der großen privaten Banken
der Bundesfinanzminister? Staatsanleihen in Höhe von in die Staaten zurückgewinnen wollen, kann ich Ihnen
2 Milliarden Euro wurden gekauft, die restlichen 4 Mil- nur sagen: Auch das schaffen Sie nicht. Die Banken be-
liarden Euro wollte niemand haben, weil die Zinsen zu sorgen sich Geld bei der Europäischen Zentralbank und
niedrig sind. Es geht um eine andere Konstruktion. zahlen dafür 1,25 Prozent Zinsen. Dann sagen sie gegen-
Herr Steinmeier, in einem Punkt widerspreche ich Ih- über Italien: Italienische Staatsanleihen kaufen wir nur,
nen. Die Kanzlerin macht schon etwas. Sie gestaltet Eu- wenn ihr über 7 Prozent Zinsen zahlt. – So verdienen sie
ropa um – aber völlig falsch. Im Vertrag von Lissabon dickes Geld und ruinieren die Bevölkerung Italiens. Das
gibt es zum Beispiel eine Bestimmung, die die Kontrolle alles ist nicht hinnehmbar. Ihr Weg ist rundum und voll-
des Kapitalverkehrs verbietet. Vielleicht sollte man diese ständig gescheitert. Aber Sie halten an Ihrem Irrsinns-
Bestimmung einmal aufheben, wenn man den Vertrag kurs fest.
ändert.
Herr Kauder, Sie haben gesagt: Der Weg, den wir ge-
(Beifall bei der LINKEN) hen, ist ein Weg zu einem deutschen Europa. – Außer-
dem sagten Sie auf dem CDU-Parteitag: Man spricht
Aber nun haben die Zentralbanken aus den USA, Ja- jetzt deutsch. – Gerade in Anbetracht unserer Geschichte
pan, der Schweiz, Kanada und übrigens auch die EZB sollten wir solche Sätze wirklich vermeiden.
eingegriffen, und zwar, indem sie den Banken Geld zu
ganz niedrigen Zinssätzen angeboten haben. Das haben (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
sie natürlich ganz einfach gedruckt. Darauf haben sie neten der SPD)
auch hingewiesen. Aber das macht die EZB mit, wenn
ich darauf verweisen darf. Das Problem ist: Die Börsen Dieser Weg ist politisch, moralisch, historisch, steuer-
jubeln, aber den Menschen in Griechenland und Italien politisch und sozial falsch. Außerdem führt das Ganze
nutzt das überhaupt nichts. Mit den Interessen von zu einem dramatischen Demokratieabbau; dazu haben
(B) 99 Prozent der Bevölkerung in diesen Ländern hat das Sie, Frau Bundeskanzlerin, und auch Sie, Herr (D)
alles gar nichts zu tun. Im Kern geht es um drei Wege, Steinmeier, keinen Satz gesagt. Das ist doch nicht mehr
die beschritten bzw. diskutiert werden. Es ist interessant, hinnehmbar: In Italien und Griechenland werden Tech-
diese Wege genau zu betrachten und Vergleiche anzu- nokraten eingesetzt – ohne Wahlen, ohne Veränderung.
stellen. Man schickt Regierungen, die man nicht mehr haben
will, einfach nach Hause und setzt irgendwelche Leute
Der erste Weg ist der – Herr Brüderle, hier sind Sie ein, die der EU willkommen sind. Der ehemalige Minis-
beleidigt, aber hier hat Herr Gabriel recht –, den Reichs- terpräsident Griechenlands sagte zu seiner Bevölkerung,
kanzler Heinrich Brüning gegangen ist, nämlich durch er wolle sie über den Grundkurs der Politik abstimmen
drastischen Sozialabbau die Probleme angeblich zu lö- bzw. sie in einem Volksentscheid darüber entscheiden
sen. Genau diesen Weg geht für ganz Europa Frau lassen. Dafür musste er seine Sachen packen. Das hat
Merkel. Das ist ein einziger Skandal. mit Demokratie nichts zu tun. Das ist ein dramatischer
(Beifall bei der LINKEN) Demokratieabbau, den wir hier erleben.

Das ist eine verschärfte Agenda 2010, die dort ange- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
wandt wird. Die Investitionen werden in Europa zurück- Rüdiger Veit [SPD])
gefahren. Ihre Hoffnung ist – jetzt will ich einmal Ihrer
Dieser erste Weg ist also falsch und gescheitert. Aber
Theorie folgen –: Wenn man Sozialabbau betreibt, die
es gibt einen zweiten Weg; er beschreibt sozusagen das
Renten kürzt, weitere Schikanen gegenüber der Bevöl-
US-amerikanische Vorgehen, aber nicht nur das US-
kerung durchführt und sogar noch die Investitionen ab-
amerikanische, sondern auch das britische. Hier geht es
baut, dann werden auch die Staatsschulden geringer.
um die Euro-Bonds. Nun habe ich ja gehört, dass die
Wenn die Staatsschulden geringer werden, dann entsteht
Frau Bundeskanzlerin sagte: Jetzt sind Euro-Bonds
wieder Vertrauen bei den lieben großen privaten Banken,
falsch. – Sie hat plötzlich das Wort „jetzt“ eingeführt.
und dann kaufen sie wieder zinsgünstiger Staatsanleihen
auf. – So Ihre Theorie. Das hat mit der Realität aller- (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ja! Das ist eine
dings nichts zu tun. Rückzugsmöglichkeit!)
Wie sieht das Ergebnis aus? Das Wirtschaftswachs- Ich bin gespannt, ob das nächste Woche noch gilt.
tum in Griechenland ist um 5,5 Prozent gesunken. Fast
überall herrscht Rezession. Nun kommt das Entschei- (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Genau! – Zuruf
dende – schauen wir uns einmal die Schuldenlast Grie- von der LINKEN: Das kennen wir ja! Wie bei
chenlands an, lieber Herr Brüderle –: Im Jahre 2010 be- der Atomkraft!)
17578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) Herr Brüderle hingegen sagt: Das geht überhaupt Daneben brauchen wir – das ist wahr – einen Schul- (C)
nicht, weil das Prinzip von Ursache und Wirkung falsch denschnitt, aber nicht nur für Griechenland. Übrigens:
angewandt wird. Wir können doch nicht dafür haften, Die Banken haben doch einmal etwas von einem Schul-
dass andere Staaten Fehler gemacht haben. – Herr denschnitt von 50 Prozent erzählt. Man hört gar nichts
Brüderle, erklären Sie der Bevölkerung doch einmal Fol- mehr davon, Frau Bundeskanzlerin. Wie weit ist es denn
gendes: eigentlich damit? Beim letzten Mal war das ein großes
Thema, heute sagt keiner ein Wort dazu. Ich will nur sa-
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Nein! Lieber gen: Das fällt auf.
nicht!)
Das alles reicht aber noch nicht. Die großen privaten
Wenn die Europäische Zentralbank jetzt Staatsanleihen Banken sind einfach zu mächtig. Frau Kohl, die in der
aus Italien, Spanien, Griechenland und anderen Ländern ARD immer über die Börse berichtet und bei Herrn
im Wert von 200 Milliarden Euro hat, die nichts mehr Jauch neben mir saß,
wert sind, und wenn die Europäische Zentralbank den
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Euro-Zone,
NEN]: Erzählen wir jetzt alle unsere Fernseh-
also vornehmlich den deutschen Steuerzahlerinnen und
erlebnisse?)
Steuerzahlern, gehört, wer haftet dann für diese Staats-
anleihen? Wir alle zusammen. Sie sagen also, dass Sie sagte dort interessanterweise Folgendes: Banken wie die
etwas, das längst existiert, nicht wollen. So kann man die Deutsche Bank sind so groß, dass keine Regierung es
Bevölkerung nicht an der Nase herumführen. Das sage sich leisten könnte, sie pleitegehen zu lassen, weder eine
ich Ihnen ganz klar. linke noch eine rechte Regierung. Das sei gar nicht mög-
lich, sagt sie. Was heißt das denn? Das heißt, wir sind er-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem pressbar. Das heißt, die Deutsche Bank kann machen,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was sie will. Sie würde immer gerettet werden, ganz
Die zweite Variante bedeutet natürlich, dass man Geld egal, ob sich die Regierung rechts oder links nennt oder
drucken muss. Sie haben völlig recht: Das war schon im- es auch ist.
mer US-Politik. Das machen die auch heute. Das macht (Thomas Oppermann [SPD]: Klingt so, als
auch Großbritannien. Dieser Weg ist nicht ganz so unso- würden Sie sie auch retten!)
zial und nicht ganz so unmenschlich wie der erste. Aber
er führt zu Inflation, also zu Geldentwertung, und damit – Ja, und genau das ist nicht akzeptabel, Herr
letztlich auch zu mehr Armut. Deshalb ist auch dieser Oppermann. – Deshalb muss man diese Banken verklei-
Weg falsch. nern und dann öffentlich-rechtlich gestalten. Es gibt kei-
(B) nen anderen Weg. (D)
Es gibt einen dritten Weg; das ist der, den wir vor- (Beifall bei der LINKEN)
schlagen. Sie fürchten ihn aus verschiedensten Gründen;
aber er ist der einzige Weg, der funktionieren könnte. Es „Öffentlich-rechtlich gestalten“ heißt, sie wie die Spar-
passt Ihnen nicht; aber dieser Weg führt aus der Krise, kassen, die ARD oder das ZDF zu gestalten. Das heißt
und zwar ohne Deflation und ohne Inflation. Was ist zu nicht, dass der Finanzminister direkt Weisung geben
tun? Die bedrohten Staaten müssen aus ihrer Abhängig- kann. Eine öffentlich-rechtliche Einrichtung könnte das
keit von den großen privaten Banken, Fonds und Versi- Ganze sehr viel besser regeln.
cherungen befreit werden. Das ist der einzig mögliche (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Die
Weg. Nummer würde Ihnen in der Volkshochschule
(Beifall bei der LINKEN) keiner abnehmen!)
Die Sparkassen sind nicht unser Problem, sondern die
Sie allerdings geben den Banken ständig nach. Sie er- großen Privatbanken. Deshalb müssen wir einen anderen
kennen nicht – oder wollen nicht erkennen –, dass der Weg gehen. Dann könnten die Banken endlich wieder
Weg, den wir vorschlagen, die einzige Möglichkeit ist. Dienstleister der Realwirtschaft und der Bürgerinnen
Wir brauchen eigentlich eine europäische Bank, die und Bürger werden und würden sie nicht mehr beherr-
das Geld der Europäischen Zentralbank nehmen und den schen. Die großen Konzerne, die noch etwas herstellen,
bedrohten Staaten zinsgünstige Kredite geben müsste. also die Realwirtschaft, müssten jetzt eigentlich dazu
Das wäre deshalb eine Lösung, weil die amerikanischen aufrufen, die Linke zu wählen, weil wir die Einzigen
Ratingagenturen dann machen könnten, was sie wollen. sind, die wollen, dass die Banken ihnen wieder dienen
Sie könnten Griechenland sogar ein „Z“ geben – was es und nicht bestimmen, was sie zu tun haben. Das ist ja
nicht gibt –, also komplett herabstufen. Wenn Griechen- immerhin ein Schritt in eine vernünftige Richtung.
land von dieser europäischen Bank weiterhin zinsgüns- (Beifall bei der LINKEN)
tige Kredite bekäme – und Italien, Spanien, Portugal ge-
nauso –, könnten die Ratingagenturen erzählen, was sie Das reicht aber auch noch nicht. Wir müssen natürlich
wollten. Wir hätten dadurch endlich die Unabhängigkeit auch eine drastische Regulierung der Finanzmärkte her-
dieser Staaten von den großen privaten Banken herge- beiführen – das gilt auch für öffentlich-rechtliche Ban-
stellt, und genau das brauchen wir. ken –, indem wir Hedgefonds, Leerverkäufe etc. verbie-
ten. Ich fand das Interview, das Herr Soros,
(Beifall bei der LINKEN) Multimilliardär und König der Hedgefonds, dem Stern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17579
Dr. Gregor Gysi
(A) gegeben hat, sehr interessant. Er ist dort gefragt worden, nen Rechte; denn wir haben miteinander beschlossen (C)
wer eigentlich schuld sei. Das geht auf die Frage der – das wurde nicht von anderen oder von außen durchge-
Frau Bundeskanzlerin zurück. Sie haben ja gesagt, die setzt –, dass der Deutsche Bundestag zu beteiligen ist.
Politik sei schuld. Er hat das auch gesagt, aber er hat das
Dafür gibt es ganz hervorragende Beispiele. Vor dem
anders begründet. Er wurde gefragt: Sind Sie nicht
letzten Gipfel haben wir in diesem Haus gemeinsame
schuld? Sie haben doch mit Ihren Leuten weltweit spe-
Positionen formuliert, Herr Kollege Steinmeier. Wir ha-
kuliert. Sie haben das doch herbeigeführt. – Er sagte: Ja, ben gemeinsam der Bundesregierung den Rücken ge-
das stimmt; aber wir sind trotzdem nicht schuld. Schuld stärkt, und wir haben gemeinsam die Bundeskanzlerin
ist die Politik; denn die hat es uns ja erlaubt. Der Mensch ermutigt, die richtigen Positionen durchzusetzen. Was
ist von Natur aus gierig; dann sind wir halt, wie wir sind. ich aber heute von Ihnen gehört habe, ist davon meilen-
Wenn sie es uns verboten hätten, dann hätten wir es ja weit entfernt. Sie haben das Rednerpult im Deutschen
nicht gemacht. – Ich finde, das ist das beste Plädoyer da- Bundestag mit der Bühne auf dem SPD-Parteitag ver-
für, endlich eine Regulierung der Finanzmärkte herbei- wechselt, Herr Steinmeier. Das ist nicht in Ordnung.
zuführen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Ich muss Ihnen schon sagen: Sie können den früheren
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bundeskanzler Schröder nicht einfach kritiklos in eine
Linie mit den großen Europäern stellen. Schauen wir uns
Herr Kollege Gysi. doch einmal an, was da passiert ist. Bundeskanzler
Schröder sprach 2003 im Ehrenhof des Élysée-Palastes
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): von einer Achse Berlin-Paris-Moskau. Einen größeren
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Schlag als mit dieser Formulierung konnte man gegen
die Einheit in Europa gar nicht machen.
Daneben brauchen wir unbedingt eine Vermögen-
steuer. Es ist nicht mehr zu akzeptieren, dass die Vermö- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
genden in der Euro-Zone noch nicht einmal mit einem
Dann wurden locker vom Hocker mit fröhlichem Ge-
halben Euro zur Finanzierung der Krise herangezogen
sicht die Stabilitätskriterien gebrochen. Weil es einem
werden. Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen: 2 000
parteipolitisch in den Kram passte, wurde ein Mitglieds-
griechische Familien besitzen 80 Prozent des Vermögens
land, nämlich Österreich, auf unanständige Weise in die
Griechenlands. Die besagte Frau Kohl sagt dazu: Die
Pfanne gehauen. Das hat mit europäischen Positionen
kann man aber nicht heranziehen, weil sie ihr Vermögen überhaupt nichts zu tun.
schon ins Ausland gebracht haben. – Abgesehen davon,
(B) dass das bei Grundstücken nicht geht, sage ich: Dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- (D)
führen wir eben US-amerikanisches Recht ein. Jeder derspruch bei der SPD)
Staatsbürger und jede Staatsbürgerin haftet für die Steu-
– Immer langsam! Ich will Ihnen einmal etwas sagen:
ern in diesem Land, egal wohin sie das Vermögen ver-
Ich war es nicht, der den früheren Bundeskanzler als
schieben. Das wäre doch nicht zu viel verlangt.
großen Europäer eingeführt hat; das waren Sie. Wenn
(Beifall bei der LINKEN) Sie das machen, dann müssen Sie auch mit den Punkten
leben, an denen offenkundig wird, dass er sich selber
Herr Bofinger, der Wirtschaftsweise der Regierung, und einige parteipolitische Interessen vertreten hat, aber
hat gesagt: Ihr Weg führt ins Desaster. – Das stimmt, nicht die Interessen Europas und schon gar nicht die In-
Frau Bundeskanzlerin. Sie müssen den Mut haben, end- teressen Deutschlands. Das muss hier gesagt werden.
lich die Unterordnung unter die Banken aufzugeben. Sie
müssen den Mut haben, die Banken diesbezüglich zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
entmachten. Nur so kann man übrigens einen Markt und Thomas Oppermann [SPD]: Und Sie nehmen
etwas Soziales herstellen. Die Priorität der Banken muss das für sich in Anspruch?)
endlich überwunden werden. Dann – und nur dann – be- Auf Ihrem Parteitag können Sie solche Sprüche machen;
kommen wir ein Europa für die Menschen. da sind wir nicht dabei. Aber hier lassen wir Ihnen das
(Beifall bei der LINKEN) – damit das ganz klar ist – nicht durchgehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu Europa. Die Bundeskanzlerin hat heute hier ganz
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für klar formuliert, dass das, was notwendig ist, um Europa
die CDU/CSU-Fraktion. zu stabilisieren, mit dem bisherigen Instrumentarium
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht geht. Wir waren uns in unserer gemeinsamen Er-
klärung einig, dass es einige Dinge gibt, die sich ändern
müssen. Die Position war, dass wir die Europäische
Volker Kauder (CDU/CSU):
Kommission in die Lage versetzen müssen, Haushalte zu
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! begutachten und daraufhin Empfehlungen auszuspre-
Wir sind in einer wirklich außergewöhnlichen Situation. chen.
Wir alle müssen uns anstrengen, um Europa aus dieser
Krise und durch diese Krise zu führen. Da hat das deut- (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist doch
sche Parlament seine eigenen Positionen und seine eige- nichts Neues!)
17580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Volker Kauder
(A) Wir waren uns doch einig, dass wir einen Automatismus Es ist doch völlig klar: Wenn eine Regierung ein Land in (C)
brauchen, damit genau der Fall nicht mehr eintritt, dass eine solche Situation bringt, wie es im Fall Griechenland
durch politische Entscheidungen Verfehlungen einfach geschehen ist, dann muss es eine Veränderung geben,
unter den Tisch gekehrt werden. Dazu braucht man eine dann muss eine andere politische Richtung eingeschla-
Änderung in den europäischen Verträgen. Wir waren uns gen werden. Das wurde weder von der Europäischen
auch darin einig, dass es Sanktionen geben muss, deren Kommission noch vom Europaparlament, sondern vor
Durchsetzung wir vor dem Europäischen Gerichtshof Ort entschieden.
einklagen können. Zu Herrn Papandreou: Wenn man in einer so schwie-
Dies alles, was auch Sie richtig finden und was wir in rigen Situation etwas miteinander vereinbart, dann kann
unserer gemeinsamen Erklärung gesagt haben, ist doch man nicht überfallartig und über Nacht etwas anderes
nur die Folge davon, dass wir von Anfang an einen fes- machen und alles durcheinanderbringen. Das war das
ten Grundsatz verfolgt haben: Wir sind solidarisch, aber Problem.
Hilfe gibt es nur, wenn die notwendigen Gegenleistun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel
gen erbracht werden. – Glauben Sie, irgendjemand in Troost [DIE LINKE]: Genau!)
Europa hätte auch nur einen entscheidenden Schritt ge-
macht, wenn das gemacht worden wäre, was Sie von An- Dazu hätte ich mir eine kritische Anmerkung der Grünen
fang an verlangt haben? Sie wollten Euro-Bonds und auf ihrem Parteitag gewünscht. Aber da wird so getan,
wollten Geld geben; damit wäre für Sie die Sache erle- als ob ein Held habe gehen müssen. Nein, hier hat sich
digt gewesen. jemand nicht an Vereinbarungen gehalten.

(Joachim Poß [SPD]: Das hat kein Mensch ge- (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!)
sagt!) Schon früher bestand das Problem in Europa darin, dass
Aber das hätte uns überhaupt nicht weitergebracht. man sich nicht an Vereinbarungen gehalten hat. Das
muss sich grundlegend ändern. An Vereinbarungen, an
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gemeinsame Regeln müssen wir uns alle halten, weil es
sonst, wie wir gesehen haben, schiefgeht. Das ist die Er-
Frau Bundeskanzlerin, der Weg, den Sie beschritten ha-
fahrung aus unserer Geschichte.
ben und den wir von der Koalition immer begleitet ha-
ben, ist richtig. Wir sagen: Es gibt Hilfe und Unterstüt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zung, aber es sind auch notwendige Schritte zu gehen.
Wir werden in der nächsten Zeit sicherlich immer
Ich glaube, dass der bevorstehende Gipfel entschei- wieder über die Situation in Europa reden. Wir stellen
dende Möglichkeiten bietet. Ich weiß sehr wohl, dass wir aber auch fest: Obwohl es Schwierigkeiten gibt und wir
(B) (D)
im deutschen Parlament in einem gewissen Zielkonflikt immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert
sind. Die Bundeskanzlerin hat uns gesagt, welche zentra- sind – da widerspreche ich dem einen oder anderen –,
len und wichtigen Punkte auf dem Gipfel besprochen kommen wir Schritt für Schritt voran. Wir müssen vor
werden sollen. Da unterstützen wir die Bundesregierung. allem das Grundübel beseitigen; wir müssen die Schul-
Aber klar ist auch, dass wir im Vorfeld nicht jedes De- denpolitik beenden. Da, Herr Steinmeier, kann ich mich
tail, über das verhandelt wird, bis auf Punkt und Komma nur wundern. Wo waren Sie während der Haushaltsbera-
festlegen können. Rainer Brüderle hat völlig recht, wenn tungen in der letzten Woche?
er sagt: Wir sorgen für die Leitplanken – diese haben wir (Manfred Zöllmer [SPD]: Wie sieht das denn
formuliert –, zwischen denen sich die Regierung bewegt, mit Ihren Schulden aus?)
und dann unterstützen wir die Regierung, damit sie das
erfolgreich zu Ende bringt. – Bislang sagt uns die Erfah- Wie kann man von diesem Rednerpult aus – wohl wis-
rung: Angela Merkel ist dies immer gelungen. Wir wün- send, dass die ganze Welt zuschaut – den Satz sagen,
schen ihr viel Erfolg und Glück für den kommenden dass wir in Deutschland bei der Haushaltskonsolidierung
Freitag. nicht vorankommen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie haben die
Neuverschuldung erhöht!)
Dass wir die notwendigen Veränderungen durchset-
zen können, zeigt, glaube ich, die Entwicklung in der Sie müssen woanders gewesen sein. Sie haben wahr-
letzten Zeit. Herr Gysi, man kann leicht daherreden und scheinlich noch an die Zeit der rot-grünen Politik ge-
sagen: Da stürzen ganze Regierungen. – Heute lese ich dacht. Damals ist es nicht gelungen, bei der Konsolidie-
in den Zeitungen – das mag Sie vielleicht sogar bedrü- rung Fortschritte zu machen. Aber wir sind bei der
cken –, dass nicht mehr die Opposition entscheidet, ob Haushaltskonsolidierung wirklich hervorragend voran-
eine Regierung im Amt bleibt oder nicht, sondern die Fi- gekommen und geben damit ein Beispiel, wie man es
nanzmärkte. Bei uns entscheiden weder die Finanz- machen muss. Deswegen sind wir in einer so guten Si-
märkte noch Sie; das ist ein Glücksfall für uns. tuation.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
NEN]: Das erledigen Sie selber! – Heiterkeit Ich kann zu den Grünen nur sagen – das habe ich auch
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei in der Haushaltsdebatte getan –: Es ist abenteuerlich,
der SPD – Elke Ferner [SPD]: Das macht die dass unsere heimische Wirtschaft, also genau diejenigen,
FDP!) die dazu beigetragen haben, dass wir in Deutschland er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17581
Volker Kauder
(A) folgreich sind, nämlich der Mittelstand, aber auch Groß- rückgenommen. Das hat es lange nicht gegeben, dass je- (C)
industrie, Automobilindustrie, Maschinenbau, auf Ih- mand, der für Deutschland in der Verantwortung steht
rem Parteitag besonders ins Visier geraten ist. Ich sage – das tun Sie als Vorsitzender einer Koalitionsfraktion –,
es noch einmal: Mit Ihren Fahrradläden werden Sie das in dieser Art und Weise arrogant in Europa herumholzt.
Wirtschaftswachstum nicht ankurbeln, sondern nur mit- Das geht nicht. Das schwächt Deutschland, das er-
hilfe der mittelständischen Industrie und der Automobil- schwert eine Politik in Europa.
industrie in unserem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- LINKEN)
NEN]: Ich wäre froh, ich hätte einen Fahrrad-
laden! Räder werden gebraucht!) Ich hätte mir, Frau Bundeskanzlerin, wenn Herr Kauder
dazu nicht in der Lage ist, wenigstens von Ihnen ge-
Im Hinblick auf Europa haben wir einiges erreicht. wünscht, dass Sie klargestellt hätten, dass diese Art und
Eines sollten wir klar und deutlich sagen – schauen wir Weise des Umgangs mit unseren Partnern in Europa
uns einmal die Zahlen auch im Verhältnis zum Dollar nicht die Position der Bundesregierung bzw. der Bundes-
an –: Wir haben zwar eine Staatsschuldenkrise: aber wir republik Deutschland ist.
können wirklich froh darüber sein, dass der Euro noch
immer stabil ist. Wer meint, der Euro stehe am Abgrund, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
redet Unsinn. Der Euro ist stabil. und bei der SPD)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Regierungserklärung, Frau Bundeskanzlerin, war
Wo leben Sie denn?) wieder sehr stark von dem Grundprinzip charakterisiert:
Der Weg ist das Ziel. Um das ein bisschen zu bemänteln,
Europa wird sich in Zukunft gut entwickeln, wenn wir so haben Sie das Bild des Marathonläufers bemüht.
weitermachen, wie wir das getan haben. Die Verschul-
dung muss allerdings zurückgeführt werden; das muss (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr gut! Da
erreicht werden. kenne ich mich aus!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie uns einmal bei diesem Bild bleiben. Das
Wichtigste, was man bei einem solchen Lauf berücksich-
Sie können auch mithelfen, dass die Schuldenbremse tigen muss, ist:
überall eingeführt wird. Das ist ein gutes Instrument, um
auf den rechten Weg zu kommen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Kräfte ein-
teilen!)
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Reden Sie doch
(B) mal mit Ihrem Finanzminister! Der weiß es Man sollte sich vorher über die Strecke kundig machen. (D)
besser!) Ansonsten geht es Ihnen wie Ihrem Wirtschaftsminister,
der erst in die falsche Richtung rennt und sich dann im-
Herzlichen Dank. mer nur im Kreis bewegt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Daniel
Präsident Dr. Norbert Lammert: Bahr [Münster] [FDP]: Na, na!)
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Wenn man einen Marathon laufen will, dann muss
man ihn nicht nur zu Ende bringen, sondern man muss
auch anfangen, zu laufen. Das ist aber genau das, was
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie zurzeit nicht machen. Sie sagen: Wir werden nichts
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr unternehmen, bevor nicht Vertragsänderungen und Ähn-
Kauder, bleiben wir einfach bei den Fakten. Sie haben
liches vorgenommen werden. Das heißt, Ihr Marathon-
hier letzte Woche einen Haushalt verabschiedet, der eine
lauf hat noch gar nicht begonnen. Dies ist in der jetzigen
höhere Neuverschuldung vorsieht, als wir sie im letzten
Jahr gehabt haben. Sie erzählen dem Rest Europas öf- Situation schlicht und ergreifend fahrlässig.
fentlich, es solle sparen. Aber Sie selber sind dazu nicht Die Botschaft, beispielsweise in Richtung Italien, lau-
in der Lage. tet: Bevor überhaupt etwas passiert, soll das Land erst
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal sparen. Ich will nur kurz darauf hinweisen, was
und bei der SPD) Italien bevorsteht. Italien muss im nächsten Jahr
370 Milliarden Euro refinanzieren. Das ist mehr als der
Damit noch nicht genug. Sie erklären auch noch: Wir Bundeshaushalt. Im Jahr darauf werden es 200 Milliar-
wollen so weitermachen. Auf diese zusätzlichen Schul- den Euro sein. Italien muss zurzeit auf dem Markt 8 Pro-
den für das nächste Jahr setzen Sie noch Steuersenkun- zent Zinsen für seine Refinanzierung zahlen. Glauben
gen auf Pump. Das ist Ihre solide Finanzpolitik. – Das Sie, dagegen könnte man mit irgendeiner staatlichen
hat mit Solidität gar nichts zu tun. Sparpolitik ansparen? Das ist schlicht und ergreifend un-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möglich.
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich hätte mir gewünscht, lieber Herr Kauder, Sie hät- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
ten hier Ihre unseligen Äußerungen vom Parteitag zu- LINKEN)
17582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Jürgen Trittin
(A) Das sage nicht nur ich, sondern das hat Ihnen auch Ihr ei- (Dagmar G. Wöhrl [CDU/CSU]: Das hat sie (C)
gener Sachverständigenrat ins Stammbuch geschrieben. doch gar nicht gesagt!)
Er hat ausgerechnet, was Italien erwirtschaften müsste,
wenn es die Maastricht-Kriterien innerhalb von 20 Jahren Aber wenn sie kommen, dann wird es zu spät sein. Also
einhalten wollte. Italien müsste jedes Jahr einen Primär- müssen wir etwas anderes machen. Selbstverständlich
überschuss von 8 Prozent erwirtschaften. Nein, das, was müssen wir das Volumen für die EFSF vergrößern. Wenn
Sie dem Rest Europas predigen, praktizieren Sie nicht es mit der Hebelung nicht klappt, geht dies nur über eine
nur selber nicht, sondern es ist auch eine Auflage, die das Banklizenz. Dann kann man das politisch steuern. Das
Problem nicht lösen wird. An deren Ende steht das Zer- ist vernünftig. Ich sage Ihnen in aller Ruhe: Es ist die
brechen der Euro-Zone und damit des gemeinsamen Eu- bessere Alternative zu dem, was sonst bleibt,
ropas. (Zuruf von der FDP: Es wird immer schlim-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer!)
und bei der SPD)
nämlich die direkte Finanzierung durch die EZB ohne
Darüber mache ich mir Sorgen. Wollen wir dabei taten- jede Sparauflage. Deswegen muss das jetzt kommen.
los zugucken?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Kollege Kauder hat sich nicht entblödet, den Ver-
gleich mit der Fahrradproduktion zu bringen. Ich würde Sie brauchen auch einen verlässlichen Pfad zur Til-
Ihnen raten, lieber Herr Kollege Kauder, die Firma gung der europäischen Schulden.
Daimler zu besuchen und Herrn Zetsche zu fragen, was (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Wie ein
er glaubt, was mit seinem Unternehmen passiert, wenn Blinder von der Farbe!)
die Euro-Zone auseinanderbricht und es in der Kern-
Euro-Zone zu einer Aufwertung um 20, 30 oder 50 Pro- Wir müssen mit dem Schuldenabbau Ernst machen. Ich
zent kommt. Dann wären die Arbeitsplätze in Untertürk- rate Ihnen: Lesen Sie das Gutachten Ihrer eigenen Sach-
heim und Sindelfingen aber sehr akut in Gefahr. Das verständigen! Da findet sich ein sehr lesenswerter Vor-
nehmen Sie mit Ihrem Nichthandeln zurzeit billigend in schlag. Herr Schäuble hat gesagt: Ich übernehme Teile
Kauf. Das ist das Problem, das der Industriestandort davon. – Aber er übernimmt das Wesentliche nicht. Das
Deutschland hat: Sie sind fahrlässig. Wesentliche, um die Finanzmärkte von Europa und von
diesem gemeinsamen Euro zu überzeugen, ist, dass klar-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt wird: Dieses Europa steht füreinander ein. Dann
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der muss auch klargestellt werden, dass jedes Land seinen
(B) LINKEN – Widerspruch bei der FDP) Schuldentilgungsverpflichtungen nachkommt. Dafür hat (D)
Hören Sie auf, das deutsche Volk zu belügen! Es ist der Sachverständigenrat mit dem Schuldentilgungsfonds
eine Lüge, wenn Sie sagen: Sie haften nicht für Anleihen ein richtiges, ein kluges, ein gutes Modell vorgestellt. So
anderer. Herr Gysi hat recht. Bei der EZB liegen kommt man aus der Krise heraus, so spart man Geld, so
200 Milliarden Euro Staatsanleihen, für die Deutschland stellt man finanzielle Solidität wieder her.
mit 54 Milliarden Euro haftet. Bei der EZB liegt aber
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
noch mehr: Sie hat Kredite an die südeuropäischen Ban-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
ken vergeben. Wir haften zurzeit für 460 Milliarden
Euro davon. – Ich könnte das weiter fortsetzen. Nehmen Und schließlich, meine Damen und Herren: Ja, wir
Sie nur die Verbindlichkeiten, die diese Staaten bei deut- brauchen Vertragsänderungen, aber nicht anstelle jetzi-
schen Banken haben: 525 Milliarden Euro. gen Handelns, sondern zusätzlich zu diesem Handeln.
(Widerspruch bei der CDU/CSU) Frau Bundeskanzlerin, es war übrigens nicht die Poli-
Das ist die finanzielle Dimension, um die es hier geht. tik, die die Währungsunion geschaffen hat, das war nicht
Wir reden von einer dramatischen Situation, und Frau eine anonyme Macht, sondern das war der Bundeskanz-
Merkel sitzt auf ihrem Stuhl und überlegt sich, ob sie ir- ler Helmut Kohl – ich meine mich zu erinnern, Sie wa-
gendwann die Turnschuhe aus dem Schrank holen soll. ren damals in seinem Kabinett –, es war eine Mehrheit
im Bundesrat, die aus A-Ländern bestand, und es war
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die grüne Partei. Wir alle haben uns für diese ge-
und bei der SPD) meinsame Währung ausgesprochen. Wir haben dies ge-
meinsam in dem Wissen getan, dass es Defizite gibt.
Nein, jetzt muss gehandelt werden. Das heißt, Italien,
Denn wir haben gesagt: Nach der deutschen Einheit wol-
Spanien und die anderen betroffenen Länder müssen
len wir diesen wichtigen Schritt gemeinsam gehen.
sich refinanzieren können.
(Jan Mücke [FDP]: Sie müssen sparen!) Nun geht es darum, diesen Schritt tatsächlich zu ge-
hen und von der Währungs- zu einer Wirtschaftsunion
Wenn es mit dem Hebel nicht klappt, dann wird man et- zu kommen. Nur, Sie haben nichts zum Inhalt gesagt.
was anderes machen müssen. Frau Merkel ist inzwi- Was ist eigentlich mit den Vorschlägen von Nicolas
schen sehr interessiert, was die Euro-Bonds angeht. Sarkozy, der gestern verkündet hat, dieses neue Europa
Eben hat sie gesagt: Darüber muss man sich jetzt nicht soll kein institutionelles, kein gemeinschaftliches Eu-
streiten; sie kommen sowieso. ropa sein,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17583
Jürgen Trittin
(A) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
hat er nicht gesagt! Das stimmt doch gar
nicht!) Es ist doch klar, dass die Länder mit hoher Schuldenpro-
blematik nach Rettungsankern suchen und hoffen, die
sondern es soll das Europa der Regierungen sein? Er will Deutschen werden das bezahlen. Deswegen ist es richtig,
sogar das Schengen-Abkommen aufheben, das heißt, er dass die Bundesregierung und die Kanzlerin Angela
will die europäische Freizügigkeit abschaffen. Wenn Sie Merkel in Europa wie ein Fels in der Brandung steht und
denn unbedingt über Vertragsänderungen reden wollen, das ablehnt. Die ganze Koalition lehnt das ab.
dann hätte ich dazu ein klares Wort von Ihnen erwartet.
Das, was er vorgeschlagen hat, ist kein gemeinsames Eu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ropa. der CDU/CSU)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das sind wir dem deutschen Steuerzahler schuldig, um
sowie bei Abgeordneten der SPD) ihn zu schützen. Eine andere Alternative gibt es über-
haupt nicht.
Sie müssen jetzt handeln. Spanien und Italien müssen
sich refinanzieren können. Wir brauchen einen tatsächli- Präsident Dr. Norbert Lammert:
chen Schuldenabbau durch einen gemeinsamen Schul-
Herr Kollege Solms, darf Ihnen der Kollege Ernst
dentilgungsfonds. Wir brauchen Schritte hin zu einer
eine Frage stellen?
echten Wirtschafts- und Währungsunion. Damit müssen
wir klarmachen: Dieses Europa steht zusammen, es hält
zusammen. Das müssen wir in aller Deutlichkeit sagen, Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
und das müssen wir nicht nur auf Deutsch sagen, das Nein, ich habe nur drei Minuten. Ich möchte jetzt
müssen wir auch auf Griechisch, auf Italienisch und in nicht unterbrochen werden.
allen anderen Sprachen sagen. – So viel zum Abschluss
zu Herrn Kauder. (Caren Marks [SPD]: Sie wissen wohl nicht,
dass das nicht angerechnet wird!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Schulden der Unionsstaaten haben heute ein Ni-
veau von etwa 8,3 Billionen Euro, also 8 300 Milliarden
Euro, erreicht. Das sind im Durchschnitt 90 Prozent des
Präsident Dr. Norbert Lammert: gemeinsamen Bruttoinlandsproduktes;
Nächster Redner ist der Kollege Hermann Otto Solms
für die FDP-Fraktion. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch nicht
(B) wahr!) (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zulässig sind eigentlich 60 Prozent. Wenn Sie sich diese
Volumina, diese Dimensionen anschauen, erkennen Sie,
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
dass Sie dieses Problem nicht in ein oder zwei Jahren lö-
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- sen können;
gen! Man muss zunächst noch einmal daran erinnern,
was die Ursache für die Krise war. Ursache für die Krise (Thomas Oppermann [SPD]: Aber mit Steuer-
senkungen doch wohl auch nicht!)
(Caren Marks [SPD]: Ist Frau Merkel!)
vielmehr müssen diese Schulden auf einem langen Weg
ist die unmäßige Verschuldungspolitik der Staaten – üb- abgebaut werden. Entscheidend ist – das ist wie beim
rigens Deutschlands genauso wie anderer Staaten –, und Marathonlauf –: Sie müssen anfangen, zu laufen.
nichts anderes.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der
Wer die Krise bekämpfen will, muss die Ursache be- SPD sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-
kämpfen. Der kann sich nicht nur Gedanken über die Fi- NIS 90/DIE GRÜNEN])
nanzierung dieser Situation machen, wie das eben der Dieses Anfangen – zu laufen – war die Verabschiedung
Kollege Trittin gemacht hat. Noch vor kurzem hat er von der Ertüchtigung der EFSF, der Sie ja zugestimmt haben.
Euro-Bonds gesprochen. Dann ist ihm widersprochen Da beginnt der Prozess der Entschuldung, der für die
worden; es ist gesagt worden, dass Euro-Bonds zu einer Staaten bedingt abläuft – das ist nicht wie bei den Euro-
gesamtschuldnerischen Haftung der deutschen Steuer- Bonds; da wäre es unbedingt –; das heißt, sie werden ge-
zahler führen würden. Er hat gemerkt, das ist nicht so zwungen, für Hilfsleistungen Gegenleistungen zu geben,
sehr populär. Jetzt redet er von einer Banklizenz. Das ist nämlich ihre Ausgaben einzuschränken und ihre Wirt-
aber nichts anderes. Das heißt nämlich, dass die Funk- schaft zu ertüchtigen.
tion der Europäischen Zentralbank zur Finanzierung auf
den Fonds übertragen wird, und dann wird eben wieder (Thomas Oppermann [SPD]: Sagen Sie mal
Geld geschöpft und so finanziert. was zum Rösler-Plan!)
Ich sage noch einmal: Es geht nicht um die Finanzie- Darauf kommt es an. Wenn das gelingt und dieser Weg
rung der Krise, es geht um die Lösung der Krise. Das ist Schritt für Schritt, Jahr um Jahr konsequent fortgesetzt
das Entscheidende. wird – das ist die Aufgabe –, dann wird das Problem ge-
17584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Hermann Otto Solms


(A) löst werden und dann wird das Vertrauen der Märkte größten europäischen Krise gänzlich handlungsunfähig? (C)
ganz schnell zurückkommen. Darum geht es auch.
Einen schnellen, kurzfristigen Weg – das sage ich (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dann muss die
auch den Kritikern in den eigenen Reihen; Frank FDP die Koalition verlassen!)
Schäffler war ja gerade noch da – gibt es nicht. Wer ei- Bevor Sie gegen uns polemisieren, sollten Sie wirk-
nen solchen Weg gehen will, der riskiert den schnellen lich überlegen, wie Sie mit gemeinschaftlichem Handeln
Zusammenbruch der Märkte. Das würde eine weltweite
Beiträge leisten, diese Krise zu bewältigen. Dazu gab es
Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen. Dieses Risiko in der heutigen Debatte viele kluge Anmerkungen, die
darf man auf keinen Fall eingehen. Wir müssen den ge- ich aus Zeitgründen gar nicht wiederholen kann. Sie ha-
ordneten Weg des Abbaus der Schulden und der Stabili-
ben also überhaupt keinen Anlass, Herr Kauder, Herr
tät der Finanzen in den europäischen Staaten gehen. Brüderle – auch die Kanzlerin –, solche Töne anzuschla-
Dann wird das Vertrauen der Märkte auch wieder zu- gen. Das Spiel, das Sie jetzt spielen, gefährdet letzten
rückkehren.
Endes Hunderttausende von Arbeitsplätzen hier in der
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Bundesrepublik Deutschland. Das gefährdet eventuell
die Zukunft der Euro-Zone. Darum geht es, wenn Sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich nur noch parteitaktisch orientieren. Frau Merkel hat
heute nicht erkennen lassen, dass sie gewillt ist, weiter-
Präsident Dr. Norbert Lammert: zudenken und auch Türen zum Nachdenken zu öffnen.
Joachim Poß ist der nächste Redner für die SPD-Frak- Sie hat wieder nur den Stabilitätskurs betont, den auch
tion. wir für richtig halten; aber er reicht nicht aus. Wo war
denn die Wachstumskomponente? Das war ja quasi nur
(Beifall bei der SPD) als Nachklapp dabei. Das reicht für die größte Volkswirt-
schaft in Europa und für die politische Führung dieses
Joachim Poß (SPD): Landes lange nicht aus. Frau Merkel, Sie spielen mit den
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Interessen der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
Kollege Kauder – er verlässt gerade den Saal –, nehmer, und darauf müssen wir hier hinweisen.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD)
Nein, das macht er nicht! – Holger Krestel Die Krise, mit der wir es zu tun haben, kennen Sie
[FDP]: Fragen Sie sich mal, woran das liegt!) selbst, und es geht ja weiter. Die Menschen stellen sich
die Frage, ob die Politik der Probleme noch Herr werden
(B) Ihre Äußerung, dass Deutsch gesprochen wird, ist ein (D)
Beleg dieser Krise. Sie zeigt nämlich die Angst vor den kann. Wir müssen alle aufpassen, dass die Staatsfinan-
Wählerinnen und Wählern. Aber was nützen Ihnen sol- zierungs- und Finanzkrise nicht zu einer Krise von staat-
che nationalen Töne, wenn Sie damit überhaupt keine licher Legitimation und der Demokratie wird. Insoweit
europäische Lösung erreichen können? wäre es wichtig, dass auch Sie überlegen, wie es gerech-
ter in diesem Lande zugehen kann, als das derzeit der
(Beifall bei der SPD) Fall ist. Das gilt nicht nur für Griechenland, wo die
Frage der Ungerechtigkeit mit Händen zu greifen ist,
Was nützt Ihnen das?
sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland. Auch
Die totale Verengung des Blickfeldes auf die Innen- da vergeben Sie Tag für Tag Chancen, die Krise in richti-
politik ist das Kennzeichen dieser Koalition. ger Weise anzugehen.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das betreibt die Mich hat mit größter Sorge erfüllt, dass Frau Merkel
SPD!) hier schon wieder dieselben taktischen Spiele treibt und
aus den letzten zwei Jahren nichts gelernt hat.
– Nein, nein. Das wird weltweit festgestellt: Es gibt eine
totale Verengung auf die Innenpolitik. – Wer sich so ver- (Beifall bei der SPD – Erich G. Fritz [CDU/
hält, wird dem Ausmaß dieser Krise nicht gerecht. CSU]: Und Poß schwingt immer die gleichen
Reden! – Gegenruf von der CDU/CSU:
(Beifall bei der SPD) Stimmt!)
Sie starten Angriffe auf die Opposition und wollen – Nein, diese Rede ist gerechtfertigt, weil von Frau
von der katastrophalen eigenen Situation ablenken; denn Merkel keine neuen Signale kommen, und wenn, dann
Sie in der Koalition stehen ja kurz vor dem Auseinander- dienen diese Signale nur dem Selbstschutz. Sie tastet
brechen. nicht die Unabhängigkeit der EZB an. Wie edel! Aber
das ist ja ihr Selbstschutz. Deswegen schaut sie zu, wie
(Patrick Döring [FDP]: Zerbrechen Sie sich
die EZB jetzt handelt. Das ist nämlich der Hintergrund
mal nicht den Kopf!)
dieser Äußerung von Frau Merkel.
Wenn der Mitgliederentscheid in der FDP nicht so aus-
(Beifall bei der SPD – Axel Schäfer [Bochum]
fällt, wie es Herr Rösler und die Führung gern hätten,
[SPD]: Sehr wahr!)
was ist denn dann mit der Bundesrepublik Deutschland?
Ist dieses Land, das wegen des Zustandes der Koalition Es besteht die Gefahr einer Politik der verbrannten
schon jetzt nicht voll handlungsfähig ist, dann in der Erde, in Europa wie auch bei Ihren eigenen Leuten, bei
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17585
Joachim Poß
(A) Ihren Anhängern und in der eigenen Koalition. Die eige- Wir stehen vor einem historischen Einschnitt, weil (C)
nen Leute wissen eben auch immer weniger, wofür Sie wir zum ersten Mal öffentlich darüber diskutieren, dass
stehen, Frau Merkel, und was Ihre Überzeugungen sind. Staaten in Zukunft ein Risiko darstellen. Bisher wurde
Unbestritten ist bei Ihnen die Stabilitätsunion, und da- die Philosophie vertreten: Staaten sind immer solvent,
rüber hinaus kommt von Ihnen überhaupt nichts mehr. Staaten zahlen immer ihre Schulden, und Staatsanleihen
Wenn Sie auf Helmut Kohl verweisen: Bei aller Kritik sind kein Risiko. Wir ändern das jetzt und kommen
an Helmut Kohl glaube ich, dass sich Helmut Kohl in dazu, dass Märkte Staatsanleihen richtig bepreisen sol-
dieser Krise anders, angemessener verhalten hätte, als len. Damit beginnt eine neue Zeitrechnung. Wir müssen
Sie das tun. diesen Übergang vernünftig gestalten. Wir müssen auf-
passen, dass wir bei dem Übergang von der alten zu der
(Beifall bei der SPD) neuen Philosophie, die die richtige ist, nicht verunglü-
Ein Letztes. Herr Kauder, Sie haben Gerhard cken. Deshalb ist es richtig, dass wir uns in Zukunft
Schröder angesprochen. Gerhard Schröder hat die Ak- nicht mehr abhängig machen. Aber allen Rednern der
tion damals gemacht, um das Aufkommen des Rechtsra- linken Seite des Hauses sei gesagt: Unser Problem ist
dikalismus hier in Europa zu bekämpfen. Dass das drin- nicht die Abhängigkeit von Banken, unser Problem ist
gend notwendig ist, können wir in diesen Tagen die Abhängigkeit von zu vielen Schulden. Deshalb brau-
beobachten. chen wir eine andere Schuldenkultur. Wir brauchen we-
niger Schulden und damit weniger Abhängigkeit der
(Beifall bei der SPD) Menschen. Das zu ändern, muss das Ziel unserer Politik
sein.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Nächster Redner ist der Kollege Michael Meister für
der FDP)
die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU) An der Stelle geht die Bundesregierung richtig voran.
Wir sparen auf der Ausgabenseite – keine höheren Aus-
gaben –, und wir haben, was die Einnahmen betrifft, un-
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): sere Erwartungen für das nächste Jahr gesenkt. Dazu
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe will ich sagen: Auch das zeugt von einer anderen Kultur.
Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor einer einma- Unter Rot-Grün hatten Sie einen Finanzminister, der je-
ligen Herausforderung in der Weltgeschichte: Das Pro- den seiner Haushalte auf Kante genäht und uns dann am
blem, dass wir eine Währungsunion hatten, die in Turbu- Jahresende erklärt hat, dass es leider schiefgegangen ist
(B) lenzen kam, dass dabei Landesgrenzen überschritten und die Schulden gestiegen sind. Mir ist ein Finanz- (D)
wurden und dass es dabei keine Zentralregierung an der minister Wolfgang Schäuble, der am Anfang konservativ
Spitze gab, ist noch nicht vorgekommen. Deshalb gibt es plant und dann seine Planungen positiv übertrifft, lieber
auch kein Drehbuch zur Bewältigung dieser Krise, und als jemand, der uns erklären muss, dass es schiefgegan-
deshalb möchte ich zunächst seitens meiner Fraktion der gen ist. Deshalb machen wir weiter mit dieser richtigen
Bundeskanzlerin und der Bundesregierung ein riesiges Kultur.
Kompliment dafür machen, dass wir uns bisher auf die-
sem Neuland so gut bewegt haben und dass wir einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
klaren Plan haben, wie wir diese Krise bewältigen wol-
len. Auf europäischer Ebene sollte man die möglichen Al-
ternativen kennen und abwägen. Herr Kollege Poß hat
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eben kritisiert, wir würden zu viel Innenpolitik machen,
und dann hat er eine innenpolitische Rede gehalten. Wir
Es ist schon merkwürdig, Herr Steinmeier, dass Sie
stehen klar zu Europa, wir wollen Europa. Wir stehen
hier von Ihrem rot-grünen Expertentum sprechen. Rot-
klar zum Euro, und wir wollen den Euro nicht nur dauer-
Grün ist nicht die Lösung, sondern eine wesentliche Ur-
haft, sondern wir wollen ihn auch als stabile Währung.
sache dieser Krise.
Dafür treten wir ein. Dafür begeben wir uns nicht in in-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nenpolitische Scharmützel, sondern wir stellen die rich-
tigen Weichen für die Zukunft Europas und für die Zu-
Griechenland ist unter Ihrer Zustimmung gegen jegliche kunft eines stabilen Euro.
ökonomische Vernunft beigetreten. Der Stabilitätspakt
wurde von Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Hans Eichel gegen jegliche Vernunft aufgeweicht.
Wie sehen denn die Alternativen aus? Wir glauben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht, dass wir unter den jetzigen Rahmenbedingungen
Die Deregulierung der Finanzmärkte, die in Spanien eine gemeinsame Haftung für die Schulden aller Mit-
und Irland ins Elend geführt hat, wurde von der rot-grü- gliedsländer verantworten können. Das setzt die falschen
nen Regierung betrieben und befürwortet. Sie sind die Anreize, weil dann diejenigen, die seit jeher das Schul-
Ursache, aber nicht die Lösung des Problems. Mit Ihren denmachen gewohnt waren, auch in Zukunft auf Kosten
Behauptungen machen Sie hier reine Innenpolitik. anderer leben werden. Deshalb würde das – da hat die
Kanzlerin recht – die Krise nicht lösen. Das wäre eine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Scheinlösung und würde die Krise über die Zeit ver-
17586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Michael Meister


(A) schlimmern. Deshalb Nein zu einer Haftungsgemein- hohen Zinsen leisten können. Ich halte dieses Argument (C)
schaft. für absolut unsinnig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/
CSU])
Wenn ich einen stabilen Euro auf Dauer will, dann ist
die absolute Grundlage dafür eine unabhängige Zentral- Wichtig ist, dass wir dauerhaft langfristige Stabilität er-
bank. Wer das Postulat einer unabhängigen Zentralbank reichen. Wenn einer einmal einen Tag ein bisschen hö-
vertritt, der kann als Politik nicht andauernd Entschei- here Zinsen zahlt, ist das doch kein Problem. Die Frage
dungen der Zentralbank kommentieren, kluge Aufforde- ist, wo der Zinssatz dauerhaft liegt. Deshalb müssen wir
rungen an sie richten und dergleichen mehr tun. uns um nachhaltige Stabilität bemühen. Kurzfristige Ak-
tivitäten helfen nicht.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Was sagt denn
die Kanzlerin? Die sagt: Keine Notenpresse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
anwerfen!) Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat Trittin
noch nicht kapiert!)
Wer Unabhängigkeit will, darf sie nicht nur fordern, son-
dern muss sie auch leben. Das heißt, Frau Merkel, wir Ich würde mir wünschen – schon seit zwei Jahren –,
müssen uns an der Stelle der Kommentare enthalten und dass die Europäische Kommission an dieser Stelle eine
akzeptieren, dass die Notenbank auf gesetzlich klar gere- viel stärkere Rolle spielt und in diesem Sinne aktiv wird.
gelter Grundlage ihre Aufgabe für einen dauerhaft stabi- Ich bedauere, dass wir von dieser Stelle sehr oft Vor-
len Euro wahrnimmt. schläge hören, die eigentlich nicht dem klaren Kurs für
mehr Stabilität und mehr gemeinsame europäische Zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kunft entsprechen. Ich habe hier den Wunsch, dass wir
nicht nur auf unsere Bundeskanzlerin blicken, sondern
An der Stelle will ich auch klar sagen: Ich verstehe vielleicht auch eine etwas stärkere, richtigere Rolle der
nicht, was Herr Gysi formuliert hat. Er hat gesagt, dass, EU-Kommission einfordern.
wenn die Zentralbank aktiv würde, das zu Armut führen
würde. Das verstehe ich. Er hat aber auch gesagt, das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wäre die weniger unsoziale Lösung. Ich aber bin der neten der FDP)
Meinung: Wenn die Zentralbank so massiv intervenieren Man möge mir nachsehen, dass ich kein Mitglied der
würde und am Ende das die Lösung wäre, dann wäre das Exekutive, sondern Parlamentarier bin. Ich möchte, dass
die unsozialste Lösung, die es gibt; denn die Menschen, das stärker integrierte Europa auch ein demokratisches
die sich nicht wehren können, würden von der Inflation Europa ist. Wir haben darum gekämpft, dass es bei allen
(B) getroffen. Deshalb müssen wir auch dieses verhindern. (D)
Maßnahmen, die wir zur Stützung der Währung und der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gemeinschaft eingeleitet haben, eine starke Beteiligung
der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Wie des Deutschen Bundestages gab. Wenn wir Europa stär-
denn?) ker integrieren, müssen wir jetzt auch darum kämpfen,
dass Parlamente und Abgeordnete eine demokratische
Was ich vom kommenden Freitag erwarte, ist Folgen- Legitimierung und Kontrolle der neuen Prozesse sicher-
des: dass wir eine klare Definition bekommen, wie die stellen können, und zwar nicht nur mit Blick auf Karls-
Integration der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa ruhe, sondern mit Blick darauf, dass das Ganze, was wir
ausschauen soll. Dabei muss nicht jeder das Gleiche tun. tun, Akzeptanz in der Bevölkerung unseres Landes fin-
Wir wollen nicht die Kultur von 2 000 Jahren in Europa den muss.
egalisieren, sondern wir wollen uns auf gemeinsame
Ziele verständigen und diese dem Subsidiaritätsgedan- In diesem Sinne hoffe ich, dass unsere Bundeskanzle-
ken entsprechend umsetzen. Das Umsetzen muss aber rin am kommenden Freitag erfolgreich ist, nicht nur für
beaufsichtigt werden – Stichwort: Monitoring –, und es die Regierung und die Koalition, sondern für Deutsch-
muss geprüft werden, ob die Ziele erreicht werden. Ich land und eine gute Zukunft Europas.
hoffe, dass wir uns miteinander am kommenden Freitag Danke schön.
auf einen solchen Satz von Vertragsänderungen klar und
deutlich verständigen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Präsident Dr. Norbert Lammert:
der FDP) Das Wort hat nun Stefan Müller für die CDU/CSU-
Wir haben gelernt, dass es nicht reicht, sich inhaltlich Fraktion.
einig zu sein. Wir müssen uns auch darüber im Klaren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sein: Wie sieht der Fahrplan aus? Dieser Fahrplan muss neten der FDP)
im Verfahren unumstößlich eingehalten werden. Nur so
können wir Vertrauen schaffen, das wir dringend brau-
chen, um langfristig an den Märkten tatsächlich wieder Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
anleihefähig zu sein. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es schadet nicht, wenn man diese Debatte nach
Ein kleiner Einschub, Herr Trittin. Sie haben erwähnt, einer Regierungserklärung auch einmal dazu nutzt, da-
dass sich die Italiener und Spanier momentan nicht die rauf hinzuweisen, dass es beim Euro – bei allem, über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17587
Stefan Müller (Erlangen)
(A) das wir im Augenblick im Zusammenhang mit dem Euro worden sind. Erst dadurch ist die Abhängigkeit von In- (C)
diskutieren – nicht nur um unsere gemeinsame Währung vestoren und den Finanzmärkten entstanden.
geht, sondern um ein ganz zentrales Projekt der europäi-
Genauso wenig wie die Staatsschuldenkrise über
schen Integration. Von den Römischen Verträgen bis zur
Nacht entstanden ist, genauso wenig lässt sie sich von ei-
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und zur Europäi-
nem Tag auf den anderen lösen. Damit befassen wir uns
schen Union, vom einheitlichen Binnenmarkt bis zu die-
seit nunmehr fast zwei Jahren. Wir sorgen auf der einen
ser gemeinsamen Währung ist die europäische Integra-
Seite dafür, dass die Länder, die Hilfe brauchen, auch
tion eine Erfolgsgeschichte, auf die wir alle, die in
Hilfe bekommen – wir haben gemeinsam Hilfspakete ge-
diesem Haus einen Beitrag dazu geleistet haben, zu
schnürt und Rettungsschirme aufgespannt –, auf der an-
Recht stolz sein können.
deren Seite müssen wir dafür sorgen, dass die Grundpro-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bleme, die überhaupt erst zu dieser Staatsschuldenkrise
neten der FDP) geführt haben, beseitigt werden. Das Grundproblem die-
ser Krise ist nun einmal die zu hohe Staatsverschuldung.
Die europäische Integration hat sich auch deswegen Ein weiteres Grundproblem ist das mangelnde Vertrauen
als Erfolgsgeschichte erwiesen, weil sie die Grundlage der Finanzmärkte und der Investoren, auf deren Geld wir
dafür war, diesen alten Kontinent neu zu ordnen. Wenn angewiesen sind, um unseren Staat aufrechtzuerhalten.
die europäische Integration früher die Antwort auf die Dieses Vertrauen ist verloren gegangen.
Geschichte war, auf das, was über Jahrhunderte auf die-
Mit den Hilfsmaßnahmen, die wir auf den Weg ge-
sem Kontinent passiert ist, dann muss man heute fest-
bracht haben, stellen wir die Zahlungsfähigkeit der Kri-
stellen, dass die europäische Integration die Antwort auf
senländer sicher – das ist richtig –, aber wir leisten mit
die Herausforderungen der Zukunft ist, die uns noch be-
den Hilfsmaßnahmen noch sehr viel mehr: Wir verhin-
vorstehen. Denn die aktuelle Krise zeigt, dass angesichts
dern damit eine flächendeckende Ansteckung anderer
einer zunehmenden Zahl grenzüberschreitender Pro-
Länder. Wir sorgen mit unseren Maßnahmen dafür, dass
bleme die klassischen Nationalstaaten an ihre Grenzen
dem Ausfall eines Landes nicht der Ausfall mehrerer
stoßen. Wir nutzen die Euro-Krise, die Staatsschulden-
Länder nachfolgt und dass am Ende – wir sprechen von
krise, zu Recht dazu, uns Gedanken zu machen: Was
Staatsinsolvenzen – die Euro-Zone insgesamt nicht aus-
sind denn die Aufgaben der europäischen Ebene? Was
einanderbricht. Gerade das ist in deutschem Interesse,
müssen die Aufgaben der europäischen Ebene sein? Was
und deswegen übernimmt Deutschland Verantwortung.
aber sind Aufgaben, die die Mitgliedstaaten auch in Zu-
kunft alleine lösen können? (Beifall bei der CDU/CSU)
Die wirtschaftliche und politische Globalisierung Wir tun ein Weiteres: Wir stellen nicht nur die Zah-
(B) (D)
zwingt geradezu zu mehr Zusammenarbeit und stellt uns lungsfähigkeit der Krisenländer sicher und verhindern
vor die Frage, wie wir Wohlstand und soziale Sicherheit nicht nur eine flächendeckende Ansteckung, sondern wir
auch in Zukunft aufrechterhalten können. Sie stellt uns sorgen auch dafür, dass das europäische Bankensystem
auch vor die Frage, ob wir in Europa, damit auch nicht zusammenbricht. Vor wenigen Jahren standen wir
Deutschland, einfach nur einen Sitzplatz auf der Tribüne vor der Situation, dass Banken kurz vor dem Zusammen-
haben oder ein aktiver Mitspieler in der internationalen bruch waren. Wir waren uns weitgehend darüber einig,
Politik sein wollen. was das für Deutschland bedeuten würde. Nur, eines
muss deutlich gemacht werden: Wir retten nicht die Ban-
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass die eu- ken, wir retten nicht Organisationen, sondern wir retten
ropäische Integration immer wieder vor neue Herausfor- die Spareinlagen der Anleger und Kunden der Banken.
derungen gestellt worden ist. Es ist in der Vergangenheit Auch deswegen übernimmt Deutschland Verantwortung.
immer gelungen, diese Herausforderungen, diese Krisen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
zu bewältigen. Es ist in der Vergangenheit immer dann
am besten gelungen, wenn Deutschland als größtes Mit- Die Krisenbewältigung kann nur gelingen, wenn wir
gliedsland die Impulse gesetzt hat. Deswegen bin ich da- das verlorengegangene Vertrauen der Finanzmärkte zu-
von überzeugt, dass wir auch diese Krise meistern kön- rückgewinnen. Es geht nicht um Spekulanten und Zocker,
nen, weil Deutschland vorangeht, weil Deutschland sondern es geht in erster Linie um Institutionen, die Geld
gemeinsam mit Frankreich Impulse setzt und weil diese von Kleinanlegern einsammeln und dieses Geld interna-
Bundesregierung an dieser Stelle Verantwortung zeigt. tional anlegen. Die Rückgewinnung dieses Vertrauens
wird nur gelingen, wenn die Märkte und die Investoren
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von der Glaubwürdigkeit der Konsolidierungsprogramme
neten der FDP) überzeugt sind. Es wird nur gelingen, wenn sie davon
überzeugt sind, dass die Haushaltspolitik solide und auch
Es ist darauf hingewiesen worden: Bei dieser Krise
nachhaltig ist. Wir werden ferner das Vertrauen nur zu-
geht es eben nicht um eine Krise des Euro. Es ist keine
rückgewinnen, wenn die Investoren von der Wettbewerbs-
Euro-Krise, sondern es ist eine Staatsschuldenkrise.
fähigkeit der Euro-Zone überzeugt sind.
Diese Staatsschuldenkrise ist nicht einfach so über Nacht
entstanden, sondern sie ist über Jahrzehnte entstanden, Zur Rückgewinnung dieses Vertrauens gehört, dass
weil alle Euro-Länder über Jahrzehnte mehr Geld ausge- die europäische Ebene Überwachungsrechte bekommen
geben haben, als sie vorher eingenommen hatten, und muss, dass es Durchgriffsrechte, Sanktionsrechte und ein
weil die Defizite mit immer neuen Schulden finanziert Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof geben
17588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Stefan Müller (Erlangen)


(A) muss. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum bei al- NATO-Soldaten erreichen – zuletzt 19 Bundeswehrsol- (C)
lerlei Vertragsverletzungen Verfahren vor dem Europäi- daten einschließlich des Kommandeurs –, zeigen bei-
schen Gerichtshof eingeleitet werden können, aber wenn spielhaft, welche Herausforderungen auf dem Weg, die
es darum geht, solide Finanzen zu gewährleisten, ein Situation im gesamten westlichen Balkan zu stabilisie-
Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH verwehrt ren, noch vor uns liegen. Wir werden dieses Ziel mit
ist. Deswegen muss man an dieser Stelle etwas verän- Entschiedenheit und Geduld erreichen, wenn wir aus den
dern. Fehlern der Vergangenheit lernen. Das beste Beispiel da-
für ist Kroatien. Der Beitrittsvertrag mit Kroatien wird
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
beim EU-Gipfel unterzeichnet werden. Das macht deut-
der FDP)
lich, dass die Westbalkanländer die Standards der EU er-
Das Vertrauen werden wir dann zurückgewinnen, füllen können, das heißt insbesondere Rechtsstaatlich-
wenn auch andere Länder dem deutschen Beispiel folgen keit, eine funktionierende Justiz, Pressefreiheit usw.
und eine Schuldenbremse verfassungsrechtlich veran-
kern. Das Ziel ist nicht, einfach nur weniger Schulden zu Unter diesen Voraussetzungen liegt die Integration
machen, sondern das Ziel ist, irgendwann keine Schul- weiterer Staaten des westlichen Balkans in europäische
den mehr aufzunehmen, und das Ziel ist, irgendwann Strukturen in unserem Interesse, wenn dies zu einem
von den Schulden wieder etwas zurückzubezahlen. Des- Mehrwert für die Stabilität der Europäischen Union führt
wegen muss Schluss sein mit der Verschuldungskultur und wenn zum anderen die Handlungsfähigkeit der EU
der vergangenen Jahrzehnte. Wir brauchen eine europäi- nicht beeinträchtigt wird. Das sind zwei unverzichtbare
sche Stabilitätskultur. Voraussetzungen.

Dazu werden Euro-Bonds nicht wirklich einen Bei- Aber wir müssen auch sehen: Es gibt eine klare Er-
trag leisten können. Um es noch einmal deutlich zu sa- weiterungsmüdigkeit und gar den Ruf: „Nach Kroatien
gen: Euro-Bonds lösen für Europa kein Problem. Euro- ist Schluss mit der Erweiterung!“ Dass wir heute diese
Bonds würden aber für Deutschland neue Probleme Skepsis, diese Ablehnungshaltung haben, hat viel mit
schaffen. Sie würden den Konsolidierungsdruck auf die drei krassen europapolitischen Fehlentscheidungen von
Länder der Euro-Zone eher vermindern. Im Ernstfall Rot-Grün zu tun.
würde das auch die Finanzkraft Deutschlands überstei-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach! –
gen, und es würde zu einer gesamtschuldnerischen Haf-
Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Jetzt kommt die
tung führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines geht
Leier wieder!)
nicht: dass in Europa alle feiern bis zum Umfallen und
Deutschland die Zeche bezahlt. Da werden wir nicht – Ja, leider muss man das immer wieder sagen.
(B) mitmachen. Deswegen lehnen wir diese gesamtschuld- (D)
nerische Haftung ab. Erstens war die Erweiterung der Euro-Zone um Grie-
chenland die falsche Entscheidung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: (Joachim Poß [SPD]: Das hat doch Rot-Grün
Das ist typisch! Das sind die Sprüche, die Eu- nicht entschieden! – Petra Merkel [Berlin]
ropa wirklich gebraucht hat!) [SPD]: Das hat das Europäische Parlament be-
schlossen! So ein Quatsch!)
Die Staats- und Regierungschefs werden Ende nächs-
ter Woche über weitere Schritte entscheiden. Frau Bun- Ja, diese Fehlentscheidung, die wir damals bekämpft ha-
deskanzlerin, wir haben volles Vertrauen in Sie. Sie ha- ben, hat viel mit der Erweiterungsmüdigkeit zu tun. Die
ben unsere Unterstützung bei Ihrer harten Haltung gegen Menschen sagen doch: Nun kümmert euch erst einmal
Gemeinschaftsanleihen und bei der Unabhängigkeit der um den Euro, und denkt nicht schon wieder an die
Europäischen Zentralbank. Wir sind auf dem richtigen nächste Erweiterung! Das hat etwas mit dieser krassen
Weg, um den Euro, diese gemeinsame Währung, wieder Fehlentscheidung zu tun.
zu stabilisieren.
(Joachim Poß [SPD]: Die hat aber nicht Rot-
Herzlichen Dank. Grün getroffen! – Petra Merkel [Berlin]
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [SPD]: Sondern das Europäische Parlament!)
– Wie bitte? Wer war denn damals gegen die Aufnahme
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Griechenlands? Natürlich hat Rot-Grün das im Rat in
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol- Brüssel und hier im Deutschen Bundestag durchgesetzt,
legen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion und jetzt wollen Sie sich einen schlanken Fuß machen,
das Wort. indem Sie sagen, Sie haben nichts damit zu tun. So kurz
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist das Gedächtnis bei Ihnen inzwischen geworden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): neten der FDP – Christian Lange [Backnang]
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und [SPD]: Die CDU-Abgeordneten haben doch
Herren! Ich will zum Schluss der Debatte etwas zum zugestimmt im Europäischen Parlament! Er-
Thema Erweiterung sagen. Die Bilder, die uns seit Tagen zählen Sie einmal den Leuten, warum die
aus Nordkosovo über Unruhen, Barrikaden und verletzte CDU-Abgeordneten im Europäischen Parla-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17589
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) ment zugestimmt haben! Erklären Sie das ein- neuen Kapitel geöffnet werden, ehe nicht grundlegende (C)
mal!) Voraussetzungen im Bereich von Rechtsstaatlichkeit und
Justiz geschaffen wurden. Das sind wichtige Lehren und
Zweitens war die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- Konsequenzen aus den Fehlern der Vergangenheit.
gen mit der Türkei eine falsche Entscheidung.
Ein Wort zu Serbien: Wir sind entschieden dagegen,
(Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/
dass Serbien jetzt den Kandidatenstatus erhält. Jeder
CSU])
weiß, dass Belgrad erheblichen Einfluss auf die Serben
Heute sehen wir, dass wir in derselben Zeit, in der wir in Nordkosovo hat. Wir kennen die deutlichen Appelle
mit Kroatien 35 Verhandlungskapitel abgeschlossen ha- von Präsident Tadic an die Serben dort, die Gewalt zu
ben, mit der Türkei nur ein einziges Kapitel vorläufig beenden und die Barrieren abzubauen, aber wir müssen
beenden konnten. Der Fehler war, dass Rot-Grün nicht feststellen, dass dies nicht geschieht, dass sich die Situa-
sehen wollte, dass die Türkei wichtige Kriterien des tion sogar zuspitzt.
EU-Vertrages nicht erfüllen kann oder nicht erfüllen
will. Klar war das aber schon damals. Ein Zweites. Im Februar 2008 wurde im Zusammen-
hang mit der Anerkennung des Kosovo ein Brandan-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schlag auf die deutsche Botschaft verübt. Bis heute, also
der FDP) fast vier Jahre danach, ist dieser Vorgang nicht aufge-
klärt, gibt es keine Gerichtsverfahren oder gar Urteile.
Jetzt stehen wir vor dem Dilemma, dass die Türkei ab Das können wir als Deutscher Bundestag nicht ignorie-
Juli nächsten Jahres, wenn Zypern die EU-Präsident- ren.
schaft übernimmt, den Verhandlungsraum verlassen
wird; so jedenfalls hat es Präsident Erdogan angekün- Wenn nicht einmal grundlegende rechtsstaatliche Ver-
digt. Das aber wird zu einer massiven Entfremdung in pflichtungen eingehalten werden, dann können wir ei-
unserem Verhältnis zur Türkei führen. Das kann in einer nem Land doch nicht einen Kandidatenstatus geben. Das
Situation, in der wir aufgrund von Entwicklungen im ist nicht nur eine Frage unserer Glaubwürdigkeit, son-
nördlichen Afrika, im Nahen Osten, aber auch mit Blick dern auch eine Frage, wie weit wir in der Bevölkerung
auf den Iran eine deutlich engere und abgestimmte Zu- Akzeptanz für eine verantwortliche Erweiterungspolitik
sammenarbeit mit der Türkei brauchen, nun wirklich gewinnen.
nicht in unserem Interesse sein.
Ich sage abschließend für meine Fraktion: Ja zur Un-
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Dann müssen terzeichnung des Beitrittsvertrages mit Kroatien, Nein
Sie einmal etwas dafür tun!) zu einem Schengen-Status für Rumänien und Bulgarien,
(B)
Drittens hat die verfrühte Aufnahme von Bulgarien ehe dort nicht die rechtsstaatlichen Bedingungen erfüllt (D)
und Rumänien, die von Rot-Grün damals durchgedrückt sind, Ja zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
wurde, zu einem grundsätzlichen Misstrauen geführt, ob Montenegro unter den gestern beschlossenen Vorausset-
die Länder dieser Region die Standards insbesondere im zungen und Nein zu einem Kandidatenstatus für Serbien
Rechtsstaatsbereich überhaupt erfüllen wollen und ob zum jetzigen Zeitpunkt.
die EU ihnen das abverlangt, ehe sie beitreten. Dieses Ich wünsche der Bundesregierung beim Europäischen
Misstrauen muss ausgeräumt werden. Rat viel Erfolg.
(Joachim Poß [SPD]: Hatte Kohl das nicht ver-
Herzlichen Dank.
sprochen? Bulgarien und Rumänien! –
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Helmut Kohl!)
Ich halte jede Diskussion über einen Schengen-Status für Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bulgarien und Rumänien für völlig verfrüht. Ehe die Ich schließe die Aussprache.
Rechtsstaatssituation in diesen beiden Ländern nicht we-
sentlich besser geworden ist, kann es keinen Schengen- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
Status und auch keinen Schengen-Teilstatus für diese ßungsanträge der Fraktion Die Linke. Entschließungsan-
Länder geben. trag auf Drucksache 17/8017. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen?- Enthaltungen? – Der Entschließungs-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und antrag ist mit den Stimmen von vier Fraktionen gegen
der FDP – Joachim Poß [SPD]: War das nicht die Stimmen der Linken abgelehnt.
ein Versprechen von Helmut Kohl?)
Deshalb ist es gut, dass ab sofort die Beitrittsverhand- Entschließungsantrag auf Drucksache 17/8018. Wer
lungen mit künftigen Mitgliedsländern wie beispiels- stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
weise Montenegro nicht erst mit den einfacheren Kapi- Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehr-
teln, sondern mit den schwierigsten Kapiteln begonnen heitsverhältnissen wie zuvor abgelehnt.
werden, nämlich mit den Fragen der Rechtsstaatlichkeit Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 a bis c auf:
und des Justizsystems. Zudem haben wir gestern Abend
beschlossen, dass diese Kapitel bis zum Ende der Ver- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
handlungen nicht geschlossen werden und dass keine Künast, Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer
17590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ die Reihen heute bei dieser Debatte bei allen Fraktionen (C)
DIE GRÜNEN voll besetzt sind.
Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Füh- (Marco Buschmann [FDP]: Bei Ihrer auch
rungspositionen umsetzen nicht! – Zuruf von der SPD: Kernzeit!)
– Drucksache 17/7953 – – Schauen Sie einmal, bei uns sind die Reihen bis ganz
Überweisungsvorschlag: nach hinten besetzt. Da sind fast alle da. Das ist nicht al-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) len Fraktionen gelungen.
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 60 Jahre Grundgesetz – damals im Parlamentarischen
Ausschuss für Arbeit und Soziales Rat waren von 61 Mitgliedern 4 Frauen: Elisabeth
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Selbert, Frieda Nadig, Helene Weber und Helene
neten Renate Künast, Ekin Deligöz, Monika Wessel. Die haben durchgesetzt, dass es im Grundgesetz
Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion heißt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wurfs eines Gesetzes zur geschlechtergerechten und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Besetzung von Aufsichtsräten LINKEN)
– Drucksache 17/3296 – Im Übrigen – das will ich einmal lobend erwähnen – hat
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- sich damals auch Helene Weber von der CDU, die an-
schusses (6. Ausschuss) fangs sehr skeptisch war, mit eingesetzt und ihre eigene
Fraktion von diesem Gleichberechtigungssatz überzeugt.
– Drucksache 17/6527 –
(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Frau!)
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Man kann also sagen: Frauen haben den Anstoß gegeben
Elisabeth Winkelmeier-Becker und den Mut gehabt, bei der Gleichberechtigung tatsäch-
Dr. Eva Högl lich weiter voranzugehen. Es waren übrigens auch die
Marco Buschmann Frauen und niemand sonst, die dann erkämpft haben,
Jens Petermann dass im Arbeitsrecht oder im Familienrecht eine Gleich-
Ingrid Hönlinger stellung eingeführt wurde. Denken Sie einmal daran: Es
hat bis Ende der 70er-Jahre gedauert, bis der Mann nicht
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mehr automatisch Haushaltsvorstand war; und es hat un-
(B) richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu gefähr genauso lange gedauert, bis ein Mann nicht mehr (D)
dem Antrag der Abgeordneten Christel Humme, einfach den Arbeitsvertrag seiner Frau kündigen konnte.
Caren Marks, Petra Crone, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD Das alles hat nicht gereicht. Wir brauchten nach der
deutschen Einheit eine Grundgesetzänderung, die dazu
Quotenregelung für Aufsichtsräte und Vor- geführt hat, dass jetzt nach dem Gleichberechtigungssatz
stände gesetzlich festschreiben folgender Satz im Grundgesetz steht:
– Drucksachen 17/4683, 17/6527 – Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Berichterstattung: Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
Elisabeth Winkelmeier-Becker hin.
Dr. Eva Högl „ … und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nach-
Marco Buschmann teile hin“!
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die CDU/CSU und der LINKEN)
Grünen sowie über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD Darum geht es jetzt. Was vor 60 Jahren 6,8 Prozent
werden wir später namentlich abstimmen. Frauen durchgesetzt haben, müsste doch heute im Bun-
destag, in dem die 204 Frauen – wenn alle anwesend wä-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ren – 32,3 Prozent ausmachen, möglich sein. Alle reden
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich von Hebelung. Vielleicht sollten 204 Frauen des Deut-
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schen Bundestags auch einmal eine Hebelung bewirken,
Ich eröffne die Aussprache und erteile Renate Künast (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. der SPD und Abgeordneten der LINKEN)
zum Beispiel bei der Gleichstellung in Aufsichtsräten
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
oder auch in Vorständen, was dann erst der Anfang wäre.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre
Grundgesetz, und wir haben noch immer keine Gleich- Ich meine, wir sollten unsere Stärke nutzen. Die Män-
stellung erreicht. Wir haben nicht einmal erreicht, dass ner dürfen und sollen natürlich mitstimmen. Wir müssen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17591
Renate Künast
(A) unsere zahlenmäßige Stärke als Frauen aber auch nutzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
um jetzt die nötigen Schritte für eine echte Gleichstel- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
lung hinzubekommen. Wir müssen Vorbild sein. Es wird LINKEN)
nicht von alleine gehen. Wenn man einen Brief an die
Vorstände und Aufsichtsräte der DAX-Unternehmen Insofern sollte Gleichheit herrschen.
schreibt, fällt einem beim Durchblättern der Adressen Herr Fuchs von der CDU ist gerade dabei, durch ein
und Anreden auf, dass man überhaupt nur eine Frau fin- Schreiben – das offensichtlich an alle Koalitionsabge-
det – bei Henkel. Vielleicht ist es morgen oder nächste ordneten ging – berühmt zu werden, in dem er den schö-
Woche schon wieder anders, dann kommt eine neue und nen Satz formuliert hat, die Unternehmen sollten bei der
die andere ist wieder gegangen. Das ist kein Schnecken- Besetzung von Posten nicht dazu gezwungen werden,
tempo, das ist Faultiertempo! aus sachfremden Kriterien zu entscheiden und die Quali-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fikation der Bewerber außer Acht zu lassen. Dem kann
und bei der SPD) man nur entgegnen: Erstens. Die Umsetzung des Grund-
gesetzes von der Theorie in die Realität ist nie ein sach-
Das dreifingrige Faultier ist auf dem Boden noch langsa- fremdes Kriterium.
mer als die Schnecke. Es würde ungefähr noch einmal
ein halbes Jahrhundert dauern, bis die Frauen in allen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftsbereichen gleichberechtigt vertreten wären. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Wir können heute sagen: Es hat jahrelang viele Tref-
fen und Termine gegeben, und die deutsche Wirtschaft Zweitens. Bei den Bewerbern die Qualifikation außer Acht
und die Wirtschaftsbosse haben im Oktober dieses Jah- lassen? Anders herum ist es doch ein Problem! Warum
res ihre Chance verpasst. Wer eine Vorlage erstellt, deren stellen die Unternehmen in Führungspositionen immer
Umsetzung freiwillig ist und die von Frauen im Manage- noch überproportional Männer ein, wo doch die Frauen ei-
ment handelt, dabei aber vergisst, die Aufsichtsräte und nen viel höheren Prozentsatz an Uniabschlüssen haben und
Vorstände überhaupt zu erwähnen, den kann man an die- dazu bessere Noten?
ser Stelle definitiv nicht ernst nehmen. Das ist ein Af-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
front.
bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Die Zukunft heißt: Nach Qualifikation einstellen, und
LINKEN) nicht einfach immer nur Männer finden. Wir wissen:
Auch die Bundesgremien müssen ran. Dass die Bundes-
(B) Wenn Josef Ackermann sagt, mehr Frauen würden agentur für Arbeit einer der letzten Orte reiner Männer- (D)
das Leben schöner und bunter machen, wenn er über sol- herrlichkeit ist, ist auf Dauer auch nicht mehr zu erklä-
che Dinge diskutiert, ren.
(Zuruf von der SPD: Dann stimmt das!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– das stimmt –, könnten wir ihm zurufen: Herr und bei der SPD)
Ackermann, jetzt, wo Sie sich nicht mehr trauen, für den Die Frauen, die wir brauchen, sind da. Wir haben eine
Aufsichtsrat zu kandidieren, ist ja ein Platz für eine Frau überfraktionelle Fraueninitiative, wozu ich nur sage: Ich
frei. Dann wird auch dieser Aufsichtsrat schöner und wünsche, dass daraus etwas erwächst. Wir haben Aktio-
bunter. närinnen, die auf Hauptversammlungen gehen und dort
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihre Rechte einfordern. Wir haben einen Unternehmerin-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nenverband, der eine Datenbank mit 500 hervorragend
LINKEN – Bettina Hagedorn [SPD]: Und bes- qualifizierten Frauen führt. Wir haben so viele Organisa-
ser!) tionen.

– Und besser! – Das könnte die Deutsche Bank auch ver- Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt nicht
tragen. Wenn Daimler-Chef Zetsche davor warnt, er die Zeit verplempern. Der Großteil der Aufsichtsräte
müsse Männer entlassen, damit dann Frauen zum Zuge wird im Frühjahr 2013 neu bestellt. Wir müssen also vor
kommen, kann man nur sagen: beschämend. diesem Zeitpunkt die Herren zwingen, Frauen für die
Aufsichtsräte und andere Gremien zu finden. Deshalb
Wir haben es als Frauen doch nicht nötig, zu erklären, bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf und
warum es zum Beispiel für die Aufsichtsräte eine Frau- unserem Antrag zu. Wann, wenn nicht jetzt?
enquote oder besser eine Geschlechterquote geben muss,
die besagt, dass mindestens 40 Prozent aller Funktionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
von Frauen oder Männern besetzt werden müssen. Wa- bei der SPD und der LINKEN)
rum haben wir es nicht nötig? Weil erstens das Grundge-
setz sagt, dass wir vom Bundestag her aktiv darauf hin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wirken müssen, und weil ich zweitens keinen einzigen Das Wort hat nun Stephan Harbarth für die CDU/
Mann kenne – auch nicht in der Wirtschaft –, der es für CSU-Fraktion.
nötig befindet, uns zu erklären, warum es in diesen Jobs
eine Männerquote von 99 Prozent gibt. (Beifall bei der CDU/CSU)
17592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Studium absolvieren und hervorragende Noten erzielen (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und obwohl sie ebenso hochqualifiziert sind wie Männer,
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind sie in den Führungspositionen der deutschen Wirt-
befassen uns heute in der Tat mit einem Thema von gro- schaft und vor allem im Topmanagement, in Aufsichtsrä-
ßer gesellschaftspolitischer Tragweite. Es geht um die ten und Vorständen, deutlich unterrepräsentiert. So ist der
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungsposi- Frauenanteil im Management von Unternehmen mit
tionen der Wirtschaft. Das ist ein Thema, das gemeinhin mehr als 20 Millionen Euro Jahresumsatz in den letzten
unter dem Schlagwort Frauenquote in Aufsichtsräten 15 Jahren lediglich von 3 Prozent auf 6 Prozent gestie-
und Vorständen geführt wird. gen. In Unternehmen mit mehr als 1 Milliarde Euro Jah-
resumsatz liegt der Frauenanteil im Topmanagement ak-
Wir in unserer Fraktion – nach meiner Überzeugung
tuell bei nur 3,5 Prozent. Im Management von DAX-
alle Fraktionen im Deutschen Bundestag – sind uns im
Unternehmen beträgt der Frauenanteil 9,5 Prozent, in ih-
politischen Ziel einig: Wir möchten den Anteil von
rem Topmanagement gar nur 3 Prozent. Es ist allerdings
Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft ausbauen.
nicht so, Frau Kollegin Künast, dass nur Henkel weibli-
Dass Frauen in den Führungsgremien der deutschen
che Vorstände vorweisen kann. Es gibt noch einige wei-
Wirtschaft heute unterrepräsentiert sind, ist leider trau-
tere Unternehmen wie BASF und Daimler.
rige Tatsache.
(Elke Ferner [SPD]: Ja! Aber nur wenige, Herr
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Kollege!)
Wir sind uns deshalb einig, dass wir die erforderlichen
Weichen stellen müssen, um mehr Frauen in verantwort- Aber es sind uns noch immer entschieden zu wenige.
liche und führende Positionen unserer Wirtschaft zu Dass Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand.
bringen. Ich bin im Übrigen sehr dafür, dass der Staat in Deshalb sind wir nicht verschiedener Meinung, wenn es
seinem Bereich, etwa im Bereich öffentlicher Unterneh- um die Frage geht, ob gehandelt werden muss. Auch wir
men, mit gutem Beispiel vorangeht, um den Frauenanteil in der Unionsfraktion sind der klaren Überzeugung:
zu erhöhen. Auch Art. 3 des Grundgesetzes, in dem der Gesetzgeber
Ich nenne Unternehmen wie beispielsweise die Deut- verpflichtet wird, auch in tatsächlicher Hinsicht auf die
sche Bahn, die Deutsche Post und viele andere mehr. Beseitigung von Ungleichbehandlungen zwischen Män-
Hier können wir als Staat, wie ich meine, ein positives, nern und Frauen hinzuweisen, gebietet ein Tätigwerden.
ein vorbildhaftes Zeichen setzen. Es geht um die Frage: Wie werden wir tätig?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Die Vorlagen der Opposition, der Antrag der SPD, der
(B) bei Abgeordneten der FDP) Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der Gesetzent- (D)
wurf von Bündnis 90/Die Grünen, setzen auf eine ge-
Gerade in Zeiten des demografischen Wandels kön- setzlich vorgegebene starre Quotenregelung. Wir als
nen wir es uns, auch unter dem Gesichtspunkt ökonomi- christlich-liberale Koalition wollen hingegen, wie in der
scher Vernunft, weniger denn je leisten, auf so hervorra- Koalitionsvereinbarung festgelegt, über den von der
gende Potenziale unserer Gesellschaft zu verzichten. Wir Bundesregierung vorgelegten Stufenplan mit flexibler
beobachten weltweit einen Kampf der Unternehmen, der Quote das Ziel eines höheren Frauenanteils in Führungs-
Wirtschaftseinheiten um die besten Köpfe. Deshalb müs- positionen erreichen.
sen wir auch aus ökonomischer Klugheit alles tun, um
den oft schwierigen Spagat zwischen Familie und Beruf (Dr. Eva Högl [SPD]: Wachsweich!)
bzw. Karriere besser bewältigen zu können. Wir setzen mit dem Stufenplan auf ein abgestuftes Ver-
Hier stehen sowohl Politik als auch Wirtschaft in der fahren, das ohne gesetzgeberische Überregulierung aus-
Pflicht, vor allem die Rahmenbedingungen für eine bes- kommt.
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter voranzu- (Christel Humme [SPD]: Nein! Ganz ohne Re-
treiben. Vieles ist hier in der Vergangenheit unter unions- gulierung! Das ist das Problem!)
geführten Bundesregierungen seit 2005 vorangebracht
worden. SPD und Grüne setzen dagegen auf staatlichen Zwang.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nach unserer Überzeugung macht nur der Stufenplan
NEN]: Wir reden heute über Frauen in Füh- den erfolgversprechenden Versuch, zu einer gesamthaft
rungspositionen!) angelegten Konzeption zu kommen, die die Ursachen
der Unterrepräsentierung von Frauen in Führungsgre-
So sind zahlreiche familienpolitische Maßnahmen, etwa
mien der deutschen Wirtschaft bekämpft, die maßge-
das Elterngeld, der Ausbau der Kinderbetreuungsein-
schneiderte und passgenaue Lösungen anbietet, die ohne
richtungen oder die bessere steuerliche Absetzbarkeit
umfassende staatliche Eingriffe auskommt und die des-
von Kinderbetreuungskosten, durchgesetzt worden. All
halb am Ende auch zu besseren Ergebnissen führen wird.
dies erleichtert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die erste Stufe zielt auf die Schaffung der Vorausset-
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
zungen und die Verbesserung der Rahmenbedingungen
ist doch ein ganz anderes Thema!)
für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen im Er-
Wie sieht die Situation heute aus? Obwohl Frauen werbsleben und speziell in Führungspositionen ab. Dazu
heute in vielen Bereichen sogar häufiger als Männer ein zählt die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17593
Dr. Stephan Harbarth
(A) beispielsweise durch die Einführung flexiblerer Arbeits- für Unternehmen. Dies schafft man mit einer starren (C)
zeiten. Quote, wie sie die Opposition möchte, nicht.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Und wie lange dauert So unzufrieden wir mit dem Status quo sind, so sehr
diese Phase?) stellen wir fest, dass sich einiges in die richtige Richtung
entwickelt hat. In der ersten und in der zweiten Füh-
Die zweite Stufe setzt auf die Implementierung von rungsebene von rund 300 000 Unternehmen hat sich der
transparenten freiwilligen Selbstverpflichtungen für die Frauenanteil in den letzten acht Jahren von 10 Prozent
deutsche Wirtschaft, auf 20 Prozent verdoppelt. Die Personalplanung in vie-
(Elke Ferner [SPD]: Na ja! Darauf haben wir ja len Unternehmen macht deutlich, dass ein positiver
jetzt schon zehn Jahre gewartet!) Trend, ein Umdenken, in Gang gekommen ist, von dem
wir uns häufig erhoffen würden, dass es noch wesentlich
um öffentlichen Druck zu entfalten und die Tätigkeit von schneller funktionieren würde. Wir haben positive Bei-
Frauen in Führungspositionen weiter voranzutreiben. spiele erlebt, zum Beispiel bei der Deutschen Telekom.
Gerade damit unterscheiden wir uns von dem unverbind- Die Liste ließe sich fortsetzen, etwa, um Unternehmen
lichen Plänchen, das Rot-Grün im Jahr 2001 verabschie- ohne öffentliche Beteiligung zu nennen, um Merck und
det hatte und das von vornherein zum Scheitern verur- ThyssenKrupp.
teilt war.
Die Anträge, die uns heute vorliegen, sind aber nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur in ihrer grundsätzlichen Anlage – staatlicher Zwang
statt flexibler, passgenauer Lösung –, sondern auch in ih-
Erst in der dritten Stufe wird die gesetzliche Verpflich- ren Einzelheiten falsch.
tung zur Selbstverpflichtung, die sogenannte Flexiquote,
eingeführt. Sie ist auf die Förderung von Frauen in Lei- Der Antrag der SPD zielt beispielsweise auf eine Re-
tungsgremien in der Privatwirtschaft und im öffentlichen gelung für alle Aktiengesellschaften ab. In Deutschland
Dienst ausgerichtet. Sie greift erst dann, wenn die Unter- gibt es 16 000 Aktiengesellschaften. Nur 1 000 Aktien-
nehmen selbst es bis zu einem bestimmten Stichtag im gesellschaften in Deutschland sind überhaupt börsenno-
Jahr 2013 nicht geschafft haben, den Anteil von Frauen tiert. Die meisten dieser börsennotierten Aktiengesell-
in Aufsichtsräten und Vorständen zu verdreifachen. schaften sind übrigens kleine Unternehmen. Aktien-
gesellschaften mit fünf oder zehn Mitarbeitern sind in
Die dann vorgesehene flexible Quote für Unterneh-
Deutschland keine Seltenheit. Häufig haben Aktienge-
men soll so ausgestaltet sein, dass sich die Unternehmen
sellschaften nicht fünfköpfige Vorstände, sondern ihre
selbst eine quantifizierbare Zielvorgabe für die Auf-
(B) sichtsrats- und Vorstandsbesetzung setzen, die innerhalb Vorstände bestehen aus einer einzigen Person. Hier zu (D)
sagen, alle Aktiengesellschaften müssten eine Frauen-
einer bestimmten Frist erreicht werden soll. Mithilfe ei-
quote einführen, geht auch in der handwerklichen Um-
ner solchen Regelung können die Unternehmen auf die
setzung sicherlich über das Ziel hinaus.
spezifische Situation ihrer jeweiligen Branche und ihres
jeweiligen Unternehmens wesentlich flexibler reagieren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
als mit dem starren Instrument, das die Opposition vor-
schlägt. Wenn Sie sich den Antrag der Grünen ansehen, dann
stellen Sie fest: Er ist in der handwerklichen Ausarbei-
Wenn die Politik mit der Betrachtung der Wirklichkeit tung dem der SPD sicherlich deutlich überlegen.
beginnt, dann müssen Sie feststellen, dass der Frauenan-
teil in vielen Bereichen sehr unterschiedlich ausgeprägt (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-
ist. Im Dienstleistungsbereich liegt der Frauenanteil unter NIS 90/DIE GRÜNEN] – Monika Lazar
allen Beschäftigten bei 57 Prozent, im verarbeitenden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr schön,
Gewerbe bei nur 25 Prozent. Ist es dann wirklich sachge- danke! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/
recht, in beiden Bereichen genau den gleichen Schwel- DIE GRÜNEN]: Wie immer!)
lenwert vorzusehen? Ist es wirklich sachgerecht, dass ein
Unternehmen mit einem Frauenanteil von 70 Prozent in Er orientiert sich sehr stark an den Schwellenwerten im
der Belegschaft im Aufsichtsrat die gleiche Quote haben Bereich der Mitbestimmung. Wenn man eine Frauen-
muss wie eines mit einem Frauenanteil von 10 Prozent? quote einführen möchte, dann ist das aus meiner Sicht
Das wird sich wohl schwerlich sagen lassen. der richtige Ansatz.

Wer den Anteil von Frauen in Führungspositionen Im Mitbestimmungsrecht gibt es abgestufte Katego-
etwa im Bereich Maschinenbau, aber auch in vielen an- rien zur Abgrenzung von großen, mittleren und kleinen
deren Bereichen langfristig erhöhen möchte, der kann Unternehmen.
nur Erfolg haben, wenn der Anteil an Frauen auch unter
den Maschinenbaustudenten zunimmt. Deshalb brau- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen wir auch insoweit ein gesamthaftes Konzept und NEN]: Zu welchem Thema reden Sie
die richtigen Weichenstellungen in der Wissenschafts- gerade? – Gegenruf des Abg. Markus Grübel
und in der Schulpolitik. [CDU/CSU]: Zu eurem Antrag, und zwar sehr
sachkundig! Vielleicht lesen Sie Ihren Antrag
Mit der Flexiquote setzen wir auf Transparenz, auf auch einmal! Dann können Sie auch der Rede
Flexibilität und auf öffentlichen Rechtfertigungsdruck folgen!)
17594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Stephan Harbarth


(A) Deshalb ist es im Kern richtig, an die Schwellenwerte ob wir verbindliche, gesetzlich festgelegte Frauenquoten (C)
des Mitbestimmungsrechts anzuknüpfen. in großen deutschen Unternehmen wollen.
Ich halte es im Antrag der Grünen allerdings für nicht (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
richtig, dass man börsennotierte Aktiengesellschaften ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nerell erfassen möchte. Ist es eigentlich sachgerecht, eine
Ich möchte Ihnen einige gute Gründe für die Quote
börsennotierte Aktiengesellschaft mit 50 Mitarbeitern
darlegen und auch ein paar fürchterliche Vorurteile wi-
strenger zu behandeln
derlegen.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stichwort „Freiwilligkeit“. Wir überlegen im Deut-
NEN]: Und Mitarbeiterinnen!) schen Bundestag vor der Verabschiedung eines Gesetzes
als ein nicht börsennotiertes Unternehmen mit 300 oder jedes Mal sehr genau und sehr gründlich, ob es wirklich
400 Mitarbeitern? Wohl kaum! erforderlich ist. Wir wollen keine Regelung aller staatli-
chen Bereiche. Es kann auch keine Rede davon sein,
Es ist richtig: Als Konsequenz einer Börsennotierung dass es hier nur um staatlichen Zwang geht. Wir haben
muss es bestimmte Zusatzpflichten geben. Sie sind aber 2001 unter Rot-Grün eine freiwillige Vereinbarung mit
sicherlich primär im Bereich der Rechnungslegung und der deutschen Wirtschaft mit dem Ziel der gleichberech-
im Bereich „zusätzliche Informationen für Anleger“ und tigten Teilhabe von Frauen in Führungspositionen ge-
nicht im Bereich „zusätzliche gesellschaftpolitische schlossen. Wir haben ernsthafte und klare Festlegungen
Pflichten“ angesiedelt. Deshalb appelliere ich, dass man getroffen. Aber wir stellen fest: Es hat nichts, aber auch
sich in der künftigen Diskussion – wir werden die Dis- gar nichts gebracht.
kussion fortsetzen – noch stärker an den etablierten
Schwellenwerten im Bereich der Mitbestimmung orien- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
tiert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich sage es ganz deutlich: Unsere Geduld ist jetzt am
Wir dürfen festhalten: Die vorgelegten Entwürfe sind Ende. Im Deutschen Bundestag haben wir den klaren
in ihrer Grundanlage „staatlicher Zwang statt flexibler Handlungsauftrag, als Gesetzgeber tätig zu werden. In
Lösungen“ falsch. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes steht:
(Zurufe von der SPD: Oh!) Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Sie sind in ihren Details nicht überzeugend und deshalb Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
(B) nicht zustimmungsfähig. Meine Fraktion wird sie daher (D)
ablehnen. hin.
Dieser Tatbestand ist hier gegeben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ekin
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
LINKEN)
Alle?)
Noch eines ist mir ganz wichtig. Wir haben im Bun-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: destag ganz häufig notwendige Entscheidungen zu tref-
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion. fen, die wir zwar für richtig halten, die aber unbequem
sind. Wir können nicht immer auf die Mehrheitsmeinung
(Beifall bei der SPD) in der Bevölkerung hören. Aber bei diesem Thema scha-
det es nicht, wenn wir einmal hören, was die Bürgerin-
Dr. Eva Högl (SPD): nen und Bürger dazu sagen. Dann können wir nämlich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! feststellen, dass eine große Mehrheit, insbesondere der
Wir haben hier vor fast genau einem Jahr, am 3. Dezem- Jüngeren und der Frauen, ganz ausdrücklich für gesetzli-
ber 2010, den Gesetzentwurf der Grünen in erster Le- che Vorgaben in Form von Frauenquoten für die Wirt-
sung beraten. Was ist in diesem einen Jahr eigentlich schaft ist. Sollte uns das nicht zu denken geben?
geschehen? Die Bundesregierung und die Koalitions- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
fraktionen haben nichts, aber auch gar nichts dafür ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tan, dass der Anteil von Frauen in Führungspositionen
erhöht wird. Das dümmste Argument, welches mir in der Debatte
immer unterkommt, ist, dass mit Frauenquoten ungeeig-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nete Frauen auf Spitzenpositionen kommen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD so-
Deswegen war es ein verlorenes Jahr für die Frauen in wie der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])
Deutschland und in der privaten Wirtschaft.
Das ist wirklich das allerdümmste Argument. Ange-
Hier geht es heute nicht um die Details, Herr sichts der Tatsache, dass 85 Prozent der Aufsichtsrats-
Harbarth. Darüber können wir uns in einer zweiten posten und 97 Prozent der Vorstandsposten mit Männern
Runde unterhalten. Heute geht es vielmehr um die Frage, besetzt sind, kann man doch nicht ernsthaft glauben, das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17595
Dr. Eva Högl
(A) habe irgendetwas mit der Qualifikation der betreffenden gefordert, sich stärker als bisher anzustrengen, sich zu (C)
Person zu tun. öffnen und Frauen in den Blick zu nehmen; das tun sie
bisher nicht. Das halte ich für ganz entscheidend bei der
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Diskussion über die Frauenquote.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Auswahl bei der Besetzung dieser Positionen erfolgt
einzig und allein nach dem Geschlecht. Das sind alles Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zur Verein-
Quotenmänner. Ich will noch eines dazu sagen: Wenn je- barkeit von Familie und Beruf; Herr Harbarth, Sie haben
mand ernsthaft der Auffassung ist, es handele sich um das angesprochen. Wir kennen die Argumentation: Wir
ein Ergebnis der Bestenauswahl, dann muss ich fragen: verbessern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und
Was ist das für ein verheerendes Signal an alle Frauen in dann läuft das schon. – So läuft das überhaupt nicht. Ers-
unserem Land? tens tut die Bundesregierung überhaupt nichts für eine
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
sowie der Bedingungen für Frauen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
Genauso dumm ist die Auffassung, Frauen wollten KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
nicht in Führungspositionen. Wir wissen alle ganz ge- NEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)
nau, wie das läuft: Frauen werden überhaupt nicht in den Mit dem Betreuungsgeld – das muss an dieser Stelle
Blick genommen, Frauen werden in ihrer Karriere nicht auch gesagt werden – werden Signale sogar in die fal-
unterstützt, Frauen werden nicht gefragt. Ja, manchmal sche Richtung und falsche Anreize gesetzt.
ist es für Frauen auch unangenehm und nicht attraktiv,
die Einzige in einem Männergremium zu sein. Es stimmt (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
auch, dass manchmal die Frauenkarrieren an der Verein- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
barkeit von Familie und Beruf scheitern. Auch das ist Zweitens. Wir wissen ganz genau: Wenn die Verein-
richtig. Daraus kann man aber nicht den Schluss ziehen, barkeit von Familie und Beruf ein entscheidendes Pro-
die Frauen wollten keine Führungspositionen einneh- blem darstellte, dann säßen in den Toppositionen unseres
men. Landes viele kinderlose Frauen. Das ist aber nicht der
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Fall. Frauen werden nicht diskriminiert, weil sie Kinder
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- haben oder Probleme mit der Vereinbarkeit von Familie
(B) geordneten der CDU/CSU) und Beruf haben. Vielmehr werden bestimmte Positio- (D)
nen nicht mit Frauen besetzt, egal ob sie Kinder haben
Ebenso wenig kann man sagen, Frauen wollten keine oder nicht. Das ist das Problem.
Quotenfrauen sein, sondern nur wegen ihrer Leistung
befördert werden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was heißt das im Umkehrschluss? Worauf ist der ge-
ringe Anteil von Frauen in Führungspositionen zurück- Drittens. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass
zuführen, etwa darauf, dass die Frauen nicht gut genug sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eher ver-
sind? Das wollen wir im Deutschen Bundestag doch bessert, je mehr Frauen in Spitzenpositionen tätig sind.
nicht ernsthaft behaupten. Gleichzeitig wird damit unter- Dann wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein
stellt, dass 97 Prozent der Männer um ein so Vielfaches ganz entscheidendes Kriterium sein. Frauen in Spitzen-
besser sind als die Frauen. Das ist großer Quatsch. positionen werden dazu beitragen, dass wir da den Turbo
einschalten und sich alles zum Besseren verändert.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Das alles sind gute Gründe für Frauenquoten in Vor-
geordneten der CDU/CSU) ständen und Aufsichtsräten.
Frauen wollen Führungspositionen. Frauen können Ich möchte noch etwas anderes ansprechen, das ich
es. Eine Quote sorgt dafür, dass die exzellenten Frauen, persönlich für den Tiefpunkt der frauenpolitischen De-
die es überall in unserem Land, in allen Bereichen unse- batte halte, nämlich den Vorwurf an all diejenigen, die
rer Gesellschaft gibt, endlich auf die Plätze kommen, die sich für Frauenquoten einsetzen, sie wollten Rollenbil-
ihnen zustehen. der vorschreiben, und das im 21. Jahrhundert. In dem an-
gekündigten Buch Danke, emanzipiert sind wir selber
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem von Bundesministerin Schröder soll es um diese Rollen-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- bilder gehen.
geordneten der CDU/CSU)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Haben Sie es
Wir brauchen genau dieses Signal an die Frauen. Wir schon gelesen?)
brauchen das Signal: Liebe Frauen, da sind Plätze in der
deutschen Wirtschaft, auf die ihr kommt. Ihr werdet in Ich persönlich bin der Auffassung, dass es zynisch ist,
den Blick genommen. Ihr könnt es schaffen. – Wir brau- denjenigen, die sich für Frauenquoten in der Wirtschaft
chen das Signal an die Betriebe: Schaut euch die Frauen und insbesondere in Vorständen einsetzen, zu unterstel-
an. Gebt ihnen eine Chance! – Die Betriebe werden auf- len, dass sie Frauen ein bestimmtes Rollenbild vor-
17596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Eva Högl


(A) schreiben wollen. Was wir wollen, ist Wahlfreiheit, und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
zwar für alle Männer und für alle Frauen. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Nicole Bracht-Bendt (FDP):
GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin nicht bei Ihnen, Frau Högl. Was Sie
Ich sage bewusst: Wir haben keine Wahlfreiheit, wenn eben gesagt haben, hat mich nicht überzeugt.
97 Prozent der Vorstände und 85 Prozent der Aufsichts-
räte mit Männern besetzt sind. Das ist keine Wahlfrei- (Beifall bei der FDP – Christian Lange [Back-
heit. Das hat mit Rollenbildern überhaupt nichts zu tun. nang] [SPD]: Sie sind ja auch Ideologin! –
Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie NEN]: Sie überzeugt gar nichts!)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Zum wiederholten Male sprechen wir heute über die
Frage, was die Politik tun kann, damit mehr Frauen in
Wir, der Gesetzgeber, sind gefordert, Wahlfreiheit zu
Aufsichtsräte und Vorstände einziehen. Am Mittwoch
ermöglichen. Wir müssen die notwendigen gesetzlichen
gab es auf Initiative von Frauen aus allen Fraktionen
Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass alle Männer
zum ersten Mal eine gemeinsame Veranstaltung mit Ex-
und alle Frauen Wahlfreiheit haben, egal ob sie Kinder
pertinnen von außen. Dieser gemeinsame Vorstoß war
haben oder nicht, egal welchen individuellen Lebensent-
wichtig. Wir Frauen hier im Plenum haben alle das glei-
wurf – mit oder ohne Beruf und Karriere – sie haben.
che Ziel: Wir wollen gleiche Karrierechancen für Frauen
Wir wollen Wahlfreiheit. Dafür brauchen wir jetzt – das
wie Männer. Allerdings gehen wir Liberale einen ande-
haben die letzten zehn Jahre gezeigt – verbindliche, ge-
ren Weg als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in der
setzliche Frauenquoten für die deutsche Wirtschaft.
SPD-Fraktion und bei den Bündnisgrünen. Wir Liberale
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie halten eine starre Quote für nicht geeignet und für unver-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE hältnismäßig. Eine Quote greift zu kurz. Für diese Mam-
GRÜNEN) mutaufgabe ist viel mehr nötig.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio- (Zurufe von der SPD)
nen, ich rate Ihnen: Geben Sie bitte Ihr ideologisch moti-
viertes Nein, das nicht von Sachargumenten gegen die – Hören Sie doch bitte einmal zu.
Frauenquote getragen ist, auf. Sie wissen, wie das mit Sie behandeln jede Aktiengesellschaft wie ein Groß-
(B) der Aufgabe von Positionen geht. Wir haben es bei der unternehmen. Dabei sind nur 800 bis 1 000 davon bör- (D)
Atomkraft erlebt. Wir erleben es in der Euro-Krise, wo sennotiert. Mehr als 90 Prozent der Unternehmen in
gute Vorschläge erst abgelehnt und dann doch umgesetzt Deutschland sind mittelständisch. Diese Betriebe haben
werden. Wir kennen das von den Mindestlöhnen. ein echtes Problem mit Ihrer Quotenforderung.
Ich fände es ganz toll, wenn Sie jetzt auch in diesem (Elke Ferner [SPD]: Wieso?)
Punkt unsere Vorschläge übernehmen würden. Ich bin da
ganz uneitel: Wenn Sie gute Vorschläge von der SPD Gleiches gilt für die vielen Familienunternehmen, die
übernehmen, dann ist es mir ganz egal, von wem die wir haben. Es kann doch nicht vom Geschlecht der
Vorschläge im Endeffekt kommen. Entscheidend ist, Nachkommen abhängen, ob ein traditioneller Familien-
dass wir hier gute Politik machen. Wenn Sie sich ent- betrieb weiter aufrechterhalten werden kann.
scheiden können, heute dem Gesetzentwurf der Grünen
und dem Antrag der SPD für eine Quotenregelung für (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das will doch
Aufsichtsräte und Vorstände zuzustimmen, dann wäre keiner!)
das sicherlich ein gutes Signal. Im Übrigen stehen gerade Familienunternehmen mit
Ich fordere Sie auf: Geben Sie sich heute einen Ruck! rund 20 Prozent Frauen in Führungspositionen gut da.
Stimmen Sie in der namentlichen Abstimmung für Quo- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ten in Vorständen und Aufsichtsräten. Es gibt viele gute der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Dann ha-
Argumente dafür. Sie sind in der bisherigen Debatte ben sie kein Problem damit!)
schon deutlich geworden. Stimmen Sie mit uns! Seien
Sie mutig: Für die Gleichberechtigung von Frauen und Auf der anderen Seite haben große Unternehmen vor al-
Männern! lem im technischen Bereich schon heute Nachwuchssor-
gen. Das können Sie nicht ignorieren. Wir können jeden-
Herzlichen Dank.
falls feststellen, dass der Wandel auch ohne staatlich
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem verordnete Zwangsquote schon im Gange ist, und zwar
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in allen Bereichen.
In der Wirtschaft und in der Industrie sind alle unter
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Druck, sich ein frauenfreundliches Image zu geben. In
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP- einer Pressemitteilung des Bundesverbandes der Deut-
Fraktion. schen Industrie vom Juni dieses Jahres heißt es:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17597
Nicole Bracht-Bendt
(A) Aus demographischen und wirtschaftlichen Grün- Damit hat die Bundesregierung unter Beweis gestellt, (C)
den liegt eine stärkere Beteiligung von Frauen in dass es ihr mit der Gleichstellung von Frauen in Füh-
der Unternehmensführung im ureigenen Interesse rungspositionen ernst ist. Natürlich hat das auch Sank-
der Unternehmen. Die daraus resultierenden vielfäl- tionswirkungen. Die Justizministerin nimmt die Wirt-
tigen Maßnahmen von Unternehmen zur Steigerung schaft in die Pflicht.
des Frauenanteils zeigen bereits deutliche Erfolge:
Ich bin sicher, dass der politische Druck auch ohne
Der BDI nennt konkrete Zahlen. Demnach ist ein Zwangsquote die Wirtschaft zum Handeln gebracht hat.
neuer Höchststand von weiblichen Chefs mit 27,7 Pro- Eon, Karstadt oder Daimler haben im Zuge der Selbst-
zent erreicht. In Betrieben mit bis zu 49 Mitarbeitern verpflichtung im Oktober interessante Frauenförderpro-
sind 35 Prozent der Führungspositionen von Frauen be- gramme vorgelegt. Kluge Programme ändern aber nichts
setzt. Der Frauenanteil bei Führungskräften bis 39 Jahre an der Tatsache, dass wir ein Umdenken in Verbindung
liegt bei 38 Prozent. mit anderen Strukturen in Gesellschaft und Arbeitspro-
zessen brauchen. Ich denke, darin sind wir uns einig.
Aber auch bei den DAX-30-Unternehmen gibt es
Fortschritte. Knapp 40 Prozent der von Aktionären bei Ein Stichwort ist die viel zitierte Präsenzpflicht. Wir
Einzelwahlen von DAX-30-Unternehmen in der Haupt- müssen wegkommen von der Meinung, nur in den Bü-
versammlungssaison 2011 gewählten Aufsichtsräte wa- ros, in denen bis spätabends Licht brennt, wird effizient
ren Frauen. gearbeitet. Frauen brauchen sich nicht zu verbiegen;
denn die frauenspezifischen Eigenschaften wie Flexibili-
(Beifall bei der FDP) tät und Teamorientierung sind in Führungspositionen ge-
fragt. Das haben wir auch vorgestern Abend gehört.
Der Frauenanteil auf der Kapitalseite der DAX-30-Auf-
sichtsräte hat sich von 2009 bis 2011 von 4,8 Prozent auf Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist und
10,9 Prozent im Jahr 2011 mehr als verdoppelt. Eine bleibt ein ganz wesentlicher Baustein auf dem Weg zu
letzte Zahl: Mit einem Frauenanteil von 15,4 Prozent in einer veränderten Kultur ohne Quote. Ich halte mich da
den Gesamtaufsichtsräten der DAX-30-Unternehmen an die renommierte Daniela Weber-Rey, die für eine
liegt Deutschland über dem europäischen Durchschnitt Kultur – hören Sie bitte zu! – aus Kindern, Krippe und
der Frauenanteile in Boards von nur 11 Prozent. Karriere wirbt.

Diese Bilanz ist noch nicht befriedigend – darin sind Herzlichen Dank.
wir uns einig –, doch ein erkennbarer Schritt in die rich- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tige Richtung. Es ist dringend notwendig, gemeinsam der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND-
(B) die gesellschaftlichen, politischen und betrieblichen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der CDU/CSU (D)
Rahmenbedingungen so zu verändern, dass Führungs- klatscht kaum jemand! Die Frauen sind alle er-
aufgaben auch tatsächlich von Frauen und Männern in schüttert!)
gleicher Weise wahrgenommen werden können. Hierfür
sind der fortgesetzte Wandel der Unternehmenskulturen,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die Steigerung des Frauenanteils in MINT-Studienfä-
chern und der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreu- Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die
ung für alle Altersklassen notwendig. Das sehen Sie ja Linke.
anders. (Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte noch etwas zu Norwegen sagen. Das ist ja
immer noch Ihr großes Vorbild. Sie behaupten, die Yvonne Ploetz (DIE LINKE):
Zwangsmaßnahme habe den Frauenanteil in Führungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
positionen insgesamt gestärkt. Das ist eine Illusion. Eine Stellen wir uns kurz vor, in Deutschland wären Männer
Sozialstudie der London School of Economics kommt zu und Frauen tatsächlich gleichgestellt. Dann wäre es
dem ernüchternden Schluss, dass Norwegens 40-Pro- möglich, Kinder zu erziehen und trotzdem problemlos
zent-Quote keinen Einfluss auf den Frauenanteil gehabt Karriere zu machen. Wenn es um Führungspositionen
hat. Der Erfolg dieser Maßnahme ist rein symbolisch. geht, würden Frauen nicht mehr gesagt bekommen: Ihr
wollt ja eigentlich gar nicht in die oberen Etagen. –
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nein, es wäre selbstverständlich, dass Frauen auf dem
NEN]: Das stimmt doch nicht!) Chefsessel Platz nehmen statt im Vorzimmer. Erziehe-
rinnen würden am Ende des Tages gemeinsam mit ihren
Quotenbefürworterinnen tun immer so, als wäre die männlichen Kollegen den Kindergarten zusperren und
Bundesregierung in Sachen Frauenförderung bisher taten- wären zufrieden, weil sie angemessen bezahlt würden
los gewesen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Selbst die und ihr Beruf gesellschaftlich angesehen wäre.
EU-Kommissarin Viviane Reding spricht immer von den
Ländern, die eine Quote eingeführt haben, und den Län- Nun wissen wir alle: Der Alltag in Deutschland sieht
dern, die auf den Governance Kodex setzen. Voriges Jahr ein bisschen anders aus. Aber zum Glück gibt es sehr
wurde bei uns der Governance Kodex geändert und die viele mutige Frauen, die tagtäglich für ihre Rechte
angemessene Berücksichtigung von Frauen in Aufsichts- kämpfen. Sie können sich auf das deutsche Grundgesetz
räten und Führungspositionen aufgenommen. Das ist viel berufen. Es kann hier nicht oft genug zitiert werden. Da-
mehr, als Sie immer behaupten. rin heißt es seit 1949 in Art. 3 Abs. 2:
17598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Yvonne Ploetz
(A) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat Es geht auch anders. Das hat das Beispiel Norwegen (C)
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe- gezeigt. Ich möchte ganz kurz darauf hinweisen, dass
rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf dort die Quote am Anfang genauso leidenschaftlich um-
die Beseitigung bestehender Nachteile hin. kämpft war wie bei uns – mit ähnlichen Argumenten.
Heute, zehn Jahre später, ist sie absolut unstrittig. Sie ist
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke gesellschaftlich akzeptiert, und die Unternehmen sind
Ferner [SPD]) damit erfolgreich.
Dazu gehört all das, was ich gerade gesagt habe, und
Dieser Blick auf Norwegen zeigt uns in Bezug auf die
noch viel mehr.
vorliegenden Initiativen Folgendes: SPD und Grüne ha-
Wenn wir jetzt über die Quote und die Initiativen von ben recht: Die Quote muss auch über die 30 DAX-Unter-
SPD und Grünen reden, sollten wir im Hinterkopf behal- nehmen hinaus gelten und natürlich nicht nur für die Pri-
ten, dass Gleichstellung nicht nur bedeutet, Frauen den vatwirtschaft, sondern selbstverständlich auch für den
Weg in die Führungsetagen zu ebnen, sondern Frauen öffentlichen Dienst. Das schließt auch die Bundesbehör-
und Männern überall, in allen gesellschaftlichen und so- den mit ein. Frau Schröder, die Selbstverpflichtung
zialen Bereichen, die gleichen Rechte zuzugestehen. scheint noch nicht einmal in Ihrem eigenen Haus zu
funktionieren. Es gibt in Ihrem Ministerium nicht eine
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Staatssekretärin, und nur eine von fünf Abteilungsleiter-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE stellen ist mit einer Frau besetzt. Gerade Sie sollten doch
GRÜNEN) mit einem positiven Beispiel vorangehen!
Die Quote ist für uns ein wichtiges Mittel; sie ist nicht
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
das Ziel. Sie kann aber ein Türöffner zu einer geschlech-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
tergerechten Gesellschaft sein. Diese wird von Frauen-
GRÜNEN)
ministerin Schröder und der von ihr vorgeschlagenen
Flexiquote nicht erreicht. Ja, es muss eine festgeschriebene Quote geben. Über
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So ist es! die Höhe sind wir uns allerdings noch nicht einig. Wir
Aber sie versteht es halt nicht!) finden, es gibt keinen Grund, sie bei 30 oder 40 Prozent
festzusetzen, da der Anteil der Frauen in der Gesell-
Diese Quote lauert bereits im Hintergrund, während wir schaft doch 50 Prozent und mehr beträgt. Außerdem ha-
hier debattieren. Kurz zur Erläuterung: Die Flexiquote ben wir gerade jetzt die am besten ausgebildete Frauen-
ist eine Selbstverpflichtung der DAX-Unternehmen. Die generation aller Zeiten in der Bundesrepublik. Wenn die
(B) Höhe legen die Männer in den Chefetagen selbst fest. Quote wirklich eine Abbildung der Gesellschaft sein (D)
soll, wenn sie den Rechten der Frauen Geltung verschaf-
Was ist das Ergebnis der bisherigen Selbstverpflich-
fen soll, dann muss die Hälfte aller Posten den Frauen
tung? „DAX-Konzerne bremsen Regierung aus“, hat die
gehören.
Süddeutsche Zeitung im Oktober dieses Jahres treffend
zur Frauenquote getitelt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Es gibt einige positive Beispiele, die auch schon ge- neten der SPD)
nannt wurden, wie Allianz, Bayer, die Commerzbank Dennoch, selbst wenn die Hälfte aller Spitzenpositio-
und die Deutsche Telekom. Andere Unternehmen möch- nen mit Frauen besetzt wäre, bedeutet das noch lange
ten sich gerne fünf Jahre Zeit lassen und eine Quote von nicht, dass die Frauen dann auch den gleichen Lohn für
20 Prozent oder weniger erreichen. Das wird mit uns die gleiche Arbeit erhalten würden. Das ist derzeit nicht
nicht funktionieren.
der Fall. Ich finde, das ist einer der wunden Punkte in
(Beifall bei der LINKEN) dieser Diskussion. Denn hier setzt sich das fort, was auf
den unteren Ebenen beginnt: die ungleiche Bezahlung
Wir wissen, dass der Frauenanteil in den vergangenen von Frauen und Männern, die ungleich verteilte Arbeit
zehn Jahren in den Vorständen der DAX-Unternehmen bei Frauen und Männern und auch die ungleiche Wert-
gerade einmal von 2,5 auf 3,7 Prozent gestiegen ist. Das schätzung der Arbeit von Frauen und Männern. Wir
ist eine Verbesserung um 1 Prozentpunkt in zehn Jahren. müssen all diese Ungleichheiten zusammen angehen.
Das kann für uns für die Zukunft nur heißen: Wir geben
den Unternehmen nicht noch einmal zehn Jahre Zeit, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nicht zu handeln, sondern wir brauchen jetzt eine gesetz- neten der SPD)
lich festgelegte Frauenquote.
Eine emanzipatorische Frauenpolitik muss sich um
(Beifall bei der LINKEN) die Frauen in Chef- und Führungsetagen bemühen, und
Ihre Flexiquote ist ein Symbol für die Biegsamkeit sie muss auch und insbesondere die Frauen im Blick ha-
und die Flexibilität des politischen Rückgrats dieser Re- ben, die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen ar-
gierung in der Frauenfrage. beiten, die keine Erwerbsarbeit haben, die arm sind trotz
Arbeit und die auch im Alter arm sein werden. Es gibt
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. eine ausreichende Zahl von Lösungsvorschlägen vonsei-
Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE ten der Linken, von den deutschen Frauenverbänden. Ei-
GRÜNEN]) gentlich müssen Sie diese Vorschläge nur aufnehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17599
Yvonne Ploetz
(A) Wir jedenfalls sind weiterhin an der Seite all der daraus gemacht, dass das auch meine Wunschvorstellun- (C)
Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, und werden ge- gen sind. Wir stellen uns im Hinblick auf die Aufsichts-
meinsam mit ihnen für ihre Rechte kämpfen. räte in mitbestimmten Unternehmen eine Regelung mit
einem verbindlichen Zeitrahmen vor, die einen Mindest-
Vielen Dank.
anteil von Frauen und Männern – das nur zur Beruhi-
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie gung einiger Kollegen – in Höhe von 30 Prozent festlegt.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Auch für die Vorstände wäre es ganz wichtig, etwas zu
GRÜNEN) tun. Da steht das operative Geschäft im Vordergrund. Al-
lerdings hat man da stärker den Konflikt mit dem Eigen-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tumsschutz auszutragen. Ich glaube, an dieser Stelle
Das Wort hat nun Elisabeth Winkelmeier-Becker für wäre die Flexiquote ein sehr guter Ansatz.
die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir reden über einen Mindestanteil von 30 Prozent.
neten der FDP) Das ist nicht als Ziel zu verstehen, sondern als die Grö-
ßenordnung, mit der sich die Strukturen, die den momen-
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): tanen Zustand zementieren, ändern können. Wird diese
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Größenordnung erreicht, können wir ein anderes Klima
Über die Anträge der Opposition führen wir jetzt seit herstellen. Diese Quote ist moderater, und sie ist letztlich
vielen Monaten, fast schon seit einem Jahr, eine ange- konsensfähiger. Daher vertreten wir an dieser Stelle diese
regte parlamentarische Diskussion. Wir führen eine öf- Linie.
fentliche Diskussion unter Beteiligung vieler Verbände.
FidAR, der Deutsche Juristinnenbund und der Verband Ich möchte diese Diskussion noch nutzen, um diejeni-
deutscher Unternehmerinnen haben sich an die Spitze gen, die Vorbehalte gegen eine Quote haben, ein biss-
der Bewegung gesetzt. Das hat Druck erzeugt; das chen aus der Reserve zu locken.
Thema wurde in den Unternehmen auf die Tagesordnung (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gesetzt. Es wird jetzt nicht mehr unter „Verschiedenes“
behandelt, sondern die Unternehmen widmen sich dem Ich glaube, wir brauchen einen mehr oder weniger sanf-
mit einem ganz anderen Ernst. ten Druck. Ich weiß, dass nicht jeder Skeptiker ein Pro-
blem damit hat, wenn Frauen in Führungspositionen ste-
Von den Headhuntern hören wir, dass es inzwischen hen. Das erschließt sich mir aus Gesprächen mit meinen
keinen Vorschlag mehr geben darf, in dem nicht mindes- Kollegen.
(B) tens ein oder zwei qualifizierte Frauen enthalten sind. (D)
Die eine oder andere Erfolgsmeldung hören wir auch. Viele denken – teilweise auch junge Frauen –, dass
sich das Ganze von allein regelt. Man sagt: Wir sehen
Mir ist wichtig, dabei darauf hinzuweisen, welchen die zunehmende Karriereorientierung der Frauen; wir se-
Beitrag die Koalition, besonders auch die Unionsfrak- hen den hohen Anteil an Akademikerinnen – davon war
tion, in dieser Diskussion leistet. Dieses Thema ist in un- schon die Rede –; die Strukturprobleme bei der Verein-
serem Koalitionsvertrag an prominenter Stelle verankert. barkeit von Familie und Beruf, die sicher eine Rolle
Wir haben eine Frauenministerin, die sich um dieses spielen, gehen wir an. Und dann wird gesagt: Zum Teil
Thema jedenfalls mit großem Engagement kümmert. kämen im geringen Anteil an Frauen in Führungspositio-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen die Lebensentscheidungen der Frauen selbst zum
neten der FDP – Lachen bei der SPD und dem Ausdruck.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Ich selbst bin in diese Diskussion nicht mit einer fest-
Lange [Backnang] [SPD]: Mussten Sie das gefügten Meinung gegangen. Wenn man sich schlicht-
jetzt sagen?) weg mit den Fakten auseinandersetzt, dann sieht man:
– Ich will hier das Spektrum der Diskussionen in meiner Sie sprechen für sich. Man kommt nicht daran vorbei, zu
Fraktion darstellen. Wir haben schon öfter darüber ge- konstatieren, dass es Strukturen sind, die den Frauen hier
sprochen, und ich habe hier schon vorgestellt, was die entgegenstehen.
Gruppe der Frauen der Unionsfraktion dazu konkret ent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
wickelt hat. SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
In Summe zeigt das meines Erachtens deutlich, dass GRÜNEN)
auch die Union dieses Thema ernsthaft angeht. Wer Auch wenn wir unterschiedliche Lebensentwürfe, un-
glaubt, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode terschiedliche Schwerpunkte haben, auch wenn ein Un-
abwarten, ohne dass sich an dieser Stelle etwas tut, der gleichgewicht in einem gewissen Maße unvermeidlich
hat den Schuss nicht gehört. erscheint, darf es bei den Aufsichtsräten keinen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Frauen-Männer-Anteil von 10 : 90 und bei den Vorstän-
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- den von 3 : 97 geben. Das ist durch nichts zu rechtferti-
NEN) gen, egal was an landläufigen Argumenten vorgebracht
wird.
Ich habe die Vorstellungen der Gruppe der Frauen
schon öfter präsentiert, und ich habe auch keinen Hehl (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
17600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) Wird sich das von allein regeln? Schauen wir, welche darf man sich doch nicht entgehen lassen. Hinzu kommt (C)
Erfahrungen wir in den vergangenen zehn Jahren mit – davon war schon die Rede – der demografische Wan-
freiwilligen Regelungen gemacht haben: Es gab eine del. Angesichts dessen ist es doch dumm, wenn sich ein
Steigerung im unteren einstelligen Bereich. Wenn wir in Unternehmen auf die Hälfte des Talentpools beschränkt
diesem Tempo weitermachen, dann dauert es in der Tat und nicht überall nach den besten Köpfen schaut.
noch an die 50 Jahre, bis wir bei akzeptablen Größenord-
Aber wenn wir uns die Auswahlmechanismen an-
nungen sind.
schauen, müssen wir konstatieren, dass es gar nicht die
Lassen Sie mich noch auf die Ursachen eingehen. Möglichkeit gibt, sich zu qualifizieren, somit auch keine
Wählen Frauen die falschen Berufe? Wählen sie die fal- Möglichkeit, sich zu bewerben und zu reüssieren. Beru-
schen Studienfächer? Das anzunehmen, hat eine gewisse fungen erfolgen nämlich schlichtweg durch die Auf-
Plausibilität. Wenn man genau hinschaut, dann erkennt sichtsräte. Da liegt es in der Natur der Sache, dass sich
man aber: Die Bedeutung der MINT-Berufe wird an die- die immer gleichen Auswahlmechanismen perpetuieren.
ser Stelle grob überschätzt. 25 Prozent der Mitglieder Die Aufsichtsräte wählen die Vorstände, die Aufsichts-
von Vorständen und Aufsichtsräten der DAX-Unterneh- räte schlagen der Hauptversammlung passgenau die
men sind in MINT-Berufen ausgebildet worden. Circa Kandidaten für das nächste Mal vor.
60 Prozent ihrer Mitglieder kommen aus den Bereichen
Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der Tele-
Jura, Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft. Gerade in
kom, hat in einem Interview gegenüber dem Spiegel auf
den Führungsgremien der Banken, in denen genau dies
die Frage, ob sich denn Qualität durchsetze, gesagt:
die richtige Qualifikation ist, sind besonders wenige
Frauen vertreten. Die Entscheidungen fallen ebenso durch Seilschaft,
Treuebonus, Netzwerke, strategisches Platzieren
Das zeigt: Frauen besuchen seit Jahren und Jahrzehn-
von Vertrauten und Vitamin B wie durch Qualität.
ten die relevanten Ausbildungsgänge und sind in den re-
levanten Berufsgruppen vertreten; dennoch tut sich an Ich will ganz gewiss niemandem, der in einer solchen
dieser Stelle nichts. Ich selbst habe vor 30 Jahren Jura Position sitzt, die Qualifikation absprechen. Aber solche
studiert. Daher weiß ich, dass damals genauso viele Strukturen schließen Frauen und genauso auch Männer
Frauen wie Männer angefangen haben. Sie haben auch aus, die nicht ins Schema passen; diese sind schlicht
mindestens genauso gute Examina gemacht. Aber auf gleichheitswidrig.
dieses Reservoir ist bei der Besetzung von Vorständen
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
nicht zurückgegriffen worden. Das spricht schlichtweg
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
für sich.
geordneten der LINKEN)
(B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN (D)
Die Unternehmen, um die es hier geht, haben Bedeu-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tung für die ganze Volkswirtschaft und für viele Men-
Wieso brauchen wir nun mehr Frauen in Führungs- schen, seien sie Anteilseigner, Mitarbeiter oder Kunden.
positionen? Dies ist zum einen gut für die Unternehmen, Deshalb haben wir als Politiker auch die besondere Ver-
und es ist zum anderen gerecht, wenn Frauen gleiche Zu- antwortung, das nicht nur dem eigenen Geschmack der
gangsmöglichkeiten zu verantwortungsvollen, interes- Unternehmen zu überlassen, sondern auch gestaltend
santen und lukrativen Positionen haben. Beide Aspekte einzuwirken, Vorgaben zu machen und die Verbindlich-
haben nicht nur unmittelbar Auswirkungen auf die Ak- keit mit sanftem Druck zu erhöhen. Die Frauen, die sich
teure, also auf die Frauen, die in die Vorstände kommen, qualifizieren, die diese Verantwortung übernehmen wol-
und auf die Unternehmen, die diese Positionen haben, len, die in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen,
sondern damit einher geht auch eine Vorbildfunktion mit haben das verdient. Es gibt den Pool beim Verband der
Ausstrahlungswirkung auf alle Ebenen und Bereiche un- Unternehmerinnen; es gibt also wirklich genügend Ta-
serer Wirtschaft. lente, die diese Positionen einnehmen könnten.
Zur wirtschaftlichen Seite: Es gibt genügend Studien, Wir brauchen jetzt schnell eine Regelung. Deshalb
auch ganz aktuell eine McKinsey-Studie, die zeigen, bin ich froh, wenn bald vom zuständigen Familien- und
dass gerade in den Jahren der Krise die Unternehmen mit Frauenministerium eine Diskussionsgrundlage vorgelegt
Frauen in Führungspositionen signifikant bessere wirt- wird.
schaftliche Ergebnisse erzielt haben,
(Christel Humme [SPD]: Große Frage! – Wei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der tere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN)
NEN)
Ich denke, dass wir eine Zielvorgabe von 30 Prozent in
nicht – das wäre vermessen – weil Frauen grundsätzlich einem angemessenen Zeitrahmen brauchen. 30 Prozent
besser sind. bis 2018 – das wäre realistisch. Dies ist ein Vorschlag,
mit dem wir uns auseinandersetzen sollten.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ein bisschen bes-
ser sind sie manchmal schon!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
– Gut. Man kann es auch so stehen lassen. – Vielmehr Wir brauchen diese Vorgabe jetzt. Das wäre fair gegen-
bringen sie einen anderen, ausgewogenen Ansatz hinein. über den Unternehmen; denn im Jahr 2013 steht eine
Das macht das Team insgesamt erfolgreicher, und das Vielzahl an Aufsichtsratswahlen an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17601
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) Wir müssen den Unternehmen jetzt sagen, worauf sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
sich einrichten müssen, damit sie die Vorbereitungen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
treffen. Wer bis 2018 30 Prozent Frauen in den Gremien GRÜNEN)
haben will, der muss sich jetzt sputen und die Suche be-
Frau Högl hat es schon gesagt: Dieses Jahr ist ein ver-
ginnen.
lorenes Jahr. Es ist nicht nur ein verlorenes Jahr, sondern
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und es ist auch ein Jahr der Gipfel, nicht nur der europäi-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schen Gipfel, sondern auch der Quotengipfel.
Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Den ersten Quotengipfel hatten wir im März 2011.
NEN]: Sagen Sie das mal der Frau Ministerin! Damals hatte die Ministerin von der Leyen noch eine
Die hört ja nicht einmal zu!) verbindliche Quote gefordert. Sie ist total gescheitert,
Deshalb geht mein Appell, meine Ermunterung und und zwar an der FDP, an dem Streit mit ihrer Kollegin
meine Zusage dahin, alle Schritte, die in diese Richtung Frau Schröder und letztlich an dem Veto der Kanzlerin.
gehen, zu unterstützen. Ein zweiter Gipfel musste her. Im Oktober dieses Jah-
res – das ist noch nicht so lange her – gab es den zweiten
Herzlichen Dank. Gipfel.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Bei Ihnen gab
neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des es gar keinen Gipfel!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Nein, aber von uns gibt es gute Vorschläge. Wir brau-
chen keinen Gipfel. – Auf dem zweiten Gipfel wollte die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ministerin Schröder den Vertretern der DAX-Unterneh-
Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Frak- men ihre Flexiquote erklären und schmackhaft machen.
tion. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die am Spitzenge-
spräch beteiligten Personalvorstände der Unternehmen
(Beifall bei der SPD) verpflichteten sich – man muss jetzt genau hinhören –,
lediglich ihren jeweiligen Frauenanteil an Führungsposi-
Christel Humme (SPD): tionen anhand eigener unternehmensspezifischer Vorga-
Frau Winkelmeier-Becker, das war eine mutige Rede. ben zu erhöhen. Was Führungspositionen sind, definie-
Leider konnte ich von meinem Platz aus sehen, dass die ren sie aber nicht. Das bestätigt auch eine Antwort der
Ministerin in keiner Weise zugehört, sondern ihre Akten Bundesregierung. Ich lese sie vor und bitte, genau hinzu-
(B) bearbeitet hat. Das ist die Realität. hören: (D)
Die Zielvorgaben unterscheiden sich dabei sowohl
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nach Höhe als auch nach Basisgröße. Es fehlt … an
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
einer einheitlichen Definition des Begriffs „Füh-
Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Markus
rungsposition“.
Grübel [CDU/CSU]: Wenn ihr Frauen euch
nur gegenseitig einig wäret!) Das heißt doch übersetzt, dass die Führungsmänner in
den Unternehmen jetzt machen können, was sie wollen.
Dabei haben wir alle – das haben wir heute in allen Re- Das ist meiner Ansicht nach nicht das, was wir als SPD
den gehört – dasselbe Ziel, nämlich die Zahl der Frauen uns unter Fortschritt vorstellen.
in Führungspositionen zu erhöhen. Ich denke mir, es ist
Zeit, endlich auch gesetzliche Regelungen zu treffen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Unser Antrag ist an dieser Stelle sehr klar. Wir wollen der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Das ist
eine gesetzliche 40-Prozent-Quote für Aufsichtsräte und der Gipfel!)
Vorstände festlegen, und wir wollen auch wirksame Schauen wir uns doch einmal genauer an, was in die-
Sanktionen. Das ist unser Konzept. sem Papier „Frauen in Führungspositionen“ steht. Einige
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unternehmen sagen, sie legen sich auf überhaupt keine
der LINKEN) Zielgröße fest. Andere Unternehmen wollen eine Quote
irgendwo zwischen 12 und 35 Prozent. Unklar ist, was
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von den Grünen, sie damit meinen. Meinen sie eine Quote, eine Zuwachs-
wir stimmen auch Ihrem Gesetzentwurf zu; denn Sie ha- rate, deutschlandweit oder weltweit, im ganzen Kon-
ben in Ihrem Gesetzentwurf diese verbindliche Quote zern? Niemand weiß es genau. Aber was wir genau wis-
und wirksame Sanktionen vorgesehen. Sie haben außer- sen, ist: Die Vorstände und die Aufsichtsräte kommen
dem einen Antrag gestellt – den finde ich sehr gut –, mit nicht vor und sind nicht gemeint.
dem Sie diesen Gesetzentwurf noch um eine Regelung
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
für die Vorstände erweitern. Das ist wunderbar. Damit
können wir in der parlamentarischen Debatte vielleicht Frau Ministerin, ich sage es eigentlich ungern, aber es
dem Ziel näher kommen, das wir heute alle formuliert ist tatsächlich so: Sie haben sich ganz schön an der Nase
haben, und ein gutes Gesetz weiterentwickeln. Ich herumführen lassen. Denn wie wollen Sie die Einhaltung
glaube, das ist ein guter Ansatz. Darum bitte ich heute so ungenauer Zielvorgaben eigentlich hinterher kontrol-
alle, dem zuzustimmen. lieren und die Ergebnisse vergleichen? Wer nichts Kon-
17602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Christel Humme
(A) kretes fordert, bekommt auch nichts Konkretes vorge- setzentwurf der Grünen sowie unserem Antrag (C)
legt – das war die nüchterne Kritik Ihrer Kollegin und zustimmen. Ich fordere Sie dazu auf.
Ministerin Frau von der Leyen. Dem ist nichts hinzuzu-
Vielen Dank.
fügen, dem stimmen wir zu.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Der letzte Freitag zeigt eigentlich, dass Sie es nicht LINKEN)
wirklich ernst meinen. Am letzten Freitag gab es im
Bundesrat eine Initiative der rot-grünen Landesregierung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nordrhein-Westfalens, ein Gesetz in den Bundestag ein- Das Wort hat nun Marco Buschmann für die FDP-
zubringen. Sie haben mit Ihren Stimmen dieses Gesetz Fraktion.
von Rot-Grün abgelehnt. Wo ist da das ernsthafte Bemü-
hen, für die Frauen etwas nach vorne zu bringen? Ich (Beifall bei der FDP)
sehe es nicht.
Marco Buschmann (FDP):
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE gen! Ich bin jetzt seit zwei Jahren Mitglied dieses Hohen
LINKE]: Aber was erwarten Sie von der Ko- Hauses.
alition?)
(Caren Marks [SPD]: Zwei Jahre zu viel!)
Es ist klar, dass wir eine verbindliche gesetzliche Re-
gelung brauchen; wir brauchen eine verbindliche Quote. Wir sprechen nun zum vierten Mal im Plenum über die
Darum werden wir, die Sozialdemokratinnen und Sozial- Zwangsquote.
demokraten, zu gegebener Zeit ein entsprechendes Ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
setz vorlegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Haben wir doch schon!)
Grünen, ich gehe davon aus, dass wir dann da auch Ihre
Zustimmung erhalten. Ich würde Sie bitten, einfach zu akzeptieren, dass uns
das Ziel eint, gleiche Karrierechancen für Frauen und
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, richtig ist aber Männer zu schaffen, und dass wir uns alle dafür einset-
auch, dass wir nicht nur in der Privatwirtschaft eine zen.
Quote bzw. eine verbindliche Regelung brauchen, son-
dern auch in den Unternehmen, die vom Bund geleitet (Dr. Eva Högl [SPD]: Das glaube ich nicht!)
werden, oder auch in den Gremien der Politik. Es geht einzig und allein um die Frage, ob Sie ein taugli- (D)
(B)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Yvonne ches Instrument vorschlagen.
Ploetz [DIE LINKE]) (Dr. Eva Högl [SPD]: Sie schlagen gar nichts
vor!)
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
frage der SPD-Fraktion vom 24. November – so alt ist Sie schlagen heute wieder ein untaugliches Instru-
sie noch nicht – hat ganz eindeutig gezeigt, dass es keine ment vor. Das wissen Sie auch; sonst hätten Sie dieses ja
paritätische Besetzung der Gremien gibt; es gibt sogar während Ihrer eigenen Regierungszeit umgesetzt. Das
Gremien, in denen nur Männer vertreten sind. Ich Instrument, zu dessen Umsetzung Sie uns hier wieder
glaube, auch hier müssen wir darüber diskutieren, ob wir drängen wollen, ist auch deshalb untauglich, weil es sich
nicht eine verbindliche Quote brauchen, sowohl für Bun- auf eine ganz kleine Gruppe beschränkt.
desunternehmen als auch für Gremien der Politik.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Fangen wir erst mal
Frau Schröder, Sie haben angekündigt, dass Sie ein an!)
Gesetz vorlegen wollen. Heute steht im Ticker, dass es Sie reduzieren nämlich den Begriff Führungskraft auf
noch in der Schublade liegt. die Organe von Kapitalgesellschaften und die Geschäfts-
(Caren Marks [SPD]: Das Buch hat Vorrang!) leitungen mitbestimmter Unternehmen.
Wir sind gespannt, wann das Gesetz, das auch die Bun- (Dr. Eva Högl [SPD]: Sie machen doch gar
desunternehmen einschließt, das Licht der Welt erbli- nichts!)
cken wird. In Anbetracht dieses Befundes frage ich Sie ernsthaft:
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Glauben Sie, mit diesem Minielitenprojekt irgendetwas
NEN]: Steht ja nichts drin! – Ekin Deligöz an der gesellschaftlichen Realität in diesem Land ändern
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben zu können?
den Schlüssel verloren!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir wissen nur, dass die FDP bisher verhindert, dass die- NEN]: Was haben Sie denn plötzlich gegen
ses Gesetz die Schublade verlässt. Eliten?)
Das möchte ich Sie ernsthaft fragen.
Ich denke, wir haben viel zu tun. Wenn uns die Fest-
schreibung einer verbindlichen Quote wichtig ist, kön- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe
nen wir heute Solidarität zeigen, indem wir alle dem Ge- von der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17603
Marco Buschmann
(A) Glauben Sie denn wirklich, mit aggressiver Konfronta- Ich erwähne das deshalb so ausdrücklich, weil den gut (C)
tion würde mehr erreicht als mit intelligenter Koopera- qualifizierten Frauen in Deutschland eben nicht geholfen
tion? ist, wenn man nur ein paar Dutzend Topmanagerinnen
mit einer Zwangsquote für Organe von Kapitalgesell-
Ich möchte Sie bitte einmal mit dem zahlenmäßigen
schaften beglückt. Vergleichen wir einmal Ihren Vor-
Befund hinsichtlich des Gipfels vom 17. Oktober dieses
schlag mit unseren Erfolgen: Was wäre die Folge, wenn
Jahres konfrontieren.
man Ihr Modell auf die DAX-30-Gesellschaften übertra-
gen würde? Die Zahl der Vorstandsmitglieder und Auf-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sichtsräte in den DAX-30-Konzernen beträgt rund 480
Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischen- Personen. Selbst wenn man die Hälfte dieser Positionen
frage des Kollegen Beck? per Zwangsquote mit Frauen besetzen würde, hätte man
gerade einmal etwas für die Karriere von 240 Frauen in
Marco Buschmann (FDP): Deutschland getan.
Weil ich keine neuen Aspekte erwarte, mache ich das
(Dr. Eva Högl [SPD]: Damit fangen wir mal
nicht.
an! Mit den 240 Frauen!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Volker
Setzt man das in Bezug zu den etwa 15 Millionen weib-
Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
lichen Erwerbstätigen in Deutschland, dann ergibt sich
Sehr souverän! – Zurufe von der SPD)
ein Anteil von 0,0016 Prozent. Sie verändern so nichts
– Hören Sie bitte einmal zu! Sie behaupten ja immer, wir an der gesellschaftlichen Realität.
hätten nichts erreicht.
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
erzählen so viel Unsinn!) GRÜNEN]: Der Dino des Jahres! Ich schlage
Sie vor!)
Vertreter der Regierung haben mit den DAX-Konzernen
am 17. Oktober 2011 im Wege der freiwilligen Selbst- Nimmt man dann noch an, dass es zu Doppel- und
verpflichtung mehr erreicht, als Sie mit Ihren Zwangs- Triplemandaten in Aufsichtsräten kommen wird – wie
quotenvorschlägen erreichen können. die Erfahrungen mit der Zwangsquote in Norwegen zei-
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben noch gar nichts gen –, sinkt dieser kaum messbare Anteil noch weiter.
erreicht!) Ihr Vorschlag geht damit an den Chancen Millionen gut
ausgebildeter Frauen in unserem Land vorbei. Sein Ef-
Demnach wird der Anteil von Frauen in Führungsposi- fekt ist eine Quantité négligeable. Sie betreiben nur (D)
(B)
tionen bis 2020 bis auf 35 Prozent steigen: bei Adidas Symbolpolitik, um sie ins Schaufenster zu stellen, aber
auf bis zu 35 Prozent, bei der Lufthansa auf bis zu ändern nichts.
30 Prozent.
(Caren Marks [SPD]: Ihre Rede ist so flach, da
(Elke Ferner [SPD]: Das wissen Sie doch gar kann man die Füße auf dem Teppich lassen!)
nicht genau!)
Nicht einmal den Lucky Few, die von Ihrem homöo-
Da kann man doch nicht sagen, es sei nichts passiert. pathischen Instrument profitieren können, wird das
Das gilt vor allen Dingen deshalb, weil der Begriff wirklich etwas bringen.
Führungskraft viel weiter gefasst ist und sich nicht auf (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
das Placebo „Organe von Kapitalgesellschaften“ be- NEN]: Ist das eine Kabarettveranstaltung oder
schränkt. was?)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Renate Wir wissen doch schon heute, was passiert, wenn die
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- Zwangsquote aggressiv und konfrontativ gegen die Un-
rum wollen denn alle Männer dorthin, wenn es ternehmen durchgedrückt wird: Keine einzige Gesell-
da so langweilig ist?) schaft wird erfolgreiche Vorstände und Aufsichtsräte
Das ist nämlich das Erfreuliche an dieser Vereinbarung. feuern, nur weil sie Männer sind. Man wird die Quote
So sagt zum Beispiel Volkswagen, dass die eigenen Ziel- dann über die Aufblähung von Gremien erfüllen.
vorstellungen nicht nur für die paar Personen im Vor- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt denn
stand und im Aufsichtsrat gelten, sondern für die untere, Ihre Mutter zu dem Unsinn?)
mittlere und obere Führungsebene gleichermaßen.
Plötzlich gibt es dann Vorstandspositionen für Corporate
(Caren Marks [SPD]: Ihre Rede ist unterstes Social Responsibility oder Ähnliches, die mikroskopi-
Niveau!) sche Budgetverantwortung tragen werden. Das ist kein
Infineon will seine Vorgaben auf oberer und mittlerer Beitrag für eine Gleichberechtigung bei den Karri-
Führungsebene verwirklichen. Auch Henkel hat sich das erechancen von Männern und Frauen in unserem Land.
Ziel gesetzt, die eigenen Zielvorgaben im gesamten Ma- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
nagementbereich umzusetzen. Das geht viel weiter, als
wenn man sich nur auf ein paar Personen im Vorstand Diese Fakten erkennen Sie im Grunde doch auch an.
und im Aufsichtsrat kapriziert. Daher sprechen auch Sie immer von einem Hebeleffekt.
17604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Marco Buschmann
(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Hebel liegt Wir sind auf einem guten Weg in Richtung Gleichbe- (C)
bei Ihnen!) rechtigung bei den Karrierechancen. Durch Ihren Vor-
schlag einer Zwangsquote werden wir uns davon nicht
Als ob automatisch etwas nach unten durchsickern abbringen lassen.
würde, nur weil man oben an der Spitze etwas getan hat!
Ihr Argument lautet: Herzlichen Dank.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt denn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ihre Mutter dazu?) der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Durchgefallen!)
Seien erst einmal genug Frauen in den wenigen Top-po-
sitionen, würden diese schon dafür sorgen, dass alles
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
besser wird.
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pronold?
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Marco Buschmann (FDP):
Kollegen! Herr Buschmann, viel konnte man von Ihnen
Auch da erwarte ich keinen Erkenntnisgewinn. – Ein ja nicht erwarten. Das wird klar, wenn man sich Ihre
solcher Hebeleffekt ist jedoch bloß ein Mythos; denn die Fraktion im Bundestag anschaut: Mit Mühe und Not hat
sozialwissenschaftliche Forschung hat ihn widerlegt. man einen Frauenanteil von 25 Prozent erreicht. Bei der
Meine Kollegin Bracht-Bendt hat auf die Forschungs- CDU sind es nicht einmal 20 Prozent. Sie sollten erst
ergebnisse von Catherine Hakim von der London School einmal in Ihren eigenen Reihen anfangen.
of Economics hingewiesen. Frau Hakim hat untersucht, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
was in Norwegen passiert ist. Haben die Frauen in Top- NEN]: Ihr habt ja auch einen männlichen
positionen dafür gesorgt, dass in nachgeordneten Füh- Fraktionsvorsitzenden!)
rungsebenen mehr Frauen verantwortliche Positionen
bekommen? Frau Hakim hat es wissenschaftlich unter- Man hat den Eindruck, da ist so etwas wie ein Männer-
sucht und festgestellt, dass nichts dergleichen passiert bündnis, das nach dem Motto arbeitet: Wir verhindern
ist. das bei uns und helfen euch in der Wirtschaft, damit das
(B) genau so weitergeht. (D)
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist ja
unglaublich!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Der Anteil der Frauen in diesen Positionen unterhalb des
Vorstands ist sogar gesunken. Laut der Forschungs- Ich bin – das muss ich wirklich sagen – ein bisschen
ergebnisse von Frau Hakim steht Norwegen diesbezüg- enttäuscht, dass die Frau Ministerin in dieser Debatte gar
lich heute sogar schlechter da als Deutschland. nichts zu sagen hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Lange Rede, kurzer Sinn:
neten der SPD)
(Lachen und Beifall bei der SPD, der LINKEN Sie hat inhaltlich eben nichts zu sagen, und deshalb
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schweigt sie lieber.
Die jüngste Selbstverpflichtung der DAX-30-Unterneh- (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!
men bewirkt deutlich mehr; denn wegen des in diesem Wir wollten reden!)
Konzept enthaltenen weiten Begriffs von Führungskraft
werden Tausende von Führungspositionen erfasst. Das Gestern Abend habe ich den Taxifahrer, der mich
Beispiel zeigt: Die Mehrheit aus Union und FDP hat in nach Hause gefahren hat, gefragt, ob er etwas von der
den letzten zwei Jahren mehr konkrete Erfolge erzielt als Diskussion über eine Quote für Frauen in Führungs-
Sie zu den Zeiten, in denen Sie Regierungsverantwor- etagen gehört hat. Er sagte: Nein. – Ich fragte ihn, was er
tung getragen haben. davon hält. Er sagte: Klar können die Frauen das ma-
chen, die können es doch. – Ich: Was denken Sie denn,
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- woran es liegt? – Er: Die Kerle sind einfach zu verbohrt.
NEN]: Nichts gelernt!) Drei klare Antworten!
Das ist es, was Ihnen so wehtut. Das ist es, was Sie so (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie
aggressiv macht. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ich glaube, der Mann hat recht. Aber man muss es
Bürgerrechtspartei ergreift das Wort! Da noch ein bisschen aufdröseln: Sicher, ganz viele Men-
klatscht ja nicht einmal mehr die CDU! – Zu- schen in unserem Land bewegt die Lage der Frauen. Sie
rufe von der SPD) bewegt der Umstand, dass Frauen in Minijobs weg-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17605
Dr. Barbara Höll
(A) gedrückt werden, dass Frauen wenig verdienen – sie lichen Kollegen weniger Gehalt, weniger Sonderzahlun- (C)
würden am meisten von einer Mindestlohnregelung pro- gen, weniger Boni. In erster Linie geht es schlicht und
fitieren –, dass insbesondere Alleinerziehende von Ar- ergreifend um Geld, Prestige, Einfluss und Macht. Die
mut bedroht sind und dass Frauen wissen, dass sie im Männer sind nicht bereit, all dies abzugeben. Sie werden
Alter ganz geringe Renten erhalten werden. Das bewegt das nicht freiwillig abgeben. Wir können nur gesetzlich
ganz viele Menschen. Viele Menschen sagen aber auch, dagegen vorgehen.
dass wir in der Wirtschaft etwas tun müssen. So wie von
Wir haben aktuell die Situation, dass wir die bestaus-
unten etwas getan werden muss, muss auch von oben ge-
gebildete Generation von Frauen haben, diese aber an
drückt werden, damit sich etwas verändert. Deshalb ist
eine gläserne Decke stoßen. Das ist ein wichtiger As-
es notwendig, dass wir hier darüber reden.
pekt. Wir müssen über Arbeitszeiten, über fehlende
(Beifall bei der LINKEN) frauenspezifische Weiterbildungsmöglichkeiten, über
absurde Mobilitätsanforderungen und über die absurde
Es ist inzwischen unstrittig und nachgewiesen – das Anforderung, im Arbeitsleben ständig verfügbar zu sein,
wurde hier schon gesagt –, dass unter betriebswirtschaft- reden. Wir brauchen eine menschlichere Arbeitswelt.
lichen Aspekten die Unternehmen am besten funktionie- Diese menschlichere Arbeitswelt kommt Männern wie
ren, die eine geschlechtergemischte Führung haben, die Frauen entgegen.
also weder reine Frauenführungen noch reine Männer-
führungen haben, sondern in etwa gleich viele Frauen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und Männer in Führungspositionen haben. Dafür gibt es Dafür brauchen wir tatsächlich, angefangen bei den Füh-
verschiedene Ursachen: Es gibt unterschiedliche Strate- rungsebenen, eine 50-Prozent-Quote. Wir brauchen, ne-
gien zur Konfliktlösung. Es gibt unterschiedliche Blicke benbei gesagt, auch viel mehr Männer in den derzeit
auf das, was für ein Unternehmen wichtig ist. typischen Frauenberufen. Dann bekommen wir eine Ge-
Ich formuliere es einmal ein bisschen drastisch: Sie sellschaft und eine Arbeitswelt, die allen Menschen zu-
erinnern sich vielleicht alle noch daran, dass es vor etwa gutekommt und in der alle ihr Leben wesentlich besser
einem Jahr einen ziemlich großen Skandal gab. In der gestalten können.
Bild stand ganz groß: Extra-Vergütung der Mitarbeiter (Beifall bei der LINKEN)
einer deutschen Versicherung in Ungarn in Form eines
Sexurlaubs. Stellen Sie sich einmal vor, auch in diesem Ich sage Ihnen: Auch wenn Sie heute die beiden vor-
Unternehmen wären auf allen Ebenen Positionen mit liegenden Anträge – wir unterstützen sie – ablehnen, ist
Männern und Frauen gleichermaßen besetzt gewesen. ein weiterer Antrag im parlamentarischen Gang, nämlich
Glauben Sie, dann wäre das zustande gekommen? unser Antrag „Geschlechtergerechte Besetzung von Füh-
(B) rungspositionen der Wirtschaft“. Das wird die nächste (D)
(Zuruf von der FDP: Das weiß man nicht!) Etappe; denn wir werden nicht aufgeben, an dieser Sa-
Glauben Sie, die Frauen hätten es als Auszeichnung che gemeinsam zu arbeiten.
empfunden, dass sie in ein Bordell gehen sollen? Glau- Ich danke Ihnen.
ben Sie, dass die Frauen im Vorstand einer solchen Art
und Weise der Vergütung zugestimmt hätten? Niemals, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
sage ich Ihnen. neten der SPD)

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
GRÜNEN)
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich habe natürlich nachgeschaut: Auch in diesem Un-
ternehmen sind nur drei Frauen im Aufsichtsrat, bei Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
20 Mitgliedern; eine Frau ist im Vorstand, eine einzige. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aber ich sage Ihnen: Eine Frau alleine ist nicht in der Dass wir heute über die Frauenquote diskutieren, ist ja
Lage, die Verhältnisse zu ändern. Bei solchen Verhältnis- kein Selbstzweck. Es geht hier nicht nur um Rollenbil-
sen wird eher diese Frau verändert. Viele Frauen zusam- der. Klar ist: Es gibt Herausforderungen in dieser Gesell-
men können aber die Verhältnisse ändern. Deshalb brau- schaft, die wir meistern müssen, zum Beispiel den Fach-
chen wir die Quote. kräftemangel oder – darüber haben wir heute Morgen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- geredet – die Finanzkrise. Diese Herausforderungen
neten der SPD) können wir nur bewältigen, wenn Männer und Frauen
gemeinsam Verantwortung übernehmen und Entschei-
Die freiwillige Selbstverpflichtung ist offenkundig dungen treffen. Weil wir Entscheidungen gemeinsam
gescheitert. Das bringt nichts. Sie fordern immer mal treffen wollen, diskutieren wir heute über die Frauen-
wieder: Mehr Frauen in die Politik! Das bringt nichts. Es quote.
passiert nichts. Auch in der Wirtschaft passiert nichts.
Sie werden jetzt sagen: Dann sollen die Frauen sich
Der Taxifahrer gestern sagte: Die Männer sind zu ver- doch beteiligen, wenn sie es wollen. Das ist doch ganz
bohrt. Worum geht es denn? Interessanterweise bekom- klar und einfach. – Wenn wir uns die Besetzung der Vor-
men die wenigen Frauen, die es geschafft haben, die in stände und der Aufsichtsräte anschauen, stellen wir aber
den Führungsetagen sitzen, im Vergleich zu ihren männ- fest, dass das, was in dieser Gesellschaft eigentlich
17606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Ekin Deligöz
(A) selbstverständlich sein sollte, eben nicht selbstverständ- bis sich womöglich wieder eine Möglichkeit ergibt. Das (C)
lich ist. Es ist nicht klar, es ist nicht so einfach. Deshalb dauert mir zu lange. Das dauert auch für diese Gesell-
diskutieren wir hier heute über die Frauenquote. schaft zu lange. Wir müssen deshalb jetzt handeln und
nicht später.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der SPD) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der LINKEN)
Es geht nicht nur darum, dass der weibliche Blick auf
die Dinge berücksichtigt wird – Frau Höll, ich gebe Ih- Ich denke, es wäre wieder einmal an der Zeit, dass
nen recht; das sollte so sein –, sondern es geht auch da- Frauen gemeinsam Verantwortung im Parlament über-
rum, dass die Herausforderungen so kompliziert sind, nehmen. Frauen haben in diesem Parlament vieles be-
dass wir die Besten der Besten in dieser Gesellschaft wegt, angefangen bei dem Gewaltschutzgesetz bis hin
brauchen, um die entsprechenden Entscheidung zu tref- zum Embryonenschutzgesetz und zur Patientenverfü-
fen. Wir brauchen Sachverstand, wir brauchen die Kapa- gung. Wir haben es immer geschafft, einen anderen
zitäten, und wir brauchen die Kenntnisse. Im Moment ist Blick auf die Dinge zu werfen. An dieser Stelle ist es
es so, dass in den Entscheidungsgremien nur Männer, wieder an der Zeit, wenn sie nicht fast schon wieder vor-
möglicherweise die besten, ausgesucht werden bei ist. Deshalb eilt es. Lassen Sie uns uns gemeinsam an
einen Tisch setzen und gemeinsam ein Gesetz machen!
(Caren Marks [SPD]: Wenn überhaupt!) Lassen Sie uns in diesem Land etwas bewegen! Eine Al-
und nicht die Besten der Gesellschaft. Zu den Besten der ternative dazu haben wir nicht.
Gesellschaft gehören nun einmal Frauen dazu. Sie stel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
len die eine Hälfte der Bevölkerung. Erst, wenn tatsäch- bei der SPD und der LINKEN – Michaela Noll
lich die Besten der Besten gesucht werden, können wir [CDU/CSU]: Reden Sie mal mit der SPD!)
davon reden, dass die Potenziale in diesem Land genutzt
werden. Ehrlich gesagt: Wenn wir das nicht tun und wir
uns nur auf die eine Hälfte der Gesellschaft beschränken, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dann werden nicht die Besten ausgewählt, sondern nur Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
die Zweitbesten. Das, was Herr Buschmann hier in sei- Fraktion.
ner Rede vorgetragen hat, bestätigt genau diese These. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der FDP)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(B) KEN) Dorothee Bär (CDU/CSU): (D)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir Frauen in verantwortungsvollen Positionen
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mich persön-
haben wollen, dann bringt dies mit sich, dass Frauen sich
lich ärgert es sehr, dass wir diese Debatten im Deutschen
behaupten müssen. Gerade wir Politikerinnen wissen
Bundestag immer noch führen müssen.
doch, was es heißt und wie schwierig es ist, sich in einer
männerdominierten Welt zu behaupten. Umso wichtiger (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
ist es, dass sich die Abgeordneten hier im Bundestag zu- SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
sammen für eine Quote einsetzen und diese durchsetzen. DIE GRÜNEN)
Das ist unser Auftrag. Ich fände es sehr schade, wenn die
Entscheidung heute von parteipolitischen Überlegungen Mich ärgert es auch deswegen, weil wir das Jahr 2011
bestimmt würde. schreiben und ich es nicht für möglich gehalten habe,
dass wir uns 2011 noch über solche eigentlich selbstver-
Frau Winkelmeier-Becker, Sie kennen die Argu- ständlichen Dinge unterhalten müssen, wie dass wir
mente. Sie haben mit ihrer Argumentation absolut recht. mehr Geschlechtergerechtigkeit in diesem Land brau-
Es sollte eine Frage des Gewissens sein, sich für die an- chen.
dere Hälfte der Gesellschaft zumindest genauso stark
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
einzusetzen.
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Wir hatten in dieser Woche eine gemeinsame Aktion
KEN)
aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Es
Ich lade Sie dazu ein, mit uns genau das zu tun und diese waren Kolleginnen aller sechs Parteien sowie Journalis-
Frage nicht unter die parteipolitischen Räder kommen zu tinnen und Mitarbeiterinnen da. Es herrschte eine sehr
lassen. Womöglich entspricht der jetzt vorliegende Vor- positive und sehr angenehme Stimmung. Es hat mich
schlag nicht Ihren Vorstellungen. Ich und meine Fraktion dazu gebracht, zu erkennen, dass wir gemeinsam zu Er-
sind aber gerne bereit, mit Ihnen an einem Kompromiss gebnissen kommen können, wenn wir versuchen, es kon-
zu arbeiten. Warum? Wir haben jetzt ein Zeitfenster bis sensual zu lösen. Liebe Kollegin Högl, ich fand den An-
zum Jahre 2013. Wenn wir etwas in dieser Gesellschaft fang Ihrer Rede ganz hervorragend. Ich fand es etwas
bewegen und verändern wollen, müssen wir dieses Zeit- schade, dass Sie gegen Ende verbal so aufgerüstet haben.
fenster nutzen. Wenn es sich schließt, werden wir die Sie sind bei Twitter charmanter als im Plenum. Ich hätte
nächsten zehn Jahre hier sitzen und abwarten müssen, mich einfach gefreut, wenn wir so konsensual gemein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17607
Dorothee Bär
(A) sam hätten arbeiten können, wie das zum Beispiel mit che Mitglieder habe, die klare Auffassung: Wir sehen (C)
Ihrer Kollegin Ziegler der Fall ist, keine Lösung mehr, die ohne Gesetze auskommt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Caren Marks [SPD]: Dann können Sie doch
zustimmen!) Wir müssen uns, auch das ist angesprochen worden,
fairerweise auch selbst beim Wort nehmen. Wir müssen
weil es wichtig ist, dass wir uns gemeinsam an einen im öffentlichen Dienst wesentlich besser werden. Wir
Tisch setzen und uns überlegen, diese Schritte zu gehen. müssen uns bei der Novellierung des Bundesgremienbe-
Wir sind weiter als noch vor einigen Jahren. Ich setzungsgesetzes damit auseinandersetzen. Den Be-
glaube, dass sich keiner unserer männlichen Kollegen schluss der Gruppe der Frauen hat die Kollegin
– egal von welcher Partei hier im Bundestag – irgendwo Winkelmeier-Becker auch schon zitiert. Danach soll der
hinstellen und bestreiten kann, dass die Zustände, die wir Frauenanteil in Führungspositionen und Aufsichtsräten
hier beklagen, so sind, wie sie sind. 30 Prozent betragen. Dass wir uns über die Details noch
austauschen wollen – wie es auch von der Kollegin
(Dr. Eva Högl [SPD]: Buschmann!) Humme angesprochen wurde –, das ist klar. Ich glaube,
dass die vielzitierte gläserne Decke zwar vorhanden,
Da sind wir auf jeden Fall weiter. Man kann sagen, dass aber nicht unüberwindbar ist. Wenn wir uns gemeinsam
es noch nicht reicht. Da bin ich bei Ihnen. Ich sage aber an diese Aufgabe machen, dann ist sie überwindbar, weil
zumindest für meine Fraktion, dass ich mir nicht vorstel- wir gemeinsam etwas bewirken können.
len kann, dass einer meiner Kollegen mit einer anderen
Einstellung zu Hause in seinem Wahlkreis oder auch bei Ich habe einem meiner Kollegen versprochen, ihn zu
der Frauen-Union einen Stich machen könnte. zitieren, nämlich den Kollegen Josef Göppel von der
Das gilt vielleicht nicht für die Piraten. Der Vorsit- CSU. Er wird nicht direkt mit Frauenpolitik in Verbin-
zende hier in Berlin hat gesagt, dass es bei den Piraten dung gebracht, ist aber bei jeder Debatte anwesend und
deswegen so wenige Frauen gebe, weil die sich nicht steht voll hinter uns. Der Kollege hat gesagt: „Ich be-
trauten, vor vielen Menschen zu reden. Ich glaube, da komme lieber von der Fraktionsspitze einen Anpfiff als
sind wir insgesamt schon wesentlich weiter. von meinen vier Töchtern.“

Es ist mehrfach zitiert worden, dass wir Bildungsge- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause –
winnerinnen und Karriereverliererinnen sind. Selbstver- Zuruf von der SPD: Wunderschön!)
ständlich, lieber Kollege Buschmann, muss man diesen Lieber Josef, ich finde das ganz hervorragend. Das ist
(B) Mangel an weiblichen Vorbildern gerade an der Spitze der richtige Weg. Ich wünsche allen ganz viele Töchter, (D)
deswegen beheben, weil weibliche Vorbilder wichtig Mütter, Tanten und Cousinen; denn es ist wichtig, den
sind, weil diese talentierte Frauen nachziehen müssen, Menschen zu sagen, dass es im Jahr 2011 nicht mehr so
die wiederum selbst Vorbilder sein müssen. weitergeht wie bisher.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Der Druck muss aufrechterhalten werden. Ich persön-
DIE GRÜNEN – Monika Lazar [BÜND- lich wünsche mir einen starken Druck. Elisabeth
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ob das der Herr Winkelmeier-Becker hat von sanftem Druck gesprochen.
Buschmann versteht?) Ob er sanft sein muss, weiß ich nicht. Er muss aber auf
jeden Fall so beschaffen sein, dass er zielführend ist.
Die Zahlen und Fakten für das 21. Jahrhundert sind
ungeheuerlich. Ich werde heute Abend bei einem Jubi- Ich hätte mir gewünscht – das ist keine Kritik, son-
läum der Frauen-Union sprechen dürfen. Sieht man sich dern nur die offene Bitte – dass die SPD-Spitze es ge-
an, was die Frauen in meiner Partei, in der CSU, schon nauso wie die Grünen heute geschafft hätte, eine na-
1981 festgeschrieben haben, muss man sich schon fra- mentliche Abstimmung zu vermeiden. Das wäre für uns
gen, was in den letzten 30 Jahren eigentlich passiert ist. alle wesentlich leichter gewesen. Vielleicht hätte man
Hier geht es nicht nur um die letzten zehn Jahre, in de- den Kollegen Oppermann kurz herausholen und mit ihm
nen es nicht so gelaufen ist, wie wir uns das vorgestellt reden können, ob er seinem Herzen nicht noch einen
haben. Da gebe ich Ihnen recht. Leider Gottes kann man Stoß geben kann.
auch die Reden von vor 30 Jahren eins zu eins heute
Es wäre nämlich schön gewesen, wenn Sie gesagt hät-
noch halten.
ten: Okay, wir bringen nicht die Kolleginnen in Schwie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rigkeiten, die eigentlich eine gemeinsame Lösung an-
streben. Ich möchte nicht, dass ich Ihre beiden Anträge
Ich möchte nicht, dass wir diese Potenziale weiter heute ablehnen muss. Das tut mir im Herzen weh, weil
vergeuden, sondern dass wir unser Bewusstsein schär- ich nicht möchte, dass am Schluss nur aus formalen
fen. Mittlerweile haben viele meiner Kolleginnen, aber Gründen keine gemeinsame Lösung zustande kommen
auch Kollegen – das haben Sie heute mitbekommen, kann. Mir geht es wirklich um die Sache.
Kollegin Winkelmeier-Becker hat schon gesprochen, die
Kollegin Rita Pawelski wird gleich im Anschluss noch (Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
sprechen –, auch innerhalb meiner eigenen Arbeits- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
gruppe, in der ich übrigens mehr männliche als weibli- frage)
17608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bundestagskolleginnen von uns sein – noch mit diesen (C)
Frau Kollegin. Themen auseinandersetzen müssen.
Vielen Dank.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Einen Moment, Herr Präsident! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
(Heiterkeit)
Mir geht es wirklich um die Sache. Deswegen hätte ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mich einfach darüber gefreut. – Jetzt freue ich mich, Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
wenn der Kollege Beck meine Redezeit verlängert.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Elke Ferner (SPD):
Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Zu-
nächst möchte ich Frau Winkelmeier-Becker und Frau
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bär für ihre Redebeiträge danken,
Nur eine Bemerkung zur Klarstellung: Wenn Sie ge-
wollt hätten, dass Sie nicht in diese vertrackte Lage (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
kommen, wäre es Ihnen möglich gewesen, die Anträge BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zurückzuüberweisen. Das wäre aber natürlich nur gegan-
weil ich denke, dass wir auf dieser Basis – auch wenn
gen mit einem klaren Signal, dass wir zwischen den
Sie heute wegen des Fraktionszwangs nicht so abstim-
Fraktionen gemeinsam an einer gesetzlichen Lösung ar-
men können, wie Sie vielleicht gerne abstimmen möch-
beiten. Das hätten Sie haben können. Davon haben Sie
ten – vielleicht doch noch in dieser Wahlperiode wenigs-
keinen Gebrauch gemacht.
tens zu einem Einstieg in eine gesetzliche Regelung
(Rainer Brüderle [FDP]: Frage! Frage!) kommen, die den Namen auch verdient hat.
– Die Geschäftsordnung sieht vor, dass man Zwischen- Dass Frauen in deutschen Führungs- und Aufsichts-
bemerkungen machen und Zwischenfragen stellen kann. gremien auch im 21. Jahrhundert Mangelware sind, ist
Herr Brüderle, Sie sind lang genug hier im Haus. kein Naturgesetz. Dagegen können Mann und Frau et-
was tun. Man muss das nur wollen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
(B) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D)
Wunderlich [DIE LINKE]: Lesen ist manch-
Die Wirtschaft hat in den letzten zehn Jahren ihre
mal hilfreich!)
Chance gehabt. Ich verhehle nicht, dass ich vor zehn
Ich will nur klarmachen, dass wir zu gemeinsamen Jahren zu denjenigen in meiner Fraktion gehört habe, die
Gesprächen über eine gesetzliche Lösung bereit sind. gegen eine freiwillige Vereinbarung waren. Es ist leider
Das setzt aber voraus, dass ein Verhandlungsauftrag von das eingetreten, was wir damals befürchtet haben: Sie
Ihrer Fraktionsführung vorliegt. Wir können auch einen hat null bewirkt. Ich finde, das waren zehn vergeudete
Gruppenantrag stellen. Ich glaube, im Haus hat die Posi- Jahre und zehn Jahre zu viel, in denen viele Platzhirsche
tion, die wir als Grüne vorschlagen, längst eine Mehr- in den Chefsesseln sitzen geblieben sind und in denen
heit. viele junge, qualifizierte Frauen nicht dahin gekommen
sind, wo sie hingehören, nämlich an die Spitze bzw. in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Aufsichtsräte von Unternehmen. Daran müssen wir
und bei der SPD) jetzt etwas ändern.

Dorothee Bär (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Beck, vielen Dank für Ihre Zwischenbe- Ich denke, dass die letzten zehn Jahre eigentlich allen
merkung. Das wäre meines Erachtens aber nicht notwen- die Augen geöffnet haben müssten, dass Freiwilligkeit
dig gewesen, weil ich Ihnen von hier aus meine Mitar- nicht zu mehr Gleichstellung führt. Dass wir uns im in-
beit anbiete. Wir wollen gemeinsam zu einer Lösung ternationalen Vergleich schämen müssen, ist leider auch
kommen. Das hätte man heute vielleicht etwas eleganter wahr, weil sich in den letzten zehn Jahren nichts bewegt
machen können. hat. Andere Länder sind viel weiter. Das Beispiel Nor-
(Dr. Eva Högl [SPD]: Machen müssen!) wegen kennen wir alle. Es gibt dort verbindliche gesetz-
liche Regelungen, und sie wirken. Sie haben die Gleich-
Das heißt aber nicht, dass dieser Auftrag nicht klar er- stellung von Frauen und Männern nicht nur in den
kannt ist. Unternehmen bzw. Aufsichtsräten, sondern auch in der
Gesellschaft insgesamt verbessert.
Ich freue mich, wenn wir jetzt weitermachen und mit
vielen Kolleginnen und Kollegen interfraktionell eine Ich sage Ihnen: Wer nach diesen Erfahrungen immer
Berliner Erklärung erarbeiten, in der wir unser gemein- noch der Meinung ist, man könne es den Unternehmen
sames Ziel festlegen. Denn ich möchte nicht, dass sich selber überlassen, für Frauenförderung zu sorgen, der ist
die Töchter von Josef Göppel – sollten sie eines Tages nicht von dieser Welt, Frau Schröder.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17609
Elke Ferner
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten blockieren, anstatt Gas zu geben, Sie sitzen im Bremser- (C)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE häuschen, und Sie erweisen den Frauen in diesem Land
GRÜNEN) einen Bärendienst.
Das müssten Sie eigentlich gelernt haben. Wenn Sie den (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Oppositionsrednerinnen schon nicht zuhören, dann soll- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bettina
ten Sie wenigstens Ihren eigenen Fraktionskolleginnen Hagedorn [SPD]: Und dann schreibt sie noch
zuhören. Ich fand es ziemlich ungehörig, Bücher!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wir haben unsere Eckpunkte vorgelegt. Es wird ein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetzentwurf folgen. Das heißt, wir werden noch wei-
tere Gelegenheiten haben, über dieses Thema hier im
wie demonstrativ desinteressiert Sie eben auf der Regie-
Parlament zu diskutieren. Vielleicht haben sich bis dahin
rungsbank gesessen haben, als Ihre Fraktionskolleginnen
auch die Fraktionsführungen von Union und FDP dazu
geredet haben.
durchgerungen, den Fraktionszwang an dieser Stelle
(Dr. Eva Högl [SPD]: Ganz ungehörig war endlich aufzuheben, damit wir aus der Mitte des Parla-
das!) ment zu einer Lösung kommen können, die die Frauen in
unserem Land weiterbringt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gleichstellung
musste immer erkämpft werden; das ist leider auch heute Schönen Dank.
noch so. Deshalb dürfen wir es nicht den Blockierern
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
überlassen, die Blockade zu beseitigen, sondern wir
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
müssen das selbst in die Hand nehmen. Wir im Deut-
schen Bundestag müssen dafür sorgen, dass wir den Ein-
stieg in die Gleichstellung von Frauen und Männern hin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
bekommen, nicht nur was die Führungspositionen in der Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Kollegin
Wirtschaft betrifft, sondern auch im Hinblick auf die Rita Pawelski für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Führungspositionen in Forschung und Lehre, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) der FDP)
in der Verwaltung, in Körperschaften des öffentlichen
Rita Pawelski (CDU/CSU):
Rechts und in Gremien, die der Bund zu besetzen hat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Kolleginnen und Kollegen! Ein deutsches Sprichwort
(B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lautet: Mit Zank und Streit kommt man nicht weit. – Das (D)
Ich glaube, wir haben eine parlamentarische Mehrheit gilt auch im Hinblick auf das Anliegen, mehr Frauen in
für dieses Anliegen. Führungspositionen bzw. in Aufsichtsräte und Vorstände
zu bringen. Zank und Streit haben wir eigentlich nicht
(Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) mehr nötig, weil wir uns in so vielen Punkten einig sind;
das dachte ich zumindest bis Mittwochabend. Da führten
Dieses Anliegen wird auch von der Mehrheit der Bevöl-
wir ein Gespräch, an dem Frauen aus allen Fraktionen
kerung geteilt.
und aus der Wirtschaft, Journalistinnen bzw. Frauen, die
Ich appelliere daher an die Fraktionsführungen von in den Medien arbeiten, und Vertreterinnen anderer Be-
Union und FDP – in Ihrer Fraktion gibt es ja wahr- reiche teilgenommen haben.
scheinlich auch die eine oder andere vernünftige Kolle-
Wir haben eine Linie dafür abgesteckt, wie wir über-
gin –: Heben Sie den Fraktionszwang auf,
fraktionell und überparteilich in Verbindung mit Frauen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem aus der Wirtschaft, aus den Medien, aus den Verbänden,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eben mit allen Frauen, in dieser Frage weiterkommen
wollen. Diese Basis wurde von den Frauen der SPD lei-
wie wir es auch bei anderen Gelegenheiten schon ge-
der verlassen. Das tut mir leid.
macht haben, und lassen Sie uns aus der Mitte des Parla-
ments eine Regelung erarbeiten, mit der wir den Einstieg (Rainer Brüderle [FDP]: So sind sie!)
in die Verbesserung der Gleichstellung zwischen Män-
Ich bin enttäuscht darüber, dass Sie für heute eine na-
nern und Frauen hinbekommen!
mentliche Abstimmung durchgesetzt haben, wohl wis-
Ich finde – das kann ich Ihnen leider nicht ersparen, send, dass Sie uns damit zwingen, in eine Richtung zu
Frau Schröder –, die Art und Weise, wie Sie sich als zu- stimmen, in die wir eigentlich nicht wollen. Sie verste-
ständige Ministerin verhalten, ist wirklich ein Trauer- hen das Geschäft gut; Sie wissen, was das bedeutet.
spiel.
Was bedeutet das aber für die Frauen, die eigentlich
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mit Ihnen zusammenarbeiten wollen? Sollen wir morgen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) oder übermorgen dann sagen: Wir haben zwar so ge-
stimmt, aber nun reden wir wieder anders? Das schadet
Sie sind die für Frauen zuständige Ministerin. Sie sind der Sache. Sie haben damit der Sache geschadet.
die zuständige Ministerin, die dieses Thema eigentlich in
Angriff nehmen müsste. Aber was machen Sie? Sie ste- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
hen auf der Seite der Blockierer in der Wirtschaft. Sie der FDP)
17610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Rita Pawelski
(A) Wir glauben, dass Ihnen der Streit und persönliche Eifer- Es ist doch eigentlich klar: Sie brauchen die Frauen in (C)
süchteleien wichtiger sind als die gemeinsame Sache. ihren Unternehmen. Die demografische Entwicklung ist
Sie haben uns damit sehr geschadet. katastrophal. Wir brauchen Fachleute, und zwar nicht
nur im unteren Bereich, sondern auch oben. Das hat man
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und anscheinend erkannt, und man hat angeboten, dass man
der FDP) sich Ziele steckt. Diese Ziele erfüllen aber nicht alle.
Manche bleiben hinter den Erwartungen zurück, die ich
Meine Damen und Herren, wir alle sind uns doch ei- in sie gesetzt habe.
gentlich darin einig – ich versuche jetzt, die Gemeinsam-
keiten zusammenzufassen –, dass die Chefetagen in den Das Wichtigste ist aber: Bei dem Gespräch wurde
Unternehmen – vor allem in den Unternehmen mit staat- nicht über Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen ge-
licher Beteiligung –, in den Behörden und auch die Gre- sprochen. Es ist klar: Personalvorstände können darüber
mien weiblicher werden sollen. Die jetzige Situation ist nicht beschließen; denn darüber entscheiden die Auf-
nicht akzeptabel. Ich glaube, hier stimmen uns sogar sichtsräte und die Hauptversammlungen. Das ist nicht
sehr viele Kollegen zu. Wir wollen und wir werden es ihre Sache, also müssen wir auf der anderen Ebene wei-
nicht länger hinnehmen, dass Frauen in den Vorständen terarbeiten.
der 200 größten deutschen Unternehmen gerade einmal
Jetzt rede ich einmal in Richtung der rechten Seite des
zu 3 Prozent und in den Aufsichtsräten zu rund 11 Pro-
Hauses. In unserem Koalitionsvertrag haben wir, die
zent vertreten sind.
christlich-liberale Koalition, vereinbart, den Anteil von
Es ist richtig: Wir reden seit über einem Jahr darüber. Frauen in Führungspositionen im Rahmen eines Stufen-
Ich habe viele Gespräche mit Vorständen zu diesem plans maßgeblich zu erhöhen. Das begrüße ich aus-
Thema geführt. Dabei habe ich immer wieder „Wir ha- drücklich. Alle drei Parteien haben ihre Unterschrift un-
ben keine Frauen“ oder „Die Frauen wollen diese Ver- ter den Koalitionsvertrag gesetzt. Aber zu einem
antwortung nicht übernehmen“ gehört. Was ist das für Stufenplan gehört, dass man auch irgendwann die erste
eine Arroganz, wenn man sagt: Von den vielen gut aus- Stufe in Angriff nimmt und darlegt, wie sie aussehen
gebildeten Frauen sind nur sieben Frauen in der Lage, in soll.
dem Vorstand eines deutschen DAX-Unternehmens mit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
zuarbeiten? SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der LINKEN) Da helfen die Versprechen der Unternehmen nicht wei-
ter. Wir sind hier der Gesetzgeber, und wir müssen han-
(B) Ich muss sagen: Eine solche Überheblichkeit, die sich (D)
deln.
hier einige leisten, ist schlimm und frauenfeindlich. So
etwas dürfen wir uns nicht leisten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich bitte Sie: Trauen Sie sich! Auch andere Länder in
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Europa haben sich getraut. Ich nenne noch einmal Nor-
LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP
wegen. Mit Blick auf die hier schon zitierte Untersu-
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
chung muss man allerdings fragen, wer sie in Auftrag
Bei mir hat sich der Eindruck verstärkt, dass Frauen gegeben hat. Der damalige norwegische Wirtschafts-
sehr konkret aus diesem Personalkarussell herausgehal- minister, der die Quotenregelung umgesetzt hat und mit
ten werden: aus den Chefetagen, aus den Vorständen, aus dem ich vor kurzem gesprochen habe, erklärte mir seine
den Aufsichtsräten. Das verstößt eindeutig gegen unser Beweggründe, warum er diesen Schritt für notwendig
Grundgesetz. Dort heißt es in Art. 3 Abs. 2: „Männer hielt. Seine Antwort war: Das war kein feministischer
und Frauen sind gleichberechtigt“. Ich wundere mich, Schlachtruf. Auch die Fairness gegenüber Frauen hat
dass noch keine Frau dagegen geklagt hat; denn an die- weniger eine Rolle gespielt. Es waren knallharte wirt-
ser Stelle wird das Grundgesetz mit Füßen getreten. schaftspolitische Interessen.
Das zeigt auch die Studie von McKinsey, die ganz ak-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tuell veröffentlicht wurde. – Herr Präsident, ich bin so-
Ich betrachte jetzt einmal nicht die oberste Führungs- fort fertig.
ebene, sondern die Ebenen zwei und drei. Dort be-
obachte ich einen zarten Prozess des Umdenkens. Das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
zeigt mir: Der politische Druck der letzten Jahre hat Wir- Frau Kollegin, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine
kung gezeigt. Zwischenfrage zulassen wollen, mit der Sie Ihre Rede-
zeit verlängern können?
Auf Veranlassung unserer Ministerin Kristina
Schröder haben sich erstmalig die Personalvorstände der
DAX-30-Unternehmen getroffen. Das gab es noch nie; Rita Pawelski (CDU/CSU):
das muss man deutlich sagen. Es ist grundsätzlich gut, Nein, wir wollen jetzt abstimmen. Entschuldigung.
wenn sich die Personalvorstände unserer DAX-30-Un-
ternehmen Gedanken über die Frauen in ihren Unterneh- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
men machen. Dann kommen Sie bitte zum Schluss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17611

(A) Rita Pawelski (CDU/CSU): Wir haben darüber gesprochen, und wir haben uns auf (C)
Nach dieser Studie erzielen Firmen mit der größten Sie verlassen. Ich bin daher doppelt enttäuscht, dass al-
Vielfalt im Vorstand – also mit Frauen und jüngeren les, was Sie zugesagt haben, nicht eingehalten wird.
Männern – 53 Prozent höhere Kapitalrenditen und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
14 Prozent höhere Betriebsergebnisse als Firmen mit ge-
wie der Abg. Marina Schuster [FDP])
ringerer Vielfalt. Das zeigt ganz klar: Mit Frauen in der
Spitze lässt sich ein Unternehmen noch viel erfolg- Ich danke da auch Herrn Beck, der sich dafür eingesetzt
reicher führen. Das sind Argumente, die eigentlich auch hat, dass die namentliche Abstimmung heute entfällt.
unseren Wirtschaftspolitikern einleuchten müssen.
Frauen sorgen für mehr Umsatz und für mehr Kapitalzu- Wir werden an dem Ziel weiterarbeiten; denn das Ziel
fluss. Also müssten Frauen doch dringend und sofort ist für uns wichtiger als der Streit.
eingestellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: GRÜNEN)
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Rita Pawelski (CDU/CSU): Ich schließe die Aussprache.
Meine Damen und Herren, Politik ist das Bohren
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
dicker Bretter; das wissen wir. Wenn es um Frauenpoli-
Drucksache 17/7953 an die in der Tagesordnung aufge-
tik geht, sind die Bretter aber besonders dick. Ich habe
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
immer den Eindruck: Männer bohren mit einer Black &
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Decker, und wir Frauen bekommen nur einen rostigen
Überweisung so beschlossen.
Handbohrer. Aber wir bohren weiter. Das verspreche ich
Ihnen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
eines Gesetzes zur geschlechtergerechten Besetzung von
Aufsichtsräten. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchsta-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: be a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6527,
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gin Ziegler. auf Drucksache 17/3296 abzulehnen. Wir stimmen nun
über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion
(B) Dagmar Ziegler (SPD): Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Bitte denken Sie (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau daran, dass wir anschließend eine weitere namentliche
Pawelski, ich wollte an Sie vorhin eine Frage stellen. Ich Abstimmung durchführen werden. Zu Tagesordnungs-
mache das jetzt im Rahmen einer Kurzintervention. punkt 34 liegt eine ganze Reihe schriftlicher Erklärun-
gen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
Wir waren uns auf dem Weg, den Sie beschrieben ha- nung vor.1)
ben, alle sehr einig. Ich war froh darüber, dass wir es
über die Fraktionsgrenzen hinweg geschafft haben, das Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Ziel zu formulieren, das uns eint, auch wenn die Wege Plätze einzunehmen. – Das ist offensichtlich erfolgt.
unterschiedlich sind. Die FDP zieht einen anderen Weg Dann eröffne ich die erste namentliche Abstimmung.
vor. Die Mehrheit der Frauen im Parlament sagt jeden- Ich stelle pflichtgemäß die Frage: Haben alle anwe-
falls, dass wir eine gesetzliche Regelung brauchen.
senden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? –
Könnten Sie vielleicht Ihre Kritik an dem Verfahren, Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich
sprich an der namentlichen Abstimmung, überwinden? so. Damit schließe ich die erste namentliche Abstim-
Sie könnten doch sagen: Es läuft, wie es läuft, aber ange- mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
sichts des Ziels, dem wir uns als Frauen verpflichtet füh- mit der Auszählung zu beginnen.2)
len, schauen wir über diese Schwierigkeiten hinweg. So
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
verhindern Sie, dass die Männer sagen: Seht einmal, die
empfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der
Frauen bekommen es einfach nicht hin.
Fraktion der SPD mit dem Titel „Quotenregelung für
Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich festschreiben“.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Der Ausschluss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
Kollegin Pawelski, bitte. schlussempfehlung auf Drucksache 17/6527, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4683 abzuleh-
Rita Pawelski (CDU/CSU): nen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung
Kollegin Ziegler, wir waren in der Tat auf einem gu- auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich ab. Sind
ten Weg. Ich war sehr froh, dass es auch außerhalb der alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall.
Politik genug vernünftige Menschen gibt, die gemein- Dann eröffne ich die zweite namentliche Abstimmung.
sam und überparteilich an einem Ziel arbeiten wollen.
Durch diese namentliche Abstimmung zwingen Sie uns 1) Anlagen 2 bis 5
aber in eine Position, die wir eigentlich nicht vertreten. 2) Ergebnis Seite 17613 D
17612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Be- (C)
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte für darfs. Das ist der Kern des Gesetzes.
die zweite namentliche Abstimmung eingeworfen? –
Die SPD hat das in der Großen Koalition damals mit
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
beschlossen. Wir haben damals gemeinsam beschlossen,
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
das Gesetz zu evaluieren. Weniger als ein Jahr nach
beginnen. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmun-
Abschluss der Evaluierung haben wir heute, am 2. De-
gen werden Ihnen später bekannt gegeben.1)
zember 2011, die zweite und dritte Lesung. Durch die
Wir setzen die Beratungen fort. Novellierung macht die christlich-liberale Koalition das
Verbraucherinformationsgesetz noch besser, und zwar
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Rechts der Verbraucher- Es soll einfacher, wirksamer
information (Ulrich Kelber [SPD]: Und teurer!)
– Drucksache 17/7374 – und noch bürgerfreundlicher werden. Wir machen es
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- einfacher,
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: An welchen
cherschutz (10. Ausschuss) Stellen?)
– Drucksache 17/7993 – indem wir die Antragstellung per E-Mail erleichtern,
Berichterstattung: (Zurufe von der SPD: Oh!)
Abgeordnete Mechthild Heil
Elvira Drobinski-Weiß Fristen streichen und das Antragsverfahren verkürzen.
Dr. Erik Schweickert Kurz und unbürokratisch – das ist das Motto.
Caren Lay Wir machen es wirksamer, indem wir den Anwen-
Nicole Maisch dungsbereich ausdehnen; denn für Verbraucher ist es
Hierzu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion schlicht nicht einzusehen, warum sie über Produkte wie
Bündnis 90/Die Grünen vor. Weiterhin liegen ein Ent- Lebensmittel und Textilien Auskunft erhalten sollen,
schließungsantrag der Fraktion der SPD, ein Entschlie- über Produkte wie Haushaltsgeräte, Möbel oder Spiel-
zeug aber nicht.
(B) ßungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschlie- (D)
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Was ist mit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den Finanzdienstleistungen?)
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Kein Auch das sind Gegenstände des täglichen Lebens.
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- LINKE])
nerin der Bundesministerin Ilse Aigner das Wort.
Hier soll das Verbraucherinformationsgesetz künftig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz: Ich gebe Ihnen ein zeitgemäßes praktisches Beispiel.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Jetzt steht Weihnachten vor der Tür. Es werden sehr
und Kollegen! Sicherheit gewährleisten und Selbstbe- viele Lichterketten verkauft. Die Gewerbeaufsichtsämter
stimmung ermöglichen – das ist die Zielrichtung meiner überprüfen solche Lichterketten zum Beispiel darauf, ob
Verbraucherpolitik, die Zielrichtung der christlich-libe- Kabel überhitzt sind oder Brände ausgelöst werden kön-
ralen Verbraucherpolitik. nen. Über die Erkenntnisse sollen die Verbraucher infor-
miert werden, wenn sie bei den Behörden nachfragen.
Wer Verbraucherinnen und Verbraucher stärken und Das ist ein weiterer Fortschritt in diesem Bereich.
sie nicht bevormunden will, der sollte neben dem Schutz
vor allem für eines sorgen, nämlich für Transparenz. Das Wir können und wollen auch nicht alle Bereiche ins
Ziel ist vorgegeben. Wir gehen entschlossen Schritt für VIG einbeziehen. Bei Finanzprodukten etwa gibt es
Schritt voran. keine Messwerte, die objektiv feststellbar sind. Bei Fi-
nanzprodukten ist das Risiko häufig die zweite Seite der
Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung gehen Medaille; die erste sind die höheren Zinsen. Wer will in
wir mit der Novellierung des Verbraucherinformations- welchem Bereich wie davor warnen? Manche Menschen
gesetzes. Bürgerinnen und Bürger erhalten Auskunft sind bereit, ein höheres Risiko einzugehen. Umso wich-
über das, was die Behörden und Ämter wissen; insbe- tiger sind eine gute, individuelle Beratung und eine gute
sondere erhalten sie Informationen über Rechtsverstöße Verbraucherbildung. Deshalb verpflichten wir gerade die
Banken zu dem sogenannten Beipackzettel und den Be-
1) Ergebnis Seite 17616 A ratungsprotokollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17613
Bundesministerin Ilse Aigner
(A) Vorgestern haben wir im Kabinett den Beschluss zur Gemeinsam handeln: Das will ich auch bei den Vor- (C)
Umsetzung des europäischen „Bruders“, der Prospekt- schlägen des Bundesrechnungshofes zur Organisation
richtlinie, in nationales Recht gefasst, und zwar genau in des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Dieser Be-
unserem Sinne. Das sind keine Fragen des VIG, sondern richt wurde übrigens von mir in Auftrag gegeben. Ich
des Anlegerschutzes. Auch hier setzen wir auf Transpa- werde Vorschläge machen, wie wir gemeinsam mit den
renz und Information. Ländern Fortschritte machen können, etwa bei den ein-
heitlichen Standards, der einheitlichen Überwachung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und beim Krisenmanagement.
Schließlich machen wir das VIG auch bürgerfreundli-
cher, indem wir die Kosten für die Bürgerinnen und Bür- Ich appelliere an die Länder, sich zu beteiligen, und
ger senken. Schon im heutigen System entstehen keine ich gehe davon aus, dass mich auch die Opposition in
hohen Kosten. Interessant ist in diesem Zusammenhang diesem Hohen Haus dabei nachdrücklich unterstützt. Ich
übrigens, dass Frau Künast seinerzeit in ihrem ersten appelliere an die Oppositionsparteien, bei ihren zustän-
Entwurf für alle Anfragen – für die kleinen und für die digen Länderministern um Unterstützung zu werben.
großen – die volle Kostendeckung vorgeschlagen hat. Die ersten Äußerungen dazu waren nicht sehr erfolgver-
sprechend.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Hört! Hört! –
Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da gab es gar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kein VIG!)
Meine Damen und Herren, wir haben mit dem VIG
Bei uns sind künftig alle Anfragen bis 250 Euro kos- gute Erfahrungen gemacht. Sicher, es gab im Vorfeld
tenfrei. Aber wir ziehen natürlich auch irgendwo eine auch Bedenken vonseiten der Wirtschaft. Aber in der
Grenze, die sich am Verwaltungsaufwand orientiert. Ich Realität haben sich diese nicht bewahrheitet. Das breite
denke, das ist nur gerecht. Denn sonst muss der Steuer- Heer der seriös wirtschaftenden Unternehmen in
zahler die Rechnung zahlen. Deutschland braucht keine Sorgen zu haben. Im Gegen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) teil: Es kann vielmehr damit rechnen, letztendlich vom
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu pro-
Das VIG ist auch ein Teil meines Aktionsplanes, mit fitieren.
dem wir die Konsequenzen aus dem Dioxinskandal zu
Anfang des Jahres ziehen und die gesamte Kette vom Die christlich-liberale Koalition setzt nach wie vor
Futtertrog bis ins Ladenregal auf den Prüfstand gestellt verstärkt auf Transparenz zugunsten der Verbraucher.
haben. Wir stellen mit dem VIG klar: Grenzwertüber- Wir stärken die Unternehmen durch größeres Verbrau-
schreitungen sind kein Geheimnis. Messergebnisse bei chervertrauen. Wir machen das VIG mit Augenmaß (D)
(B)
Stoffen wie Dioxin, für die es Grenzwerte gibt, sind kein noch schlagkräftiger. Das VIG ist ein gutes Gesetz, und
Geheimnis. Auch die Lieferkette ist bei Rechtsverstößen wir machen es heute noch besser.
kein Geheimnis.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mir ist wichtig, dass die Verbraucher auf der Basis
des VIG künftig schnell und möglichst umfassend infor-
miert werden müssen. Rezepturen hingegen sind aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
drücklich ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. Sie Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-
müssen nicht offengelegt werden. Das haben wir auch nen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern
klar im Gesetzentwurf verankert. ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichen Ab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmungen bekannt.
Unser Aktionsplan ist übrigens zu weiten Teilen um- Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Gesetz-
gesetzt. Es waren zehn Punkte. Alles, was vom Bund ge- entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Entwurf
regelt werden konnte, ist erfolgreich geregelt worden. eines Gesetzes zur geschlechtergerechten Besetzung von
Wo der Bund federführend war und die Möglichkeit Aufsichtsräten –: abgegebene Stimmen 525. Mit Ja ha-
dazu hatte, haben wir dies gemeinsam mit den Ländern ben gestimmt 236, mit Nein haben gestimmt 281, Ent-
zügig abgehandelt. haltungen 8. Der Gesetzentwurf ist abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Ja Sören Bartol Martin Dörmann


Abgegebene Stimmen: 524; Bärbel Bas Elvira Drobinski-Weiß
davon SPD Sabine Bätzing-Lichtenthäler Garrelt Duin
Lothar Binding (Heidelberg) Ingo Egloff
ja: 235 Ingrid Arndt-Brauer Bernhard Brinkmann Siegmund Ehrmann
nein: 281 Rainer Arnold (Hildesheim) Petra Ernstberger
enthalten: 8 Heinz-Joachim Barchmann Edelgard Bulmahn Karin Evers-Meyer
Doris Barnett Marco Bülow Elke Ferner
Dr. Hans-Peter Bartels Martin Burkert Gabriele Fograscher
Klaus Barthel Petra Crone Dr. Edgar Franke
17614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Dagmar Freitag Karin Roth (Esslingen) Dr. Gesine Lötzsch Krista Sager (C)
Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) Thomas Lutze Manuel Sarrazin
Martin Gerster Marlene Rupprecht Dorothée Menzner Elisabeth Scharfenberg
Iris Gleicke (Tuchenbach) Cornelia Möhring Dr. Gerhard Schick
Günter Gloser Axel Schäfer (Bochum) Wolfgang Nešković Dr. Frithjof Schmidt
Ulrike Gottschalck Bernd Scheelen Thomas Nord Dorothea Steiner
Angelika Graf (Rosenheim) Marianne Schieder Petra Pau Dr. Wolfgang Strengmann-
Michael Groschek (Schwandorf) Richard Pitterle Kuhn
Michael Groß Werner Schieder (Weiden) Yvonne Ploetz Hans-Christian Ströbele
Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen) Paul Schäfer (Köln) Dr. Harald Terpe
Hans-Joachim Hacker Carsten Schneider (Erfurt) Raju Sharma Markus Tressel
Bettina Hagedorn Ottmar Schreiner Dr. Petra Sitte Daniela Wagner
Klaus Hagemann Swen Schulz (Spandau) Sabine Stüber Wolfgang Wieland
Michael Hartmann Ewald Schurer Alexander Süßmair Dr. Valerie Wilms
(Wackernheim) Frank Schwabe Dr. Kirsten Tackmann Josef Philip Winkler
Hubertus Heil (Peine) Rolf Schwanitz Frank Tempel
Rolf Hempelmann Stefan Schwartze Dr. Axel Troost Nein
Dr. Barbara Hendricks Rita Schwarzelühr-Sutter Kathrin Vogler
Gustav Herzog Dr. Carsten Sieling Johanna Voß CDU/CSU
Gabriele Hiller-Ohm Sonja Steffen Halina Wawzyniak
Petra Hinz (Essen) Peer Steinbrück Jörn Wunderlich Ilse Aigner
Frank Hofmann (Volkach) Dr. Frank-Walter Steinmeier Sabine Zimmermann Peter Altmaier
Dr. Eva Högl Christoph Strässer Peter Aumer
Christel Humme Kerstin Tack BÜNDNIS 90/ Dorothee Bär
Josip Juratovic Dr. h. c. Wolfgang Thierse DIE GRÜNEN Thomas Bareiß
Oliver Kaczmarek Franz Thönnes Norbert Barthle
Kerstin Andreae Günter Baumann
Johannes Kahrs Wolfgang Tiefensee
Volker Beck (Köln) Manfred Behrens (Börde)
Ulrich Kelber Ute Vogt
Cornelia Behm Veronika Bellmann
Lars Klingbeil Dr. Marlies Volkmer
Viola von Cramon-Taubadel Dr. Christoph Bergner
Hans-Ulrich Klose Andrea Wicklein
Ekin Deligöz Peter Beyer
Dr. Bärbel Kofler Heidemarie Wieczorek-Zeul
Katja Dörner Steffen Bilger
Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Dieter Wiefelspütz
Harald Ebner Clemens Binninger
Fritz Rudolf Körper Uta Zapf
Hans-Josef Fell Peter Bleser
Nicolette Kressl Dagmar Ziegler
Dr. Thomas Gambke Wolfgang Bosbach
Angelika Krüger-Leißner Manfred Zöllmer
(B) Brigitte Zypries
Kai Gehring Norbert Brackmann (D)
Ute Kumpf Katrin Göring-Eckardt Klaus Brähmig
Christine Lambrecht Britta Haßelmann Michael Brand
Christian Lange (Backnang) DIE LINKE
Bettina Herlitzius Dr. Reinhard Brandl
Dr. Karl Lauterbach Jan van Aken Priska Hinz (Herborn) Helmut Brandt
Steffen-Claudio Lemme Agnes Alpers Dr. Anton Hofreiter Dr. Ralf Brauksiepe
Burkhard Lischka Dr. Dietmar Bartsch Bärbel Höhn Dr. Helge Braun
Gabriele Lösekrug-Möller Herbert Behrens Ingrid Hönlinger Heike Brehmer
Kirsten Lühmann Karin Binder Uwe Kekeritz Ralph Brinkhaus
Caren Marks Matthias W. Birkwald Katja Keul Cajus Caesar
Katja Mast Christine Buchholz Memet Kilic Gitta Connemann
Hilde Mattheis Dr. Martina Bunge Sven-Christian Kindler Thomas Dörflinger
Petra Merkel (Berlin) Roland Claus Ute Koczy Marie-Luise Dött
Ullrich Meßmer Dr. Diether Dehm Tom Koenigs Dr. Thomas Feist
Dr. Matthias Miersch Heidrun Dittrich Sylvia Kotting-Uhl Enak Ferlemann
Franz Müntefering Werner Dreibus Oliver Krischer Ingrid Fischbach
Dr. Rolf Mützenich Dr. Dagmar Enkelmann Agnes Krumwiede Hartwig Fischer (Göttingen)
Andrea Nahles Klaus Ernst Fritz Kuhn Dirk Fischer (Hamburg)
Manfred Nink Nicole Gohlke Stephan Kühn Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Thomas Oppermann Annette Groth Renate Künast Land)
Aydan Özoğuz Dr. Gregor Gysi Markus Kurth Klaus-Peter Flosbach
Heinz Paula Dr. Rosemarie Hein Monika Lazar Michael Frieser
Johannes Pflug Dr. Barbara Höll Dr. Tobias Lindner Erich G. Fritz
Joachim Poß Andrej Hunko Nicole Maisch Dr. Michael Fuchs
Dr. Wilhelm Priesmeier Ulla Jelpke Jerzy Montag Hans-Joachim Fuchtel
Florian Pronold Dr. Lukrezia Jochimsen Kerstin Müller (Köln) Ingo Gädechens
Dr. Sascha Raabe Harald Koch Beate Müller-Gemmeke Dr. Thomas Gebhart
Mechthild Rawert Jan Korte Dr. Konstantin von Notz Norbert Geis
Stefan Rebmann Katrin Kunert Friedrich Ostendorff Alois Gerig
Gerold Reichenbach Caren Lay Dr. Hermann E. Ott Eberhard Gienger
Dr. Carola Reimann Sabine Leidig Lisa Paus Peter Götz
Sönke Rix Ralph Lenkert Brigitte Pothmer Dr. Wolfgang Götzer
René Röspel Stefan Liebich Tabea Rößner Reinhard Grindel
Dr. Ernst Dieter Rossmann Ulla Lötzer Claudia Roth (Augsburg) Hermann Gröhe
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17615
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Michael Grosse-Brömer Dr. Michael Luther Dr. Frank Steffel Sibylle Laurischk (C)
Markus Grübel Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Harald Leibrecht
Manfred Grund Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier Sabine Leutheusser-
Olav Gutting Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Schnarrenberger
Florian Hahn Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Lars Lindemann
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Christian Lindner
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Martin Lindner (Berlin)
Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Michael Stübgen Michael Link (Heilbronn)
Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Peter Tauber Dr. Erwin Lotter
Helmut Heiderich Dr. Mathias Middelberg Antje Tillmann
Philipp Mißfelder Oliver Luksic
Mechthild Heil Dr. Hans-Peter Uhl
Frank Heinrich Dietrich Monstadt Horst Meierhofer
Arnold Vaatz
Rudolf Henke Marlene Mortler Volkmar Vogel (Kleinsaara) Patrick Meinhardt
Michael Hennrich Dr. Gerd Müller Stefanie Vogelsang Gabriele Molitor
Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen) Andrea Astrid Voßhoff Jan Mücke
Ansgar Heveling Dr. Philipp Murmann Dr. Johann Wadephul Burkhardt Müller-Sönksen
Ernst Hinsken Bernd Neumann (Bremen) Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Martin Neumann
Peter Hintze Michaela Noll Peter Weiß (Emmendingen) (Lausitz)
Christian Hirte Dr. Georg Nüßlein Sabine Weiss (Wesel I) Dirk Niebel
Robert Hochbaum Franz Obermeier Ingo Wellenreuther Hans-Joachim Otto
Karl Holmeier Eduard Oswald Karl-Georg Wellmann (Frankfurt)
Franz-Josef Holzenkamp Henning Otte Peter Wichtel Cornelia Pieper
Joachim Hörster Dr. Michael Paul Klaus-Peter Willsch Gisela Piltz
Anette Hübinger Ulrich Petzold Dagmar G. Wöhrl Dr. Birgit Reinemund
Thomas Jarzombek Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Matthias Zimmer Dr. Peter Röhlinger
Dieter Jasper Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Björn Sänger
Dr. Franz Josef Jung Beatrix Philipp Willi Zylajew Frank Schäffler
Andreas Jung (Konstanz) Ronald Pofalla
Dr. Egon Jüttner Christoph Poland Christoph Schnurr
FDP
Bartholomäus Kalb Eckhard Pols Jimmy Schulz
Hans-Werner Kammer Thomas Rachel Jens Ackermann Marina Schuster
Steffen Kampeter Dr. Peter Ramsauer Christian Ahrendt Dr. Erik Schweickert
Alois Karl Eckhardt Rehberg Christine Aschenberg- Werner Simmling
Bernhard Kaster Lothar Riebsamen Dugnus Judith Skudelny
(B) Siegfried Kauder (Villingen- Josef Rief Daniel Bahr (Münster) Dr. Hermann Otto Solms (D)
Schwenningen) Klaus Riegert Florian Bernschneider Joachim Spatz
Dr. Stefan Kaufmann Dr. Heinz Riesenhuber Sebastian Blumenthal
Dr. Max Stadler
Roderich Kiesewetter Johannes Röring Claudia Bögel
Torsten Staffeldt
Eckart von Klaeden Dr. Norbert Röttgen Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle Dr. Rainer Stinner
Ewa Klamt Dr. Christian Ruck Stephan Thomae
Volkmar Klein Erwin Rüddel Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher Florian Toncar
Jürgen Klimke Albert Rupprecht (Weiden)
Axel Knoerig Dr. Wolfgang Schäuble Marco Buschmann Serkan Tören
Jens Koeppen Dr. Annette Schavan Reiner Deutschmann Johannes Vogel
Manfred Kolbe Dr. Andreas Scheuer Dr. Bijan Djir-Sarai (Lüdenscheid)
Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Patrick Döring Dr. Daniel Volk
Michael Kretschmer Norbert Schindler Rainer Erdel Dr. Claudia Winterstein
Gunther Krichbaum Tankred Schipanski Jörg van Essen Dr. Volker Wissing
Dr. Günter Krings Georg Schirmbeck Ulrike Flach Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Rüdiger Kruse Christian Schmidt (Fürth) Otto Fricke
Bettina Kudla Patrick Schnieder Dr. Edmund Peter Geisen
Heinz Golombeck
Enthalten
Dr. Hermann Kues Dr. Andreas Schockenhoff
Günter Lach Dr. Kristina Schröder Miriam Gruß
CDU/CSU
Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Dr. Christel Happach-Kasan
(Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Manuel Höferlin Dr. Maria Flachsbarth
Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Birgit Homburger Josef Göppel
Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Dr. Werner Hoyer Monika Grütters
Katharina Landgraf Rhein) Heiner Kamp Rita Pawelski
Ulrich Lange Johannes Selle Michael Kauch Nadine Schön (St. Wendel)
Dr. Max Lehmer Reinhold Sendker Dr. Lutz Knopek Elisabeth Winkelmeier-
Paul Lehrieder Dr. Patrick Sensburg Pascal Kober Becker
Ingbert Liebing Bernd Siebert Dr. Heinrich L. Kolb
Matthias Lietz Thomas Silberhorn Gudrun Kopp FDP
Dr. Carsten Linnemann Johannes Singhammer Sebastian Körber
Patricia Lips Jens Spahn Holger Krestel Sylvia Canel
Dr. Jan-Marco Luczak Carola Stauche Heinz Lanfermann Helga Daub
17616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be- ben gestimmt 236, Enthaltungen 2. Die Beschlussemp- (C)
schlussempfehlung des Rechtsausschusses: abgegebene fehlung ist angenommen.
Stimmen 524. Mit Ja haben gestimmt 286, mit Nein ha-

Endgültiges Ergebnis Reinhard Grindel Ulrich Lange Nadine Schön (St. Wendel)
Abgegebene Stimmen: 524; Hermann Gröhe Dr. Max Lehmer Dr. Kristina Schröder
davon Michael Grosse-Brömer Paul Lehrieder Dr. Ole Schröder
Markus Grübel Ingbert Liebing Bernhard Schulte-Drüggelte
ja: 286
Manfred Grund Matthias Lietz Uwe Schummer
nein: 236 Monika Grütters Dr. Carsten Linnemann Armin Schuster (Weil am
enthalten: 2 Olav Gutting Patricia Lips Rhein)
Florian Hahn Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Selle
Ja Dr. Stephan Harbarth Dr. Michael Luther Reinhold Sendker
Jürgen Hardt Karin Maag Dr. Patrick Sensburg
CDU/CSU Gerda Hasselfeldt Dr. Thomas de Maizière Bernd Siebert
Dr. Matthias Heider Hans-Georg von der Marwitz Thomas Silberhorn
Ilse Aigner Helmut Heiderich Andreas Mattfeldt Johannes Singhammer
Peter Altmaier Mechthild Heil Stephan Mayer (Altötting) Jens Spahn
Peter Aumer Frank Heinrich Dr. Michael Meister Carola Stauche
Dorothee Bär Rudolf Henke Maria Michalk Dr. Frank Steffel
Thomas Bareiß Michael Hennrich Dr. h. c. Hans Michelbach Christian Freiherr von Stetten
Norbert Barthle Jürgen Herrmann Dr. Mathias Middelberg Dieter Stier
Günter Baumann Ansgar Heveling Philipp Mißfelder Gero Storjohann
Manfred Behrens (Börde) Ernst Hinsken Dietrich Monstadt Stephan Stracke
Veronika Bellmann Peter Hintze Marlene Mortler Max Straubinger
Dr. Christoph Bergner Christian Hirte Dr. Gerd Müller Thomas Strobl (Heilbronn)
Peter Beyer Robert Hochbaum Stefan Müller (Erlangen) Michael Stübgen
Steffen Bilger Karl Holmeier Dr. Philipp Murmann Dr. Peter Tauber
Clemens Binninger Franz-Josef Holzenkamp Bernd Neumann (Bremen) Antje Tillmann
Peter Bleser Joachim Hörster Michaela Noll Dr. Hans-Peter Uhl
Wolfgang Börnsen Anette Hübinger Dr. Georg Nüßlein Arnold Vaatz
(B) (Bönstrup) Thomas Jarzombek Franz Obermeier Volkmar Vogel (Kleinsaara) (D)
Norbert Brackmann Dieter Jasper Eduard Oswald Stefanie Vogelsang
Klaus Brähmig Dr. Franz Josef Jung Henning Otte Andrea Astrid Voßhoff
Michael Brand Andreas Jung (Konstanz) Dr. Michael Paul Dr. Johann Wadephul
Dr. Reinhard Brandl Dr. Egon Jüttner Rita Pawelski Marcus Weinberg (Hamburg)
Helmut Brandt Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold Peter Weiß (Emmendingen)
Dr. Ralf Brauksiepe Hans-Werner Kammer Dr. Joachim Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I)
Dr. Helge Braun Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer Ingo Wellenreuther
Heike Brehmer Alois Karl Beatrix Philipp Karl-Georg Wellmann
Ralph Brinkhaus Bernhard Kaster Ronald Pofalla Peter Wichtel
Cajus Caesar Siegfried Kauder (Villingen- Christoph Poland Klaus-Peter Willsch
Gitta Connemann Schwenningen) Eckhard Pols Elisabeth Winkelmeier-
Thomas Dörflinger Dr. Stefan Kaufmann Thomas Rachel Becker
Marie-Luise Dött Roderich Kiesewetter Dr. Peter Ramsauer Dagmar G. Wöhrl
Dr. Thomas Feist Eckart von Klaeden Eckhardt Rehberg Dr. Matthias Zimmer
Enak Ferlemann Ewa Klamt Lothar Riebsamen Wolfgang Zöller
Ingrid Fischbach Volkmar Klein Josef Rief Willi Zylajew
Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Klaus Riegert
Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig Dr. Heinz Riesenhuber FDP
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jens Koeppen Johannes Röring
Land) Manfred Kolbe Dr. Norbert Röttgen Jens Ackermann
Dr. Maria Flachsbarth Hartmut Koschyk Dr. Christian Ruck Christian Ahrendt
Klaus-Peter Flosbach Michael Kretschmer Erwin Rüddel Christine Aschenberg-
Michael Frieser Gunther Krichbaum Albert Rupprecht (Weiden) Dugnus
Erich G. Fritz Dr. Günter Krings Dr. Wolfgang Schäuble Daniel Bahr (Münster)
Dr. Michael Fuchs Rüdiger Kruse Dr. Annette Schavan Florian Bernschneider
Hans-Joachim Fuchtel Bettina Kudla Dr. Andreas Scheuer Sebastian Blumenthal
Ingo Gädechens Dr. Hermann Kues Karl Schiewerling Claudia Bögel
Dr. Thomas Gebhart Günter Lach Norbert Schindler Nicole Bracht-Bendt
Norbert Geis Dr. Karl A. Lamers Tankred Schipanski Rainer Brüderle
Alois Gerig (Heidelberg) Georg Schirmbeck Angelika Brunkhorst
Eberhard Gienger Andreas G. Lämmel Christian Schmidt (Fürth) Ernst Burgbacher
Peter Götz Dr. Norbert Lammert Patrick Schnieder Marco Buschmann
Dr. Wolfgang Götzer Katharina Landgraf Dr. Andreas Schockenhoff Reiner Deutschmann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17617
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Dr. Bijan Djir-Sarai Nein Ute Kumpf Brigitte Zypries (C)
Patrick Döring Christine Lambrecht
Rainer Erdel CDU/CSU Christian Lange (Backnang) DIE LINKE
Jörg van Essen Dr. Karl Lauterbach
Josef Göppel Jan van Aken
Ulrike Flach Steffen-Claudio Lemme
Agnes Alpers
Otto Fricke Burkhard Lischka
SPD Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Edmund Peter Geisen Gabriele Lösekrug-Möller
Herbert Behrens
Heinz Golombeck Ingrid Arndt-Brauer Kirsten Lühmann
Karin Binder
Miriam Gruß Rainer Arnold Caren Marks
Matthias W. Birkwald
Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Joachim Barchmann Katja Mast
Christine Buchholz
Manuel Höferlin Doris Barnett Hilde Mattheis
Dr. Martina Bunge
Birgit Homburger Dr. Hans-Peter Bartels Petra Merkel (Berlin)
Roland Claus
Dr. Werner Hoyer Klaus Barthel Ullrich Meßmer
Dr. Diether Dehm
Heiner Kamp Sören Bartol Dr. Matthias Miersch
Heidrun Dittrich
Michael Kauch Bärbel Bas Franz Müntefering
Werner Dreibus
Dr. Lutz Knopek Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Rolf Mützenich
Dr. Dagmar Enkelmann
Pascal Kober Lothar Binding (Heidelberg) Andrea Nahles
Klaus Ernst
Dr. Heinrich L. Kolb Bernhard Brinkmann Manfred Nink
Nicole Gohlke
Gudrun Kopp (Hildesheim) Thomas Oppermann
Annette Groth
Sebastian Körber Edelgard Bulmahn Aydan Özoğuz
Dr. Gregor Gysi
Holger Krestel Marco Bülow Heinz Paula
Dr. Rosemarie Hein
Heinz Lanfermann Martin Burkert Johannes Pflug
Dr. Barbara Höll
Sibylle Laurischk Petra Crone Joachim Poß
Andrej Hunko
Harald Leibrecht Martin Dörmann Dr. Wilhelm Priesmeier
Ulla Jelpke
Sabine Leutheusser- Elvira Drobinski-Weiß Florian Pronold
Dr. Lukrezia Jochimsen
Schnarrenberger Garrelt Duin Dr. Sascha Raabe
Harald Koch
Lars Lindemann Ingo Egloff Mechthild Rawert
Jan Korte
Christian Lindner Siegmund Ehrmann Stefan Rebmann
Katrin Kunert
Dr. Martin Lindner (Berlin) Petra Ernstberger Gerold Reichenbach
Caren Lay
Michael Link (Heilbronn) Karin Evers-Meyer Dr. Carola Reimann
Sabine Leidig
Dr. Erwin Lotter Elke Ferner Sönke Rix
Ralph Lenkert
Oliver Luksic Gabriele Fograscher René Röspel
Stefan Liebich
Horst Meierhofer Dr. Edgar Franke Dr. Ernst Dieter Rossmann
Ulla Lötzer
Patrick Meinhardt Dagmar Freitag Karin Roth (Esslingen)
Dr. Gesine Lötzsch
(B) Gabriele Molitor Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) (D)
Thomas Lutze
Jan Mücke Martin Gerster Marlene Rupprecht
Dorothée Menzner
Burkhardt Müller-Sönksen Iris Gleicke (Tuchenbach)
Cornelia Möhring
Dr. Martin Neumann Günter Gloser Axel Schäfer (Bochum)
Wolfgang Nešković
(Lausitz) Ulrike Gottschalck Bernd Scheelen
Thomas Nord
Dirk Niebel Angelika Graf (Rosenheim) Marianne Schieder
Petra Pau
Hans-Joachim Otto Michael Groschek (Schwandorf)
Richard Pitterle
(Frankfurt) Michael Groß Werner Schieder (Weiden)
Yvonne Ploetz
Cornelia Pieper Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen)
Paul Schäfer (Köln)
Gisela Piltz Hans-Joachim Hacker Carsten Schneider (Erfurt)
Raju Sharma
Dr. Birgit Reinemund Bettina Hagedorn Ottmar Schreiner
Dr. Petra Sitte
Dr. Peter Röhlinger Klaus Hagemann Swen Schulz (Spandau)
Sabine Stüber
Björn Sänger Michael Hartmann Ewald Schurer
Alexander Süßmair
Frank Schäffler (Wackernheim) Frank Schwabe
Dr. Kirsten Tackmann
Christoph Schnurr Hubertus Heil (Peine) Rolf Schwanitz
Frank Tempel
Jimmy Schulz Rolf Hempelmann Stefan Schwartze
Dr. Axel Troost
Marina Schuster Dr. Barbara Hendricks Rita Schwarzelühr-Sutter
Kathrin Vogler
Dr. Erik Schweickert Gustav Herzog Dr. Carsten Sieling
Johanna Voß
Werner Simmling Gabriele Hiller-Ohm Sonja Steffen
Halina Wawzyniak
Judith Skudelny Petra Hinz (Essen) Peer Steinbrück
Jörn Wunderlich
Dr. Hermann Otto Solms Frank Hofmann (Volkach) Dr. Frank-Walter Steinmeier
Sabine Zimmermann
Joachim Spatz Dr. Eva Högl Christoph Strässer
Dr. Max Stadler Christel Humme Kerstin Tack
BÜNDNIS 90/
Torsten Staffeldt Josip Juratovic Dr. h. c. Wolfgang Thierse
DIE GRÜNEN
Dr. Rainer Stinner Oliver Kaczmarek Franz Thönnes
Stephan Thomae Johannes Kahrs Wolfgang Tiefensee Kerstin Andreae
Florian Toncar Ulrich Kelber Ute Vogt Volker Beck (Köln)
Serkan Tören Lars Klingbeil Dr. Marlies Volkmer Cornelia Behm
Johannes Vogel Hans-Ulrich Klose Andrea Wicklein Viola von Cramon-Taubadel
(Lüdenscheid) Dr. Bärbel Kofler Heidemarie Wieczorek-Zeul Ekin Deligöz
Dr. Daniel Volk Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Dieter Wiefelspütz Katja Dörner
Dr. Claudia Winterstein Fritz Rudolf Körper Uta Zapf Harald Ebner
Dr. Volker Wissing Nicolette Kressl Dagmar Ziegler Hans-Josef Fell
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Angelika Krüger-Leißner Manfred Zöllmer Dr. Thomas Gambke
17618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Kai Gehring Sylvia Kotting-Uhl Friedrich Ostendorff Hans-Christian Ströbele (C)
Katrin Göring-Eckardt Oliver Krischer Dr. Hermann Ott Dr. Harald Terpe
Britta Haßelmann Agnes Krumwiede Lisa Paus Markus Tressel
Bettina Herlitzius Fritz Kuhn Brigitte Pothmer Daniela Wagner
Priska Hinz (Herborn) Stephan Kühn Tabea Rößner Wolfgang Wieland
Dr. Anton Hofreiter Renate Künast Claudia Roth (Augsburg) Dr. Valerie Wilms
Bärbel Höhn Markus Kurth Krista Sager Josef Philip Winkler
Ingrid Hönlinger Monika Lazar Manuel Sarrazin
Uwe Kekeritz Dr. Tobias Lindner Elisabeth Scharfenberg
Katja Keul Nicole Maisch Dr. Gerhard Schick
Enthalten
Memet Kilic Jerzy Montag Dr. Frithjof Schmidt
FDP
Sven-Christian Kindler Kerstin Müller (Köln) Dorothea Steiner
Ute Koczy Beate Müller-Gemmeke Dr. Wolfgang Strengmann- Sylvia Canel
Tom Koenigs Dr. Konstantin von Notz Kuhn Helga Daub

Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat die Kol- Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
legin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion. CDU/CSU und von der FDP, sind leider die notwendi-
gen Änderungen nicht angegangen. Weiterhin gibt es
(Beifall bei der SPD) keinen Auskunftsanspruch für Verbraucherinnen und
Verbraucher gegenüber den Unternehmen. Weiterhin gilt
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): das VIG nicht für Dienstleistungen. Ich denke, gerade in
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! einer Zeit, in der Finanzdienstleistungen eine wichtige
Frau Aigner, Sie gestatten – und erwarten wahrschein- Rolle spielen, ist das ein großes Manko.
lich auch –, dass ich heute einiges Wasser in den von Ih-
nen eben dargebotenen Wein gieße. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald
Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen das
nicht!) Die Kostenregelung bringt sogar Verschlechterungen
gegenüber dem alten VIG. Bisher waren nämlich alle
Denn wenn wir heute Ihren Vorschlägen zum sogenann- Anfragen zu Rechtsverstößen kostenfrei, und jetzt sollen
ten Verbraucherinformationsgesetz zustimmen würden, kostendeckende Gebühren verlangt werden können, (D)
(B) dann hätten wir eine Chance vertan. Das heißt, Sie hätten
wenn der Verwaltungsaufwand für Anfragen zu Rechts-
sie vertan. verstößen 1 000 Euro überschreitet. Damit werden natür-
(Christoph Poland [CDU/CSU]: Sie haben die lich wichtige Multiplikatoren abgeschreckt, beispiels-
Chance verpasst, was zu tun!) weise die Umwelt- und die Verbraucherverbände,

Sie hätten die Chance vertan, mehr Transparenz für die (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die haben die
Verbraucherinnen und Verbraucher in dieser Legislatur- 1 000 Euro, keine Sorge!)
periode zu erreichen. Das ist fatal. So werden nun also aber auch kritische Journalisten.
die Verbraucherinnen und Verbraucher bis zum Jahr
2013 warten müssen, bis wir dann unter einer SPD-ge- Behörden können die Bearbeitung von Auskunftsan-
führten Bundesregierung endlich ein Verbrauchergesetz liegen verweigern, wenn dadurch die ordnungsgemäße
auf den Weg bringen, das diesen Namen auch verdient. Erfüllung ihrer Aufgaben beeinträchtigt würde. Welche
Spielräume sich dadurch auftun, das überlasse ich Ihrer
(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ Fantasie.
CSU]: Rot-Grün hat sieben Jahre lang nichts
hingebracht!) Proben – hören Sie bitte zu – müssen nun von min-
destens zwei unabhängigen Laboren untersucht werden.
Mit dem von uns initiierten Entschließungsantrag Das wird doch ganz gewiss nicht dazu führen, dass die
vom Jahr 2006 haben wir eine Überprüfung des Gesetzes Bekanntgabe von Ergebnissen beschleunigt wird. Das al-
nach zwei Jahren festgeschrieben. Die in der Praxis ge- les ist nicht nur zu kurz gesprungen, sondern geht auch
machten Erfahrungen sollten ausgewertet und zur Ver- noch in die falsche Richtung. Aber die Regierungskoali-
besserung des VIG genutzt werden. Das ist ein Verbrau- tion scheint sich heute sowieso auf diesem Weg zu befin-
chercheck, den wir grundsätzlich für alle politischen den: auf dem Weg in die falsche Richtung.
Vorhaben fordern.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald
Die Überprüfung hat eindeutig gezeigt: Das VIG, das Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Sie hier so preisen, ist überhaupt nicht verbraucher-
freundlich. Das ist sogar noch freundlich formuliert. Wir Wir brauchen also eine neue Transparenzkultur in
denken, Verbraucher müssen leicht, verständlich und Deutschland. Wir brauchen alltagstaugliche und ver-
schnell erfahren können, was in und hinter Angeboten brauchergerechte Informationsmaßnahmen. Diese müs-
auf dem Markt steckt. Das VIG hätte dafür ein wichtiger sen als Chance begriffen und zur Selbstverständlichkeit
Baustein sein können. werden und dürfen nicht länger als Behinderung, als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17619
Elvira Drobinski-Weiß
(A) Pranger oder gar als eine Gefahr für den Markt bezeich- gen ermöglichen und eine eigenverantwortliche (C)
net werden. Egal ob es um Nährwertampeln, um Offen- Marktteilnahme gewährleisten.
legungspflichten für Unternehmen, um ein Restaurant-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elvira
barometer oder um die Veröffentlichung aller amtlichen
Drobinski-Weiß [SPD]: Was ist daran falsch?)
Überwachungsergebnisse geht: Das VIG könnte –
könnte! – zu dieser Transparenzkultur einen wichtigen Wenn das so ist, dann frage ich mich schon, warum
Beitrag leisten. Doch das, was Frau Aigner hier vorlegt, ihr es uns überlassen habt, den an euch selbst gestellten
verfehlt dieses Ziel. Anspruch zu erfüllen. Ihr seid als Tiger gesprungen und
als Bettvorleger gelandet; denn man hat noch nicht ein-
Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, Frau Ministe- mal die Produktinformation geregelt.
rin, noch haben Sie eine Chance. Wir haben Ihnen mit
unserem Entschließungsantrag Vorschläge vorgelegt, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
wie das VIG doch noch verbraucherfreundlich gestaltet Ulrich Kelber [SPD]: Da klatschen die, die da-
werden kann. Sie müssen einfach nur zustimmen. Wir gegen waren! – Caren Lay [DIE LINKE]: Das
wollen die Behörden nämlich verpflichten, Untersu- ist aber weit aus dem Fenster gelehnt!)
chungsergebnisse von sich aus zu veröffentlichen. Wir Wir brauchen Verbraucherinformationen, die unbüro-
wollen eine gesetzliche Grundlage für das sogenannte kratisch und transparent sind. Denn nur ein aufgeklärter
Restaurantbarometer und die verstärkte Nutzung aktiver Verbraucher ist auch ein mündiger Verbraucher. Wenn
Informationsmöglichkeiten. Wir fordern die Bundesre- ein Verbraucher eine Entscheidung für oder gegen einen
gierung auf, ein Gesamtkonzept für Verbraucherinfor- Kauf treffen muss, dann braucht er ausreichende Infor-
mationen vorzulegen und dabei sicherzustellen, dass In- mationen. Dabei geht es um Produkte und auch um In-
formationspflichten verständlich, nützlich und auch haltsstoffe von Lebensmitteln. Die Lebensmittelkrise
anwendbar sind. Wir wollen die Anbieter zur Informa- – Stichwort: Dioxinvorfälle, Ehec – hat gezeigt: Wir
tion der Verbraucher verpflichten und den Auskunftsan- müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher schnell
spruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf sämt- warnen können.
liche Produkte und Dienstleistungen ausweiten. Wir
wollen die Ausschluss- und Beschränkungsgründe im Mehr Transparenz, bessere und schnellere Informatio-
VIG eingrenzen. Wir wollen dieses Gesetz verbraucher- nen sowie wirklich weniger Bürokratie, das waren die
freundlich reformieren. Ziele bei unserer Novellierung des Verbraucherinforma-
tionsgesetzes. Meine Damen und Herren, liebe Verbrau-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ cherinnen und Verbraucher, die christlich-liberale Koali-
DIE GRÜNEN) tion hat hier wieder einmal geliefert.
(B) Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. CDU/CSU)
Der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesen Zielen näm-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
lich umfassend Rechnung. Wir haben dieses Relikt aus
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
vergangenen Tagen – ich bin gerade darauf eingegangen –
überarbeitet. Die Evaluierung des alten Gesetzes hat ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zeigt, dass es ein Gesetz von gestern war. Lassen Sie mich
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege vier Punkte anführen, die belegen, welche Schwachstellen
Dr. Erik Schweickert. es gab.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Erstens. Es gab nur sehr wenige Anfragen: 487; ich
der CDU/CSU) war einer derjenigen, die eine solche Anfrage gestellt ha-
ben. 66 Prozent dieser Anfragen kamen nicht einmal von
Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern von Jour-
Dr. Erik Schweickert (FDP):
nalisten und Fachverbänden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Elvira Drobinski- Zweitens. Die Antragstellung war außerordentlich bü-
Weiß, du hast vorhin gesagt, ihr trätet dafür ein, dass rokratisch. Man wusste nicht, ob die Antragsbearbeitung
2013 – euer Wahlerfolg vorweggenommen – die nötigen etwas kostet. Es wurden zwar 80 Prozent aller Anfragen
Korrekturen vorgenommen würden. Du hast am 11. Mai kostenfrei bearbeitet, aber ich wusste es vorher nicht.
2006 in deiner Rede zur Einbringung des VIG gesagt Drittens. Dazu kam, dass der Anwendungsbereich des
– darf ich dich einmal daran erinnern? –: VIG auf den Bereich der Lebensmittel beschränkt blieb,
Wir wollen dafür sorgen, dass dieser Wagen na- obwohl man wohl etwas anderes wollte.
mens Verbraucherinformation Räder bekommt, da- Viertens. Das VIG hat sich in der Praxis im Hinblick
mit er fahren kann. auf die aus den verschiedenen Lebensmittelskandalen
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja! Klasse!) – Dioxinvorfälle, Ehec-Ausbreitung – zu ziehenden
Konsequenzen nicht als tauglich erwiesen. Wir gestalten
Verbraucher und Verbraucherinnen müssen Zugang dieses Gesetz jetzt umfassender, transparenter, bürgernä-
zu allen Informationen haben, die ihnen eine be- her und unbürokratischer; denn wir weiten den Informa-
wusste Auswahl von Produkten und Dienstleistun- tionsanspruch aus. Für den Verbraucher ist es wichtig,
17620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Erik Schweickert


(A) möglichst viel zu wissen. Wenn ihm der Föhn am Kopf auf maximal 14 Tage. Das ist auch nicht ungewöhnlich; (C)
explodiert oder wenn er feststellt, dass ein Lebensmittel denn in § 80 der Verwaltungsgerichtsordnung steht
ungenießbar ist, dann hat er künftig die Möglichkeit, die schon heute, Herr Kelber, dass die Länder im Bereich
nötigen Informationen zu bekommen. der landeseigenen Verwaltung auf Widerspruchsverfah-
ren ganz verzichten können.
Wir fördern auch die schnelle Verbraucherinforma-
tion bei Grenzwertüberschreitungen und Verstößen ge- Anders als die Opposition lehnen wir eine Ausdeh-
gen das Lebensmittelgesetzbuch. Das heißt, die Behör- nung der Informationspflicht auf Unternehmen ab und
den haben mit dem VIG jetzt endlich die Grundlage, sehen dies bei der Novellierung des VIG auch nicht vor.
künftig zeitnah zu veröffentlichen und bei Verstößen für Denn redlich arbeitende Unternehmer stehen bereits
Verbraucherschutz zu sorgen. Das ist insbesondere dann heute im Austausch mit ihren Kunden; das interessiert
relevant, wenn Gefahren für die menschliche Gesundheit sie, und sie nehmen diesen Austausch auch wahr.
bestehen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Die nicht redlichen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wollen wir verpflichten! Genau darum geht
Ulrich Kelber [SPD]: Die Abwägungsklausel es!)
ist doch gar nicht rausgenommen!) Außerdem bieten die Unternehmen umfassende Infor-
– Zu der komme ich gleich, Herr Kelber. – Wir machen mationen auf den Produkten und zum Beispiel auch auf
es unbürokratischer, weil die Anträge künftig per Tele- ihren Webseiten an. Ein gesetzlich fixierter Auskunfts-
fon oder per E-Mail gestellt werden können. Es entsteht anspruch mit Fristen usw. würde zu keiner Verbesserung
mehr Transparenz bezüglich der Gebühren; denn ich der bisherigen Auskunftsmöglichkeiten führen,
weiß künftig, ob es mich etwas kostet. Seien wir einmal (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Lassen Sie
ehrlich: Ein Verwaltungskostenaufwand bis zu 250 Euro sich doch mal darauf ein!)
ist grundsätzlich kostenfrei, und für bestimmte Informa-
tionen besteht sogar Kostenfreiheit bis zu einem Verwal- dafür aber zu einer bürokratischen Überfrachtung
tungsaufwand von 1 000 Euro. Damit machen wir dem (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja! Das Tot-
herrschenden Gebührenwirrwarr ein Ende. schlagargument!)
Auch den Unternehmen, die sich übrigens in der ver- insbesondere kleiner und mittelständischer Unterneh-
gangenen Woche mit großer Verärgerung über den Ge- men. Deswegen halten wir einen weitergehenden Aus-
setzentwurf an mich gewandt haben, möchte ich sagen: kunftsanspruch gegenüber den Unternehmen direkt für
Das Gesetz ist ein fairer Ausgleich zwischen dem be- entbehrlich.
(B) rechtigten Anspruch der Verbraucher auf schnellere In- (D)
formationen und auf Transparenz und dem ebenso be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
rechtigten Interesse der Unternehmen, dass sie nicht an der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Bei Ih-
den Pranger gestellt werden, nicht fälschlicherweise ver- nen sind die Funktionstasten mit diesen Phra-
dächtigt werden bzw. ihre Betriebs- oder Geschäftsge- sen belegt!)
heimnisse nicht verletzt werden.
Meine Damen und Herren, mehr Transparenz statt Bü-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rokratie, einfachere, aber dafür für die Verbraucher ver-
ständliche und im Alltag anwendbare Informationen –
Wir schützen dadurch die redlich arbeitenden Unter- dafür stehen wir als Freie Demokraten, und dafür haben
nehmer, da bei einer Veröffentlichung das öffentliche In- wir uns als christlich-liberale Koalition bei der Novellie-
teresse gegenüber dem Schutz des Betriebsgeheimnisses rung des Verbraucherinformationsgesetzes eingesetzt.
klar überwiegen muss. Außerdem ziehen wir eine Baga-
tellgrenze ein, damit nicht jeder lapidare Verstoß veröf- Durch die Novellierung des Verbraucherinformati-
fentlicht wird. Sie liegt bei einer Forderung von onsgesetzes wird es nun das, was es schon immer hätte
350 Euro. Das wird in jeder Kommune so gehandhabt. sein sollen: ein Transparenzgesetz.
Wir sorgen ebenfalls dafür, dass es zwei amtliche Proben Vielen Dank.
geben muss, die den Verstoß bestätigen, bevor eine Be-
hörde veröffentlichen darf. Somit gehen wir gegen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Messfehler vor, und wir tragen zu einer gestärkten Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön wär‘s!
Rechtssicherheit für die Unternehmen, aber auch für die Chance vertan!)
Behörden bei. Das heißt, die verfassungsrechtlichen
Grundsätze sind gewahrt. Die Informationen müssen va- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lide sein. Denn Hysterie hilft keinem Verbraucher, son- Für die Linken hat jetzt die Kollegin Caren Lay das
dern nur tatsächliche und wahre Information. Wort.
(Ulrich Kelber [SPD]: Informationen nach dem (Beifall bei der LINKEN)
Verzehr nützen auch niemandem!)
Auch der effektive Rechtsschutz ist gewahrt; denn Caren Lay (DIE LINKE):
selbstverständlich steht es den Unternehmen weiterhin Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
frei, vor einem ordentlichen Gericht zu klagen. Aber wir Herren! Die Menschen, die Verbraucherinnen und Ver-
verkürzen das Widerspruchsverfahren bei der Behörde braucher, machen sich sehr viele Sorgen, und sie stellen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17621
Caren Lay
(A) sich viele Fragen. Beispielsweise fragen sie, was in den Ich muss aber auch sagen, verehrter Herr Schweickert: (C)
Lebensmitteln steckt, die sie essen, und welche Dienst- Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
leistungen sie wirklich kaufen, zum Beispiel: Hält die
Aufschrift auf der Käseverpackung, was sie verspricht? (Florian Toncar [FDP]: Das macht der
Ist der mir angebotene Kredit optimal, oder wird er mir Schweickert nicht!)
nur deswegen angeboten, weil die Gewinnspanne für das Sie haben am Anfang der Debatte im Verbraucheraus-
Unternehmen besonders groß ist? Ist der Handyanbieter schuss angekündigt, dass Sie den ganz großen Wurf pla-
durch versteckte Kosten aufgefallen? Häufen sich bei ei- nen. Sie wollten das VIG sogar mit dem Informations-
nem Energieversorger die Beschwerden? Kann ich der freiheitsgesetz verknüpfen und dadurch den Auskunfts-
Hygiene in der Imbissbude vertrauen? anspruch weiter ausbauen. Jetzt ist aus meiner Sicht ein
Auf die meisten dieser Fragen bietet der vorliegende lächerliches Gesetz herausgekommen, das im Endeffekt
Gesetzentwurf leider keine ausreichende Antwort. Denn kaum Verbesserungen bringt.
auch künftig werden Verbraucherrechte eingeschränkt Wir als Linke fordern deswegen einen direkten Aus-
bleiben. Das schwarz-gelbe Verbraucherinformationsge- kunftsanspruch gegenüber Unternehmen.
setz bietet keine Auskunftsmöglichkeit für Dienstleis-
tungen, obwohl dies gerade bei den Finanzdienstleistun- (Beifall bei der LINKEN)
gen das Gebot der Stunde wäre. Verbraucherinnen und
Der Behördenweg ist einfach viel zu bürokratisch. Wenn
Verbraucher verlieren jährlich zweistellige Milliardenbe-
es so sein sollte, dass die redlichen Unternehmen ohne-
träge allein durch Falschberatung. Hier haben Sie erneut
hin zu Auskünften bereit sind, dann sollten wir heute den
die Chance verpasst, dieser Abzocke endlich einen Rie-
Mut haben, die unredlichen Unternehmen dazu zu zwin-
gel vorzuschieben.
gen.
Auch in der Telekommunikations- und der Energie-
(Beifall bei der LINKEN)
branche sieht es nicht besser aus. Auch hier häufen sich
die Beschwerden der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher. Ausgerechnet an dieser Stelle kneift die Regierung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das ist für uns als Linke einfach nicht hinnehmbar. Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schweickert?
(Beifall bei der LINKEN)
Auch zukünftig muss der Umweg über die Behörden Caren Lay (DIE LINKE):
gegangen werden. Viel einfacher wäre es in der Tat, di- Aber selbstverständlich.
(B) rekt von den Unternehmen Auskunft zu verlangen, und (D)
wenn die Unternehmen dies nicht freiwillig tun, dann
muss man sie dazu verpflichten. Auch hier beugt sich die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Koalition den Unternehmensinteressen. Wir als Linke Herr Schweickert, bitte schön.
stellen dem konsequent Verbraucherrechte entgegen.
Dann das leidige Thema der Betriebs- und Geschäfts- Dr. Erik Schweickert (FDP):
geheimnisse: Statt konsequent Verbraucherrechte durch- Frau Kollegin Lay, herzlichen Dank für das Zulassen
zusetzen, verzettelt sich die Regierung in Einschränkun- meiner Zwischenfrage.
gen, um die sogenannten Geheimhaltungsinteressen von
Unternehmen zu schützen. Ich kann nur sagen: Der vor- Caren Lay (DIE LINKE):
liegende Gesetzentwurf wird an der Geheimniskrämerei Gerne.
in Amtsstuben und in Vorstandsetagen wenig ändern.
(Beifall bei der LINKEN) Dr. Erik Schweickert (FDP):
Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bezahlen Sie haben die Zusammenlegung von VIG, IFG und
auch die Arbeit der Behörden. Ich denke, es ist ihr gutes UIG, wie sie auch im Koalitionsvertrag steht, angespro-
Recht, dass die Informationen, die den Behörden vorlie- chen. Ich stelle die Frage: Ist Ihnen bekannt, dass wir als
gen, proaktiv veröffentlicht werden. Das können die Bundesgesetzgeber – das hat die Evaluierung dieses Vor-
Steuerzahler erwarten. habens ergeben – keine Kompetenz für die Schaffung ei-
nes einheitlichen Informationszugangsgesetzes für Bund
Meine Damen und Herren, was müsste ein modernes und Länder haben? Ist Ihnen bekannt, dass das IFG ins-
Verbraucherinformationsgesetz leisten, damit es seinen besondere in der Kompetenz der Länder liegt und dass
Namen tatsächlich verdient? Der Entschließungsantrag die Bereitschaft der Länder zur Übernahme der gelten-
der Linken macht einige gute Vorschläge. Wir finden, ob den Modellgesetze des Bundes nicht zu erkennen war?
Futtermittel oder Finanzdienstleistungen, alle Informa- Das war der Grund, warum es nicht geschehen ist. Ist Ih-
tionen müssen zugänglich sein. Wir wollen also, dass nen weiterhin bekannt, dass der Verbraucher, wenn er In-
das Verbraucherinformationsgesetz für alle Produkte und formationen über Finanzdienstleistungen möchte, diese
Dienstleistungen gilt. Das hat in der letzten Wahlperiode trotzdem einholen kann, dann zwar nicht über das Ver-
übrigens nicht nur die Linke, sondern auch die FDP ge- braucherinformationsgesetz, aber über das Informations-
fordert. Ich teile Ihre Kritik, dass der Gesetzentwurf, den freiheitsgesetz? Das ist zwar ein anderes Gesetz, aber
die SPD mitgetragen hat, nicht das Gelbe vom Ei war. der Verbraucher hat die gleichen Auskunftsansprüche.
17622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Caren Lay (DIE LINKE): Gesetzentwurf wieder einmal: Wir haben es mit einer (C)
Ja, verehrter Herr Kollege, das ist mir selbstverständ- Ministerin zu tun, die wenig will und noch weniger er-
lich bekannt. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass ich reicht.
zu Beginn dieser Debatte skeptisch war, ob man diese
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesetze tatsächlich zusammenlegen sollte. Ich kann Sie
sowie bei Abgeordneten der SPD)
aber nur an Ihren Worten und Ihren Taten messen. Sie
waren es, der diesen Vorschlag am Anfang des Gesetz- Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen:
gebungsverfahrens gemacht hat. Ich muss feststellen:
Vieles von dem, wofür Sie gekämpft haben, wofür Sie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Der Kabinetts-
sich zu Recht eingesetzt haben, ist am Ende leider nicht entwurf war in diesem Bereich ein kleiner Schritt in die
in dem Gesetzentwurf gelandet. Ich muss Sie hier also richtige Richtung: mehr Abwägung sowie die Feststel-
tatsächlich an Ihren Taten messen. Wenn Sie anderen lung, dass Rechtsverstöße keine Betriebs- und Unterneh-
vorwerfen, dass sie ihren ursprünglichen Versprechun- mensgeheimnisse darstellen. Aber die Mehrheitsfraktio-
gen nicht nachgekommen sind, dann müssen Sie sich nen haben den zarten Vorstoß der Ministerin kassiert: Sie
diese Kritik leider auch umgekehrt gefallen lassen. haben dem Entwurf mit einem Änderungsantrag die
Zähne gezogen. Der Ausschlusstatbestand der „sonstigen
(Beifall bei der LINKEN) wettbewerbsrelevanten Informationen“, der zu Recht aus
dem alten VIG gestrichen wurde, wird jetzt durch „sons-
Meine Damen und Herren, ein weiterer Gedanke.
tiges geheimnisgeschütztes technisches oder kaufmänni-
Verbraucherinformation darf natürlich keine Frage des
sches Wissen“ ersetzt. Konsequenz: Es ist alles so
Geldbeutels sein. Deswegen sagen wir als Linke: Die
schlecht wie zuvor.
Anfragen an Behörden müssen kostenfrei sein. Wie ge-
sagt: Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben da- Wir haben hier eine Ministerin, die nicht für mehr
für gezahlt, dass die Behörden diese Informationen sam- Verbraucherschutz kämpft, sondern auch die kleinsten
meln. Deswegen sagen wir: Die Behörden müssen von Verbesserungen mehr oder weniger kampflos kassieren
sich aus, proaktiv, informieren. lässt. Ich finde, das ist für eine Verbraucherschutzminis-
terin sehr dürftig.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass es in dieser De-
batte häufig so dargestellt wird, als würde das VIG von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherverbänden sowie Journalistinnen und Jour- sowie bei Abgeordneten der SPD – Wider-
nalisten ausgenutzt. Ich denke, sie leisten eine gute Ar- spruch bei der CDU/CSU)
beit im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher;
das müssen wir anerkennen. Nehmen wir das zweite Beispiel: Hygienekennzeich-
(B) nungen an Restaurants. Ich zitiere das Hamburger (D)
(Beifall bei der LINKEN) Abendblatt vom Herbst 2010:
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Aigner will bundesweit einheitliche Smileys für
Das Verbraucherinformationsgesetz ist das zentrale Ver- Restaurants
brauchergesetz. Insofern sollte es gewissermaßen das
Meisterstück der Verbraucherministerin sein. Gemessen Im Mai dieses Jahres stand im Focus:
an dem Ergebnis, das Sie uns heute vorgestellt haben, Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU)
kann ich nur sagen: durchgefallen! sagte zu, die rechtlichen Grundlagen dafür zu
(Beifall bei der LINKEN) schaffen, dass das Kontrollbarometer bundesweit
einheitlich eingeführt werden kann.
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen die
Ablehnung des Gesetzentwurfes. Dieses Verbraucher- Nur leider steht das nicht im Gesetzentwurf: Dieses Ver-
informationsgesetz verdient seinen Namen nicht. braucherinformationsgesetz enthält keine rechtlichen
Grundlagen für ein bundesweit einheitliches Hygienesie-
Vielen Dank. gel.
(Beifall bei der LINKEN) Wer, wie der grüne Stadtrat in Pankow, einen Smiley
einführen will, der muss das mit erheblichen Rechtsunsi-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: cherheiten auf Eigeninitiative tun. Wir haben Ihnen aber
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Maisch vom hier einen grünen Entschließungsantrag zur Abstim-
Bündnis 90/Die Grünen. mung gestellt. Dem können Sie zustimmen. Damit ist die
Lösung des Problems zumindest auf den Weg gebracht.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben von Ilse Aigner gar keine mutigen Schritte
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu mehr Informationsfreiheit erwartet. Nehmen wir die
Frau Ministerin! Die Debatte um das Verbraucherinfor- Ausweitung der Informationsansprüche auf Unterneh-
mationsgesetz steht exemplarisch für Ilse Aigners Ver- men. Das ist ein dringend notwendiger Schritt. Niemand
braucherpolitik. Nur wenige Tage nach Veröffentlichung hat diese Notwendigkeit besser begründet als Staats-
des – so kann man es nennen – verheerenden Gutachtens sekretär Peter Bleser. Ich zitiere, was er an diesem Mitt-
über die Organisation des gesundheitlichen Verbraucher- woch im Ausschuss gesagt hat: Es zeugt von Naivität, zu
schutzes in Deutschland, das der Präsident des Bundes- glauben, dass ein Unternehmen freiwillig darüber Aus-
rechnungshofes erstellt hat, beweisen Sie mit diesem kunft geben wird, wo ein Fehler besteht. Das entspricht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17623
Nicole Maisch
(A) nicht der Lebenswirklichkeit. – Wahre Worte aus berufe- geben wird; einfachere Informationen, weil in Zukunft (C)
nem Mund, gesprochen an diesem Mittwoch. eine formlose E-Mail oder ein Anruf ausreichen werden,
um eine Anfrage beantwortet zu bekommen; schnelle In-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wo er recht formationen, weil wir die Einspruchsmöglichkeiten und
hat, hat er recht!) -fristen für Unternehmen optimieren. Hierbei nutzen wir
Dem muss man nicht mehr viel hinzufügen. Stimmen die verwaltungsrechtlich vorgesehenen Instrumente zur
Sie unserem Änderungsantrag auf Informationsansprü- Beschleunigung der behördlichen Verfahren und über-
che gegenüber Unternehmen zu und folgen Sie den wah- nehmen die seit Jahren bewährten Regelungen aus dem
ren Worten des Staatssekretärs. Umweltinformationsrecht. Unser Gesetz wird zu kosten-
günstigeren Informationen führen, weil erstmals alle An-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fragen bis 250 Euro vollständig kostenfrei sind – darüber
sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter haben wir schon gesprochen –, bei Anfragen zu Rechts-
Bleser [CDU/CSU]: Richtig!) verstößen sogar bis 1 000 Euro. Kein Verbraucher wird
Meine Damen und Herren, mit unseren Anträgen wol- sich in Zukunft von hohen Verwaltungskosten abschre-
len wir nicht weniger als eine neue Informationskultur cken lassen.
gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern er- Allerdings wird es in Zukunft nicht mehr möglich
reichen. Es geht um größtmögliche Transparenz und um sein, umfangreiche Recherchen kostenlos bei den Ver-
einfache, rechtlich abgesicherte Informationen für Ver- waltungen in Auftrag zu geben, die deren Arbeitskraft
braucher, aber auch für Medien und für die Verbände, auf Tage, Wochen und – wie es leider bei manchen An-
die im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher fragen in der Vergangenheit im Einzelfall geschehen ist
agieren. Ehrlich gesagt halte ich die Kostenregelung – auf Monate binden. Diese Kosten werden in Zukunft
– auch die Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und nicht mehr von der Allgemeinheit getragen, und das ist
Foodwatch verweisen darauf – für einen Schritt zurück. richtig so.
Das hätte man sich sparen können.
Mit dem runderneuerten Entwurf des Verbraucher-
Wir möchten einen Informationsanspruch gegenüber informationsgesetzes ist ein guter Balanceakt zwischen
Verwaltung und Unternehmen – Herr Bleser hat sehr Verbraucherinteressen auf der einen Seite und Wirt-
wortreich und sehr gut begründet, warum das notwendig schaftsinteressen auf der anderen Seite gelungen. Warum
ist –, und wir wollen Informationen zu allen verbrau- ist das für uns als christlich-liberale Koalition so wich-
cherrelevanten Bereichen, zu Produkten und zu Dienst- tig? Joseph Stiglitz, der Wirtschaftsnobelpreisträger aus
leistungen. Wir wollen einen Smiley, ein Kontroll- dem Jahre 2001 und frühere Ökonom der Weltbank, hat
barometer oder was auch immer. Wir wollen aktive gesagt:
(B) Informationen durch die Behörden und handhabbaren (D)
Vollzug, damit die Behörde vor Ort nicht ständig Angst Der informierte Verbraucher ist kein Feind der Pro-
haben muss, beklagt zu werden. duzenten, sondern ein wichtiger Partner im Markt-
geschehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Anders ausgedrückt: Der Verbraucher ermöglicht durch
Dies alles wird die Märkte verändern und echte Wahl- eine ausgewählte Kaufentscheidung erst den Wettbe-
freiheit ermöglichen. Dass Sie das nicht wollen, zeigt, werb. Ist der Kunde gut informiert, kann er Akteure am
dass Sie wieder einmal Wirtschaftskompetenz mit Markt belohnen und schwarze Schafe aus dem Markt
Lobbyismus für Unternehmensinteressen verwechselt verdrängen. Dieses Verhältnis von Verbrauchern und
haben. Das ist ziemlich schade. Herstellern ist Bedingung dafür, dass sich gute Produkte
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf unseren Märkten durchsetzen können und dass Un-
und bei der SPD) ternehmer weiterhin innovativ sein können.
Die Bedeutung von guter Information und freier
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kaufentscheidung wird auch in der Öffentlichkeit wie-
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil von der der hohes Ansehen erlangen, wenn der nächste Lebens-
CDU/CSU-Fraktion. mitteleklat oder der nächste Gammelfleischskandal die
Schlagzeilen beherrschen sollte. Wie war das in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ehec-Krise? Täglich verloren sorgsam und verantwort-
lich arbeitende Bauern gutes Geld, weil ein einzelner
Mechthild Heil (CDU/CSU): Biobetrieb mit Keimen verseuchte Sprossen aus Ägyp-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ten eingeführt hat. Genauso beim Dioxingeschehen: Ein
Kollegen! Mit dem neuen Verbraucherinformationsge- Produzent panscht, eine ganze Branche leidet, verliert
setz werden wir das Recht der Bürger und Bürgerinnen Millionen und muss das kriminelle Fehlverhalten eines
auf Information und auch auf selbstbestimmte Kaufent- Einzelnen ausbaden. Das ändern wir mit dem vorliegen-
scheidung stärken. Das Gesetz wird den Verbrauchern, den Gesetzentwurf.
die sich dafür interessieren, umfassende, einfache, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schnelle und kostengünstige Informationen bringen: um-
fassende Informationen, weil ihnen neben Informationen Mit diesem Gesetz wird es uns leichter gelingen, Pro-
zu Lebensmitteln und Kosmetika auch Auskunft über bleme möglichst frühzeitig zu benennen und dann die
Spielzeug, Haushaltsgeräte und technische Produkte ge- Öffentlichkeit, aber vor allen Dingen auch die Unterneh-
17624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Mechthild Heil
(A) men in der Branche zu informieren und damit letztlich Ihr Kollege hat aber gleich noch Gelegenheit, das zu sa- (C)
den Verbraucher zu schützen. Verbraucher und Wirt- gen.
schaft begegnen sich aufgrund des VIG zunehmend auf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Augenhöhe. So soll es sein.
Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Oh, da gäbe es
Der Gegenentwurf der SPD ist recht simpel. Verbrau- noch viel mehr zu sagen, Frau Heil!)
cherschutz ist Sozialpolitik. Das ist das neue Credo.
Unsere Alternative zur Bevormundung der Verbrau-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist nicht cher ist die Information und Stärkung der Souveränität
das neue Credo! Das ist selbstverständlich! der Verbraucher. Uns geht es bei der Novellierung des
Das haben Sie nur nicht begriffen!) VIG um eine Kultur der Transparenz – für die Wirtschaft
und für die Behörden.
Das haben Sie, Frau Drobinski-Weiß, die verbraucher-
schutzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, gegen- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das sieht man
über Hauptstadtjournalisten verkündet. Noch einmal: Ihrem Gesetzentwurf an!)
Verbraucherschutz ist für Sie Sozialpolitik. Die Internetseite www.lebensmittelwarnung.de war ein
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Etwa nicht?) erster Schritt. Das novellierte VIG wird ein weiterer
Baustein dieser Kultur sein.
Das SPD-Prinzip heißt salopp formuliert: Super-Nanny
statt Information und Entscheidungsfreiheit, Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben ein komisches
Verständnis von Sozialpolitik!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
keine Begegnung auf Augenhöhe, kein Wettbewerb, Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Kelber von der
aber eine Entmachtung der Verbraucher zugunsten des SPD-Fraktion.
Staates, eine Reduzierung auf ihre angebliche Hilflosig- (Beifall bei der SPD)
keit. Diesem Verbraucherbild werden wir uns nicht an-
schließen. Ulrich Kelber (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Die Reden der Kollegin Heil sind immer ein besonde-
[SPD]: Mein Gott, haben Sie ein Verständnis res Erlebnis. Heute haben wir zusammengefasst lernen
von Sozialpolitik! Das ist ja nicht aus dem dürfen: Sozialpolitik ist Entmündigung der Menschen.
(B) letzten, das ist aus dem vorletzten Jahrhundert! (Mechthild Heil [CDU/CSU]: Reduzierung (D)
Das ist Bismarck!) auf die Hilflosigkeit, um genau zu sein!)
Wären Sie ehrlich, Frau Drobinski-Weiß, würden Sie Vielen Dank für diese Erkenntnis, für die es tosenden
heute hier keine Kritik an unserem Gesetzentwurf üben, Beifall Ihrer Fraktion gegeben hat.
sondern Ihre Kritik an den A-Ländern, an den SPD-
geführten Ländern, formulieren. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wer über Verbraucherinformation spricht, sollte am
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das hatten wir Anfang über Grundsätze sprechen. Der erste Grundsatz
schon, Frau Heil! Das ist schon so alt!) ist: Alle Informationen, alle Daten, über die der Staat
Vielleicht wollen Sie Ihre Kritik noch einmal wieder- verfügt, gehören den Bürgerinnen und Bürgern. Das ist
holen. Ich kann aus einem Brief zitieren. Mit Erlaubnis die Auffassung der SPD. Das gilt natürlich gerade für
des Präsidenten darf ich zitieren: verbraucherrelevante Informationen wie Ergebnisse von
Hygieneprüfungen, wie Informationen über Verstöße ge-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das hatten wir gen das Lebensmittelrecht, über Datenmissbräuche, über
schon!) Gift in Spielzeug, aber auch über die Ergebnisse von Si-
Wir haben die Situation, dass die Bundesregierung cherheitsüberprüfungen.
verbraucherfreundlicher agiert als die A-Seite. Solange nicht unbeteiligte Dritte betroffen sind und
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das Ding ist solange nicht wirklich wichtige Geschäftsgeheimnisse
schon uralt! Das zitieren Sie jedes Mal!) betroffen sind – teilweise ist es lächerlich, was als Ge-
schäftsgeheimnis deklariert wird –, gelten drei einfache
Für die Zuhörer: Die A-Seite sind die SPD-regierten Regeln: volle Transparenz aller öffentlichen Daten, ein-
Länder. facher, möglichst kostenloser und schneller Zugriff –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schneller Zugriff, Herr Schweickert,
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das machen wir
Eine CSU-Ministerin hat einen verbraucherfreund-
doch!)
lichen Gesetzentwurf durchgesetzt, den die A-Län-
der zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zwei Wochen Einspruchsrecht, doppelte Prüfung
verwässern. etc. –
Sehr geehrte Kollegin, es wäre anständig gewesen, (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das kann doch
wenn Sie das auch heute, an dieser Stelle, gesagt hätten. verkürzt werden!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17625
Ulrich Kelber
(A) und als Regelfall die aktive Information durch die Be- eine besondere Eigenschaft hinweisen, die zum Beispiel (C)
hörden. Man darf die Daten nicht einheimsen und hof- sagen, sie hätten das beste oder sauberste Produkt, einen
fen, dass sich keiner danach erkundigt, damit man auf Auskunftsanspruch gegenüber den Bürgerinnen und
den Daten sitzen bleiben kann. Bürgern erfüllen müssen. Das ist doch normal: Wer et-
was verspricht, muss prüfen lassen, ob er sein Verspre-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen auch einhält. Wer das verweigert, verweigert Fair-
Keines dieser drei Ziele wird mit dem Gesetzentwurf ness zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und
von Schwarz-Gelb zur Änderung des Verbraucherinfor- Unternehmen, Frau Aigner.
mationsgesetzes erreicht. Frau Aigner, in der Tat – dies- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bezüglich ist richtig zitiert worden – haben wir uns in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
der Großen Koalition gemeinsam für die erste Novelle Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das macht jedes
des Verbraucherinformationsgesetzes – das ist das, was Unternehmen von sich aus, dass es Informatio-
heute ansteht – sehr viel mehr Punkte vorgenommen. nen nach vorne stellt!)
Das kann man in den Unterlagen von 2006 nachlesen.
Wo ist denn Ihr Schneid in dieser Frage abgeblieben? Sie Schwarz-Gelb will Journalisten und Nichtregierungs-
haben es sich in der PR-Ecke der Verbraucherpolitik sehr organisationen die Arbeit erschweren. Ich komme noch
gemütlich gemacht. einmal auf das Beispiel des Indoorspielplatzes zurück.
Ist es wirklich Ihr Verständnis, dass jeder einzelne Besu-
Warum beschränken Sie das VIG weiterhin auf Pro- cher eine Anfrage bezüglich des Indoorspielplatzes stel-
dukte? Das ist ein großer Fehler. len muss – jedenfalls wenn es einmal im Verbraucherin-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist ein gro- formationsgesetz stehen wird; jetzt ist es im
ßer Fortschritt, dass wir das machen!) Informationsfreiheitsgesetz – und dass er hoffen muss,
dass die Kosten unter 250 Euro bleiben? Ist es nicht viel-
Die Menschen erwarten doch auch Informationen über mehr normal, dass eine örtliche Zeitung, die über Aus-
Dienstleistungen, Finanzprodukte und, um ein anderes flugsziele informiert, eine entsprechende Abfrage zum
Beispiel zu nennen, über Testergebnisse bei Indoorspiel- Beispiel bei der Stiftung Warentest vornimmt,
plätzen. Es kann doch nicht Ihrem Verständnis entspre-
chen, dass die Bürgerinnen und Bürger jedes Mal, bevor (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Die Stiftung Wa-
sie einen Indoorspielplatz besuchen, mit Hinweis auf das rentest informiert doch!)
Informationsfreiheitsgesetz des Landes bei einer Be-
und zwar über alle Indoorspielplätze, und diese dann
hörde anfragen müssen, ob dort Erkenntnisse über Si-
veröffentlicht? Sie sagen: Das würde mehr Geld kosten,
cherheitsmängel bei dem Indoorspielplatz vorliegen, zu
(B) dem sie mit ihren Kindern fahren wollen. Warum dieser ihr müsstet dafür zahlen. (D)
Rückzieher gegenüber den Plänen der Großen Koali- (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Abonnieren Sie
tion? Dazu haben Sie, Frau Aigner, nichts gesagt und es doch!)
auch die Rednerinnen und Redner der Koalition nicht.
Das heißt, sie wollen die schnelle Information der Bür-
(Beifall bei der SPD) gerinnen und Bürger durch die Zivilgesellschaft er-
schweren. Ich empfinde das als unanständig.
Nach wie vor wird die aktive Information nicht der Re-
gelfall werden. Nach wie vor ist die Abwägungsklausel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
enthalten. Nach wie vor ist aus „sollen“ nicht „müssen“ der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
geworden. Haben die Verbraucherinnen und Verbraucher GRÜNEN)
etwa kein Recht, zu wissen, wer Haltbarkeitsdaten verän-
dert hat, wer Gammelfleisch weiterverkauft hat? Sind Frau Heil – ich erläutere dies, damit Sie es ver-
Täuschungen wirklich ein Geschäftsgeheimnis, Frau stehen –, Sie sprechen ja gerne über Anreize. Wenn eine
Aigner? Behörde alle Kosten, die ihr entstehen, auch dadurch,
dass sie ihre Daten schlecht organisiert hat, den anfra-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das sind sie genden Bürgerinnen und Bürgern oder Journalisten aufs
doch nicht! – Mechthild Heil [CDU/CSU]: Auge drücken darf, wo ist dann der Anreiz, diese Daten
Kommen Sie doch einmal in den Ausschuss, in eine neue, moderne und schnell abrufbare öffentlich
um zu diskutieren!) transparente Form zu übertragen? Schließlich müssen
die Bürgerinnen und Bürger die Kosten tragen. Das geht
Diese Einstellung kann ich nicht nachvollziehen.
so nicht.
Wer austeilt, muss auch einstecken können. Das gilt
auch für die Unternehmen. Es geht gar nicht um einen (Beifall bei der SPD – Dr. Erik Schweickert [FDP]:
allgemeinen Auskunftsanspruch der kleinen und mittle- Sollen jetzt alle EDV einführen?)
ren Unternehmen, der diese vielleicht überfordern Wir haben Ihnen in der Tat ein umfangreiches Paket
würde, mit ganz konkreten Änderungsvorschlägen vorgelegt.
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Man sollte nicht nur Die Hälfte davon war übrigens bereits zwischen CDU/
lesen, was andere einem vorlegen!) CSU und SPD vereinbart, auch mit dir, lieber Peter
Bleser; damals warst du Sprecher, heute bist du Staatsse-
sondern es geht darum, dass Unternehmen, die für ihre kretär. Aber man hat schon damals gemerkt, dass es
Dienstleistungen oder Produkte werben, indem sie auf nicht ehrlich gemeint war. Das musste auch Herr
17626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Ulrich Kelber
(A) Schweickert für die FDP feststellen, als er seine Vor- Mit diesen Verbesserungen im Lebensmittel- und Fut- (C)
schläge zurücknehmen musste. termittelrecht – die Ministerin hat es ausgeführt – ziehen
wir die Lehren aus der Dioxinproblematik, die uns zu
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das war rechts-
Beginn des Jahres beschäftigt hat. Wir setzen damit den
systematisch!)
Dioxin-Aktionsplan vom Januar und die Erklärung der
Ein solches neues Verbraucherinformationsgesetz Verbraucherschutz- und Agrarminister von Bund und
würde eine Gesamtkonzeption für den Verbraucher- Ländern um.
schutz bilden. Derzeit wird eine Gesamtkonzeption
Der Umgang der Opposition mit der Situation war
durch die Ministerin, ihr Themen-Hopping und ihre Ka-
wieder einmal typisch. Statt zur Aufklärung über die Be-
merasucht verhindert. Man kann Wetten darauf abschlie-
lastung beizutragen, wurde einfach auf die Pauke ge-
ßen: Wenn morgens der Verbraucherzentrale Bundesver-
hauen. Es war damals schon eine Unverschämtheit
band eine Forderung erhebt, dann gibt es am Nachmittag
– heute wissen wir es genau –, in diesem Zusammen-
eine Pressemitteilung von Frau Aigner, in der sie Kolle-
hang den Rücktritt der Ministerin zu fordern.
gen, Bundesländern oder Unternehmen einen Vorschlag
macht, was diese tun sollen. Wir warten darauf, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
das tun, was in Ihrem eigenen Schwerpunktbereich liegt. neten der FDP)
Sie sollten keine Ankündigungsministerin sein, sondern
eine Tatenministerin. Nicht der Einzelfall – und es war ein Einzelfall – wurde
diskutiert, sondern Panik verbreitet.
(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
CSU: Oh!) (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Welcher Ein-
zelfall? Dioxin: 45 Tote!)
Auch diese Novelle führt in die falsche Richtung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Herr Kollege Rief, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Rief [CDU/CSU]: So ein Unsinn!) des Kollegen Kelber?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Josef Rief (CDU/CSU):


Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Ich glaube, der Erkenntnisgewinn ist am Ende des
jetzt das Wort der Kollege Josef Rief von der CDU/ Gesetzgebungsverfahrens nicht so hoch. Vielleicht sage
CSU-Fraktion. ich noch das, wonach Sie fragen möchten.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Christoph Poland [CDU/CSU]: Sehr gut!) (D)
Man könnte sich als Bürger die Hände reiben und
Josef Rief (CDU/CSU): dem Schauspiel vergnügt zusehen, wären nicht den deut-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen schen Landwirten und dem vor- und nachgelagerten Be-
und Herren! Der hier vorgelegte Entwurf eines Gesetzes reich Schäden in Höhe von rund 0,5 Milliarden Euro ent-
zur Änderung des Verbraucherinformationsgesetzes und standen. Allein in meinem Wahlkreis Biberach waren es
zu Weiterentwicklungen des Lebensmittel- und Futter- mehrere Millionen Euro aufgrund von Schäden, die
mittelgesetzbuches zeigt die Handlungsfähigkeit der Ko- durch Preisverfall, etwa bei Fleischprodukten, hervorge-
alition. rufen wurden. Diese Schäden lassen sich auf die Panik-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mache der Opposition zurückführen. Das geht so nicht!
Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben nur ein Jahr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gebraucht für kaum Veränderung! Das ist su- neten der FDP)
per!)
Meine Damen und Herren von den Grünen,
Der Verbraucherschutz in Deutschland ist ein emotional
sehr geladenes Thema. Emotionen ersetzen aber keine (Ulrich Kelber [SPD]: Heute teilen Sie aber
fachliche Kompetenz. aus!)
Wir haben eine erkenntnisorientierte Politik in der Sa- hier bestand zu keiner Zeit auch nur eine geringe Mög-
che zu machen. Die Opposition gibt sich Extremforde- lichkeit, dass Menschen gefährdet sein könnten. Man
rungen von einem hoch aufgeheizten Teil einzelner Inte- kann nur hoffen, dass die Auswirkungen von Ehec etwas
ressengruppen hin. Wir unterscheiden – anders als Demut gelehrt haben. Hier sind bedauerlicherweise
manche von Ihnen – nicht zwischen guten und schlech- Menschen zu Schaden gekommen, und wir mussten so-
ten Lobbyisten, sondern wir nehmen Verbraucherschutz gar Todesopfer beklagen. Mir tut auch dieser biologisch
sehr ernst und gehen mit dem Informationsbedürfnis der wirtschaftende Betrieb leid. Nach allem, was wir wissen,
Verbraucher konstruktiv um. trifft ihn keine Schuld. An diesen Auswirkungen sehen
Sie, wie unglaublich daneben Ihre Kampagne im Dio-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
xinfall war.
Ulrich Kelber [SPD]: Dass wir diese extremis-
tischen Organisationen wie die Stiftung Wa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
rentest unterstützen, ist ganz schlimm! Ich Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schäme mich dafür!) NEN]: Dioxin ist ungefährlich, oder was? –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17627
Josef Rief
(A) Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Da wird ap- treten als auch die Ministerin. Der Vorschlag der Minis- (C)
plaudiert? Der ist ja menschenverachtend, euer terin – der erste, Frau Aigner, es gab ja noch mehrere da-
Applaus!) nach – besagte, sie möchte eine neue Selbstverpflichtung
der Industrie.
Mit den heutigen Änderungen stellen wir die Futter-
mittelbranche nicht unter Generalverdacht. Wir kommen (Ilse Aigner, Bundesministerin: Das ist
vielmehr den berechtigten Informationswünschen der falsch!)
Endverbraucher nach. Denn eines ist sicher: Ein Unter-
Ein Punkt abgeschlossen.
nehmer, der vorsätzlich gesetzwidrig handelt, wird dies
niemals freiwillig preisgeben. Wir haben aber Mechanis- Die SPD hat in Absprache mit den Bundesländern ein
men geschaffen, die es schwarzen Schafen künftig sehr 15-Punkte-Paket vorgeschlagen. Von diesen 15 Punkten
viel schwerer machen. Es ist niemandem gedient und es finden Sie 14 zum Teil wortgleich in dem Beschluss der
schadet auch dem Ansehen dieses Hauses, wenn Ver- Länder mit dem Bund wieder, weil diese Punkte natür-
braucherschutz für parteitaktische Spielchen miss- lich von unseren Ländern dort eingebracht wurden.
braucht wird.
Wenn aber alle beschlossenen 14 Punkte ursprünglich
(Zurufe von der SPD: Oh! – Ulrich Kelber von der SPD vorgeschlagen worden waren –
[SPD]: Davon sind Sie natürlich weit entfernt!
Reine Unschuld am Rednerpult!) (Zurufe von der CDU/CSU: Hä?)

Beim Verbraucherschutz ist schlichtes Abwägen gefor- alle 14 Punkte, die Länder und Bund später beschlossen
dert und nicht immer weitergehende Forderungen, wenn haben, waren am ersten Werktag nach Bekanntwerden
der Verbraucherschutz gerade erst weiter verbessert des Dioxinskandals Teil von 15 Punkten der SPD –,
wurde. dann möchten Sie mir doch bitte erklären, wo wir für
Hysterie gesorgt haben sollen, wenn Sie unsere Vor-
Auch die Forderungen der SPD sind hier nicht sach- schläge beschließen. Dann hätten Sie ja unsere Hysterie
gerecht. übernommen.
(Zuruf von der SPD: Noch nicht mal gelesen!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich sehe schon den Tag, an dem in jeder kleinen Bäcke- Kollege Rief, Sie können erwidern.
rei an jedem Brötchen ein Zettel hängt, auf dem der
CO2-Fußabdruck, eine Ampel und ein Smiley stehen und
zusätzlich, wer den Weizen angebaut und wer das Mehl Josef Rief (CDU/CSU):
transportiert hat. Der Zettel ist dann so groß, dass man Herr Kelber, ich habe mich auf das bezogen, was am
(B)
das Brötchen mehrfach einpacken könnte, und teurer als Abend des 11. Januar in einer Sondersitzung des Aus- (D)
das Produkt selbst. Das wird es mit uns nicht geben. schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Christoph Poland [CDU/CSU]: Sehr gut! Das (Ulrich Kelber [SPD]: Mit unserem
war ein gutes Beispiel!) 15-Punkte-Plan!)
Verbraucherinformation ist gut und richtig. Sie muss von Teilen der Opposition gefordert wurde: der Rücktritt
aber praxistauglich und marktgerecht sein sowie vom der Ministerin. Das war nicht hinnehmbar, das war hoff-
Kunden und nicht nur von einzelnen Interessengruppen nungslos daneben, das war weit überzogen, weil die
nachgefragt werden. Ministerin sich keinerlei Schuld aufgeladen hatte. Da-
rauf habe ich mich bezogen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist keine Bierzeltrede!
Da muss auch mal ein Argument dazu!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind doch noch nicht
Dem trägt unsere Politik mit diesem Gesetz Rechnung. fertig, oder? – Gegenruf von der CDU/CSU:
Vielen Dank. Doch! Für diese Frage reicht das!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Der Herr Kollege Kelber möchte eine Kurzinterven- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
tion machen, weil ihm eine Zwischenfrage abgelehnt desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
worden ist. Bitte schön, Herr Kelber. rung des Rechts der Verbraucherinformation. Der Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Ulrich Kelber (SPD):
Drucksache 17/7993, den Gesetzentwurf der Bundesre-
Die Zwischenfrage wollte ich vorhin nur stellen, weil
gierung auf Drucksache 17/7374 in der Ausschussfas-
gesagt wurde, wir hätten damals in dem Dioxinskandal
sung anzunehmen.
für Hysterie gesorgt. Es ging um direkte Ansprache. –
Ich mache einen kurzen Faktencheck: Am ersten Werk- Hierzu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion
tag nach Bekanntwerden des Dioxinskandals ist sowohl Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-
die SPD mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit ge- men.
17628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Änderungsantrag auf Drucksache 17/8019. Wer b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole (C)
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger,
Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der NIS 90/DIE GRÜNEN
Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Verbraucherrecht auf Basisgirokonto für je-
Änderungsantrag auf Drucksache 17/8020. Wer dermann gesetzlich verankern
stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Än- – Drucksache 17/7954 –
derungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
bei Enthaltung der Linken. Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Änderungsantrag auf Drucksache 17/8021. Wer Verbraucherschutz (f)
stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ser Änderungsantrag ist wiederum abgelehnt mit den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Federführung strittig
der Oppositionsfraktionen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
das so beschlossen.
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- ner dem Kollegen Dr. Carsten Sieling von der SPD-
men der Oppositionsfraktionen. Fraktion das Wort.
Dritte Beratung (Beifall bei der SPD)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dr. Carsten Sieling (SPD):
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. legen Ihnen heute einen Antrag vor, mit dem wir Sozial-
demokraten erreichen wollen, dass die Menschen in un-
Wir stimmen jetzt über die Entschließungsanträge ab. serem Lande gleichberechtigt die Möglichkeit haben, am
Geldverkehr teilzunehmen und Bankdienstleistungen in
(B) Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf (D)
Anspruch zu nehmen. Man muss wissen, dass insgesamt
Drucksache 17/8022. Wer stimmt dafür? – Dagegen? – 670 000 Menschen in diesem Land keine Möglichkeit
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt haben, ein Girokonto zu bekommen, und damit von vie-
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustim- lem ausgeschlossen sind. Das ist etwas, das wir ändern
mung der SPD und der Linken und Enthaltung der Grü- wollen.
nen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Drucksache 17/8023. Wer stimmt dafür? – Gegenstim- LINKEN)
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Dieses Thema ist nicht neu – keineswegs. Seit 1995
Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. gibt es Versuche, hier eine Veränderung herbeizuführen.
Ende Dezember dieses Jahres wird die Bundesregierung
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die zum Girokonto für jedermann, wie es heißt, den mittler-
Grünen auf Drucksache 17/8024. Wer stimmt dafür? – weile sechsten Bericht seit 2002 vorlegen. 1995 haben
Dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag sich die Banken selbst verpflichtet, allen Menschen, die
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis abgelehnt. dies wollen, ein solches Konto anzubieten. Die Lage ist
ernüchternd; die Zahlen, wie viele Menschen von dieser
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a und b auf:
Möglichkeit nach wie vor ausgeschlossen sind, habe ich
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD genannt. Es wird schlicht verweigert, den Menschen ein
solches Konto einzurichten. Natürlich wird dieses Recht
Recht auf ein Guthabenkonto einführen – vor allem Leuten, die überschuldet sind, verwehrt.
Kontopfändungsschutz sichern
Man muss sich die Situation vor Augen führen: Wenn
– Drucksache 17/7823 – Weihnachten vor der Tür steht, stehen auch Weihnachts-
Überweisungsvorschlag: einkäufe vor der Tür. Ich vermute, die meisten, die in
Finanzausschuss (f) diesem Raum sitzen, verfügen über eine Kreditkarte und
Rechtsausschuss (f) haben beim Einkauf, auch wenn sie kein Bargeld bei
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sich haben, gar keine Probleme. Wahrscheinlich hat je-
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
der von Ihnen die Möglichkeit, mit seiner EC-Karte
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Geld an einem Automaten abzuheben und Rechnungen
Federführung strittig online zu bezahlen. Das ist für einen großen Teil unserer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17629
Dr. Carsten Sieling
(A) Bevölkerung nicht möglich. Diese Menschen müssen lich der Basisfunktionen zu bekommen. Zweitens. Der (C)
mit Bargeld ausgestattet einkaufen gehen. Wenn sie eine Preistreiberei bei den Pfändungsschutzkonten, den soge-
Rechnung bekommen, müssen sie in einer Bank eine nannten P-Konten, indem gerade von den Menschen, die
Überweisung vornehmen. Das Problem, das im Zusam- die größten Schwierigkeiten haben, erhöhte Gebühren
menhang mit Überweisungen und Einzahlungen in Ban- verlangt werden, muss gesetzlich Einhalt geboten wer-
ken besteht, ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn den. Drittens brauchen wir natürlich auch eine funktio-
Menschen kein Konto haben, bedeutet dies für sie, dass nierende und aktive Schuldnerberatung; das wird in den
sie keine Zeitung abonnieren können, dass ihre Miete Ländern umgesetzt werden müssen. – Diese drei Dinge
nicht automatisch eingezogen wird und dass es für sie gehören zusammen, um einem großen Teil der Men-
– das betrifft die Vertragsebene – praktisch unmöglich schen in diesem Lande eine Perspektive zu geben. Ich
ist, einen Handyvertrag abzuschließen oder andere hoffe, dass wir mit unserem Antrag die Probleme lösen
Dinge, die im heutigen Leben, wie ich glaube, ganz nor- können, und werbe um Ihre Unterstützung.
mal sind, anzuschaffen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Warum ist das alles so schwierig, und wodurch wird DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay
die Situation zusätzlich erschwert? Jeder, der schon ein- [DIE LINKE])
mal eine Einzahlung vorgenommen hat, ohne über ein
Konto zu verfügen, weiß, dass pro Überweisung 10, Ich sage das natürlich insbesondere in Richtung der Ko-
manchmal sogar 20 Euro Gebühren anfallen. Ich will alition, weil es wichtig ist, dass wir an diesem Punkt
deutlich machen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ge- nicht in Attentismus verharren. Es muss gehandelt wer-
rade den Menschen, die kein oder wenig Geld haben, den; denn alle Menschen in diesem Lande sollen wissen –
entstehen dadurch Extrakosten. Das muss geändert wer- vielleicht gerade auch in den letzten Wochen dieses Jah-
den. Deshalb schlagen wir vor, endlich Nägel mit Köp- res –, dass es uns darum geht, die Menschen gleichzube-
fen zu machen. handeln.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Rührend, Herr
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sieling!)
LINKEN)
– Herr Brinkhaus, da Sie so fröhlich dazwischenrufen:
Das ist ein Prozess, bei dem schon viele Wege be- Sie sind ja bekannt als jemand, der bei seinen Reden
schritten wurden und der schon sehr lange andauert. Man zwei Herzen in der Brust hat.
ist der Kreditwirtschaft sehr weit entgegengekommen.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es schon 1995 (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
(B) (D)
eine freiwillige Vereinbarung gegeben hat. Passiert ist
aber wenig bzw. nichts. Bestenfalls die Sparkassen haben Auf der einen Seite ist es Ihnen durchaus gegeben, sach-
reagiert. Man hat daher einen zweiten Versuch unternom- lich, an den Fakten orientiert zu argumentieren. Selten
men und die Verabredung getroffen, das sogenannte treten Sie hier mit eher – ich darf das einmal salopp for-
Pfändungsschutzkonto einzuführen. Damit möchte man mulieren – ideologiegeschwängerten Reden auf.
für eine Kostenreduktion sorgen und dazu beitragen, dass
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ist das jetzt
sich – quasi im Gegenzug – auf freiwilliger Basis etwas
das Wort zum Jahresende, Herr Sieling? –
bewegt. Aber es hat alles nichts genützt. Es hat keine Än-
derung gegeben. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, gesetz- Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
lich zu reagieren. Das ist der Vorschlag, den wir in unse- Herr Kollege, ich würde mir wünschen, dass Sie heute
rem Antrag machen. – Sie haben gleich die Gelegenheit dazu – Ihre sachliche
(Beifall bei der SPD) Ader entfalten

Es ist nicht etwa so, dass wir hier über ein rein deut- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt provozie-
sches Problem reden. Die EU-Kommission hat gerade ren Sie mich aber! – Stefan Müller [Erlangen]
eine Mitteilung zu diesem Thema auf den Weg gebracht. [CDU/CSU]: Er ist immer sachlich! –
Das ist nämlich ein europaweites Problem. Es wäre gut, Dr. Daniel Volk [FDP]: Ich habe den Kollegen
wenn wir in Deutschland eine klare Regelung treffen Brinkhaus niemals anders als sachlich erlebt!)
und auf diesem Gebiet voranschreiten würden. Dazu ge-
und gerade vor Weihnachten deutlich machen, dass Ihre
hört, dass wir zu dem, was auf europäischer Ebene erar-
Koalition diesen richtigen Weg unterstützt. Vielleicht
beitet wird, Stellungnahmen abgeben und entsprechende
können Sie dann fröhlich – mit dem Gedanken an ein
Botschaften formulieren.
Girokonto für alle – „Es ist ein Ros entsprungen“ singen.
Wir als SPD legen Ihnen mit diesem Antrag als Erste Es wäre gut, wenn wir heute, kurz vor dem 2. Advent,
ein umfassendes Konzept zu diesem Thema vor. den Anfang machen würden.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Über- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
treiben Sie mal nicht!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Drei Punkte daraus möchte ich nennen: Erstens. Jeder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
muss die Möglichkeit haben, ein Girokonto einschließ- Abg. Caren Lay [DIE LINKE])
17630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen aufgeschrieben. Diese Positionen werden von uns in (C)
Damit hat der Kollege Ralph Brinkhaus das Wort, der einem erheblichen Umfang geteilt; das ist überhaupt
ja schon die inhaltlichen Vorgaben geliefert bekommen keine Frage. Wir werden sie auch in das parlamentari-
hat. sche Verfahren einbeziehen, und wir hoffen, dass wir da
zu einem guten Ende kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was sind Ihre Positionen im Einzelnen? Die SPD
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): möchte, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt,
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich werde Ihnen einen dass jedermann unter zumutbaren Bedingungen Zugang
Gefallen tun: Ich werde garantiert nicht singen. Ich zu einem Girokonto hat. Sie möchte eine europäische
glaube, das wäre das Schrecklichste, was ich Ihnen antun Harmonisierung dieser Regelung. Die Grünen fordern in
könnte. Ergänzung dazu mehr Transparenz in diesem Prozess
und die Offenlegung der maßgeblichen Zahlen. Das ist
Meine Damen und Herren! Es ist tatsächlich ein erns- alles gut und richtig.
tes Thema. Wenn man in der heutigen modernen Welt
nicht bargeldlos zahlen kann, ist das schlecht. Man hat Ich will unsere Bewertung dazu relativ kurz ausfüh-
an bestimmten Dingen keine Teilhabe, und – Herr ren. Erstens. Ein Gesetz zu erlassen, wenn irgendetwas
Sieling, Sie haben das erwähnt – es macht das Leben nicht klappt, ist immer die Ultima Ratio. Wir sollten also
ziemlich umständlich. Dementsprechend ist es schon le- schauen, ob es tatsächlich notwendig ist, diesen Bereich
gitim, zu fordern, dass die Menschen, wenn irgendwie auf eine gesetzliche Ebene zu hieven. Die Antwort auf
möglich, Zugang zu einem Girokonto haben. diese Frage haben wir noch nicht gegeben. Das heißt,
wir werden das im parlamentarischen Verfahren prüfen.
Man kann nun schauen, wie das im KWG, im Kredit- Zweitens. Auch wir sind immer dafür, das, was sich auf
wesengesetz, geregelt ist. Im Bürgerlichen Gesetzbuch europäischer Ebene entwickelt, möglichst auch in
gibt es dazu keine Regelung; in einigen Sparkassenge- Deutschland zu übernehmen. Es wäre also nicht klug,
setzen – in genau acht – gibt es dazu eine Regelung. zwei Dinge auf einmal zu machen. Dies gilt es meines
Erachtens zu beachten.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau!)
Man sollte sich eigentlich die Frage stellen: Warum nicht Ein weiterer Punkt, den Sie angesprochen haben, be-
in allen? Ist es nicht Teil der Legitimation der Sparkas- trifft das Pfändungsschutzkonto. Dies haben wir noch in
sen, allen Menschen ein entsprechendes Konto zur Ver- der Großen Koalition auf den Weg gebracht. Wir haben
fügung zu stellen? Dementsprechend kann man durchaus dabei den Sachverhalt aufgegriffen, dass gerade die
Menschen, denen ein Konto gepfändet wird, oftmals ein
(B) einmal nachfragen, ob hier alles richtig läuft. Problem damit haben, ihr Konto zu behalten. Auch bei (D)
Wir haben eine Rechtsprechung zu diesem Thema. Es ihnen besteht die Gefahr, ihr Konto zu verlieren. Also
gibt Urteile, die den Kontrahierungszwang bestätigen: hat man die Möglichkeit zur Einrichtung eines Pfän-
Banken müssen diese Konten eröffnen, wenn es zumut- dungsschutzkontos geschaffen.
bar ist. – Auf europäischer Ebene gibt es die Empfeh-
lung, kontolosen Menschen ein Girokonto zur Verfü- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das war ja auch
gung zu stellen. Die Europäische Kommission arbeitet gut!)
an einer Initiative, so etwas gesetzlich auf den Weg zu Das war erst einmal gut. Es gibt aber zwei Probleme,
bringen. Darüber hinaus – Sie haben es angesprochen – die uns das Leben ein wenig schwer machen könnten.
hat der Zentrale Kreditausschuss eine Empfehlung abge- Das erste Problem ist, dass die Pfändungsschutzkonten
geben. Es gibt auch eine entsprechende Bundesratsinitia- – diesbezüglich haben uns einige Informationen erreicht;
tive. es ist allerdings empirisch nicht flächendeckend nachge-
Wo ist das Problem? Das Problem ist, dass die Bun- wiesen – teilweise mit zu hohen Entgelten belegt worden
desregierung in ihrem Bericht von 2008 attestiert hat sind. Das geht nicht; denn Menschen, die kein Geld ha-
– die Veröffentlichung des nächsten Berichts wird sich ben, können in dieser Situation keine Entgelte für ihr
übrigens wegen der Problematik des Pfändungsschutz- Konto zahlen. Das zweite Problem ist, dass die Informa-
kontos verzögern –, dass es in Deutschland eine sechs- tion über diese Pfändungsschutzkonten vielleicht etwas
stellige Zahl von Menschen gibt, die gegen ihren Willen besser hätte sein können. Auch das hat die SPD in ihrem
– das ist ganz wichtig – kein Konto haben. Man muss re- Antrag – die Grünen haben es nicht getan – adressiert.
alistischerweise sagen, dass nicht alle Menschen gegen Sie haben deswegen vorgeschlagen, dass man eine Ent-
ihren Willen kein Konto haben; es gibt durchaus auch geltbegrenzung für diese Pfändungsschutzkonten auf
andere Gründe, kein Konto zu haben. Insofern sollte den Weg bringt und dass man durch eine verstärkte
man die Zahlen entsprechend bewerten. Schuldnerberatung besser informiert.
Wir haben durchaus den Anspruch, das, was dieser Auch dazu will ich eine Bewertung abgeben: Erstens.
Bericht enthält, parlamentarisch umzusetzen und gege- Auch hier warten wir den Bericht der Bundesregierung
benenfalls in gesetzliche Initiativen münden zu lassen. ab. Wir verfolgen sehr genau, wie sich die Entgeltpolitik
im Bereich der Pfändungsschutzkonten entwickelt.
Sie haben diesem Verfahren vorgegriffen; das ist Ihr
gutes Recht als Opposition. Sie haben – das gilt nicht nur (Kerstin Tack [SPD]: So lange regieren Sie
für die SPD, sondern auch für die Grünen – Ihre Positio- nicht mehr!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17631
Ralph Brinkhaus
(A) Zweitens. Wir sehen mit großer Skepsis, dass – so die ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
sprechende Rechtsprechung – solche Konten mit einem Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
angemessenen Entgelt belegt werden dürfen. Da müssen legin Caren Lay.
wir gesetzlich eingreifen. Aber auch da muss man abwar-
ten, was passiert. (Beifall bei der LINKEN)

In einem Punkt besteht Dissens. Sie fordern die Län- Caren Lay (DIE LINKE):
der auf, die Schuldnerberatung weiter zu verstärken. Es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
ist die sozialdemokratische Art der Problembewältigung, Herren! Heute ist in der Tat der Nachmittag des Verbrau-
mehr Menschen im sozialen Bereich zu beschäftigen und cherschutzes. Die Koalition hat heute insgesamt dreimal
so mehr Kapazitäten zu schaffen. die Möglichkeit, die Rechte der Verbraucherinnen und
(Kerstin Tack [SPD]: Was ist denn Ihr Vor- Verbraucher deutlich zu stärken. Beim vorangegangenen
schlag?) Tagesordnungspunkt hat sie ihre Chance leider vertan.
Wir hoffen, dass sie bei diesem und beim übernächsten
Das lehnen wir prinzipiell ab. Im Übrigen sind wir für Tagesordnungspunkt klüger agieren wird.
die Länder nicht zuständig.
Meine Damen und Herren, können Sie sich ein Leben
Herr Sieling, ich komme jetzt zum emotionalen Teil ohne Bankkonto vorstellen? Das Girokonto ist aus dem
meines Beitrags; das muss ich hier auch noch einpfle- Alltag kaum wegzudenken. Egal ob es um die Aufnahme
gen. Es gehört zu Ihrer Klientelpolitik, möglichst viel einer Erwerbstätigkeit, die Überweisung der Miete, die
Beschäftigung im sozialen Raum zu schaffen. Begleichung von Strom- und Handyrechnungen oder um
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ein Quatsch!) das Zahlen von Versicherungsbeiträgen geht, ein Giro-
konto wird vorausgesetzt. Es ist für die übergroße Mehr-
Ich halte das aber für untauglich. heit der Menschen auch völlig normal, im Supermarkt,
Insgesamt gesehen, kann man sagen, dass wir in vie- im Restaurant oder an der Tankstelle mit Karte zu zah-
len Punkten übereinstimmen. Wir werden das Vorhaben len.
verantwortungsvoll begleiten und werden ein gut verlau- Können Sie sich vorstellen, dass über 670 000 Haus-
fendes parlamentarisches Verfahren aufsetzen, das die halte in Deutschland davon ausgeschlossen sind, dass
Bundesregierung unterstützen wird. Menschen ohne Bankkonto leben müssen? Das bedeutet
Lassen Sie mich im Vorgriff auf die noch folgenden nicht nur Benachteiligung bei der Arbeits- und Woh-
Beiträge sagen: Ich halte den Versuch der Opposition, nungssuche. Es kommen auch hohe Extrakosten hinzu.
Deutschland verbraucherschutzpolitisch immer wieder Jede Bareinzahlung kostet – je nach Anbieter – zwischen
(B)
als Entwicklungsland darzustellen, für untauglich. Sie 5 und 15 Euro. Das heißt, Erwerbslose bekommen zuerst (D)
zeichnen ein Bild von der Verbrauchersituation in kein Konto und müssen dann für eine Barüberweisung
Deutschland, das der Realität in keiner Weise entspricht. extra zahlen. Das ist wirklich absurd. Es wird höchste
Sie sprechen verharmlosend in Ihren Anträgen davon, Zeit, dass wir das abstellen.
das alles sei notwendig. Nein, Sie machen Parteipolitik (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
und versuchen, ein Feld aufzumachen
Vor allem überschuldete Verbraucherinnen und Verbrau-
(Burkhard Lischka [SPD]: Fragen Sie doch
cher haben Probleme, ein Girokonto zu eröffnen. Das
mal die Betroffenen!)
heißt, wer ohnehin knapp bei Kasse ist, wird zusätzlich
und dort Probleme zu generieren, wo es keine gibt. Die belastet. Wir als Linke halten das für sozial ungerecht
meisten Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch- und unzumutbar.
land – das gilt auch für den Finanzdienstleistungs-
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat in der Tat
bereich – sind mit dem, was sie haben, zufrieden.
bislang keinen Schritt unternommen, diesen skandalösen
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber natür- Zustand zu beenden. Es gibt bereits seit 15 Jahren eine
lich!) freiwillige Selbstverpflichtung in Deutschland, dass
Kreditinstitute ein Girokonto für alle anbieten sollen.
Es ist schlichtweg eine Mär, dass die Bundesregierung
Das Ergebnis ist aber: Seit 15 Jahren funktioniert das
auf diesem Feld nichts macht. Wir haben allein im letz-
nicht. Diese Selbstverpflichtung ist schlichtweg albern.
ten halben Jahr zwei Gesetze dazu auf den Weg ge-
Herr Kollege Brinkhaus, ein Gesetzentwurf in dieser Sa-
bracht; ich möchte auch die Umsetzung der OGAW-IV-
che ist daher nicht die Ultima Ratio, sondern längst über-
Richtlinie nennen.
fällig.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Die christlich-
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
liberale Koalition und die von ihr getragene Bundesre-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
gierung haben im Bereich Verbraucherschutz mit Blick
GRÜNEN)
auf den Finanzdienstleistungsbereich mehr getan als
viele Regierungen zuvor. Das gilt es hier und heute am Noch einmal zur Verbraucherpolitik der Bundesregie-
Freitagnachmittag anzuerkennen. rung. Die Frankfurter Rundschau hat vor ein paar Mona-
ten über folgenden Vorgang berichtet: Die Europäische
Vielen Dank.
Kommission wollte das Recht auf ein Basiskonto im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rahmen einer rechtsverbindlichen Verordnung veran-
17632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Caren Lay
(A) kern. Auf Drängen der Bundesrepublik Deutschland (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da bin ich (C)
wurde aus einer rechtsverbindlichen Verordnung dann nicht mehr da!)
lediglich eine Empfehlung. So sieht schwarz-gelbe Ver-
Wir Linke sagen, dass pro Person ein Girokonto auto-
braucherpolitik aus. Sie hat ihren Namen nicht verdient.
matisch pfändungsgeschützt sein muss. Nur so ist die
(Dr. Daniel Volk [FDP]: So sieht Subsidiarität Stigmatisierung, die mit der Beantragung eines P-Kon-
aus, Frau Kollegin!) tos bisher einhergeht, zu verhindern.
Sie hätten hier die Möglichkeit gehabt, zu einer wir- Die Bundesregierung muss aus unserer Sicht endlich
kungsvollen gesetzlichen Regelung beizutragen. Aber handeln. Sie muss die Banken zwingen, ein Girokonto
Sie haben sie sogar verhindert. Wenn Sie sich nun rüh- für jeden Bürger und für jede Bürgerin anzubieten.
men, im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes
viel erreicht zu haben, dann kann ich nur sagen: Das ent- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
behrt jeglicher Grundlage. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
[CDU/CSU]: Dann reden wir doch mal über Für die FDP spricht jetzt der Kollege Dr. Daniel Volk.
die Sachen, die wir gemacht haben! Aber das
steht wahrscheinlich nicht in Ihrem Skript! Da (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sind Sie nicht informiert!)
– Ich habe zuvor alle Initiativen der Bundesregierung im Dr. Daniel Volk (FDP):
Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes – so viele Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten
sind es nicht – angesprochen. Damen und Herren! Frau Lay, was Sie gerade dargelegt
haben, hat ziemlich deutlich gezeigt, dass wir in diesem
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war eine Bereich Probleme haben,
Menge! Dann sollten Sie auch wissen, was da
Gutes umgesetzt worden ist!) (Caren Lay [DIE LINKE]: Ja!)
Ich bleibe bei meiner Aussage. dass wir aber einige Probleme nicht einfach mit einer
plumpen gesetzlichen Regelung werden ändern können.
Kommen wir zum P-Konto. Es freut mich, zu hören,
dass auch Ihnen bekannt ist, dass dies kein optimales In- (Caren Lay [DIE LINKE]: Was haben Sie
strument ist. denn anzubieten?)

(B) (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das Instru- Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. (D)
ment ist optimal! Wir haben es eingeführt, Ich bin immer sehr zurückhaltend, den Bürgerinnen
nicht Sie!) und Bürgern dieses Landes zu sagen: Wenn wir ein Ge-
Es gibt sehr viele Probleme mit dem P-Konto. Wer Pfän- setz machen, haben wir das Problem gelöst.
dungsschutz beantragt, der wird teilweise mit der Kündi- (Kerstin Tack [SPD]: Sondern? Was ist denn
gung seines Kontos bestraft. Wer ein P-Konto eingerich- Ihr Vorschlag?)
tet bekommt, dem werden bestimmte Basisleistungen
gestrichen. Kreditinstitute verwehren dann beispiels- Man sollte sich das Problem etwas genauer anschauen,
weise kostenloses Onlinebanking, sperren Kreditkarten um zu sehen, wo wir Änderungen vornehmen müssen
und streichen Daueraufträge. Auf all diese Probleme ma- oder wo es möglicherweise auf der jetzigen gesetzlichen
chen die Verbraucherverbände seit langem aufmerksam. Grundlage schon Verbesserungen gibt.
Es ist daher dringend notwendig, das zu regeln.
(Kerstin Tack [SPD]: Quatsch!)
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist klar, dass das Girokonto für die heutige Teil-
Das Girokonto für alle muss jedem Menschen unab- nahme am Wirtschaftsverkehr unerlässlich ist; das ist
hängig von seiner finanziellen Situation zur Verfügung keine Frage. Klar ist auch, dass wir mit dem Pfändungs-
stehen. Das ist unsere Position als Linke. Es muss ein schutzkonto schon einen deutlichen Schritt nach vorne
Verbraucherrecht auf ein kostenloses Girokonto für alle gemacht haben. Damit besteht eine sehr gute Einrich-
geben; denn für Hartz-IV-Bezieher sind 3 Euro schon tung. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis neh-
jede Menge Geld. men, dass die gesetzliche Verpflichtung der Banken, für
jedermann ein Konto einzurichten, in einigen Bundes-
Selbstverständlich muss ein Girokonto für jedermann ländern bereits besteht.
auch alle Basisfunktionen bieten. Dazu gehören Über-
weisungen, Lastschriften und auch die elektronische (Sonja Steffen [SPD]: Aber nur für die Spar-
Geldkarte. kassen!)
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Und wahr- Frau Kollegin Lay, das ist es, was ich vorhin mit dem
scheinlich noch ein Dispo!) Stichwort „Subsidiarität“ meinte: Auf welcher politi-
schen Ebene ist die Frage am besten zu klären?
– Zur Dispoabzocke kommen wir beim übernächsten Ta-
gesordnungspunkt. Ich bin sehr gespannt, was Sie an (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Immer
dieser Stelle anzubieten haben. auf einer anderen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17633
Dr. Daniel Volk
(A) Es zeigt sich, dass es in den Bundesländern, die die Re- Jemand, der beschränkte finanzielle Mittel hat, kann (C)
gelung im Sparkassengesetz bzw. in einer Sparkassen- sich beim Amtsgericht einen Beratungsschein besorgen
verordnung verankert haben, die hier aufgezeigten Pro- und einen Rechtsanwalt aufsuchen. Ich kann Ihnen ver-
bleme nicht gibt. sichern: Dort kriegt er sicherlich sehr viel schneller ei-
nen Termin für eine Schuldnerberatung als bei einer
Herr Sieling, hier spreche ich Sie ganz persönlich an. Schuldnerberatungsstelle, bei der möglicherweise sechs
Sie sind Abgeordneter aus dem Bundesland Bremen. Monate Wartezeit besteht. Insofern haben wir auch in
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ist es!) diesem Punkt, meine ich, eine ausreichende gesetzliche
Grundlage.
Sie waren in der Bremischen Bürgerschaft an einer nicht
unwichtigen Position tätig. Sie haben sich offenbar in Im Übrigen empfehle ich, die entsprechenden Be-
Bremen nicht dazu durchringen können, genau das, was richte der Bundesregierung abzuwarten. Die SPD, die
Sie hier im Bundestag fordern, in der Bremischen Bür- den Antrag vorgelegt hat, hatte selber über elf Jahre lang
gerschaft als gesetzliche Regelung in das dortige Spar- Verantwortung im Finanzministerium und hat die Be-
kassengesetz oder die Sparkassenverordnung aufzuneh- richte erst einmal abgewartet. Ich glaube, wir sollten die
men. Berichte abwarten und uns dann auf der Grundlage die-
ser Berichte näher mit dem Problem befassen.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Abschließend möchte ich auf eines hinweisen: Ich
Dasselbe betrifft das Bundesland Berlin, wo die Links- glaube, dass wir gut beraten wären, keine bundeseinheit-
fraktion über Jahre an der Regierung beteiligt war. In der liche Regelung zu machen und darin auch noch die Kon-
Zeit der Regierungsbeteiligung der Linksfraktion in Ber- tengebühren auf Euro und Cent festzulegen. Ich glaube,
lin konnte man sich offenbar nicht durchringen, im Ber- wir sind besser beraten, die Zuständigkeit der Bundes-
liner Abgeordnetenhaus eine gesetzliche Regelung länder zu akzeptieren, entsprechende Regelungen zu
durchzusetzen. schaffen.
Ich lade die hiesigen Oppositionsfraktionen ein, die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vorschläge, die sie hier in einem Schaufensterantrag
Herr Kollege Volk, gestatten Sie eine Zwischenfrage vorlegen, in den von ihnen regierten Bundesländern um-
des Kollegen Sieling? zusetzen.
Vielen Dank.
Dr. Daniel Volk (FDP):
Nein, ich möchte gerne fortfahren. – Insofern ist es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) schon etwas verwunderlich, dass Sie dies dort, wo Sie es der CDU/CSU) (D)
machen könnten, nicht machen, und das dort, wo Sie es
nicht machen können, fordern. Vor diesem Hintergrund Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kann man sagen, dass der Antrag zumindest in dieser Die Ablehnung der Zwischenfragen hat zwei Kurz-
Richtung wohl eher ein Schaufensterantrag ist. interventionen provoziert, und zwar des Kollegen
Sieling und der Frau Kollegin Lay. Ich rufe die beiden
Ich habe mit großem Interesse die Zwischenrufe der
nacheinander auf; dann können Sie im Zusammenhang
SPD-Fraktion bezüglich der Schuldnerberatung in den
antworten. – Bitte schön, Herr Sieling.
Bundesländern verfolgt. Wir sind uns einig, dass die
Bundesländer dafür zuständig sind. Deshalb formulieren
Sie in Ihrem Antrag, die Bundesregierung möge die Län- Dr. Carsten Sieling (SPD):
der auffordern, sich für den Ausbau der Beratungen ein- Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Volk, da
zusetzen. Sie auch in Bremen geboren sind und dort sogar zur
Schule gegangen sind,
(Kerstin Tack [SPD]: Jetzt mal Ihre Position!)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Erstaunlich, dass aus
Ich sage einmal: Die Länder, die von der SPD und den mir etwas geworden ist!)
Grünen regiert werden, können das von sich aus machen.
Das wäre ganz gut; das ist schließlich Ihre Position. bevor Sie in den tieferen Süden geflohen sind, will ich
zur Kenntnis nehmen, dass Sie vielleicht nicht voll infor-
(Kerstin Tack [SPD]: Haben Sie eine Position, miert sind. Aber ich möchte deutlich sagen, dass es
oder schwafeln Sie weiter herum? – durchaus eine Initiative für ein Girokonto für alle gege-
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nur die ben hat, und zwar in der Zeit, als ich Fraktionsvorsitzen-
Verantwortung wegschieben!) der in der Bremischen Bürgerschaft war.
Sie haben vorhin in einem Zwischenruf darauf hinge- Das Problem besteht allerdings darin, dass Bremen
wiesen, dass man teilweise sechs Monate auf einen eine freie Sparkasse hat. Darüber hat es entsprechende
Schuldnerberatungstermin warten müsse. Sollte ein Bun- juristische Auseinandersetzungen gegeben, die gerade
desland dieses Problem haben, kann ich nur sagen: Es gezeigt haben, dass wir eine bundesweite Regelung
gibt auch andere Formen der Schuldnerberatung. Es gibt brauchen, um für den gesamten Kreditsektor – darum
nicht nur die Schuldnerberatungsstellen, die übrigens ei- geht es im Übrigen; denn wir wollen nicht, dass das pri-
nen sehr guten Job machen – das will ich nicht in Abrede vate Kreditgewerbe benachteiligt wird – eine Regelung
stellen –, sondern auch noch andere Möglichkeiten. zu schaffen. Dafür plädiere ich ausdrücklich.
17634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Carsten Sieling


(A) Den von Ihnen angesprochenen Bericht wollen wir Frau Kollegin Lay, ich habe noch vor Augen, wie der (C)
selbstverständlich abwarten. Das ist die erste Initiative. Antrag der Linksfraktion im saarländischen Landtag
Ich würde mich freuen, wenn Sie sich den richtigen Aus- aussah. Das Problem war nicht das Konto für jedermann,
führungen des Kollegen Brinkhaus anschließen und den sondern das Problem waren die weiteren Punkte, die die
Bericht, wenn er vorliegt, konstruktiv prüfen würden – er Linksfraktion mit aufgenommen hatte. Diese haben dazu
wird uns sicherlich keine Verbesserungen aufzeigen –, geführt, dass der Antrag von den Regierungsfraktionen
damit wir dann unsere Initiative aufgreifen und umsetzen abgelehnt werden musste.
können.
(Beifall bei der FDP – Caren Lay [DIE
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So habe ich LINKE]: Es gab eine punktweise Abstim-
das gar nicht gesagt!) mung!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Lay. Dann hat jetzt die Kollegin Nicole Maisch von Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Caren Lay (DIE LINKE):
Herr Präsident! Herr Kollege, auch ich nutze die Ge- Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
legenheit zu einer Kurzintervention, weil Sie mir keine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben haben. dachte, es würde Konsens darüber bestehen, dass ein Giro-
konto Voraussetzung für die Teilnahme am Wirtschaftsle-
Ich muss darauf hinweisen, dass es die Linksfraktion ben ist und dass man denjenigen, die kein Konto haben,
war, die beispielsweise im Landtag des Saarlandes bean- helfen muss.
tragt hat, ein Girokonto für alle einzuführen. Das ist von
allen anderen abgelehnt worden. Es ist also auch von der (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das dachten wir
FDP abgelehnt worden, die dort gemeinsam mit der auch!)
CDU an der Regierung ist. Herr Dr. Volk hat diesen Konsens wortreich, aber in-
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Und von den Grü- haltsleer aufgekündigt. Das finde ich ziemlich peinlich
nen!) für die FDP.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
– Und von den Grünen. – Mich interessiert, wie Sie sich
bei der SPD und der LINKEN)
das erklären. Sie sagen auf der einen Seite: Wir können
(B) auf der Bundesebene keine gesetzliche Regelung schaf- Wir wissen alle: Ein Girokonto ist kein Luxus. Vielmehr (D)
fen; das sollen die Länder tun. Auf der anderen Seite ist eine Bankverbindung Grundvoraussetzung für die
sorgt Ihre Partei dafür, wenn wie im Saarland von der Teilnahme nicht nur am Wirtschaftsleben, sondern auch
Linken die Initiative eingebracht wird, ein Girokonto für an vielen, vielen anderen gesellschaftlichen Lebensbe-
alle einzuführen, dass dies abgelehnt wird. reichen. Deshalb hat mich der Vorsitzende des Men-
schenrechtsausschusses gebeten, dass der Antrag auch in
Ich muss mich sehr wundern. Der Redner der CDU/
diesem Ausschuss beraten werden soll. Ich denke, da ge-
CSU verweist auf ausbleibende Regelungen auf europäi-
hört er auch hin.
scher Ebene.
Die Kolleginnen und Kollegen haben ausgeführt, dass
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein! Das habe ich es sehr viele Menschen in Deutschland gibt, 670 000
nicht gesagt! Sie müssen zuhören!) Menschen über 21 Jahre, die über kein Konto verfügen.
Die FDP verweist auf die Subsidiarität und damit auf Die öffentliche Hand zahlt dafür. Im Jahr 2007 waren
die Verantwortung der Länder. Ich habe das Gefühl, dass das 17 Millionen Euro an Zusatzkosten für Barauszah-
ein gemeinsamer Konsens darin besteht, dass Sie sich lungen. Das heißt, das ist auch für die Verwaltung ein fi-
auf Bundesebene der Verantwortung entziehen wollen. nanzielles Problem.
Viele Menschen bekommen kein Konto, auch wenn
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sie ein Recht darauf hätten. Das zeigen uns die Berichte
Jetzt zur Erwiderung Kollege Volk. der Verbraucher- und Schuldnerberatungen. Deshalb ist
es längst an der Zeit, hier einen Rechtsanspruch einzu-
führen. Ich finde es sehr gut, dass Herr Brinkhaus gesagt
Dr. Daniel Volk (FDP): hat, er will das zumindest vorurteilsfrei prüfen.
Herr Kollege Sieling, ich möchte darauf hinweisen,
dass in Bremen eine entsprechende Rechtsprechung (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das mache ich
existiert, nach der ein Kontrahierungszwang aufgrund immer!)
einer fehlenden landesgesetzlichen Bestimmung besteht. Die FDP kann davon noch lernen.
Ich halte die juristischen Argumente, die Sie hier kurz
angedeutet haben, also für vorgeschoben. Ich glaube Ich möchte jetzt aber wenig über allgemeine und theo-
sehr wohl, dass es auch im Bundesland Bremen möglich retische Sachen sprechen, sondern ich möchte Sie einla-
ist, eine entsprechende Bestimmung in das Sparkassen- den, sich einfach einmal vorzustellen, wie es ist, ohne ein
gesetz bzw. die Sparkassenverordnung aufzunehmen. Konto zu leben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17635
Nicole Maisch
(A) Stellen wir uns einmal Sabine P., 43 Jahre alt, zwei Leistung muss sich lohnen, auch hier in der Regierung. (C)
Kinder, vor. Wie lebt sie ohne Konto? Das Kindergeld Deshalb können Sie hier einmal Leistung zeigen und
wird normalerweise überwiesen. Um das per Scheck sich um die ärmsten Menschen in diesem Land küm-
ausgezahlt zu bekommen, ist eine teure und auch ziem- mern. Das ist Ihre Pflicht als Abgeordnete. Sie sollten
lich peinliche Ämterrennerei erforderlich. nicht immer mit dem Finger auf andere zeigen.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: In welchem Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
land lebt Sabine P.?) bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel
Volk [FDP]: Haben Sie schon einmal etwas
– Sabine P. wohnt in Berlin. Die Geschichte mit der von Föderalismus gehört?)
Scheckauszahlung basiert auf Daten aus Berlin. Für die
anderen Bundesländer habe ich das nicht geprüft, aber
das könnte ich natürlich gern nachreichen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Aumer von der
Der Unterhalt ihres geschiedenen Mannes wird – da CDU/CSU-Fraktion.
sie kein Konto hat – nicht überwiesen, sondern den bringt
er vorbei, wenn er daran denkt. Manchmal denkt er eben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
auch nicht daran. Den Unkostenbeitrag für die Klassen-
fahrt kann sie nicht auf das Konto der Lehrerin überwei- Peter Aumer (CDU/CSU):
sen, sondern muss ihn persönlich in der Schule vorbei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
bringen. Miete, Gas und Strom zahlt sie per teurer Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
Bareinzahlung. Das kostet jedes Mal 5 bis 7 Euro Gebüh- diskutieren über ein in der Tat wichtiges Thema. Sie ha-
ren. Ihr Wohngeld wird dadurch gemindert, dass die Kos- ben vorhin gesagt, dass der Bundestag 2002 beschlossen
ten für die Barauszahlungen vom Wohngeld abgezogen hat, im Zweijahresrhythmus einen Bericht der Bundesre-
werden. Bei eBay günstig Kinderklamotten zu shoppen, gierung über die Situation der girokontolosen Menschen
kann sie vergessen, da eBay und auch andere Online- in unserem Land einzufordern, also der Menschen, die
shops ohne Girokonto nicht zu nutzen sind. Bezahlpflich- gerne ein Girokonto anlegen würden, aber es nicht kön-
tige Onlinedienste wie iTunes oder Onlinevideotheken nen, etwa weil keine Bank dies zulässt. Ich frage: Wer
sind von ihr nicht zu nutzen. Wenn sie einen Song hören war 2002 an der Regierung? Wer hat in dieser Zeit die
will, muss sie die gesamte CD kaufen. Einen günstigen Möglichkeit gehabt, etwas in diesem Bereich zu regeln?
Handyvertrag oder einen Festnetzanschluss hat sie nicht, Das waren Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren
sie hat eine Prepaid-Karte mit natürlich völlig überhöhten von der SPD und von den Grünen. Da haben Sie Ihre
Gesprächskosten. Verantwortung ebenfalls nicht genutzt, um dieses Thema
(B)
Ich könnte das jetzt ewig weiter ausführen. Stellen Sie abzuarbeiten und gesetzliche Regelungen auf den Weg (D)
sich einmal vor, sie hat ein Vorstellungsgespräch und zu bringen. Uns vorzuhalten, dass wir unseren Worten
muss sagen: Das Gehalt möchte ich nicht auf mein keine Taten folgen lassen, finde ich schon ein bisschen
Konto überwiesen haben, sondern bitte in der guten alten dreist und sachlich unangemessen.
Lohntüte! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Olav Gutting [CDU/CSU]: Die darf nicht aus Wir versuchen – der Kollege Brinkhaus hat das vor-
Plastik sein!) hin angesprochen –, eine Lösung zu finden, die den
Das ist einfach von gestern, das geht nicht mehr. Deshalb Menschen hilft. Frau Maisch, Ihr Beispiel kann ich
brauchen wir diesen Rechtsanspruch. durchaus nachvollziehen. Wenn man versucht, sich vor-
zustellen, wie man heute ohne ein Girokonto leben
Ich finde es gerade von der FDP ziemlich frech, zu sa- könnte, dann stellt man fest: Das geht in der Tat nicht.
gen, die Opposition soll in den Bundesländern dafür sor- Auch ich könnte mir das nicht vorstellen. Man muss si-
gen, dass es ein Girokonto für alle gibt. Hier in Berlin im cherlich Regelungen auf den Weg bringen, die gewähr-
Bundestag sind Sie noch im Parlament, anders als zum leisten, dass das Ganze funktioniert. Ob solche Regelun-
Beispiel im Landtag in Rheinland-Pfalz. Hier sitzen Sie gen immer gesetzliche Regelungen sein müssen, das ist
mit in der Regierung, anders als zum Beispiel in Baden- die große Frage. Ob eine gesetzliche Regelung wirkt,
Württemberg, wo Sie nicht mehr drin sind. Aber statt muss man sich sicherlich ebenfalls einmal im Detail an-
hier etwas zu regeln, sagen Sie, wir sollen es in den Bun- schauen. Die Bundesregierung legt den Bericht im
desländern machen. Das finde ich ziemlich absurd. nächsten Jahr vor. Er befindet sich im Moment in der
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie könnten doch in Ressortabstimmung. Man muss einmal schauen, wie sich
Rheinland-Pfalz oder in Baden-Württemberg die Dinge seit 2002 geändert haben. Die Menschen, die
etwas machen!) kein Girokonto haben, müssen die Möglichkeit bekom-
men, ein solches Konto einzurichten.
– Warum machen Sie denn hier auf der Bundesebene
nichts? Sie müssen schon Ihren eigenen Hintern bewe- Es kann natürlich nicht sein, dass sich die Kreditinsti-
gen. tute ihrer Verantwortung entziehen und Menschen, die
auf ein Girokonto angewiesen sind, die Möglichkeit der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kontoeröffnung nicht gewähren. Das zu ändern, liegt
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel selbstverständlich auch in unserer Verantwortung. Ei-
Volk [FDP]: Weil wir Subsidiarität achten!) nige Bundesländer haben auf diesem Gebiet schon etwas
17636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Peter Aumer
(A) gemacht. Die Sparkassen sind hier vorbildlich. Die Spar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C)
kassen sind in acht Bundesländern verpflichtet worden, Burkhard Lischka [SPD]: Da können sie lange
girokontolosen Menschen Girokonten anzubieten. Es warten!)
kann nicht sein, dass man für solche Konten erhöhte Ge-
Sie haben gewartet. Ihre Zwischenrufe können Sie sich
bühren fordert. All das sind Dinge, die im Moment gere-
also sparen. Wenn man nicht in der Zeit, in der man han-
gelt werden.
deln kann, tätig wird, dann ist man in der Regierungsver-
Der entscheidende Punkt unserer Argumentation, der antwortung nicht gut aufgehoben.
berücksichtigt werden muss, meine sehr geehrten Da- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
men und Herren der Opposition, ist die Empfehlung der
Europäischen Union. Sie hat in diesem Jahr eine Emp- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Tom
fehlung vorgelegt, dass in jedem Mitgliedsland die Ein- Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
richtung eines grundlegenden Zahlungsfunktionskontos Richtig! Das stimmt! – Gegenruf des Abg.
unabhängig vom Einkommen zu gewährleisten ist. Ich Peter Aumer [CDU/CSU]: Sie waren auch in
glaube, das ist etwas, was in den Mitgliedsländern der der Regierung!)
Europäischen Union Nachhall findet.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Auch wir in Deutschland müssen dieser Forderung
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
gerecht werden. Sie selber und wir haben es angespro-
hat jetzt die Kollegin Sonja Steffen das Wort.
chen: Es gab eine legislative Initiative auf europäischer
Ebene, so etwas gesetzlich zu regeln. Unser Bestreben (Beifall bei der SPD)
ist, dass man prüft, was im Moment in Deutschland
Sachstand ist, dass man den Bericht der Bundesregie- Sonja Steffen (SPD):
rung abwartet, dass man die Empfehlungen, die von eu- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
ropäischer Ebene kommen, umsetzt. Diejenigen Men- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während
schen, die kein Girokonto haben, müssen eines haben wir im Deutschen Bundestag über Milliardenrettungs-
können; das ist grundlegend und muss gewährleistet schirme für Europa diskutieren, sollten wir die lebensna-
sein. Das ist aus meiner Sicht etwas, was den Betroffe- hen Probleme unserer Bürgerinnen und Bürger beim täg-
nen in unserem Land etwas bringt. Wir haben in diesem lichen Umgang mit den Banken nicht aus den Augen
Bereich ein Problem; das ist ganz klar. Dem müssen wir verlieren. Dazu gehören die immer zahlreicher werden-
nachkommen. Ein Basiskonto soll allen Menschen die den Kontopfändungen und der nach wie vor nicht umge-
finanzielle Teilhabe am Leben ermöglichen. setzte Rechtsanspruch auf ein Girokonto für jedermann.
(B) Wir haben gestern über ein wichtiges Thema gespro- (D)
Das Problem der Kontolosigkeit hat gravierende Aus-
chen: das Geldwäschegesetz. Da ging es auch um das wirkungen für die Betroffenen. Frau Maisch, Sie haben
E-Geld. Mir ist zum ersten Mal bewusst geworden, das vorhin durch ein Beispiel schon sehr anschaulich
dass es Menschen geben kann, die kein Konto haben. dargestellt. In der Tat gibt es heute – das haben wir auch
Das war mir zuvor nicht klar. E-Geld bietet auch diesen schon gehört – viele Bürgerinnen und Bürger, die unfrei-
Menschen die Möglichkeit, Geld auf eine Karte zu laden willig kein eigenes Girokonto haben und deshalb nach
und damit zu bezahlen. Das kann natürlich nicht in unse- wie vor von ganz wichtigen Bereichen des wirtschaftli-
rem Sinne sein. Wir haben gestern geregelt, dass diese chen Verkehrs ausgeschlossen sind. Dass dies eine Ne-
Karten auf einen Wert von 100 Euro im Monat begrenzt gativspirale auslöst, werden Sie alle wissen. Bereits Ver-
werden sollen. Sicherlich fällt damit für die Menschen, schuldete geraten noch verstärkt in Probleme, wenn für
über die wir heute sprechen, eine Möglichkeit der Be- Lohn-, Gehalts- und Mietzahlungen kein Girokonto be-
zahlung weg. Deswegen muss man ganz klar sagen, dass steht. Die Bankgebühren für Bareinzahlungen – darauf
die Regelung gut werden muss. Wir sind bemüht, eine hat Frau Lay schon hingewiesen – betragen mitunter
gute Regelung zu finden. Deswegen bitte ich auch Sie, mehr als 10 Euro, und zwar für jede einzelne Bareinzah-
dass wir konstruktiv und nicht ideologisch diskutieren. lung. Das ist besonders für Personen mit geringem Ein-
Denn Sie hatten in Ihrer Regierungsverantwortung die kommen eine Belastung, die sie im Grunde gar nicht tra-
Möglichkeit, eine Lösung herbeizuführen. Im Jahr 2002 gen können.
hat der Bundestag die Bundesregierung entsprechend be-
auftragt. Damals waren Sie an der Regierung. Nun gibt es seit 1995 eine Empfehlung des Zentralen
Kreditausschusses an alle Banken zur Einrichtung eines
(Widerspruch bei der SPD) Girokontos für jedermann. Ich denke, es war gut, dass
wir eine Weile gewartet haben, wie das Ergebnis dieser
– Ja, Sie haben sich darauf verständigt, zu warten. Wa- Empfehlung aussieht. Nun haben wir schon gehört: Wir
rum pressiert es dann heute? Ich denke, man sollte in der haben fünf Berichte hinter uns; die Situation der unfrei-
Argumentation fair und ehrlich sein. willig kontolosen Bürgerinnen und Bürger in unserem
(Zurufe von der SPD) Land hat sich seitdem nicht nachhaltig verbessert. Die
Empfehlung lässt nämlich den Banken viel zu viele
Wir sind es. Wir bereiten die Dinge vor und finden einen Möglichkeiten, eine Kontoeröffnung abzulehnen oder
Weg, auf dem wir diesen Menschen helfen können, ein ein bestehendes Konto zu kündigen. Deshalb wird sie bis
Konto zu bekommen und am allgemeinen Zahlungsver- heute bei weitem nicht in ausreichendem Umfang umge-
kehr teilzuhaben. Das ist unser gemeinsames Ziel. setzt. Auch Schuldnerberatungsstellen betonen immer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17637
Sonja Steffen
(A) wieder, dass die Banken vielfach die Kontoführung ver- schen unseres Landes auf den Schutz durch das P-Konto (C)
weigern. angewiesen sind.
Hauptgrund ist übrigens, dass die Kontoführungsge- Aber nicht nur die Gebühren sorgen für Verunsiche-
bühren die Kosten des Girokontos im Rahmen der Kos- rung, sondern auch die Bescheinigungen, die von den
ten-Nutzen-Rechnung nicht decken. Kostendeckend wer- Banken verlangt werden. Dies bedeutet, dass die Men-
den Girokonten nur durch die Guthaben, die Kunden auf schen teilweise von A nach B laufen müssen, um irgend-
diesen Konten haben, oder durch die Inanspruchnahme welche wasserdichten Bescheinigungen zu erhalten.
hoher Dispokredite. Aber viele Kundinnen und Kunden Dennoch wird nach wie vor gemauert. Kunden, die ihr
verfügen nicht über ein solches Guthaben, sodass sie sich bestehendes Konto in ein P-Konto umwandeln wollen,
für die Banken schlichtweg nicht lohnen. Es gibt das werden in manchen Banken schlecht behandelt und teil-
– man kann schon sagen – Unwort der sogenannten weise sogar öffentlich in der Schalterhalle bloßgestellt.
Schalterhygiene. Es beschreibt die Praxis vieler Banken, Das muss sich ändern. Das sagen auch Verbraucher-
dass sie bestimmten Personen die Eröffnung eines Kon- schützer und Schuldnerberater.
tos schlichtweg verweigern oder zumindest massiv er-
(Beifall bei der SPD)
schweren.
Ich komme zum Schluss. Gerade in Zeiten, in denen
Mit Ausnahme des Deutschen Sparkassen- und Giro- wir über Milliardenkredite und über den Anteil der Ban-
verbandes lehnen bis zum heutigen Tag alle Verbände ken an der gegenwärtigen Finanzkrise diskutieren, dro-
der Kreditwirtschaft unverändert jede verbindliche Re- hen die Menschen, unsere Bürgerinnen und Bürger, im-
gelung von Guthabenkonten ab. Dass es für die Sparkas- mer mehr ihr Vertrauen in die Politik und die Banken zu
sen in acht Bundesländern eine Regelung gibt, ist schön, verlieren.
reicht aber bei weitem nicht aus, um das Recht auf ein
Girokonto für jedermann zu installieren. Der Deutsche Bundestag sollte hier ein kleines, aber
sehr wichtiges Zeichen setzen und die Banken zumindest
(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Ge- an dieser Stelle in die Pflicht nehmen. Ich habe die Hoff-
nau! Weil noch acht Bundesländer fehlen!) nung, dass zumindest die Fraktion der CDU/CSU ge-
– Aber nicht nur die Bundesländer fehlen, sondern es meinsam mit uns daran arbeiten wird. Bei der FDP ist
fehlen auch die Verpflichtungen der anderen Banken. – Hopfen und Malz verloren.
Ich meine, Herr Brinkhaus, wir haben lange genug ge- Vielen Dank.
schaut, was uns diese Empfehlungen bringen. Sie haben
recht. Es hat eine ganze Weile gedauert, aber inzwischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (D)
müssten wir einsehen, dass wir so nicht mehr weiter-
kommen und es höchste Zeit ist, das verbindliche Recht GRÜNEN)
des Kunden auf ein Girokonto festzuschreiben, bevor
uns Europa auch an dieser Stelle überholt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ein weiteres Anliegen des Antrages ist bis jetzt wenig Ich schließe die Aussprache.
zur Sprache gekommen. Es geht darum, die Inhalte des
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Pfändungsschutzkontos gesetzlich verbindlicher zu gestal-
auf den Drucksachen 17/7823 und 17/7954 an die in der
ten. Das Konto, das wissen Sie alle, wurde zum 1. Juli Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den
2010 eingeführt, und es schützt den Kontoinhaber vor Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Pfändungen bis zur Höhe des Pfändungsfreibetrages. So vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die
weit, so gut. Das ist eine gute Sache, grundsätzlich also Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen jeweils
begrüßenswert; denn dadurch bleibt dem Schuldner der Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion der
umständliche Gang zum Vollstreckungsgericht erspart. SPD wünscht Federführung beim Rechtsausschuss, und
Aber in der Praxis hat sich gezeigt, dass das Pfändungs- die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
schutzkonto an vielen Stellen Probleme mit sich bringt. wünschen Federführung beim Ausschuss für Ernährung,
Es ist deshalb wichtig, eine Nachbesserung der gesetzli- Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
chen Grundlagen zu fordern.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
Der eine oder andere von Ihnen, der schon in der vorschlag der Fraktion der SPD, Federführung beim
16. Legislaturperiode dem Bundestag angehörte, wird Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungs-
wissen, dass der Rechtsausschuss in den Ausführungen vorschlag? – Dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei-
zur Gesetzesbegründung seine Erwartung zum Ausdruck sungsvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen ge-
gebracht hat, dass das P-Konto nicht teurer sein wird als gen die Stimmen der SPD abgelehnt.
ein normales Konto. Aber damals wurde von einer ver-
bindlichen gesetzlichen Regelung abgesehen. Diese Er- Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
wartung hat sich leider nicht erfüllt. Der Ärger beim schlag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
neuen Pfändungsschutzkonto reißt nicht ab. Es gibt Ban- Linke, Federführung beim Ausschuss für Ernährung,
ken, die monatlich bis zu 27 Euro für die Führung eines Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt da-
P-Kontos verlangen. Das ist ein Unding, besonders wenn für? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Über-
man bedenkt, dass gerade die finanzschwachen Men- weisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitions-
17638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) fraktionen und der SPD-Fraktion bei Zustimmung der umfasst den Berichtszeitraum vom 1. März 2008 bis (C)
Linken und der Grünen abgelehnt. zum 28. Februar 2010. Er betrifft also überwiegend die
Zeit der Vorgängerregierung; erstellt wurde er von der
Schließlich stimmen wir ab über den Überweisungs-
schwarz-gelben Bundesregierung.
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP,
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt da- Im Ausschuss für Menschenrechte hat es eine öffent-
für? – Dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist liche Anhörung zum Bericht gegeben. Die Gutachter
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die waren sich einig, dass der Bericht besser geworden ist,
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. vor allem übersichtlicher und handhabbarer. Ich möchte
an dieser Stelle den Gutachtern ganz herzlich für ihre
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a und b auf:
wichtigen Stellungnahmen danken, die natürlich in un-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sere Arbeit einfließen.
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
richtung durch die Bundesregierung SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Neunter Bericht der Bundesregierung über
ihre Menschenrechtspolitik in den auswärti- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen
gen Beziehungen und in anderen Politikberei- Schwerpunkt meiner Rede bei der Verbesserung der
chen internationalen Menschenrechtsschutzsysteme setzen.
Diesen Schwerpunkt haben wir auch im Koalitionsver-
– Drucksachen 17/2840, 17/3110 Nr. 2, 17/7941 – trag verankert. Er ist besonders wichtig, weil wir der
Berichterstattung: Kultur der Straflosigkeit endlich ein Ende machen müs-
Abgeordnete Erika Steinbach sen. Denn in den Ländern, in denen die nationalen Jus-
Christoph Strässer tizsysteme Schwächen haben oder Rechtsstaatlichkeit
Marina Schuster gar nicht gegeben ist, ist es für die Betroffenen oft die
Annette Groth einzige Möglichkeit, Recht zu finden, wenn sie sich an
Volker Beck (Köln) überregionale oder internationale Menschenrechts-
schutzsysteme wenden können.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und Wir sehen das ganz konkret beim Europäischen Ge-
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- richtshof für Menschenrechte in Straßburg. Er ist, wie
richtung wir alle wissen, überlastet: allein 14 300 anhängige Ver-
(B) fahren aus Russland. Deswegen danke ich unserer Jus- (D)
Menschenrechte und Demokratie in der Welt – tizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sehr
Bericht über die Maßnahmen der EU – Juli für ihre aktive Rolle im Reformprozess; denn es ist ganz
2008 bis Dezember 2009 – Ratsdok. 8363/10 – wichtig, dass sich der EGMR den schwerwiegenden,
(Folgedokument) dringenden Fällen widmen kann und nicht vor Überlas-
– Drucksachen 17/315 Nr. A.4, 17/4522 – tung zusammenbricht.

Berichterstattung: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie


Abgeordnete Erika Steinbach des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE
Christoph Strässer GRÜNEN])
Marina Schuster Nun zum Internationalen Strafgerichtshof. Auch da
Katrin Werner hat es eine große Verbesserung, eine große Neuerung ge-
Volker Beck (Köln) geben: Es wurde eine Strafbarkeitslücke geschlossen.
Zu dem Neunten Bericht der Bundesregierung liegt Das ist ein Meilenstein, der dank des Engagements der
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Bundesregierung und insbesondere von Markus Löning
geglückt ist. Wir konnten jetzt einen neuen Straftatbe-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die stand aufnehmen: Crime of Aggression. Er ist definiert
Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgese- worden und ist nun Bestandteil der internationalen Völ-
hen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der kerstrafgerichtsbarkeit. Das ist wirklich ein großer Fort-
Fall. schritt, der in den Medien kaum Niederschlag gefunden
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- hat. Deswegen ist es so wichtig, dass wir es hier und
nerin der Kollegin Marina Schuster von der FDP-Frak- heute erwähnen.
tion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Menschen-
des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE rechtsausschuss war im Mai dieses Jahres im Kongo.
GRÜNEN]) Wir haben im Ostkongo ehemalige Kindersoldaten ge-
troffen. Wir hatten mit ihnen ein Gespräch, das uns allen
Marina Schuster (FDP): unter die Haut ging. Wir wissen, dass gerade Kinder die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Hauptleidtragenden in internationalen Konflikten und
Neunte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung Kriegen sind. Deswegen freut es mich sehr, dass es Au-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17639
Marina Schuster
(A) ßenminister Westerwelle gelungen ist, im Juli bei den nenten Menschenrechtsaktivisten, über die wir in den (C)
Vereinten Nationen eine Resolution zum Schutz von Medien hin und wieder Berichte sehen. Sie alle verdie-
Kindern in bewaffneten Konflikten durchzubringen. nen unsere Aufmerksamkeit, unsere Unterstützung und
Jetzt werden Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser unseren Schutz.
international geächtet. Das ist ein weiterer Schritt, damit
Kinder besser geschützt werden. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Weltweit haben die staatlichen Übergriffe auf Men-
schenrechtsverteidiger zugenommen; das dokumentiert
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Engagement
Human Rights Watch sehr deutlich. Autokratische und
der Bundesregierung ist vielfältig. Ich möchte Markus
diktatorische Staaten agieren dabei so umfangreich wie
Löning, den Menschenrechtsbeauftragten der Bundes-
grausam. Eritrea, Nordkorea und Turkmenistan sind
regierung, noch einmal explizit erwähnen, der sich ins-
Staaten, in denen es kaum Menschenrechtsaktivisten
besondere dem Kampf gegen die Todesstrafe verschrie-
gibt, weil diese Staaten so grausam gegen sie vorgehen.
ben hat. Er hat dazu auch eine Reise in die USA
In Tschetschenien hat der bewaffnete Konflikt zwar an
durchgeführt. Wir wissen, dass in den USA, im Iran, in
Intensität abgenommen, aber Rechtsanwälte, Journalis-
China und Belarus nach wie vor die Todesstrafe voll-
ten und Aktivisten werden nach wie vor reihenweise be-
streckt wird und dass es sogar Länder gibt, die die To-
droht. China, Iran und Sudan verbieten regelmäßig Men-
desstrafe neu einführen wollen, zum Beispiel Uganda,
schenrechtsorganisationen und verhängen massenhaft
wo es eine Gesetzesinitiative gab, die für Homosexuali-
Berufsverbote für Anwälte. Malaysia, Aserbaidschan
tät die Todesstrafe vorgesehen hat. Ich will ganz klar sa-
und Usbekistan verleumden und inszenieren Strafanzei-
gen: Das werden wir nicht hinnehmen. Wir werden das
gen gegen Menschenrechtsaktivisten. Ich werde später
auch nicht in dem Fall hinnehmen, dass dieser Gesetz-
noch auf einen Fall eingehen.
entwurf in Uganda noch einmal eingebracht werden
sollte. Hier gibt es eine klare Antwort: Das ist mit uns Die SPD hat im März 2010 einen eigenen Antrag ein-
nicht zu machen; die Todesstrafe gehört abgeschafft. gebracht, mit dem wir die Mechanismen zum Schutz von
(Beifall im ganzen Hause) Menschenrechtsverteidigern in der EU weiterentwickeln
wollten. Wir haben gefordert, dass gefährdete Men-
Leider ist es nicht nur in Uganda ein Problem: Auch schenrechtsverteidiger in der EU Schutz finden sollen.
in Nigeria, in Russland und in vielen anderen Ländern Leider ist unser Antrag abgelehnt worden. Ich denke, wir
gibt es neue diskriminierende Gesetze gegen Homosexu- müssen noch mehr – das ist eine Aufforderung an die
elle. Deswegen ist es wichtig, dass wir das bei unseren Bundesregierung – an der Implementierung der EU-Leit- (D)
(B) Gesprächen vor Ort, aber auch dass unsere Botschaften
linien zum Schutz von Menschenrechten arbeiten. Re-
das ansprechen. gelmäßige Treffen mit Menschenrechtsaktivisten und
Ich danke ganz herzlich allen, die sich dafür engagie- Berichte sind notwendig, aber sie sind nicht hinreichend.
ren. Wir haben noch viel vor uns. Der Kampf für Men- Gerade in diesem Bereich könnte und müsste man sehr
schenrechte erfordert das Engagement aller. Ich danke viel mehr tun; denn die Diktatoren und Autokraten die-
der Bundesregierung sehr herzlich für ihren Neunten Be- ser Welt müssen von uns die klare Botschaft bekommen:
richt und für ihre Arbeit. Ihr dürft eure Bürger und Aktivisten nicht verfolgen,
vergewaltigen, foltern oder töten. Wer sich für Men-
Vielen Dank. schenrechte und Demokratie engagiert, bekommt unsere
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie europäische Rückendeckung.
des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der Der Schutz von Menschenrechtsverteidigern muss zu
SPD-Fraktion. einer wichtigen Säule unserer Außenpolitik werden. Wir
lernen derzeit schmerzlich, dass militärische Interventio-
(Beifall bei der SPD)
nen, Staatenbau am Reißbrett oder das Abhalten von
Wahlen in Gesellschaften nicht ad hoc zur Demokratie
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): führt. Das muss von innen heraus geschehen. Der Schutz
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich von Menschenrechtsverteidigern schafft einen gesell-
werde die heutige Debatte über den Neunten Bericht der schaftlichen Raum für den nachhaltigen Aufbau von De-
Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik nut- mokratien.
zen, um insbesondere auf die Situation von Menschen-
rechtsverteidigern hinzuweisen. Ich wähle dieses Ich will aus gegebenem Anlass auf zwei Menschen-
Thema, weil Menschenrechtsverteidiger diejenigen sind, rechtsaktivisten besonders eingehen, deren Fälle mich in
die für ihre Ideale, nämlich Menschenrechte und Demo- der letzten Zeit massiv beschäftigt haben. Der erste ist
kratie, kämpfen und sich dabei den größten Gefahren für Anwar Ibrahim. Er ist der Oppositionsführer in Malay-
Leib und Leben aussetzen. Viele der Demonstranten auf sia. Ich hatte gerade seinen Assistenten Najwan Halimi
dem Tahrir-Platz in Kairo oder in den Straßen von Homs über die Vermittlung des Instituts für Auslandsbeziehun-
oder Damaskus gehören genauso dazu wie die promi- gen zur Hospitation in meinem Büro.
17640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Angelika Graf (Rosenheim)


(A) Anwar Ibrahim wurde bereits mehrmals wegen an- Michael Brand (CDU/CSU): (C)
geblicher Vergehen angeklagt und hat auch schon eine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sechsjährige Haftstrafe verbüßt. Er organisiert die Op- möchte beginnen mit einem schwer auszusprechenden
position in Malaysia und wird nun pünktlich vor den an- Namen und einer wirklich guten Nachricht für die Men-
stehenden Parlamentswahlen wegen abstruser Vorwürfe schenrechte auf diesem Globus: Die Friedensnobelpreis-
– Sodomie steht im Raum – erneut angeklagt. Ich bin trägerin Aung San Suu Kyi ist frei. Sie ist die Hoffnung
sehr dankbar, dass ich mit Unterstützung des Bundes- ihres Landes. Sie hat gestern Hillary Clinton beim ersten
tagsprogramms „Parlamentarier schützen Parlamenta- Besuch einer amerikanischen Außenministerin seit
rier“ für ihn Aktionen auf den Weg bringen konnte. 50 Jahren in ihrem Land dafür gedankt, dass die USA
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle Ihnen und die freie Welt sich so nachhaltig und dauerhaft für
dieses Programm sehr. Freiheit und Menschenrechte in ihrem Land eingesetzt
(Beifall im ganzen Hause) haben. Sie hat diese Entwicklung zu Recht als historisch
bezeichnet.
Der zweite Fall, auf den ich hinweisen möchte, ist
Ales Bialiatski. Er ist Vorsitzender des belarussischen Wir alle, auch wir hier im Deutschen Bundestag, ha-
Menschenrechtszentrums Viasna und Vizepräsident der ben gemeinsam mit Aktivisten auf der ganzen Welt über
International Federation for Human Rights. Er wurde ge- 20 Jahre hinweg nicht lockergelassen. Amnesty Interna-
rade zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Beobachter tional, die Internationale Gesellschaft für Menschen-
sehen darin ein politisches Urteil zur Schädigung seiner rechte und internationale Künstler wie die Rockband U2
Menschenrechtsarbeit. Wer ihn, so wie ich, unterstützen haben über Jahre hinweg immer wieder für die Freiheit
möchte, der kann sich an die Nichtregierungsorganisation dieser Frau und dieses Landes gekämpft. Wir haben ge-
Libereco wenden. Dort ist man für jedes Engagement meinsam einen Sieg für die Menschenrechte erreicht.
dankbar. An diesem wie an anderen Fortschritten war auch un-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Land bilateral, aber auch auf der EU- und der UN-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ebene stark beteiligt. Wir haben in der Bundesrepublik
FDP) Deutschland eine gefestigte Tradition aktiver Menschen-
rechtspolitik, die bei allen Unterschieden von allen Tei-
Zum Schluss unserer Debatte habe ich ein Anliegen. len des Deutschen Bundestages mitgetragen wird. Auf-
Aufgrund unseres Engagements in Afghanistan sind grund der heute stattfindenden Debatte über den
viele langjährig in Deutschland lebende Afghanen, die vorliegenden Menschenrechtsbericht will ich mitteilen –
einen eigenen Aufenthaltstitel hatten, in ihre alte Heimat ich bekenne mich dazu –, dass es in den Beratungen ne-
(B) zurückgekehrt. Sie haben ihren Aufenthaltstitel in ben der kritischen Erörterung viel Anerkennung für Fort- (D)
Deutschland aufgegeben und helfen beim Wiederaufbau. schritte im Bericht wie bei der Menschenrechtspolitik
Ich habe nun die Befürchtung, dass sie, wenn sich die Si- der Bundesregierung gab.
cherheitssituation dort verschlechtert, was verhütet wer-
den möge, keinen neuen Aufenthaltstitel in Deutschland Ohnehin will ich hier feststellen: Es zeichnet dieses
bekommen. Die Bundesregierung hat mir mitgeteilt, es Land und dieses Parlament aus, dass wir bei der Vertei-
wäre unnötig, Rückkehroptionen vorzubereiten. Ich digung der Menschenrechte immer wieder Gemeinsam-
frage mich: Wem helfen wir damit? Ist es nicht wichtig, keiten über Parteigrenzen hinweg suchen. Wir kämpfen
dass diese Menschen Sicherheit haben in ihrem Leben hier nicht gegeneinander, sondern miteinander für die
und Anerkennung finden für das, was sie getan haben? Menschenrechte.
Ich fasse zusammen: Ich wünsche mir mehr Schutz (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von Menschenrechtsverteidigern, mehr Schutz von Men- NEN]: Inschallah! – Angelika Graf [Rosen-
schenhandelsopfern – vorgestern haben wir im Men- heim] [SPD]: Genau!)
schenrechtsausschuss eine Anhörung zu diesem Thema
durchgeführt –, eine Harmonisierung des EU-Asyl- Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn ich hier für die spä-
rechts, die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundge- tere Abstimmung konkret empfehle, Herr Kollege
setz und die umfangreiche Umsetzung der UN-Behin- Koenigs, der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
dertenrechtskonvention. All das sind Punkte, die mit Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zuzustimmen.
dem Thema Menschenrechte zu tun haben. Wir haben Eine Debatte zur Lage der Menschenrechte darf nie
ein weites Feld vor uns. Wir sollten weiterhin alle mitei- selbstzufrieden geführt werden. Im Gegenteil: Es war
nander und jeder auf seine Weise daran arbeiten. und bleibt unsere Aufgabe, gemeinsam mit der Bundes-
regierung und der Zivilgesellschaft auf Menschenrechts-
Vielen herzlichen Dank. verletzungen und auf Verfolgung hinzuweisen.
(Beifall im ganzen Hause) Ich möchte für die Unionsfraktion aus den vielen
Themen einige herausgreifen, die unsere besondere Auf-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: merksamkeit erfordern. Dabei ist klar, dass es sich hier
Das Wort hat nun Michael Brand für die CDU/CSU- nur um eine Auswahl handeln kann; denn der Bericht der
Fraktion. Bundesregierung stellt zu Recht den Schutz der Men-
schenrechte als Querschnittsaufgabe über alle Politik-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bereiche dar.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17641
Michael Brand
(A) Wir haben als eines der Ziele im Kampf für die Men- Ich spreche auch über die Entwicklung auf dem Bal- (C)
schenrechte den Kampf gegen die Todesstrafe. Das gilt kan. Manches Mal diskutieren wir über die Folgen des
vor allem mit Blick auf China, das nicht nur Exportwelt- größten Krieges in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
meister ist, sondern leider auch das Land mit den welt- so, als sei die Gefahr schon vorbei. Aus eigener An-
weit meisten Hinrichtungen; nicht selten sind davon schauung kann ich davor nur warnen. Natürlich ist die
auch korrupte Funktionäre betroffen. Wir rufen China EU-Perspektive wichtig. Die Hilfe für die Reformen der
dazu auf, mehr Demokratie und mehr Menschenrechte Länder auf dem Westbalkan ist ein wichtiger Beitrag für
zu wagen. Eine große Kulturnation wie China kann auf Frieden und Stabilität in Europa.
Dauer nicht Erfolg haben, wenn die eigenen Kräfte von
der Einparteiendiktatur eingesperrt werden. So rufen wir Insbesondere für Bosnien-Herzegowina ist mit dem
auch heute die chinesische Führung zu einem souverä- Dayton-Vertrag eine Ordnung festgeschrieben worden,
nen Umgang mit den Menschenrechten und zu weniger die Minderheitenrechte klein- und Machtverhältnisse
Angst vor dem großen chinesischen Volk auf. Wir appel- großschreibt. Der Europäische Gerichtshof für Men-
lieren auch an China, den Friedensnobelpreisträger und schenrechte hat die Diskriminierung von Roma und Ju-
Schriftsteller Liu Xiaobo freizulassen. den durch diese auch von Deutschland mitverhandelte
Ordnung in einem viel beachteten Urteil gerügt und Än-
Ein zentrales Anliegen der deutschen wie europäi- derungen verlangt.
schen Menschenrechtspolitik ist die Religionsfreiheit.
Wer die zweite Bestrafung der Opfer durch die alltäg-
Mein Kollege Klimke wird dazu später noch einiges aus-
liche Diskriminierung nicht will, wer eine latente Eska-
führen. Es bleibt ein wichtiges Anliegen, dass der UN-
Charta in allen Ländern Geltung verschafft wird, in der lation der Spannungen auf dem Balkan, und zwar nicht
nur im Kosovo, verhindern will, der muss sich mit dieser
es heißt, dass niemand wegen seiner religiösen Haltung
Frage befassen. Auch hier gilt: Wer zu spät handelt oder
diskriminiert werden darf.
zu wenig tut, der wird mit einer weiteren Bedrohung der
(Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP]) europäischen Stabilität bestraft.
Wir mahnen dies bei uns selbst an: Wir verteidigen die Ich möchte ein Thema herausgreifen, das mich per-
Freiheit der Religionen, auch der Religionen der Min- sönlich vor wenigen Wochen schockiert hat. Die Kata-
derheiten, in unserem Land sehr aktiv. Umso mehr for- strophe in Somalia ist wirklich eine Katastrophe bibli-
dern wir, dass in China, in Kuba, in Afghanistan, in schen Ausmaßes.
Indien und auch in den arabischen Ländern die Men- Man kann über die Folgen des Klimawandels disku-
schenrechte gerade bei religiösen Minderheiten geachtet tieren, man muss über die Unterentwicklung sprechen.
werden. Man muss sicher auch die lange Zeit fehlenden Ansätze (D)
(B)
Die meisten Weltreligionen predigen Verständnis und für eine Förderung kleinteiliger Landwirtschaft bekla-
nicht Vernichtung. Wer Andersgläubige ermordet, nur gen; hier wurde nun von Minister Niebel Gott sei Dank
weil sie Gläubige sind, geht zurück in die Steinzeit. Wer massiv umgesteuert. Aber das Elend in dem größten
Andersgläubige unter Druck setzt, sie still oder aktiv un- Flüchtlingslager in Dadaab hat mir im wahrsten Sinne
terdrückt, verletzt die UN-Charta in einem zentralen des Wortes die Sprache verschlagen, das muss ich ganz
Punkt. Wir beobachten weiterhin kritisch, wie Toleranz persönlich sagen. Diesen hilflosen und völlig ausgemer-
im Alltag der Gläubigen konkret aussieht. Das betrifft gelten Kindern und ihren Familien teils nur noch beim
im Übrigen auch die Länder in unserer unmittelbaren Leiden zusehen zu müssen, war wirklich schlimm. Es
Nachbarschaft, von der Türkei über die nordafrikani- waren nicht nur die Kinder, die vor Hunger geschrien ha-
schen Staaten bis hin zu Ägypten und anderen islamisch ben, sondern ganz besonders erschüttern die Kinder, die
geprägten Ländern. Die Achtung vor Gott – das sage ich vor Hunger nicht mehr schreien konnten.
als gläubiger Christ – schließt die Missachtung der Men- Nun hilft es nicht, nur zu klagen. Wir haben natürlich
schen aus. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, hier auch geholfen und weitere Mittel bereitgestellt, um diese
nachdrücklich am Ball zu bleiben. humanitäre Katastrophe zumindest abzumildern. Den-
Konkret möchte ich in diesem Zusammenhang das noch wird das alleine nicht reichen. Nach meiner Rück-
Kloster Mor Gabriel in der Türkei nennen, dessen kleine kehr haben wir im Ausschuss für Menschenrechte und
christliche Gruppe sich seit Jahren gegen Diskriminie- Humanitäre Hilfe eine Anhörung der Hilfsorganisatio-
rung, auch vonseiten staatlicher Stellen, wehren muss. nen durchgeführt, in der klar die dramatische Lage in
Der manches Mal überselbstbewusste türkische Minis- Somalia selbst beschrieben wurde. Wir alle wissen, dass
terpräsident Erdoğan gibt gerne Ratschläge an Partner- es keine einfachen Lösungen gibt, aber wir müssen mehr
länder. Wir raten ihm, seinen eigenen Ansprüchen ge- Wege gehen, als nur auf die Öffnung der Zubringer nach
recht zu werden und die Religionsfreiheit in seinem Mogadischu zu hoffen.
Land zu fördern, statt sie einzuschränken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen letzten Appell
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erlaube ich mir in diesem Zusammenhang, hoffentlich
im Namen von uns allen im Deutschen Bundestag. Die
Wohin Intoleranz und Hass führen können, darüber Hilfsorganisationen leisten einen Dienst der Menschlich-
haben wir in dieser Woche in diesem Hohen Haus disku- keit und der Nothilfe. Davon konnte ich mich – wie viele
tiert. Ich spreche nicht nur von den innenpolitischen De- andere in diesem Haus, der Menschenrechtsausschuss
batten über den blinden Hass von Rechtsextremisten. im Besonderen – vor Ort überzeugen. Ich möchte von
17642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Michael Brand
(A) dieser Stelle noch einmal eindringlich an die Menschen Saudi-Arabien, die dann bei der nächsten gewaltsamen (C)
in unserem Land appellieren: Helfen Sie denen, die den Niederschlagung von Protesten eingesetzt werden. So
Menschen in Not helfen! Öffnen Sie nicht nur vor dem eine Politik ist nur scheinheilig.
christlichen Weihnachtsfest das Herz für die Mitmen-
Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass die US-
schen in der Not! Spenden Sie! Jeder Euro hilft Men-
Firma Blue Coat in Syrien im Einsatz ist. Mit den Gerä-
schen, die sich in allergrößter Not befinden und vom
ten von Blue Coat hat das Assad-Regime das Internet
Tode bedroht sind. Ich wünsche mir sehr, dass wir den
zensiert und überwacht, um gegen die Opposition vorzu-
unschuldigen Opfern dieser Kriege auch als Bürgerinnen
gehen. Eine Schande!
und Bürger unseres Landes mit ein wenig Einsatz helfen
können und das Überleben ermöglichen. Wie Frau Graf möchte auch ich einige Worte zu den
Menschenrechtsverteidigern sagen. Noch immer gibt es
Vielen Dank.
keine verbindlichen Vorgaben und Mechanismen, nach
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denen unsere Botschaften vor Ort zum Schutz von Men-
schenrechtlern beitragen müssen. Noch immer hängt es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von den persönlichen Neigungen der Botschafter und
Das Wort hat nun Annette Groth für die Fraktion Die Botschafterinnen ab, ob sie die EU-Leitlinien wirklich
Linke. umsetzen. Daher fordert die Linke eine effiziente Koor-
dinierung, Anleitung und Evaluierung durch das Aus-
(Beifall bei der LINKEN) wärtige Amt sowie eine entsprechende personelle und
sachliche Ausstattung der Vertretungen vor Ort.
Annette Groth (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie
kann ich eine Regierung ernst nehmen, die behauptet, In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass ihr
der Schutz der Menschenrechte sei eine alles staatliche die Verhinderung der Straflosigkeit für schwere Völker-
Handeln umfassende Querschnittsaufgabe, die aber tat- rechtsverbrechen ein wichtiges Anliegen sei. Bislang
sächlich eine Politik macht, in der sie häufig eigene Inte- müssen sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof je-
ressen auf Kosten der Menschenrechte anderer verfolgt? doch fast nur afrikanische Machthaber verantworten. Wo
sind die Anklagen wegen Kriegsverbrechen in Afghanis-
Ziel der westlichen Politik in der arabischen Welt ist tan, im Irak oder in Gaza? Wo ist die Bundesregierung,
zum Beispiel nach wie vor die Sicherung wirtschaftli- wenn es darum geht, die Empfehlungen des Goldstone-
cher und politischer Einflusszonen. Samir Amin, einer Berichts an den Internationalen Strafgerichtshof zu über-
der bedeutendsten arabischen Intellektuellen, schreibt weisen und die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen
(B) dazu: (D)
im Gaza-Krieg zur Rechenschaft zu ziehen? Der Interna-
Die Vereinigten Staaten und Europa wollen in der tionale Strafgerichtshof kann nur dann ein glaubwürdi-
arabischen Welt wiederholen, was in Mali, auf den ger Ort der Gerechtigkeit werden, wenn der Kampf ge-
Philippinen und in Indonesien passiert ist: Alles gen Straflosigkeit nicht ein selektives Machtinstrument
verändern, um nichts zu ändern. Nachdem die des Westens bleibt.
Volksbewegungen in diesen Ländern ihre Diktato- Menschenrechtliche Standards und soziale Absiche-
ren gestürzt hatten, haben die imperialistischen rungsstrukturen werden in vielen Ländern durch Frei-
Mächte alles daran gesetzt, dass ihre grundlegenden handelsabkommen mit Entwicklungs- und Schwellen-
Interessen im Bereich des Neoliberalismus und der ländern untergraben. Was ich in Ihrem Bericht vermisse,
Außenpolitik durch die eingesetzten Regierungen ist eine selbstkritische Bestandsaufnahme der deutschen
geschützt werden. Handelspolitik und ihre fatalen Auswirkungen auf die
Rechte der Menschen in den Staaten des Südens.
Nehmen wir nur das Beispiel der Lieferungen von
Waffen und Überwachungstechnologien. Im Jahr 2010 (Beifall bei der LINKEN)
wurden mehr Waffen als je zuvor von Deutschland ex-
portiert. Das ist ein Skandal. Darum fordern wir ein um- Deutsche und europäische Unternehmen waren und
fassendes Exportverbot von Waffen. sind noch stets an Menschenrechtsverletzungen beteiligt,
zum Beispiel ThyssenKrupp in Brasilien, Triumph in
(Beifall bei der LINKEN) Bangladesch oder Daimler in Südafrika, um nur einige
zu nennen. Auch diese Problematik blendet der Bericht
„Mit Waffen ‚Made in the West‘ bringen Sie uns um!
völlig aus. Im nächsten Menschenrechtsbericht muss die
Bitte macht das öffentlich!“ Dieser Hilferuf einer jungen
Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen
ägyptischen Aktivistin, der uns kürzlich erreichte, unter-
durch deutsche Unternehmen im Ausland Stellung neh-
streicht unsere Forderung. Am 28. November 2011 ha-
men und begründen, mit welchen Mitteln und Instru-
ben sich Hafenarbeiter in Suez geweigert, eine Ladung
menten sie diese an die Einhaltung menschenrechtlicher
mit 7,5 Tonnen Tränengas aus den USA zu löschen. Ins-
Standards binden will.
gesamt hat Ägypten in dieser Woche 21 Tonnen Tränen-
gas erwartet. (Beifall bei der LINKEN)
Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoali- Solange Sie Doppelstandards anwenden und lediglich
tion, reden häufig über die Unterstützung der Protestbe- eigene Interessen verfolgen, kann ich die Menschen-
wegung und liefern trotzdem gleichzeitig Panzer nach rechtspolitik der Bundesregierung nicht wirklich ernst
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17643
Annette Groth
(A) nehmen. Erst wenn uns das Schicksal der Kinder in stattung auszukommen, so sagt die Bundesstelle, ist eine (C)
Bahrain, in Ägypten, in Ostafrika – Sie haben es gerade illusionäre Forderung. Auch der UN-Ausschuss gegen
angesprochen – und überall auf der Welt so am Herzen Folter hat in diesem Monat in seinem abschließenden
liegt, als wären es unsere eigenen Kinder, machen wir Bericht gefordert, die Bundesstelle personell und finan-
eine echte und glaubwürdige Menschenrechtspolitik. ziell besser auszustatten. Das ist eine Kritik, die von au-
Setzen wir uns dafür alle ein! ßen kommt. Sie wird in diesem Bericht ehrlicherweise
erwähnt. Aber gehandelt haben Sie nicht. Dabei wäre
Danke.
dies eigentlich der Moment, zu handeln.
(Beifall bei der LINKEN)
Ganz ähnlich sieht es bei der Umsetzung der interna-
tionalen Konventionen aus. In der Anhörung, die die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin Graf erwähnt hat, hat eine frühere österreichi-
Das Wort hat nun Tom Koenigs für die Fraktion sche Ministerin gesagt: Oft macht man es so, dass man
Bündnis 90/Die Grünen. die Konventionen ratifiziert und dann sagt, es passt, man
braucht nichts weiter zu ändern. – So wurde endlich der
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention zurückge-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nommen. Gleichzeitig hat man aber gesagt: Es besteht
Herren! Der neunte Menschenrechtsbericht der Bundes- keinerlei gesetzlicher Handlungsbedarf. – Die Konse-
regierung hat viele gute Seiten. Er ist eingeteilt in einen quenz: Flüchtlingskinder werden in Asylverfahren wei-
Teil A, der sich mit Deutschland und der Europäischen terhin wie Erwachsene behandelt. Das widerspricht dem
Gemeinschaft befasst, und die Teile B und C, die sich Kindeswohl und der UN-Kinderrechtskonvention. Kin-
mit den übrigen Ländern befassen. der sollten nicht in Haft genommen werden.
Wenn man sich die Teile B und C wirklich durchliest, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
dann kommt man zu einer Erkenntnis: Die Menschen- bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-
rechte kommen überall da voran und werden entspre- ordneten der CDU/CSU und der FDP)
chend beachtet und gefördert, wo es starke Menschen-
Wenn wir vor unserer eigenen Haustür nicht mit dem
rechtsinstitutionen gibt. Das sind Institutionen der
gleichen Maß messen wie in der weiten Welt, dann wirft
Zivilgesellschaft, Institutionen des Staates und halbstaat-
uns die weite Welt ganz zu Recht Doppelmoral vor. Da
liche Organisationen wie die Ombudsleute für Men-
brauchen wir gar nicht bis nach Guantánamo zu schauen,
schenrechte, die Procuradores de Derechos Humanos,
sondern können schon bei uns selber sehen: Das geht so
oder die unabhängige Menschenrechtskommission in
nicht. Wir müssen dieselben Standards haben. Sonst sind
(B) Afghanistan. Das ist eine Erkenntnis, die sich durch den die guten Ratschläge, die wir anderen geben, wirkungs- (D)
gesamten Bericht zieht.
los und lächerlich.
Wenn man vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis
den Blick auf Deutschland richtet, dann scheint es so, als Noch ein letzter Satz zu der großen Gemeinsamkeit,
die Herr Brand angesprochen hat. Dieser Bericht hat viele
ginge es hier gerade darum, die Einrichtungen des Men-
gute Seiten. Ich freue mich auch, dass es viele Gemein-
schenrechtsschutzes eher schwach zu halten. Das ist
doch inkonsistent, sowohl menschenrechtlich als auch samkeiten gibt. Ich bedaure aber, dass sich diese Gemein-
samkeiten im Ausschuss fast nie realisieren lassen. Es
außenpolitisch. Das ist Doppelmoral. Ich nenne Ihnen
gibt zwar Gemeinsamkeiten; aber wenn es um die parla-
hierzu zwei Beispiele:
mentarische Umsetzung geht, stockt es. Gibt es in der
Erstens. Erst in der letzten Woche hat die Bundesre- CDU/CSU-Fraktion vielleicht einige Spoiler – oder sollte
gierung die Mittel der Antidiskriminierungsstelle des ich besser sagen: Spoilerinnen –, die diesen Friedenspro-
Bundes gekürzt. Das hat spürbare Konsequenzen. Es zess behindern?
fehlt an Geld für bundesweite Aufklärungskampagnen
und wissenschaftliche Untersuchungen. Das ist ein Af- Vielen Dank.
front gegen das Gleichbehandlungsgesetz. Manchmal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hat man das Gefühl, dass Sie das auch wollen; denn Sie und bei der SPD)
haben das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ja lange
bekämpft. Die Diskriminierungsstelle wird ihre wichti-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gen gesellschaftspolitischen Aufgaben nur schwer erfül-
len können: Aufbau, Stärkung und Schutz einer offenen, Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
diskriminierungsfreien Gesellschaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zweitens. Die Bundesstelle zur Verhütung von Folter
muss über 300 Gefängnisse und Haftanstalten regelmä- Pascal Kober (FDP):
ßig überprüfen. Diese Mammutaufgabe sollen ein einzi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ger ehrenamtlicher Leiter und drei wissenschaftliche Lieber Kollege Tom Koenigs, auch Sie können irren. Es
Mitarbeiter erfüllen? In ihrem Jahresbericht 2010 kriti- ist beileibe nicht so, dass wir nach außen Wasser predi-
sierte diese Institution zu Recht, dass sie ihre Aufgaben gen und nach innen Wein trinken, dass wir also in der in-
nur ansatzweise erfüllen konnte. Wie würden wir mit ei- ternationalen Menschenrechtspolitik Forderungen auf-
ner solchen Situation umgehen, wenn sie in einem der stellen, aber untätig bleiben. Ich will Ihnen gerne ein
beobachteten Länder so wäre? Mit dieser Personalaus- paar Beispiele nennen.
17644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Pascal Kober
(A) Die Kinder haben für diese Bundesregierung höchste Auch die sexuelle Selbstbestimmung ist ein Men- (C)
Priorität. Wir haben deshalb im Juli 2010 die Vorbehalts- schenrecht. Dazu gehört nicht nur der Abbau von Vorur-
erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurückge- teilen, sondern auch die gleichberechtigte rechtliche
nommen. Behandlung unterschiedlicher partnerschaftlicher Le-
bensentwürfe.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall des Abg. Jürgen Klimke [CDU/CSU])
CDU/CSU und der SPD)
Aus dieser Grundüberzeugung heraus haben wir in die-
Dies war ein wichtiger Schritt für die Einhaltung der ser Koalition die Gleichstellung von gleichgeschlechtli-
Kinderrechte in Deutschland. In der Folge ist das Wohl chen Lebenspartnerschaften weiter vorangetrieben. So
eines Kindes nun bei allen behördlichen und privaten haben wir sie bei der Erbschaftsteuer, der Grunderwerb-
Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen. Sämtliche steuer, dem BAföG und bei Beamten-, Richter- und Sol-
deutsche Behörden und Gerichte sind in der Pflicht, dem datenrecht der Ehe gleichgestellt.
Vorrang des Kindeswohls Geltung zu verschaffen, indem
Um unser Wissen über die Wurzeln von Homophobie
sie ihre Entscheidungspraxis an den Erfordernissen der
und Diskriminierung gleichgeschlechtlich liebender Men-
Kinderrechtskonvention ausrichten. Darüber hinaus ha-
schen zu erweitern und der Diskriminierung entgegen-
ben wir als Regierungskoalition klargestellt, dass Kin-
wirken zu können, haben wir dieses Jahr die Magnus-
derlärm nicht als schädliche Umwelteinwirkung anzuse-
Hirschfeld-Stiftung auf den Weg gebracht.
hen ist, und haben damit faktisch den Lebensraum und
den Entfaltungsraum der Kinder in unserem Land ver- Erst vorgestern haben wir im Ausschuss über das
größert. Thema Menschenhandel gesprochen. Es geht um einen
Straftatbestand. Ich möchte darauf aufmerksam machen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dass der Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung
Wir haben den Kindern aus sozial schwächer gestell- von Arbeitskraft in den letzten Jahren auch in Deutsch-
ten Familien mit der Einführung des Bildungs- und Teil- land zugenommen hat. Wir bringen derzeit die Ratifizie-
habepakets bessere Entwicklungs-, Bildungs- und ge- rung des Übereinkommens des Europarats zur Bekämp-
sellschaftliche Teilhabechancen eröffnet. Wir haben im fung des Menschenhandels voran. Den entsprechenden
Bereich des Internets das Prinzip „Löschen statt sperren“ Gesetzentwurf haben wir im Oktober hier im Plenum be-
durchgesetzt. Damit wird in Zukunft nicht nur der Zu- raten, und er wird nun im federführenden Familienaus-
griff auf kinderpornografische Internetseiten erschwert, schuss eingehend bearbeitet.
sondern es werden auch die Persönlichkeitsrechte der Mit diesem Übereinkommen werden nicht nur die Vo-
(B) Kinder und das Kindeswohl geschützt, und zwar da- raussetzungen für eine engere europäische Zusammenar- (D)
durch, dass die Bilder dieser grausamen Straftaten in Zu- beit zur Bekämpfung des Menschenhandels geschaffen,
kunft aus dem Netz verschwinden werden. sondern es enthält auch eine Angleichung der Straftatbe-
Wir haben den Schul- und den Kindergartenbesuch stände und Vorschriften zur effizienten Strafverfolgung
für Kinder von Zuwanderern ohne Aufenthaltsstatus er- sowie zum Schutz von Opfern und Zeugen. Damit wer-
möglicht, indem wir Meldepflichten gelockert haben. den wir der organisierten Menschenhandelskriminalität
auch in Deutschland besser begegnen können.
Wir haben einen eigenständigen Straftatbestand zur
Bekämpfung von Zwangsheirat geschaffen. Wir zeigen Lieber Tom Koenigs, ich hätte mich gefreut, wenn Sie
mit dem Gesetz einerseits klare Kante gegenüber den in Ihrer Rede auch dafür ein anerkennendes Wort gefun-
Tätern, andererseits gibt das eigenständige Rückkehr- den hätten.
recht für die Opfer von Zwangsheirat diesen Menschen Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vielen
eine Perspektive in unserem Land, da ihr Recht auf Wie- Dank.
derkehr nun unabhängig davon, ob sie ihren Lebensun-
terhalt in Deutschland sichern können, zur Anwendung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kommen kann.
Dass uns sowohl der Opferschutz als auch die Rechte Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
von Kindern wichtige Anliegen sind, hat diese Koalition Das Wort hat nun Ullrich Meßmer für die SPD-Frak-
auch demonstriert, indem sie die Rechte von Opfern in tion.
Ermittlungs- und Strafverfahren gestärkt hat. Damit wer- (Beifall bei der SPD)
den auch die entsprechenden Empfehlungen aus dem
Zwischenbericht des Runden Tisches gegen sexuellen
Ullrich Meßmer (SPD):
Kindesmissbrauch umgesetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
Die vorgesehenen Maßnahmen in Ermittlungs- und ist richtig: Mit dem neunten Menschenrechtsbericht wur-
Strafverfahren sollen dem schwer traumatisierten Opfer den Schwerpunkte gesetzt. Diese Schwerpunkte sind si-
das Verfahren gegen den Straftäter erleichtern, beispiels- cherlich auch regierungszeitenübergreifend. Ich will hier
weise durch die Vermeidung von Mehrfachvernehmun- insbesondere drei große Schwerpunkte nennen, nämlich
gen, durch verbesserte Verfahrensrechte, durch den An- erstens die Rechte von Frauen und Mädchen – hier geht
spruch auf kostenlose juristische Beratung und durch die es insbesondere auch um die Zwangsverheiratung –,
Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit. zweitens die Bekämpfung von Kinderpornografie und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17645
Ullrich Meßmer
(A) die Ausbeutung von Kindern – dazu ist hier schon eini- doppelt so viele haben keinen Zugang zu sanitärer Basis- (C)
ges gesagt worden, auch aus der Anhörung, die wir dazu versorgung.
durchgeführt haben – und drittens die Anerkennung des
Das ist eines der Themen, das auch in Zukunft auf der
Menschenrechts auf Trinkwasser und Sanitärversorgung,
Tagesordnung bleiben muss. Es wird nämlich keine Um-
weshalb ich hier auch ein bisschen auf die Zeit eingehe,
setzung von weiter gehenden Freiheitsrechten geben
in der ich das Ganze verfolgen konnte.
– Kollege Brand, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie in
Vor allen Dingen wird mit dem Bericht klargestellt, diesem Zusammenhang auf Somalia hingewiesen
dass die Menschenrechte unteilbar sind und einen Quer- haben –, wenn es nicht auch gleichzeitig gelingt, das
schnittscharakter für alle Bereiche der Politik und des Recht auf Wasser und sanitäre Versorgung durchzuset-
politischen Handelns haben. Albert Einstein hat dies et- zen und damit das Recht auf Nahrung für die Betroffe-
was pathetischer ausgedrückt, aber ich finde, dieser Satz nen sicherzustellen. Menschenrechte müssen immer in
ist noch immer richtig. Er sagte: ihrer Gesamtheit verwirklicht werden.
Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf Ich möchte in diesem Zusammenhang – ich konnte
um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei das über zwei Jahre beobachten – dem Beauftragten der
dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist. Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, Markus
Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Un- Löning, ganz herzlich danken.
tergang der Gesellschaft bedeuten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich denke, er hat hier sehr recht.
Er hat viele umfangreiche Berichte angefertigt. Er be-
In diesem Zusammenhang sage ich: In Bezug auf richtet auch dann sehr offen über Probleme – das will ich
Menschenrechte ist kein Stillstand zu dulden. Kollege an dieser Stelle ebenfalls sagen, Frau Kollegin Groth –,
Kober, bei aller Anerkennung: Wir müssen also weiter- wenn es nicht in die regierungsamtliche Linie passt. Mir
machen und uns weiterentwickeln. Deshalb ist es richtig gefällt das sehr gut. Deshalb spreche ich ihm meinen
und notwendig, auf Dinge hinzuweisen, die wir noch be- herzlichen Dank aus. Ich hoffe, dass er in dieser Rich-
handeln müssen. Ich denke, diese Punkte sollten wir zum tung weitermacht und dass er den Ausschuss auch wei-
Anlass nehmen, einen kritischen Diskurs zu führen. terhin entsprechend informiert.
Menschenrechte dulden kein Verharren im Status quo. Ich stelle aber auch fest: Wir haben, wenn wir auf die
Es ist erfreulich, wenn es Verbesserungen gibt. Am Bei- inneren Verhältnisse schauen – da kann ich den Kollegen
(B) spiel der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Koenigs nur unterstützen –, noch einiges zu tun. Das Zu- (D)
Rechte – kurz: WSK-Rechte –, die von den Vereinten satzprotokoll zum UN-Sozialpakt ist immer noch nicht
Nationen eingefordert werden, wird dies deutlich. Diese ratifiziert. Wir befinden uns seit zwei Jahren in der Dis-
Rechte schützen elementare Bereiche des Lebens wie kussion. Ich finde, dass die Begründung, es sei noch eine
Ernährung, Gesundheit, Bildung und Arbeit. Zugleich Abstimmung unter den Ministerien erforderlich, nur
enthalten sie den Anspruch auf Gleichberechtigung, also noch eine begrenzte Zeit gelten kann. Es ist notwendig,
einen Schutz vor Diskriminierung jeglicher Art. Mit in dieser Frage voranzukommen. Das sage ich auch mit
Blick auf die vorherige Debatte zum Girokonto sage ich: dem Hinweis darauf, dass schon vorher mehr hätte pas-
Wir müssen aufpassen, dass auch bei uns Menschen sieren müssen. In dieser Frage sind wir uns einig. Daher
nicht diskriminiert werden, nur weil sie keinen Zugang sollten wir die Regierung bitten, hier etwas zügiger zu
zu technischen Möglichkeiten haben, die heute selbst- handeln.
verständlich sind. Auch über dieses Problem müssen wir
Ich spreche diesen Punkt so deutlich an, weil die Be-
bei uns weiterhin diskutieren.
troffenen, also die Opfer von Menschenrechtsverletzun-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, durch dieses Zusatzprotokoll die Möglichkeit be-
DIE GRÜNEN) kommen, ihre individuellen Rechte einzufordern. Das
muss auch so sein. Denn wenn ein diskriminierungs-
Die Umsetzung der Menschenrechte trägt also zur freier Zugang zu Bildung und Arbeit verweigert wird,
menschenwürdigen Gestaltung der Lebensverhältnisse dann muss es für die Betroffenen die Möglichkeit geben,
auf der Grundlage gleichberechtigter und solidarischer darauf zu reagieren. Das ist auch deshalb dringend nötig,
Freiheit bei. Die WSK-Rechte gelten unmittelbar als um den Menschenrechtsverteidigern, die weltweit in den
Rechtspflicht für alle Staaten, die sie anerkannt haben. Betrieben als Gewerkschafter engagiert sind, die not-
Wir müssen viel dafür tun, sie durchzusetzen. wendige Rückendeckung zu geben. Ich denke da an die
Der Bericht stellt in diesem Zusammenhang eine Menschen, die sich beispielsweise in Kolumbien und
Reihe von Menschenrechtsverletzungen fest, auch im Mexiko zu Gewerkschaften zusammenschließen wollen
Bereich des Rechts auf sauberes Trinkwasser und Sani- und deren Leib und Leben deshalb bedroht ist. Daher
tärversorgung; ich habe es schon angesprochen. Ich will wäre es ein gutes Zeichen, wenn wir hier den entspre-
noch einmal in Erinnerung rufen: Ohne Wasser gibt es chenden Schritt gehen würden.
keine Nahrung und keine wirtschaftliche Entwicklung.
Es ist noch immer so, dass mehr als 1,2 Milliarden Men- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schen der Zugang zu sauberem Trinkwasser fehlt. Fast Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
17646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Ullrich Meßmer (SPD): ßer ist diese Aufgabe aber außenpolitisch. Es geht da- (C)
Wir müssen deutlich machen, dass die Achtung der rum, gegenüber anderen Regierungen immer wieder die
Menschenrechte in Zukunft Bestandteil von Handelsab- Einhaltung der Menschenrechte anzumahnen. Es darf
kommen mit diesen Ländern sein muss. Ich meine, dass aus unserer Sicht kein Gesetz geben, das den Menschen-
die Menschenrechte in solche Vereinbarungen verpflich- rechten widerspricht, und zwar nirgendwo auf der Welt.
tend und verbindlich aufgenommen werden müssen. Es darf auch kein staatliches oder staatlich geduldetes
Handeln geben, das den Menschenrechten widerspricht.
Mein Dank geht an dieser Stelle an das Europäische Es kann nicht sein, dass ein Staat auf dem Papier lupen-
Parlament, das vor kurzem ein Abkommen mit Usbekis- reine Gesetze hat, sich aber faktisch nicht daran hält.
tan wegen der dort weitverbreiteten Kinderarbeit zurück-
gewiesen hat. Das ist ein gutes Beispiel. Lassen Sie uns Wir als Menschenrechtspolitiker treten nicht nur
in dieser Richtung weitermachen und entsprechende Si- heute anlässlich des bevorstehenden Tages der Men-
gnale aus diesem Parlament senden. schenrechte für deren Achtung und Einhaltung ein. Wir
sehen das als eine dauerhafte Sisyphusarbeit an, sowohl
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. in konkreten Einzelfällen als auch im generellen Kampf
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für eine bessere Welt. Deshalb sind die Bretter, die wir
DIE GRÜNEN) Menschenrechtspolitiker bohren, wahrscheinlich die
dicksten überhaupt. Nachlassen dürfen wir nicht. Es gibt
immer wieder Ermutigungen. Eine Ermutigung ist der
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
arabische Frühling, trotz aller bestehender Unwägbar-
Das Wort hat nun Jürgen Klimke für die CDU/CSU- keiten und trotz der Situation in Syrien, wo es massivste
Fraktion. Menschenrechtsverletzungen gibt. Ein anderes ermuti-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gendes Beispiel ist Myanmar – es wurde vorhin ange-
sprochen –, wo die Regierung die Opposition unter Füh-
Jürgen Klimke (CDU/CSU): rung der Friedensnobelpreisträgerin anerkennt und sich
ernsthaft um Reformen bemüht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Am vergangenen Sonnabend Es gibt aber auch andere Ermutigungen im Einsatz für
demonstrierte ich gemeinsam mit über tausend Men- Menschenrechte, die quasi von unserer Seite ausgehen.
schen in Hamburg für die Freilassung des christlichen Ich möchte hier das Menschenrechtskonzept des Bun-
Pastors Youcef Nadarkhani, der im Iran wegen des Ab- desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
fallens vom islamischen Glauben zum Tode verurteilt und Entwicklung erwähnen, das ich für vorbildlich für
wurde. Jedem, der im Iran seine Religion selbst wählen die europäische Menschenrechtspolitik halte. Wir haben
(B) will und sich dabei nicht für den Islam entscheidet, droht (D)
das neulich in Brüssel auf einer Tagung von Menschen-
das gleiche Urteil. Dürfen wir ein solches Gesetz akzep- rechtspolitikern aus den einzelnen Mitgliedstaaten und
tieren, selbst wenn es die iranische Bevölkerung mittra- mit Außenpolitikern des Europäischen Parlaments be-
gen würde? Dürfen wir hinnehmen, dass die Religions- handeln dürfen. Ich habe gesehen, dass unser Beispiel
freiheit in 64 Ländern der Erde mit fast 70 Prozent der wirklich nachahmenswert ist.
Weltbevölkerung stark eingeschränkt oder überhaupt
nicht existent ist? Es ist so, dass alle Entwicklungsprojekte zukünftig ei-
nem Menschenrechts-TÜV unterzogen werden sollen.
Ein weiteres Beispiel bzw. eine weitere rhetorische Diese entwicklungspolitische Vorgabe des BMZ be-
Frage. Frau Schuster hat bereits den Gesetzentwurf in inhaltet unter anderem einen Kriterienkatalog, mit dem
Uganda angesprochen, der die Todesstrafe für homosexu- die Regierungsführung und die Menschenrechtssituation
elle Handlungen vorsah. Regierungsmitglieder wollten in den Partnerländern bewertet werden. Grundlage sind
ihm zustimmen. Die Bevölkerung hätte das Gesetz mög- die Umsetzung der Menschenrechtskonvention in natio-
licherweise akzeptiert. Aber internationaler Druck und nales Recht, die Schaffung entsprechender Institutionen
die Drohung der Streichung von Entwicklungsgeldern und Verfahren sowie die Ergebnisse der Umsetzung der
aus Deutschland führten dazu, dass der Gesetzentwurf zentralen Menschenrechte. Die Bewertung der Ergeb-
nicht verabschiedet wurde. Dürfen wir Diskriminierung nisse ist dann maßgeblich für unsere Entwicklungsar-
aufgrund sexueller Präferenzen hinnehmen? beit, also für eine Intensivierung und für die Möglich-
keit, dass ein Partnerland auch langfristig ein
Ein letztes Beispiel. Vorgestern wurden die vermeint- Partnerland bleibt.
lichen U-Bahn-Attentäter von Minsk zum Tode verur-
teilt, wahrscheinlich aufgrund von durch Druck und Fol- Das Menschenrechtskonzept des BMZ ist absolut not-
ter erwirkten Geständnissen, in einem zumindest frag- wendig, um unseren diplomatischen Appellen für Men-
würdigen Verfahren. Dürfen wir akzeptieren, dass die schenrechte mehr Nachdruck zu verleihen und damit sie
Justiz nicht unabhängig ist? Dürfen wir die Todesstrafe mehr Anklang finden. Es passt nicht zusammen, durch
überhaupt hinnehmen, auch in den USA und in Japan? unsere Außenpolitiker die Menschenrechtssituation in
verschiedenen Staaten zu kritisieren, gleichzeitig aber
Menschenrechte sind universal und gelten für uns Ländern mit menschenrechtlich unerträglichen Situatio-
alle, auch dort, wo andere Kulturen ihre Andersartigkeit nen Geld bzw. Budgethilfen zukommen zu lassen.
zum Vorwand nehmen, diese Rechte nicht zu gewähren.
Es ist Aufgabe der Politik, die Einhaltung der Men- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schenrechte hier in Deutschland zu garantieren. Viel grö- neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17647
Jürgen Klimke
(A) Insofern ist das Menschenrechtskonzept letztlich auch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
ein Beitrag für mehr Kohärenz zwischen Außenpolitik Kollege Klimke, Sie müssen zum Ende kommen.
und Entwicklungspolitik.
Bedarf sehe ich in dieser Richtung noch auf europäi- Jürgen Klimke (CDU/CSU):
scher Ebene. Hier ist mehr Abstimmung, mehr Kohärenz Ja, Herr Präsident. – Der Tag der Menschenrechte er-
zwischen den Geberländern notwendig. Das ist ganz ein- innert uns immer wieder neu an die Notwendigkeit, in
deutig. unserer intensiven Arbeit in all diesen Bereichen nicht
Der Einsatz für Menschenrechte in der Welt endet für nachzulassen.
uns jedoch nicht bei den zwischenstaatlichen Beziehun- Danke sehr.
gen. Auch wir erkennen, dass es notwendig ist, zum Bei-
spiel international tätige Unternehmen stärker in einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
menschenrechtlichen Verantwortung zu sehen. Diese
Verantwortung hat sich in den Leitlinien der OECD so- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wie in den Guiding Principles der Vereinten Nationen
auch auf internationaler Ebene niedergeschlagen. Ich schließe die Aussprache.

Eines darf aber nicht vergessen werden: Die Haupt- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
haben die Staaten gegenüber ihren Bürgern. Sie setzen Humanitäre Hilfe zu dem Neunten Bericht der Bundes-
den Rechtsrahmen, schaffen Kontrollinstanzen und ahn- regierung über ihre Menschenrechtspolitik in den aus-
den Verstöße gegen Menschenrechte. wärtigen Bereichen und in anderen Politikbereichen. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Unternehmerische Verantwortung kann staatliches Drucksache 17/7941, in Kenntnis des Berichts auf
Handeln in keinem Fall ersetzen. Ich habe bei den Kolle- Drucksache 17/2840 eine Entschließung anzunehmen.
gen in der Opposition manchmal den Eindruck, dass Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
diese Erkenntnis bei ihnen noch nicht ganz angekommen stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
ist. Es geht ihnen vielmehr darum, die Unternehmen fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
durch viele Sanktionen und Vorschriften zu gängeln. tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
Wie die Unternehmen damit klarkommen und dann auch nen angenommen.
weiter im Wettbewerb bestehen sollen, ist für manche
Gutmenschen sekundär. Abstimmung über den Entschließungsantrag der
(B) Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8025. Wer stimmt (D)
Das heißt nicht, dass ich die gesellschaftliche Verant- dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
wortung von Unternehmen bestreite. Die Unternehmen Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von vier
können ohne Zweifel einen Beitrag für eine bessere Fraktionen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.
menschenrechtliche Situation in Entwicklungsländern
leisten. Das tun sie im Übrigen schon sehr intensiv, vor Tagesordnungspunkt 35 b. Beschlussempfehlung des
allen Dingen freiwillig durch Corporate-Social-Respon- Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sibility-Aktivitäten. Hier hat die Bundesregierung durch zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung mit
ihren CSR-Aktionsplan bereits Akzente gesetzt. Wir dem Titel „Menschenrechte und Demokratie in der
wollen uns als Union beim Thema Unternehmensverant- Welt – Bericht über die Maßnahmen der EU – Juli 2008
wortung in Zukunft stärker einbringen. Eine zukünftige bis Dezember 2009“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Frage wird dabei sein, wie wir auch die Verbraucher Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4522, in
stärker sensibilisieren und besser informieren können, Kenntnis des Berichts eine Entschließung anzunehmen.
sodass sich die Sozialverträglichkeit unternehmerisch Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stärker auszahlt. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
Ökologische Nachhaltigkeit und das Bio-Siegel wer- tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
den vom Bürger akzeptiert. Ich glaube, dass ein Social- nen angenommen.
Made-Siegel, also ein Siegel für Produkte, etwa Klei-
dung, die in Entwicklungsländern sozialverträglich her- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 38 auf:
gestellt worden sind, vom Verbraucher akzeptiert wer-
den würde. Er würde viel mehr dieser Produkte kaufen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
und wäre vor allen Dingen bereit, dafür mehr zu bezah-
len. Das ist das Entscheidende. Deswegen trete ich bei – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
jeder Gelegenheit für ein derartiges Siegel ein. Harald Koch, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeord-
Sie sehen, dass der Einsatz für Menschenrechte viel- neter und der Fraktion DIE LINKE
fältig ist. Er reicht von der Unterstützung von Betroffe- Zinssätze für Dispositions- und Überziehungs-
nen und Menschenrechtsverteidigern über die Einfluss- kredite verbrauchergerecht deckeln
nahme auf Regierungen, die Menschenrechte verletzen,
bis hin zu der Verantwortung der Privatwirtschaft auf na- – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
tionaler und internationaler Ebene. Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger, weiterer
17648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Vertragsparteien – in diesem Fall zwischen den Verbrau- (C)
DIE GRÜNEN chern und den Banken –, über die Angemessenheit von
Preis- und Zinsvereinbarungen zu befinden. Die Bundes-
Verbraucherinnen und Verbraucher vor über- regierung hat sich dabei grundsätzlich neutral zu verhal-
höhten Überziehungszinsen schützen ten. Eine Festlegung von Zinsobergrenzen oder eine
– Drucksachen 17/2913, 17/3059, 17/3586 – Zinssatzdeckelung lehnen wir ab, weil wir darin einen
nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit se-
Berichterstattung: hen.
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Marianne Schieder (Schwandorf) Das hat übrigens auch der Bundesgerichtshof deutlich
Christian Ahrendt gemacht. Vertraglich vereinbarte Zinsanpassungsklau-
Jens Petermann seln in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind ein
Ingrid Hönlinger wirksames und transparentes Instrument zur Bewahrung
des Gleichgewichts von Preis und Leistung bei langfris-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
tigen Verträgen. Obendrein würde eine schematische
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
starre Weitergabe von Leitzinssenkungen bzw. -erhöhun-
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
gen den zahlreichen funktionalen Zusammenhängen bei
Ich eröffne die Aussprache und erteile Erik der Zinsentwicklung am Geld- und Kapitalmarkt nicht
Schweickert für die FDP-Fraktion das Wort. gerecht werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Auch die Kartellbehörden sehen übrigens derzeit
der CDU/CSU) keine Veranlassung, bei den Dispozinsen einzuschreiten.
Es gibt keinerlei Hinweise auf ein abgestimmtes Verhal-
Dr. Erik Schweickert (FDP): ten der Kreditinstitute bei der Zinshöhe.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt kein Recht auf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
billige Schulden. Das ist klar. Verbraucherpolitik ist auch Herr Kollege Schweickert, gestatten Sie eine Zwi-
keine verkappte Sozialpolitik. Wer mit seinem Geld schenfrage der Kollegin Lay von der Linken?
nicht auskommt, der muss sparen. Den Dispokredit ins
Unermessliche auszunutzen, ist keine Alternative zum
Sparen. Keiner ist gezwungen, sein Konto zu überzie- Dr. Erik Schweickert (FDP):
hen. Erst recht hat keiner einen Anspruch darauf, dass er Ja.
(B) diese Überziehung auch noch zu staatlich festgelegten (D)
Kosten durchführen kann. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Dennoch können wir uns mit dem derzeitigen Zu- Frau Lay, bitte.
stand nicht abfinden. Denn so richtig es ist, wie ich ge-
rade gesagt habe, dass es kein Recht auf billige Schulden Caren Lay (DIE LINKE):
gibt, so richtig ist es auch, dass die Banken kein Recht Herr Kollege Schweickert, vielen Dank für die Mög-
haben, sich auf der einen Seite billig Geld am Kapital- lichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
markt zu leihen und die Kunden auf der anderen Seite
nicht daran teilhaben zu lassen. Sie haben argumentiert, es würde sich aus Ihrer Sicht
um einen unzulässigen staatlichen Eingriff handeln. Ich
Aus meiner Sicht ist das gängige Vorgehen der Ban-
möchte Sie an dieser Stelle fragen, ob Ihnen bekannt ist,
ken zu hinterfragen. Denn auf der einen Seite wird be-
dass es beim Zahlungsverzug bereits eine staatliche bzw.
gründet, der niedrige Leitzins führe naturgemäß zu ge-
gesetzliche Regelung gibt, die besagt – wie wir das auch
ringen Guthabenzinsen. Auf der anderen Seite ist aber
in unserem Antrag vorschlagen –, dass im Falle des Zah-
der Dispozins nach wie vor sehr hoch. Die Differenz
lungsverzugs ein Zinssatz von 5 Prozentpunkten über
zwischen Guthabenzins und Dispozins wird damit grö-
dem Basiszinssatz, der von der Bundesbank berechnet
ßer. Man kann sich also definitiv nicht des Eindrucks er-
wird, verlangt werden darf. Warum ist an der einen
wehren, dass viele Banken die Chance nutzen, ihre Ei-
Stelle eine gesetzliche Regelung möglich, während Sie
genkapitalbasis auf Kosten der Verbraucher zu erhöhen.
an der anderen Stelle sagen, hier herrsche Vertragsfrei-
Damit zahlt der Verbraucher nun zum dritten Mal die Ze-
heit und das Ganze sei ein unzulässiger staatlicher Ein-
che der Finanzkrise, an der die Banken wahrlich nicht
griff? Diese Logik und dieses Messen mit zweierlei Maß
unschuldig waren. Erst haben die Anleger viel Geld ver-
wollen sich mir einfach nicht erschließen.
loren; dann wurden Banken mit Staatsgeldern gerettet,
und nun refinanzieren sich die Banken auf Kosten der
Verbraucher bei den Dispo- und Überziehungszinsen. Dr. Erik Schweickert (FDP):
Vielen Dank für die Frage, Frau Lay. – Vielleicht hätten
(Caren Lay [DIE LINKE]: Meine Worte!)
Sie mit Ihrer Frage noch einen Moment warten sollen. Ich
Aber – damit komme ich wieder zum Anfang meiner wollte auf dieses Thema noch zu sprechen kommen. Sie
Rede, Frau Lay – es ist nicht die Aufgabe des Staates, für müssen sich nämlich einmal anschauen, wie sich das
eine billige Refinanzierung der Verbraucher zu sorgen. Ganze – Sie schlagen auch bei Dispositionskrediten einen
Denn im Rahmen der Privatautonomie ist es Sache der Zinssatz von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17649
Dr. Erik Schweickert
(A) vor – entwickelt hat. Ich ziehe das einmal vor und fahre (Beifall bei der CDU/CSU) (C)
jetzt einfach in meiner Rede fort.
Wir haben uns einmal angesehen, wie die Situation Ansgar Heveling (CDU/CSU):
ist. Es gibt dazu eine Untersuchung der Stiftung Waren- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
test; sie hat in der Oktoberausgabe ihrer Zeitschrift da- Zinssätze für Dispositionskredite der Banken weichen
rüber berichtet. Danach ist der durchschnittliche Dispo- erheblich voneinander ab. Manche Banken geben dabei
zinssatz im vergangenen Jahr gesunken, Frau Lay, die günstigen Zinssätze, die ihnen die Europäische Zen-
während sowohl der Leitzins als auch der Euribor gestie- tralbank bei der Geldversorgung einräumt, weniger er-
gen sind. Gemäß dem Test haben sich im vergangenen kennbar an ihre Kunden weiter. Der Vorwurf, diese Ban-
Jahr die Dispozinsen bei den 174 der 642 getesteten An- ken wollten sich nach der Finanzkrise auf dem Rücken
gebote deutlich reduziert. Da funktioniert der Markt sehr ihrer Kunden sanieren, schwingt in der öffentlichen De-
wohl; denn die Testergebnisse belegen, dass die Zins- batte an der einen oder anderen Stelle erkennbar mit.
sätze bei den 1 610 Banken sehr deutlich variieren. Neh- Vor einem Jahr rüttelte uns die Stiftung Warentest mit
men wir einmal ein Beispiel. Die Deutsche Skatbank be- ihren Erhebungen zu den teils extrem hohen Dispo- und
rechnet nach diesem Test ihren Kunden einen Zinssatz Überziehungskrediten auf. Das Ergebnis der neuen Erhe-
von lediglich 6 Prozent. Wenn man einen Zinssatz von bung dieser Stiftung:
5 Prozentpunkten über dem Euribor zugrunde legen
würde, wäre das deutlich teurer. Bei 300 Konten lagen die Zinsen immer noch auf
dem hohen Niveau des Vorjahres. Für immerhin
Wer sich von seiner Bank abgezockt fühlt, der hat die
174 Konten zahlen Kunden jetzt niedrigere Zinsen.
Möglichkeit, den Anbieter zu wechseln und geringere
Die Tester von Finanztest werten das als kleinen Er-
Dispozinsen zu verlangen.
folg nach langjähriger Schelte.
(Caren Lay [DIE LINKE]: Wenn er ein Konto
Nur leise, am Rande, klingt bei der Auswertung aber
kriegt!)
auch an: Die Verbraucher murrten zwar im vergangenen
Der Verbraucher kann damit eigenverantwortlich han- Jahr, als sie von den Zahlen hörten, einen Kontowechsel
deln. haben aber offensichtlich nur die wenigsten vorgenom-
men.
Aus meiner Sicht besteht allerdings aufseiten der
Banken Korrekturbedarf. Der Bundesgerichtshof hat ein In der Fachpresse waren zu den neuerlichen Daten
einseitiges Preisbestimmungsrecht bei der Festsetzung folgende Kommentare zu lesen – ich zitiere –:
der Dispozinsen durch verbraucherfeindliche Klauseln
(B) in den allgemeinen Geschäftsbedingungen – übrigens Zum nicht ganz unwahren Klischee eines typischen (D)
Dispodauernutzers gehört eine geringe Bereitschaft
völlig zu Recht – für unzulässig erklärt. Danach muss
zum Kontowechsel.
eine Zinsänderungsklausel das Äquivalenzprinzip be-
achten und darf eine Bank nicht einseitig begünstigen. Ich zitiere weiter:
Hier haben wir eine klare Rechtsprechung.
Bankkunden sind nach Ansicht von Finanzexperten
In der Realität findet genau diese einseitige Begünsti- und Branchenkennern selbst
gung der Banken – da haben Sie recht – nach wie vor
statt. Es ist aber nicht die Aufgabe der Bundesregierung, – in Anführungsstrichen –
die Nichteinhaltung des geltenden Äquivalenzprinzips ‚mitschuldig‘ an den hohen Dispozinsen. Die
zu sanktionieren, sondern es ist Sache der Gerichte, das Wechselbereitschaft der meisten Verbraucher ist zu
zu tun. Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts- gering – horrende Zinsen werden klagend, aber
hofes bestehen heute klare Vorgaben, wie die Banken ohne Konsequenzen hingenommen.
ihre Zinsanpassungsklauseln auszugestalten haben.
(Caren Lay [DIE LINKE]: Weil sie kein Konto
Nichtsdestotrotz werden wir als christlich-liberale kriegen!)
Bundesregierung diese weitere Entwicklung sehr genau
beobachten und schauen, ob diese Schere weiter ge- Der mündige Verbraucher – es gilt das moderne Bild
schlossen wird oder ob nicht doch irgendwann gesetzli- des Verbrauchers, für das vor allen Dingen Transparenz
che Anpassungen erforderlich werden. Zurzeit sehen wir nötig ist – hat selbst die Gelegenheit, den Markt zu tes-
in diesem Bereich keinen Handlungsbedarf. ten. Gerade diejenigen Verbraucher, die ihr Girokonto
oft und für längere Zeit überziehen, sollten angesichts
Vielen Dank. der Zahlen von Stiftung Warentest einen kritischen Blick
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf die Dispositionszinsen ihrer Bank werfen und dann
Tarifvergleiche vornehmen. In günstigen Fällen kann der
Zinssatz rund 6 Prozent betragen, in teureren aber auch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
weiterhin über 14 Prozent. Für Dispokredite werden re-
Die Kollegin Marianne Schieder hat ihre Rede zu gelmäßig Zinsen fällig, die höher sind als solche für Ra-
Protokoll gegeben.1) Deswegen hat jetzt Ansgar tenkredite. Flexibilität hat eben ihren Preis. Eigenkapi-
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. talbindung hat ebenso ihren Preis. Diese Faktoren
fließen natürlich in die Refinanzierungskalkulationen
1) Anlage 7 der Banken ein und beeinflussen den Zinssatz.
17650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Ansgar Heveling
(A) Der Dispokredit ist zur kurzfristigen Überbrückung Caren Lay (DIE LINKE): (C)
von finanziellen Engpässen und nicht als dauerhafter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fak-
Kredit gedacht. In diesen Fällen empfiehlt sich daher ten sind schon lange klar: Die Dispozinsen in Deutsch-
eher eine Umschuldung auf Ratenkredite, nicht zuletzt, land sind viel zu hoch. Die Stiftung Warentest hat auch
da dort die Monatsrate neben dem Sollzins auch eine Til- in diesem Jahr Zahlen dazu geliefert: Die Dispozinsen
gungsleistung enthält. Ein chronisch ausgereizter Dispo betragen im Schnitt 12,4 Prozent, in einigen Fällen sogar
baut sich nun einmal nicht von selbst ab. Vorausschau- über 14 Prozent. Viele Menschen kennen diese Dispoab-
ende Finanzplanung wäre an dieser Stelle das Gebot. zocke seit vielen Jahren aus eigenem Erleben. Auch der
Politik muss dieses Problem wenigstens seit einigen Jah-
Zurück zur Transparenz. Die rechtlichen Möglichkei- ren bekannt sein. Schließlich hat die Fraktion Die Linke
ten für Transparenz sind vorhanden. Das Gesetz zur Um- dieses Thema bereits in der letzten Legislaturperiode
setzung der Verbraucherkreditrichtlinie verpflichtet die aufgeworfen. Daher frage ich mich, ehrlich gesagt, wa-
Banken seit Juli 2010, die Art und Weise der Anpassung rum die Koalition auch jetzt andeutet, dass sie keine ge-
des Sollzinses auch bei Dispositionskrediten und gedul- setzlichen Initiativen ergreifen möchte, und ich frage
deten Überziehungen in der vorvertraglichen Informa- mich, ehrlich gesagt, auch, warum Frau Aigner eine
tion und im Kreditvertrag anzugeben. Falls sich der Soll- neue Studie in Auftrag gegeben hat, anstatt zu handeln.
zins an einem Referenzzins orientiert, ist auch dieser Die Stiftung Warentest – auch Vertreter der Koalition ha-
Referenzzinssatz anzugeben. Für solche eventuellen ben sie zitiert – hat ja zuverlässiges Datenmaterial gelie-
Zinsanpassungsklauseln gelten die allgemeinen Grund- fert. Jetzt ist nicht die Zeit, weiter zu analysieren; jetzt
sätze für Preisanpassungsklauseln, die eine Anpassungs- muss endlich ein Gesetzentwurf her.
symmetrie der Zinssätze beinhalten. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Auch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
macht es den Kartellbehörden, also dem Bundeskartell- NEN])
amt und den Wettbewerbsbehörden der Länder, möglich, Die Tatenlosigkeit der Bundesregierung trifft wieder
gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und einmal Menschen mit kleinem Geldbeutel. Für sie ist der
den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Dispo die einzige Möglichkeit, finanzielle Notlagen zu
einzuschreiten. Dafür scheint es aber offensichtlich gar überbrücken. Herr Kollege, ich muss schon sagen, dass
keine Anhaltspunkte zu geben. ich es arrogant finde, zu sagen, niemand sei gezwungen,
sein Konto zu überziehen.
Die Auswertung von Stiftung Warentest zeigt zudem
nur die verschiedenen bestehenden Zinssätze; sie zeigt (Zuruf des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])
(B) nicht, ob die teuersten Angebote überhaupt genutzt wer- (D)
Menschen, die beispielsweise erwerbslos sind, geringfü-
den. In Deutschland herrscht nun einmal ein starker gig beschäftigt sind oder Leiharbeiterinnen und Leihar-
Wettbewerb unter den Banken. Die Verbraucher sollten beiter sind, haben gar keine andere Möglichkeit, einen
daher die Zahlen von Stiftung Warentest erneut zum An- Kredit zu bekommen, als eben in den Dispo zu gehen.
lass nehmen, die Auswahl ihres Geldinstituts zu über- Das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen. Es
denken und gegebenenfalls einen Wechsel in Erwägung gibt einfach sehr viele Menschen, die knietief im Dispo
zu ziehen. Jeder hat jederzeit die Möglichkeit, zu einer stecken, und die Banken zocken sie ab. Da können wir
Bank zu wechseln, die andere, günstigere Konditionen uns als Politiker doch nicht hinstellen und tatenlos zuse-
bietet. hen.
(Caren Lay [DIE LINKE]: Wenn man ein (Beifall bei der LINKEN)
Konto kriegt!)
Es mag ja sein, dass es sich etwas angeglichen hat. In
Die Höhe des Dispositionszinssatzes ist dabei ein Bau- der Tat: Der Leitzins der Europäischen Zentralbank ist ja
stein, der für viele aber keine Rolle spielt, weil sie ihr geringfügig gestiegen. Dennoch steht ein Leitzins von
Konto nicht im Soll führen. 1,25 Prozent einem Dispozinssatz von durchschnittlich
12 Prozent gegenüber. Das steht doch in keinem Verhält-
Im Frühjahr 2012 ist im Übrigen mit der von Bundes- nis, meine Damen und Herren!
ministerin Ilse Aigner in Auftrag gegebenen Studie zu
(Beifall bei der LINKEN)
dieser Thematik zu rechnen. Diese Studie sollten wir ab-
warten und dieses Thema dann noch einmal aufrufen. Die Geldhäuser sanieren sich hier auf dem Rücken der
sozial Schwachen, während die Bundesregierung Mil-
Ganz herzlichen Dank. liarden für die Bankenrettung ausgibt. Das ist für uns als
Linke einfach nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auch der Markt funktioniert an dieser Stelle offen-
Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die sichtlich nicht. Dieses Problem ist, wie gesagt, ebenfalls
Linke. seit vielen Jahren bekannt. Ja, warum wechseln die Men-
schen die Bank nicht? Vielleicht hängt das damit zusam-
(Beifall bei der LINKEN) men – dieses Thema haben wir ja unter einem früheren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17651
Caren Lay
(A) Tagesordnungspunkt besprochen –, dass viele Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
Angst haben, gar kein Girokonto mehr zu bekommen. bei der SPD und der LINKEN)
Die Fakten stehen jedenfalls fest: 777 Millionen Euro Es gibt auch verschiedene gesetzliche Regelungen.
haben Verbraucherinnen und Verbraucher allein in den Das ist schon gesagt worden. Bei dem Gesetz zur Um-
letzten 15 Monaten durch überhöhte Dispozinsen verlo- setzung der Verbraucherkreditrichtlinie ist schon ein Re-
ren. Es ist Aufgabe der Politik, hier endlich tätig zu wer- ferenzzinssatzsystem etabliert worden. Das Problem ist
den. bloß: Es war gut gemeint, aber nicht gut gemacht; denn
die Zinsspanne wurde häufig in einer Phase festgesetzt,
(Beifall bei der LINKEN)
in der die Diskrepanz sehr hoch war; und diese Spanne
Deswegen haben wir als Linke in dieser Legislaturpe- wird dann fortgeschrieben. Nach unserer Ansicht besteht
riode erneut die Initiative ergriffen. Die Lösung liegt in da Korrekturbedarf. Jetzt muss gehandelt werden. Wir
der Tat auf der Hand: Die Dispozinsen müssen gedeckelt haben deswegen einen eigenen Antrag vorgelegt; denn
werden. Ich habe aus Ihrer Begründung kein sachliches man sollte eigentlich erwarten, dass über ein Jahr nach
Argument herausgehört, warum das ein unerlaubter Ankündigung einer Studie zu diesem Thema endlich ein-
staatlicher Eingriff sein soll. Der Vorschlag der Linken mal Schlussfolgerungen daraus gezogen würden. Das
lautet: Dispozinsen dürfen höchstens 5 Prozentpunkte Thema ist ja nicht so komplex, dass man Jahrzehnte
über dem Basiszinssatz liegen, den die Bundesbank braucht, um es zu untersuchen.
halbjährlich veröffentlicht. Das ist ein Modell, das mög-
Wir haben den Eindruck, dass sich einmal mehr er-
lich ist und das an anderer Stelle auch gesetzlich ange-
weist, dass Frau Ministerin Aigner eine Ankündigungs-
wendet wird. Das ist nämlich der Maßstab für Zahlungs-
ministerin ist. Wenn ein Thema auftaucht, kommt eine
verzug. Es gibt keinen Grund, diesen Maßstab nicht auch
Ankündigung, und danach kommt erst einmal lange
an dieser Stelle anzuwenden.
nichts. Damit ist Verbraucherinnen und Verbrauchern
(Beifall bei der LINKEN) nicht geholfen. Das freut die Journalisten, weil sie etwas
abdrucken können, aber das hilft den Menschen nicht.
Dann hätten wir aktuell einen maximalen Dispozinssatz
Wir meinen: Es darf nicht nur angekündigt werden, son-
von 5,37 Prozent. Damit wären Dispoexzesse beendet,
dern da muss auch etwas getan werden.
aber Gewinne der Banken – meine Herren und Damen
von der Koalition, ich kann Sie da beruhigen – wären (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
immer noch vorhanden, wenn auch in einem sozialver- bei der SPD und der LINKEN)
träglichen Rahmen.
Das gilt leider auch für einige andere Punkte, die ich
(Beifall bei der LINKEN) nennen will. Die Frage der Überziehungszinsen zeigt
(B) (D)
beispielhaft, dass das Kräfteverhältnis zwischen Ver-
Meine Damen und Herren, wir begrüßen, dass sich
braucherinnen und Verbrauchern auf der einen Seite und
auch die Grünen für eine Obergrenze aussprechen, wenn
Finanzdienstleistern auf der anderen Seite unausgewo-
auch, ohne einen eindeutigen Rahmen zu nennen. Fest
gen ist und wieder richtig austariert werden muss. Ich
steht jedenfalls: Schwarz-gelbe Verbraucherpolitik
nenne als weiteres Beispiel das Finanzanlagenvermittler-
schützt wieder einmal die Unternehmen und nicht die
gesetz, das wir im Finanzausschuss beraten haben. Darin
Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich werbe um Zu-
werden richtige Punkte aufgegriffen, aber ein zentraler
stimmung zu unserem Antrag.
Problembereich, der eigentlich hineingehört, wurde wie-
Vielen Dank. der herausgenommen. Ich spreche von den sogenannten
Schrottimmobilien, die als kreditfinanziertes Finanzan-
(Beifall bei der LINKEN)
lageprodukt angeboten werden. Wir können wieder be-
obachten, dass sich Menschen in kürzester Zeit ökono-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: misch ruinieren, weil sie kreditfinanziert eine Immobilie
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion kaufen, deren Mieteinnahmen nicht ausreichen, um den
Bündnis 90/Die Grünen. Kredit zu bedienen. In diesem Zusammenhang spielen
sogenannte Mitternachtsnotare eine Rolle. Wir hören,
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass jetzt möglicherweise jemand, der Erfahrung in die-
NEN): sem Bereich hat, neuer Verbrauchersenator in Berlin
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat werden soll.
sind erhöhte Überziehungszinsen für viele Leute ein re- (Zuruf von der CDU/CSU: Ein schönes Zei-
levantes Thema: Viele Menschen überziehen nämlich ihr tungswissen, das Sie da verbreiten!)
Konto dauerhaft, nicht nur kurzfristig bei Spitzenbelas-
tungen. Gerade diese Menschen können ihre Kontover- – Sie können uns darüber gerne im Detail aufklären. –
bindung nicht unbedingt schnell wechseln. Dieses Thema hätte unbedingt im Gesetz geregelt wer-
den müssen. Auch da gilt: Ankündigen und nur beobach-
Wir haben es hier schon mit Zinssätzen zu tun, die ten reicht nicht; wir müssen auch konkrete Schutzvor-
aufmerken lassen. Vor einem guten Jahr hat unsere Frak- richtungen im Gesetz verankern.
tion die Zinssätze stichprobenartig zusammengestellt.
Wir kamen bei geduldeten Überziehungen auf Zinssätze Schließlich haben wir auch zu dem Thema Honorar-
von bis zu 19 Prozent. Das ist etwas, was nicht hinnehm- beratung – auch das fällt unter die Kategorie „Ankündi-
bar ist. gungsministerin Aigner“ – bisher nur ein weiches Eck-
17652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

Dr. Gerhard Schick


(A) punktepapier vorliegen. Hier geht es darum, wie wir das fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die (C)
Verhältnis zwischen Anbieter und Kunde so regeln kön- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
nen, dass nicht systematisch viel Geld in die falschen Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei
Kanäle gerät. Es wird bisher leider nichts Konkretes in Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
diese Richtung unternommen, sondern dieses Problem
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 37:
wird weiter nach hinten geschoben. Das darf nicht sein;
denn Verbraucherinnen und Verbraucher haben nur dann Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
einen wirklichen Nutzen, wenn wir neue Regeln festle- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
gen und sich am Markt etwas ändert. Mit Blick auf die ordnung der landwirtschaftlichen Sozialversi-
großen Ankündigungen kann man nur feststellen: Im cherung (LSV-Neuordnungsgesetz – LSV-
Verbraucherschutz bei Finanzdienstleistungen gibt es NOG)
einfach viel zu viele Lücken.
– Drucksache 17/7916 –
Vielen Dank. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu


Kollegin Kerstin Tack hat ihre Rede zu Protokoll ge- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
geben.1) Sie sind damit einverstanden. Damit sind die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben:
Damit sind wir am Schluss dieser Aussprache. Marlene Mortler, Gitta Connemann, Josip Juratovic,
Edmund Peter Geisen, Alexander Süßmair, Friedrich
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
Ostendorff.2)
empfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Zinssätze für Disposi- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
tions- und Überziehungskredite verbrauchergerecht de- wurfs auf Drucksache 17/7916 an die in der Tagesord-
ckeln“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3586, den dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2913 Dann ist die Überweisung so beschlossen.
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
(B) schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko- Schluss unserer heutigen Tagesordnung. (D)
alitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. destages auf Mittwoch, den 14. Dezember 2011, 13 Uhr,
ein.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ich wünsche Ihnen ein freundliches Wochenende.
nen auf Drucksache 17/3059 mit dem Titel „Verbrauche-
Die Sitzung ist geschlossen.
rinnen und Verbraucher vor überhöhten Überziehungs-
zinsen schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- (Schluss: 16.11 Uhr)

1) Anlage 7 2) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17653
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Berichtigungen (C)
145. Sitzung, Seite 17279 A, zweiter Absatz, das
Zitat ist wie folgt zu lesen: „In der Volksabstimmung
zeigt sich ein erfreulicher Common sense, den öffentli-
che Debatten in den letzten Jahren so oft vermissen lie-
ßen. Das Ergebnis hat nicht nur aufgeräumt mit der
Vorstellung einer allmächtigen Bürgerwut. Es entmysti-
fiziert auch die überzogenen Befürchtungen und Be-
schwörungen einer ,Dagegen‘-Republik, in der jeder und
jede nur noch an den eigenen Vorgarten denkt. Die Ener-
giewende wird schwierig; dass sie aber an den Wider-
ständen doppelmoralischer Bürger scheitert, die keine
Atomkraft wollen, aber den Netzausbau blockieren, ist
sehr unwahrscheinlich. Die Bürger, das hat sich in Stutt-
gart gezeigt, wollen mitreden, und sie lassen mit sich re-
den.“
146. Sitzung, Seite 17419 B, zweiter Absatz, dritter
Satz ist wie folgt zu lesen: „Aber es sollte uns doch
stutzig machen, dass es gerade die Separatisten, Präsi-
dent Dodik und Herr Covic, sind, die die Auflösung des
OHR fordern, und nicht die jungen Leute von der Initia-
tive K 143.“
146. Sitzung, Seite 17436 B, zweiter Absatz, dritter
Satz ist wie folgt zu lesen: „Denn die Geschichte in den
letzten zwölf Monaten hat gezeigt: Es gibt keinen Zwei-
fel an der Seriosität, Wahrhaftigkeit und der Bereit-
schaft, Verantwortung zu übernehmen, bei den beiden
Personen, nämlich Generalinspekteur Schneiderhan und
Staatssekretär Wichert, die er entlassen hat“.
(B) (D)
Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17655

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 02.12.2011* Höger, Inge DIE LINKE 02.12.2011
Marieluise DIE GRÜNEN
Dr. h. c. Kastner, SPD 02.12.2011
Beckmeyer, Uwe SPD 02.12.2011 Susanne

Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ 02.12.2011 Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ 02.12.2011
DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Bockhahn, Steffen DIE LINKE 02.12.2011 Dr. Koschorrek, CDU/CSU 02.12.2011


Rolf
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 02.12.2011
Kossendey, Thomas CDU/CSU 02.12.2011
Brase, Willi SPD 02.12.2011
Krellmann, Jutta DIE LINKE 02.12.2011
Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 02.12.2011
Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 02.12.2011
Burchardt, Ulla SPD 02.12.2011 Undine DIE GRÜNEN

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 02.12.2011 Dr. von der Leyen, CDU/CSU 02.12.2011
Ursula
Dr. Danckert, Peter SPD 02.12.2011
Lindemann, Lars FDP 02.12.2011
(B) Dittrich, Heidrun DIE LINKE 02.12.2011 (D)
Malczak, Agnes BÜNDNIS 90/ 02.12.2011
Dyckmans, Mechthild FDP 02.12.2011 DIE GRÜNEN
Edathy, Sebastian SPD 02.12.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 02.12.2011
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 02.12.2011 Movassat, Niema DIE LINKE 02.12.2011
Freitag, Dagmar SPD 02.12.2011 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 02.12.2011
DIE GRÜNEN
Friedhoff, Paul K. FDP 02.12.2011
Dr. Neumann (Lausitz), FDP 02.12.2011
Funk, Alexander CDU/CSU 02.12.2011 Martin
Gabriel, Sigmar SPD 02.12.2011 Nietan, Dietmar SPD 02.12.2011
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 02.12.2011 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 02.12.2011
DIE GRÜNEN
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 02.12.2011
Ortel, Holger SPD 02.12.2011
Goldmann, Hans- FDP 02.12.2011
Michael Petermann, Jens DIE LINKE 02.12.2011
Granold, Ute CDU/CSU 02.12.2011 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 02.12.2011
Hänsel, Heike DIE LINKE 02.12.2011 Reiche (Potsdam), CDU/CSU 02.12.2011
Katherina
Haustein, Heinz-Peter FDP 02.12.2011
Remmers, Ingrid DIE LINKE 02.12.2011
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 02.12.2011
Schaaf, Anton SPD 02.12.2011
Hoff, Elke FDP 02.12.2011
17656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Der Anteil von Frauen in Führungspositionen von (C)


entschuldigt bis Wirtschaft und Politik wird sich aber nur dann erhöhen
Abgeordnete(r) einschließlich
lassen, wenn dies innerhalb der Unternehmen und politi-
schen Führungsgremien gewollt ist. Dies wird nur dann
Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 02.12.2011 geschehen, wenn klare Selbstverpflichtungen in Unter-
DIE GRÜNEN nehmen und politischen Gremien diese Zielsetzung for-
mulieren und anhand ihrer Umsetzung auch messbar ma-
Schlecht, Michael DIE LINKE 02.12.2011 chen. Hier ist ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess
in Gang zu setzen, dem sich gerade auch die männlichen
Dr. Schwanholz, Martin SPD 02.12.2011 Verantwortungsträger in Wirtschaft und Politik stellen
müssen.
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 02.12.2011
Als Liberale setze ich auf entsprechende Selbstver-
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 02.12.2011 pflichtungen und lehne deshalb den Gesetzentwurf von
DIE GRÜNEN Bündnis 90/Die Grünen für eine verpflichtende Frauen-
quote zum jetzigen Zeitpunkt ab. Ich halte jedoch eine
Ulrich, Alexander DIE LINKE 02.12.2011 verbindliche Selbstverpflichtung der Unternehmen auch
in Anbetracht des nach wie vor stagnierenden Frauenan-
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 02.12.2011 teils in Führungspositionen in der Wirtschaft für drin-
gend geboten. Eine gleichberechtigte Teilhabe von
Wanderwitz, Marko CDU/CSU 02.12.2011 Frauen in Führungspositionen wird letztendlich dazu
führen, dass auch in allen anderen Aufgabenfeldern ei-
Wegner, Kai CSU/CDU 02.12.2011 nes Unternehmens die gleichberechtigte Teilhabe von
Frauen umgesetzt wird. Dadurch bleibt unsere Gesell-
Werner, Katrin DIE LINKE 02.12.2011 schaft innovationsfähig und dem globalen Wettbewerb
gewachsen. Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft
Dr. Westerwelle, Guido FDP 02.12.2011 ist für mich eine entscheidende Fragestellung bei der
Umsetzung der Gleichstellung von Frauen.
Widmann-Mauz, CDU/CSU 02.12.2011
Annette
Anlage 3
Wolff (Wolmirstedt), SPD 02.12.2011
Waltraud Erklärungen nach § 31 GO
(B) zu den namentlichen Abstimmungen: (D)
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechterge-
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
rechten Besetzung von Aufsichtsräten
– Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Quo-
tenregelung für Aufsichtsräte und Vor-
Anlage 2 stände gesetzlich festschreiben
(Tagesordnungspunkt 34)
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sibylle Laurischk (FDP) zur Dorothee Bär (CDU/CSU): Die Zielsetzung der vor-
namentlichen Abstimmung über den Entwurf liegenden Oppositionsanträge begrüße ich. Wir sind der-
eines Gesetzes zur geschlechtergerechten Be- zeit damit befasst, in einem breiten und fraktionsüber-
setzung von Aufsichtsräten (Tagesordnungs- greifenden Bündnis Regelungen zu finden, die diesem
punkt 34) Ziel am besten Rechnung tragen. Ich bin der Überzeu-
gung, dass es für diese hochsensible gesellschaftliche
In Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ist der staatliche Auftrag Frage eines breitestmöglichen Bündnisses bedarf.
zur Förderung der Durchsetzung der Gleichberechtigung Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
von Frauen und Männern verankert und auch die Aufga- nen zur geschlechtergerechten Besetzung von Aufsichts-
benstellung, die Beseitigung bestehender Nachteile zu räten (Drucksachen 17/3296, 17/6527) und der Antrag
bewirken. der Fraktion der SPD „Quotenregelung für Aufsichtsräte
und Vorstände gesetzlich festschreiben“ (Drucksachen
Aus diesem Grund hat die christlich-liberale Koali- 17/4683, 17/6527) schaden zum jetzigen Zeitpunkt die-
tion im Koalitionsvertrag die Zielsetzung von mehr ser Initiative und einer gemeinsamen Lösung, die von
Frauen in Führungspositionen verankert. Der Anteil von Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert und auch tatsäch-
Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft und im lich umgesetzt werden kann.
öffentlichen Dienst soll maßgeblich erhöht werden. Um
dies zu erreichen, ist eine Reihe von Maßnahmen not- Deswegen stimme ich gegen besagten Gesetzentwurf
wendig. Gerade für gut qualifizierte Frauen, die mit der und erwähnten Antrag.
Entscheidung, Kinder zu haben, regelmäßig einen Kar-
riereknick erleben müssen, ist der Ausbau der verlässli- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Das Ziel
chen Kindertagesbetreuung unverzichtbar. „Mehr Frauen in Führunspositionen“ ist mir ein wichti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17657

(A) ges Anliegen, das ich mit allem Nachdruck unterstütze. der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst „maßgeblich“ (C)
Der derzeitige Anteil von Frauen in leitenden Positionen zu erhöhen.
in deutschen Unternehmen ist unzureichend – er spiegelt
Der Innovationsindikator 2011 der Deutschen Tele-
nicht wider, dass wir in Deutschland weitaus mehr her-
kom Stiftung, die von Bundesaußenminister a. D.
vorragend qualifizierte Frauen haben. Enorme Poten-
Dr. Klaus Kinkel geleitet wird, kommt zu dem Ergebnis,
ziale werden so nicht gehoben. Das muss sich ändern.
dass Deutschland das Potenzial von Frauen in Forschung
Auch wenn die Ursachen sicherlich vielschichtig sind,
und Innovation nur in sehr geringem Maß nutzt:
bleibt festzuhalten: Die bisherigen Bemühungen von
Politik und Wirtschaft haben leider nicht den gewünsch- „Von den insgesamt rund 450 000 Personen, die in
ten Erfolg gezeitigt. Deutschland im Bereich von Forschung und technologi-
scher Entwicklung in Wirtschaft und Wissenschaft tätig
Um unseren verfassungsrechtlich in Art. 3 Abs. 2 GG sind, sind weniger als ein Viertel Frauen. … Das
festgeschriebenen Auftrag umzusetzen, sind wir derzeit schlechte Abschneiden Deutschlands und die hohe Be-
damit befasst, in einem breiten und fraktionsübergreifen- deutung des Themas sind Anlass genug, sich im Innova-
den Bündnis Regelungen zu finden, die diesem Ziel am tionsindikator des kommenden Jahres im Rahmen einer
besten Rechnung tragen. Denn für das Ziel „Mehr Schwerpunktuntersuchung mit diesen Fragen zu be-
Frauen in Führungspositionen“ ist nach meiner Überzeu- schäftigen. Erst dann können weiter differenzierte Aus-
gung ein breiter Schulterschluss über Partei- und Frak- sagen zur Rolle der Frauen im Innovationsprozess ge-
tionsgrenzen hinweg erforderlich. Ein solches Bündnis macht werden. Für Deutschland steht allerdings bereits
und die Erarbeitung einer tragfähigen Lösung lassen sich jetzt fest: Es kann sich dieses unausgeschöpfte Potenzial
nicht übers Knie brechen und erfordern Zeit und Kon- nicht länger leisten, wenn es auch weiterhin im Innova-
zentration. Die von Bundesfamilienministerin Dr. tionswettbewerb oben stehen will.“
Kristina Schröder konzipierte Flexiquote ist dabei ein
wichtiges Element. Um den Frauenanteil in Führungspositionen zu erhö-
hen, ist ein Umdenken in unserer männerbestimmten
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Gesellschaft erforderlich. Dieses Umdenken muss im In-
nen zur geschlechtergerechten Besetzung von Aufsichts- teresse der gesamten Gesellschaft von Frauen und Män-
räten (Drucksachen 17/3296, 17/6527) und der Antrag nern geleistet werden. Gesetze können diese notwendige
der Fraktion der SPD „Quotenregelung für Aufsichtsräte Überzeugungsarbeit nicht leisten. Deswegen lehnen wir
und Vorstände gesetzlich festschreiben“ (Drucksachen den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen für eine
17/4683, 17/6527) schaden zum jetzigen Zeitpunkt die- verpflichtende Frauenquote sowie den Antrag der SPD
ser Initiative und einer gemeinsamen Lösung, die von ab.
Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert und auch tatsäch-
(B) lich umgesetzt werden kann. Gleichzeitig fordern wir vonseiten der Unternehmen (D)
mehr Anstrengungen, in ihren Unternehmen eine Kultur
Deswegen stimme ich gegen besagten Gesetzentwurf der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen zu initiie-
und erwähnten Antrag. ren und auch zu leben und in der Folge Frauen Füh-
rungspositionen anzuvertrauen. Gemischte Teams sind
nachweislich leistungsfähiger als Teams, in denen ent-
Anlage 4 weder nur Männer oder nur Frauen arbeiten. Wir befür-
worten eine verbindliche Selbstverpflichtung der Unter-
Erklärung nach § 31 GO nehmen, einen Stufenplan zur Beteiligung von Frauen in
der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Führungspositionen aufzustellen und durch familien-
Christine Aschenberg-Dugnus, Gudrun Kopp freundliche Rahmenbedingungen Frauen zu ermutigen,
und Dr. Birgit Reinemund (alle FDP) zu den na- Führungspositionen anzustreben.
mentlichen Abstimmungen:
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechterge- Anlage 5
rechten Besetzung von Aufsichtsräten
Erklärung nach § 31 GO
– Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Quo- der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Frank
tenregelung für Aufsichtsräte und Vor- Heinrich, Ewa Klamt, Katharina Landgraf und
stände gesetzlich festschreiben Sabine Weiss (Wesel I) (alle CDU/CSU) zu den
(Tagesordnungspunkt 34) namentlichen Abstimmungen:
– Entwurf eines Gesetzes zur geschlechterge-
In den Hörsälen und Ausbildungsbetrieben leisten
rechten Besetzung von Aufsichtsräten
Frauen ebenso viel wie Männer. Trotz hervorragender
Ausbildung erlangen Frauen aber nach wie vor zu selten – Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Quo-
– weder in Politik noch in der Wirtschaft – Führungspo- tenregelung für Aufsichtsräte und Vor-
sitionen. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leis- stände gesetzlich festschreiben
ten, auf Kreativität, Intelligenz und Engagement einer (Tagesordnungspunkt 34)
Hälfte der Bevölkerung zu verzichten. Unter der Über-
schrift „Mehr Frauen in Führungspositionen“ fordert Das Ziel „Mehr Frauen in Führungspositionen“ ist
deshalb die christlich-liberale Koalition im Koalitions- mir ein wichtiges Anliegen, das ich intensiv unterstütze
vertrag, den Anteil von Frauen in Führungspositionen in und für das ich mich seit langem einsetze.
17658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) Wir sind derzeit damit befasst, in einem breiten und wirtschaftlichen Sozialversicherung durchgeführt, Maß- (C)
fraktionsübergreifenden Bündnis Regelungen zu finden, nahmen zur innerlandwirtschaftlichen Solidarität in der
die diesem Ziel am besten Rechnung tragen. Denn für landwirtschaftlichen Unfallversicherung vorgegeben
das Ziel „Mehr Frauen in Führungspositionen“ ist nach und dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz angepasst. Auch
meiner Überzeugung ein breiter Schulterschluss über im Leistungs- und Beitragsbereich der landwirtschaftli-
Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg erforderlich. Ein chen Unfallversicherung kam es zu Änderungen.
solches Bündnis und die Erarbeitung einer tragfähigen Zahlreiche Aufgaben werden seitdem zentral bearbei-
Lösung lassen sich nicht übers Knie brechen und erfor- tet wie zum Beispiel die Krankenhausabrechnungsprü-
dern Zeit und Konzentration. Die von Bundesfamilien- fung an drei Standorten, das Rechenzentrum in Kassel
ministerin Dr. Kristina Schröder MdB konzipierte Flexi- oder die Regressbearbeitung. Als Äquivalent für die Bei-
quote ist dabei ein wichtiges Element. behaltung der Eigenständigkeit der regionalen landwirt-
Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- schaftlichen Berufsgenossenschaften wurde im Jahre
nen zur geschlechtergerechten Besetzung von Aufsichts- 2010 ein Lastenausgleich eingeführt, der seine vollstän-
dige Wirkung allerdings erst im Jahr 2015 entfaltet hätte.
räten (Drucksachen 17/3296, 17/6527) und der Antrag
Strukturell benachteiligte landwirtschaftliche Berufsge-
der Fraktion der SPD „Quotenregelung für Aufsichtsräte
nossenschaften, die hohe Kosten für Altrenten tragen
und Vorstände gesetzlich festschreiben“ (Drucksachen
müssen, sollten so entlastet werden.
17/4683, 17/6527) schaden zum jetzigen Zeitpunkt die-
ser Initiative und einer gemeinsamen Lösung, die von Der Gesetzgeber formulierte die Erwartung, bis zum
Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert und auch tatsäch- Jahre 2014 die Verwaltungs- und Verfahrenskosten um
lich umgesetzt werden kann. 20 Prozent auf der Basis des Jahres 2004 zu reduzieren.
Die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften wur-
Deswegen stimme ich gegen besagten Gesetzentwurf den verpflichtet, ihre Beitragsmaßstäbe bei regionaler
und erwähnten Antrag. Festsetzung flächendeckend am Unfallrisiko zu orientie-
ren. Auf meine Bitte gab das Bundesministerium für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im
Anlage 6 Sommer letzten Jahres einen Zwischenbericht über das
bisher Erreichte. Auch dieser konstatierte: Es hat sich
Zu Protokoll gegebene Reden seit 2007 sehr viel getan.
zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung Dazu haben viele beigetragen. Besonders hervorzuhe-
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ben sind aus meiner Sicht die ehrenamtlichen Vertreter
(LSV-Neuordnungsgesetz – LSV-NOG) (Tages- der Selbstverwaltung und die Mitarbeiterinnen und Mit-
(B) ordnungspunkt 37) arbeiter der jeweiligen landwirtschaftlichen Sozialversi- (D)
cherung. Gerade die Letzteren mussten nicht nur vor Ort
Gitta Connemann (CDU/CSU): Die landwirtschaft- die Änderungen vollziehen, sondern diese auch den Ver-
liche Sozialversicherung, über die wir heute debattieren, sicherten erklären, und das war nicht immer leicht. Da-
bedeutet soziale Sicherheit für die Menschen im ländli- von wissen aktuell die Mitarbeiter der Landwirtschaftli-
chen Raum. Sie ist das berufsständische Sicherungssys- chen Sozialversicherung Mittel- und Ostdeutschland
tem, das unsere Land- und Forstwirte, unsere Gärtner nach der diesjährigen Umstellung auf risikoorientierte
und ihre Familien gegen Unfall, Krankheit, Gebrechen Beiträge ein Lied zu singen. Mein Dank gilt an dieser
und Alter absichert. Die landwirtschaftliche Sozialversi- Stelle ausdrücklich Ihnen, liebe Mitarbeiterinnen und
cherung hat sich in der Vergangenheit hervorragend be- Mitarbeiter bei den Trägern in ganz Deutschland. In dem
währt. Zugleich konnte ein rasanter Strukturwandel so- damaligen Gesetz hatten wir auch eine Evaluation für
zial abgefedert werden – bislang; denn die Heraus- das Jahr 2014 angekündigt. Der Bericht über die Aus-
forderungen werden größer. Mit Ausnahme des Garten- wirkungen des LSVMG sollte als Grundlage für weitere
baus nimmt die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe Organisationsveränderungen dienen. Nach dem Willen
von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der versicherten Beitrags- der Politik wäre es also vor 2014 wohl nicht zu neuen
zahler wird geringer, und die Zahl der Empfänger steigt Reformüberlegungen für die landwirtschaftliche Sozial-
überproportional. Dies sei an nur einer Zahl deutlich ge- versicherung gekommen.
macht: Derzeit zahlen rund 257 000 Personen Beiträge Dennoch diskutieren wir diese jetzt – auf Initiative
zur Alterssicherung der Landwirte. Demgegenüber er- des Berufsstandes. Denn der aktuellen Diskussion über
halten rund 618 000 Rentner Leistungen. Damit wächst die kurzfristige Errichtung eines LSV-Bundesträgers
die Kostenbelastung der aktiv wirtschaftenden Land- liegt ein Beschluss des Präsidiums des Deutschen Bau-
wirte – und die Sorge. Denn gerade die Sicherheit der ernverbandes vom 12. Oktober 2010 zugrunde: „Der
Versorgung im Alter ist für unsere Bäuerinnen und Bau- LSV-Spitzenverband wird aufgefordert, ein Gutachten
ern, die Altenteiler ein hochsensibles Thema, das mit über die Machbarkeit und mögliche Ausgestaltung eines
Ängsten verbunden ist. bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstabes in Auftrag
Darauf reagierten wir im Jahre 2007 mit dem Gesetz zu geben. Ziel muss es sein, dass identische Betriebe in
zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Deutschland einen gleich hohen Beitrag zur Landwirt-
Sozialversicherung, dem LSVMG. Unser Ziel war es, die schaftlichen Unfallversicherung entrichten.“ Dies war
landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunftsfest zu der Beginn eines Prozesses, der insbesondere im Berufs-
machen und stabile Beiträge zu erreichen. Mit dem Ge- stand sehr strittig geführt wurde. Auf der Ebene der Bun-
setz wurden organisatorische Änderungen in der land- despolitik haben wir diesen Prozess begleitet. Wir haben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17659

(A) auf Risiken hingewiesen. So hatte der Bundesrechnungs- Angesichts der zu erwartenden erheblichen finanziellen (C)
hof noch im September 2010 in seinem Bericht über die Zusatzlast, die sich zwingend auf die Beiträge niederschla-
Prüfung der freiwilligen Vereinigungen von gesetzlichen gen muss, wird diese Einbeziehung abgelehnt. Ich kann
Krankenkassen darauf hingewiesen, dass Fusionen in dies persönlich nachvollziehen. Deshalb werden wir ihre
den meisten Fällen nicht zu den erhofften Synergieeffek- Forderungen und Einwände ebenfalls genau prüfen.
ten und zur Senkung der Personal- und Verwaltungskos-
ten geführt habe. Wir haben aber auch die Chancen deut- Es gibt also durchaus noch Klärungs- und Abstim-
lich gemacht und mit der angekündigten zusätzlichen mungsbedarf. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit
Bereitstellung von insgesamt 100 Millionen Euro ein Si- haben, sich zu äußern. Deshalb ist es auch gut und ver-
gnal gesetzt, dass wir den Prozess unterstützen wollen. nünftig, im Januar 2012 eine Anhörung zu dem Gesetz
durchzuführen. Denn so können offene Fragen, auch
Denn im Zuge innerlandwirtschaftlicher Solidarität strittige Punkte erörtert werden. Wir setzen auf den kon-
ist die Einführung eines bundeseinheitlichen Beitrags- struktiven Dialog mit unserem Berufsstand, seinen Ver-
maßstabes nachvollziehbar, vernünftig und gerecht. Es bänden, den Sozialversicherungsträgern und ihren Mit-
ist den Versicherten dauerhaft nicht zu erklären, weshalb arbeitern. Für die CDU/CSU-Fraktion erkläre ich aber
ein Mutterkuhbetrieb oder ein Pferdehalter bei gleichem eines: Grundsätzlich stehen alle Maßnahmen unter der
Risiko unterschiedlich zur Kasse gebeten werden – je Prämisse, das System der landwirtschaftlichen Sozial-
nach Region, in der er lebt. Das gleiche Risiko muss versicherung auf Dauer zu erhalten. Ein eigenständiges
dauerhaft auch mit gleichen Beiträgen versichert wer- agrarsoziales Sicherungssystem bietet nicht nur viele
den. Auch die weitere Optimierung des Systems der Vorteile. Die landwirtschaftliche Sozialversicherung ist
landwirtschaftlichen Sozialversicherung unter Kostenge- ein Erfolgsmodell. Deshalb bedaure ich auch die aktuel-
sichtspunkten ist unterstützenswert – und aus Sicht der len Äußerungen aus der SPD-Fraktion, die die Eigen-
Versicherten wünschenswert. Denn die Rechnung zahlen ständigkeit der landwirtschaftlichen Sozialversicherung
im Ergebnis die Landwirte, Forstwirte und Gartenbauer. hinterfragt. Dies ist sicherlich das falsche Signal – nicht
Jeder Euro, den sie zusätzlich zahlen müssen, belastet zur jetzigen Zeit. Das ist mit der Union nicht zu machen.
sie, insbesondere wenn es um die Unterhaltung einer
aufwendigen Struktur geht. Im Vergleich zur Organisa-
tion der gewerblichen Unfallversicherung mit bundes- Marlene Mortler (CDU/CSU): Das neue landwirt-
weit neun Trägern und bei Betrachtung der 156 gesetzli- schaftliche Sozialversicherungssystem nimmt Gestalt
chen Krankenkassen – ohne Betriebskrankenkassen –, an. Aus zurzeit noch neun Trägern dieses Systems wird
erscheinen jeweils neun landwirtschaftliche Berufsge- ein schlagkräftiger Bundesträger geformt, der zum Ja-
nossenschaften und Krankenkassen überrepräsentiert. nuar 2013 seine Tätigkeit aufnehmen soll. Versicherten
(B) wird ab dann das Leistungsangebot aus einer Hand zur (D)
Wir müssen erkennen, dass sich der Strukturwandel in Verfügung gestellt; gebündelt werden die landwirtschaft-
der Landwirtschaft fortsetzen wird. Als Folge des konti- liche Alterskasse, Unfallkasse, die landwirtschaftliche
nuierlichen Rückgangs der Versichertenzahlen wird es Krankenkasse, Pflegekasse sowie die Sozialversiche-
daher zu einer Zentralisierung der LSV kommen müs- rung für den Gartenbau. Der Bundesträger wird als
sen. Die Frage war nur, wann. Der landwirtschaftliche Selbstverwaltungskörperschaft des öffentlichen Rechts
Berufsstand gab uns dann nach längerer interner Diskus- errichtet und ist zweistufig aufgebaut: Die Bundesebene
sion das einstimmige Signal: Politik, handle jetzt! Auch oder die Hauptverwaltung wird zentrale Aufgaben wahr-
die Länder signalisierten in vielen Vorgesprächen, dass nehmen, und die regionalen Geschäftsstellen werden
sie diesen Weg unter bestimmten Voraussetzungen mit- versichertenorientierte Leistungen erbringen. Wirklich
gehen würden. Im Einvernehmen mit Landvölkern und positiv hervorzuheben ist, dass die Diskussion über eine
der Landespolitik wurde ein konsensuales Modell entwi- Reform des Sozialversicherungssystems aus dem Be-
ckelt. Es soll im kommenden Jahr ein Bundesträger ent- rufsstand selbst heraus an die Politik getragen wurde.
stehen. Der Zeitraum der nächsten Wahlperiode der
Selbstverwaltung bis zum Jahr 2017 soll genutzt werden, Der Strukturwandel innerhalb der Landwirtschaft
gemeinsame Beitragsmaßstäbe zu schaffen und die Ver- trägt dazu bei, dass der Kreis der Versicherten und vor
waltungskosten zu konsolidieren. Das Bundeskabinett allem der Kreis der Leistungsträger immer kleiner wird.
beschloss im November 2011 einen entsprechenden Ge- Davor kann eine berufsständige Verwaltungsstruktur die
setzentwurf. Jetzt diskutieren wir über die Details. Augen nicht verschließen. Dies ist frühzeitig erkannt
und akzeptiert worden. Ein fantastisches Produktivitäts-
Insoweit gibt es durchaus berechtigte Kritik und be- wachstum innerhalb der Landwirtschaft seit Bestehen
gründete Forderungen. An dieser Stelle erwähne ich bei- der Bundesrepublik Deutschland hat dazu beigetragen,
spielhaft nur die Einwände der Personalvertreter. Ich ap- dass die Anzahl der in der Landwirtschaft beschäftigten
pelliere an uns alle, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Personen und die Anzahl der landwirtschaftlichen Be-
auf dem jetzt eingeschlagenen Weg mitzunehmen. Wir triebe stark abgenommen hat.
dürfen die Reform nicht gegen sie, sondern nur mit ihnen
machen. Und ich nenne den Gartenbau. Die Situation dort Dieses Produktivitätswachstum hat dazu beigetragen,
unterscheidet sich erheblich von der in der übrigen Land- dass sich Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrie-
und Forstwirtschaft. Dies gilt nicht nur für den Kreis der ges wirtschaftlich rasant entwickeln konnte. Auch heute
Versicherten, sondern auch für die Zahl der versicherten stellt der landwirtschaftliche und der gesamte Agrarsek-
Unternehmen. Es gibt einen bundeseinheitlichen Träger tor einen wirtschaftlichen Bereich dar, der sehr dyna-
sowie einen bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstab. misch wächst und so zum Aufschwung in Deutschland
17660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) beiträgt. Daneben stabilisiert der Agrarsektor den ländli- Viertens müssen wir im Besonderen die Belange der (C)
chen Raum, schafft dort Arbeitsplätze, die in immer grö- im bestehenden Sozialversicherungssystem Beschäftig-
ßerem Maße auch hoch qualifizierte Menschen anzie- ten berücksichtigen, um Brüche in persönlichen Lebens-
hen. planungen zu vermeiden. Dies darf allerdings nicht dazu
führen, dass die Effizienzziele, die mit der Errichtung
Deshalb konnten wir auch guten Gewissens den staat- des Bundesträgers einhergehen sollen, aus den Augen
lichen Zuwendungen in das landwirtschaftliche Sozial- verloren werden. Ich finde, mit dem nun vorliegenden
versicherungssystem zustimmen, wie letzte Woche bei Gesetzentwurf ist es uns sehr gut gelungen, die gesteck-
der Verabschiedung des Bundeshaushalts geschehen. ten Ziele zu erreichen:
Wir können auch guten Gewissens und mit Nachdruck
fordern, dass die für die Reform der landwirtschaftlichen Zum einen bringt die christlich-liberale Koalition ein
Sozialversicherung zugesagten zusätzlichen Mittel in an den Anforderungen der Zukunft orientiertes landwirt-
Höhe von 150 Millionen Euro zügig freigegeben wer- schaftliches Sozialversicherungssystem in Form eines
den, um sie den Beitragszahlern zugute kommen zu las- Bundesträgers auf den Weg. Die Aufgabenverteilung ob-
sen. Voraussetzung dafür ist, dass wir die Reform in die- liegt grundsätzlich der Selbstverwaltung, und das Orga-
sem Hohen Hause zügig verabschieden. nisationskonzept wird durch einen Errichtungsausschuss
ausgearbeitet. Des Weiteren unterstützen wir die Reform
Deshalb rufe ich auch Ihnen auf den Oppositionsbän- durch zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 150 Millio-
ken, und auch den Verhandlungsführern des Bundesrates nen Euro aus dem Bundeshaushalt, wobei davon im Jahr
zu: Stimmen Sie mit uns, ergreifen wir zusammen diese 2012 75 Millionen Euro bereitgestellt werden sollen.
große Gelegenheit, ein wichtiges Sozialversicherungs-
system zukunftsfest zu machen, und das sogar im weit- Daneben wird gewährleistet, dass die Interessen der
gehenden Konsens mit allen beteiligten Personengrup- beteiligten Akteure, das sind die Landwirte, Gärtner,
pen. Förster und Beschäftigte, insgesamt gewahrt werden.

Wir von der christlich-liberalen Koalition haben von Abschließend möchte ich sagen, dass ich die vom
Beginn der Diskussion an Wert darauf gelegt, dass alle Bundesrechnungshof geäußerte Kritik an dem nun vor-
von einer Reform betroffenen Personengruppen in die liegenden Gesetzentwurf ausdrücklich nicht teile.
Diskussion mit eingebunden waren. Betroffen sind ers-
tens die Bauern und Bäuerinnen mit ihren Familien. Es ist Grundverständnis einer christlich-liberalen
Zweitens sind es die deutschen Gärtner, die in das bun- Koalition, dass ein Selbstverwaltungssystem aus sich he-
desweite Sozialversicherungssystem eingegliedert wer- raus entscheiden können muss, welche Organisations-
(B) den sollen. Dabei bin ich mir und sind wir uns bewusst, strukturen und welche Satzung es wählt, wie es sein Per- (D)
dass der Gartenbau Besonderheiten gegenüber der Land- sonal an welchen Standorten rekrutiert. Wir als
wirtschaft aufweist, die zu berücksichtigen sind, beson- Gesetzgeber geben lediglich Leitplanken vor.
ders im Bereich der Unfallversicherung. Deshalb sind Wir vertrauen dem und sind überzeugt von dem ho-
wir intensiv auf die Bedenken der Gärtner eingegangen. hen Sachverstand und der Intelligenz der an der Errich-
Bei der Zusammensetzung der 81-köpfigen Vertreterver- tung des Bundesträgers beteiligten Akteure, das Sozial-
sammlung können die Gärtner mit insgesamt neun Ver- versicherungssystem für Landwirtschaft, Forsten und
tretern alle Berufsgruppen des Gartenbaus angemessen Gartenbau auf ein solides Fundament zu stellen.
repräsentieren. In den 27-köpfigen Vorstand können drei
Vertreter des Gartenbaus einziehen. Zusätzlich wird un-
ter anderem ein Beirat für die Belange des Gartenbaus Josip Juratovic (SPD): Mit Ihrem Gesetzentwurf
eingerichtet, der ein Vorschlagsrecht bei Unfallverhü- zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftli-
tungsvorschriften haben wird, die ausschließlich auf Un- chen Sozialversicherung setzen Sie als Bundesregierung
ternehmen des Gartenbaus anzuwenden sind. Die Vor- die Reihe der Gesetzgebung fort, die im Hinblick auf
schläge dieses Beirates können nur mit einem Quorum den sich beschleunigenden landwirtschaftlichen Struk-
von 60 Prozent der Stimmen der Selbstverwaltungsor- turwandel und im Gesamtkontext der Reformen der so-
gane der Sozialversicherung zurückgewiesen werden. zialen Sicherungssysteme steht. Es ist sicherlich allen
All dies gewährleistet, dass die spezifischen Bedenken klar, dass das agrarsoziale Sicherungssystem nicht von
des Gartenbaus nicht so ohne Weiteres von anderen Reformen ausgenommen werden kann. Die Frage stellt
Gruppierungen innerhalb des Systems beiseite geräumt sich nur, wie man es denn macht.
oder überstimmt werden können.
Es ist die Frage, inwieweit eine tatsächliche Bereit-
Die dritte von der Reform betroffene Gruppe stellt der schaft vorhanden ist, sich mit den Betroffenen an einen
Forst dar. Tisch zu setzen und auch zuzuhören, welche Kritik es an
dem von Ihnen vorgelegten Entwurf gibt. Durch den
So wird das neue System auch den trefflichen Namen plötzlich doch sehr eilig gezurrten Zeitplan macht es eher
„Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und den Eindruck, als hielten Sie es mit der Devise „Augen
Gartenbau“ tragen. Allein schon die Namensgebung zu und durch“. Dem möchten wir uns als SPD-Fraktion
bringt zum Ausdruck, dass die Interessen der einzelnen ausdrücklich widersetzen und fordern eine Anhörung, um
Berufsgruppen in angemessenem Maße Berücksichti- den Anliegen der einzelnen Bereiche Gehör zu verschaf-
gung finden werden. fen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17661

(A) Uns reicht es im Gegensatz zu Ihnen nicht aus, dass politik bekommen Merkmale wie Erhaltung der Arten- (C)
der Deutsche Bauernverband einverstanden ist – denn vielfalt, Sicherung der Bodenfunktion und der Wasser-
betroffen von den Regelungen sind neben den Landwir- haushalte, Tierschutz und Klimaschutz einen weitaus
ten auch die Forstwirtschaft und die Berufsgenossen- höheren Stellenwert.
schaft des Gartenbaus, auf die ich später noch einmal zu-
Dies sollten wir beispielsweise beachten, wenn wir
rückkommen werde.
über die Hofabgabeklausel diskutieren. Es geht aus Ihrem
Das LSV-NOG sieht Maßnahmen zur Stabilisierung Handeln leider auch nicht hervor, ob die Reform auf eine
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung vor. Durch Stärkung der regionalen Strukturen unter dem Dach eines
diese Maßnahmen soll die Ausgabenstruktur in der land- künftigen Bundesträgers hinauslaufen soll oder ob die re-
wirtschaftlichen Sozialversicherung dadurch verbessert gionale Struktur scheibchenweise abgeschafft werden
werden, dass Sie die gegenwärtigen Organisationsstruk- soll. Sonst könnten Sie nämlich die vorgesehenen Regio-
turen ins Visier nehmen. Leider gehen Sie dabei im Be- nalbeiräte ebenso wie den Beirat für den Gartenbau nicht
zug auf die vorhandene Personalstruktur im regionalen nur für den Übergang, sondern auf Dauer einrichten.
Bereich mit der Holzhammermethode vor und nennen Die Beiräte müssen neben beratenden Funktionen auch
das Ganze schlicht „Modernisierung“. Gestaltungs- und Mitspracherechte in regionalen Prä-
ventions- und Versorgungsfragen sowie bei der Beset-
Was daran das agrarsoziale Sicherungssystem insge-
zung von gehobenen Leitungsfunktionen in den Ge-
samt zukunftsfest machen soll, wird nicht ganz klar. Sie
schäftsstellen erhalten. Die Aufgaben der Regional-
scheuen noch nicht einmal davor zurück, Angestellte ge-
beiräte und die der Geschäftsstellen sollten im Gesetz
gen ihren Willen in den einstweiligen Ruhestand zu ver-
festgeschrieben werden.
setzen.
Mit besonderem Augenmerk möchte ich auf die be-
Von Ihrer Zusicherung, dass man die Beschäftigten
sondere Problematik Gartenbau verweisen. Der Garten-
bei der Umgestaltung „mitnehmen“ wolle, kann man ei-
bau arbeitet bereits mit einem einheitlichen Bundesträ-
gentlich auch keine tatsächliche Bereitschaft finden, die
ger. Um die erfolgreiche Arbeit zu erhalten, benötigt der
über das Verkünden hinausgeht.
Gartenbau im Gesamtkonstrukt eine eigenständige
Stattdessen schaffen Sie im Gesetzentwurf die Mög- Struktur mit Beibehaltung ihrer Halbparität. Immerhin
lichkeit der Auftragsvergabe an Dritte; in der Praxis heißt haben Sie es inzwischen geschafft, den Gartenbau im
dies, vorhandenes qualifiziertes Personal wird nach Hause Namen des neuen Bundesträgers einzubeziehen. Das
geschickt, dafür aber die Möglichkeit von Fremdvergaben hilft aber nicht weiter, wenn man es dabei belässt, ohne
installiert. Wer weiß, welch Klientel à la Hoteliers Sie da seine besonderen Belange im Gesetzentwurf zu berück-
wieder im Auge haben. sichtigen.
(B) (D)
Für uns als SPD hat es ein besonderes Gewicht, die Durch die Dominanz der Bauern geht verloren, dass
Personalmaßnahmen sozialverträglich auszugestalten. für die Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialver-
Hier stehen Sie seitens der Bundesregierung in der sicherung eigentlich die Gartenbauberufsgenossenschaft
Pflicht, die Träger bei der Lösung von Personalproble- als Vorbild dienen sollte. Allein die Schaffung eines
men zu unterstützen. Quorums zu verankern, um die Minderheit zu schützen,
ist da keine Lösung. Beim Gartenbau entscheiden im Be-
Bei der Umsetzung der Maßnahmen müssen flexible
reich der Unfallprävention Arbeitnehmer und Arbeitge-
Lösungen gefunden werden, die die Beschäftigten nicht
ber halbparitätisch; durch ein gutes Zusammenwirken in
zum Opfer von Sparzielen der Bundesregierung machen.
der bereits bundesweit organisiert tätigen Gartenbaube-
Ob es Ihnen mit der Stärkung des Bundeseinflusses und
rufsgenossenschaft sind die Unfallzahlen seit Jahren
der geplanten Umstrukturierung tatsächlich auch gelingt,
rückläufig.
die Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Systems zu ver-
bessern, wird davon abhängen, wie willig Sie sind, die Dieser Erfolg fällt nicht wie Manna vom Himmel,
nicht nur aus dem Bundesrat formulierte Kritik, sondern sondern ist eng geknüpft an die Struktur – der Schlüssel
auch die vorliegenden Stellungnahmen zum Gesetzent- zum Erfolg ist hierbei die halbparitätische Selbstverwal-
wurf zu berücksichtigen. tung. Ich will Ihnen dies an einem Beispiel deutlich ma-
chen: Durch die gemeinsam erkannte Aufgabe der Prä-
Meine Kritik richtet sich nicht nur an einzelne Punkte,
vention sitzen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an einem
die Sie formuliert haben, sondern auch daran, dass Sie
Tisch. Der Arbeitnehmer hat das Interesse, seine Ge-
nicht die Chance nutzen, mit diesem Gesetz innovative
sundheit im Erwerbsleben zu erhalten, der Arbeitgeber
Ansätze einzubringen.
hat das gleiche Interesse, dass sein Mitarbeiter vor ver-
Agrarpolitik ist nicht mehr nur Agrar- und Wirt- meidbaren Unfällen geschützt ist und er niedrige Kran-
schaftspolitik. Sie ist zugleich Umweltpolitik, Tier- kenstände hat.
schutzpolitik, Verbraucherpolitik, Tourismuspolitik. Sie
Durch diese paritätische Zusammenarbeit ist es bei-
ist multifunktional. Nicht mehr die Größe eines land-
spielsweise möglich, dass mit der Forschung neue Ar-
wirtschaftlichen Unternehmens ist ausschlaggebend,
beitskleidung entwickelt wird. Das kann dann durchaus
sondern die Art und Weise der landwirtschaftlichen Be-
zwei Jahre dauern und Geld verschlingen, aber für die
wirtschaftung.
Baumschneider wurde durch solch ein Verfahren eine
Spätestens in der zurzeit laufenden Diskussion um die Arbeitshose entwickelt, deren Fasern eine ausrutschende
Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Agrar- Motorsäge zum Stillstand bringen. Ich kann mir nicht
17662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) vorstellen, dass es aus der Sicht der Landwirte kein Inte- Nun datieren die Strukturen der landwirtschaftlichen (C)
resse an diesem Zukunftsmodell gibt. Sozialversicherung aus einer Zeit, in der die Landwirt-
schaft ein zentraler Wirtschaftsbereich mit vielen Ar-
Das Gleiche gilt für die Beitragsberechnung. Der Flä- beitskräften war. Anfang der 50er-Jahre machte der An-
chenwert hat allein unter dem Aspekt der neu entstehen- teil der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen 24 Prozent
den Vielfalt in der Landwirtschaft bereits jetzt versagt, aus. Heute sind es noch 2 Prozent. Deswegen müssen
denkt man nur an den Bereich des Obst- und Gemüsean- wir uns schon die Frage stellen, ob und wie wir die bis-
baus, der Nebenerwerbsbauern, der Streuobstwiesenbe- herigen Strukturen in der landwirtschaftlichen Sozialver-
sitzer. Aber auch hier sind Sie nicht bereit, mit Ihrem sicherung weiter aufrechterhalten können.
Gesetzentwurf neue Weichen zu stellen.
Angesichts leerer Kassen, angesichts der Schulden-
Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Gartenbaubetrie- bremse und des weiter voranschreitenden Strukturwan-
ben! Trotz unterschiedlichster Strukturen im Gartenbau dels in der Landwirtschaft können wir nicht einfach wei-
ist die wirkungsvolle Beitragsberechnung auf der Grund- termachen wie bisher. Und klar ist auch: Ein Festhalten
lage des Arbeitswertes ein Schlüssel für die Beitragsge- an der kleinteiligen Organisationsstruktur der landwirt-
rechtigkeit – und erspart immensen Verwaltungsaufwand. schaftlichen Sozialversicherung gefährdet auf längere
Mit einem klugen Bonussystem wird der Beitragszah- Sicht das eigenständige agrarsoziale Sicherungssystem.
lende belohnt, der Unfallverhütungsvorschriften im Be- Die SPD denkt ja schon offen darüber nach.
trieb umsetzt, unabhängig davon, ob es ein Betriebshof in
der Kommune ist oder ein Kleinunternehmen. Deshalb bin ich sehr zufrieden, dass wir als christlich-
liberale Koalition den einheitlichen Bundesträger auf
Anstatt das 99 Jahre alte Erfolgsmodell zu würdigen den Weg bringen. Damit sprechen wir uns klar für eine
und auf die unterentwickelte Struktur der Landwirtschaft zukunftsfeste eigenständige Agrarsozialpolitik aus, die
zu übertragen, stellt der aktuelle Gesetzentwurf der Bun- alles daran setzt, immer weiter steigende Kosten für
desregierung das hervorragende Beispiel sozialpartner- Landwirte zu vermeiden.
schaftlicher Selbstverwaltung grundsätzlich infrage. Ge-
meinsam mit den Gewerkschaften Verdi und IG BAU Ich bin auch meinen Kollegen aus dem Haushaltsaus-
sehen wir kein gutes und stichhaltiges Argument dafür, schuss dankbar, die trotz strikter Sparvorgaben diese Or-
eine durch erfolgreiche Sozialpartnerschaft auf gleicher ganisationsreform mit insgesamt 150 Millionen Euro zu-
Augenhöhe bestimmte Genossenschaft abzuschaffen. sätzlich flankieren. Dieses eindeutige Bekenntnis zur
Landwirtschaft ist wirklich nicht mehr selbstverständ-
Die SPD-Fraktion wird sich dafür starkmachen, dass lich. Ich hoffe, dass auch der Bundesrat ein Einsehen hat
(B) sich die Eigenständigkeit der Gartenbauberufsgenossen- und die notwendige Reform konstruktiv begleitet. (D)
schaft in einem Beirat oder einer Sektion im Gesetzent-
wurf wiederfindet und festgeschrieben wird. Und zwar Besonders freue ich mich über die Erleichterungen
mit ihren spezifischen Modalitäten und der eigenständi- bei der Hofabgabe. So soll die Altersgrenze bei Abgabe
gen Gestaltung für Haushalt, Finanzen und Personal. Es unter Ehepartnern aufgehoben werden, gewerbliche
gilt die Devise „Never change the running system“. Tierhaltung auf Rückbehaltsflächen weiter möglich sein
und die Abgabe von Gesellschaftern erleichtert werden.
Damit konnten wir von der FDP-Fraktion endlich unsere
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Gerade erst hat langjährigen Forderungen durchsetzen.
das Statistische Bundesamt auf der Agritechnica in Han-
nover die Ergebnisse der Landwirtschaftszählung 2010 Ich habe in diesem Zusammenhang viele Gespräche
vorgestellt: Inzwischen gibt es weniger als 300 000 land- mit dem Berufsstand geführt, denn mir kommt es darauf
wirtschaftliche Betriebe mit mindestens 5 Hektar land- an, gemeinsam mit den Betroffenen die beste Lösung zu
wirtschaftlicher Nutzfläche oder Sonderkulturfläche von finden. Der Tenor war eindeutig: Die Hofabgabe soll
0,5 Hektar. Das bedeutet: Verglichen mit 1960 ist die beibehalten werden. Sicher mag es einige Härtefälle ge-
Zahl der Betriebe um mehr als zwei Drittel gesunken. ben; dafür habe auch ich größtes Verständnis. Deswegen
Während ein Landwirt 1950 10 Menschen mit Nah- nehmen wir ja Änderungen vor. Und den Altenteilern
rungsmitteln versorgte, ernährt er 50 Jahre später schon bleibt weiterhin die Möglichkeit, einen Teil ihrer Fläche
127 Menschen. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen zu bewirtschaften. Aber die Hofabgabeklausel ganz ab-
haben sich mehr als verdoppelt, viele Haupterwerbsbe- schaffen, das kam für die überwältigende Mehrheit nicht
triebe sind zu Nebenerwerbsbetrieben geworden. Und in Betracht. Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein,
inzwischen kommen auf 100 aktive Beitragszahler in der dass eine komplette Abschaffung der Hofabgabeklausel
landwirtschaftlichen Rentenkasse rund 250 Rentenemp- zwangsläufig das Ende der eigenständigen Alterssiche-
fänger. Das ist der tiefgreifende Strukturwandel, den die rung der Landwirte bedeutet hätte – und das mit entspre-
Landwirtschaft hinter sich hat. chenden deutlichen Beitragserhöhungen.
Diesem Strukturwandel in der Landwirtschaft will Abschließend noch ein Wort zum Gartenbau. Auch
und muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So hier gibt es – wie wir alle wissen – noch einige Ände-
übernimmt der Bund – ähnlich wie im Bergbau – mit der rungswünsche. Wir werden diese Wünsche sorgfältig
1995 eingefügten Defizitdeckung inzwischen rund 70 Pro- prüfen, um auch hier zu einer tragfähigen Lösung für
zent der Kosten der Alterssicherung der Landwirte und alle Beteiligten zu kommen. Von daher ist es auch gut,
57 Prozent der gesamten LSV-Ausgaben. dass wir im Januar noch eine Anhörung durchführen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17663

(A) werden und allen Betroffenen die Möglichkeit geben, Zuge kommen können. Das greift heute nicht mehr. Die (C)
ihre Verbesserungsvorschläge einzubringen. Konsequenz ist, dass viele ihren Hof pro forma an Kin-
der oder Verwandte abgeben, wenn sie ihre Rente ausbe-
Ich habe mich in den Gesprächen mit der Bundes- zahlt bekommen wollen, aber sie selbst ihn weiter be-
regierung immer für die besonderen Belange des Garten- wirtschaften. Solche Entwicklungen müssen wir zur
baus eingesetzt. Denn eines ist klar: Die Situation dort Kenntnis nehmen und daraus Konsequenzen ableiten.
unterscheidet sich deutlich von der Land- und Forstwirt-
schaft, sowohl was die Mitglieder- als auch die Kosten- In Österreich ist die Hofabgabeklausel abgeschafft
struktur angeht. Beide weisen in die richtige Richtung, worden, ohne dass sich der Anteil der Landwirtinnen
Reformen sind konsequent angegangen worden. Aller- und Landwirte über 65 dadurch erhöht hätte. Nur be-
dings können wir der Forderung einer Eigenständigkeit kommen dort jetzt alle eine Rente! Wir brauchen ein al-
des Gartenbaus vor allem in der Unfallversicherung ternatives Anreizsystem, um eine Betriebsübernahme für
nicht entsprechen. Wir sind gesetzlich verpflichtet, die Junglandwirte attraktiver zu machen und diese zu för-
Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf neun dern.
zu reduzieren. Die Alternative wäre eine Fusion mit ei-
Der andere Aspekt ist die Berufsgenossenschaft im
ner anderen gewerblichen Berufsgenossenschaft. Damit
Bereich Gartenbau. Es ist absolut nicht nachvollziehbar,
wäre aber die versicherungszweigübergreifende Betreu-
wenn ein erfolgreicher Träger mit niedrigen Unfallzah-
ung der Versicherten beendet. Das kann nicht die Lösung
len und attraktiven Bilanzen in einem zwar größeren,
sein.
aber nicht ganz so effektiven Träger aufgeht. Bessern Sie
Ich bin – im Gegensatz zu den früheren Reformen – nach: Es muss unbedingt eine selbstständige Sektion
sicher, dass wir mit dem jetzigen Gesetz die landwirt- Gartenbau im Bundesträger geben!
schaftliche Sozialversicherung auf ein solides, bezahlba-
Es ist auch nicht akzeptabel, wie Sie sich der Parität
res und zukunftsfestes Fundament stellen. Und ich hoffe,
entledigen wollen. Bei der Berufsgenossenschaft Gar-
dass sich auch unsere Ländervertreter dieser Meinung
tenbau sitzen Versicherte und Unternehmer gleichbe-
anschließen werden.
rechtigt am Tisch. Das hat sich seit 99 Jahren bewährt.
Durch diese Parität konnte die Gartenbauberufsgenos-
Alexander Süßmair (DIE LINKE): Auch die Linke senschaft Maßnahmen ergreifen, ihre Unfallzahlen mas-
sieht die Zeit gekommen, die Struktur der landwirt- siv zu senken. Davon träumt man in der Landwirtschaft.
schaftlichen Sozialversicherung, also in erster Linie die Sie war 2010 der Berufszweig mit den meisten tödlichen
Struktur der Berufsgenossenschaften, weiter zu verän- Arbeitsunfällen.
dern.
Nun wollen Sie eine Drittelparität, bei der noch die
(B) Der einheitliche Bundesträger, der nun kommen soll, (D)
Selbstständigen ohne Angestellte dabeisitzen. Klar ha-
war durch die letzte Gesetzesnovelle in der 16. Wahl- ben die ganz spezifische Interessen, bei einer Sozialver-
periode schon angelegt. Jetzt – nach einigen Jahren – sicherung nämlich vorrangig das Interesse, dorthin so
findet der Vollzug statt. Darüber hinaus stellt sich für uns wenig wie möglich einzuzahlen.
allerdings die Frage, wie lange ein eigenständiges Sys-
tem für die Landwirtschaft überhaupt noch tragfähig ist. Ihre Vorschläge sind unausgewogen. Ihre Vorschläge
Ist die jetzige Reform ein Schritt in Richtung einer kom- sind unausgereift. Hören Sie nochmal allen Betroffenen
pletten Aufgabe des landwirtschaftlichen Sozialver- gut zu, vor allem denen aus dem Bereich Gartenbau,
sicherungssystems? nicht nur dem Deutschen Bauernverband und den Groß-
lobbyisten. Dann bessern Sie nach. Kriterium für uns ist,
Worum geht es? Die landwirtschaftliche Sozialversi- das sage ich ganz deutlich: Aufgabe landwirtschaftlicher
cherung ist ein berufsständisches Sicherungssystem. Es Sozialversicherung muss es sein, dass die in der Land-
dient der umfassenden sozialen Absicherung der in der wirtschaft tätigen Menschen auch wirklich sozial abgesi-
Land- und Forstwirtschaft tätigen Menschen gegen die chert sind, und dass sie dies selbst verwalten können.
Risiken Unfall, Krankheit sowie Pflegebedürftigkeit im
Alter. Die Agrarsozialpolitik hat sich in den letzten Jahr- Außerdem geht es um die Sicherung und die Zukunft
zehnten zur wichtigsten Säule der deutschen Agrarpoli- der Arbeitsplätze der Beschäftigten bei den bisherigen
tik entwickelt. Sie umfasst heute zwei Drittel der Haus- Trägern. Hierfür muss es soziale Lösungen und Sicher-
haltsausgaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums. heiten geben. Vor allem kann es nicht sein, dass Stellen
Aus Sicht der Linken bleiben zwei Aspekte der hier vor- abgebaut oder nicht neu besetzt werden, wenn dann die
gelegten Gesetzesnovelle problematisch: gleiche Arbeit durch Dritte erbracht wird. Die Gesetzes-
novelle der Bundesregierung geht in die falsche Rich-
Der eine ist die Hofabgabeklausel, der andere die Ein- tung.
bindung der bereits heute schon bundesweit einheitlich
Die Linke fordert die Parität von Arbeitnehmerinnen
organisierten Gartenbauberufsgenossenschaft mit ihrer
und Arbeitnehmern sowie Arbeitgebern in allen Gre-
vergleichsweise gut funktionierenden Unfallprävention.
mien des neuen Bundesträgers, in denen ihre Interessen
Immer mehr Landwirte bemängeln, dass die Hofabga- betroffen sind. Die Parität der Gartenbauberufsgenossen-
beklausel nicht mehr zeitgemäß sei, denn viele von ih- schaft hat sich bewährt, insbesondere bei der Unfallprä-
nen finden keinen Nachfolger für ihren Hof. Die Hofab- vention. Sie fordert weiterhin Schaffung und Beibehal-
gabeklausel hatte ein strukturpolitisches Element: Auch tung einer Sektion Gartenbau im neuen Bundesträger
die jüngeren Landwirtinnen und Landwirte sollten zum über die Übergangsfrist, über 2017, hinaus, keinen Ab-
17664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) bau von Stellen bei den derzeitigen Trägern, wenn dann nächste Geschäftsstelle der Versicherung sehr weit ent- (C)
die gleiche Arbeit von Dritten erbracht wird, sowie eine fernt ist.
ergebnisoffene Debatte mit Experten und allen Betroffe-
Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Hofabgabe. Die
nen über die Zukunft der Hofabgabeklausel.
Hofabgabe gehört abgeschafft. Sie passt nicht mehr zum
Bild einer sich wandelnden Gesellschaft, in der die jün-
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gere Bäuerin das Zepter schwingt, während sich der
NEN): Beim LSV-NOG geht es um sehr viel, um die so- deutlich ältere Bauer seinem verdienten, aber aktiven
ziale Absicherung und Unfallversicherung von Land- Ruhestand hingibt.
wirtschaft, Forsten und Gartenbau. Es geht aber auch um
Und zum Schluss will ich Ihnen sagen: Im Zuge der
einen großen Batzen öffentliches Geld, um 71 Prozent
Einführung des Bundesträgers haben auch die Mitarbei-
des Agrarhaushalts.
terinnen und Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Sozial-
An der Einführung des Bundesträgers wollen wir versicherung einen Umgang verdient, der angemessen
Grünen grundsätzlich festhalten, das heißt aber nicht, ist. Um nur einen Aspekt zu nennen: Versetzungen in
dass wir an bestimmten Details nicht mehr rütteln dür- den einstweiligen Ruhestand von Dienstordnungsange-
fen. Bei 35 Änderungsanträgen der Bundesländer im stellten, Beamtinnen oder Beamten haben auf Antrag zu
Bundesrat bin ich guter Hoffnung, dass wir die Leitplan- erfolgen oder bedürfen der Zustimmung der Betroffenen.
ken noch richtig setzen können. Die Personalräte sind endlich in die Reform mit einzube-
ziehen. Einen Sonderweg lehnen wir ab.
Aufgrund der Kürze der Zeit will ich nur ein paar As-
pekte „anreißen“, wo kräftig nachjustiert werden muss:
Anlage 7
Der Geldgeber bestimmt Maßstab und Rahmen. Die
Bundesregierung ist in der Pflicht, den Maßstab und den Zu Protokoll gegebene Reden
Rahmen zu setzen. Deshalb kann es nicht sein, dass uns zu den Anträgen:
lediglich eine einzige gutachterliche Stellungnahme zur
Beitragsgestaltung, nämlich die von Professor Dr. Bahrs, – Zinssätze für Dispositions- und Überzie-
vorgelegt wird. Um das Ganze ohne Scheuklappen beur- hungskredite verbrauchergerecht deckeln
teilen zu können, erwarten wir von der Bundesregierung – Verbraucherinnen und Verbraucher vor
weitere gutachterliche Stellungnahmen zur Beitragsge- überhöhten Überziehungszinsen schützen
staltung einzuholen oder das Design des Gutachtens so
zu stricken, dass wir über verschiedene Varianten reden (Tagesordnungspunkt 38)
(B) können. (D)
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Bei der
Es ist doch erstaunlich, dass bei der Berechnung der ersten Lesung der Anträge waren wir uns über alle Frak-
Bruttobeiträge zur landwirtschaftlichen Unfallversiche- tionsgrenzen hinweg einig, dass hier im Sinne der Ver-
rung die Beiträge umso höher ausfallen, je kleiner die braucherinnen und Verbraucher endlich gehandelt wer-
landwirtschaftliche Nutzfläche oder der Tierbestand ist, den muss. Die Debatte führten wir am 30. September
und dass das dann auch noch als Beitragsgerechtigkeit 2010, also vor über einem Jahr. Und was ist passiert:
angegeben wird. Was ist die Konsequenz daraus? Das Nichts!
kann ich Ihnen sagen: Die großen Industriebetriebe wer-
den wachsen, und die kleinen Bauernhöfe werden wei- Die Ergebnisse der damals angekündigten Studie der
chen; ganz im Sinne des Deutschen Bauernverbandes Verbraucherschutzministerin zum Zinsanpassungsver-
und der Wachstumsphilosophie der Bundesregierung. halten der Banken liegen immer noch nicht vor. Schon
Das Unfallrisiko stärker einzubeziehen, wollen wir damals haben wir befürchtet, dass die Erstellung einer
Grüne auch, aber erklären Sie hier und heute: Wieso sol- „ausführlichen Studie“ nur dazu dienen sollte, das
len in einem Betrieb mit 40 Kühen mehr als doppelt so Thema totzuschweigen. Und genau dies ist geschehen!
viele Unfälle geschehen als in einem Betrieb mit Auch im Oktoberheft 2011 griff die Stiftung Finanz-
400 Kühen? test – nachdem sie bereits im März dieses Jahres darüber
berichtete – das Thema wieder auf. Immer noch verlan-
Eine anderes Thema, das mir am Herzen liegt, ist der
gen die Banken unverschämt hohe Dispozinsen: Der
Gartenbaubereich. Der Garten- und Landschaftsbau
Schnitt liegt bei rund 12,4 Prozent, der Studie zufolge
kann mit seinen Präventionsprogrammen hervorragende
verlangen 20 Banken sogar 14 Prozent und mehr. Dies
Erfolge vorweisen. Daran sollten wir nicht rütteln. Die
ist ein unhaltbarer Zustand, dem jetzt begegnet werden
Eigenständigkeit des Gartenbaus hat sich bewährt und
muss. Zu lange haben sich die vermeintlichen schwarz-
soll erhalten bleiben. Sie haben den Bundesträger. Des-
gelben Volksvertreter der Sache nicht angenommen.
halb votiere ich für das Sektionsmodell des Gartenbaus.
Ich kenne das Gefühl, das die Gartenbauer derzeit um- Natürlich konnte sich die FDP bei dieser Debatte
gibt; denn auch ich fühle mich als Bauer nicht vom nicht aus der Diskussion ziehen. Sie mahnte an, dass ein
Deutschen Bauernverband vertreten. Wer nicht im DBV Dispozinssatz von 17 Prozent an Wucher grenze. Welche
ist – und das sind bestimmt 20 Prozent der Bauern –, Einsicht! Nur brachte die damals anvisierte Aufforde-
wird von den Kreisgeschäftsstellen der Bauernverbände rung an die Bankwirtschaft, dieses Problem durch radi-
abgewiesen. Das geht nicht; erst recht nicht, wenn die kale Einschnitte in den Griff zu bekommen, nichts.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17665

(A) Wir haben damals kritisiert, dass die Banken die Leit- Als wäre das nicht schlimm genug, bezahlen sie dafür (C)
zinssenkung der EZB nicht an ihre Kundinnen und Kun- Dispozinsen und häufig sogar noch Überziehungszinsen
den weitergegeben haben. Die EZB hat in diesem Jahr von 300 Euro und mehr, so die Verbraucherzentralen.
die Leitzinsen bereits zweimal erhöht. Die Zinserhöhung
wurde „selbstverständlich“ an die Bankkunden weiterge- Versuchen die Verbraucherinnen und Verbraucher
geben, was in vielen Fällen eine Katastrophe für die ver- dann, diese Dispokredite in Ratenkredite umzuwandeln,
schuldeten Bankkunden bedeutet. Der üblichen Praxis verweigern sich die Banken häufig. Sie würden ja damit
der Banken, bei sinkendem Leitzins die Zinsen für Spar- ihr Gewinne minimieren. Das Problem ist uns allen be-
guthaben schnell zu senken, die Zinsen für Kredite aber wusst. Nur auf ein Tätigwerden der Koalition warten wir
hoch zu halten, muss ein Riegel vorgeschoben werden. bisher vergeblich.
Die Untätigkeit der Bundesregierung ist nicht nachvoll- Dabei waren wir uns schon vor einem Jahr im Grund-
ziehbar. satz so einig wie bei kaum einem anderen Thema: Wir
Es ist keine Lösung, weiter auf eine Studie zu warten, alle finden die absolut überzogenen Zinsen für die
die mit höchster Wahrscheinlichkeit die uns bereits vor- Dispo- und Überziehungskredite nicht in Ordnung. Wir
liegenden Zahlen der Stiftung Finanztest bestätigen alle wollen nicht, dass sich die Banken auf Kosten der
wird. Verbraucherinnen und Verbraucher sanieren. Bankenret-
tung bieten wir durch andere Maßnahmen.
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger muss
die gesetzlichen Regelungen konkreter fassen; denn die Es kann doch nicht angehen, dass Banken einerseits
bestehenden Vorschriften werden von den Banken teil- selbst Geld günstig aufnehmen und dafür nur geringe
weise bewusst umgangen. Die tanzen der Bundesregie- Renditen bezahlen, andererseits aber hohe Zinsen ver-
rung auf der Nase herum! Klar muss sein: Zinssenkun- langen, wenn sie diese Gelder kurzfristig weitergeben.
gen sind eins zu eins an die Kunden weiterzugeben, ohne Das ist ein Kuhhandel: Die Bank kauft Geld billig ein
Wenn und Aber. Außerdem brauchen wir größere Trans- und verkauft teuer zulasten von Verbraucherinnen und
parenz: Wenn die Bank einen Referenzzinssatz angibt, Verbrauchern.
dann muss sie auch die Zinsmargen und die Zeitpunkte
der Zinsanpassung nennen. Nur so kann man die Banken Die FDP wird sich nun wieder auf den Standpunkt
zu transparenten und fairen Zinsanpassungsklauseln stellen, dass es sich um freie Marktteilnehmer handelt.
zwingen. Frau Aigner wird uns wieder erzählen, der mündige Ver-
braucher könne ja die Bank wechseln. Tatsächlich aber
Tun Sie endlich etwas! Ihre Konten, Frau Ministerin erleben wir, wie die Banken das Ruder an sich gerissen
Aigner und Frau Ministerin Leutheusser- haben.
(B) Schnarrenberger, sind wegen mangelnder Tatkraft be- (D)
reits weit überzogen! Die Banken haben eine Monopolstellung: Nicht jeder
darf Kredite vergeben, und das wollen wir auch so. Wir
erwarten aber von Banken, dass sie im Gegenzug ihrer
Kerstin Tack (SPD): Vor etwas mehr als einem Jahr gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden.
brachte die Stiftung Warentest eine Studie heraus. Diese Und das tun sie unzureichend.
belegte, dass Banken horrende Dispozinsen zwischen
6 und 16 Prozent verlangen. Für Guthaben auf Girokonten geben sie keine oder so
gut wie keine Renditen. Man muss sich das einmal vor-
Unsere Verbraucherschutzministerin Aigner nahm
stellen: Wer auf seinem Girokonto ein halbes Jahr
sich des Themas an. Wie? Wie immer: Sie kündigte an, 1 000 Euro im Plus ist, erhält dafür keinerlei Zinsen, und
dass sie eine ausführliche Studie zum Zinsanpassungs-
die Bank kann mit dem Geld arbeiten. Ist er aber das an-
verhalten in Auftrag gebe. Damit gewinnt man Zeit,
dere halbe Jahr mit 1 000 Euro im Minus, dann kostet
ohne handeln zu müssen. ihn das bei einem Dispozins von 10 Prozent 50 Euro. Da
Heute, deutlich mehr als ein Jahr später, kam aus dem stimmt doch das Verhältnis nicht mehr!
Hause Aigner: nichts! Dabei ist Frau Aigner das Pro-
blem bereits seit 2009 bekannt. Damals sagte sie: „Die Die Stiftung Warentest errechnete letztes Jahr, dass
Zinssenkungen müssen unverzüglich an die Kunden jeder Prozentpunkt, den der Zinssatz für Dispo- und
weitergegeben werden.“ Überziehungszinsen nicht gesenkt wird, Verbraucherin-
nen und Verbraucher 416 Millionen Euro kostet. Inzwi-
Es handelt sich hier um ein Problem, das die Großzahl schen ist deutlich mehr als ein Jahr vergangen. Deshalb
der Verbraucherinnen und Verbraucher angeht. Der Dis- ist jetzt endlich handeln geboten.
positionsrahmen wird heutzutage von den meisten ge-
nutzt. Er gibt die Möglichkeit, kurzfristige finanzielle
Durststrecken zu überbrücken. Anlage 8
Das ist die Theorie. Die Realität in den Schuldnerbe- Amtliche Mitteilungen
ratungen ist eine andere: Die Verbraucherzentralen ha-
ben die Experten in den Schuldnerberatungen gefragt. Der Bundesrat hat in seiner 890. Sitzung am 25. No-
90 Prozent der Ratsuchenden haben ihr Girokonto länger vember 2011 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen
als zwölf Monate überzogen. 40 Prozent davon sind mit zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab-
mehr als 3 000 Euro in den Miesen. satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen:
17666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) – Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommu- höhung der Bundesbeteiligung (2013: 75 Pro- (C)
nen zent und ab 2014: 100 Prozent) enthalten sind,
und dabei die Länder frühzeitig zu beteiligen
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- und
ßung gefasst:
bb) in dem vorzulegenden Gesetzentwurf einen Fi-
a) Der Bundesrat begrüßt die im Rahmen des Vermitt-
nanzierungsmodus vorzusehen, der sicherstellt,
lungsverfahrens zu dem Gesetz zur Ermittlung von
dass die Abrechnung der Kosten der Grund-
Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vereinbarte stu-
auf Basis der laufenden Nettoausgaben – analog
fenweise Erhöhung der Bundesbeteiligung an den
zu den bereits bestehenden Verfahren zum
Ausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Er-
Wohngeld – erfolgt.
werbsminderung in den Jahren 2012 und 2013 und
die vollständige Übernahme der Kostenlasten durch b) Der ursprünglich zum Ausgleich von Belastungen
den Bund ab dem Jahre 2014. Hiermit wird ein wich- des Bundes aus der Senkung des Beitragssatzes zur
tiger Beitrag zur Stärkung der Finanzkraft der Kom- Arbeitslosenversicherung übertragene Umsatzsteuer-
munen geleistet. Das Gesetz setzt die Vereinbarun- vorabbetrag wird im Einvernehmen mit den Ländern
gen im Vermittlungsverfahren allerdings nur im Ausbauzustand bis zur Hälfte als Gegenfinanzie-
teilweise um: Geregelt wird lediglich die erste Stufe rung der schrittweisen Übernahme der Grundsiche-
der Entlastung für das Jahr 2012, in dem die Bundes- rungskosten durch den Bund eingesetzt. Ausschließ-
beteiligung auf 45 Prozent der Kosten steigen soll. lich darauf bezogen haben die Länder zugesagt,
Für die weitere Entlastungsstufe im Jahre 2013 keine Forderungen auf Rückübertragung des für den
(75 Prozent) und die vollständige Übernahme der bisherigen Zweck nicht mehr benötigten Steuerauf-
Kostenlasten ab dem Jahre 2014 sichert die Bundes- kommens geltend zu machen. Der Bundesrat bekräf-
regierung ein weiteres Gesetzgebungsverfahren zu, tigt daher, dass jede weitere Veränderung der Ver-
das auch die sich aus der ab dem Jahre 2013 einset- wendung von Vorabbeträgen für den Bund aus dem
zenden Bundesauftragsverwaltung ergebenden Fra- gemeinsam dem Bund und den Ländern zustehenden
gen regeln soll. Der Bundesrat sieht es als erforder- Umsatzsteueraufkommen nur unter Beachtung der
lich an, die entsprechenden gesetzlichen Regelungen Länderansprüche an frei werdendem Steueraufkom-
so schnell wie möglich und in enger Abstimmung men vorgenommen werden kann.
mit den Ländern zu treffen.
– Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung über
Das Gesetz stellt zudem für die Berechnung der Bun- die elektronische Fassung des Amtsblattes der
(B) desbeteiligung im Jahre 2012 nicht auf die tatsächli- Europäischen Union (D)
chen Ausgaben der Länder und Kommunen für die
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Gesetz zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
im kommenden Jahr ab, sondern auf die Ausgaben – Drittes Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes
des Vorvorjahres. Dies hat zur Folge, dass Länder
und Kommunen den zu erwartenden Ausgabenan- – Drittes Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuerge-
stieg im Jahr 2012 gegenüber dem Jahr 2010 selbst setzes
vorfinanzieren müssen und die Übernahme der tat-
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie-
sächlichen Kostenlasten durch den Bund nicht in
ßung gefasst:
dem vereinbarten Ausmaß erfolgt. Der Bundesrat
weist vor diesem Hintergrund mit Nachdruck darauf Der Bundesrat verknüpft seine Zustimmung zu dem
hin, dass mit der vom Bund angekündigten weiterge- Gesetz mit der Aufforderung, die Istbesteuerung im
henden gesetzgeberischen Umsetzung in jedem Fall Rahmen der Grenzen des § 20 Umsatzsteuergesetz auch
auch ein Abrechnungsmodus gesetzlich festzuschrei- für den Vorsteuerabzug einzuführen. Im Hinblick auf die
ben ist, der auf die laufenden Nettoausgaben abstellt erheblichen Ausfallrisiken bei der Umsatzsteuer und die
und damit sicherstellt, dass sich der Bund an den den zusätzlichen Liquiditätsvorteile der durch die dauerhafte
Ländern und Kommunen tatsächlich entstehenden Anhebung der Istbesteuerungsgrenzen begünstigten Un-
Kosten im vereinbarten Ausmaß beteiligt, d. h. die ternehmer ist es erforderlich, das Optionsrecht zur Ist-
Kosten im Jahre 2013 zu 75 Prozent und ab dem Jahr besteuerung kohärent auszugestalten. Angesichts der
2014 vollständig übernimmt. Der Bundesrat ist zu- großen Zahl der Unternehmer, deren Gesamtumsatz
dem der Auffassung, dass in diesem Zusammenhang 500 000 Euro nicht überschreitet, werden künftig die
auch die Ländern und Kommunen infolge einer ver- Wettbewerbsbedingungen zwischen regelbesteuernden
alteten Bezugsgröße im Jahr 2012 entstandene Belas- Unternehmern und Unternehmern, die infolge der An-
tung durch den Bund vollständig zu ersetzen ist wendung des § 20 Umsatzsteuergesetz günstigere Liqui-
(Rückwirkungsklausel für 2012). ditätsbedingungen in Anspruch nehmen können, mehr
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher als bisher beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass bei Anwen-
auf, dung des § 20 Umsatzsteuergesetz die Zeitpunkte
zwischen Vorsteuerabzugsrecht und Umsatzsteuer-
aa) zur weiteren vereinbarten Entlastung der Kom- entrichtungspflicht künftig auch im zwischenunterneh-
munen schnellstmöglich einen Gesetzentwurf merischen Bereich dauerhaft vermehrt auseinanderfal-
vorzulegen, in dem die weiteren Stufen der Er- len. Infolge der unbefristeten Festschreibung der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17667

(A) erhöhten Istbesteuerungsgrenze ist zur Wiederherstel- den gesamten Lohnaufwendungen des Gewer- (C)
lung des Gleichgewichts deshalb nun auch die Erweite- bebetriebs (§ 29 Absatz 1 Nummer 1 GewStG).
rung des § 20 Umsatzsteuergesetz auf den Vorsteuerab- Bei Anwendung des Zerlegungsmaßstabs „Ar-
zug geboten. Sofern das derzeitige Unionsrecht als beitslöhne“ erhalten die Gemeinden, in denen
Grundlage für eine solche Maßnahme nicht ausreichend die Freiflächenanlagen betrieben werden, regel-
sein sollte, wird die Bundesregierung aufgefordert, sich mäßig keinen Zerlegungsanteil, weil dort keine
für die Herstellung der dafür notwendigen EU-rechtli- Arbeitnehmer des Energieanlagenbetreibers be-
chen Voraussetzungen einzusetzen. schäftigt sind. Die Gewerbesteuer entfällt in
diesen Fällen regelmäßig nur auf die Gemeinde,
– Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenver- in der das Unternehmen den Ort seiner Ge-
mittler- und Vermögensanlagenrechts schäftsleitung hat.
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU Diese strukturell begründete Nichtberücksichti-
vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Er- gung der Standortgemeinden trägt nicht dazu
richtung des Europäischen Finanzaufsichtssys- bei, dass die Standortgemeinden die Ansiedlung
tems und den Betrieb entsprechender Anlagen in ih-
– Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie rem Gemeindegebiet genehmigen bzw. fördern.
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitrei- – Im Hinblick auf das aktuelle Ziel, die Nutzung
bungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – Beitr RLUmsG) erneuerbarer Energien auszubauen, ist es gebo-
Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ten, die Standortgemeinden anzuregen, die An-
ßung gefasst: siedlung entsprechender Freiflächenanlagen zu
fördern. Dies kann durch eine angemessene Be-
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, teiligung am Gewerbesteueraufkommen erreicht
schnellstmöglich eine besondere Regelung für die Zerle- werden.
gung des Gewerbesteuermessbetrags bei Anlagen zur
Erzeugung von Strom aus solarer Strahlungsenergie in Die Änderung kann gesetzestechnisch in der Weise
das Gewerbesteuergesetz aufzunehmen. umgesetzt werden, dass in § 29 Absatz 1 Nummer 2
GewStG nach dem Wort „Windenergie“ die Wörter
Die in § 29 Absatz 1 GewStG enthaltene Regelung „oder zur Erzeugung von Strom aus solarer Strah-
für die Zerlegung des Gewerbesteuermessbetrags bei lungsenergie nach § 32 Absatz 2 und 3 des Erneuer-
Windkraftanlagen ist auf Anlagen zur Erzeugung von bare-Energien-Gesetzes“ eingefügt werden.
Strom aus solarer Strahlungsenergie zu erweitern.
(B) – Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungs- (D)
Der Deutsche Bundestag hat angekündigt, man wolle schutzgesetzes
das Anliegen des Bundesrates bei der Befassung in ei-
nem Gesetzgebungsvorhaben im Jahr 2012 umsetzen. – Vierundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes
Der Bundesrat erwartet, dass diese Ankündigung
kurzfristig aufgegriffen und eine entsprechende Ände- – Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung
rung der Gewerbesteuerzerlegung umgesetzt wird. von Unternehmen

Begründung – Gesetz zur Verbesserung des Austausches von


strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mit-
Eine Gleichstellung der Gewerbesteuerzerlegung bei gliedstaaten der Europäischen Union und zur Än-
Photovoltaikanlagen mit Windenergieanlagen ist derung registerrechtlicher Vorschriften
u. a. aus folgenden Gründen geboten:
– Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und
– Bund und Länder sind übereingekommen, Jugendkammern in der Hauptverhandlung und
schneller aus der Kernenergie auszusteigen und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtli-
in erneuerbare Energien einzusteigen. Im Rah- cher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinarge-
men der Energiewende spielen erneuerbare setzes
Energien, insbesondere auch die Solarstromer-
zeugung, eine herausragende Rolle. – Zweites Gesetz zur Änderung des Umweltauditge-
setzes
– Bei größeren Freiflächenanlagen zur Nutzung
der solaren Strahlungsenergie liegen regelmäßig – Gesetz zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an das
die Voraussetzungen für eine Zerlegung des Ge- Gemeinsame Wattenmeersekretariat – Common
werbesteuermessbetrags vor, weil sich die An- Wadden Sea Secretariat (CWSS) (CWSSRechtsG)
lage in einer anderen Gemeinde befindet als der – Gesetz zur Verbesserung der Versorgung bei be-
Ort der Geschäftsleitung. Die Situation bei dem sonderen Auslandsverwendungen (Einsatzversor-
Betrieb von großen Freiflächenanlagen ist inso- gungs-Verbesserungsgesetz – EinsatzVVerbG)
weit vergleichbar mit dem Betrieb von Wind-
kraftanlagen. Der Zerlegungsmaßstab orientiert – Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans
sich grundsätzlich am Verhältnis der gezahlten des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2012
Arbeitslöhne der jeweiligen Betriebsstätte zu (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2012)
17668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011

(A) – Gesetz zur Neufassung des Erdölbevorratungsge- – Unterrichtung durch die Bundesregierung (C)
setzes, zur Änderung des Mineralöldatengesetzes Nationaler Masterplan Maritime Technologien
und zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes – Drucksachen 17/6926, 17/7417 Nr. 4 –

– Gesetz zur Änderung des Vergaberechts für die – Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bereiche Verteidigung und Sicherheit Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in
den Jahren 2009/2010 sowie über die Lage und Ent-
– Gesetz zu dem Abkommen vom 6. April 2010 zwi- wicklung auf seinem Aufgabengebiet
schen der Bundesrepublik Deutschland und der und
Republik Albanien zur Vermeidung der Doppelbe-
Stellungnahme der Bundesregierung
steuerung und der Steuerverkürzung auf dem Ge-
– Drucksachen 17/6640, 17/6961 Nr. 1.4 –
biet der Steuern vom Einkommen und vom Ver-
mögen
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Gesetz zu dem Protokoll vom 29. Dezember 2010
zur Änderung des Abkommens vom 24. August – Unterrichtung durch die Bundesregierung
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland Entwicklungsplan Meer – Strategie für eine integrierte
und der Republik Österreich zur Vermeidung der deutsche Meerespolitik
Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern – Drucksachen 17/6775, 17/6961 Nr. 1.9 –
vom Einkommen und vom Vermögen
– Gesetz zu dem Abkommen vom 25. November Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
und dem Fürstentum Andorra über den Informa- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
tionsaustausch in Steuersachen ner Beratung abgesehen hat.
– Gesetz zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Antigua und Barbuda über den Informationsaus- Drucksache 17/3955 Nr. A.8
tausch in Steuersachen Ratsdokument 13977/10
Drucksache 17/4927 Nr. A.17
– … Strafrechtsänderungsgesetz zur Umsetzung der Ratsdokument 5625/11
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Drucksache 17/6010 Nr. A.5
Ratsdokument 7280/11
Rates über den strafrechtlichen Schutz der Um- Drucksache 17/6010 Nr. A.12
(B) welt Ratsdokument 9683/11 (D)
Drucksache 17/6176 Nr. A.11
– Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschan- EP P7_TA-PROV(2011)0224
cen am Arbeitsmarkt Drucksache 17/6176 Nr. A.12
EP P7_TA-PROV(2011)0225
Drucksache 17/6176 Nr. A.13
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass sie den An- EP P7_TA-PROV(2011)0235
trag Die OSZE ausbauen und stärken auf Drucksache Drucksache 17/6176 Nr. A.14
17/5773 zurückzieht. Ratsdokument 9698/11
Drucksache 17/6407 Nr. A.16
Ratsdokument 11300/11
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 17/6568 Nr. A.5
Ratsdokument 11471/11
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Drucksache 17/6985 Nr. A.23
Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung EuB-BReg 176/2011
zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 17/6985 Nr. A.24
EP P7_TA-PROV(2011)0283
Drucksache 17/6985 Nr. A.25
Auswärtiger für Wirtschaft und Technologie EP P7_TA-PROV(2011)0285
Drucksache 17/6985 Nr. A.26
– Unterrichtung durch die Bundesregierung EP P7_TA-PROV(2011)0307
Drucksache 17/6985 Nr. A.27
Zehnter Bericht der Bundesregierung über die Aktivi- EP P7_TA-PROV(2011)0318
täten des gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der Drucksache 17/6985 Nr. A.28
einzelnen Rohstoffabkommen Ratsdokument 12038/11
– Drucksache 17/3817 – Drucksache 17/6985 Nr. A.30
Ratsdokument 12078/11
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 17/6985 Nr. A.31
Ratsdokument 12111/11
Monitoring-Prozess „Energie der Zukunft“ Drucksache 17/6985 Nr. A.32
– Drucksachen 17/7545, 17/7702 Nr. 3 – Ratsdokument 12300/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.33
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 12566/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.34
Sechstes Energieforschungsprogramm der Bundesre- Ratsdokument 12639/11
gierung – Forschung für eine umweltschonende, zuver- Drucksache 17/6985 Nr. A.35
lässige und bezahlbare Energieversorgung Ratsdokument 12666/11
– Drucksachen 17/6783, 17/6961 Nr. 1.10 – Drucksache 17/6985 Nr. A.36
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 147. Sitzung. Berlin, Freitag, den 2. Dezember 2011 17669

(A) Ratsdokument 13400/11 Drucksache 17/7713 Nr. A.17 (C)


Drucksache 17/6985 Nr. A.37 Ratsdokument 15517/11
Ratsdokument 13403/11 Drucksache 17/7713 Nr. A.18
Drucksache 17/7423 Nr. A.20 Ratsdokument 15518/11
EP P7_TA-PROV(2011)0364 Drucksache 17/7713 Nr. A.19
Drucksache 17/7423 Nr. A.22 Ratsdokument 15520/11
EP P7_TA-PROV(2011)0380 Drucksache 17/7713 Nr. A.20
Drucksache 17/7423 Nr. A.23 Ratsdokument 15521/11
EP P7_TA-PROV(2011)0403
Drucksache 17/7423 Nr. A.24
Ratsdokument 13941/11 Ausschuss für Arbeit und Soziales
Drucksache 17/7423 Nr. A.25
Ratsdokument 13943/11 Drucksache 17/6985 Nr. A.51
Drucksache 17/7549 Nr. A.5 Ratsdokument 11951/11
Ratsdokument 14757/11
Drucksache 17/7549 Nr. A.6
Ratsdokument 14760/11 Ausschuss für Kultur und Medien
Drucksache 17/7549 Nr. A.7
Ratsdokument 15088/11 Drucksache 17/5434 Nr. A.19
Ratsdokument 7194/11
Drucksache 17/6176 Nr. A.23
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und EP P7_TA-PROV(2011)0239
Verbraucherschutz Drucksache 17/6176 Nr. A.24
EP P7_TA-PROV(2011)0240
Drucksache 17/7713 Nr. A.14
Ratsdokument 15400/11

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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