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Plenarprotokoll 17/105

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Reiner René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11948 A


Deutschmann als Mitglied und des Abgeord-
Peter Hintze (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 11948 D
neten Patrick Kurth (Kyffhäuser) als stell-
vertretendes Mitglied in das Kuratorium des Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Deutschen Historischen Museums . . . . . . . 11943 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11949 D
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11943 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11950 B
Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11951 B
Tagesordnungspunkt 3: Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 11952 B
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11952 D
Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder,
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11953 D
Pascal Kober, Johannes Singhammer,
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 11954 D
und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11955 B
Präimplantationsdiagnostik
(Drucksache 17/5450) . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 A Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11956 B
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11957 A
René Röspel, Priska Hinz (Herborn),
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11958 A
Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 11959 A
Entwurfs eines Gesetzes zur begrenzten
Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11960 A
Zulassung der Präimplantationsdia-
gnostik (Präimplantationsdiagnostikge- Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11961 A
setz – PräimpG)
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/5452) . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11961 D
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11962 D
Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11963 D
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 11964 C
der Präimplantationsdiagnostik (Prä-
implantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11965 B
(Drucksache 17/5451) . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 B
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 11966 B
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 C
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11946 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11967 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Helge Braun (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11968 B merfreizügigkeit (Mindestlohngesetz)


(Drucksachen 17/4435, 17/5499) . . . . . . . 11990 A
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11969 A
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11970 A dem Antrag der Abgeordneten Anette
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 11971 A Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der
Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11972 B Fraktion der SPD: Gesetzlichen Mindest-
lohn einführen – Armutslöhne verhin-
dern
Tagesordnungspunkt 4: (Drucksachen 17/1408, 17/5101) . . . . . . . 11990 A
Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 11990 B
Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD: Für ei- Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11991 C
nen neuen Infrastrukturkonsens – Schutz Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11992 B
der Menschen vor Straßen- und Schienen-
lärm nachdrücklich verbessern Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 11993 B
(Drucksache 17/5461) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11973 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 11993 D
Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11973 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11995 B
Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11974 D
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11996 D
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11976 D
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11997 B
Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11978 A
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11998 A
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11979 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 11999 D

Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11981 A Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12001 A

Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11981 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 12002 A


Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 12002 D
Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11983 C
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12003 D
Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . 11983 D
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12005 B
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . 11985 A
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 12005 D
Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11986 C
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 12006 C
Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11987 C
Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . 12007 A
Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11988 C
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12008 B
Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12009 B
Tagesordnungspunkt 5:
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
a) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12010 D
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Abgeordneten Jutta Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12011 B
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in Eu- Tagesordnungspunkt 28:
ropa stärken – Den gesetzlichen Min- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
destlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter,
einführen Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten
(Drucksachen 17/4038, 17/5499) . . . . . . . 11989 D und der Fraktion DIE LINKE eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
b) Zweite und dritte Beratung des von den
rung des Atomgesetzes – Keine Über-
Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate
tragbarkeit von Reststrommengen
Müller-Gemmeke, Fritz Kuhn, weiteren
(Drucksache 17/5472) . . . . . . . . . . . . . . . 12012 B
Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
wurfs eines Gesetzes für die Einführung Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite-
flächendeckender Mindestlöhne im rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Vorfeld der Einführung der Arbeitneh- LINKE: Europäische Forschungsförde-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 III

rung in den Dienst der sozialen und Öffentlichen Diskurs zum geplanten
ökologischen Erneuerung stellen Freiheits- und Einheitsdenkmal in Ber-
(Drucksache 17/5386) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 B lin ermöglichen
(Drucksache 17/5469) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 B
c) Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- k) Antrag der Abgeordneten Friedrich
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg),
der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter
Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Bender, weiterer Abgeordneter und der GRÜNEN: Tierschutz bei Tiertranspor-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ten verbessern
Stärkung des Europäischen For- (Drucksache 17/5491) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 B
schungsraums – Die Vorbereitung für
das 8. Forschungsrahmenprogramm in l) Antrag des Präsidenten des Bundesrech-
die richtigen Bahnen lenken nungshofes: Rechnung des Bundesrech-
(Drucksache 17/5449) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 C nungshofes für das Haushaltsjahr 2010
– Einzelplan 20 –
d) Antrag der Fraktion der SPD: Evaluie- (Drucksache 17/5385) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 B
rung befristeter Sicherheitsgesetze
(Drucksache 17/5483) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 C
e) Antrag der Fraktion der SPD: Die Chance Zusatztagesordnungspunkt 3:
zur Stärkung des UN-Menschenrechts- a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
rates nutzen FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
(Drucksache 17/5482) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 D Gedenkort für die Opfer der NS-„Eu-
f) Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, thanasie“-Morde
Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer (Drucksache 17/5493) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 C
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan
Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur
Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert
Wertstofferfassung im Rahmen des
Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordne-
Planspiels zur Fortentwicklung der
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
Verpackungsverordnung
der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
(Drucksache 17/5484) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 D
(Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter
g) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der
Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Fraktion der FDP: Gestaltung der zu-
Abgeordneter und der Fraktion DIE künftigen europäischen Forschungsför-
LINKE: Wissenschaftliche Urheberin- derung der EU (2014–2020)
nen und Urheber stärken – Unabding- (Drucksache 17/5492) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 C
bares Zweitveröffentlichungsrecht ein-
führen c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
(Drucksache 17/5479) . . . . . . . . . . . . . . . . 12012 D Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm
Priesmeier, weiterer Abgeordneter und der
h) Antrag der Abgeordneten Dorothee Fraktion der SPD: Klonen von Tieren
Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph zur Lebensmittelproduktion verbieten
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 17/5485) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 D
Fraktion DIE LINKE: Sofortige Stillle-
gung der sieben ältesten Atomkraft- d) Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies
werke und des Atomkraftwerkes Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Petra
Krümmel Ernstberger, weiterer Abgeordneter und
(Drucksache 17/5478) . . . . . . . . . . . . . . . . 12013 A der Fraktion der SPD: Gesundheit ist ein
globales öffentliches Gut – Rolle der
i) Antrag der Abgeordneten Dorothee Weltgesundheitsorganisation WHO in
Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph der „Global Health Governance“ stär-
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der ken
Fraktion DIE LINKE: Überführung der (Drucksache 17/5486) . . . . . . . . . . . . . . . 12013 D
Rückstellungen der AKW-Betreiber in
einen öffentlich-rechtlichen Fonds e) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
(Drucksache 17/5480) . . . . . . . . . . . . . . . . 12013 A Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter
j) Antrag der Abgeordneten Claudia Roth und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
(Augsburg), Agnes Krumwiede, Renate GRÜNEN: Transparenz in Public Privat
Künast, weiterer Abgeordneter und der Partnerships im Verkehrswesen
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 17/5258) . . . . . . . . . . . . . . . 12014 A
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Tagesordnungspunkt 29: Anpassung des Gesetzes über die Um-


weltverträglichkeitsprüfung an Ände-
a) Zweite und dritte Beratung des von der rungen der Gefahrstoffverordnung
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
(Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2,
eines Sechsten Gesetzes zur Änderung 17/5497) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12015 B
von Verbrauchsteuergesetzen
(Drucksachen 17/5127, 17/5201, 17/5510) 12014 A f)–j)
b) – Zweite Beratung und Schlussabstim- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
mung des von der Bundesregierung schusses: Sammelübersichten 249, 250, 251,
eingebrachten Entwurfs eines Geset- 252 und 253 zu Petitionen
zes zu dem Abkommen vom 9. April (Drucksachen 17/5393, 17/5394, 17/5395,
2010 zwischen der Bundesrepublik 17/5396, 17/5397) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12015 C
Deutschland und dem Common-
wealth der Bahamas über die
Unterstützung in Steuer- und Steu- Zusatztagesordnungspunkt 4:
erstrafsachen durch Informations-
a)–h)
austausch
(Drucksachen 17/5128, 17/5467) . . . . 12014 B Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses: Sammelübersichten 254, 255, 256,
– Zweite Beratung und Schlussabstim- 257, 258, 259, 260 und 261 zu Petitionen
mung des von der Bundesregierung (Drucksachen 17/5501, 17/5502, 17/5503,
eingebrachten Entwurfs eines Geset- 17/5504, 17/5505, 17/5506, 17/5507, 17/5508) 12015 D
zes zu dem Abkommen vom 27. Juli
2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Fürstentum Zusatztagesordnungspunkt 1:
Monaco über die Unterstützung in
Steuer- und Steuerstrafsachen durch Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio-
Informationsaustausch nen der CDU/CSU und FDP: Pläne der EU-
(Drucksachen 17/5129, 17/5467) . . . . 12014 C Kommission zur stärkeren Besteuerung
von Diesel-Kraftstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . 12016 C
– Zweite Beratung und Schlussabstim-
mung des von der Bundesregierung Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12016 D
eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12018 A
zes zu dem Abkommen vom 27. Mai
2010 zwischen der Bundesrepublik Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12019 A
Deutschland und der Regierung der
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12020 A
Kaimaninseln über die Unterstüt-
zung in Steuer- und Steuerstrafsa- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
chen durch Informationsaustausch DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12021 A
(Drucksachen 17/5130, 17/5467) . . . . 12014 C
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 12022 B
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12023 B
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung zu der Unterrichtung durch Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12024 B
die Bundesregierung: Bericht über die
Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12025 B
Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
in Deutschland Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12026 B
(Drucksachen 16/13325, 17/5314) . . . . . . 12014 D
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12027 D
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12028 D
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Bundesregierung: Erste Verordnung zur
Tagesordnungspunkt 6:
Änderung der Deponieverordnung
(Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,
17/5462) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12015 A Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
e) Beschlussempfehlung und Bericht des
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer
Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Bundesregierung: Verordnung zur
Neue Perspektiven für Jungen und Männer
Anpassung chemikalienrechtlicher Vor-
(Drucksache 17/5494) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12029 D
schriften an die Verordnung (EG)
Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Ab- Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin
bau der Ozonschicht führen, sowie zur BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12030 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 V

Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12031 A Tagesordnungspunkt 9:


Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12033 A Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour,
Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 12034 B (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Prüf-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12036 A kriterien für Auslandseinsätze der Bundes-
wehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-
Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12038 B luation verbessern
(Drucksache 17/5099) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12060 C
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12039 D
Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 12041 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12060 D
Marcus Weinberg (Hamburg) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 12061 C
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12042 A
Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12063 A
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12043 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12063 D
Tagesordnungspunkt 7: Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12064 D
Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12065 C
Angelika Graf (Rosenheim), Petra
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12066 C
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: Potenziale des Alters und
des Alterns stärken – Die Teilhabe der älte-
Tagesordnungspunkt 10:
ren Generation durch bürgerschaftliches
Engagement und Bildung fördern a) Zweite und dritte Beratung des von der
(Drucksache 17/2145) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12044 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Vor-
Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12044 D mundschafts- und Betreuungsrechts
Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12045 D (Drucksachen 17/3617, 17/5512) . . . . . . . 12067 D
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12047 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab-
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12048 A geordneten Sonja Steffen, Christine
Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weiterer
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12049 A
Änderung des Vormundschaftsrechts
Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12050 A und weitere familienrechtliche Maß-
nahmen
Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12050 D (Drucksachen 17/2411, 17/5512) . . . . . . . 12067 D
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12051 D Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12068 A
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12069 A
Tagesordnungspunkt 8: Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12070 B
Erste Beratung des von der Bundesregierung Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12072 C
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Förderung der Mediation und anderer Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
Verfahren der außergerichtlichen Kon- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12073 B
fliktbeilegung
(Drucksachen 17/5335, 17/5496) . . . . . . . . . . 12053 A
Tagesordnungspunkt 11:
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,
Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . 12053 A
Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer Ab-
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12054 A geordneter und der Fraktion der SPD: Für ei-
nen Neubeginn der deutschen und europäi-
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12055 C schen Mittelmeerpolitik
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12057 A (Drucksache 17/5487) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12074 C

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12074 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12058 A Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12076 C
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12059 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12077 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12078 D Tagesordnungspunkt 15:


Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12080 B Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hoch-
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12081 D schulzulassung bundesgesetzlich regeln –
Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in
Masterstudiengängen sichern
Zusatztagesordnungspunkt 5: (Drucksache 17/5475) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12090 A
Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier,
Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Tagesordnungspunkt 14:
CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, a) Antrag der Abgeordneten Helmut
Michael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ruck, weiterer Abgeordneter und der
FDP: Strategie der Europäischen Union für Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
den Donauraum effizient gestalten ordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau,
(Drucksache 17/5495) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12082 D Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12083 A
Illegale Landnahme verhindern, Eigen-
Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12084 B tumsfreiheit schützen, Ernährungs-
grundlage in Entwicklungsländern si-
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12085 C chern
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 12086 C (Drucksache 17/5488) . . . . . . . . . . . . . . . 12090 B
b) Antrag der Abgeordneten Niema
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/
Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12087 B
Troost, weiterer Abgeordneter und der
Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12088 B Fraktion DIE LINKE: Hunger bekämp-
fen – Spekulation mit Nahrungsmitteln
beenden
Tagesordnungspunkt 13: (Drucksache 17/4533) . . . . . . . . . . . . . . . . 12090 B

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12090 C


Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12091 D
menarbeit und Entwicklung zu dem An-
trag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12092 D
Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . 12094 C
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD: Stärkung der humanitären Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12095 D
Lage in Afghanistan und der partner- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
schaftlichen Kooperation mit Nichtre- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12096 D
gierungsorganisationen
(Drucksachen 17/1965, 17/4628) . . . . . . . 12089 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 17:
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
der Abgeordneten Tom Koenigs, Ute schusses für Arbeit und Soziales
Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜND- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen nach- Zimmermann, Diana Golze, Agnes
haltigen Ausbau des Bildungs- und Alpers, weiterer Abgeordneter und der
Hochschulsystems in Afghanistan Fraktion DIE LINKE: Fachkräftepoten-
(Drucksachen 17/3866, 17/4629) . . . . . . . 12089 B zial nutzen – Gute Arbeit schaffen, bes-
sere Bildung ermöglichen, vorhandene
Qualifikationen anerkennen
Tagesordnungspunkt 12: – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gesetzes gegen den Handel mit illegal ein-
Strategie statt Streit – Fachkräfteman-
geschlagenem Holz (Holzhandels-Siche-
gel beseitigen
rungs-Gesetz – HolzSiG)
(Drucksachen 17/5261, 17/5498) . . . . . . . . . . 12089 C (Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100) . . 12097 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 VII

Tagesordnungspunkt 16: – Frauen, Frieden und Sicherheit –


Nationaler Aktionsplan für eine ge-
– Zweite und dritte Beratung des von der zielte Umsetzung
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Koordinierung der (Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484,
Systeme der sozialen Sicherheit in Eu- 17/5092) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12104 A
ropa und zur Änderung anderer Ge-
setze
Drucksachen 17/4978, 17/5509) . . . . . . . . 12098 B Tagesordnungspunkt 19:
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Erste Beratung des von den Fraktionen der
§ 96 der Geschäftsordnung CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Ent-
(Drucksache 17/5513) . . . . . . . . . . . . . . . . 12098 B wurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12098 C zur Änderung des Abgeordnetengesetzes –
Einführung eines Ordnungsgeldes
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12100 C (Drucksache 17/5471) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12104 D
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 12101 C
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 12102 A Tagesordnungspunkt 22:
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Annette Groth,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12102 C Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nein
zur Todesstrafe – Hinrichtung von Troy
Tagesordnungspunkt 18: Davis verhindern
– Zweite und dritte Beratung des von der Drucksache 17/5476) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12105 A
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12105 A
eines Gesetzes zur Änderung des Stein-
kohlefinanzierungsgesetzes Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . 12106 B
(Drucksachen 17/4805, 17/5511) . . . . . . . 12103 C Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12107 B
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12108 A
§ 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/5514) . . . . . . . . . . . . . . . . 12103 D Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12108 D

Tagesordnungspunkt 20:
Tagesordnungspunkt 21:
a) Antrag der Fraktionen der SPD, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Erste Beratung des von den Fraktionen der
NEN: Deutschland im UN-Sicherheits- CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
rat – Nationalen Aktionsplan zur UN- eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts-
Resolution 1325 jetzt erstellen rechtlicher Richtlinien der Europäischen
(Drucksache 17/5044) . . . . . . . . . . . . . . . . 12104 A Union und zur Anpassung nationaler
Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
(Drucksache 17/5470) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12109 C
Auswärtigen Ausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12109 D
10 Jahre UN-Resolution 1325
„Frauen, Frieden und Sicherheit“
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anlage 1
Cornelia Möhring, Jan van Aken,
Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12111 A
und der Fraktion DIE LINKE: Ver-
pflichtung zur UN-Resolution 1325
„Frauen, Frieden und Sicherheit“ Anlage 2
einhalten – Auf Gewalt in interna- Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung
tionalen Konflikten verzichten über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
– zu dem Antrag der Abgeordneten rung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
Kerstin Müller (Köln), Katja Keul, Ute (Tagesordnungspunkt 18)
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12111 D
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: 10 Jahre UN-Resolution 1325 Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12112 B
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Anlage 3 Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes gegen den Han-
– Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der del mit illegal eingeschlagenem Holz (Holz-
Präimplantationsdiagnostik (PID) handels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) (Ta-
– Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten gesordnungspunkt 12)
Zulassung der Päimplantationsdiagnostik Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12128 D
(Präimplantationsdiagnostikgesetz –
PräimpG) Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12130 A
– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 12131 A
Präimplantationsdiagnostik (Präimplanta-
tionsdiagnostikgesetz – PräimpG) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 12132 A

(Tagesordnungspunkt 3 a bis c) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12133 A
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12113 B
Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12114 A Anlage 6

Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12115 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung


des Antrags: Hochschulzulassung bundesge-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 12116 C setzlich regeln – Sozialen Zugang und Durch-
lässigkeit in Masterstudiengängen sichern
Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12117 B (Tagesordnungspunkt 15)
Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 12118 A Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12133 C
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12118 D Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12135 B
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12119 D Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 12137 A
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12120 C Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12137 D
Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 12121 B Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 12139 D
Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12121 D Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12140 B
Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12122 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12140 D
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Anlage 7

– Beschlussempfehlung und Bericht: Stär- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung


kung der humanitären Lage in Afghanis- der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
tan und der partnerschaftlichen Koopera- den Anträgen:
tion mit Nichtregierungsorganisationen
– Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit
– Beschlussempfehlung und Bericht: Für ei- schaffen, bessere Bildung ermöglichen,
nen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- vorhandene Qualifikationen anerkennen
und Hochschulsystems in Afghanistan
– Strategie statt Streit – Fachkräftemangel
(Tagesordnungspunkt 13 a und b) beseitigen

Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12123 B (Tagesordnungspunkt 17)

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12123 D Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12142 A


Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12124 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . 12144 C
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12125 D Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 12145 D
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12126 D Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 12146 D
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12127 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12147 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 IX

Anlage 8 Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12156 D


Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12157 D
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
des Steinkohlefinanzierungsgesetzes (Tages-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12158 B
ordnungspunkt 18)
Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12148 D
Anlage 10
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12149 C
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12150 D des Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Ge-
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12151 D setzes zur Änderung des Abgeordnetengeset-
zes – Einführung eines Ordnungsgeldes (Ta-
Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12152 C gesordnungspunkt 19)
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12159 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12153 A
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 12160 C
Michael Hartmann (Wackernheim)
Anlage 9 (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12161 C
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12162 A
– Antrag: Deutschland im UN-Sicherheits- Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . 12162 C
rat – Nationalen Aktionsplan zur UN-Re-
solution 1325 jetzt erstellen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12163 B
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen:
– 10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen, Anlage 11
Frieden und Sicherheit“ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
„Frauen, Frieden und Sicherheit“ ein- aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Euro-
halten – Auf Gewalt in internationalen päischen Union und zur Anpassung nationaler
Konflikten verzichten Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Ta-
gesordnungspunkt 21)
– 10 Jahre UN-Resolution – „1325
Frauen, Frieden, Sicherheit“ – Natio- Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12164 A
naler Aktionsplan für eine gezielte Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12165 C
Umsetzung
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 12167 B
(Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12168 C
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12154 C
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . 12155 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12169 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11943

(A) (C)

Redetext

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten


Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Al-
bert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
begrüße Sie herzlich. ordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick
Wir haben einige Mitteilungen, bevor wir in unsere Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abge-
Tagesordnung eintreten. Die FDP-Fraktion hat mitge- ordneter und der Fraktion der FDP
teilt, dass der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt aus dem
Kuratorium des Deutschen Historischen Museums Gestaltung der zukünftigen europäischen For-
ausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Rei- schungsförderung der EU (2014–2020)
ner Deutschmann vorgeschlagen. Neues stellvertreten-
des Mitglied soll der Kollege Patrick Kurth werden. – Drucksache 17/5492 –
(B) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich Überweisungsvorschlag: (D)
der Fall. Dann sind die genannten Kollegen gewählt. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Auswärtiger Ausschuss
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
geführten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschuss für Arbeit und Soziales
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nr. 1 Buchstabe b GO-BT Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zu den Antworten der Bundesregierung auf die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
dringliche Frage Nr. 5 auf Drucksache 17/5468 Entwicklung
(siehe 104. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Ergänzung zu TOP 28 Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Pries-
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, meier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD

Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana- Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-
sie“-Morde tion verbieten
– Drucksache 17/5493 – – Drucksache 17/5485 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Ausschuss für Arbeit und Soziales Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
11944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C)
Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Pe- ausschusses (2. Ausschuss)
tra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD Sammelübersicht 260 zu Petitionen

Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut – – Drucksache 17/5507 –


Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
in der „Global Health Governance“ stärken ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/5486 – Sammelübersicht 261 zu Petitionen
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) – Drucksache 17/5508 –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
Entwicklung der CDU/CSU und der FDP:
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pläne der EU-Kommission zur stärkeren
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Besteuerung von Dieselkraftstoffen
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Holmeier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn,
Transparenz in Public Privat Partnerships im weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Verkehrswesen CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
– Drucksache 17/5258 – Spatz, Michael Link (Heilbronn), Heinz
Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) tion der FDP
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Strategie der Europäischen Union für den
Haushaltsausschuss Donauraum effizient gestalten
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- – Drucksache 17/5495 –
sprache ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Ergänzung zu TOP 29 Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
ausschusses (2. Ausschuss) der SPD
(B) (D)
Sammelübersicht 254 zu Petitionen Programm für eine nachhaltige, bezahlbare
und sichere Energieversorgung
– Drucksache 17/5501 –
– Drucksache 17/5481 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Sammelübersicht 255 zu Petitionen Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
– Drucksache 17/5502 – Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verbraucherschutz
ausschusses (2. Ausschuss) Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Sammelübersicht 256 zu Petitionen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
– Drucksache 17/5503 – Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Entwicklung
ausschusses (2. Ausschuss) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sammelübersicht 257 zu Petitionen
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
– Drucksache 17/5504 – SPD:
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Aktuelle Äußerungen des Bundesfinanzminis-
ausschusses (2. Ausschuss)
ters zur Umschuldung von EU-Ländern, die
Sammelübersicht 258 zu Petitionen den bis 2013 geltenden „Rettungsschirm“ in
Anspruch genommen haben
– Drucksache 17/5505 –
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- weit erforderlich, abgewichen werden.
ausschusses (2. Ausschuss)
Der Tagesordnungspunkt 12 und die weiteren Tages-
Sammelübersicht 259 zu Petitionen
ordnungspunkte verschieben sich um jeweils einen Platz
– Drucksache 17/5506 – nach hinten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11945
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan- Ich hoffe, Sie sind auch damit einverstanden. – Das (C)
den? – Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. sieht so aus. Dann verfahren wir so.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Ulrike Flach.
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, CSU und der SPD)
Kathrin Vogler und weiteren Abgeordneten ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot Ulrike Flach (FDP):
der Präimplantationsdiagnostik Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ziel unseres Gesetzentwurfes, getragen von 215 Kolle-
– Drucksache 17/5450 –
gen aus allen Fraktionen des Bundestages, ist es, Paaren
Überweisungsvorschlag: mit genetischer Disposition für schwere Krankheiten zu
Ausschuss für Gesundheit (f) helfen. Die PID ist dabei ein Instrument im Rahmen der
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend künstlichen Befruchtung, das Wissen über Erkrankungen
Ausschuss für Bildung, Forschung und der befruchteten Eizelle vermittelt, bevor sie in die Ge-
Technikfolgenabschätzung bärmutter eingepflanzt wird.
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten René Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli
Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Mein- 2010 ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID ge-
hardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abge- nannt, in Deutschland legalisiert worden. Der Bundesge-
ordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes richtshof hat drei Argumente für seine Entscheidung an-
zur begrenzten Zulassung der Prä- geführt:
implantationsdiagnostik (Präimplantations-
diagnostikgesetz – PräimpG) Erstens. Das Embryonenschutzgesetz wird durch die
PID nicht verletzt; denn auch der Arzt, der eine PID
– Drucksache 17/5452 – durchführt, strebt die Herbeiführung einer Schwanger-
schaft an.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) Zweitens. Die Zellentnahme zu Testzwecken stellt
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kein Verwenden dar, das dem Embryonenschutzgesetz
Ausschuss für Bildung, Forschung und zuwiderläuft.
Technikfolgenabschätzung
(B) Drittens. Die PID verfolgt denselben Zweck, den (D)
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike § 218 a StGB als Indikation zum Schwangerschaftsab-
Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, bruch anerkennt. Danach ist der Abbruch nicht rechtswid-
Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abge- rig, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen
ordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren
zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eine
(Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Ge-
sundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden.
– Drucksache 17/5451 –
Die PID verfolgt genau diesen Zweck, liebe Kolle-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) gen, und zwar – weil der Embryo noch in der Petrischale
Rechtsausschuss ist – auf weniger belastende Weise, als es sonst der Fall
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist. Deshalb, so der Bundesgerichtshof, wäre es ein Wer-
Ausschuss für Bildung, Forschung und tungswiderspruch, sie bei Strafe zu verbieten, während
Technikfolgenabschätzung
der spätere und physisch und psychisch natürlich belas-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tendere Abbruch zum gleichen Zweck erlaubt ist.
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Diese Ein Verbot würde die Betroffene von Gesetz wegen
Zeit soll im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der zwingen, zur Abwendung einer Gefahr – Fehl- oder Tot-
Unterzeichner dieser drei Gesetzentwürfe verteilt wer- geburt – eine weitaus gefährlichere Maßnahme, nämlich
den, weil wir hier – ich sage das insbesondere für die den Schwangerschaftsabbruch nach der Einpflanzung,
Zuhörer und Zuschauer – keine Gesetzentwürfe der Re- über sich ergehen zu lassen, als es die Verwerfung des
gierung oder der Fraktionen, sondern überfraktionelle Embryos in der Petrischale wäre.
Gesetzentwürfe beraten werden.
Wenn es aber, liebe Kollegen, eine mildere Abwehr
Es wird vorgeschlagen, dass die Reden der Kollegin- des Notstandes gibt, dann darf der Gesetzgeber die Be-
nen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berück- troffene nicht in eine noch schwerere Notlage bringen.
sichtigt werden kann, in einem der Redezeit von fünf
Minuten entsprechenden Umfang zu Protokoll gegeben (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
werden können.1) Die Argumentation des Bundesgerichtshofes ist nicht
nur rechtlich nicht von der Hand zu weisen. Sie ist auch
1) Anlage 3 ethisch begründbar. Es ist ethisch nicht verantwortbar,
11946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ulrike Flach
(A) der Frau ein Wissen – sogar unter Strafe – vorzuenthal- nen – das hat Frankreich gezeigt – sogar zu einer (C)
ten, das sie in die Lage versetzen würde, eine selbstbe- Einschränkung führen. Es ist eben nicht die Rutschbahn,
stimmte Entscheidung über die Einpflanzung zu treffen. die wir, wie immer prophezeit wird, anstreben, sondern
Alles andere wäre eine Schwangerschaft auf Probe. es ist ein rechtlich sicherer und verlässlicher Weg für die
Familien in Not.
Bei der Entscheidung über die PID geht es aber nicht
nur um die richtige Anwendung von Recht. Es geht vor (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
allem – das ist wichtig für uns – um Menschen in großer
Not. Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail, die ich In unserem Gesetzentwurf gibt es keinen Automatis-
gern im Auszug zitieren möchte: mus für eine Zulassung der PID. Wir haben bewusst auf
eine Liste von Krankheitsbildern verzichtet. Vielmehr
Meine Frau und ich haben bereits ein gesundes wollen wir jede einzelne Entscheidung einer Ethikkom-
Kind, aber leider haben wir beide einen Gendefekt. mission überlassen, die an eigens dafür lizenzierten Zen-
Die letzten zwei Schwangerschaftseinleitungen tren eingerichtet werden soll. Damit kann die Ethikkom-
mussten getätigt werden, da unser Kind nicht le- mission individuell – das ist für uns wichtig – auf jedes
bensfähig war (großer Wasserkopf und leider gar Paar und seine Not eingehen. Auch medizinische Fort-
kein Gehirn). Sie wissen gar nicht, wie schmerzhaft schritte in Therapie und Behandlung können berücksich-
es ist, eine Schwangerschaftseinleitung oder Fehl- tigt werden. Wir wollen keine zentrale Kommission,
geburt zu haben. … Wir hätten kein Problem, wenn sondern entsprechend der föderalen Tradition unseres
wir ein behindertes Kind hätten, aber bei unserer Landes mehrere eigens lizenzierte Zentren. Damit wird
Erbkrankheit gibt es für das Überleben nur eine ge- auch die Gruppe derjenigen Fachleute, die in die Ent-
ringe Chance. scheidung eingebunden werden, verbreitert.
Liebe Kollegen, ich lese Ihnen das deshalb vor, weil Wir sehen mit Freude, dass sich sowohl der Ethikrat
es deutlich macht, für wen diejenigen, die für eine be- – in einer zwar knappen Mehrheit – als auch die Akade-
grenzte Zulassung der PID sind, eintreten: für Men- mie der Wissenschaften für eine begrenzte Zulassung
schen, die sehr oft am Rande der Verzweiflung stehen, ausgesprochen haben. Auch der Wissenschaftliche Bei-
die sich sehnlichst ein Kind wünschen, die Hoffnung in rat der Bundesärztekammer stützt diese Auffassung,
eine Zulassung der PID setzen und die sehr wohl – oft wenn Professor Hepp schreibt, die Zulassung der PID sei
auch aus tiefer christlicher Überzeugung – verantwor- ethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaft
tungsbewusst mit dieser ethischen Frage umgehen. auf Probe. Selbst in der evangelischen Kirche gibt es
deutliche Stimmen, die sich für eine begrenzte Zulas-
Was aber wollen wir, die für eine begrenzte Zulassung
sung aussprechen.
sind? Auch wir öffnen nicht alle Türen für die PID. Es
(B) (D)
gibt kein Recht auf PID, liebe Kolleginnen und Kolle- Liebe Kollegen, ich bitte Sie, sich für unseren Ent-
gen. Sie bleibt grundsätzlich verboten, aber es soll Aus- wurf zu entscheiden, weil er Menschen wie dem Paar,
nahmen geben. dessen E-Mail ich eben vorgelesen habe, hilft, weil er
Die erste Ausnahme soll gelten, wenn bei Eltern oder eine konsistente Rechtslage schafft und nicht dazu führt,
bei einem Elternteil aufgrund genetischer Veranlagung dass wir erneut eine Diskussion über den § 218 führen
eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende müssen, und weil er nicht zu einem Dammbruch führt,
Erbkrankheit besteht, die zu einer Tot- oder Fehlgeburt weder von der Fallzahl her noch hinsichtlich einer Auf-
führt. Als hohe Wahrscheinlichkeit gelten international weichung ethischer Standards. Es ist eine Entscheidung
25 bis 50 Prozent. zugunsten der Frauen und ihrer Familien, es ist eine Ent-
scheidung gegen die Qual der Abtreibung, und es er-
Zweite Ausnahme: wenn eine hohe Wahrscheinlich- leichtert die Entscheidung genetisch belasteter Eltern für
keit für eine schwere Erbkrankheit besteht, die sich aber ein Kind.
erst später manifestiert, also erst später ausbricht. Hier
grenzen wir uns von anderen ab, die sagen, eine spätma- Herzlichen Dank.
nifestierende Krankheit soll nur dann eine PID legitimie- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
ren, wenn sie innerhalb des ersten Lebensjahres des Kin-
des ausbricht. Das halten wir für eine willkürliche
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Grenzziehung, die in der Realität nicht umzusetzen ist,
weil es unterschiedliche Krankheitsverläufe ein und der- Dr. Günter Krings ist der nächste Redner.
selben Krankheit gibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Eine begrenzte Zulassung der PID bedeutet keinen der FDP)
ethischen und quantitativen Dammbruch. Das belegen
die Erfahrungen aus vielen anderen Ländern, die uns Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
umgeben. In Großbritannien gab es im Jahre 2008 ganze Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
214 Fälle, in denen PID angewandt wurde. Das sind Herren! Ich werbe heute für ein konsequentes Verbot der
0,42 Prozent aller künstlichen Befruchtungen im Jahr. In Präimplantationsdiagnostik. Die Befürworter, die sich
Frankreich waren es 320 Fälle. Der Deutsche Ethikrat sicherlich ebenso wenig wie wir, die Antragsteller eines
hat zu Recht in seiner Stellungnahme darauf hingewie- Verbotes, die Entscheidung leicht gemacht haben – im-
sen, dass eine Entscheidung für die PID nicht automa- merhin haben sich über 400 Abgeordnete des Deutschen
tisch zu einer Ausweitung führt. Neue Erkenntnisse kön- Bundestages bereits heute für einen der drei Anträge ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11947
Dr. Günter Krings
(A) schieden –, begeben sich nach meiner, nach unserer Eltern, die, etwa nach einer Fehlgeburt, den Wunsch (C)
Überzeugung auf ein sehr abschüssiges Terrain. Das be- nach einem gesunden Kind haben. Diesen Wunsch kön-
legen aus unserer Sicht Erfahrungen in den allermeisten nen wir natürlich verstehen. Das ist übrigens auch der
europäischen und außereuropäischen Ländern. Das, was Grund, warum wir von Anfang an klar gesagt haben,
einmal als eingegrenzte Zulassung der PID begonnen dass wir in Bezug auf die Eltern keine Strafandrohung
hat, ist in vielen Ländern ein Stück weit zulasten der vorsehen wollen. Es gilt aber: Das Leid dieser Eltern
Embryonen gegangen, weil die Grenzen verschoben entspringt nicht einer existenziellen Konfliktsituation,
worden sind. wie sie bei manchen Schwangerschaften vorliegt. Die
PID ist ein im Labor vorgenommener, von Medizinern
Frankreich galt in der Tat bis vor einiger Zeit noch als geplanter und gesteuerter Vorgang. Wer das mit den
Beispiel für eine restriktive Zulassung, bis wir vor weni- Konfliktsituationen vergleicht, die Schwangere viel-
gen Wochen zur Kenntnis nehmen mussten, dass in leicht auch bei ungeplanten Schwangerschaften erleben,
Frankreich bereits die Erzeugung eines Rettungsge- der geht an deren Situation voll vorbei.
schwisterkindes speziell zum Zwecke der Stammzell-
spende für sein Geschwisterkind zugelassen worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und der LINKEN)
Deshalb wollen wir die Rechtslage wiederherstellen,
wie sie aufgrund der Überzeugung der allermeisten Ju- Ebenfalls gilt: So verständlich der Wunsch nach einem
risten sowie der allermeisten Abgeordneten dieses Hau- gesunden Kind ist – Wünsche gehen nicht vor Rechte.
ses bis in den Juli 2010, also vor der Entscheidung des Der Wunsch nach einem Kind kann nicht das Lebens-
Bundesgerichtshofes, gegolten hat: das Verbot der PID. recht des Embryos überspielen.
Das schlagen wir vor, weil wir der Überzeugung sind,
Lassen Sie mich noch ein letztes Argument vortragen:
dass weder der Gesetzgeber noch eine Kommission oder
Das Embryonenschutzgesetz sieht aus gutem Grund vor,
Kammer noch der einzelne Arzt über lebenswertes oder
dass in jedem Zyklus einer Schwangeren maximal drei
nicht lebenswertes Leben entscheiden darf.
Eizellen befruchtet werden können. Alle Experten sagen
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) allerdings: Wenn man überhaupt die Chance haben will,
in den Fällen der PID erfolgreiche Einpflanzungen vor-
Wir sind der festen Überzeugung, dass derjenige, der zunehmen, um später ein Kind gebären zu können,
meint, PID eingrenzen zu können, dann auch klar sagen müsste diese Zahl verdreifacht werden, also von drei auf
muss, wen er ganz konkret ausgrenzen will. Wer PID neun gehen.
eingegrenzt zulassen will, muss dann auch offenlegen,
welche Formen der Erkrankung und welche Behinderun- Der Antrag des Kollegen Röspel sieht das in aller Of-
(B) gen in Zukunft aussortiert werden sollen. fenheit vor. Das ist an dieser Stelle zumindest ein ehrli- (D)
cher Ansatz. Ich befürchte allerdings Folgendes: Wenn
Für uns ist der Embryo keine verfügbare Sache, die wir diesen Weg gehen, führt das dazu, dass wir die
man nach der Feststellung von Mängeln einfach verwer- Menge der sogenannten überschüssigen befruchteten Ei-
fen darf. Wir halten es mit dem Bundesverfassungsge- zellen deutlich vermehren und dass die Begehrlichkeiten
richt, das sehr klar festgestellt hat: „Wo menschliches aus der wissenschaftlichen Forschung, ja selbst aus der
Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“ Ent- Wirtschaft, stark anwachsen werden. Dem müssen wir
scheidend dabei ist der Zeitpunkt des Beginns des einen Riegel vorschieben.
menschlichen Lebens. Nach unserer Überzeugung, nach
meiner persönlichen Überzeugung, ist die Verschmel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
zung von Ei und Samenzelle immer noch die größte Zä- FDP und der LINKEN)
sur in dem Entwicklungsprozess des menschlichen Le-
bens. Wir dürfen bei der Festlegung des Beginns von Präsident Dr. Norbert Lammert:
menschlichem Leben kein Risiko eingehen. Es ist sozu- Herr Kollege.
sagen eine ethische Klugheitsregel, im Zweifelsfall für
das Leben – in dubio pro vita – zu entscheiden, und nicht
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
einen späteren Zeitpunkt anzunehmen, nur weil er be-
quemer ist, um bestimmte medizinische Maßnahmen zu- Lassen Sie uns gemeinsam verhindern, dass Men-
lassen zu können. schen zu Richtern werden über lebenswertes und nicht
lebenswertes Leben. Deswegen bitte ich Sie: Unterstüt-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der zen Sie unseren Antrag auf ein Verbot der PID.
FDP und der LINKEN)
Vielen Dank.
Dieser Satz „in dubio pro vita“ gilt, wie ich finde, in be-
sonderer Weise für den Embryo in der Petrischale. Er ist (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus)
von Natur aus, anders als der Embryo im Mutterleib, be-
sonders schutzlos. Deswegen ist der Gesetzgeber, des- Präsident Dr. Norbert Lammert:
wegen sind gerade wir besonders gefordert, ihm Schutz Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel.
zu gewähren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
Meine Damen und Herren, mit allen Kollegen in die- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
sem Hause sehen wir auch die schwierige Situation der GRÜNEN)
11948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) René Röspel (SPD): sung angeboten werden kann. Insbesondere diese (C)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Gruppe haben wir bei unserem Gesetzentwurf im Blick.
Herren! Uns wurden bisher zwei Gesetzentwürfe vorge- Wir vertreten keine mittlere Position. Vielleicht ist das
stellt. Die ihnen zugrunde liegenden Positionen sind, eher eine vermittelnde Position zwischen den beiden an-
glaube ich, jede für sich sehr gut begründbar und nach- deren Entwürfen. Uns geht es darum, dass Frauen, die
vollziehbar. Diese Positionen stellen in dieser Debatte aufgrund ihrer genetischen Veranlagung ein höheres Ri-
aber auch zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Pole siko einer Fehl- oder Totgeburt in sich tragen, weil der
dar. Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich hinzufügen: Embryo mit hoher Wahrscheinlichkeit geschädigt ist, die
Diese beiden Positionen spiegeln das Dilemma wider, in Möglichkeit erhalten, ein lebensfähiges Kind auszutra-
dem ich mich seit vielen Jahren bewege. gen. Wir stellen nicht die Frage, ob ein Leben gelebt
werden darf, sondern wir stellen die Frage, ob ein Leben
Auf der einen Seite kann ich die Sorgen, die Nöte, die gelebt werden kann. Nur in diesen und in keinen anderen
Ängste und das Leid derjenigen sehr gut verstehen, die Fällen wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass der
bereits ein Kind wegen einer Behinderung oder einer Frau nicht der Embryo eingepflanzt wird, in dem unwi-
schweren Erkrankung verloren haben. Ich kann auch derruflich festgelegt ist, dass er nicht lebensfähig ist. Wir
verstehen, wenn diejenigen, die all ihre Kraft und Liebe wollen, dass der Embryo ausgesucht werden kann, der
für das Leben mit einem behinderten Kind aufbringen eine Überlebenschance hat. Das bedeutet, dass nicht ent-
müssen und wollen, sagen: Wir haben keine Kraft für ein schieden wird über die Frage „Lebenswert oder le-
zweites Kind mit einer Behinderung, aber wir wünschen bensunwert?“, sondern wir stellen die Frage der Lebens-
uns, noch ein gesundes Kind zu bekommen. Wie viele fähigkeit ins Zentrum.
andere habe auch ich lange mit mir gerungen, welche
Lösung wir diesen Menschen anbieten können. Das indi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
viduelle Leid ist nachvollziehbar. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Dieses Thema haben wir im Rahmen einer Enquete-
Kommission bereits vor einem Jahrzehnt behandelt. Wir Wir wollen mit unserem Entwurf Menschen, die von
haben überlegt, wie wir Menschen mit bestimmten Natur aus keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, einen
schwerwiegenden Erkrankungen oder Erbkrankheiten lebensfähigen Embryo zu bekommen, in die Lage ver-
helfen können, ohne Grenzen zu überschreiten. Wir ha- setzen, Eltern zu werden. Ich finde, das ist ethisch recht-
ben damals Betroffene gefragt. Einige haben gesagt: Ja, fertigbar. Das ist eine begrenzte Anwendung der Prä-
wir haben eine schwerwiegende Erbkrankheit oder implantationsdiagnostik, die wir als zulässig ansehen.
Krankheit, aber das ist für uns kein Grund, die Prä- Herzlichen Dank.
(B) implantationsdiagnostik zuzulassen. Vielleicht ist das (D)
eine der zentralen Fragen: Aus wessen Sicht ist eine Er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
krankung schwerwiegend? Aus der Sicht des Betroffe- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
nen, der mit dieser Krankheit zurechtkommen muss, GRÜNEN)
oder aus Sicht desjenigen bzw. derjenigen, der bzw. die
mit einem Betroffenen leben wird? Diese unterschied- Präsident Dr. Norbert Lammert:
lichen Sichtweisen führen zu einer großen Differenz bei Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze.
der Beurteilung der Frage, was schwerwiegend ist.
Ich finde nicht, dass der Gesetzentwurf von Frau Peter Hintze (CDU/CSU):
Flach und weiteren Kolleginnen und Kollegen eine Lö- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
sung des Problems darstellt. Auch die Enquete-Kommis- ren! Es gibt Grenzbereiche des menschlichen Lebens,
sion hat dieses Problem nicht lösen können. Ich glaube, wo der Gesetzgeber zu äußerster Behutsamkeit aufgefor-
dass die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in in- dert ist. Ich glaube, unser Thema ist so ein Grenzbereich.
dividuellen, nachvollziehbaren Fällen insgesamt zu einer Wie viel Tragik, wie viele Tränen, wie viel Leid stehen
Ausweitung des Kataloges der Fälle führen wird, in de- hinter dieser Debatte? Für uns, die Unterstützer des Ent-
nen eine Anwendung erlaubt ist. Ich glaube, dass das zu wurfs der Kolleginnen und Kollegen Flach, Reimann,
einer Grenzüberschreitung führen wird, und ich verstehe Hintze, Montag und Sitte, ist jedes Leben gleich wert-
auch nicht, warum in § 3 a Abs. 2 Satz 2 des Gesetzent- voll, egal ob es von sehr kurzer Dauer ist oder ob es
wurfs der Gruppe Flach eine quantitative Ausweitung lange dauert, egal ob es durch schwerwiegende Behinde-
vorgesehen ist. Demzufolge wollen Sie ohne jede Vorbe- rung beeinträchtigt ist oder ob ihm Gesundheit ge-
dingung eine Präimplantationsdiagnostik bei dem Ver- schenkt ist.
dacht zulassen, dass eine Schädigung zu einer Fehl- oder
Totgeburt führen kann. Diese Regelung würde dazu füh- Die Frage, die sich uns stellt, ist eine andere. Wir rin-
ren, dass künftig bei jeder künstlichen Befruchtung die gen um die Frage: Wie nehmen wir uns der Not von
PID anwendbar wäre. Allein deshalb halte ich Ihren Ent- Frauen an, die sich sehnlich ein Kind wünschen, aber
wurf für ethisch nicht vertretbar. über denen das Verhängnis einer schweren erblichen
Vorbelastung schwebt, zum Beispiel der Not einer Frau,
Auf der anderen Seite bedeutet ein komplettes Verbot die erlebt hat, wie ihr Bruder an einer genetisch beding-
der Präimplantationsdiagnostik, dass Menschen, bei de- ten Erstickungskrankheit gestorben ist, und die nun
nen aufgrund ihrer Veranlagung ein höheres Risiko be- große Angst vor einer Schwangerschaft hat? Diese
steht, eine Fehl- oder Totgeburt zu erleiden, keine Lö- Angst bedrückt sie und macht ihren Konflikt aus. Wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11949
Peter Hintze
(A) lösen wir diesen Konflikt auf? Der Deutsche Ethikrat hat leib entstehen und dann auf dem Rücken der Frauen und (C)
lange darüber beraten. Auch die Nationale Akademie der des werdenden Kindes austragen lassen. Wir als Gesetz-
Wissenschaften, die Juristen, die Biologen, die Medizi- geber haben, so denke ich, die Pflicht, den betroffenen
ner und die Embryologen, haben lange darüber beraten. Frauen und Eltern diese Konfliktauflösung zum frühest-
Sie raten uns – der Ethikrat mit Mehrheit, die Nationale möglichen Zeitpunkt zu gestatten, und dürfen nicht das
Akademie der Wissenschaften einheitlich –: Lasst für Drama einer Abtreibung abwarten.
diesen Personenkreis diese wichtige medizinische Hilfe
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
zu. Ich sage uns im Deutschen Bundestag: Lassen Sie
uns diesem Rat folgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein letzter Gedanke. Man muss natürlich eine Ent-
scheidung treffen; Kollege Krings hat das angesprochen.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Man muss die Entscheidung treffen, ob man einen Un-
Ich bin der festen Überzeugung, unser Grundgesetz, terschied zwischen einem Menschen wie dir und mir und
das Gebot der Nächstenliebe und unsere Verantwortung einer entwicklungsfähigen Zelle macht. Wer diesen Un-
gebieten es, die Chancen der Medizin zu erlauben und terschied nicht macht und sagt: „Eine entwicklungs-
diesen Frauen das Ja zum Kind zu erleichtern. Wir leben fähige Zelle ist wie ein Mensch“, der muss sofort ent-
in einem freiheitlichen Rechtsstaat; darauf sind wir stolz. sprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen
Ich meine, in einem freiheitlichen Rechtsstaat ist es ein und die Spirale verbieten. Da werden nämlich jährlich
Gebot der Menschenwürde, dass es Frauen erlaubt ist, entwicklungsfähige Menschen zu Hunderttausenden aus
verfügbares Wissen, das ihre seelische und körperliche dem Körper gespült. Wer diesen Unterschied aber
Gesundheit betrifft, zu erhalten. Stellen Sie sich vor, Sie macht, den übrigens auch die Biologie, die Medizin und
wären der verantwortliche Arzt und Sie wüssten, dass unser ethisches Empfinden machen,
der zu transferierende Embryo zur Totgeburt führen (René Röspel [SPD]: Nein!)
würde. Ich glaube, Ihr eigenes Gewissen und das ärzt-
liche Standesrecht würden es Ihnen verbieten, diesen der muss sagen: Das Gebot der Menschenwürde – um der
Embryo zu transferieren. betroffenen Eltern und der betroffenen Frauen willen –
lässt uns zu einem verantwortlichen Umgang mit der
Was schließen die Befürworter des Totalverbotes dar- PID Ja sagen. – Dazu möchte ich Sie einladen, liebe
aus? Sie sagen: Wir müssen ihnen das Wissen verbieten. Kolleginnen und Kollegen.
Allen, die sich mit Geschichte beschäftigt haben, ist klar:
Verbot von Wissen ist in der Geschichte der Menschheit (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
oft versucht worden, und es ist immer gescheitert. Ich
finde es moralisch, ein Wissen, das für die körperliche Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) und seelische Gesundheit von Bedeutung ist, zuzulassen. (D)
Birgitt Bender ist die nächste Rednerin.
Ich finde, es steht einem Rechtsstaat gut an, etwas mehr
Vertrauen in die Selbstverantwortung der betroffenen (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP])
Frauen und Ärzte zu haben, als es bei den Verbotsbefür-
wortern der Fall ist. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche
wundern sich, dass ich für ein Verbot der PID eintrete.
Was sind das für Frauen? Das sind Frauen, die sich Denn ich bin bekannt als eine Frau, die immer dafür ge-
sehnlich ein Kind wünschen. Das sind Frauen, die oft kämpft hat, dass der Staat auf den Zwang verzichtet, aus
schon eine oder zwei Totgeburten hinter sich haben. Das einer unerwünschten Schwangerschaft ein unerwünsch-
sind Frauen, die den schweren Weg einer künstlichen tes Kind werden zu lassen, die also für das Entschei-
Befruchtung gehen. Manches in der Debatte klingt so, dungsrecht der Frau eingetreten ist. Inzwischen ist es so-
als gäbe es in Zukunft überhaupt keine natürliche Zeu- wohl Gesetz als auch gesellschaftlicher Konsens, dass
gung mehr – das wäre ja ein Drama –, aber dazu kommt der Staat unter gewissen Rahmenbedingungen in den
es nicht. Es wird immer einen sehr kleinen Personen- ersten drei Monaten einer Schwangerschaft eine Abtrei-
kreis betreffen. Auch bei all den Versuchen, Negativbei- bung nicht kriminalisiert. Gleichzeitig bin ich für ein
spiele zu finden – wir finden für alle Lebensbereiche Ne- Verbot des Genchecks im Reagenzglas. Ich sehe darin
gativbeispiele, selbst für solche, die uns wichtig und keinen Widerspruch. Das eine ist die geduldete Entschei-
heilig sind –, muss man doch feststellen, dass nach zwei dung gegen unbekanntes Leben im eigenen Körper, weil
Jahrzehnten dieser medizinischen Hilfe in den zivilisier- einer Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt das Leben
ten Ländern, in denen sie zugelassen ist, der Nutzen mit einem Kind nicht zumutbar erscheint. Das andere ist
überwiegt. die bewusste und gewollte, nämlich künstliche Erzeu-
gung von mindestens acht Embryonen zu dem Zweck
Es ist eben juristisch argumentiert worden, das
des Aussortierens. Diejenigen Embryonen, die nicht ge-
Grundgesetz unseres Rechtsstaates lege uns das Abwä- sund genug erscheinen, um dem Kinderwunsch zu genü-
gungsverbot ans Herz. Dies ist eine Argumentation, die
gen, werden verworfen, wie es heißt.
mich geradezu erschreckt. Wir können doch nicht zulas-
sen, zu sagen: Es gibt ja noch gar keinen Konflikt in der Ja, es geht dabei um den individuell durchaus nach-
Petrischale. – Natürlich gibt es ihn. Wir finden es nur vollziehbaren Wunsch nach einem gesunden Kind.
besser, dass dieser Konflikt aufgelöst wird, wenn er noch Aber das Verfahren der PID ist letztlich eine Entschei-
aufzulösen ist. Wir wollen ihn gar nicht erst im Mutter- dung – darum sollte sich niemand herumdrücken – über
11950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Birgitt Bender
(A) den Wert von jeweils mindestens achtfachem Leben. Ich möchte nicht, dass Frauen begründen müssen, wa- (C)
Herr Hintze, es geht dabei nicht um das Wissen. Wir rum sie ein behindertes Kind zur Welt bringen, obwohl
wollen nicht die genetische Beratung, die potenzielle El- die PID erlaubt ist. Außerdem möchte ich nicht, dass die
tern um ihr Risiko wissen lässt, verbieten. Worum es uns Auffassung bei uns gesellschaftsfähig wird, dass man
geht, ist die Option auf Selektion. Diese würde unsere mit dieser Krankheit leben kann, mit jener nicht. Ich
Gesellschaft verändern. Deswegen wollen wir sie ver- möchte auch nicht, dass sich Behinderte in unserer Ge-
hindern. sellschaft ausgegrenzt fühlen. Deswegen geht es in unse-
rem Gesetzentwurf nicht um die Frage, ob das Leben mit
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
einer Krankheit oder Behinderung lebenswert ist, son-
Meine Damen und Herren, wir sollten näher hin- dern um die Frage, ob ein Leben lebensfähig, überle-
schauen, was das Versprechen eines gesunden Kindes bensfähig ist. Damit wollen wir Paaren die Möglichkeit
für die betroffenen Frauen bedeutet. Die Hormonbe- eröffnen, überhaupt Kinder zu bekommen, die sonst auf-
handlung ist mit hohen Risiken verbunden. Außerdem grund einer genetischen Vorbelastung nur Fehl- oder
ist sie intensiver als bei einer normalen Reagenzglasbe- Totgeburten zu erleiden hätten.
fruchtung, weil man für dieses Verfahren mehr Eizellen
braucht. Höchstens zwei von zehn Frauen haben nachher Frau Flach, ich fand es interessant, dass Sie aus der
überhaupt ein Kind. Die wenigen Schwangerschaften, E-Mail, die auch wir bekommen haben, zitiert haben. Die
die entstehen, sind häufig Mehrlingsschwangerschaften. Frau, die da geschrieben hat, plädiert für die Variante un-
Das Risiko von Frühgeburten ist hoch. Machen wir uns seres Gesetzentwurfs; denn sie hat eine genetische Vor-
doch nichts vor: Es findet bei solchen Schwangerschaf- belastung, die zu Tot- und Fehlgeburten führt. Genau das
ten eine engmaschige pränataldiagnostische Überwa- berücksichtigen wir in unserem Gesetzentwurf. Die be-
chung statt, und späte Abtreibungen sind mitnichten aus- troffene Frau plädiert nicht für die PID, um generell
geschlossen. Das sehen wir in anderen Ländern. schwere Behinderungen auszuschließen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der SPD)
Wieso, frage ich die Befürworter der PID, soll eine Frau
in Zukunft eigentlich den Mut finden, sich für ein abseh- Mit unserem Gesetz wären ihr die entsprechenden Mög-
bar behindertes Kind zu entscheiden, wenn sie Anwürfe lichkeiten gegeben.
fürchten muss, die da lauten: Das hätte doch nicht pas- Ich finde, dass Ihr Gesetzentwurf, Frau Flach und
sieren müssen? Herr Hintze – ich habe länger mit Ihnen darüber disku-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) tiert –, deshalb zu weit geht, weil ich die Formulierung
(B) „schwere Behinderungen zu erkennen“ für allzu dehnbar (D)
Einige hier im Haus mögen in der PID einen Zuge- halte. Was ist eine schwere Behinderung? In Großbritan-
winn an Freiheit für die Frauen erkennen. Ich sehe in nien ist das inzwischen die erbliche Veranlagung für eine
erster Linie die Gefahr hohen sozialen Drucks für Darmkrebserkrankung, die aber heilbar ist. Es kann doch
Frauen, sich einem solchen Verfahren zu unterziehen, nicht in unserem Sinne sein, dass die PID bei solchen
und für die Gesellschaft als Ganzes den drohenden Ver- Fällen angewendet wird.
lust der Bereitschaft zum Miteinander, egal wie gesund,
krank oder behindert wir sind. Beide Tendenzen möchte (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
ich gerne verhindern.
Sie sollte auch nicht bei spätmanifestierenden Krankhei-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) ten angewendet werden, wie es in Ihrem Gesetzentwurf
steht. Das ist bei uns im Gendiagnostikgesetz aus guten
Präsident Dr. Norbert Lammert: Gründen verboten. Wir hätten dann zwei Rechtssysteme,
Das Wort erhält die Kollegin Priska Hinz. die sich diametral gegenüberstünden. Es kann doch nicht
im Sinne des Gesetzgebers sein, dass die Diagnose einer
(Beifall bei Abgeordneten des BÜND- spätmanifestierenden Krankheit im Rahmen der Prä-
NISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der nataldiagnostik ausgeschlossen wird – man kennt den
FDP) medizinischen Fortschritt gar nicht; wir wissen nicht, ob
diese Krankheit in 20 oder 30 Jahren therapierbar ist –,
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- während wir bei der PID Embryonen verwerfen. Das
NEN): halten wir für grundfalsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PID (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
ist seit dem Gerichtsurteil im letzten Jahr erlaubt und da- NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU
mit völlig ungeregelt. Jetzt stellt sich die Frage: Wenn und der SPD)
man eine Regelung trifft, soll man dann wieder zu dem
Verbot zurückkehren, von dem wir alle annahmen, dass Ich möchte noch zu dem Argument kommen, dass
es galt, oder soll man die PID zulassen? Ich tue mich durch die Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen ver-
schwer, die PID wieder vollständig zu verbieten, weil hindert werden. Wenn wir ins Ausland sehen, dann er-
ich sehe, dass es durchaus einzelne Fälle von Paaren kennen wir: Dem ist mitnichten so. Wir wissen aufgrund
gibt, denen man den medizinischen Fortschritt, den es entsprechender Daten, dass in 52 Prozent der Fälle, in
mit der PID gibt, nicht vorenthalten sollte. Es ist aber denen die PID durchgeführt wird, hinterher auch die Prä-
eine schwierige Gratwanderung. nataldiagnostik durchgeführt wird und dass in Ländern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11951
Priska Hinz (Herborn)
(A) wie Frankreich die Abbruchrate steigt, obwohl dort die Fehlgeburt aufgrund einer schwerwiegenden geneti- (C)
PID eingeführt wurde. Das heißt: Es ist nicht so, dass schen Schädigung des Embryos droht. Dann soll die
Abbrüche dadurch vermieden werden. Möglichkeit einer PID im Einzelfall gegeben werden,
wenn eine Ethikkommission nach Beratung des indivi-
In Deutschland erfolgten 2010 3 Prozent aller Abbrü- duellen Falles zu einem positiven Votum kommt, und
che als Spätabbrüche aufgrund medizinischer Indikatio- dann auch nur unter restriktiven Bedingungen und natür-
nen. Das heißt doch, dass – und das wissen wir auch – lich nur in lizenzierten Zentren. Eine Präimplantations-
sehr oft erst im Verlauf der Schwangerschaft spontane diagnostik darf nur nach einer medizinischen und
Fehlbildungen entstehen. Diese kann man in der Petri- psychosozialen Beratung und natürlich nur durch ent-
schale überhaupt nicht erkennen. Von daher würde auch sprechend spezialisiertes Fachpersonal durchgeführt
in Deutschland, wenn die PID umfassend eingeführt werden.
würde, hinterher eine Pränataldiagnostik stattfinden, und
Spätabbrüche wären trotzdem Alltag und Wirklichkeit. Kolleginnen und Kollegen, ich bin für eine begrenzte
Von daher ist die PID hier kein geeignetes Mittel. Zulassung der PID, weil ich es schon immer unangemes-
sen und schwer erträglich fand, den betroffenen Paaren
(Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
keinerlei Hilfe anbieten zu können, auch dann nicht,
NISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU
wenn sich die Frau auf die zusätzlich belastende künst-
und der SPD)
liche Befruchtung einlässt. Das ist, Kollege Krings, kein
Aus all dem folgt für mich: In einzelnen Fällen, dann, bequemer Weg. Denn es handelt sich um Paare, bei de-
wenn wir abgrenzen können – das ist medizinisch mög- nen die Frauen auch auf „normalem“ Weg schwanger
lich –, dann, wenn Fehl- und Totgeburten entstehen wür- werden könnten. Bisher lässt man diese Paare sehenden
den, können wir aufgrund des medizinischen Fortschritts Auges, was ihr Risiko angeht, in einen Schwanger-
helfen, und hier sollten wir Hilfe auch nicht verweigern. schaftskonflikt laufen. Gerade solche Schwangerschaf-
Wir sollten aber keine Ausdehnung zulassen, und wir ten werden dann intensiv mit Diagnostik begleitet, was
sollten nicht entscheiden, was lebenswert oder nicht le- bei einem positiven Befund zu einem schwerwiegenden
benswert ist. Vielmehr sollten wir uns für die Embryo- Konflikt führt. Das ist nicht wegzudiskutieren. Ich finde,
nen entscheiden, die lebensfähig sind. Ich glaube, eine eine Schwangerschaft auf Probe ist Frauen nicht zuzu-
solche Entscheidung könnten wir als Gesetzgeber in der muten. Das halte ich für frauenverachtend.
Gesellschaft auch gut vertreten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
Danke schön. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
(B) Das ist vermeidbares Leid. (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegen Röspel und Hinz wollen die Präimplan-
Das Wort erhält nun die Kollegin Dr. Carola Rei- tationsdiagnostik noch stärker als wir begrenzen. Diese
mann. Begrenzung halte ich jedoch für höchst problematisch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Die Deutsche
Gesellschaft für Humangenetik beurteilt den Gesetzent-
wurf der Kollegen folgendermaßen – ich zitiere –:
Dr. Carola Reimann (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ein solcher Entwurf geht leider an der Realität der
Thema Präimplantationsdiagnostik begleitet mich seit genetischen Beratung und gänzlich an der Lebens-
Beginn meiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete. situation betroffener Familien vorbei. Es ist nicht
Meine allererste Rede habe ich im Oktober 2000 genau richtig, dass nur in seltensten Fällen zu erwarten ist,
zu diesem Thema gehalten, allerdings zu nachtschlafen- dass eine genetische Disposition zum Tod des Kin-
der Zeit und vor relativ leerem Haus. Seitdem hat sich des nach etwa zehn oder elf Monaten führt.
einiges in der Medizin, aber noch mehr in der Rechtspre- Das hätte nach Meinung der Humangenetiker eine nicht
chung getan. Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vertretbare Ausgrenzung von hochbelasteten Familien
vom Juli letzten Jahres ist in Deutschland in Sachen PID zur Folge. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, we-
derzeit alles erlaubt. Genau das wollen wir alle hier im der eine Liste von Erkrankungen zu erstellen noch Aus-
Hause nicht. Deswegen plädiert meine Gruppe für eine grenzungen einzelner Erkrankungen – das gilt auch für
begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Zu spätmanifestierende Erkrankungen – vorzunehmen. Eine
diesem Zweck möchten wir das Embryonenschutzgesetz Begrenzung auf ein bestimmtes Lebensstadium ist mei-
ändern. ner Meinung nach medizinisch unrealistisch und ethisch
Unser Entwurf sieht Folgendes vor: Die PID wird im oft problematisch.
Embryonenschutzgesetz grundsätzlich verboten. Davon (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
kann aber in zwei Ausnahmesituationen abgewichen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
werden, und zwar erstens wenn aufgrund einer erblichen GRÜNEN sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/
Vorbelastung eines Elternteils eine hohe Wahrscheinlich- CSU])
keit besteht, dass das Kind ebenfalls diese schwerwie-
gende Erberkrankung aufweisen wird, oder zweitens Kolleginnen und Kollegen, es gibt kein Recht auf ein
wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Totgeburt oder gesundes Kind; das ist klar. Es gibt aber auch die medizi-
11952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Carola Reimann


(A) nischen Möglichkeiten. Für mich steht die Frage im er keine genetischen Vorbelastungen und Einschränkun- (C)
Raum, mit welchem Recht wir als Gesetzgeber die Nut- gen aufweist. Für mich ist damit das Prinzip einge-
zung medizinischer Möglichkeiten und Hilfe nicht nur schränkt, dass jedes Leben sich um seiner selbst willen
verweigern, sondern Ärzten und Paaren unter Strafe ver- entwickeln darf.
bieten wollen. Ich meine, in diesem Fall haben wir als
Gesetzgeber dieses Recht nicht. Viele der Betroffenen (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
haben eine unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich. Ich weiß, dass es schwierig ist, zu argumentieren – auch
Deswegen wollen wir Eltern mit genetischer Disposi- die Kollegin Reimann hat das gesagt –, dass es kein
tion, die einen Kinderwunsch haben und bereit sind, eine Recht auf ein gesundes Kind gibt. Die Eltern, die betrof-
zusätzlich belastende künstliche Befruchtung auf sich zu fen sind, wollen das nicht hören. Aber ich weiß wohl,
nehmen, im Einzelfall die Nutzung der Präimplanta- dass es ein Recht des Kindes gibt, um seiner selbst wil-
tionsdiagnostik ermöglichen. len geliebt zu werden und um seiner selbst willen zur
Danke. Welt gekommen zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Deshalb bedeutet ein Abgehen von dem, was in den letz-
GRÜNEN) ten 20 Jahren für uns gegolten hat, für mich einen Para-
digmenwechsel in unserem Wertekanon. Ich negiere da-
Präsident Dr. Norbert Lammert: bei überhaupt nicht die Wünsche von Eltern, die durch
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Schmidt. diese Methode die Hoffnung haben, vielleicht ein erblich
nicht belastetes Kind zur Welt zu bringen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Ich persönlich habe auch viele Briefe bekommen und
GRÜNEN) Gespräche mit Eltern behinderter Kinder geführt und de-
ren Sorge und Furcht erfahren, ob denn ihr behindertes
Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Kind das gleiche Recht hat, zu leben wie andere, ob ihr
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die behindertes Kind die gleiche Wertigkeit hat, zu leben
heutige Debatte gehört zu den Debatten, die am schwie- wie andere. Ich habe auch schwerbehinderte und schwer
rigsten zu führen sind und in denen es sehr schwierig ist, kranke Menschen getroffen, die sagen: Werden wir nicht
eine Entscheidung zu treffen. Denn keine einzige Ent- durch eine solche Diskussion auf unsere Defizite be-
scheidung kann allen gerecht werden. Auf der einen schränkt? Haben wir nicht das Recht, genauso teilzuha-
ben? Wir betrachten unser Leben auch mit seinen Behin-
(B) Seite steht das Leid der betroffenen Eltern, die genetisch derungen und Einschränkungen als lebenswert. Wir (D)
vorbelastet sind und den Wunsch nach einem gesunden
Kind haben. Auf der anderen Seite steht die Angst, dass wollen leben, wir wollen teilhaben, und wir wollen mit-
wir Grenzen überschreiten. Ich glaube, die Zerrissenheit machen. – Ich gestehe Ihnen, Herr Hintze, zu und weiß,
in der Debatte und auch die Breite dieser Debatte spie- dass auch Sie das nicht anders sehen. Wenn wir aber die
geln sich in allen drei Gesetzentwürfen, die heute zur Präimplantationsdiagnostik nach Abwägung aller Argu-
Diskussion stehen, wider. Denn auch diejenigen, die für mente zulassen, dann ist für mich ganz eindeutig, dass
die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sind, wol- bei der Präimplantationsdiagnostik die Selektion am An-
len keine unbegrenzte Zulassung; sie ringen vielmehr fang steht. Der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zu
um die Grenzen. Das bewegt alle in der Debatte. Es zeigt bringen, setzt voraus, dass dem Leben, das nicht die ent-
sich, dass es sehr schwierig ist, die Entwürfe – auch die, sprechenden Eigenschaften hat, das Recht genommen
die eine begrenzte Zulassung vorsehen – mit dem gelten- wird, sich weiterzuentwickeln. Das ist für mich der
den Embryonenschutzgesetz in Einklang zu bringen. Hauptgrund, warum ich für ein generelles Verbot bin
und warum ich dafür bin, dass die bisherige Rechtspre-
1990 hat der Bundestag sich in der Debatte und mit chung weiterentwickelt wird, und zwar in dem Geist, in
der Entscheidung über das Embryonenschutzgesetz ge- dem der Deutsche Bundestag 1990 das Embryonen-
nauso schwergetan wie in der heutigen Debatte. Aber schutzgesetz auf den Weg gebracht hat.
über 20 Jahre hat getragen, dass wir mit dieser Entschei-
dung den Beginn der Würde und der Schutzwürdigkeit Danke schön.
des menschlichen Lebens von Anfang an festgelegt ha- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
ben. Das halte ich für richtig. Wenn man mich fragt, ob
von einer Entscheidung zur begrenzten Zulassung der
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Präimplantationsdiagnostik auch die Würde des einzel-
nen Embryos und damit des menschlichen Lebens, das Der Kollege Patrick Meinhardt erhält nun das Wort.
schließlich ein Prozess ist – es ist nicht einfach da, son-
dern es entwickelt sich –, betroffen ist, dann sage ich ein- Patrick Meinhardt (FDP):
deutig Ja. Es ist die Würde der Embryonen betroffen, die Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
nach einer Untersuchung verworfen werden, weil sie ein und Kollegen! Die Frage der Präimplantationsdiagnostik
hohes Risiko von schweren Erkrankungen oder Behinde- ist ein ethisch hochsensibles Thema. Deswegen ist es
rungen aufweisen. Aber es ist auch die Würde desjenigen auch gut, dass wir uns im Deutschen Bundestag Zeit für
Embryos betroffen, der sich nach einer PID weiterentwi- eine ausführliche, inhaltstiefe Debatte nehmen. Jeder
ckeln darf; denn er darf sich nur weiterentwickeln, weil von uns ist bei dieser ganz schwierigen Entscheidungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11953
Patrick Meinhardt
(A) findung ein Suchender und ringt um eine Lösung, die Parlamentarische Kompromissbildung ist in solch (C)
den Lebensschutz des Embryos als Grundlage seiner einer Situation kein schwächliches Kapitulieren,
ethischen Entscheidungsfindung sieht. Zugleich bringt sondern Ausdruck des Ethos der parlamentarischen
es aber auch der Präses der Evangelischen Kirche in Demokratie …
Deutschland, Nikolaus Schneider, auf den Punkt, wenn
er formuliert – ich zitiere –: Wir alle haben auf diese Fragen keine Antworten, die
uns zu 100 Prozent zufriedenstellen. Vielmehr steht je-
Ich habe viel Sympathie für das Bestreben, die PID der von uns vor dem Dilemma, eine Wertung vornehmen
unter eng gefassten Bedingungen zuzulassen, sie zu müssen. Nicht zuletzt die Debatte im Ethikrat, die von
also nur dann zu erlauben, wenn die Eltern die An- innerer Tiefe getragen worden ist, hat deutlich gemacht,
lage zu schwersten Erbkrankheiten in sich tragen wie schwer eine solche Entscheidungsfindung ist. Umso
und die stark begründete Gefahr besteht, dass sie dankbarer bin ich als Abgeordneter für die große Sach-
diese Krankheiten an ihr Kind weitergeben. kenntnis, den gegenseitigen Respekt und das hohe Maß
an ethischer Sensibilität, mit dem wir heute die Debatte
Berechtigterweise formuliert er dann weiter: führen. Es zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag der
tiefen gesellschaftlichen Dimension dieses Themas äu-
Natürlich besteht die Gefahr, dass jede gesetzliche
ßerst bewusst ist. Eine solche Debattenkultur – nicht an
Eingrenzung nach und nach ausgehöhlt wird, des-
Fraktionsgrenzen gebunden – bringt uns wieder zu dem
halb muss ein Gesetz in Sachen PID sehr sorgsam
Kern unseres demokratischen Parlamentarismus, als frei
bedacht werden.
gewählte Abgeordnete um den bestmöglichen Weg zu
Genau daran orientiert sich der Gesetzentwurf zur äu- ringen.
ßerst eng begrenzten Zulassung der Präimplantations- Vielen herzlichen Dank.
diagnostik; denn es ist ein Gebot der Menschlichkeit,
auch das harte Schicksal der Eltern zu berücksichtigen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
die die Anlagen schwerster Erbkrankheiten in sich tra- CSU, der SPD und der LINKEN)
gen.
Vor diesem Hintergrund haben wir, die Initiatoren Präsident Dr. Norbert Lammert:
dieses Gesetzentwurfs – René Röspel, Priska Hinz, Nor- Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat nun das Wort.
bert Lammert und ich –, uns dafür entschieden, bei unse- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie
rem Gesetzentwurf die Lebensfähigkeit des Embryos in der Abg. Ulrike Flach [FDP])
den Mittelpunkt zu stellen. Bei Paaren, die die geneti-
(B) sche Veranlagung dafür haben, dass die Gefahr einer Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (D)
Totgeburt oder eines frühen Todes des Kindes besteht,
soll eine Präimplantationsdiagnostik ausnahmsweise, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der
unter strengen Auflagen, mit Beratungspflicht in einem Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom Juli 2010 die
lizenzierten Zentrum und unter Beteiligung einer Ethik- PID als zulässig bewertet hat, sind in diesem Land bewe-
kommission ermöglicht werden. gende Diskussionen dazu geführt worden. Bisweilen
entdecke ich dabei auch fehlerhafte Annahmen und feh-
Gerade für mich als Christ ist es bei dieser Frage zen- lerhafte Bewertungen. Es ist nach wie vor viel aufzuklä-
tral wichtig, die Balance zwischen der Ethik des Lebens ren. Mich trifft allerdings bis heute ins Mark, wenn Be-
und der Ethik des Helfens zu finden. Genau deswegen fürworter der PID-Zulassung in eine Traditionslinie mit
gilt: Es darf keine Büchse der Pandora geöffnet werden, Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten gestellt
es geht nicht um Designerbabys, und es darf deswegen werden.
auch keine Krankheitenkataloge geben. Für mich müssen
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wer hat das
zwei Sachverhalte klar ausgeschlossen sein. Erstens. Es
denn getan?)
darf keine Durchführung einer Präimplantationsdiagnos-
tik geben, wenn die Krankheit, die gesucht wird, erst im Ich habe mich mit dieser Problematik intensiv auseinan-
späteren Lebensverlauf auftreten wird, sogenannte spät- dergesetzt; viele andere in diesem Haus haben das auch
manifestierende Krankheiten. Zweitens. Bei unserem getan. Daher weiß ich, dass dieser Vorwurf jeglicher dif-
Entwurf ist die genetische Disposition der Eltern die ferenzierter Diskussion die Grundlage entzieht. Und wie,
Grundvoraussetzung für die Durchführung einer Präim- frage ich mich, muss das erst auf Menschen bzw. Paare
plantationsdiagnostik. Deswegen schließen wir in unse- wirken, die eine PID erwägen?
rem Gesetzentwurf aus, aktiv nach Trisomien oder Mo-
nosomien zu suchen. Mit unserem Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
wollen wir Ihnen allen einen dritten Weg für eine ver- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
antwortungsbewusste Anwendung der Präimplanta- GRÜNEN)
tionsdiagnostik in einem eng begrenzten Rahmen anbie- Schließlich fällen sie doch eine höchst individuelle Ent-
ten. scheidung, der keinerlei populationsgenetische Motive
unterstellt werden können.
Schon bei meiner Rede zur Stammzellendebatte habe
ich auf Professor Klaus Tanner von der Universität Meine Damen und Herren, ich glaube, Politikerinnen
Halle-Wittenberg verwiesen, der in einer solch ethisch und Politiker sollten nicht allein nach ihrer persönlichen
sensiblen Debatte formuliert hat: Haltung zur PID entscheiden. Vielmehr muss das von
11954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Petra Sitte


(A) uns zu beschließende Gesetz die Breite verschiedener Meine Damen und Herren, ich unterstütze die Be- (C)
ethischer Positionen spiegeln, und diese reichen nun ein- grenzung der PID auf erbliche Chromosomenstörungen
mal von einem Verbot über eine begrenzte bis zur gänzli- und auf monogenetische Erbkrankheiten. Hierbei ist die
chen Freigabe der PID. Diese Positionen sind glaubens- Sicherheit der Prognose vergleichsweise hoch. Andere
gebunden oder basieren auf naturphilosophischen oder schwere und schwerste Krankheiten können durchaus
atheistischen Auffassungen von Natur und menschli- auch erblicher Natur sein. Bei ihnen ist aber erstens un-
chem Leben. So gibt es in diesem Haus gänzlich ver- klar, wie viele und welche Gene tatsächlich den Aus-
schiedene Antworten auf die Fragen: Wann beginnt bruch verursachen. Zweitens gibt es zahlreiche weitere
menschliches Leben? Hat ein Embryo im Reagenzglas äußere Einflussfaktoren wie Umwelt und Lebensweise
einen höheren Lebensschutz als nach der Einnistung in der Menschen.
die Gebärmutter? Das menschliche Genom besteht aus über 3 Milliar-
In all diesen Wertvorstellungen sind Menschlichkeit, den Bausteinen. Insofern werden wir wohl noch Jahr-
Freiheit, Toleranz und Respekt vor anderen Menschen zehnte nicht in der Lage sein, sichere Prognosen zu
Eckpunkte sittlichen Handelns. Aber kein Wertekonzept Krankheiten oder gar zu menschlichen Eigenschaften
kann allein beanspruchen, Staat und Menschen allge- abzugeben. Ebenso unzuverlässig sind Chromosomen-
meinverbindliche Vorgaben zu machen. Staatliches Screenings für nichterbliche Krankheiten. Vor diesem
Hintergrund eignen sich beide, die PID und die Chromo-
Recht hat nach meiner Auffassung insofern universelle
somen-Screenings, anders als derzeit in der Diskussion
Menschenrechte und Menschenwürde als gemeinsamen
behauptet, eben nicht dazu, Designerbabys zu schaffen.
Nenner zu wählen.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, all diese Ar-
Diese vielfältigen ethischen Vorstellungen finden sich gumente bei Ihrer Entscheidung ebenfalls zu bedenken.
dabei auch bei den Paaren, die die PID für sich in Be-
tracht ziehen. Für mich sind deren Schicksale bewegend; Danke schön.
wir haben hier schon einige Beispiele gehört. Ein Teil (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
der Eltern hat bereits erblich bedingt mehrfach Früh- und SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
Totgeburten ertragen müssen. Zwei Drittel der Betroffe- GRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/
nen haben bereits Kinder mit schwersten erblichen Er- CSU])
krankungen. Diese Eltern lieben ihre Kinder bedin-
gungslos und unternehmen alles Menschenmögliche, um
ihnen ein glückliches Leben mit möglichst wenig Ein- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schränkungen und wenig Leid zu geben. Sie wünschen Der Kollege Johannes Singhammer erhält nun das
(B) aber auch weitere Kinder. Allerdings möchten sie diesen Wort. (D)
Kindern, wie ich es immer wieder von Betroffenen ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
hört habe, die Folgen bzw. das Leid einer von ihnen ver- der FDP)
erbten Krankheit ersparen. Warum sollen wir das nicht
respektieren? Johannes Singhammer (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE ren! Wenn man eine PID zulässt, ob mit vielen Ausnah-
GRÜNEN) men, mit wenigen oder nur mit einer einzigen, kommt
man an einer grundsätzlichen Entscheidung nicht vorbei:
Es ist ihr grundgesetzlich geschütztes Recht. Das an der Bewertung, welches Leben gelebt werden darf
Recht auf Fortpflanzung ist ein Menschenrecht. Die Ge- und welches nicht.
sellschaft respektiert doch längst verschiedene Wege und
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Qualitätskon-
Mittel der Geburtenkontrolle, und sie respektiert insbe-
trolle menschlichen Lebens, zu welchem Zeitpunkt auch
sondere das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Paare, die immer, gerade als Embryo, gelingen kann, weil es den
die PID ablehnen, werden vermutlich eben auch keine Menschen überfordert, vorgeburtliche Lebenseignungs-
Pränataldiagnostik anstreben, wie sie überhaupt skep- tests zu entwerfen und gesetzlich festzulegen. Welches
tisch gegenüber künstlicher Befruchtung sein dürften. Gremium, welche Kommission, welche Einzelpersön-
Diese Paare werden in ihren Rechten durch unseren Ge- lichkeit kann sich das letztlich zutrauen und verantwor-
setzentwurf allerdings nicht eingeschränkt. Wer dagegen ten? Welche Institution hat das Recht, vorgeburtliche
die PID vor dem eigenen Gewissen für verantwortbar Qualitätskontrollen festzusetzen?
hält – diese Entscheidung hat jeweils eine lange Vorge-
schichte; sie ist reflektiert; sie wird von den Paaren ganz Kann die Prognose, ein Kind würde möglicherweise
genau bedacht –, kann bei einem Verbot der PID seine nur ein Jahr oder zwei Jahre leben, eine Verwerfung des
Entscheidungsrechte nicht mehr verwirklichen. Das Embryos rechtfertigen? Wie ist es – das ist hier schon
halte ich für höchst problematisch. angesprochen worden – mit einer Lebensspanne, die
vielleicht 10, 20, 30 oder auch 40 Jahre reicht, wenn es
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der dann mit Sicherheit zu einer schrecklichen tödlichen
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Krankheit kommt, beispielsweise dem sogenannten
GRÜNEN sowie der Abg. Ewa Klamt [CDU/ Veitstanz, Chorea Huntington? Zählt nur das schreckli-
CSU]) che Ende, das sichere Ende? Was ist mit den 40 Jahren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11955
Johannes Singhammer
(A) Leben, die vorher stattfinden? Welcher Wert wird die- Erbkrankheit, einer genetisch bedingten Stoffwechsel- (C)
sem Leben zugemessen? krankheit, die unaufhaltsam und qualvoll das Nervensys-
tem im Gehirn zerstört. Frau Streilein trägt in ihren Ge-
Ich meine, menschliches Leben entsteht mit der Ver-
nen die Anlage zu dieser Krankheit; bei Frauen bricht sie
schmelzung von Ei und Samenzelle. Eine Differenzie-
allerdings nicht aus. Frau Streilein wollte nicht, dass ihre
rung nach Lebenserwartung, eine Unterscheidung nach
eigenen Kinder so qualvoll sterben wie ihr Bruder. Des-
möglichen oder tatsächlich eintretenden Krankheiten ist
halb hat sie sich für eine extrakorporale Befruchtung und
wenig geeignet, vorhandenes Leid zu lösen, sondern
eine PID entschieden und ist zu diesem Zweck nach Bel-
schafft das Risiko neuer Diskriminierungen, die nie-
gien gefahren. Heute ist sie Mutter von vier Kindern,
mand hier im Hause will.
und sie ist froh, dass in Belgien für solche Fälle die le-
Paare, die auf ein gesundes Kind hoffen, die Wechsel- gale Möglichkeit einer PID besteht.
bäder von Hoffnung und Enttäuschung erlebt haben, die
Belgien ist ein christliches Land, nicht weniger als
einem hohen Leidensdruck ausgesetzt sind, verdienen
Deutschland. Auch in Belgien werden menschliches Le-
Respekt, Beratung und Hilfe. Aber ich denke auch an
ben und die menschliche Würde geschützt, nicht weni-
diejenigen Menschen, die mit einer Behinderung leben.
ger als in Deutschland.
Ich denke an die Menschen, die eine Behinderung haben,
die in dem möglichen Katalog von Krankheiten enthal- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten mit
ten ist, die zu einer Verwerfung des Embryos führen. unserem Gesetzentwurf Menschen wie Frau Streilein
Wie muss sich ein Mensch fühlen, der eine der Krank- helfen. Wir wollen sie nicht auf Möglichkeiten im Aus-
heiten hat, die möglicherweise zu einer Verwerfung des land verweisen. Wir wollen unter strengen Vorgaben die
Embryos führen? Nutzung der PID in Deutschland erlauben, erstens, um
verzweifelten Paaren zu helfen, die nach Fehlgeburten
Ich möchte nicht, dass Eltern von behinderten Kin-
und Totgeburten keine Kraft mehr haben, diese Risiken
dern einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Ich
weiterhin zu tragen, und zweitens, um Paaren, Eltern,
bin mir auch nicht sicher, wie sich bei einer Zulassung
Frauen zu helfen, die um in ihnen schlummernde
der PID dann möglicherweise ein Kind später fühlt,
schwere vererbliche Krankheiten wissen und diese nicht
wenn es erfährt, dass es im Zusammenhang mit einer
auf ihre Kinder übertragen wollen.
Auswahl geboren worden ist und die Geschwister nicht
geboren worden sind? Wir schlagen vor, die PID zu verbieten: zur Auswahl
Viele fragen sich: Gibt es bei diesen schwierigen, jeglicher krankheitsunabhängigen Eigenschaften – die
schwierigsten Entscheidungen die Möglichkeit, einen sogenannten Designerbabys –, zur krankheitsunabhängi-
Kompromiss zu finden? Viele denken darüber nach: Wie gen Auswahl eines Geschlechts, zur Auswahl von Kin-
(B)
könnte ein solcher Kompromiss aussehen? Ich fürchte, dern zum Nutzen Dritter – die sogenannten Rettungskin- (D)
es wird schwierig, es ist nicht möglich; denn die Ent- der – und schließlich auch zu Forschungszwecken. Dies
scheidung darüber, Embryonen – das ist menschliches tun wir, weil – hier sind wir uns alle einig; das glaube ich
Leben – in den Mutterleib einzupflanzen oder zu verwer- jedenfalls – extrakorporal erzeugte Embryonen begin-
fen, ist endgültig, ist nicht korrigierbar. Deshalb werbe nendes menschliches Leben sind, welches nach seiner
ich für die Vermeidung jeglicher Art der Bewertung Entstehung im Reagenzglas rechtlichen Schutz verdient.
menschlichen Lebens, für ein klares Verbot der PID. Aber Embryonen im Reagenzglas sind aus sich heraus
und in der Umgebung, in der sie sich befinden, nicht le-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) bensfähig. Ihr Schutz ist ohne Mitwirkung eines anderen
Menschen, der möglichen zukünftigen Mutter, nicht denk-
Präsident Dr. Norbert Lammert: bar. Wenn sie sich verweigert, entsteht ein Problem – ein
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag. Problem, das wir als Gesetzgeber lösen müssen. Dabei
müssen wir die Rechte aller Seiten, aber auch die medi-
zinisch-technische Entwicklung und Regelungen in an-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
deren Staaten mit bedenken.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In
den letzten Tagen haben wir alle zur Einstimmung auf Welche Möglichkeiten gibt es? Man kann eine Frau,
die heutige Debatte vom Kollegen Norbert Geis eine die sich ein Ei hat entnehmen lassen und einer Befruch-
Streitschrift des katholischen Moraltheologen Spieker tung des Eis im Reagenzglas zugestimmt hat, zu zwin-
erhalten. Ich habe sie sorgfältig gelesen. Danach – so die gen versuchen, einer Einpflanzung des Embryos in ihre
Quintessenz – widersprächen die künstliche Befruchtung Gebärmutter zuzustimmen. Das fordert niemand; das
und die PID – ich zitiere – den Grundlagen jeder freiheit- wäre auch eklatant verfassungswidrig. Niemand bestrei-
lichen Gesellschaft und jeder rechtsstaatlichen Demo- tet, dass eine Frau es zu jeder Zeit und mit jeder Begrün-
kratie und gefährdeten das friedliche Zusammenleben in dung und selbstverständlich auch ohne jegliche Begrün-
der Gesellschaft. – Ich widerspreche diesen Schlussfol- dung ablehnen kann, den von ihr und ihrem Partner
gerungen. Aber ich widerstehe auch der Versuchung, stammenden lebenden Embryo am Leben zu erhalten.
darauf in gleicher Weise zu antworten. Stattdessen will Die Rechtsordnung kann den Schutz des Lebens des Em-
ich Ihnen zu Beginn von einem Menschen erzählen, von bryos gegen den Willen der Mutter nicht durchsetzen.
Frau Regina Streilein, Mutter von vier Kindern.
Ich glaube, dass niemand von Ihnen dem widerspre-
Als Frau Streilein elf Jahre alt war, starb ihr Bruder. chen wird. Das Leben des extrakorporal erzeugten Em-
Er wurde neun Jahre alt. Er litt an einer schrecklichen bryos ist nur mit der Frau gemeinsam schützbar.
11956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Jerzy Montag
(A) An dieser Stelle müssen wir eine politische Entschei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Prä- (C)
dung treffen. Entweder wir sagen den betroffenen implantationsdiagnostik zulassen, droht dieser Grund-
Frauen: Du darfst dich dafür oder dagegen entscheiden, satz aber verloren zu gehen.
dass dein Embryo weiterlebt; aber du darfst dich vor die-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ser Entscheidung nicht vergewissern, dass dein Embryo
CDU/CSU sowie der Abg. Katrin Göring-Eck-
keine Gendefekte hat, die zu seinem Tod oder einer
ardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
schweren Krankheit führen. Das ist der Gesetzentwurf,
der die PID ausnahmslos verbieten will. Dann sagen wir: Denn Präimplantationsdiagnostik bedeutet, dass der
Ihr dürft euch entscheiden, aber es muss eine uninfor- Staat, der Gesetzgeber, sich selbst oder andere, beispiels-
mierte Entscheidung sein. – Oder wir sagen den betrof- weise ein Expertengremium oder einen Ethikrat, dazu
fenen Frauen: Wenn ihr euch vor der grundlegenden ermächtigt, anhand von Wesensmerkmalen, die im Men-
Entscheidung, ob euer Embryo leben soll oder nicht, dar- schen selbst liegen, zu definieren, welchem Menschen er
über informieren wollt, welche Eigenschaften der zu welchem Maß an Schutz verpflichtet ist. Das würde
Embryo hat, dann akzeptieren wir einige wenige Fragen aber bedeuten, dass der Grundsatz, dass der Mensch den
und andere akzeptieren wir nicht. – Das ist unser Vor- Staat definiert und nicht der Staat den Menschen, nicht
schlag für eine PID-Untersuchung, für ein PID-Verbot mehr eindeutig gelten würde.
mit zwei gewichtigen Ausnahmen. Wir ermöglichen in
diesen Fällen eine informierte Entscheidung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus liberaler Über-
zeugung sage ich, dass der Staat kein Recht hat, sich
selbst oder andere dazu zu ermächtigen, wertende – seien
Präsident Dr. Norbert Lammert: es auf- oder abwertende – Entscheidungen über den
Herr Kollege! Menschen zu treffen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CSU, der SPD und der LINKEN)
Meine letzte Bemerkung, Herr Präsident.
Der Staat muss jeden Menschen, und zwar so wie er ist,
Ich bin davon überzeugt, dass Menschen wie Frau achten und sein Leben und damit seine Freiheit grund-
Streilein ein Recht darauf haben, sich informiert für ein sätzlich und über die gesamte Lebenszeit hinweg schüt-
lebensfähiges und gesundes Kind zu entscheiden. Das ist zen. Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu er-
kein Recht auf ein gesundes Kind, aber ein Recht von mächtigen, zu entscheiden, ab wann ein menschliches
Frauen, in Selbstverantwortung eine Entscheidung zu Leben zu achten ist und wann nicht. Es gilt das, was der
treffen, die für ihr zukünftiges Leben von existenzieller Kollege Dr. Krings vorhin schon gesagt hat: Wenn ir-
(B) Bedeutung ist. gendein Zweifel besteht, dann kann nur gelten: im Zwei- (D)
fel für das Leben und für den weiter gehenden Schutz.
Danke.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Nie darf der Staat sich selbst oder andere dazu er-
Der Kollege Pascal Kober erhält nun das Wort. mächtigen, zu entscheiden, welches menschliche Leben
lebenswerter und damit schützenswerter ist als ein ande-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
res.
LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist berech-
Pascal Kober (FDP): tigt, ob diese Grenze nicht schon in der Frage des
Schwangerschaftsabbruches überschritten ist. Die Grenze
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist beim Schwangerschaftsabbruch dann nicht über-
Auch als liberaler Politiker und auch aus einer liberalen schritten, wenn wir unterstellen, dass es sich bei Schwan-
Grundhaltung heraus kann man sich aus guten Gründen gerschaftskonflikten um eine zutiefst existenzielle Situa-
für eine Nichtzulassung der Präimplantationsdiagnostik tion handelt, in der das Leben der Mutter – auch unter
aussprechen. Denn Ausgangspunkt liberaler politischer psychisch-sozialen Aspekten – gegen das Leben des
Philosophie ist die Überzeugung, dass dem Menschen Kindes steht und der Staat sich in dieser Frage eben nicht
individuelle Freiheit unveräußerlich gegeben ist, anmaßt, strafrechtlich zu entscheiden, welchem Leben er
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) in seiner Schutzpflicht den Vorzug geben muss. Die Prä-
implantationsdiagnostik bedeutet demgegenüber aber,
dass der Staat die individuelle Freiheit der Menschen dass auf der Basis von Wesensmerkmalen Lebensrecht
achten muss. zuerkannt oder eben nur abgestuft zuerkannt wird. Das
ist etwas anderes.
Ausgangspunkt des liberalen Staatsverständnisses ist
die Überzeugung, dass der Mensch dem Staat das Recht Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Zweifel: Wir
auf Einschränkung seiner eigenen Freiheit zugesteht und müssen die Not der Eltern, die sich ein Kind wünschen
nicht etwa der Staat den Menschen seine Freiheit zubil- und für die die Technik der Präimplantationsdiagnostik
ligt. Zugespitzt heißt das: Der Mensch definiert den hier gegenwärtig die einzige Möglichkeit zu sein
Staat und nicht der Staat den Menschen. scheint, ernst nehmen. Wir haben aber auch eine Verant-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11957
Pascal Kober
(A) wortung gegenüber den Grundfesten und Grundsätzen gen sind genetischer Art. Die meisten Kinder werden (C)
unseres freiheitlichen Staatsverständnisses. Auch wenn gesund geboren. Lediglich 3 bis 5 Prozent der Neugebo-
es im Angesicht der individuellen und persönlichen Be- renen sind nach Angaben von Pro Familia behindert oder
troffenheit und des Leids so schwierig erscheint, dass es krank. Die Ursachen hierfür sind komplizierte Entbin-
uns die Sprache zu verschlagen droht: Die Grundsätze dungen, Frühgeburten oder Krankheiten der Mutter. Ein
und die Grundfesten unseres freiheitlichen Staatsver- wiederum noch geringerer Anteil ist durch genetische
ständnisses müssen nach wie vor Geltung haben. Das be- Defekte verursacht. Dieser geringe Prozentsatz, gepaart
deutet, dass der Mensch den Staat definiert, nicht der mit der strengen Begrenzung der PID und einem sehr
Staat aufgrund von Wesensmerkmalen seine Menschen. kleinen Kreis von Paaren, die sich überhaupt testen las-
sen könnten, bedeutet nichts anderes, als dass Menschen
Vielen Dank.
mit Behinderung auch in Zukunft zu unserer Gesell-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ schaft gehören und unter uns leben werden; denn jeder
CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Mensch ist einmalig und unverwechselbar.
DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel
[SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
CSU und der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Er ist mit seinen Stärken und Schwächen als Ganzes zu
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Gabriele Moli- würdigen und muss in allen Lebensbereichen selbstver-
tor. ständlicher Teil unserer Gesellschaft sein.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind in
der überwältigenden Mehrheit offen und aufgeschlossen
Gabriele Molitor (FDP): gegenüber Menschen mit Behinderung. Auch in unseren
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und europäischen Nachbarländern, in denen die PID zum
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich als Teil seit Jahrzehnten erlaubt ist, gab und gibt es keine
behindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestags- Stigmatisierung von Behinderten aufgrund der PID.
fraktion ist die Entscheidung über die Zulassung der PID Entscheidend ist daher auch nicht die potenzielle Un-
aus mehreren Gründen schwierig. Ich sehe die Sorgen tersuchung von einigen wenigen Hundert künstlich be-
vieler Menschen mit Behinderung und natürlich auch die fruchteten Embryonen pro Jahr, sondern einzig und al-
Befürchtungen der Behindertenverbände. Es gibt keine lein der Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen mit
einfache Entscheidung zur PID, nicht für uns hier in die- Behinderung. Wir alle sind es, die mit unserem täglichen
sem Hohen Haus, auch nicht für die Betroffenen selbst. Handeln über den Grad der Teilhabe von Menschen mit
(B)
Bei meiner Entscheidungsfindung war die vom Rat Behinderung entscheiden. Die PID gibt Eltern mit (D)
der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte schweren Erbschäden lediglich die Sicherheit, dass ihr
Position zur Präimplantationsdiagnostik sehr hilfreich. Kind lebensfähig sein wird, und erspart den Paaren trau-
Hier wird festgestellt: matisierende Erfahrungen einer Spätabtreibung.
Unter den Mitgliedern des Rates gibt es unter- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/
schiedliche Meinungen zur Bewertung von Kon- CSU und der LINKEN)
stellationen, bei denen die Anwendung der PID
nicht die Funktion hätte, zwischen behinderten und Letztlich entscheidend für mich ist eine ganz einfache
nicht behinderten Embryonen zu unterscheiden, Frage. Wenn jetzt hier vor mir ein Paar sitzen würde, das
sondern die Aufgabe, lebensfähige Embryonen zu den Kriterien entspräche, die dieser Gesetzentwurf vor-
identifizieren. Die hier angesprochenen Fälle unter- sieht, und mich fragen würde, ob es eine PID vornehmen
scheiden sich von anderen dadurch prinzipiell, dass lassen dürfe oder nicht, dann muss ich mir die Frage stel-
es nicht um die Frage von Krankheit und Gesund- len: Habe ich das Recht dazu, diesem Paar diese Mög-
heit, von behindert und nicht behindert, von „le- lichkeit abzusprechen?
benswert“ und „nicht lebenswert“ geht, sondern um (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD,
Lebensfähigkeit und Lebensunfähigkeit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Nach Auffassung des Rates der EKD würde die In-vi- LINKEN)
tro-Fertilisation in Verbindung mit der PID in diesen Fäl- Ich bin zu dem Schluss gekommen: Nein, das darf ich
len „allein dem Ziel dienen, Leben zu ermöglichen“. Ge- nicht tun. Deshalb werde ich für das Gesetz zur Rege-
nau diese Präzisierung ist es, die mir bei meiner lung der PID stimmen.
persönlichen Entscheidung geholfen hat, den Antrag für
eine begrenzte Zulassung zu unterstützen. Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
CSU, der SPD und der LINKEN)
Wir müssen scharf trennen, worum genau es heute Präsident Dr. Norbert Lammert:
geht: Eine Entscheidung für die PID hätte nicht zur Der Kollege Dr. Ilja Seifert erhält nun das Wort.
Folge, dass Menschen mit Behinderung an den Rand der
Gesellschaft gedrängt würden oder Behinderungen künf- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
tig vermieden werden könnten. Nur wenige Behinderun- CDU/CSU und der SPD)
11958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Es hat gute und weniger gute Tage, traurige und weniger (C)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- traurige Momente, Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse.
gen! Ob wir es wollen oder nicht: Jede Debatte über die So verwundert es nicht, dass es auch in dieser Personen-
Präimplantationsdiagnostik stellt die Frage nach dem gruppe Einzelne gibt, denen ihr So-Sein und ihr Da-Sein
Wert – oder eben auch nach dem Unwert – menschlichen lästig ist, die sogar sagen, dass es besser wäre, wenn sie
Lebens. Ich weiß, dass viele der Befürworterinnen und nicht geboren worden wären. Ja, das sind tragische Situ-
Befürworter das weit von sich weisen. Ich unterstelle ih- ationen. Aber worin unterscheiden sich diese Menschen
nen sogar subjektive Aufrichtigkeit. Aber das ändert von all den anderen, den nicht sichtbar – bzw. nicht aner-
nichts an der objektiven Wirkung. kannt – behinderten Menschen, die sich, aus welchen
Gründen auch immer, selbst nicht leiden können, die
Insofern bin ich mir gar nicht sicher, ob wir heute im ständig mit sich hadern, die gegebenenfalls Selbstmord
Hohen Hause alle über das Gleiche reden. Drei Gesetz- begehen? Mir ist nicht bekannt, dass der Anteil solcher-
entwürfe liegen uns vor. Alle drei behaupten, die PID art unglücklicher Menschen unter denen mit Behinde-
verbieten zu wollen, und führen dafür gute Gründe an: rungen größer wäre als unter Nichtbehinderten.
vorwiegend ethische, einige rechtliche. Dann aber öff-
nen sich zwei der Gesetzentwürfe für Ausnahmeregelun- Ich argumentiere nicht mit der großen Anzahl von
gen. Diese begründen sie vornehmlich – das war auch Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.
hier in der Debatte so – mit dem Leid, das sie denjenigen Ich argumentiere auch nicht mit dem Verhältnis von
potenziellen Eltern ersparen wollen, die bereits schwer- glücklichen Eltern mit gesunden Kindern und der Müh-
behinderte Kinder haben und/oder bei denen aufgrund sal von Familien, denen die erforderliche Unterstützung
erblicher Anlagen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit beim bedarfsgerechten Ausgleich behinderungsbeding-
davon ausgegangen werden kann, dass sie keine gene- ter Nachteile nach wie vor vorenthalten wird. Ich argu-
tisch eigenen Kinder haben können, die länger als ein mentiere mit dem Menschenbild, das unserem Gemein-
Jahr lebensfähig sind. wesen zugrunde liegen sollte. Egal ob jemand Gottes
Schöpfung verehrt oder die Evolution als wundersames
Was also tun wir hier eigentlich? Rechnen wir Leid Glück bzw. glückbringendes Wunder genießt: Die jedem
gegeneinander auf? Suchen wir einen Erträglichkeits- Menschen unnehmbar innewohnende Würde, die Ein-
oder einen Unerträglichkeitskoeffizienten? Welchen Stel- zigartigkeit des Individuums, die Unausschöpfbarkeit
lenwert hätte dabei die tief in das Bewusstsein und das der Persönlichkeitsentfaltung sollten uns Achtung vor
Unterbewusstsein vieler Menschen mit Behinderung ein- der Fülle des Seienden gebieten, vor dem So-Seienden
gegrabene tödliche Erfahrung der Euthanasie-Vergan- und dem So-Werdenden.
genheit?
(B) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (D)
Der Deutsche Behindertenrat, DBR, das Aktions-
bündnis aller bundesweiten Behindertenorganisationen, Ich argumentiere mit diesem Menschenbild und der dar-
wandte sich dieser Tage an jede und jeden von Ihnen, auf fußenden Gesellschaftskonzeption des solidarischen
meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Vorsit- Miteinanders. Jede und jeder von uns ist einmalig, und
zende des DBR-Sprecherrates, Barbara Vieweg, betont: deshalb gehören wir zusammen. Erst die Vielfalt, die aus
uns allen besteht, macht die Menschheit aus. Das mag
Wir berücksichtigen die Konfliktlage einzelner pathetisch klingen. Aber darunter ist diese Debatte nicht
Paare, welche die Nutzung der PID aus einer indivi- zu führen.
duell schwierigen Situation erwägen. Jedoch hält
nicht alles, was medizinisch-technisch möglich ist (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
oder erscheint, ethischen Kriterien stand. Es geht um unser humanes Selbstverständnis: Nehmen
Auch ich achte den Kinderwunsch jedes Paares. Und wir uns an, oder sortieren wir einander aus?
ich kenne die Aussage, dass sich diese Untersuchungs- Selbstverständlich gibt es noch eine Reihe weiterer
methodik keineswegs gegen bereits lebende Menschen guter Argumente für das uneingeschränkte Verbot der
mit Behinderung richte. Jedoch kenne ich Dutzende von PID. Durchaus auch einige, die die künstliche Befruch-
Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, die ange- tung generell infrage stellen. Beispielsweise wegen der
sichts der aktuellen Debatten und der damit verbundenen enormen psychischen und physischen Belastung auf-
Erwartungen nichts anderes denken und sagen können grund der hormonellen Stimulierung und der keineswegs
als: Hätte es diese Möglichkeiten schon vor meiner Ge- gefahrlosen Eientnahme, denen sich die Frauen unterzie-
burt gegeben, gäbe es mich einfach nicht. – Sie nehmen hen müssen. Oder beispielsweise wegen der nach wie
die PID – übrigens auch viele Auswirkungen der Prä- vor geringen „Erfolgsquote“. Sie werden von anderen
nataldiagnostik, PND – sehr persönlich. Sie haben Rednerinnen und Rednern vorgetragen und ausführlich
schlicht Angst, Angst, per Gesetz abgewertet zu werden. begründet.
Niemand bestreitet, dass ein Leben mit schweren Be- Im Mittelpunkt meiner Argumentation steht das Men-
einträchtigungen nicht sonderlich wünschens- oder gar schenbild; das sagte ich bereits.
erstrebenswert ist. Aber wer ein solches Leben hat, für
die- oder denjenigen gibt es nichts Wichtigeres: Es ist
Präsident Dr. Norbert Lammert:
nämlich das einzige.
Herr Kollege, darf ich auch Sie an die Redezeit erin-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) nern?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11959

(A) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): meiner persönlichen Abwägung zu einer anderen Ge- (C)
Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin gleich fertig. – wichtung als diejenigen komme, die das strikte Verbot
Welche Erwartungen werden denn geweckt, wenn auch befürworten, dann folgt das einem Grundsatz, der ein-
nur der Anschein entsteht, man könne die Geburt eines fach klingt. Dieser Grundsatz lautet für mich, dass wir
gesunden Kindes garantieren? Ich sagte bereits, dass ich denjenigen, die in äußerster Seelennot auf Hilfe ange-
jeden Kinderwunsch verstehe. Aber es gibt kein Recht wiesen sind – und um die geht es –, diese Hilfe nicht ein-
auf ein Kind, erst recht nicht auf ein makelloses Kind. fach mit Hinweis auf konkurrierende Grundsätze ver-
weigern können.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
Ich meine, es gibt auch kein Recht auf ein genetisch „ei-
genes“ Kind, allenfalls den Anspruch auf Elternschaft. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Paaren, die Kinder wirklich lieben, muss ich sagen dür- GRÜNEN)
fen: Adoptionen sind alles andere als „zweite Wahl“. In Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden eben
Heimen warten, ja hoffen viele Kinder auf liebevolle El- nicht über das Alltägliche, sondern wir reden über Fami-
tern. lien, in denen Eltern oder andere Angehörige eine eigene
Leider muss ich meine Rede beenden, weil der Präsi- schwerste Krankheit haben. Wir reden über Frauen, die
dent mich schon gemahnt hat. Aber ich denke, vielleicht bereits eine oder mehrere Tot- oder Fehlgeburten hatten.
habe ich einige Argumente genannt, die Sie berücksich- Wir reden über Menschen in verzweifelter Lage. Viele
tigen können. von denen – das ist zuzugeben – meistern ihr persön-
liches Schicksal irgendwie, manchmal jenseits ihrer ei-
Vielen Dank. genen Kräfte. Es geht um diese Menschen, die das Ri-
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) siko weiteren Leids vermindern wollen. Ich bin mir ganz
sicher – nach den Gesprächen, die ich geführt habe, erst
recht –: Gerade diesen Menschen geht es nicht darum, zu
Präsident Dr. Norbert Lammert: selektieren oder gar zu töten – ganz im Gegenteil. Gerade
Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter Stein- ihnen sollten wir glauben, dass es ihnen um Leben und
meier. um ein lebensfähiges Kind geht. Das ist mein Plädoyer in
diesem Hause.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
dieser Debatte ist spürbar, dass sich niemand die Ent- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(B) scheidung leicht macht. Ich finde, das gehört sich so. (D)
Wenn ein Parlament Entscheidungen treffen will, die die Die entscheidende Frage, die wir beantworten müs-
letzten Grenzfragen des Lebens berühren und die ihm sen, lautet doch: Haben diese Familien nicht das Recht,
Selbstvergewisserung über die ethischen Grundhaltun- das medizinisch Mögliche für sich in Anspruch zu neh-
gen abverlangen, dann muss hier im Bundestag mit gro- men? Gebietet uns nicht gerade der Respekt vor dem Le-
ßer Ernsthaftigkeit gerungen werden. ben, auch deren Lebens- und Leidensgeschichte mit in
Gerungen habe ich auch mit mir selbst. Wenn mein den Blick zu nehmen? Ist es nicht gerade unsere Auf-
Name auf dem Gruppenantrag von Frau Flach, Herrn gabe, hier als verantwortliche Politiker den gesetzlichen
Hintze und Frau Reimann steht, dann sieht das nach gro- Rahmen dafür zu schaffen? Ich jedenfalls bin davon
ßer Selbstverständlichkeit aus – selbstverständlicher, als überzeugt, dass wir einen solchen verlässlichen gesetz-
es tatsächlich für mich war. In Wahrheit habe ich über lichen Rahmen brauchen.
Jahre gezweifelt. Ich habe das strikte PID-Verbot sogar als Der Abgeordnete Meinhardt hat vorhin gesagt: Wir
die scheinbar klarere, jedenfalls viel leichter in der Öf- dürfen die Büchse der Pandora nicht öffnen. – Es ist
fentlichkeit zu vermittelnde Haltung angesehen. Gleich- doch genau umgekehrt: Die Büchse der Pandora ist auf-
wohl bin ich heute anderer Meinung. Aus meiner heuti- grund der Rechtsprechung sperrangelweit offen. Wir
gen Sicht – und das nach vielen Gesprächen mit sind jetzt aufgerufen, den gesetzlichen Rahmen wieder-
betroffenen Familien, Ärzten, Medizinern und Ethikern – herzustellen, und dafür ist niemand anders verantwort-
ist das strikte Verbot nicht die höherwertige ethische lich als dieses Haus, als genau dieses Parlament.
Haltung.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Was vielleicht noch wichtiger ist: Das strikte Verbot
löst keine der Fragen, die in der Realität für die Familien Verweigern wir uns der Aufgabe, diesen Rahmen zu
bestehen – über die ist heute viel geredet worden – und schaffen, dann verweigern wir – das wird klar, wenn
die wir uns nicht einfach hinwegwünschen können. Ich man genau hinschaut – nicht nur die mögliche Hilfe in
will gleichwohl nicht verhehlen, dass die Argumente absoluten Notlagen, über die ich vorhin gesprochen
derer, die am Ende zu einem anderen Ergebnis kommen habe, sondern dann verweisen wir Menschen auch auf
– auch die haben hier gesprochen –, schwer wiegen und Wege, sich die Hilfe dort zu suchen, wo es an einem
nicht einfach vom Tisch gewischt werden können. strengen gesetzlichen Rahmen, den ich mir für uns wün-
sche, fehlt.
Wenn ich also nach einem langen Entscheidungs- und
für mich auch Erfahrungsprozess zu einer anderen Hal- Ein Wort zum Verweis auf die Gefahren des Miss-
tung als zu dem strikten Verbot komme, wenn ich bei brauchs. Darauf ist in vielen Redebeiträgen heute einge-
11960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) gangen worden. Ich sehe die Gefahren des Missbrauchs; Lobby bedarf, die sich einsetzt; sie dürfen eben nicht in- (C)
nur, auch das entlässt uns Parlamentarier nicht aus der frage gestellt werden.
Verantwortung, im Gegenteil. Ich würde sogar umge-
kehrt sagen: Verantwortung von Staat und Politik ist es Ist die Tür erst einmal geöffnet, ist der Damm erst
geradezu, den Missbrauch von Möglichkeiten, die der einmal gebrochen, dann wird es sehr, sehr schwer sein.
Gesetzgeber schafft, zu verhindern. Das gelingt uns doch Der Druck, der auf Frauen lastet, ein gesundes Kind zur
auch tagtäglich im Umgang mit anderen medizinischen Welt zu bringen, wird steigen. Es wird sehr häufig von
Grenzfragen. Vielleicht gelingt uns das hier bei uns in der Entlastung der Frauen durch die PID gesprochen,
Deutschland sogar besser als anderswo. aber allzu selten hat man im Blick, was es für Frauen
heißt, wenn sie sich gegen eine PID entscheiden. Auch
Der Gesetzentwurf der Gruppe, der ich mich ange- dann könnten plötzlich Rechtfertigungen notwendig
schlossen habe, steht für dieses Verantwortungsbewusst- werden. Wenn sich Eltern rechtfertigen müssen, warum
sein. Er formuliert ein generelles Verbot der Präimplan- ein Kind geboren wird, das vermeintlich nicht perfekt ist
tationsdiagnostik, definiert dennoch in sehr begrenzten – was auch immer in unserer Gesellschaft „perfekt“ hei-
und sehr besonderen Einzelfällen Ausnahmen von die- ßen soll –, dann macht mir das Sorge.
sem Verbot. Das geschieht nicht leichtfertig und nicht in
Verkennung unserer Verantwortung für den Lebens- Die Frage danach, welches Leben glücklicher ist, das
schutz, vielmehr in Verantwortung für die Menschen. Leben aus den Augen eines Kindes, das behindert ist, ei-
nes Kindes, das schwerwiegend beeinträchtigt ist, oder
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. aus den Augen eines Kindes, das nicht behindert ist,
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) kann ich und können wir alle nicht beantworten. Ich be-
zweifle auch, dass der Deutsche Bundestag eine Liste
von Krankheiten festlegen kann, die dann der Grund da-
Präsident Dr. Norbert Lammert: für sind, ob ein Leben gelebt werden darf oder nicht ge-
Julia Klöckner ist die nächste Rednerin. lebt werden darf.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bedenke das Ende! Wenn man den ersten Schritt geht,
sollte man auch im Auge haben, was daraus werden
Julia Klöckner (CDU/CSU): könnte. Es gibt Krankheiten wie zum Beispiel Mukovis-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zidose. In früheren Zeiten haben Kinder mit dieser
Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, Sie sagten eben, Krankheit gerade einmal das Grundschulalter erreicht.
es bedarf einer klaren gesetzlichen Regelung. Da sind Heute gibt es Erwachsenenselbsthilfegruppen von Mu-
wir uns alle einig. Es gibt allerdings unterschiedliche koviszidosekranken. Ich selbst stehe einer solchen
(B) Vorschläge für eine klare gesetzliche Regelung. Die Gruppe als Schirmfrau vor. Man kann auch feststellen, (D)
Frage ist: Wie soll die Regel aussehen? ob ein Mädchen, ob eine Tochter, die noch nicht geboren
ist, die genetische Veranlagung zu Brustkrebs hat. Aber
Hauptsache gesund! Das ist wohl der normalste
wer sagt denn, dass dieser Brustkrebs überhaupt ausbre-
Wunsch der Welt, den Eltern haben, wenn sie ein Kind
chen wird oder ob man in 50 Jahren nicht eine Therapie
erwarten. Auch der Wunsch, die Politik möge Leid und
dagegen hat? Klar ist: Wenn man bei der PID, bei dem
Tränen verhindern, ist ein hoher Wunsch. Die Politik
Aussuchen und Aussortieren, Ja zu einem Kind sagt,
wird ihn aber niemals vollends erfüllen können; denn
dann sagt man gleichzeitig Nein zu einem anderen Kind,
zum Leben gehören auch Schattenseiten, gehört Leid.
das nicht geboren werden soll. Das will ich nicht.
Natürlich tun Eltern alles, damit ihr Kind gesund
bleibt. Wenn es krank wird, tun sie alles, damit es wieder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
gesund wird, damit es geheilt wird. Wenn Heilung nicht FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
möglich ist, muss der Staat alles Mögliche tun, um El- NEN)
tern mit beeinträchtigten Kindern so zu unterstützen, Ich möchte den Blick auch auf das, was Leben aus-
dass Leben angenommen werden und gelingen kann. macht, wenden. Mir sagen mein Glaube und meine Lo-
Mich hat das Gespräch mit Vertretern der Behinder- gik, dass das Leben ein Geschenk ist, ein Geschenk, das
tenverbände sehr berührt. Sie sagten: Frau Klöckner, nicht immer wieder neu gepackt werden darf, sondern
wenn es zu unseren Anfängen schon die PID gegeben das angenommen werden sollte und angenommen wer-
hätte, dann würden ganz viele von uns heute nicht vor den muss. Da das Leben ein Geschenk ist, liegt auch
Ihnen sitzen. Wir wollen nicht die Krankheiten, die wir dort, wo es vermeintlich nicht so perfekt ist, eine große
haben, auf irgendwelchen Listen finden, die es erlauben, Chance darin, dass wir Menschen begleiten und dass wir
dass unser Leben nicht gelebt werden darf. das Antlitz der Gesellschaft so gestalten, dass sich Hu-
manität im Nächsten zeigt und nicht im vermeintlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Perfekten. Deshalb trete ich klar für ein Verbot der PID
SPD und der FDP) ein.
Ich finde, es ist ein sehr wichtiges und richtiges Zei- Herzlichen Dank.
chen, dass heute der Behindertenbeauftragte der Bundes-
regierung, Hubert Hüppe, anwesend ist; denn auch in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
diesen Bereich müssen wir den Blick wenden. Es geht SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
um Menschen mit Beeinträchtigungen, für die es einer GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11961

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie tun dies immer mit der Angst, das Kind zu verlieren. (C)
Das Wort erhält nun die Kollegin Ursula Heinen- Die seelische Belastung einer Mutter, die Fehl- oder Tot-
Esser. geburten erlebt hat, ist ebenso hoch wie die seelische Be-
lastung einer Mutter, die eine Abtreibung durchführen
Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU):
lassen muss.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Aber es gibt einen enormen Unterschied: Die PND,
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt verbunden mit einer Abtreibung, kann zu einem schwe-
Paare, die um ihre erbliche Vorbelastung wissen und sich ren Trauma führen. Die PID hilft, diesen Konflikt abzu-
dennoch von ganzem Herzen ein Kind wünschen. Viel- wenden. Der Ethikrat hat in seinem Votum für eine be-
leicht haben sie keine andere Möglichkeit als die künst- grenzte Zulassung der PID geschrieben – ich zitiere –:
liche Befruchtung. Vielleicht haben sie schon eine Fehl-
geburt erlebt, vielleicht haben sie schon eine Totgeburt Die PID eröffnet einen Weg, das Trauma eines
erlebt. Vielleicht haben sie schon ein oder sogar zwei Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden …
schwerstbehinderte Kinder, um die sie sich liebevoll Die Entscheidung steht für mich fest: Die PID ist ein
kümmern. Diese Eltern verstehen nicht, dass eine Unter- klares Ja zum Leben. Deshalb werbe ich für den Antrag
suchung an einer befruchteten Eizelle, die außerhalb des von Ulrike Flach, Peter Hintze, Carola Reimann und vie-
Mutterleibs nicht lebensfähig ist, verboten sein soll. Sie len weiteren Kolleginnen und Kollegen aus allen Frakti-
verstehen nicht, dass aber die Untersuchung des Kindes onen.
im Mutterleib trotz der etwaigen lebensbedrohlichen
Folgen für das Kind, etwa bei der Fruchtwasseruntersu- Danke.
chung, erlaubt, ja manchmal sogar notwendig ist. Diese (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Eltern verstehen nicht, warum die Präimplantationsdia-
gnostik verboten werden soll, während die Abtreibung,
die Tötung des Kindes bis zur zwölften Schwanger- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schaftswoche, gegebenenfalls sogar die Spätabtreibung, Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt erhält nun das
erlaubt ist. Hier erleben wir doch einen ganz klaren Wer- Wort.
tungswiderspruch unseres Rechtssystems, sollte sich ein
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
PID-Verbot durchsetzen. Die Untersuchung der befruch-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
teten Eizelle nein, PND und Abtreibung ja – diesen Wi-
der SPD)
derspruch empfinde ich als nicht akzeptabel, als men-
schenunwürdig.
(B) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) NEN):
Bei der Abtreibung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Mutter eines behinderten Kindes fragt in Christ &
– so schreibt ein führender Befürworter des Totalverbots Welt: Was empfinden Menschen wie mein Sohn ange-
in einem Namensartikel für den Tagesspiegel; dieses Ar- sichts solcher Debatten – sie, die sich besonders mühen
gument klang auch hier immer wieder durch – müssen, in dieser Welt zurechtzukommen, gerade weil
geht es … um die seelische Belastung der Mutter, sie etwas anders ticken, als es die Norm erfordert, die
die sich in einem schweren Konflikt befindet. sich enorm anstrengen, dazuzugehören, und dabei doch
immer wissen, dass sie Sonderfälle sind, gnädigerweise
Deshalb sei die Abtreibung unter bestimmten Umstän- alimentiert von der Gesellschaft? Mein Sohn muss zur
den erlaubt, und deshalb seien PID und Abtreibung nicht Kenntnis nehmen, dass er als Risiko definiert wird, dass
miteinander vergleichbar. es als Fortschritt gilt, wenn möglichst wenige seiner Art
geboren werden. – Und gleichzeitig der Satz eines Paa-
Lassen Sie mich dazu aber festhalten: Die seelische res, das schon zwei Kinder mit einer schweren Behinde-
Belastung der Mutter beginnt und endet doch nicht mit rung hat: Ein weiteres, das schaffen wir einfach nicht,
einer Abtreibung. Die seelische Belastung der Mutter gerade weil wir die beiden so lieb haben.
und des Vaters, die erblich vorbelastet sind, beginnt viel
früher; Frau Flach hat vorhin ein sehr nahegehendes Bei- Wer wollte heute schon entscheiden, was schwerer
spiel genannt. Es geht um die seelische Belastung der wiegt? Kann das irgendjemand von uns denn wirklich?
Mutter und des Vaters, die Sorge, ein nicht lebensfähiges Suchen wir also nach Objektivem.
Kind wachsen zu sehen, die Angst, der Belastung durch
ein schwerstbehindertes Kind nicht gewachsen zu sein. Vielleicht hilft ein Blick auf die Zahlen. Noch geht es,
Diese Eltern wünschen sich ein Kind – sehnlichst –, das jedenfalls bis heute, um wenige Fälle. Auch dies kann
eine Chance zum Leben bekommt. Sie wünschen sich für beides sprechen. Als Argument für eine Zulassung
nicht blaue Augen, auch nicht, ob es dick, dünn, groß könnte man anführen: Die paar Fälle führen nicht zu ei-
oder klein sein wird. nem Dammbruch; die PID hilft den wenigen Betroffe-
nen, die es schwer haben. – Man könnte aber auch die
Es geht darum, dass ein Kind eine Chance zum Leben Frage stellen: Sollten wir für die wenigen Betroffenen in
bekommt. Dafür unterziehen sich die Mütter enormen unserer Gesellschaft so viel riskieren? Ich sage „so viel
körperlichen Belastungen, einer oft schmerzhaften, auf- riskieren“, weil es, lieber Frank-Walter Steinmeier, nicht
wendigen Behandlung, einer künstlichen Befruchtung. um einige wenige Grenzfälle geht, sondern um das, was
11962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Katrin Göring-Eckardt
(A) wir in der Mitte der Gesellschaft wollen bzw. zulassen eineinhalb Jahre oder 2 Jahre oder 20 Jahre oder (C)
wollen. 40 Jahre?
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss darüber ge-
sprochen werden, worum es tatsächlich geht, wie belas-
Es geht auch nicht um die Frage, was öffentlich zu ver- tend die Untersuchungen sind, wie belastend die Ent-
mitteln wäre. Ich glaube, diese Frage wird hier keiner scheidung ist. Es darf nicht darüber geschwiegen
diskutieren wollen. Warum also bin ich für ein Verbot? werden, was alles tatsächlich im Zweifelsfall untersucht
Ja, ich bin überzeugt, hier möchte niemand ein Designer- werden kann – eben auch die Krebserkrankung. Warum
baby, hier möchte keiner eine auseinanderfallende Ge- soll man eigentlich dann das nicht wissen wollen?
sellschaft oder eine diskriminierende. Also suchen wir
nach Anhaltspunkten! Und zuletzt, ja, natürlich wird es Druck geben – so
wie es bei der PND Druck auf Frauen bzw. auf Paare
Nein, die PID garantiert eben kein gesundes Kind. Sie
gibt, diese Untersuchung durchführen zu lassen. Mit die-
garantiert noch nicht einmal eine Schwangerschaft.
sem Druck wird ein Heilsversprechen verbunden, bei
Nein, die PID ist nicht eine einfache Untersuchung, die
dem wir abzuwägen haben. Wir haben abzuwägen, was
man halt über sich ergehen lassen muss, im Gegenteil:
wir damit auf der anderen Seite belasten, zerstören, ge-
Sie ist für Frauen extrem belastend. Sie bedeutet immer
fährden.
wieder einen Eingriff, immer mehr Hormonbehandlung.
Und sie bedeutet natürlich auch dann, wenn aussortiert Verbieten wir die PID, die letztlich alles verspricht,
wird, eine schwere seelische Belastung. Das, was aber höchstens die Möglichkeit bietet, ein wenig die
scheinbar unsichtbar in der Petrischale ist, ist eben für Chancen auf ein Kind zu erhöhen! Verbieten wir die PID
die Seele des Menschen im Zweifelsfall doch nicht we- und machen wir sehr deutlich, worum es eigentlich in
niger als das, was bei einer Schwangerschaft geschieht. unserer Gesellschaft geht: die zu integrieren und dabei-
Nein, Behinderung oder Krankheit werden nicht aus- haben zu wollen, die anders sind, oft glücklich sind, oft
geschlossen. Es kann auf einige wenige monogenetische ein gelingendes Leben haben und uns übrigens wissen
Erkrankungen und Chromosomenanomalien untersucht lassen, dass auch wir nicht vollkommen sind, sondern
werden. Allerdings weiß kein Mensch, ob sie jemals aus- darauf angewiesen sind, dass ein anderer uns anschaut
brechen werden und, wenn ja, wie schwer sich die und sagt: Ja, du bist ein Mensch, und es ist gut, dass du
Krankheit dann wirklich zeigt. Nein, PID wendet nicht da bist.
Leid von Eltern und Kind ab; PID wendet das Kind Vielen Dank.
selbst ab. Es wird aussortiert, weil es nicht der Norm
(B) entspricht. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (D)
Und wichtig: Nein, die PID verhindert eben keine
Spätabbrüche. Natürlich habe ich Verständnis für die Präsident Dr. Norbert Lammert:
Paare – sie begegnen uns zumindest in Berichten ganz Die Kollegin Krista Sager ist die nächste Rednerin.
häufig –, die sagen: In dieses Risiko will ich mich nicht
begeben. – Aber gleichzeitig muss man sagen: Die aller-
meisten werden sich später einer Pränataldiagnostik un- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
terziehen. Das ist übrigens eine Untersuchung, von der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
wir, als sie eingeführt wurde, gesagt haben: Das ist nur möchte für den Gruppenantrag werben, für den auch
für ganz, ganz wenige Ausnahmefälle. – Heute ist das Frank-Walter Steinmeier heute geworben hat, nämlich
eine Standarduntersuchung. Ich fürchte, dass es sich mit für die begrenzte Zulassung der PID bei einer künstli-
der PID ganz ähnlich entwickelt. chen Befruchtung. Ich will ausdrücklich sagen: Vor eini-
gen Jahren war ich gegen die Zulassung der PID, aber
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) ich habe meine Meinung geändert. Das möchte ich Ihnen
Es gibt keine Garantie, dass nicht andere schwere, auch gerne erklären.
erbliche Erkrankungen, eintreten. Und es gibt übrigens Bei meiner damaligen Ablehnung haben die Befürch-
auch keine Garantie, dass Schädigungen am Embryo tungen eine große Rolle gespielt, die auch heute hier von
durch die PID selbst ausgeschlossen sind. vielen geäußert worden sind. Es ging um die Angst vor
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nein, es wird nicht einem moralischen Dammbruch, davor, dass man ir-
bei wenigen Fällen bleiben – übrigens auch deswegen gendwie auf eine schiefe Ebene kommt. Viele tun so, als
nicht, weil wir diesen Unterschied gar nicht machen wüssten sie ganz genau, was passiert, wenn wir die PID
können. Warum sollen die einen dann eigentlich das begrenzt zulassen würden. Nun leben wir ja nicht auf ei-
Recht auf PID haben, und den anderen sprechen wir es ner Insel, und wir können feststellen, was in den Ländern
ab? passiert ist, in denen es seit Jahrzehnten Erfahrungen mit
einer begrenzten Zulassung gibt, was in fast allen ande-
Und nein, ich halte auch die Grenzziehung bei der Le- ren europäischen Ländern der Fall ist. Ob in Frankreich,
benserwartung von einem Jahr nicht für möglich – übri- in Großbritannien oder in den skandinavischen Ländern:
gens auch deswegen nicht, weil ich es zu schwierig Der befürchtete Werteverlust, vor dem ich selber Angst
finde, zu entscheiden: Ist denn ein Tag Leben, sind fünf gehabt habe, ist da nicht eingetreten. Das können wir se-
Tage Leben oder neun Monate Leben weniger wert als hen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11963
Krista Sager
(A) Herr Dr. Seifert, ich nehme das, was Sie hier gesagt krankheit Angehörige verloren. Glauben Sie, Herr (C)
haben, sehr ernst. Aber die Teilhabechancen von behin- Dr. Seifert, dass diese Menschen, wenn sie gerne die
derten Menschen sind in Deutschland nicht besser als in Möglichkeit zur PID hätten, damit ein Werturteil darüber
Dänemark. Der Druck auf behinderte Menschen, ihr Da- abgeben, dass zum Beispiel das Leben ihres Bruders
sein zu rechtfertigen, ist in den skandinavischen Nach- oder ihres eigenen geliebten Kindes bis zu seinem Tod
barländern nicht größer als in Deutschland. nichts wert war?
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Es ist keine Wertentscheidung über behindertes oder
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und Leben mit schweren Krankheiten. Es ist vielmehr die
der LINKEN) Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung aus
einer tiefen Konfliktsituation heraus. Ich bin der Mei-
Wir müssen doch einmal feststellen, dass es keinen nung, es gibt hierbei nicht nur eine einzige wahre Moral
Grund gibt, einen deutschen Sonderweg des Totalver- für jeden Einzelfall, die der Gesetzgeber durch ein Ver-
bots der PID aufgrund von Befürchtungen zu gehen, die bot wenigen Betroffenen aufoktroyieren muss.
in unseren Nachbarländern offensichtlich schon wider-
legt sind. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der LINKEN)
DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)
Das ist meine persönliche Überzeugung in diesem Fall.
Wir können aufgrund der Erfahrungen in den Nach- Nach meiner Überzeugung sollten wir diesen wenigen
barländern auch sehen: Es sind wenige Fälle, und es ste- Betroffenen mit guter Beratung, guter Information und
hen ganz schwere persönliche Schicksale dahinter. Das medizinischer Begleitung in kompetenten und lizensier-
heißt, wir können davon ausgehen, dass es in Deutsch- ten Zentren so gut es irgend geht zur Seite stehen, aber
land bei vielleicht 200 bis 300 Fällen bleiben wird. Jetzt auch einen kleinen Türöffner für die Selbstbestimmung
stellt sich doch die Frage: Wollen wir einen deutschen erhalten. Ich finde, sie haben das verdient.
Sonderweg gehen, um 200 bis 300 Frauen und ihren
Partnern die Möglichkeit zu verbieten, selbstbestimmt (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
zu entscheiden, ob sie einen Antrag stellen, dass bei ih-
nen aufgrund einer schweren erblichen Vorbelastung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
eine PID durchgeführt wird? Wollen wir gleichzeitig in
Kauf nehmen, dass bei einzelnen der gleichen Frauen Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler.
nach der 22. Schwangerschaftswoche möglicherweise
(B) eine Situation eintritt, in der sie dann selbstbestimmt ent- Kathrin Vogler (DIE LINKE): (D)
scheiden sollen, ob es eine Spätabtreibung gibt? Ich sage Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
Ihnen: Das ist nicht verhältnismäßig und – gesetzlich ge- und Kollegen! Liebe Frau Sager, diejenigen in diesem
dacht – auch nicht konsistent. Das müssen wir doch ein- Hause, die die Präimplantationsdiagnostik zulassen wol-
mal zur Kenntnis nehmen. len, argumentieren häufig mit dem Selbstbestimmungs-
recht der Frau. Das treibt auch mich um, und ich finde,
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) es ist ein Wert, den wir hier verteidigen sollten. Sie mei-
Wenn ich eine ganz persönliche moralische Bewertung nen, ein Verbot würde unverhältnismäßig stark in das
abgebe, dann muss das nicht verhältnismäßig und viel- Selbstbestimmungsrecht der Frau über die eigene Fort-
leicht auch nicht konsistent zu dem sein, was in den Ge- pflanzung eingreifen. Dieser Auffassung bin ich nicht.
setzen steht. Aber als Gesetzgeber muss ich anders vor- Das möchte ich erklären.
gehen. Hier muss das Handeln konsistent sein. Eine Wir reden doch hier über ein medizinisch-technisches
Spätabtreibung nach einer PND und ein Totalverbot der Verfahren, in dem letzten Endes Medizinerinnen und
PID stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis. Mediziner und Ethikkommissionen die Entscheidungen
Noch etwas: Eine Religionsgemeinschaft kann von treffen. Ich bin davon überzeugt: Je mehr Macht die Re-
ihren Anhängern verlangen, dass sie entweder ganz auf produktionstechnologie über den Körper der Frau erhält,
Kinder verzichten oder das Risiko eingehen, weitere desto geringer wird ihre Selbstbestimmung. Ich emp-
Totgeburten oder weitere Fehlgeburten zu erleiden oder fehle, die Erfahrungsberichte betroffener Frauen zu le-
eben ein mit einer schwersten Erbkrankheit belastetes sen. Dann kann man nur schlucken.
Kind auf die Welt zu bringen. Das kann eine Religions- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
gemeinschaft ihren Anhängern abverlangen. Ich bin aber
der Meinung, der Gesetzgeber sollte dies nicht tun. Oft wird auch argumentiert, dass die PID Frauen vor
Schwangerschaftsabbrüchen bewahren könnte. Dafür
Es geht um eine ganz persönliche Gewissensentschei- gibt es aber keinen Beleg. Schwangerschaften nach PID
dung von betroffenen Menschen in einer ganz schwieri- – das haben wir schon mehrfach gehört – gelten grund-
gen Konfliktsituation. Herr Dr. Krings, das kann man sätzlich als Risikoschwangerschaften. Etwa die Hälfte
den Leuten nicht ausreden; das ist für die Menschen so. der Frauen wird einer invasiven Pränataldiagnostik un-
Herr Dr. Seifert, diese Menschen haben zum Teil schon terzogen, zum Beispiel einer Fruchtwasserpunktion. Am
schwerstkranke Kinder, die sozusagen dem Tod geweiht Ende bekommt nur eine von fünf Frauen nach einer PID
sind. Sie haben zum Teil schon durch eine schwere Erb- tatsächlich ein Kind, und das nach all diesen Torturen.
11964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Kathrin Vogler
(A) Auch unterstellen Sie damit, dass Ärztinnen und Verteilung von unbezahlter Reproduktions-, Erziehungs- (C)
Ärzte in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche aus- und Pflegearbeit sowie die Abwehr von Diskriminierung
schließlich wegen einer möglichen Behinderung des als gemeinschaftliche sozialstaatliche Aufgabe zu be-
Kindes durchführen würden. Das wäre aber rechtswid- trachten, bürden wir diese Aufgabe den betroffenen
rig. Vor dieser Unterstellung muss ich die Ärztinnen und Frauen individuell auf. Dazu muss ich sagen: Selbstbe-
Ärzte in Schutz nehmen. Das tun sie nicht leichtfertig. stimmung sieht für mich anders aus. Deshalb möchte ich
Sie bitten, den Gesetzentwurf für ein uneingeschränktes
In der Stellungnahme des Ethikrates, die heute schon Verbot der Präimplantationsdiagnostik zu unterstützen.
mehrfach zitiert worden ist, wird viel differenzierter ar-
gumentiert, als es hier teilweise dargestellt wird. Der Danke sehr.
Ethikrat hinterfragt nämlich sehr genau, ob die Fort-
pflanzungsentscheidungen der einzelnen Frau tatsäch- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
lich als selbstbestimmt gelten können bzw. inwieweit CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-
dies der Fall ist. Denn schon bei der Frage, ob eine Frau SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal
überhaupt ein Kind will, spielen gesellschaftliche Stan- Kober [FDP])
dards, ökonomische Zwänge und Erwartungen des Um-
felds eine entscheidende Rolle. Die von außen auf die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau einwirkenden Erwartungen und Zwänge beein- Christine Aschenberg-Dugnus hat das Wort.
trächtigen die Selbstbestimmung. Mit den Möglichkei-
ten der Präimplantationsdiagnostik werden meiner Auf-
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
fassung nach diese fremdbestimmenden Elemente noch
erweitert. Auch kritische Feministinnen warnen vor Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
wachsendem Druck auf Frauen. Immer mehr würde ih- menschliche Dasein ist bestimmt durch körperliche
nen sogar so etwas wie eine Schuld zugeschrieben, wenn Existenzbedürfnisse wie Atmung, Schlaf, Nahrung und
sie trotz medizinischen Fortschritts beispielsweise ein Wärme, auch durch das Streben nach Sicherheit, Familie
Kind mit Downsyndrom geboren haben. und Anerkennung und durch das Streben nach Realisie-
rung eigener Wünsche und Sehnsüchte. In diesem Kon-
Wir alle kennen Beispiele für diesen Druck. So etwas text spielt das Streben nach Erkenntnis eine extrem
sei doch heute nicht mehr nötig, hat beispielsweise ein große Rolle. Das steckt in jedem von uns. Ein Verbot
Vater aus meinem Wahlkreis zu hören bekommen. Mit dieses Erkenntnisstrebens kann nur scheitern, genauso
„so etwas“ war sein Kind gemeint. Seiner Frau war wäh- wie man damit scheitern würde, den Wunsch nach Fort-
rend der Schwangerschaft ein schwerstbehindertes Kind pflanzung, den Wunsch nach Kindern zu unterdrücken.
vorhergesagt worden. Wohl niemals werde es laufen
(B)
können, und vermutlich werde es die ersten Jahre nicht Bereits Erkanntes kann man nicht unerkannt machen; (D)
überleben. Dieses Kind ist heute sieben Jahre alt und denn das Rad der Erkenntnis kann man nicht zurückdre-
läuft mitsamt seiner Behinderung munter durchs Leben. hen. Nun sind wir seit geraumer Zeit an einem Punkt an-
Eine andere Mutter erzählte mir von ihrer Tochter, die gelangt, an dem es die Wissenschaft möglich macht, eine
heute 28 Jahre ist und alleine selbstständig in einer Woh- PID durchzuführen. Wir können jetzt nicht einfach auf
nung lebt – mit Trisomie 18, einer Chromosomenstö- „Löschen“ drücken und dieses Wissenschaftskapitel ver-
rung, die als klassisches Beispiel für eine früh zum Tode schwinden lassen, schon gar nicht, wenn das Verfahren
führende genetische Veränderung gilt. der PID in fast allen europäischen Ländern etabliert und
zugelassen ist.
Diese Beispiele zeigen doch, dass wir uns bei dieser
ganzen Debatte nicht auf Medizin oder Biologie als ex- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
akte Wissenschaften verlassen können, sondern dass wir
Vielmehr ist es jetzt geboten, mit den möglichen Unter-
die gesellschaftliche Dimension dieser Technik in den
suchungsmethoden verantwortungsvoll umzugehen –
Mittelpunkt der Diskussion stellen müssen. Eine Zulas-
verantwortungsvoll und in engen Grenzen; denn nicht al-
sung der Präimplantationsdiagnostik bedeutet eben nicht
les, was möglich ist, ist ethisch vertretbar. Nur deshalb
nur eine weitere Wahlmöglichkeit für Frauen, sondern
führen wir heute diese Debatte.
sie verändert auch unser gesellschaftliches Umfeld. Sie
verändert unsere ganze Haltung gegenüber Schwanger- Müssen wir uns dem Wunsch einer Frau mit einer ge-
schaft, Geburt und Elternschaft. Sie weckt hohe Erwar- netischen Vorbelastung verweigern, die weiß, dass sie
tungen und Hoffnungen, die in den meisten Fällen bitter mithilfe eines Arztes herausfinden kann, ob bei dem
enttäuscht werden. Sie verschärft die gesellschaftliche künstlich erzeugten Embryo eine solche schwere geneti-
Erwartungshaltung gegenüber den Frauen, wirklich alles sche Erkrankung vorliegt? Müssen wir das wirklich tun?
für ein biologisch eigenes, gesundes Kind zu tun. Das ist Können wir einer Frau verwehren, den Embryo zu unter-
aus meiner Sicht ein überholtes Frauen- und Familien- suchen, wenn sie in der Vergangenheit bereits eine Tot-
bild. geburt in der 26. Schwangerschaftswoche hatte und auch
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und schon ein Kind aufgrund einer schweren genetischen Er-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) krankung im Alter von drei Jahren verloren hat? Das
sind ganz konkrete Beispiele. Alle, die wir hier sitzen,
Statt nun die Verantwortung für die Herstellung glei- haben in den letzten Wochen und Monaten sehr viele
cher Rechte und Teilhabechancen zu übernehmen und dieser Beispiele gesehen, darüber gelesen und mit Be-
eine gerechtere und vor allem geschlechtergerechtere troffenen gesprochen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11965
Christine Aschenberg-Dugnus
(A) Muss man als Arzt wissentlich und absichtlich einen Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Uni- (C)
Embryo einpflanzen, wenn man nicht ausschließen kann, versität Lübeck, einer der Befürworter der Präimplanta-
dass es bei der Frau erneut zu einer körperlich wie see- tionsdiagnostik, hat in dieser Woche in einem Zeitungs-
lisch qualvollen Totgeburt kommt, obwohl es die PID interview im Südkurier klar gesagt:
gibt? Ich denke, nein. Ein Untersuchungsverbot würde
einen Wertewiderspruch bewirken; denn eine pränatale Das menschliche Leben fängt für mich durchaus
Diagnostik mit anschließender Spätabtreibung ist so- mit der Befruchtung an. Deshalb hat auch ein Em-
wohl ethisch als auch rechtlich erlaubt. Ein PID-Verbot bryo Würde. Aber es gibt Situationen, in denen die
wäre eine Verschiebung des ethisch-moralischen Kon- Würde des Embryos zurücktritt hinter die Würde
flikts, den jede Frau erlebt, auf die Zeit der Schwanger- der Mutter.
schaft. Im Mutterleib wird dieser Konflikt dann zu lösen Ist das nicht die Aufforderung, zwischen unterschiedli-
versucht, allerdings zulasten der Frau, die dann gezwun- chen Graden von Würde abzuwägen, die dem Menschen
gen ist, eine mögliche Totgeburt hinzunehmen oder eine zukommt? – Ich möchte das nicht.
Spätabtreibung vornehmen zu lassen. Denn das ist recht-
lich und ethisch erlaubt, aber eben für die Frau erheblich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
belastender. Deshalb sieht unser Entwurf vor, die PID in neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ganz engen Grenzen zuzulassen. und der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])

Wenn von Teilen der Gesellschaft vorgebracht wird, Nun sagen die Befürworter des Gesetzentwurfs zur
man würde mit der PID Selektion betreiben, dann wird Zulassung der PID – das war auch in der Rede, die ge-
die konkrete Situation der betroffenen Frauen verkannt; rade gehalten worden ist, deutliches Votum –: Wir wol-
denn diese Frauen haben in den meisten Fällen schon ei- len die Zulassung der PID in ganz engen Grenzen. Ich
nen sehr langen Leidensweg hinter sich. Denken Sie an frage: Wird es möglich sein, den Anspruch auf Zulas-
das Beispiel, das ich Ihnen eben genannt habe. Nein, mit sung „in ganz engen Grenzen“ in Einklang zu bringen
der PID verfolgen wir ganz andere Ziele. Es geht einzig mit der Selbstbestimmung der Mutter, mit der Selbstbe-
und allein darum, schweres Leid von Frauen abzuwenden stimmung des Vaters? Wie geht es Eltern, wenn sie ge-
und ihnen Totgeburt und Spätabtreibung zu ersparen. Es fragt werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind
geht gerade nicht darum, vollends gesunde Kinder zu ohne Downsyndrom? Wie geht es Eltern, die gefragt
schaffen, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie – zu wel- werden: Willst du lieber ein Kind mit oder ein Kind ohne
chem Zeitpunkt auch immer – an irgendeinem Leiden er- Mukoviszidose? Willst du lieber ein Kind, das mit hoher
kranken werden. Es geht einzig und allein darum, ganz Wahrscheinlichkeit später an die Dialyse muss, weil es
bestimmte schwere Erbkrankheiten des Kindes zu erken- eine polyzystische Nierenerkrankung erbt, oder willst du
(B) nen, Erbkrankheiten, die in der jeweiligen Familie mög- lieber, dass das Kind das nicht erbt? Willst du lieber ein (D)
licherweise bereits aufgetreten sind. Es geht darum, un- Kind, das mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit Brust-
sägliches Leid, seelische und körperliche Belastung von krebs bekommt, oder lieber ein Kind, bei dem diese
den Frauen abzuwenden. Das ist meines Erachtens Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist? – Das sind doch
ethisch vertretbar und im Sinne der Nächstenliebe ver- die Fragen, die, wenn das Wissen nicht ausgeschaltet
nünftig und human. Ich möchte Sie herzlich bitten, unse- werden kann, zu beantworten sind.
ren Entwurf zu unterstützen. Ich glaube – zweiter Punkt –, Eltern können immer
Danke. nur die besten Chancen für das Kind wollen, und sie
können die beste Chance nicht nur in einer spezifischen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Situation wollen. Deswegen glaube ich nicht, dass es
der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- möglich ist, diese „ganz engen Grenzen“ so zu definie-
SES 90/DIE GRÜNEN) ren, dass sie wirklich greifen und wirksam sind.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der


SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke.
DIE GRÜNEN)
Rudolf Henke (CDU/CSU): Dritter Punkt: Ich weise darauf hin, dass zwar der Ge-
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe setzentwurf, den Frau Flach uns vorgestellt hat, dafür
Kolleginnen und Kollegen! Es sind viele Argumente wirbt, dass wir eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine
vorgetragen, es sind viele juristische Aspekte beleuchtet, schwerwiegende Erbkrankheit als Voraussetzung haben
es sind viele medizinische Sachverhalte genannt worden. müssen. Aber was ist eine schwerwiegende Erbkrank-
Ich will auf drei Punkte zu sprechen kommen, von denen heit? Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass in dem zu-
ich glaube, dass sie für jeden, der später in diesem Haus stimmend zitierten Text des Wissenschaftlichen Beirats
die Entscheidung treffen muss, zentral sein werden. der Bundesärztekammer steht:
Der erste Punkt betrifft die Frage der Würde. Die Die Bundesärztekammer wird in einer „(Muster-)
Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob Würde teilbar Richtlinie zur Durchführung der Präimplantations-
ist, ob sie abstufbar ist, ob unser Grundgesetz vorsieht, diagnostik“ Regelungen zum Indikationsspektrum
dass Würde dadurch erworben werden muss, dass man – und zu Weiterem –
bestimmte Qualitäten, Merkmale oder Eigenschaften
aufweist. Professor Klaus Diedrich, der Direktor der treffen.
11966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Rudolf Henke
(A) Das heißt, es wird dann Festlegungen über das Indika- sönliche Erfahrung gewesen. Ich weiß, dass Politik nicht (C)
tionsspektrum geben. Sie werden auch nötig sein, weil immer nur aus Einzelschicksalen und persönlicher Er-
es doch nicht zu tolerieren sein wird, dass in dem einen fahrung Schlussfolgerungen ziehen kann, aber sie sind
Bundesland eine Ethikkommission sagt: „Du darfst le- eben manchmal Anlass zum Umdenken.
ben“, und in einem anderen Bundesland eine Ethikkom-
mission sagt: Du darfst nicht leben, obwohl du die glei- In diesem Fall geht es um ein befreundetes Paar, das
che Diagnose, die gleiche Lebenserwartung hast. – Wir ich vor einigen Jahren begleiten musste. Die beiden, die
werden Indikationslisten bekommen. nach wie vor meine Freunde sind, hatten und haben
sehnlichst einen Kinderwunsch, waren hocherfreut, als
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der sich dieser Kinderwunsch erfüllte, wussten aber nicht,
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- dass das Kind eine Erbkrankheit hatte, erblich vorbelas-
NEN) tet war, und mussten miterleben, dass dieses Kind auf-
Diese Indikationslisten werden sich darauf zurückführen grund einer fortschreitenden unheilbaren Muskelerkran-
lassen, dass wir hier diese Frage offengelassen haben. kung wenige Wochen nach der Geburt qualvoll sterben
musste. Ich war bei der Beerdigung, und das war etwas,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie für eine Be- was mich tief erschüttert hat.
grenzung eintreten: Vielleicht ist diese Diskussion noch
nicht weit genug geführt. Vielleicht ist es wirklich not- Ich habe erlebt, wie es diesem Paar im Weiteren er-
wendig, noch nach einem Weg zu dieser Begrenzung zu gangen ist und ergeht. Die beiden haben nach wie vor ei-
suchen; ich weiß das nicht. Vielleicht ist man in zehn nen Kinderwunsch. Sie haben aufgrund dessen, was sie
Jahren bei einer Begrenzung, die im Konsens gefunden erlebt haben, feststellen müssen, dass sie beide unglück-
werden kann. Aber jetzt, in dieser Situation – der Bun- licherweise eine genetische Disposition haben, nach der
desgerichtshof hat jedes Handeln zugelassen –, muss die Wahrscheinlichkeit, dass das wieder passiert, unge-
eine Entscheidung getroffen werden, die die Möglichkeit fähr 80 : 20 beträgt. In der Realität des Lebens haben sie
der Präimplantationsdiagnostik ausschließt. Das, meine nun drei Optionen: Erstens können sie es noch einmal
ich, müsste auch diejenigen überzeugen, die im Prinzip versuchen – mit der Wahrscheinlichkeit von 80 : 20 und
für enge Grenzen eintreten, solange kein Weg beschrie- übrigens unter Inkaufnahme dessen, dass man es in die-
ben ist, wie diese ganz engen Grenzen wirklich zustande sem Wissen im Zweifelsfall auf eine Spätabtreibung an-
kommen. kommen lassen muss. Die zweite Möglichkeit ist – das
hat etwas mit Lebensrealität zu tun; das wäre bei uns
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. rechtswidrig und bliebe nach den Gesetzesvorschlägen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die vorliegen, rechtswidrig –, mit dem entsprechenden
(B) neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- Geld nach Belgien oder nach Israel zu gehen, wie es – re- (D)
NISSES 90/DIE GRÜNEN) den wir offen darüber! – viele Paare in Deutschland in
der Vergangenheit getan haben. Die dritte Möglichkeit
ist, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu versa-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gen.
Hubertus Heil hat das Wort.
Meine Damen und Herren, ich bin für eine begrenzte
Hubertus Heil (Peine) (SPD): Zulassung der Präimplantationsdiagnostik genau aus
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- dieser Lebensrealität heraus. Ich finde, dass man zu un-
ginnen und Kollegen! Ich finde, dass diese Debatte unse- terschiedlichen Überzeugungen kommen kann. Mich
rem Hause gut ansteht. Man kann hier zu unterschied- lässt nicht unberührt, was Behindertenverbände an Be-
lichen Überzeugungen kommen. Es ist ein gutes Signal, fürchtungen und Erwägungen genannt haben – viele
auch für unsere parlamentarische Demokratie, dass wir Kolleginnen und Kollegen haben es zitiert –; ich bin nur
heute gemäß Art. 38 unseres Grundgesetzes diskutieren. der festen Überzeugung, dass wir als deutsches Parla-
Das macht uns, den Abgeordneten, in unserer Verant- ment diesen Befürchtungen nicht entgegentreten, indem
wortung deutlich, dass wir nicht an Aufträge und Wei- wir das, was in der begrenzten Zahl solcher Fälle an Hil-
sungen gebunden sind, sondern Gewissensentscheidun- fen notwendig und menschlich vertretbar ist, verwei-
gen zu treffen haben. gern.
Es ist gut, dass wir eine Debatte führen, wie ich finde, Es ist etwas anderes, was notwendig ist, um Men-
mit durchaus hohem Niveau, die deutlich macht, um was schen mit Behinderungen in diesem Land eine diskrimi-
wir ringen und um welche Abwägung es geht. Ich will nierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu
an dieser Stelle das, was mich umtreibt und was dazu ge- ermöglichen. Der Blick in Länder, in denen die PID zu-
führt hat, dass ich die Meinung, die ich zu diesem gelassen ist – ich glaube, die Kollegin Sager hat es vor-
Thema hatte, revidiert habe, darlegen. Ohne vertiefte hin zitiert –, macht deutlich, dass es nicht die PID ist, die
Kenntnis, vor allen Dingen aber ohne persönliche Be- Druck auf behinderte Menschen macht. Es gibt darunter
rührung hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, dass Länder, in denen Menschen mit Behinderungen besser
das Verbot der Präimplantationsdiagnostik, das durch die leben können und weniger Diskriminierung ausgesetzt
Entscheidung des Bundesgerichtshofs aufgehoben sind als in unserer deutschen Gesellschaft. Vielleicht
wurde, richtig und nachvollziehbar ist. Was mich bewo- geht es um ein paar andere Themen der Teilhabe, um die
gen hat, umzudenken, ist nicht das Urteil gewesen, son- wir uns miteinander kümmern müssen – von der Antidis-
dern was mich bewogen hat, umzudenken, ist eine per- kriminierungsgesetzgebung bis hin zur Teilhabe am
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11967
Hubertus Heil (Peine)
(A) schulischen und beruflichen Leben. Das ist eine Verant- würde durch die Entscheidung, ob ein Leben lebenswert (C)
wortung. Ich bitte alle, die dieses Argument nennen, aus ist oder nicht.
berechtigten Erwägungen, sich mit uns gemeinsam die-
sen anderen Themen zuzuwenden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Für mich ist entscheidend, dass wir in der Präambel
unseres Grundgesetzes gemahnt werden, uns unserer Im Verlauf dieser Debatte ist diese Abwägung von
Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst zu den Befürwortern einer begrenzten Freigabe der PID aus
sein. Nun geht es hier um sehr persönliche Überzeugun- meiner Sicht nicht vorgenommen worden, obwohl Herr
gen. Ich weiß, dass hier auch viele Christen gesprochen Hintze eingangs davon gesprochen hat. Sie blieben viel-
haben – auch ich bin evangelischer Christ –, die auf der fach bei der rhetorischen Frage stehen, mit welchem
Grundlage ihres gemeinsamen Glaubens zu unterschied- Recht man den Eltern verbieten könne, die medizini-
lichen Schlüssen in dieser Frage kommen. Das ist zu ak- schen und wissenschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen.
zeptieren. Meine Bitte ist nur, dass wir in diesem Parla- Man hätte auf diese rhetorische Frage durchaus eine
ment weiterhin die Fairness wahren und uns nicht Antwort finden können, und zwar in Art. 1 Abs. 1 des
gegenseitig die Argumente absprechen. Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantast-
bar.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Frau Flach, Frau
Reimann, Herrn Hintze und anderen, die diesen Gesetz- Die Frage ist, ob die Würde des Menschen teilbar ist
entwurf zustande gebracht haben. oder nicht. Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand in
dieser Debatte gesagt hätte, ein Embryo, auch wenn er
Zum Schluss habe ich einen Appell. Heute ist die sich extrakorporal in der Petrischale befindet, habe keine
erste Lesung der Gesetzentwürfe, dann folgen die Aus- Menschenwürde. Jerzy Montag hat ausgeführt, die
schussberatungen, und am Ende werden wir im Plenum Menschwerdung sei abhängig von dem Zusammenwir-
zu einer Entscheidung kommen müssen. Meine Bitte an ken der Frau und des Embryos; aber er hat nicht gesagt,
die Kollegen Hinz und Röspel ist, darüber nachzuden- dass dem Embryo keine Menschenwürde zuerkannt wer-
ken, ob die Unterzeichner beider Gesetzentwürfe nicht den würde. Wenn es so ist, dass wir auch diesem Embryo
noch einmal miteinander ins Gespräch kommen können. die Menschenwürde zuerkennen, dann müssen wir fra-
Der Fall, den ich genannt habe, wäre von dem Gesetz- gen: Welche Folgen hat es, wenn wir gegenüber einem
entwurf von Röspel und Hinz übrigens abgedeckt. menschlichen Leben, das die Menschenwürde genießt,
Lebenszustände beschreiben, die wir als lebenswert oder
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nichtlebenswert definieren? Aus meiner Sicht wird hier
Herr Kollege! der Rubikon überschritten und eine noch gar nicht abzu-
(B) sehende, bahnbrechende Wertentscheidung vorgenom- (D)
Hubertus Heil (Peine) (SPD): men, die nicht nur das Leben an seinem Anfang betrifft,
Ich habe aus anderen Gründen dem anderen Gesetz- sondern auch Folgen haben wird für das Ende des Le-
entwurf zugestimmt. Aber bevor es zu einem absoluten bens.
Verbot der PID in Deutschland kommt, bitte ich, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
wir noch einmal miteinander sprechen. SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der
Herzlichen Dank. SPD und der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wenn wir uns erst einmal anmaßen, Lebenszustände
als lebenswert oder nichtlebenswert zu definieren, dann
werden wir – das ist meine Überzeugung und auch Be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
fürchtung – die Folgen nicht eingrenzen können. Durch
Markus Kurth hat jetzt das Wort.
keine Ethikkommission und keine Beschreibung von
Einzelfallentscheidungen wird das in den Griff zu be-
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kommen sein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben gerade in der Rede von Herrn Heil wie auch Frau Sitte, ich nehme Ihnen ja ab, dass die betroffe-
in einigen anderen Beiträgen von Befürwortern einer nen Eltern, wie Sie es sagten, keine populationsgeneti-
Freigabe der PID die Schilderung eines tragischen indi- schen Überlegungen anstellen. Ich will Ihnen natürlich
viduellen Elternschicksals gehört, das – so will ich hier auch nicht unterstellen, dass Sie der Euthanasie oder der-
ganz deutlich sagen – auch mich nicht unberührt lässt. gleichen nahestünden. Aber die Frage ist doch, ob sich
Ich war in den letzten Wochen und Monaten bei mehre- nicht ein gesellschaftliches Bild vom menschlichen Le-
ren Diskussionsveranstaltungen und Versammlungen, ben Bahn bricht, auf dessen Grundlage am Ende Nütz-
wo ich mit Eltern zusammengetroffen bin, die eine erbli- lichkeitsentscheidungen getroffen werden.
che Vorbelastung und gleichzeitig einen starken Kinder- (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] –
wunsch haben. Ich habe diesen Eltern auch gesagt, dass Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch
ich als Teil des Gesetzgebers ihre Perspektive nicht un- schon lange so!)
hinterfragt komplett übernehmen kann, sondern dass ich
eine Abwägung vornehmen muss: zwischen ihrem Der Druck auf das Gesundheitssystem – Stichwort
Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, und der – ich „knappe Ressourcen“ – wird möglicherweise ein Übri-
führe das noch aus – Infragestellung der Menschen- ges tun. Dies ist schon jetzt bei der PND der Fall, wo,
11968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Markus Kurth
(A) mehr oder minder unausgesprochen, bestimmte Fragen Es ist natürlich nicht so, dass die PID heilsbringend (C)
von Ärztinnen und Ärzten gestellt werden. Wenn wir ist. Sie wird sich auch aufgrund der geringen Zahl der
einmal die Menschenwürde infrage gestellt haben, dann Betroffenen nicht positiv auf die Gesamtstatistik in
gibt es gegenüber denjenigen, die aus gesundheitsökono- Deutschland auswirken. Sie bedeutet eine ganz individu-
mischen Überlegungen die PID vorantreiben wollen, elle Verbesserung und Linderung von Leid aufgrund von
keine Haltelinie mehr. Fehl- und Totgeburten und bewirkt die Vermeidung von
Abtreibungen in einem ganz konkreten Indikationskon-
In Bezug auf Menschen mit Behinderung befürchte zept.
ich eine Perspektivverschiebung. Frau Molitor hat völlig
zu Recht gesagt, dass nur ein Bruchteil der Behinderun- Einige sprechen hier von einem Dammbruch. Im Ver-
gen von genetischen Defekten abhängig ist. Die Frage hältnis zur Abtreibung muss man sagen: Der Damm-
ist, wie wir mit dem Thema Behinderungen in der gesell- bruch ist garantiert nicht die PID; denn die PID wird in
schaftlichen Diskussion zukünftig umgehen wollen, dem Gesetzentwurf deutlich schärfer reguliert, als dies
wenn wir die PID als Möglichkeit haben. Behinderungen im allgemeinen Recht der Fall ist. Dies gilt in dreifacher
werden dann als vermeidbares Leid thematisiert, als et- Hinsicht: Erstens. Der im Gesetzentwurf genannte Per-
was Defizitäres, Mangelhaftes und Auszusortierendes. sonenkreis ist im Vergleich zum Abtreibungsrecht deut-
Ich befürchte, dass dieser Perspektivwechsel, was Men- lich stärker eingegrenzt. Zweitens. Die Gründe, die zur
schen mit Behinderungen angeht, eine Gesellschaft be- Nichteinpflanzung führen könnten, sind im Gesetzent-
wirkt, die den Begriff der Menschenwürde nicht mehr wurf deutlich strenger geregelt als die Gründe, nach de-
vorbehaltlos trägt und die uns dann allen möglicherweise nen eine Abtreibung möglich wäre. Drittens. Das Sta-
nicht mehr die Lebensqualität und die Würde bietet, die dium, in dem die PID durchgeführt wird, ist das
wir eigentlich von ihr verlangen. Vorembryonalstadium, nicht das Embryonalstadium.
Das sind drei Punkte, die zeigen, dass die vorgelegte Re-
Ich bitte um Unterstützung für ein vollständiges Ver- gelung zur PID aus ethischer Sicht ein weniger starker
bot der PID. Eingriff ist als die Regelungen zur Abtreibung.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Meine Damen und Herren, deshalb muss man sich nur
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der noch mit der Frage beschäftigen: Wird die Anwendung
SPD und der LINKEN) der PID irgendwann ausgeweitet, kommt es irgendwann
dazu, dass sie in einem deutlich breiteren Spektrum an-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gewendet wird? Wer sich die Zahlen anschaut und sieht,
welche Beschwernisse mit einer künstlichen Befruch-
Das Wort hat Dr. Helge Braun.
(B) tung – mit der Gewinnung der Eizellen, der Befruchtung (D)
und der Implantation – verbunden sind, der weiß, dass es
Dr. Helge Braun (CDU/CSU): hier überhaupt nicht darum geht, ein gesundes Kind zu
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! garantieren. Vielmehr ist es der Versuch, eine höhere
Es ist keine einfache Debatte, auch nicht für mich; denn Wahrscheinlichkeit zu erzielen, ein lebensfähiges Kind
in meinem beruflichen Leben als Narkosearzt habe ich zu bekommen. Auch mit der PID – das ist hier gesagt
es stets abgelehnt, an Abtreibungen teilzunehmen. worden – liegt die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene
Paare ein lebensfähiges Kind bekommen, nur bei einem
Das Lebensrecht von Menschen hat selbstverständ- Drittel bis 50 Prozent. Das heißt, die befürchtete schöne
lich auch für mich eine hohe Bedeutung. Vieles, was hier neue Welt, in der Kinder in wundervoller Weise gezeugt
über Menschen mit Behinderungen und über deren Le- werden, ist mit der Technologie der PID nicht umsetzbar.
bensfreude und Lebensrecht gesagt worden ist, teile ich Schon deshalb gibt es eine Begrenzung.
uneingeschränkt. Ich sehe auch den Rechtfertigungs-
druck von Eltern, die ein Kind mit Behinderung ange- Wir haben heute viele Argumente zu diesem Thema
nommen haben. gehört. Mir ist wichtig, eine weitere Frage in den Mittel-
punkt zu stellen: Ist es die Aufgabe des Deutschen Bun-
Wir müssen natürlich zunächst vom Embryo ausge- destages, diese Gewissensentscheidung für die Bevölke-
hen und über sein Lebensrecht sprechen. Die Rechtslage rung insgesamt zu treffen, oder steht hier eine
in Deutschland ist heute so – das ist der Grund, warum individuelle Gewissensentscheidung im Vordergrund?
es ein entsprechendes Urteil gegeben hat –, dass es ein
Abtreibungsrecht, das eine Fristenregelung und eine so- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause –
ziale Indikation vorsieht, gibt. Das bedeutet: Das Le- Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es ist ein
bensrecht eines Embryos, den wir im Rahmen der PID Recht, ein Lebensrecht!)
nicht untersucht haben, aber dann im Rahmen einer Prä- Ich sage: Es ist eine individuelle Gewissensentschei-
nataldiagnostik untersucht haben, kann beschnitten wer- dung. Sie korrespondiert mit dem bestehenden Abtrei-
den und eine Abtreibung zur Folge haben. Diese Abtrei- bungsrecht.
bung gilt es zu vermeiden. Es gilt auch, eine hohe Zahl
von Tot- und Fehlgeburten zu vermeiden. Für diese gel- Eine Fristenregelung, die Ärzte in die Verantwortung
ten in Deutschland zwar keine absolut gesehen hohen bringt, über Studien Erkenntnisse zur Lebenserwartung
Zahlen; sie kommen aber besonders häufig bei Eltern zu ermitteln, die quasi rechtsetzenden Charakter erhal-
mit einem spezifischen erblichen Vorbelastungsprofil ten, halte ich für falsch. Deshalb ist eine Einjahresfrist
vor. nicht geeignet. Vielmehr muss es, selbstverständlich auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11969
Dr. Helge Braun
(A) der Grundlage von Leitlinien der Ärztekammer, zu einer worden ist, gekommen ist? Was ist denn mit den Paaren, (C)
individuellen Beratung, einem individuellen Gespräch die nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrund
und einer individuellen Gewissensentscheidung kom- haben? Auch die werden die PID nicht in Anspruch neh-
men. Deshalb bitte ich um Zustimmung zum Gesetzent- men können.
wurf von Frau Flach und Kollegen.
Die Behandlung – das ist eben schon gesagt worden –
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) ist für die Frauen eine sehr, sehr große psychische und
physische Belastung, und sie ist auch nicht frei von
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Komplikationen. Wie einer Stellungnahme des Gemein-
Elke Ferner hat das Wort. samen Bundesausschusses zu entnehmen ist, haben Kin-
der, die mit der In-vitro-Befruchtung gezeugt werden,
statistisch ein signifikant höheres Fehlbildungsrisiko als
Elke Ferner (SPD): Kinder, die auf normalem Wege gezeugt worden sind.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Insofern, glaube ich, ist das auch ein Punkt, der zu dieser
Auch wenn man wie ich für ein sehr weit gehendes Debatte gehört.
Selbstbestimmungsrecht der Frau ist – da geht es mir
ganz ähnlich wie Biggi Bender –, kann man für ein Ver- Die Frage ist aber auch: Wie wird es weitergehen? Ich
bot der Präimplantationsdiagnostik eintreten. bin der festen Überzeugung, dass Paare mit einer ent-
sprechenden genetischen Disposition genauso wie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Frauen, die heute ein gewisses Lebensalter überschritten
CSU, der LINKEN und des BÜNDNIS- haben, dann quasi mehr oder weniger in die PID hinein-
SES 90/DIE GRÜNEN) gedrängt werden, so wie Frauen, die älter als 30 sind,
Es wurde auf die Praxis in anderen Ländern und die heute in vielen Fällen in die Pränataldiagnostik hineinge-
sicherlich unbestreitbar schwierige Situation der Frauen drängt werden, ob sie das nun wollen nicht.
verwiesen, die bereits mehrere Fehlgeburten hatten und (Zuruf von der FDP: Quatsch!)
sich trotz ihrer eigenen genetischen Disposition oder der
des Partners ein gesundes Kind wünschen. Die PID ist Eines sage ich Ihnen auch voraus: Schon allein aus
aber nur scheinbar geeignet, dieses individuelle Leid zu Gründen des Haftungsrechts bei den Ärzten wird nach
vermeiden. Durch die In-vitro-Befruchtung besteht die der PID, wenn es zu einer Schwangerschaft gekommen
Möglichkeit, die künstlich erzeugten Embryonen zuerst ist, die PND als Kontrollmethode, als Kontrolldiagnose
auf mögliche genetische Schäden zu untersuchen, um weiterhin stattfinden.
dann der Frau nur gesunde Embryonen zu implantieren. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) Die Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik ist NEN]: Genau! Eben!) (D)
die In-vitro-Befruchtung. Die Indikation hierfür ist zu-
mindest bisher die Unfruchtbarkeit der Frau, in besonde- Insofern werden mit dieser Diagnostik auch keine Spät-
ren, eingeschränkten Fällen auch die Unfruchtbarkeit abbrüche vermieden.
des Mannes; die genetische Disposition müsste erst hin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
zutreten. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
Die nächste Frage, die zu beantworten ist: Käme diese NEN)
Methode dann für alle Frauen mit einer entsprechenden Deshalb sollten diejenigen, die das befürworten, sich
genetischen Disposition in Betracht? Das ist nicht der noch einmal überlegen, was da passiert. Nicht alle
Fall; denn unverheiratete Frauen haben derzeit, zumin- Frauen in Deutschland werden den Zugang zu der Diag-
dest wenn sie in der gesetzlichen Krankenversicherung nostik haben, also zum Beispiel Nichtverheiratete,
versichert sind, keinen Zugang zur In-vitro-Befruchtung. Frauen, die drei Versuche ausgeschöpft haben. Nicht alle
(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND- Behinderungen können ausgeschlossen werden, nicht
NIS 90/DIE GRÜNEN]) alle sogenannten Spätabbrüche vermieden werden. Der
Tourismus wird nicht ausgeschlossen werden können,
Wenn man die Präimplantationsdiagnostik befürwortet, und es ist auch keine selbstbestimmte Entscheidung der
darf man aus meiner Sicht keinen Unterschied machen Frau. Es ist keine selbstbestimmte Entscheidung, wenn
zwischen Frauen, die verheiratet sind, und Frauen, die am Ende eine Kommission darüber entscheidet, ob eine
nicht verheiratet sind; Frau diese Diagnostik in Anspruch nehmen darf.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nicht die Frau entscheidet darüber, sondern eine Kom-
denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leid von un- mission entscheidet darüber, unter welchen Bedingun-
verheirateten Frauen, ihr Kinderwunsch und ihr Wunsch, gen die Diagnostik angewandt werden darf.
ein gesundes Kind zu bekommen, sind doch nicht da-
Das viel Schwierigere aus meiner Sicht sind Fragen
durch geringer, dass sie keinen Trauschein haben.
wie: Wie stehen wir zu Menschen mit Behinderung in
Das Nächste, was man sich fragen muss: Was passiert unserem Land? Das ist für mich am Ende der ausschlag-
denn, wenn die drei Versuche, die bisher von den Kassen gebende Punkt. Ich sage: Zu der Vielfalt in unserer Ge-
bezahlt werden, ausgeschöpft sind, ohne dass es zu einer sellschaft gehört eben auch menschliches Leid. Es gehö-
Schwangerschaft oder einem Kind, das gesund geboren ren auch Menschen mit Behinderung dazu. Ich möchte
11970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Elke Ferner
(A) nicht, dass sich Eltern, die sich bewusst für ein Kind mit laut des geltenden Rechts weder eine eindeutige Ableh- (C)
Behinderung entscheiden, dafür rechtfertigen müssen. nung noch eine eindeutige Billigung der PID zu entneh-
men ist, schließt der Bundesgerichtshof – das möchte ich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
noch einmal betonen; nach meiner Ansicht zu Recht –
CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
aus der in § 3 Abs. 2 des Embryonenschutzgesetzes nor-
DIE GRÜNEN)
mierten Ausnahme vom Verbot der Geschlechterauswahl
Ich möchte nicht, dass Menschen mit Behinderung, die durch Verwendung ausgewählter Samenzellen, dass der
Teil unserer Gesellschaft sein wollen oder es sind, oder Gesetzgeber sehr wohl den aus den Risiken von Erb-
ihre Eltern sich rechtfertigen müssen und ihnen vorge- krankheiten resultierenden Konfliktlagen der Eltern
halten wird, dass das alles unter Anwendung der PID Rechnung tragen wollte.
nicht hätte sein müssen. Das gehört mit dazu, auch wenn
damit menschliches Leid verbunden ist. Das gehört aus Damals formulierten wir, der Gesetzgeber, unmiss-
meiner Sicht zur Vielfalt unserer Gesellschaft dazu. Wir verständlich, es könne einem Ehepaar nicht zugemutet
sind keine perfekte Gesellschaft. Ich finde, wir sollten werden, sehenden Auges das Risiko einzugehen, ein
auch nicht eine Gesellschaft wollen, die nur aus perfek- krankes Kind zu bekommen, wenn künftig die Möglich-
ten Menschen besteht. keit bestehen sollte, durch Spermienselektion ein gesun-
des Kind zur Welt zu bringen. Der urteilende Senat des
Schönen Dank. Bundesgerichtshofs konnte wegen der insoweit vom Ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ setzgeber schon damals getroffenen Werteentscheidung
CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ und dazu gegebenen Begründungen eben nicht anneh-
DIE GRÜNEN) men, dass der Gesetzgeber, der die extrakorporale Be-
fruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft im
Embryonenschutzgesetz ohne weitere Voraussetzungen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: erlaubt hat, die zur Verminderung gravierender Gesund-
Das Wort hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. heitsrisiken geeignete PID an pluripotenten Zellen ver-
(Beifall bei der FDP) boten hätte, wenn sie seinerzeit schon zur Verfügung ge-
standen hätte.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Es ist ein weiterer Blick notwendig auf § 15 Abs. 1
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Satz 1 des im Wesentlichen am 1. Februar 2010 in Kraft
legen! Fast am Ende der Debatte scheinen zur Zulässig- getretenen Gendiagnostikgesetzes, wonach vorgeburtli-
keit der Präimplantationsdiagnostik fast alle Argumente che genetische Untersuchungen während der Schwan-
(B) vorgetragen zu sein. Ich stehe hier auch, um den Antrag gerschaft ausdrücklich erlaubt sind. Auch daraus war der (D)
von Frau Flach und vielen anderen zu unterstützen. Fasst Bundesgerichtshof ein gesetzliches Verbot der PID her-
man die Vielfalt der Meinungen zusammen, mag man zuleiten nicht in der Lage; denn sonst hätte es der Ge-
dem Deutschen Ethikrat in seiner einhelligen Feststel- setzgeber auch damals, 2010, ausdrücklich gesagt.
lung zustimmen, dass der verfassungsrechtliche Status
des Embryos in vitro, auf den es bei der Problematik der Nach diesen einschlägigen Entscheidungen folgt mei-
PID ankommt, derzeit nicht streitfrei bestimmt werden ner Auffassung nach, dass das der bestehenden Rechts-
kann. Oder anders ausgedrückt: Die Problematik der lage zugrunde liegende Embryonenschutzkonzept und
PID ist nicht durch Rückgriff auf einen eindeutigen ver- der Rechtsstatus des Embryos auf die zur Herbeiführung
fassungsrechtlichen Status des Embryos zu klären. einer Schwangerschaft strikt begrenzte und deshalb zu-
lässige PID übertragbar ist. Aus meiner Sicht kann ein
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der PID-Gesetz nur den Sinn haben, auf der Basis des vom
SPD) geltenden Recht umfassten Schutzkonzeptes die Voraus-
Zu sehr ist der Diskurs zur PID und zum Rechtsstatus setzungen und Bedingungen, unter denen die PID recht-
des Embryos in vitro von vorrechtlichen, metaphysi- mäßig zur Anwendung kommen darf, zu präzisieren.
schen, ja religiösen Festlegungen, Erwägungen und Vor-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
stellungen durchsetzt, als dass er derzeit einem breiten
SPD)
gesellschaftlichen Konsens zugänglich wäre.
Wenn auch nicht ganz unerwartet, so erstaunt diese Mein letzter Satz: Ein Verbot der PID würde die be-
Uneinigkeit insofern, als gerade wir, der deutsche Ge- stehende Rechtslage gravierend ändern, würde unerklär-
setzgeber, im Rahmen der letzten Neufassung des § 218 bare, höchst problematische Wertungswidersprüche im
des Strafgesetzbuches den Schutzbedarf und den Schutz- Fortpflanzungsrecht erzeugen und würde genau das tun,
umfang des Embryos in vivo in einer Weise zur rechtli- was der deutsche Gesetzgeber doch eigentlich als unzu-
chen Geltung gebracht hatten, die ausweislich des ent- mutbar ausschließen wollte,
sprechenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
den Forderungen des Grundgesetzes in Einklang steht. Wir sind aber heute der Gesetzgeber!)
Auch das 1991 und zuletzt 2001 geänderte Embryonen-
schutzgesetz folgt dieser offensichtlich verfassungskon- nämlich hartherzig die Augen vor dem unsäglichen Leid
formen Linie. Genau auf dieser Linie liegt auch die Ent- der Eltern zu verschließen, die dann ihren legitimen
scheidung des Bundesgerichtshofs vom Juli 2010. Kinderwunsch aufgeben oder nur durch künstliche Be-
Obgleich, wie der Bundesgerichtshof darlegt, dem Wort- fruchtung unter dem Risiko schwerer und schwerster,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11971
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) zuweilen tödlicher Erbkrankheiten des Kindes erfüllen auch hier: Nein. Was passiert denn, wenn der Arzt Auf- (C)
könnten. fälligkeiten sieht, die nicht untersucht werden sollen, wie
zum Beispiel leichte Behinderungen oder leicht behan-
Deshalb unterstütze ich den Gesetzentwurf von Frau delbare Krankheiten? Die Bundesärztekammer will in
Flach und vielen anderen aus tiefster Überzeugung. ihrem jüngsten Richtlinienentwurf sogar die Untersu-
Vielen Dank. chung auf spätmanifestierende Krankheiten zulassen.
Glauben Sie denn wirklich, dass solche Embryonen dann
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, implantiert werden würden?
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Bei den Untersuchungskits gibt es derzeit den Trend
zu Genchips, die nicht nur einzelne Gene, sondern ganze
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gensequenzen untersuchen. Das ist nämlich deutlich
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth. kostengünstiger. Es wird keine Testkits geben, die an die
individuelle genetische Situation einzelner Paare ange-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) passt wären. Das ist schlicht zu teuer. Es werden Stan-
dardkits sein.
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der LINKEN und
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Am Ende einer langen und sehr ernsthaften Debatte
möchte ich noch einmal ein paar zentrale Fragen aufgrei- Erst im Januar ist ein neuer Test von Kingsmore et al.
fen. publiziert worden, der sage und schreibe 448 Anlagen
für Erbkrankheiten auf einmal testet. Deshalb bin ich mir
Erstens. Wann ist der Mensch ein Mensch? Jeder von ganz sicher: Wenn wir PID auch nur für wenige Einzel-
uns, die wir hier sitzen, war einmal ein Zellhaufen, auch fälle zulassen, wird letztlich eine Tür geöffnet, die wir
wenn der uns, so wie wir jetzt aussehen, völlig unähnlich niemals wieder schließen können.
ist. Aber: Wie ähnlich werde ich eigentlich als 90-jährige
Greisin dem neugeborenen Säugling sein, der ich einmal (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
war? Deshalb: Das Leben des Menschen beginnt mit der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
Verschmelzung von Ei und Samenzelle. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zudem: Wie ist denn unsere Erfahrung mit engen In-
dikationen? In den 90er-Jahren hat der Deutsche Bun-
Daher kommt dieser ersten und frühesten Lebensphase destag – auch das ist hier schon angesprochen worden –
(B) der uneingeschränkte Schutz des Grundgesetzes zu. die embryopathische Indikation abgeschafft, weil Behin- (D)
Zweitens. Kann PID Paaren mit genetischer Vorbelas- derung kein Grund dafür sein darf, nicht leben zu dürfen.
tung wirklich und sicher dabei helfen, ein gesundes Kind Aber wir haben Abtreibungen bis in die späte Schwan-
zu bekommen? Die Antwort lautet ganz klar: Nein. Das gerschaft straffrei gestellt für die wenigen Fälle, in
Verfahren hat eine sehr geringe Erfolgsquote, das haben denen der Mutter durch die Behinderung des Kindes Ge-
wir schon gehört. Die sogenannte Baby-take-home-Rate fahr für Leben oder die körperliche oder seelische Ge-
beträgt 15 bis 20 Prozent; das heißt, nur jedes fünfte Paar sundheit droht, die nur durch einen Schwangerschaftsab-
bekommt nach dieser sehr belastenden Prozedur über- bruch abgewendet werden kann.
haupt ein Kind.
Was aber ist die traurige Realität der pränatalen Diag-
Herr Kollege Braun, wenn Sie sagen: Überlassen wir nostik? Die Fruchtwasseruntersuchung – eine Kassen-
diese Entscheidung doch dem Gewissen der Eltern – je leistung, gedacht für wenige Einzelfälle – wird heute
nachdem und individuell –, dann widerspricht das zum praktisch jeder schwangeren Frau ab dem 35. Lebensjahr
einen der Forderung in Ihrem Antrag, eine Ethikkom- geraten. Wir müssen davon ausgehen, dass ungefähr die
mission einzusetzen. Hälfte aller Kinder mit Trisomie 21, also dem Downsyn-
drom, abgetrieben werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Wer kann eine ähnliche Entwicklung bei der PID aus-
DIE GRÜNEN) schließen? Wer glaubt daran, dass Eltern sich dafür ent-
scheiden, dass ein Embryo mit einem diagnostizierten
Das heißt: entweder Ethikkommission oder individuelle
weniger schwerwiegenden Chromosomendefekt implan-
Entscheidung. Zum anderen bin ich zutiefst davon über-
tiert wird? Ganz zu schweigen von den haftungsrechtli-
zeugt, dass es um eine grundsätzliche Angelegenheit des
chen Konsequenzen, die wir in der sogenannten Kind-
Lebensschutzes geht. Die gehört in dieses Haus, in die-
als-Schaden-Rechtsprechung in aller Radikalität kennen-
ses Parlament. Wir können uns vor dieser Verantwortung
gelernt haben.
nicht drücken.
Deshalb: Der Staat ist durch das Grundgesetz zum
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Schutz des Lebens verpflichtet; danach ist unsere Ge-
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
setzgebung auszurichten. PID bedeutet immer, dass wir
DIE GRÜNEN)
eine Entscheidung darüber treffen, dass Leben in seiner
Drittens. Ist die PID tatsächlich auf wenige bestimmte frühesten Form nur unter der Bedingung weitergelebt
Fälle eingrenzbar? Meine ganz bestimmte Antwort ist werden darf, dass es keine genetischen Auffälligkeiten
11972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Maria Flachsbarth


(A) aufweist. Das dürfen wir nicht zulassen. Behinderung chen vorgeburtlichen Diagnostik mit der möglichen, ein- (C)
darf niemals Grund für weniger Lebensschutz sein. kalkulierten Folge eines Schwangerschaftsabbruchs,
auch eines Spätabbruchs; es sei denn, das Paar geht mit
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) einem schlechten Gewissen ins Ausland – das können
Der Verfassungsrechtler Professor Hillgruber schrieb nur diejenigen, die sich das leisten können –, um dort
in einem Artikel in der FAZ in der letzten Woche – ich eine PID durchführen zu lassen.
zitiere –:
Beides ist meines Erachtens inhuman, weil mit der
Kein Mensch ist allein aufgrund seiner Existenz, PID eine Methode zur Verfügung steht, die auch in unse-
mag sie noch so defizitär sein, für einen anderen rem Land angewendet werden könnte und mit der das
Menschen unzumutbar. Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs verhindert
werden könnte. Dieses Trauma ist natürlich umso grö-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ßer, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist.
der LINKEN) Eine Pränataldiagnostik mit nachfolgendem Schwanger-
Genau das – das darf ich hier vielleicht zum Ab- schaftsabbruch wird in unserer Gesellschaft ethisch tole-
schluss sagen – trifft eine Grundüberzeugung für mich riert und ist rechtlich zugelassen. Es kann einer Frau
als Christin. Ich glaube daran, dass jeder Mensch zu je- nicht zugemutet werden, bei schwerwiegender familiärer
dem Zeitpunkt seines Lebens von Gott angenommen ist, genetischer Belastung als Alternative zur PID eine Prä-
und zwar unabhängig davon, wie klein, wie verletzlich nataldiagnostik durchführen zu lassen. Hier schließe ich
oder wie fehlerhaft er auch sein mag. Deshalb ist meine mich ganz klar dem Memorandum der Bundesärztekam-
Entscheidung ganz klar: Gegen die PID. mer zur PID vom Februar dieses Jahres an.
Vielen Dank. Nun ist auch heute wieder die Sorge vorgetragen wor-
den, mit der von uns vorgeschlagenen Begrenzung der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der PID sei die Tür für eine grenzenlose Ausweitung der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- PID geöffnet, und dies könne sogar die Gefahr bergen, in
NEN) letzter Konsequenz zum Designerbaby zu führen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Nein! Das sagt


Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat jetzt das Wort. keiner! Von Designerbaby spricht keiner!)
Wir stellen heute einen Gesetzentwurf vor, der die PID
Dr. Marlies Volkmer (SPD): unter strengen Rahmenbedingungen ermöglicht. Die
(B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! PID wird nur für wenige Paare infrage kommen, auch (D)
Vor gut 20 Jahren habe ich als Ärztin in der Beratung deswegen, weil vor einer PID eine In-vitro-Fertilisation
Paare erlebt, bei denen ein sehr hohes, genetisch beding- notwendig ist und keine Frau eine solche leichtfertig
tes Erkrankungsrisiko für zukünftige Kinder bestand. über sich ergehen lässt.
Nicht selten hatten diese Paare bereits schwer erkrankte Ich bin der Meinung, dass sich die PID auch zukünf-
Kinder, oder sie mussten den Tod ihrer betroffenen Kin- tig begrenzen und kontrollieren lässt. Natürlich sind
der erleben, und das war häufig im Schulalter der Fall. zahlreiche wissenschaftlich-technische Entwicklungen
Die Eltern haben über lange Zeit das Leiden ihrer Kinder und auch die PID zu missbrauchen. Ein möglicher Miss-
mit durchlitten. Diese Eltern befanden sich immer dann brauch rechtfertigt aber ihr kategorisches Verbot nicht.
in einer außerordentlich belastenden Konfliktsituation, Vielmehr ist einem eventuellen Missbrauch der PID
wenn sie sich mit dem Gedanken trugen, doch noch ein durch den Gesetzgeber Einhalt zu gebieten. Wir tun das
Kind haben zu wollen. Sollten sie sich auf eine erneute dadurch, dass wir die PID in Deutschland nur in lizen-
Schwangerschaft einlassen mit der Gefahr, dass die Mut- zierten Zentren und nach umfassender Aufklärung und
ter erneut ein Kind zur Welt bringt, das schwer erkran- psychosozialer Beratung in eng indizierten Fällen zulas-
ken wird, oder sollten sie auf eine Schwangerschaft ganz sen wollen. Die PID kann sich damit – im Gegensatz zur
verzichten? Eine andere Möglichkeit bestand damals schon erlaubten und ethisch tolerierten Pränataldiagnos-
nicht. tik – nicht zu einem Standardverfahren der vorgeburtli-
1989 wurde im Ausland erstmals eine PID durchge- chen Diagnostik entwickeln, wie es manche befürchten.
führt. Viele Länder haben die PID danach zugelassen. In (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
Deutschland wurde sie als mit dem Embryonenschutzge- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
setz nicht vereinbar angesehen. Nun hat der Bundesge- GRÜNEN)
richtshof in zwei konkreten Fällen anders entschieden
und damit die Diskussion über die PID befördert. Viele
Menschen erhoffen sich jetzt vom Bundestag, also von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
uns, eine rechtliche Regelung, die ihre belastende Situa- Damit schließe ich die Aussprache.
tion verbessert.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Die derzeitige Situation bedeutet für Paare mit einem auf Drucksachen 17/5450, 17/5452 und 17/5451 an die
schwerwiegenden genetischen Risiko, die sich dennoch in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
für eine Schwangerschaft entscheiden, Folgendes: Die schlagen. Damit sind Sie einverstanden? – Dann ist das
werdende Mutter unterzieht sich der inzwischen übli- so beschlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11973
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf: sen, nicht mehr nur eine Frage der Technik im Hinblick (C)
auf Fahrweg und Fahrzeug oder einfach nur eine Frage
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gustav
von Grenzwerten, sondern auch eine existenzielle Frage
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer
der Lebensqualität und der Gesundheit. Die rheinland-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
pfälzische Messstation im Mittelrheintal, in Oberwesel,
Für einen neuen Infrastrukturkonsens – hat für September 2010 folgende Werte ermittelt: über
Schutz der Menschen vor Straßen- und Schie- 50 Fahrten von Güterzügen in der Nacht, ein Mittelungs-
nenlärm nachdrücklich verbessern pegel von 75 Dezibel (A) und in der Spitze ein Pegel von
über 103 Dezibel (A). Ich habe mir die Lärmkartierung
– Drucksache 17/5461 –
des EBA ausgedruckt.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) (Der Redner hält ein Schaubild hoch)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss Wie Sie wissen, habe ich die Farbe Rot sehr gern. Aber
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in diesem Falle bedeutet sie für die Menschen wirklich
Ausschuss für Gesundheit eine Riesenbelastung. Sie werden jede Nacht durch
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Lärm und Erschütterungen gestört.

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu ein- (Beifall bei der SPD)
einviertel Stunden zu debattieren. – Dazu sehe und höre Ich komme auf den Begriff „Infrastrukturkonsens“
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zurück. Was heißt es denn, wenn die Menschen sagen:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gustav Herzog für „Wir sind zwar für die Schiene, wir wollen auch Auto
die SDP-Fraktion. fahren; aber wir wollen keine Trasse, sondern ein Nacht-
fahrverbot“? Es stellt sich die Frage: Wie schaffen wir
hier einen neuen Konsens, der notwendig ist, weil wir in
Gustav Herzog (SPD):
unserer arbeitsteiligen Industriegesellschaft in hohem
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Maße darauf angewiesen sind, dass Personen und Güter
Ich bringe für die SPD-Fraktion den Antrag „Für einen transportiert werden, dass Energie- und Datenströme
neuen Infrastrukturkonsens – Schutz der Menschen vor fließen? Dabei macht uns insbesondere der Güterverkehr
Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern“ Sorgen.
ein. Ich glaube, es wäre gut – ohne das jetzt als Kritik
anzubringen –, wenn an der Anzeigetafel auch der erste Gegenüber Prognosen bin ich sehr skeptisch. Dies gilt
Teil des Titels unseres Antrags stehen würde. Ich glaube insbesondere im Hinblick auf die Verflechtungsprognose
(B) nämlich, der Infrastrukturkonsens ist die viel tiefer ge- 2025, weil sie davon ausgeht: Der Energiepreis wird sich (D)
hende Frage, die wir in diesem Zusammenhang beraten nicht erhöhen. Wir werden in den nächsten 15 Jahren
müssen. alle Projekte des vordringlichen Bedarfs realisieren. –
Das sind eher Spekulationen als Prognosen.
Ich will, auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sa-
gen: Wir haben uns in den letzten Sitzungswochen schon Trotzdem: Sollen wir vor die Menschen im Mittel-
öfter mit dem Thema Verkehrslärm beschäftigt; ich darf rheintal und in anderen hochbelasteten Brennpunkten
nur an die Debatte in der letzten Sitzungswoche zum treten und ihnen sagen: „Das, was ihr heute erleiden
Mittelrheintal erinnern. Dieses Thema hat bei uns also müsst, ist nur ein Teil dessen, was in den nächsten Jahren
einen hohen Stellenwert. Dass meine Fraktion diesen auf euch zukommt“? Ich glaube, dies macht deutlich,
Antrag in der Kernzeit einbringt, mit über einer Stunde wie wichtig es ist, dass wir einen neuen Konsens für die
Debattenzeit, zeigt, wie ich glaube, auch, welch hohen Planung, den Bau und den Betrieb von Infrastruktur her-
Stellenwert dieses Thema bei uns, der SPD-Fraktion, beiführen.
hat.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich erlebe in
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich mehr mit meinem Wahlkreis, dass die Leute selbst bei kleinen
diesem Thema beschäftigt und sich die Zahlen anschaut, Bauvorhaben wie dem Bau einer Biogasanlage anfan-
wie groß die empfundene Belastung durch Verkehrslärm gen, zu berechnen, wie viele zusätzliche Traktoren im
für die Menschen ist, der wird feststellen: Dies ist ein Fall der Realisierung des Vorhabens durch die Gemeinde
flächendeckendes Thema mit großen Schwerpunkten. fahren würden, mit dem Ergebnis, dass sie eine Anlage,
Über 20 Prozent der Menschen fühlen sich durch Schie- die eigentlich alle wollen, aus diesem Grund ablehnen.
nenlärm erheblich beeinträchtigt. Das UBA nennt die Wir erleben ein ähnliches Phänomen auch im Rheintal.
Zahl von über 13 Millionen Menschen, die sich insbe- Die Menschen dort sind für den Gütertransport. Aber sie
sondere im städtischen Bereich durch Straßenlärm be- wollen ihn nicht in der Form, in der wir ihn in den letz-
einträchtigt fühlen. Allein 12 Milliarden Euro sollen ten Jahrzehnten organisiert haben. Ich glaube, unsere
durch den Straßenlärm an gesellschaftlichen, insbeson- Herausforderung besteht darin, neue Konzepte, einen
dere gesundheitlichen Schäden entstehen. Das ist also neuen Konsens bei der Infrastruktur zu organisieren.
ein Thema ersten Ranges.
Wir sollten auch einmal daran denken, welche Kosten
Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Frage es verursacht, wenn wir in diesem Bereich nicht voran-
der Mobilität und der Belastungen, die daraus erwach- kommen. Wir müssen die Beteiligungsrechte der Men-
11974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Gustav Herzog
(A) schen verbessern; denn es wird nicht – wie aus den Rei- kommt immer wieder vor, dass Sie die Abschaffung (C)
hen der Koalitionsfraktionen zu hören ist – reichen, schrittweise einführen wollen. Auch in der Ausschussbe-
Beschleunigungsgesetze zu machen und pro forma die ratung ist gesagt worden, dass es insbesondere um finan-
Bürgerbeteiligung auszuweiten. Wir müssen die Men- zielle Gründe geht.
schen im wahrsten Sinne des Wortes bei der Absicht, der
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Wir wollen
Planung, dem Bau und dem Betrieb mitnehmen. Nur
ihn abschaffen!)
dann haben wir eine Chance, dass es nicht zu Aufstän-
den in diesem Land kommt. Überlegen Sie einmal, was es heißt, wenn wir eine
Strecke planen, sie in verschiedene Abschnitte einteilen
(Beifall bei der SPD)
und Sie dann den Schienenbonus schrittweise abschaf-
Dabei haben wir schon viel geleistet. Ich blicke so- fen. Wir haben dann drei oder vier verschiedene Werte.
wohl auf die rot-grüne Regierung als auch auf das zu- Wie wollen Sie das den Menschen vermitteln? Deswe-
rück, was wir in der Großen Koalition gemacht haben. gen nehmen Sie einmal ein bisschen Mut und Kraft zu-
Ich blicke aber auch auf das zurück, was Sie im letzten sammen und sagen Sie: Wir setzen ein Datum und schaf-
Jahr geleistet haben, und zitiere aus dem Investitionsbe- fen ihn auf einmal ab. Ich glaube, das wäre das richtige
richt der Bundesregierung: Im Lärmschutz bei den Bun- Signal, das wir gemeinsam zu den Menschen senden
desfernstraßen sind im Jahr 2009 133 Millionen Euro könnten.
auf dem Gebiet der Vorsorge und 43 Millionen Euro bei
(Beifall bei der SPD)
der Sanierung verbaut worden. – Bei den Schienenwe-
gen haben wir 1999, um es einmal deutlich zu sagen, mit Es wäre sicherlich hilfreich für die ganze Debatte,
der Lärmsanierung angefangen. Davon betroffen waren wenn Sie – vielleicht können Sie das auch schon in die-
550 Ortsdurchfahrten, 800 Kilometer Streckenlänge, 280 Ki- ser Aussprache leisten – jetzt präzisieren würden, wann
lometer Schallschutzwände und über 40 000 Wohnun- denn endlich der lärmabhängige Trassenpreis kommt.
gen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Im nächsten Jahr!)
Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, empfinden die
Nach der Antwort des Staatssekretärs Scheuer in der
Menschen immer noch: Es ist mehr geworden, es ist
letzten Fragestunde und nach Informationen der DB
schlimmer geworden. All das viele Geld – ich bemerke
Netz wird er für 2012 der Bundesnetzagentur vorgelegt.
das nur am Rande –, das in hohem Maße in Planung und
Herr Minister, vielleicht sagen Sie Ihren Kolleginnen
nicht in wirksamen Lärmschutz geflossen ist, hat wohl
und Kollegen in der Koalition einmal ein festes Datum.
nicht gereicht. Deswegen müssen wir verstärkt und en-
Sie können sich dann hier hinstellen und sagen: Wir ga-
gagiert da herangehen. Mich würde deswegen zum Bei-
rantieren, dass es zu diesem bestimmten Zeitpunkt kom-
(B) spiel, Herr Bundesminister, auch interessieren, wann Sie (D)
men wird. Ich glaube, das wäre ein gutes Signal für die
die Aktualisierung der Gesamtkonzeption zur Lärmsa-
Menschen. Geben Sie sich einen Ruck! Helfen Sie mit,
nierung an bestehenden Schienenwegen vorlegen wol-
dass unsere Botschaft für die Mobilität der Zukunft
len. So haben Sie es im Investitionsbericht geschrieben.
heißt: So leise wie möglich und maximal so laut, wie wir
Wird diese neue Gesamtkonzeption dieses Jahr kom-
es erlauben.
men? Können wir damit zu den Menschen an den Schie-
nenwegen gehen? Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich glaube, es gibt eine Reihe von weiteren Punkten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wo wir gemeinsam anpacken können, beispielsweise bei DIE GRÜNEN)
der Lärmwirkungsforschung, die uns das Handwerks-
zeug geliefert hat, den Schienenbonus abzuschaffen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Und es gibt eine Reihe von technischen Fortschritten, Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Ludwig für
die wir umsetzen müssen. die CDU/CSU-Fraktion.
In der letzten Sitzungswoche hatte ich die gute Gele- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas
genheit, bei der Havelländischen Eisenbahn zu erleben, Jarzombek [CDU/CSU]: Bravo!)
wie eine richtig große, schwere Lokomotive, die bei der
Anschaffung etwa 2 bis 3,5 Millionen Euro kostet, für
Daniela Ludwig (CDU/CSU):
ganze 40 000 Euro von einer lauten, dröhnenden Ma-
schine zu einer leisen Lokomotive umgebaut wurde, die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
die neuesten europäischen Lärmanforderungen erfüllt. Ich denke, wir sind uns in einem in diesem Haus einig:
Solche Dinge müssen wir mit Nachdruck verfolgen und Mobilität ist uns allen wichtig und gehört untrennbar zu
den Betreibern mit auf den Weg geben. Da reicht es unser aller alltäglichem Leben, sowohl privat wie auch
nicht, wenn Staatssekretär Scheurle mit dem LL-Zug bei der Arbeit. Sie umfasst sowohl die Fortbewegung zu
durch die Republik unterwegs ist und die Leute auf 2012 Fuß und per Rad – hier müssen wir uns über Lärm jetzt
und später vertröstet. Das muss alles viel früher passie- nicht allzu viele Gedanken machen – als auch natürlich
ren. den Schiffsverkehr genauso wie das Auto, die Bahn, von
der Sie jetzt hauptsächlich gesprochen haben, und das
(Beifall bei der SPD) Flugzeug.
Ich will noch einmal das Thema Schienenbonus an- Für dieses allzu natürliche Bedürfnis der Menschen
sprechen; denn in allem, was Sie bisher gesagt haben, brauchen wir eine Infrastruktur, die es vorzuhalten gilt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11975
Daniela Ludwig
(A) Dieser Vorhalt wird von uns auch berechtigterweise er- Wünsche kann man gut aufschreiben, Ihr Papier und (C)
wartet. Es gilt, diese Infrastruktur da, wo es notwendig Ihr Antrag sind auch geduldig, finanziert werden muss
ist, auszubauen, zu verbessern oder eben auch neu zu er- das aber halt auch. Hier befinden wir uns sicherlich an
stellen. Dies alles muss immer unter der Prämisse ge- einem sensiblen Punkt, zu dem ich später noch komme.
schehen, dass dabei auch andere wichtige Aspekte be-
rücksichtigt werden. Der Schutz der Umwelt ist dabei Konkret zum Lärmschutz an der Schiene. Wir kennen
nur ein Thema; es geht eben auch um den Lärm und den das alle: Aus einem freiwilligen Programm des Bundes
Schutz vor Lärm, was wir heute debattieren. stehen jährlich 100 Millionen Euro für die Lärmsanie-
rung zur Verfügung. Diese Mittel wollen wir zumindest
Auch das hat natürlich mit der Gesundheit des Men- konstant halten. Darauf haben wir uns im Koalitionsver-
schen zu tun. Herr Kollege, Sie haben durchaus richtig trag verständigt.
ausgeführt, wie subjektiv Lärm empfunden wird und
welche gesundheitlichen Auswirkungen er unbestritten Im Rahmen des Konjunkturpakets II wurden weitere
hat. Ich glaube, in diesem Haus herrscht auch kein Dis- innovative Maßnahmen auf den Weg gebracht, um
sens darüber. Wir müssen eben versuchen, bei jedem Lärmreduzierung zu erproben und neue Wege zu be-
Projekt immer wieder von neuem die Notwendigkeit der schreiten. Hierfür stehen ebenfalls 100 Millionen Euro
Mobilität und der Erschließung all unserer Regionen mit zusätzlich zur Verfügung.
dem Schutz vor Lärm zusammenbringen.
Die neuen Techniken sollen unser Maßnahmenportfo-
Natürlich ist klar: Je höher der Lärmschutz, je höher- lio zum Lärmschutz erweitern. Hierfür sind bundesweit
wertiger und besser er ist, umso stärker ist die Akzeptanz 91 Einzelmaßnahmen verortet worden.
für die Sanierung alter oder bestehender Projekte und
umso stärker ist auch die Akzeptanz für neue Projekte. Die Nutzung innovativer Techniken und die Einfüh-
Ich kann Ihnen eines sagen – das haben Sie schon er- rung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems als wei-
wähnt –: Hier ist in der Großen Koalition einiges voran- tere Mittel zur Lärmreduzierung wurden bereits erwähnt.
gegangen, und ich glaube, wir haben auch im Ausschuss Wir wollen damit den Wagenhaltern den Anreiz bieten,
durchaus überzeugend darüber gesprochen, dass auch ihre Bestandsgüterwagen möglichst schnell auf lärm-
von der jetzigen Bundesregierung bei diesem Thema ei- mindernde Beläge umzurüsten. Wir setzen auch weiter-
niges getan wird. hin auf unser Pilot- und Innovationsprogramm „Leiser
Güterverkehr“. Ich glaube, hier geht einiges. Wir müssen
Ich verstehe natürlich, dass man immer noch sehr viel uns auch auf europäischer Ebene – denn Verkehr ist im-
mehr fordern kann und dass man sich immer noch sehr mer international – für die entsprechenden analogen
viel mehr wünschen kann. Wir haben uns nun vorerst Maßnahmen einsetzen. Aber wir gehen mit gutem Bei-
einmal zum Ziel gesetzt, das Nationale Verkehrslärm- spiel voran.
(B) schutzpaket II weiterzuführen, das auf dem Nationalen (D)
Verkehrslärmschutzpaket aus dem Jahr 2007 aufbaut. Sie fordern in Ihrem Antrag völlig zu Recht die Ab-
Darin werden laufende und neue Maßnahmen zur Ver- schaffung des Schienenbonus. Darin sind wir uns einig.
meidung von und zum Schutz vor Verkehrslärm gebün- Selbstverständlich wollen auch wir die Abschaffung des
delt und weitere Maßnahmen aus unserem Koalitions- Schienenbonus; denn Schienenlärm ist nicht besser als
vertrag mit unserem Partner aufgeführt. Es geht hier zum anderer Lärm und rechtfertigt deswegen keine andere
Beispiel um die lärmabhängigen Trassenpreise – das ist und privilegiertere Behandlung. Wir sagen aber: Das
ein ganz, ganz wichtiges Thema bei der Bahn – genauso muss wohlüberlegt sein. Eine Abschaffung von heute
wie um die Revision der entsprechenden dazugehörigen auf morgen ist nach unserer Einschätzung nicht möglich.
EU-Richtlinie für ein solches Trassenpreissystem. Wir müssen darauf achten, in welchem Projektstadium
Dieses Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthält wir den Schnitt machen. Wir müssen uns auch fragen,
erstmals auch quantitative Lärmminderungsziele und wie sich das auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei künf-
nicht nur hehre Ankündigungen. So soll die Belästigung tigen Projekten auswirkt. Das will wohlüberlegt und gut
durch Verkehrslärm bezogen auf Lärmbrennpunkte in durchgerechnet sein.
besiedelten Bereichen bis 2020 im Vergleich zu 2008 (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wie lange brauchen
deutlich abnehmen. Hierbei hat man sich sehr hohe Ziele Sie dafür?)
gesetzt: Beim Lärm im Flugverkehr, der bei Ihnen an-
scheinend gar nicht vorkommt – Wenn wir hier einen Schnellschuss machen, lieber
Herr Beckmeyer, nutzt das weder den Bürgern, die von
(Gustav Herzog [SPD]: Was?) Lärm geplagt sind, noch uns, wenn wir darauf setzen,
– das finde ich in Ihrem Antrag nirgends –, wollen wir immer mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern.
eine Reduzierung um 20 Prozent, im Straßenverkehr und Hier müssen wir glaubwürdig bleiben – deswegen an
in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent und im Schie- dieser Stelle keine ruckartigen Schnellschüsse, sondern
nenverkehr um 50 Prozent. wohlüberlegtes Vorgehen.
Die Umsetzung genau dieser Ziele befindet sich auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einem exzellenten Weg. Ich bedanke mich hier aus- neten der FDP)
drücklich bei unserem Haus, bei unserem Verkehrs-
Beim Straßenlärm gelingt uns derzeit Ähnliches. Mir
minister und beim Koalitionspartner. Ich glaube, wir zie-
ist es sehr wichtig, dass wir auch auf diese Lärmquelle
hen hier sehr erfolgreich an einem Strang.
eingehen. Es gibt schließlich nicht nur die Schiene als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lärmerzeuger, sondern auch die Straße.
11976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Daniela Ludwig
(A) Die Bundesregierung hat die Mittel für die Lärmsa- (Gustav Herzog [SPD]: Sie haben 1 Milliarde (C)
nierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen verdoppelt Euro für die Hoteliers zum Fenster hinausge-
und somit eine Steigerung der Ausgaben im Jahr 2010 worfen!)
auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Ich denke, das
ist ein richtiger Weg. Zur Finanzierung Ihrer wunderbaren Wünsche und Vor-
schläge schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts, aber auch
gar nichts. Sie machen keinerlei Vorschläge zur alterna-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tiven Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur. Sie halten
Frau Ludwig, der Kollege Hartmann hat sich zu einer schöne Sonntagsreden darüber, dass wir die Menschen
Zwischenfrage gemeldet. vor Lärm schützen wollen. Das ist eine Selbstverständ-
lichkeit.
Daniela Ludwig (CDU/CSU): (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Ich würde gerne weitermachen. – Wir greifen dabei in Dann machen Sie doch etwas! Sie sind doch in
der Regel auf aktive und passive Lärmschutzmaßnah- der Regierung!)
men zurück. Sie kennen das alles. Es funktioniert in der Dafür muss ich keinen fünfseitigen Forderungskatalog
Praxis durchaus gut. aufstellen. Es ist selbstverständlich, dass die Menschen
vor Lärm geschützt werden sollen. Ich muss aber die
Für einen ausgesprochen wichtigen Schritt – darauf Frage beantworten, wie das zu finanzieren ist.
können wir ein Stück weit stolz sein – halte ich, dass wir
die sogenannten Auslösewerte für die Lärmsanierung im (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das Netz finanziert
letzten Jahr um 3 dB(A) gesenkt haben. Das wirkt sich sich selber!)
bei jedem direkt persönlich aus, der an einer Bundes-
straße wohnt. Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf, bei Ih-
nen offensichtlich auch die guten Ideen. Das finde ich
(Gustav Herzog [SPD]: Aber nur, wenn Sie in- brutal schwach.
vestieren! Bislang ist es nur Papier!) (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
– Bislang ist es nur Papier? Das gilt eher für Ihren An- Sie sind doch in der Regierung! Warum ma-
trag als für unser Handeln. Aber ich komme noch darauf chen Sie es nicht?)
zu sprechen, keine Sorge. – Die Absenkung um 3 dB(A) – Sie waren es auch schon lange genug.
merkt jeder, der an einer Straße wohnt, direkt und
höchstpersönlich. Wer sich als verantwortungsvolle Oppositionspartei
(B) begreift, macht sich nicht so leicht vom Acker, indem er (D)
Auf den öffentlichen Personennahverkehr und Ähnli- nur gute Wünsche und schöne Worte äußert;
ches will ich nicht weiter eingehen. Das geht auch Ihrem
Antrag leider ein Stück weit ab. Wir sind bereit, mit dem (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Bundesverkehrsministerium neue Wege zu gehen, insbe- Wir haben damals 100 Millionen Euro einge-
sondere was den Einsatz von Photovoltaik in Kombina- setzt!)
tion mit Lärmschutzanlagen an Bundesstraßen angeht. er stellt sich vielmehr seiner politischen Verantwortung
Hier bringen wir zwei hehre Ziele zusammen: Ökologie und beantwortet die Frage nach der Finanzierbarkeit
und die Gesundheit der Menschen mit dem Schutz vor gleich mit.
Lärm.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Jetzt komme ich zu den Punkten, die mich an Ihrem neten der FDP)
Antrag stören. Sie haben gerade gesagt, das alles sei bis-
lang nur Papier. Das gilt, wie gesagt, überwiegend für Wenn Sie sie nicht beantworten können, was ich aus Ih-
Ihren Antrag. Fluglärm kommt bei Ihnen nicht. rem Antrag schließe, dann – das tut mir leid für Sie – ist
der Antrag nicht das Papier wert, auf dem er steht.
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Vielen Dank.
Wer will denn das Nachtflugverbot fallen las-
sen? Was machen Sie denn gegen Fluglärm?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die SPD sieht also nur Schutz gegen Straßenlärm und
Schienenlärm vor. Fluglärm kommt nicht vor. Wie ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
stalten Sie denn in diesem Punkt Ihren sogenannten Der Kollege Herbert Behrens erhält das Wort für die
neuen Infrastrukturkonsens aus? Diese Frage müssen Sie Fraktion Die Linke.
erst einmal beantworten, wenn Sie einen Antrag vorle- (Beifall bei der LINKEN)
gen.
Des Weiteren: Papier ist geduldig. Sie können wün- Herbert Behrens (DIE LINKE):
schen, fordern, anprangern und dieses oder jedes wollen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Es gibt aber auch die Frage der Finanzierbarkeit. Die hat Lärm nervt uns, Lärm stört, Lärm macht aber auch
die Sozialdemokraten bisher immer am allerwenigsten krank. Das wissen wir. Wir müssen alles tun, damit das
interessiert. vermieden wird, wo immer es geht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11977
Herbert Behrens
(A) Die SPD-Fraktion fordert einen neuen Infrastruktur- Bürgerideen kosten Geld. Die Kommunen sind ge- (C)
konsens, damit die Lärmbelästigung sinkt. Das ist ein fragt, wenn sie die Baulast haben und für die Finanzie-
gutes Unterfangen. Aber gleich vorne im Antrag kapitu- rung zuständig sind. Aber ihnen sind die Hände gebun-
liert sie schon ein Stück: „In den nächsten Jahren werden den, wenn Schuldenbremse und Finanznot um sich
die Verkehre in Deutschland massiv zunehmen“, heißt es greifen. So werden viele gute Vorschläge vom Tisch ge-
gleich zu Beginn. Wenn wir das so akzeptieren, dann ha- fegt. Fest steht: Zukunftsinvestitionen lassen sich nicht
ben wir, wie ich meine, schon verloren. aus laufenden Einnahmen finanzieren; für sie braucht
man einen besonderen Topf. Bürgerideen können dann
(Beifall bei der LINKEN) nicht umgesetzt werden, wenn die Schuldenbremse
Wir kommen doch wohl nur weiter, wenn wir auch das droht. Was würde passieren, wenn Bürgerideen nicht
Verkehrswachstum infrage stellen. Das gehört in einen mehr nachgefragt werden? Dann melden sich die Bürger
solchen Antrag hinein. Lastwagen dürfen nicht mehr die nicht mehr zu Wort; denn sie wissen: Solange kein Geld
rollenden Lager der großen Industrie sein; der Klima- da ist, um ihre Pläne zu verwirklichen, laufen sie vor die
wandel muss der Maßstab für unsere Verkehrspolitik Finanzwand, die aufgestellt worden ist. Es beschädigt
werden. die Demokratie, wenn wir Bürgerinnen und Bürger vor
diese Wand laufen lassen. Das können wir nicht zulas-
(Beifall bei der LINKEN – Thomas Jarzombek sen.
[CDU/CSU]: Jetzt kommen endlich die Paro-
(Beifall bei der LINKEN)
len!)
Wo liegt die Verantwortung auf der Bundesebene?
Ja, das wird sicherlich manchem wehtun. Das wissen Die Linke fordert: Vorrang für die Bahn! Dieser Vorrang
wir. Aber ich bleibe dabei: Lärmvermeidung ist Ver- wird aber nur akzeptiert, wenn der zusätzliche Verkehr
kehrsvermeidung. Für mich muss das der Grundgedanke nicht zu zusätzlichem Lärm führt. Deshalb brauchen wir
eines Antrags sein, der so weitgehend ist wie der der aus meiner Sicht viel mehr Geld für das Verkehrssystem
SPD. Schiene. Die Trassenpreise für leise Züge müssen güns-
Um das Ziel „Weniger Lärm durch weniger Verkehr“ tiger werden – das wurde schon angesprochen –;
zu erreichen, müssen wir allerdings schon heute handeln. (Werner Simmling [FDP]: Wer zahlt das?)
Das ist klar.
sie müssen günstiger sein als für laute. Die Waggons
(Judith Skudelny [FDP]: Autos abschaffen?) müssen zügig umgerüstet werden. Dazu ist es unter Um-
ständen nötig, ein effektiveres Förderprogramm auf den
Deshalb brauchen wir mehr Geld für den Lärmschutz im
(B) Schienenverkehr. Wir wollen die Einbeziehung der Be- Weg zu bringen, als wir es jetzt haben. (D)
völkerung in die Planung großer Verkehrsinfrastruktur- (Beifall bei der LINKEN – Werner Simmling
projekte. Wir brauchen Beteiligung auch bei der Stadt- [FDP]: Wer bezahlt das wiederum?)
planung. Es gibt viele Maßnahmen, die wir schon heute
umsetzen können. In der Umgebungslärmrichtlinie der Beim Straßenverkehr muss die unsinnige Trennung
Europäischen Union werden beispielsweise Aktions- zwischen dem Lärmschutz bei Neubaustrecken und dem
pläne gegen den Lärm gefordert. Würden wir diese For- bei bestehenden Straßen aufgehoben werden. Heute gel-
derung ernst nehmen und umsetzen, dann könnte Lärm ten für Neubaustrecken höhere Anforderungen als für
schon heute effektiv bekämpft werden, und zwar überall Straßen im Bestand. Das geht nicht.
in Deutschland. Viele Forderungen im SPD-Antrag sind nicht neu. Im
Gegenteil, sie sind uns seit Jahren bekannt.
(Beifall bei der LINKEN)
Für den Erfolg eines neuen Infrastrukturkonsenses
In Darmstadt zum Beispiel gibt es eine Lärmminde- brauchen wir eigentlich einen Konsens bei der Finanzie-
rungsplanung und eine Lärmaktionsplanung für den Be- rung. Verantwortlich dafür ist die Bundesregierung –
zirk einschließlich der Ballungsräume Frankfurt und ohne Wenn und Aber.
Wiesbaden. Bei der Erarbeitung der Planungen war die
Bevölkerung maßgeblich beteiligt. Sie arbeitete an den (Beifall bei der LINKEN)
Lärmkarten mit und machte viele Vorschläge, wie der Aber das wird nur schwer erreichbar sein, solange bei-
Lärm in ihrer Stadt vermieden werden kann. Viele Vor- spielsweise die FDP alles der Regulierung des freien
schläge von dieser Seite sind nicht grundlegend neu: Es Marktes überlassen will. Das geht so nicht.
geht um Tempolimit, um Verkehrsverlagerung, um
Nachtfahrtverbot für Lkws oder Durchfahrtsverbote. (Patrick Döring [FDP]: Der Schienenmarkt ist
Aber die Bevölkerung will wirksame Maßnahmen, die ein regulierter Markt!)
ihr Lärm und Dreck vom Halse halten. Es werden auch
viele Vorschläge gemacht, wie man das mit baulichen Die CDU widerspricht an der Stelle auch nicht laut und
Maßnahmen erreichen kann. Bürgerinnen und Bürger eindeutig.
wissen am besten, was bei ihnen um die Ecke los ist, wo Die Linke dagegen sagt: Verkehr vermeiden, ein-
es Handlungsbedarf gibt und wo etwas verändert werden schränken, umlenken. Wir brauchen mehr Geld für den
muss. Das müssen wir ernst nehmen. sozial-ökologischen Umbau des Verkehrssystems.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
11978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Herbert Behrens
(A) Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, und nicht herausnehmen und dadurch eine wirksame Lärmreduzie- (C)
die Interessen derjenigen, die auf Teufel komm raus die rung erreichen.
Gewinne einstreichen wollen. Das wird Streit geben. Wir
werden wie immer Widerstand von denen erfahren, die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
den Nutzen für sich haben und die Belastung auf die Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Koaliti-
sellschaft abwälzen wollen. Das wissen wir doch alle. So onsvertrag haben wir uns darauf verständigt, den Lärm-
stehen wir auf jeden Fall immer eng an der Seite von schutz zu verbessern und auszuweiten. Diese Absicht ist
Bürgerinitiativen, die mit ihren Kenntnissen und ihrem auch von der Erkenntnis geleitet, dass die Akzeptanz für
Know-how in die Planung eingreifen wollen und am einen weiteren und notwendigen Ausbau der Verkehrs-
besten wissen, wie man Lärm in der Zukunft vermeiden infrastruktur zur Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse
kann. entscheidend davon abhängt. Wir haben die entsprechen-
Vielen Dank. den Maßnahmen im Koalitionsvertrag festgelegt, die Sie
alle kennen und die ich jetzt nicht zu wiederholen brau-
(Beifall bei der LINKEN) che.
Zum Stichwort Schienenlärm bzw. Schienenbonus:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir sind in den vergangenen Wochen in dieser Frage ei-
Werner Simmling hat das Wort für die FDP-Fraktion. nen entscheidenden Schritt weitergekommen. So haben
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir am 18. März 2011 in unserem Antrag zum anwoh-
der CDU/CSU) nerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn die Bundes-
regierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetz-
Werner Simmling (FDP): entwurf zur Abschaffung des Schienenbonus zügig
vorzulegen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Behrens, bei allem Respekt: Mit den Verboten, die Sie der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Und
hier genannt haben, lösen wir das Problem sicher nicht. wann kommt er?)
Dafür ist es einfach zu ernst.
Das BMVBS hat die Prüfung und Überarbeitung der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rechtlichen Regelungen zum Schienenbonus auf Arbeits-
der CDU/CSU) ebene bereits aufgenommen.
„Herzinfarkt durch Verkehrsinfarkt“ – zu diesem (Uwe Beckmeyer [SPD]: Die nehmen Sie
(B) Schluss kommt Auto Bild in einem Artikel, in dem aus doch gar nicht ernst! – Florian Pronold [SPD]: (D)
einer aktuellen Studie der WHO zum Verkehrslärm zi- Wann sind Sie so weit? 2015, 2016?)
tiert wird. Daran sehen Sie den Ernst des Themas. Ver-
kehrslärm ist nämlich rechnerisch für 50 000 Herz- Eine Reduzierung des Schienenbonus setzt aber auch vo-
infarkte in Europa verantwortlich. Das ist in der Tat raus, dass die Verkehrslärmschutzverordnung geändert
alarmierend. Es muss unser aller Ziel sein, den Verkehrs- wird; und diese Änderung ist im Bundesrat zustim-
infarkt und damit den Herzinfarkt zu verhindern. Dies mungspflichtig.
erreichen wir nur mit dem gezielten Ausbau der Ver-
(Patrick Döring [FDP]: Mal sehen, wie die
kehrsinfrastruktur, und nicht mit einer Infragestellung,
SPD-Länder sich verhalten!)
wie Sie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, in Ihrem Antrag formulieren. Ebenso haben wir die Einführung lärmabhängiger
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Trassenpreise beschlossen.
der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Dann (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und?)
haben Sie etwas anderes gelesen!)
Damit sind wichtige Punkte zum Schutz vor Schienen-
Es ist doch in Wirklichkeit so, dass wir durch eine in- lärm, die Sie in Ihrem Antrag fordern, bereits beschlos-
telligente Verkehrsinfrastruktur Verkehrslärm vermin- sen.
dern. Nehmen Sie doch zum Beispiel Ortsumfahrungen:
Gerade der Bau von Ortsumgehungsstraßen schafft eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Entlastung von Verkehrslärm, von Abgasemissionen und der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Aber
von Verkehrsunfällen. noch lange nicht umgesetzt! Bei dieser Regie-
rung! – Gegenruf des Abg. Patrick Döring
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [FDP]: Ihr habt aber auch keinen Gesetzent-
NEN]: Der verschiebt ihn nur!) wurf gemacht!)
– Nein. – Ortsumgehungen machen viele Ortschaften
– Herr Herzog, eins nach dem anderen.
erst wieder bewohnbar.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dürfen aber auch nicht vergessen, dass Schienenlärm-
Das Gleiche gilt für die Schiene. Hier ist exempla- schutz nicht zum Nulltarif zu bekommen ist; das wurde
risch die Rheintalbahn zu nennen. Wir wollen die Güter- schon ausgeführt. Die Erfolge werden sich auch nicht
verkehrstrassen weitestgehend aus den Ortschaften von heute auf morgen einstellen. Besonders deutlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11979
Werner Simmling
(A) wird dies bei der Umrüstung der Güterwagen. Hier ist in feil. Es gibt eine ganz einfache Maßnahme, wie man aus (C)
der EU von bis zu 600 000 Wagen die Rede. den Anträgen der Opposition Handeln entstehen lassen
kann: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! In diesem Fall
Stichwort Straßenlärm: Bezüglich Straßenverkehrs-
würde gelten – der vorliegende Antrag ist auch unserer
lärm zitieren Sie im Wesentlichen aus dem Nationalen
Meinung nach wirklich gut –: Stimmen Sie dem Antrag
Verkehrslärmschutzpaket II. Wie Sie wissen, hat der Par-
der SPD zu!
lamentarische Staatssekretär Ferlemann bereits im Ja-
nuar im Ausschuss über den Stand der Umsetzung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
NVLP II informiert. Viele Ihrer Forderungen sind also bei der SPD und der LINKEN)
schon Bestandteil des Regierungshandelns oder bereits
umgesetzt. Tun Sie dies, und schon wird aus diesem Antrag, der im
Moment selbstverständlich nicht viel mehr als Papier ist,
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das Regierungshandeln.
haben die nur noch nicht gemerkt!)
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Große Teile
Herausgreifen möchte ich dabei die Mittel für Lärm- sind beschlossen worden!)
sanierungsmaßnahmen an Bundesfernstraßen; auch dar-
auf wurde vorhin schon hingewiesen. Die Verdoppelung Wenn Sie zustimmen, muss die Regierung nur noch die
des Mittelansatzes für Lärmsanierungsmaßnahmen an vom Bundestag beschlossenen Anträge umsetzen.
Bundesfernstraßen hat eine Steigerung der Ausgaben im (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir
Jahr 2010 auf über 40 Millionen Euro ermöglicht. Durch sind dem Wohl des Landes verpflichtet!)
den Vorrang von aktiven gegenüber passiven Schutz-
maßnahmen und die Senkung der Auslösewerte für die Zu den Anmerkungen von Herrn Simmling, dass mit
Lärmsanierung um 3 dB(A) im Jahr 2010 werden Bürge- dem Verkehrsinfarkt Herzinfarkte einhergehen: Selbst-
rinnen und Bürger besser als bisher vor Lärm geschützt. verständlich ist Verkehrslärm eine große gesundheitliche
Gefahr. Aber diese gesundheitliche Gefahr tritt im Stra-
Zum Schluss holen Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
ßenverkehr nicht nur auf, wenn Stau ist, sondern insbe-
gen von der SPD, noch eine alte Kamelle, nämlich die
sondere auch dann, wenn mit hohen Geschwindigkeiten
Forderung, Tempo-30-Zonen einzurichten, wieder aus
gefahren wird. Sie haben da also etwas missverstanden.
der Schublade. Da bin ich wirklich sehr enttäuscht; denn
ich hatte von Ihnen eigentlich etwas Intelligenteres er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wartet. Das Tempolimit von 50 km/h in geschlossenen
Ortschaften hat sich bewährt. Es gibt daher keine Not- Es geht beim Schutz der Menschen vor Verkehrslärm
wendigkeit zu einer Änderung. Bereits heute gibt es ge- nicht darum, möglichst viele Autobahnen und Straßen zu
(B) nügend Möglichkeiten zu Ausnahmen und zur Einfüh- bauen, damit möglichst schnell gefahren werden kann, (D)
rung von Tempo-30-Zonen, zum Beispiel an sensiblen sondern darum, diejenigen, die an besonders belasteter
Stellen wie Kindergärten und Krankenhäusern. Der Verkehrsinfrastruktur leben, vor Verkehrslärm zu schüt-
Spielraum für bürgernahe Lösungen ist also schon jetzt zen. Das ist ein großer Unterschied.
vorhanden. Durch intelligente Verkehrsleitsysteme kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nen deutlich größere Verbesserungen für die Verkehrs- bei der SPD und der LINKEN)
sicherheit und die Umwelt erzielt werden als durch ein
Tempolimit von 30 km/h in Ortschaften. Das lehnen wir Warum ist es von großer Bedeutung, dass wir das Pro-
ab. blem des Verkehrslärms in den Griff bekommen? Es ist
einmal von ganz großer Bedeutung für die Gesundheit
Ihr Antrag ist also – ich möchte meine Kollegin Lud- der Betroffenen. Das ist aber nicht nur eine Gesundheits-
wig zitieren – nicht das Papier wert, auf dem er steht. frage, sondern auch – das stellt man fest, wenn man sich
(Gustav Herzog [SPD]: Herr Kollege, das war das in den Städten einmal in aller Ruhe anschaut – eine
aber jetzt böse von Ihnen!) eminent soziale Frage.
Ich danke Ihnen sehr herzlich. (Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wer wohnt denn insbesondere an den Verkehrsinfra-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nichts zu strukturen und ist meist nicht nur von Lärm, sondern
danken!) auch von schlechterer Luft und Feinstaubpartikeln be-
troffen? Selbstverständlich wohnen da die Menschen,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die ein niedrigeres Einkommen haben, die sich vielleicht
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für schlechter in Bürgerinitiativen organisieren können, weil
Bündnis 90/Die Grünen. sie keine Rechtsanwälte in ihren Reihen haben, die es
nicht so gewohnt sind, zu reden und ihre Interessen
durchzusetzen. Deshalb ist es auch eine soziale Frage,
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dafür zu sorgen, dass die negativen Auswirkungen der
NEN): Mobilität begrenzt werden:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Vorwurf vonseiten der Koalitionsfraktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nen gegenüber der Opposition, dass der Antrag das Pa- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
pier nicht wert sei, auf dem er stehe, ist natürlich wohl- KEN)
11980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Anton Hofreiter


(A) Den Nutzen der Mobilität hat unsere gesamte Gesell- führt auch zu erheblichen Kosten für den Gleisunterhalt. (C)
schaft, aber die Lasten sind eindeutig unterschiedlich Das kostet uns Geld, das uns im Bundeshaushalt dann an
verteilt. Die Lasten tragen insbesondere die Menschen, anderer Stelle fehlt. Wenn man da schnell und zügig um-
die an der Verkehrsinfrastruktur leben, und das sind ins- steuern würde, würde das nicht nur den Menschen hel-
besondere ärmere Menschen, Menschen mit niedrigerem fen, sondern mittel- und langfristig im Haushalt erheb-
Einkommen, die sich noch dazu in der Regel schlechter liche Mittel für den Unterhalt des Schienennetzes
wehren können. freisetzen.
Es gibt noch einen weiteren ganz entscheidenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grund dafür, dass wir die Problematik des Ver- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
kehrslärms in den Griff bekommen müssen. Das betrifft KEN)
insbesondere die Schiene. Warum haben wir im Moment
so heftige Auseinandersetzungen über den Schienenver- Diese erheblichen Mittel benötigen wir auch; denn es
kehrslärm? Weil der Schienengüterverkehr eine Renais- muss uns gelingen, den Güterverkehr stärker von der
sance erlebt und eine Rückverlagerung von Verkehren Straße auf die Schiene zu verlagern. Das muss uns nicht
auf die Schiene stattfindet. Das finden wir positiv, das nur aus Umweltschutzgründen gelingen, das muss uns
schätzen wir, das begrüßen wir. Das brauchen wir aus nicht nur aus Klimaschutzgründen gelingen, sondern da-
Klimaschutzgründen, wir brauchen es aber auch, um die ran müssen wir auch ein ureigenes Interesse haben; denn
Chancen unseres Wirtschaftsstandorts in Zukunft zu unser Wohlstand hängt ganz erheblich davon ab, dass
wahren; denn die Schiene ist vom knapper und teurer unsere Verkehrsinfrastruktur zukünftig weiter gut funkti-
werdenden Rohöl viel einfacher unabhängig zu machen oniert. Wir können nicht einfach darauf setzen, dass es
als der Lkw. schon irgendwie klappen wird und irgendjemand eine
Idee entwickelt, wie man die Lkw auf Agrotreibstoffe
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder auch auf Batteriebetrieb – manche träumen ja da-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) von – umstellen kann. All das, sagt die Wissenschaft,
mag beim Pkw, wo man vielleicht 1,5 bis 2 Tonnen be-
Das alles wird für unsere Gesellschaft aber nicht wegen muss, noch funktionieren; beim Lkw mit 40 Ton-
funktionieren, wenn es nicht gelingt, an den bestehenden nen wird das schon weitaus komplizierter. Deshalb ist es
Schienenverkehrstrassen die Lärmbelastung stark zu eminent wichtig für unseren Wohlstand, dass es gelingt,
vermindern. Da reicht es nicht, wenn wir immer nur auf die Schiene für mehr Güterverkehr zu ertüchtigen. Dass
passiven Lärmschutz setzen. Da reicht es nicht, wenn die Schiene zum Rückgrat eines modernen Güterver-
wir immer nur auf höhere Lärmschutzwände setzen. kehrs wird, ist für einen modernen Wirtschaftsstandort
(B) (Patrick Döring [FDP]: Das tun wir auch wie die Bundesrepublik dringend notwendig. (D)
nicht!) Da genügt es nicht, wenn Sie sich das bloß wünschen
Es gibt inzwischen in vielen Kommunen Proteste unter und davon träumen. Wir haben die Bundesregierung ja
dem Motto: Wenn die Wände 7 oder 8 Meter hoch sein schon einmal aufgefordert, das umzusetzen. So kompli-
müssen, dann verzichten wir lieber auf den passiven ziert ist die Abschaffung des Schienenbonus eigentlich
Lärmschutz und hoffen, dass vielleicht die Politik ir- nicht. Die Abschaffung dieser Privilegierung der
gendwann handelt und das Problem an der Quelle be- Schiene ließe sich sehr schnell umsetzen. Es ist auch
kämpft wird. keine große intellektuelle Herausforderung, diesen Bo-
nus zu streichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Patrick Döring [FDP]: Dann mach du doch den
LINKEN) Gesetzentwurf, du Schlauschnacker!)

Was ist dafür notwendig? Dringend notwendig ist die Deswegen: Tun Sie es einfach! Sorgen Sie dafür, dass
Umrüstung der Güterwagen. Das ist natürlich kein ganz die Regierung das umsetzt!
triviales Problem; denn die Güterwagen sind internatio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nal unterwegs; die Güterwagen werden ausgetauscht.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Aber es gibt Ansätze, zum Beispiel den lärmabhängigen
LINKEN)
Trassenpreis, zum Beispiel die Abschaffung des Schie-
nenbonus, zum Beispiel eine Förderung zur Einführung Da Sie gerade schreien, mache ich einmal einen ganz
von lärmärmeren Bremsen. einfachen Vorschlag: Wenn Sie das in den nächsten vier
Wochen nicht hinbekommen haben, dann schreiben wir
Andere Bremsen hätten auch erhebliche Vorteile für
Ihnen einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Schie-
die Infrastruktur. Wie sieht hier nämlich die Situation bei
nenbonus, und Sie stimmen diesem Gesetzentwurf zu.
der Schiene aus? Die Bremssysteme sind unendlich alt.
Sie funktionieren seit bald über 100 Jahren so, dass ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grauklotz auf den Radreifen gedrückt wird, um zu brem- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
sen. Das verursacht nicht nur erheblichen Lärm, sondern KEN)
es zerstört auch die Lauffläche des Rades. Durch kaputte
Laufflächen wird wiederum die Gleisinfrastruktur zer- Abgemacht? – Nein. Jetzt machen Sie wieder einen
stört. Das führt nicht nur zu weiterem Lärm, sondern das Rückzieher; das kennen wir schon.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11981
Dr. Anton Hofreiter
(A) (Patrick Döring [FDP]: Ich will deinen Gesetz- Mein lieber Kollege Herzog, ich habe Ihnen gut zuge- (C)
entwurf mal sehen! Schreib du den Gesetzent- hört. Sie haben in Ihrem Antrag das Gutachten von
wurf! Lächerlich!) Infras zitiert: 12,3 Milliarden Euro an volkswirtschaftli-
chen Kosten durch Verkehrslärm. – Sie haben allerdings
Sorgen Sie dafür, dass den Ankündigungen endlich vergessen, dazuzuschreiben, dass dieselbe Studie zu dem
Taten folgen. Dann werden wir Sie unterstützen. Denn Schluss kommt, dass von diesen 12,3 Milliarden Euro
vergessen Sie eines nie: Sie sind die Parteien, die die Re- nur 0,83 Milliarden Euro auf Schienenlärm entfallen. Sie
gierung stellen, und wir sind die Opposition. Wenn Sie haben aber 100 Prozent Ihrer Rede dem Schienenlärm
wollen, dass unseren Worten Taten folgen, dann stim- gewidmet. Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen in mei-
men Sie unseren Anträgen zu. nem Wahlkreis mit dem drittgrößten Flughafen in
Danke. Deutschland haben von Ihrem Papier – sieben Seiten,
kein Wort zum Fluglärm – vielleicht den Eindruck, dass
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Sozialdemokraten der Fluglärm egal ist.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Landver-
LINKEN)
kehr! Sie müssen einmal die Überschrift lesen!
Das ist doch unglaublich!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich kann Ihnen weiterhin sagen, was Ihr Parteifreund,
Der Kollege Thomas Jarzombek hat jetzt das Wort für der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Herr
die CDU/CSU-Fraktion.
Voigtsberger, am 8. April dieses Jahres in der WAZ er-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- klärt hat: Er hat da nämlich gesagt, dass er die Flug-
neten der FDP) bewegungen dort ausweiten möchte. Das ist der zweite
Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Was Sie hier
predigen, halten Sie dort, wo Sie in der Regierung sind,
Thomas Jarzombek (CDU/CSU): nicht ein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Möglicherweise hat mich meine Fraktion heute als Red- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ner benannt, weil ich bei diesem Thema eine gewisse neten der FDP)
Kompetenz habe.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Florian Pronold [SPD]: Sie machen Lärm,
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des
oder was?)
(B) Kollegen Herzog zulassen wollen? (D)
Denn vor meinem Wohnzimmerfenster donnert die ge-
rade aus dem Untergrund kommende Stadtbahn entlang, Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
von meinem Schlafzimmerfenster blicke ich auf den Bitte.
Ausläufer einer Autobahnbrücke, und außerdem kann
ich alle Starts und Landungen auf dem Düsseldorfer
Flughafen von meiner Wohnung aus beobachten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/
Gustav Herzog (SPD):
DIE GRÜNEN]: Düsseldorf ist der Nabel der
Welt!) Herr Kollege, bevor Sie sich weiter darüber aufregen,
dass wir in unserem Antrag keine Aussage zum Flug-
Aber Ihr Antrag hat mich aufgeschreckt; das kann ich lärm getroffen haben, möchte ich Ihnen Folgendes sa-
nicht anders sagen. Sie schreiben nämlich Folgendes: gen: Das hängt damit zusammen, dass die Verantwor-
tung des Bundes insbesondere dort greift, wo der Bund
Lärm hat … eine schwerwiegende soziale Kompo- Eigentümer ist, was nun einmal auf die Bundesfernstra-
nente. Verlärmte Orte werden von wohlhabenden ßen und die Bundesschienenwege zutrifft, und dass die
Bevölkerungsgruppen gemieden. Kompetenz bezüglich des Lärms der Flughäfen insbe-
Sie haben „gesundheitlich negative Auswirkungen“, lö- sondere bei den Ländern liegt. Wir haben gedacht,
sen eine „Negativspirale“ aus und sind der „Nährboden (Miriam Gruß [FDP]: Wo ist denn die Frage? –
für die Bildung sozialer Brennpunkte“. – Mein Gott, ich Gegenruf des Abg. Christian Lange [Back-
kann heute Nacht nicht mehr schlafen, nachdem ich das nang] [SPD]: Lesen Sie mal die Geschäftsord-
gelesen habe! Ich scheine in einem Getto zu wohnen. nung!)
(Gustav Herzog [SPD]: Nach Ihrer Rede so- wir helfen der Regierung, indem wir den Finger in die
wieso nicht! – Christian Lange [Backnang] Wunde legen und insbesondere die Probleme an den
[SPD]: Das stand doch schon vorher fest!) Stellen aufzeigen, wo die Verantwortung beim Bund und
nicht bei den Ländern liegt. Ich glaube, das ist intellek-
Meine Damen und Herren, bereits der Anfang Ihres tuell durchaus nachvollziehbar.
Antrages zeigt den ersten Grund, warum Ihr Antrag
nicht seriös ist: Sie verallgemeinern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
11982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): schon längst beschlossen und auf den Weg gebracht wor- (C)
Ich danke Ihnen für Ihre Belehrung in intellektuellen den sind.
Dingen. Aber, Herr Kollege, wenn Sie einen Antrag mit
einem Umfang von sieben Seiten schreiben und eine De- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber nicht umge-
battendauer von anderthalb Stunden während der Kern- setzt sind, lieber Herr Kollege!)
zeit beantragen, aber nicht ein Wort über den Fluglärm Was ich aber, lieber Kollege Beckmeyer, an Ihrem
verlieren, obwohl der Bund an Flughäfen beteiligt ist, Antrag besonders spannend finde – das hat mir wirklich
dann zeigt dies ganz klar, dass für Sie der Fluglärm hier zu denken gegeben – und was sich hier wundervoll beo-
und heute keine Rolle spielt. Das nehmen die betroffe- bachten lässt, ist: Mit jedem weiteren Jahr in der Opposi-
nen Menschen durchaus zur Kenntnis. tion wächst die Entfernung zur Wirklichkeit massiv.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Was ist denn das für (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
eine Logik? Landverkehr!) der FDP)
Als ich Ihren Antrag das erste Mal gelesen habe, habe Vielleicht kommen Sie uns heute deshalb mit Ihren
ich mich gefragt, wie alt denn das Nationale 32 Punkten – Sie haben sie kurz vor der Wahl offenbar
Verkehrslärmschutzpaket II sein mag. Sie benennen in vergessen –, weil deren Umsetzung nur durch massive
Ihrem Antrag 32 Punkte, bei denen Nachholbedarf be- Kürzungen an anderen Stellen zu finanzieren ist. Sie
steht. Doch Überraschung: Das Nationale Verkehrslärm- wollen die Ausgaben des Bundes für Lärmschutzmaß-
schutzpaket II wurde während der Amtszeit Ihres letzten nahmen erhöhen, 155 000 Güterwaggons umrüsten, die
Verkehrsministers, Herrn Tiefensee, vier Wochen vor der personelle und finanzielle Ausstattung des EBA erhö-
Bundestagswahl im Herbst 2009 beschlossen. Jetzt füh- hen, Elektrofahrzeuge noch mehr steuerlich begünstigen,
ren Sie nach etwas über einem Jahr 32 Mängel auf. Jetzt die Lärmsanierungsmittel für den Schienenverkehr erhö-
frage ich mich: War Ihr eigenes Konzept mangelhaft? hen und die Beteiligung des Bundes an der kommunalen
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Nein, die Diskussion Lärmkartierung erhöhen. Das ist nur eine Auswahl.
geht weiter!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir brauchen einmal
Oder ist es so – das ist der dritte Grund, warum der An- einen Verkehrsminister, der auch um Geld
trag nicht seriös ist –, dass Ihre Forderungen in der Op- kämpft!)
position ganz andere sind als in Zeiten des Regierungs-
Liebe Freunde von der SPD, wer hier das Geld mit
handelns?
vollen Händen aus dem Fenster werfen möchte, der
(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben gedacht, muss an anderer Stelle sparen. Wir haben doch gemein-
(B) Sie träumen von den Taten!) sam die Schuldenbremse beschlossen. (D)
Oder war das NVP II nur mit heißer Nadel gestrickt und (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!)
dem Wahlkampf geschuldet?
Auch Sie haben dafür in namentlicher Abstimmung vo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tiert. Wo wollen Sie also sparen? Ich habe Ihren Antrag
Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen es umset- immer und immer wieder gelesen, aber eines habe ich
zen!) nicht gefunden, nämlich das Wort „sparen“; das steht
Was steht nun in Ihrem heutigen Antrag? Sie fordern nirgendwo.
Dinge, die schon längst beschlossen sind. Ich nenne bei- (Gustav Herzog [SPD]: Machen Sie doch die
spielsweise die um 3 dB reduzierten Geräuschgrenz- Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernach-
werte für Reifen und die Kennzeichnung umweltrelevan- tungen rückgängig! 1 Milliarde Euro!)
ter Eigenschaften. Das ist alles schon beschlossen.
Ich fordere Sie also auf: Sagen Sie uns einmal konkret,
(Gustav Herzog [SPD]: Sie sind die Be- wo Sie zur Finanzierung des vorliegenden Antrags kür-
schlussvorlagenkoalition! Werden Sie die Ta- zen wollen!
tenkoalition!)
(Gustav Herzog [SPD]: Ich sagte es Ihnen
Sie haben dazu auch eine Vorlage der Bundesregierung doch: 1 Milliarde Euro Mehrwertsteuerabsen-
bekommen. Das ist der vierte Grund, warum Ihr Antrag kung für Hotelübernachtungen rückgängig
nicht seriös ist: Sie fordern Dinge ein, die es schon machen!)
längst gibt.
Welche Ortsumgehung wollen Sie konkret streichen?
Es gibt weitere Dinge, die Sie einfordern, die aber Dann müssen Sie die betreffenden Orte, wo die Ver-
schon längst im wahrsten Sinne des Wortes auf die kehrslawine mittendurch geht, besuchen und mit den
Schiene gesetzt worden sind; sie wurden hier schon ver- Menschen vor Ort über Lärmschutz reden. Das ist der
schiedentlich besprochen. Wir haben am 18. März im sechste Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Er ist
Plenum einen Antrag verabschiedet, in dem gefordert überhaupt nicht finanzierbar.
wird, den Schienenbonus abzuschaffen und lärmabhän-
gige Trassenentgelte einzuführen. Insofern sind die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe
Dinge auf den Weg gebracht. Sie stehen ebenfalls im Beckmeyer [SPD]: Sie bedienen Ihre Klientel
Koalitionsvertrag. Das ist der fünfte Grund, warum Ihr mit Milliardenbeträgen und reden vom Spa-
Antrag nicht seriös ist: Sie reiten auf Dingen herum, die ren!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11983
Thomas Jarzombek
(A) Am Ende will ich versöhnlich sein und bemerken, (Beifall bei der SPD) (C)
dass Sie den Lesern Ihres Antrags auch Freude bereiten.
Es gibt dort nämlich ganz herrliche Stilblüten. Auf Florian Pronold (SPD):
Seite 6 findet sich meine Lieblingsstelle. Sie fordern dort Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr
den Ausbau der Elektromobilität. Das tun wir übrigens Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier
auch, da wir das sehr gut finden. Sie schreiben, dass die jemand eine Schaufensterrede gehalten hat und sich von
Antriebsgeräusche vor allen Dingen innerorts im Ge- der Realität der Menschen, die von Lärm betroffen sind,
schwindigkeitsbereich bis 30 km/h reduziert werden. entfernt hat, dann war es mein Vorredner.
Keine zehn Zeilen weiter fordern Sie aber: Es müssten
auch „akustische Warnsignale zur besseren Erkennbar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
keit der geräuscharmen Elektrofahrzeuge“ eingeführt DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
werden – wunderbar! –, LINKEN)
(Zuruf von der FDP: SPD ist für mehr Lärm! – Wir reden über ein Problem, das Hunderttausende Men-
Zuruf von der SPD: Das ist doch kein Wider- schen in Deutschland betrifft. Herr Kollege, selbst wenn
spruch!) Sie die Ausnahme sind, geht es hier tatsächlich auch um
eine soziale Frage. Wer lebt denn an den stark belasteten
„um die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf Straßen in den Großstädten? Führen diese Straßen durch
das neue Hören im Straßenverkehr zu schärfen“. die Villenviertel?
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl nicht auf dem
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ja! – Weite-
Stand der Dinge!)
rer Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie
Das soll aber nicht nur ein bisschen geschehen. Denn mal in meinen Wahlkreis!)
weiter heißt es: Die Signale sollten bitte so laut sein,
– Das möchte ich einmal sehen.
dass „insbesondere Hörgeschädigten“ Rechnung getra-
gen wird. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Fahren Sie
mal in meinen Wahlkreis rein!)
Meine Damen und Herren, auf diese Fahrzeuge freue
ich mich. – Wer ist denn wirklich von Lärm betroffen? Nehmen
Sie doch einmal die Realität zur Kenntnis.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Gustav Her-
zog [SPD]: So kompliziert ist die Materie! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Machen Sie sich über das Thema nicht lustig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) Ich kann nur sagen: Ich finde es lustig. – Das ist der Egal, wie lange Sie schon an der Regierung sind: Sie (D)
siebte Grund, warum Ihr Antrag nicht seriös ist: Sie wi- können sich nicht noch weiter von der Realität entfernen
dersprechen sich selbst. als Sie es mit dem, was Sie gerade von sich gegeben ha-
Liebe Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie haben ben, bereits getan haben. Sie verspotten Menschen, die
uns mit Ihrem Antrag zwar Freude bereitet; aber das jeden Tag unter Lärm leiden; das war der Inhalt Ihrer
Thema Lärm ist ein ernstes Thema, und zwar in der Rede.
Breite; es geht nicht nur um den Lärm an der Schiene (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und auf der Straße, sondern auch um den Fluglärm. Wir
haben doch in der Großen Koalition gemeinsam zwei na- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
tionale Verkehrslärmschutzkonzepte beschlossen. Sie
Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischen-
sind gut; daran gibt es keinen Zweifel.
frage des Kollegen Jarzombek?
Die Kollegin Ludwig hat es sehr ausführlich darge-
stellt: Bis 2020 soll die Belästigung durch Verkehrslärm Florian Pronold (SPD):
bezogen auf Lärmbrennpunkte in besiedelten Bereichen Immer.
abnehmen: im Flugverkehr um 20 Prozent, im Straßen-
verkehr und in der Binnenschifffahrt um 30 Prozent, im
Schienenverkehr sogar um 50 Prozent. Ich würde mich Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
freuen, wenn wir das konstruktiv und gemeinsam umset- Herr Kollege, Sie haben gerade behauptet, dass laute
zen könnten. Denn den Betroffenen vor Ort ist nicht da- Straßen in Villenvierteln die absolute Ausnahme seien
durch geholfen, dass hier Schaufensteranträge gestellt und Lärm eigentlich immer dazu führe, dass Viertel ab-
werden; sie erwarten von uns konkretes Handeln und steigen, aber Villenviertel davon nicht betroffen seien.
Lösungen für die Probleme vor Ort. Lassen Sie uns das Ich hörte im Hintergrund den Zuruf: „Kommen Sie mal
gemeinsam tun! Wir laden Sie gerne dazu ein. Ich freue in meinen Wahlkreis!“ Auch ich lade Sie ein. Gerade
mich auf die weitere Diskussion. dort, wo Verkehrsflughäfen sind – Sie haben sich offen-
bar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt –, liegen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) häufig Villenviertel.
(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von In Düsseldorf ist das so: In der Nähe des Flughafens gibt
der SPD-Fraktion. es allein stehende Häuser und große Grundstücke; denn
11984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Thomas Jarzombek
(A) die Tatsache, dass dort der Flughafen ist, hat dazu ge- Der Herr Kollege hat deutlich gemacht, warum wir (C)
führt, dass es keine Verdichtung der Bebauung gab. diesen Ansatz bzw. Schwerpunkt gewählt haben, näm-
lich, weil er nicht primär in den Zuständigkeitsbereich
(Zurufe von der SPD) der Länder, sondern in den des Bundes fällt.
Das gibt es auch an anderen Stellen. Insofern sind alle
Schichten der Gesellschaft von Lärm betroffen. Ich (Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Reden Sie
stelle Ihnen die Frage: Ist Ihnen das egal oder stimmen nicht! Bauen Sie Ortsumfahrungen! – Zuruf
Sie zu, dass Lärm alle betrifft? Ist es auch für einen Sozi- von der CDU/CSU: Das ist schlichtweg
aldemokraten interessant, dort etwas gegen Lärm zu tun, falsch! Lärmschutzgesetze werden hier im
wo Einfamilienhäuser stehen? Ist das für Sie auch eine Bundestag gemacht! Das wissen Sie auch! –
Zielgruppe? Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Das ist doch Quatsch!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Wie wir zukünftig mit den Lärmbelastungen für die
Menschen umgehen, hat sehr viel mit der zukünftigen Ent-
Florian Pronold (SPD):
wicklung unseres Wirtschaftsstandortes zu tun. Deutsch-
Schauen Sie: Sie haben Ihre ganze Redezeit – zehn land ist auf eine starke Infrastruktur angewiesen. Jetzt
Minuten – nur damit verbracht, sich über Leute lustig zu seien wir doch einmal ehrlich: Infrastrukturplanung wird
machen, die von Lärm betroffen sind, dies ins Lächerli- heute von den meisten Menschen als Bedrohung aufge-
che zu ziehen. fasst.
(Judith Skudelny [FDP]: Nein!)
(Patrick Döring [FDP]: Reden Sie ihnen das
– Das haben Sie gemacht. nicht noch ein!)
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Nein, ich Es geht nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Heiliger Sankt
habe über Ihren Antrag gesprochen!) Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!
Wir haben übrigens schon in unserer Regierungszeit da- (Zurufe von der CDU/CSU)
mit angefangen: Das zweite Lärmschutzpaket, das von
Frau Ludwig angesprochen wurde, ist von Wolfgang Und warum ist das so? Das ist deswegen so, weil die
Tiefensee auf den Weg gebracht worden. Wir kümmern Menschen der Politik insgesamt nicht mehr abnehmen,
uns um die Probleme. dass sie tatsächlich Lösungen für ihre Probleme bekom-
men, selbst dann nicht, wenn sie vorher an Planungen
Ich lade Sie gerne ein, mich bei all meinen Terminen stärker beteiligt werden. Die Hauptsorge von Menschen (D)
(B) vor Ort zu begleiten, bei denen es um Menschen geht,
bezogen auf Infrastrukturmaßnahmen betrifft den Lärm,
die an einer lauten Straße oder – überhaupt keine Frage – der daraus hervorgeht. Wenn Politik insgesamt darauf
an einem Flughafen leben. Lärm ist ein Problem, das die keine glaubhafte Antwort findet, sondern sich – wie Sie –
ganze Gesellschaft betrifft; das ist überhaupt keine hier zehn Minuten hinstellt und versucht, ein bisschen
Frage. Kabarett zu machen, ist das ein Schlag ins Gesicht der
(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) Menschen,
In den Innenstädten betrifft es aber überwiegend diejeni- (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie haben
gen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können. in der Sache nichts gesagt, was Sie tun wol-
len!)
(Patrick Döring [FDP]: Quatsch! Richtiger
Unsinn!) die Hoffnung darauf haben, dass sich Lebensverhältnisse
– Ja, natürlich. Schauen Sie sich die Realitäten an. verbessern.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der SPD)


doch Unsinn, den Sie da erzählen!) Zur Verbesserung der Lebensverhältnisse gehört eine
– Ich habe gesagt: „überwiegend“. Man kann immer für vernünftige Infrastruktur, die den Lärmschutz der Men-
alles ein Beispiel finden. schen entsprechend berücksichtigt.
Ich spreche hier von der Mehrheit der Betroffenen. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie haben
Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass selber noch nicht eine Sache gesagt, die Sie
Lärmbelastung auch eine soziale Frage ist. tun wollen! Sie reden auch nur allgemein!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der – Ich war ja so froh, dass Sie alles das, was wir machen
LINKEN) wollen, aufgezeigt und entsprechend kommentiert ha-
Eines verstehe ich nicht. Auf der einen Seite be- ben.
schimpfen Sie uns dafür, dass wir zu viel aufschreiben. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Jetzt habe
Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, dass wir zu ich also doch zur Sache geredet!)
wenig aufschreiben, weil wir den Fluglärm in den An-
trag nicht mit aufgenommen haben. Sie müssen sich ein- Aber ich komme jetzt zu den Dingen, die entspre-
mal entscheiden. chend zu machen sind.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11985

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Patrick Döring [FDP]: Das schüttelt man (C)
Herr Kollege Pronold, wollen Sie auch noch eine nicht aus dem Ärmel! Was ist mit Ihrem An-
Frage des Kollegen Willsch beantworten? trag in dem Zusammenhang?)
Aber was war denn in der letzten Sitzungswoche vor
Florian Pronold (SPD): der Wahl in Baden-Württemberg die Botschaft des Herrn
Wenn mir meine Redezeit verlängert wird, Herr Kol- Bundesverkehrsministers an die Menschen dort? Er hat
lege, gern. die Menschen damit beruhigt, dass er gesagt hat: Jawohl,
es gibt für vernünftigen Lärmschutz auch entsprechend
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Da kann Geld. Der Herr Bundesverkehrsminister war in Brasi-
man nicht genug von Ihnen kriegen!) lien, hat dort einen Caipirinha oder zwei getrunken und
hat dann gleich nach Bekanntgabe der Wahlergebnissee
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mitgeteilt,
Bitte schön. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist
es!)
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
dass es kein Geld mehr für Länder gibt, in denen falsch
Sehr geehrter Herr Kollege Pronold, ich denke, wir gewählt wird. Dummerweise liegt ein großes Stück der
sind uns einig, dass es, wenn es um die Bürger und ihre Rheintaltrasse in Baden-Württemberg. Die brauchen das
Belastung geht, vor allen Dingen darauf ankommt, dass Geld für Lärmschutzmaßnahmen. Gibt es dafür jetzt zu-
Maßnahmen, wenn sie denn beschlossen werden, auch künftig nichts mehr? Wenn ich die Worte des Bundes-
umgesetzt werden. Ist Ihnen bekannt, dass das, was wir verkehrsministers ernst nehme, ist das so. Was ist in die-
in der Großen Koalition gemeinsam angestoßen haben, sem Zusammenhang mit Ihrem Antrag? Bitte geben Sie
nämlich die Förderung der Umrüstung von Bahn- darauf eine Antwort.
waggons, die bei uns durch den schönen Rheingau rollen
und eine wirklich unerträgliche Lärmkulisse verursa- Es geht darum, was wir tatsächlich tun können. Es be-
chen, durch Bezuschussung aus dem Bundeshaushalt, steht hier im Haus Einigkeit darüber, was man tun kann
zwei Jahre lang nicht in Kraft treten konnte, weil Ihr Mi- und was man tun muss. Die Frage ist nun, wie man den
nister Tiefensee die Notifizierung nicht fertiggebracht Ankündigungen Taten folgen lassen kann. Das ist die
hat? Ist Ihnen das bekannt? entscheidende Frage.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das wird der
(B) rufe von der CDU/CSU und der FDP: Hört! Kollege Willsch dann wissen!) (D)
Hört!)
Ich höre bisher nur Ankündigungen und sehe keine Ta-
ten. Es stellt sich beispielsweise die spannende Frage,
Florian Pronold (SPD): wie es bei der Rheintalbahn weitergehen soll. Auch Frau
Ist Ihnen bekannt, dass wir – Gegenfrage – in der letz- Ludwig hat eine entsprechende Frage aufgeworfen.
ten Sitzungswoche einen Antrag beschlossen haben, in
dem Sie als Koalitionsfraktionen Ihre eigene Bundesre- Wir müssen über mehr Lärmschutz reden. Wenn wir
gierung auffordern, bei der Rheintalbahn endlich etwas zukünftig einen Konsens mit den Bürgerinnen und Bür-
zu tun? gern hinbekommen wollen, dass Verkehrsinfrastruktur
auch zukünftig gebaut wird, dann brauchen wir einen
(Zuruf von der CDU/CSU: Nichtantwort!) spürbar höheren Lärmschutz, und der kostet Geld. Jeder
Das ist auch eine spannende Frage. Wann kommt denn höhere Lärmschutz wird Geld kosten. Deswegen muss
da etwas? Die Menschen haben diese Ankündigungen man eine seriöse Antwort darauf geben, woher man das
doch satt. nötige Geld bekommt.

(Zuruf des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/ (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die Antwort
CSU]) geben Sie nicht!)

Wir haben europaweit 400 000 Waggons, die auf verän- – Warten Sie einmal ab.
derte Bremsen umrüstbar wären. Es fahren ja nicht nur (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die gibt Ihr
deutsche Waggons durchs Rheintal. Wir brauchen also Antrag aber nicht!)
erstens eine europäische Initiative. Zweitens weigern Sie
sich, endlich lärmabhängige Trassenpreise durchzuset- – Es ist schön, dass Sie noch Hoffnung haben.
zen. Das wäre eine Lösung, die sehr schnell zu Verbesse-
rungen führen würde. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]:
(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Machen wir Die Hoffnung stirbt zuletzt!)
doch! – Zuruf von der FDP: Der Bundesver-
kehrsminister arbeitet daran!) Frau Ludwig, die Regierungsparteien kritisieren uns da-
für, dass wir Schnellschüsse machen. Sie regieren nun
Es geht auch darum, dort für entsprechende finanzielle fast zwei Jahre und können in diesem Bereich nichts vor-
Mittel zu sorgen. weisen.
11986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Florian Pronold
(A) (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Doch! – Tho- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
mas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Nummer mit Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny von der
dem Kabarett geht mit Ihnen nach Hause!) FDP-Fraktion.
Es wäre gar nicht schlecht, zumindest einen kleineren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schnelleren Schuss zu machen und nicht nur hier im Par-
lament Anforderungen an die Bundesregierung zu for- Judith Skudelny (FDP):
mulieren, sondern Gesetze zu ändern. Das ist beim
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
Schienenbonus doch überhaupt nicht schwierig.
und Herren! Wenn das alles so furchtbar einfach wäre,
(Beifall bei der SPD) wie es die SPD-Fraktion dargestellt hat, dann frage ich
mich: Warum haben Sie die Vorhaben zum Lärmschutz
Wo liegt denn da das Problem? Wenn Sie es wollen, tun während Ihrer Regierungszeit nicht einfach umgesetzt?
Sie es!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Judith Skudelny [FDP]: Warum haben Sie es Gustav Herzog [SPD]: Wir haben Maßnahmen
nicht gemacht?) gegen Schienenlärm eingeführt und die Mittel
Warum machen Sie es denn nicht? Sie könnten schnell von 50 auf 70 Millionen Euro erhöht!)
schießen, wenn Sie wollten. Wenn die Forderung so alt ist, wie Sie sagen, dann hätten
Zur Infrastrukturfinanzierung. Sie behaupten, die Sie die ersten Schritte eigentlich schon längst machen
SPD macht keine Vorschläge, wie man höhere Infra- können. Ich muss Ihnen sagen: Sie waren einfach nicht
strukturausgaben finanzieren kann. Waren es nicht Sie, der Motor.
die den Hoteliers 1 Milliarde Euro in den Rachen gewor- (Gustav Herzog [SPD]: Sie sind erst neu
fen hat? dabei! Ich verzeihe Ihnen!)
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der Sie haben 90 Prozent der Forderungen aus dem Koaliti-
FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So onsvertrag übernommen. Insofern nehme ich das als
ist es!) Würdigung dessen, was wir, übrigens schon vor einem
Jahr, beschlossen und als richtig erkannt haben.
Waren es nicht Sie, die den reichen Erben Hunderte von
Millionen Euro hinterhergeworfen haben? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Cor-
nelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Haben Sie Ihr
Sie reden nur und tun nichts!)
(B) Wahlprogramm vergessen, Herr Pronold?) (D)
Infrastruktur ist wichtig für Wirtschaft, Wohlstand
Verzichten nicht Sie auf eine Erhöhung der Lkw-Maut und Wachstum. Wachstum, Wirtschaft und Wohlstand
und auf eine vernünftige Ausweitung der Mautpflicht? brauchen wir nicht als Selbstzweck, sondern um unser
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stand doch Gesundheitssystem, unser Sozialsystem und unser Ren-
auch im SPD-Wahlprogramm! – Thomas Jar- tensystem am Laufen zu halten. Insofern ist die Infra-
zombek [CDU/CSU]: Kabarett!) struktur wichtig für die sozial Schwachen, weil gerade
sie es sind, die von diesen Systemen profitieren.
Sie unterlassen alles, um mehr Geld in die Infrastruktur-
maßnahmen zu geben, um den Menschen und ihren be- Die Infrastruktur muss jedoch mit Rücksicht auf Um-
rechtigten Sorgen Rechnung zu tragen. welt und Menschen umgesetzt werden. Zur Umwelt:
Rein theoretisch könnten wir natürlich alle Infrastruktur-
(Beifall bei der SPD) projekte ins freie Feld planen, nur wohnen dort in aller
Regel Hamster, Frosch und Fledermaus. Wenn wir diese
Es gibt noch eine andere Form von Lärm, die wir
Naturschutzaspekte berücksichtigen und näher an die
heute noch nicht behandelt haben – sie ist auch ziemlich
Wohnbebauung herangehen, dann belasten wir wie-
gefährlich –,
derum Menschen. Wenn wir sagen, wir erhöhen die An-
(Judith Skudelny [FDP]: Kinderlärm!) forderungen beispielsweise an den Lärmschutz – was ja
auch gewollt ist –, dann werden Infrastrukturprojekte
nämlich den Lärm um nichts. Ihre heutigen Reden waren verzögert. Sie werden teurer.
nichts anderes als Lärm um nichts. Sie verletzen damit
das Vertrauen, das die Politik in dieser Gesellschaft ins- Die Linke sagt: Klar, dann machen wir einfach mehr
gesamt braucht, um zukünftig Infrastrukturprojekte im Schulden. – Das kann man wollen.
Konsens durchzubekommen. Es wäre nicht nur bei der (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Vernünftige
Rheintalbahn und nicht nur beim Schienenbonus wich- Bürgerbeteiligung! – Weitere Zurufe von der
tig, dass Sie anfangen, zu handeln, statt nur Ankündi- SPD und der LINKEN)
gungen zu machen. Die Menschen haben ein Recht dar-
auf, dass sie weiterhin gut und sicher leben können. – Ihre Aussage war: Bürgerideen werden von der Schul-
Dazu gehört es auch, dass wir nicht nur von Lärmver- denbremse bedroht. – Das heißt: Scheiß auf den Haus-
meidung sprechen, sondern auch handeln. halt – Entschuldigung.
(Beifall bei der SPD) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11987
Judith Skudelny
(A) Sie sagen also: Der Haushalt ist egal, wir machen mehr (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas (C)
Schulden. – Wir sagen: Das geht nicht. Das belastet die Jarzombek [CDU/CSU])
zukünftigen Generationen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind längst so
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Flo- weit, wie Sie es eigentlich sein wollten. Sie haben es nur
rian Pronold [SPD]: Wäre das ein Fall für das noch nicht gemerkt. Und wenn Sie meinen, die Koaliti-
neue Ordnungsgeld?) onsparteien vor sich hertreiben zu müssen oder zu kön-
nen, müssten Sie etwas früher aufstehen.
Deswegen wird bereits seit einem Jahr hinter den Kulis-
sen heftig darüber gestritten, wie wir die Umsetzung (Gustav Herzog [SPD]: Ich bin heute schon
vornehmen wollen. Dass es den Regierungsfraktionen in um halb sechs aufgestanden!)
dem einen oder anderen Punkt vielleicht schneller gehen Mit diesem Antrag ist es Ihnen jedenfalls nicht gelun-
könnte, ist, glaube ich, kein Geheimnis. Darum haben gen.
wir im März diesen Antrag gestellt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Flo-
Wenn wir allerdings Ihrem Antrag zustimmen wür- rian Pronold [SPD]: Das war ja ein origineller
den, dann kämen wir wieder an den Punkt, an dem wir Schluss!)
bereits vor einem Jahr waren, nämlich dorthin, wo im
Prinzip nur heiße Luft erzeugt wird. Wir aber sind einen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Schritt weiter. Wir wollen den Gesetzentwurf vorgelegt Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ralph
haben. Ich sage: Dieses Gesetz kommt trotz allen Streits Lenkert von der Fraktion Die Linke.
und unter Abwägung aller Aspekte bis Ende dieses Jah-
res. (Beifall bei der LINKEN)

(Gustav Herzog [SPD]: Wir sprechen uns in Ralph Lenkert (DIE LINKE):
einem Jahr hier wieder! Mal sehen, was Sie
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
dann gemacht haben!)
und Kollegen! Geld schützt vor Straßen- und Schienen-
Wir haben darüber gesprochen, dass die sozial lärm. Wer genügend besitzt, baut sein Haus in ruhigen
Schwachen diejenigen sind, die sich am wenigsten weh- Regionen. Der Rest der Bevölkerung hat entweder
ren können. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Bürgermeinung Glück oder ist auf Lärmschutz angewiesen, der Geld er-
zur Rheintalbahn tatsächlich so gut bekannt ist. Denn so- fordert.
wohl bei Stuttgart 21 als auch insbesondere bei der Die SPD stellt in ihrem Antrag treffend fest, dass die
(B) Rheintalbahn ist es die bürgerliche Mitte, die sich für die Höhe der volkswirtschaftlichen Schäden durch Lärm (D)
Schiene, zugleich aber auch für eine Abwägung einsetzt. mehr als 12 Milliarden Euro jährlich beträgt. Die durch
Sie bringen sich ein und fordern Lärmschutz. den von Straße und Schienen verursachten Lärm ausge-
(Gustav Herzog [SPD]: Ja, das habe ich auch lösten Krankheiten, die geringeren Arbeitsleistungen
vom Mittelrheintal erzählt!) nach gestörter Nachtruhe verursachen dies. 1,2 Millio-
nen Bundesbürger müssen täglich bei mehr als 60 Dezi-
Hier sind nicht nur die sozial Schwachen, die von der bel schlafen. Umfangreiche Gesetze und Verordnungen
Linken vertreten werden, sondern tatsächlich alle davon in der EU und in der Bundesrepublik befassen sich fol-
betroffen. gerichtig mit Lärm. Ausreichend sind sie nicht.
(Karin Binder [DIE LINKE]: Das sind ein- Wieso wird die Lärmbelastung der Bevölkerung zur
kommensschwache Menschen!) Planung des Lärmschutzes eigentlich nur rechnerisch er-
mittelt und nicht zwingend mit Messungen überprüft?
Deswegen setzen sich wirklich alle für eine vernünftige Ob vom Zug, vom Flugzeug oder vom Lkw verursacht,
Umsetzung ein. Deswegen sind die Regierungsparteien, jede Lärmart wird einzeln bewertet. Dem Idealmodell
die CDU, CSU und FDP, diejenigen, die auf diesem Ge- folgende Kalkulationen ignorieren die Situation vor Ort.
biet ganz stark geworden sind – als Motor die FDP; nicht Das führt zu Fehleinschätzungen und damit zu fehlen-
die SPD, sonst hätten wir es schon –, den, nicht ausreichenden, mitunter aber überdimensio-
nierten Lärmschutzbauten. Deshalb fordert die Linke als
(Gustav Herzog [SPD]: Das ist wahr! Sie ha-
einen Schritt zu effektiverem Lärmschutz, die Lärmkar-
ben nichts hinbekommen!)
tierung durch zwingende Lärmmessungen zu verbessern.
um die Umsetzung der Rheintalbahn möglichst zügig (Beifall bei der LINKEN)
hinzubekommen. Wir haben den Antrag im März ge-
stellt, damit dort die Planungen auch unter Berücksichti- Was stört einen erholsamen Schlaf eigentlich mehr:
gung, dass der Schienenbonus nicht mehr existiert – üb- das gleichmäßige Rauschen rollenden Verkehrs oder das
rigens erstmalig –, weitergeführt werden. Scheppern eines Tiefladers im Schlagloch? Nicht der
durchschnittliche Lärm allein ist entscheidend, sondern
(Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein Prüf- auch die Höhe und die Häufigkeit von Lärmspitzen.
auftrag!)
Daraus folgt unser nächster Schritt: Lärmspitzen müs-
Auch das haben frühere Regierungskoalitionen in dieser sen in die Lärmbetrachtung einfließen. Das größte Pro-
Form nicht hinbekommen. Das möchte ich einmal sagen. blem bei der Lärmbekämpfung ist unsere Art und Weise,
11988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ralph Lenkert
(A) zu wirtschaften. Das Motto „Höher, schneller, weiter!“ Zum Abschluss ein Wort an die Koalitionsfraktionen: (C)
führt zu immer mehr Verkehr. Da sind unnötige Trans- Nehmen Sie nicht immer nur die Anträge der anderen
porte. Muss man Joghurt von Flensburg nach München auseinander, sondern legen Sie selbst etwas vor.
transportieren und umgekehrt? Muss man allein aus Pro-
fitgründen Nordseekrabben in Marokko puhlen lassen? (Judith Skudelny [FDP]: Haben wir doch!)
Aus betriebswirtschaftlichen Gründen vielleicht, aus – Ich habe nur Ankündigungen gehört. Ich habe gehört,
volkswirtschaftlichen jedoch nicht, weil die Folgen, zum was Sie bis 2020 alles machen wollen.
Beispiel die Lärmprobleme, zulasten der Gemeinschaft
gehen. Deshalb setzt die Linke auf Verkehrsvermeidung (Judith Skudelny [FDP]: Nein! 2012!)
und regionale Wirtschaftskreisläufe. Handeln Sie! Übernehmen Sie die konkreten Vorschläge
(Beifall bei der LINKEN) der Oppositionsparteien! Dann können wir etwas für den
Lärmschutz, für unser Land und für die Demokratie er-
Der unvermeidbare Verkehr muss leiser werden. Dazu reichen.
brauchen die Kommunen Aktionspläne und Geld. Wo
Lkws über die Straße poltern, muss das Tempo reduziert Ich danke Ihnen.
werden. Das ist billiger und hilft etwas. Besser wäre aber (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Flo-
eine Straße ohne Schlaglöcher und ohne Querschläge, rian Pronold [SPD])
verursacht durch mangelnde Instandhaltung, durch Auf-
hacken und Verschließen der Straßendecke aus verschie-
denen Gründen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Wort der Kollege Patrick Schnieder.
Oft werden Baumaßnahmen unzureichend geplant und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durchgeführt. Daher schlagen wir vor, Lärmmessungen
in die Abnahmeprüfung und Garantiebewertung nach je-
der Baumaßnahme aufzunehmen. Patrick Schnieder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der LINKEN) Wir befassen uns heute in der Tat mit einem sehr ernsten
Thema. Wenn man genau hinhört, stellt man fest, dass
Das zwingt Baufirmen zu mehr Qualität, und Quali-
wir uns hinsichtlich der großen Richtung, hinsichtlich
tätsarbeit erfordert Facharbeiter.
der Analyse dessen, was schon getan worden ist, und
(B) (Judith Skudelny [FDP]: Die fehlen!) hinsichtlich der Frage, was noch zu tun ist, eigentlich ei- (D)
nig sind. Wir sind uns einig, dass Lärm die mit am
So kann die Abnahmeprüfung dazu führen, dass prekäre stärksten empfundene Umweltbeeinträchtigung ist. Mit
Arbeitsverhältnisse in gute Arbeitsverhältnisse umge- Ausnahme der Linken sind wir uns einig, dass wir auf
wandelt werden. Das ist linke Politik. Mobilität angewiesen sind und, sofern wir nicht unter
(Beifall bei der LINKEN) Realitätsverlust leiden, den Ausbau von Mobilität voran-
treiben müssen.
Ob Schiene oder Straße, ohne Lärmschutzwälle wer-
den wir nicht immer auskommen. Wegen Geldmangel ist Es gibt immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem
vorbeugender Lärmschutz aber nur bei Neubauten vor- Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und dem Lärm. Des-
gesehen. Wir fordern, dass auch die deutliche Zunahme halb hat diese Bundesregierung den Lärmschutz zu ei-
des Verkehrs eine wesentliche Änderung darstellt und nem zentralen Anliegen ihrer Verkehrspolitik gemacht,
zwingend vorbeugende Lärmschutzmaßnahmen erfolgen und zwar sowohl, was den Aspekt des Gesundheits-
müssen. schutzes angeht, als auch, was die Akzeptanz der Folgen
von Mobilität angeht. Auch an dieser Stelle sind wir uns
Wie man mit weniger Geld mehr Lärmschutz errei- im Grunde einig, lieber Kollege Herzog.
chen kann, können Sie in Brandenburg sehen. Da regiert
übrigens die Linke. Mich verwundert nur, dass Sie einen neuen Konsens
in der Verkehrsinfrastruktur- bzw. Lärmschutzpolitik su-
(Gustav Herzog [SPD]: Die regiert mit!) chen. Das klingt, als hätte es in der Vergangenheit keine
Große Koalition gegeben, als wäre die Verkehrspolitik
Bei Michendorf ist im Zusammenhang mit dem Ausbau nicht elf Jahre lang auch durch die Sozialdemokraten ge-
der A 10 die Anbringung von Photovoltaikanlagen vor- prägt worden. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich mit
gesehen. Würde man alle Lärmschutzbauten in der Bun- diesem Antrag ein Stück weit von der eigenen Politik
desrepublik mit Photovoltaikanlagen ausstatten, könnte verabschieden, die Sie elf Jahre lang gemacht haben.
dadurch der gesamte Strombedarf der Deutschen Bahn
gedeckt werden. Die dadurch frei werdenden Gelder (Gustav Herzog [SPD]: Das ist ein falscher
müssten zweckgebunden in den Lärmschutz fließen. Das Eindruck!)
ist Umweltschutz.
– Es ist ein Eindruck, der sich hier allerdings aufdrängt;
Der Antrag der SPD ist unserer Ansicht nach richtig. denn das, was Sie als Antrag stellen, ist in weiten Teilen
Er ist zwar etwas zu allgemein, aber wir stimmen ihm bereits Beschlusslage, ist in weiten Teilen auf den Weg
trotzdem zu, weil er der Umsetzung unserer Ziele dient. gebracht und wird von dieser Koalition und der Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11989
Patrick Schnieder
(A) regierung umgesetzt. Sie haben manches davon mit auf sen feststellen, dass man dies nicht durch eine einzelne (C)
den Weg gebracht. Maßnahme in den Griff bekommen kann. Vielmehr sind
wir auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen angewiesen.
(Gustav Herzog [SPD]: Da haben wir
Dieses beinhaltet die Reduzierung und Abschaffung des
Zweifel!)
Schienenbonus, das Lärmsanierungsprogramm, das übri-
– Sie zweifeln an sich selbst. gens mit jährlich 100 Millionen Euro dotiert ist, und
Lärmreduzierung an der Quelle; dies ist übrigens die
(Gustav Herzog [SPD]: Nein, ich habe Zweifel wirksamste und effizienteste Lärmvorsorge, die es im
an Ihrer Umsetzung!) Bereich der Schiene gibt. Deshalb sind die Maßnahmen,
Ich bin dankbar für das Eingeständnis Ihrer gescheiterten die zur Einführung der Flüsterbremse ergriffen worden
Verkehrspolitik der letzten Jahre. sind, egal, ob es sich um die K-Sohle oder LL-Sohle
handelt, der richtige Weg, um Lärm zu vermeiden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Ich habe wenig Verständnis dafür, wenn man nur sagt,
dass man Mobilität möchte und dabei Verkehre, vor al-
Ich bin auch sehr erstaunt über Ihr Verständnis von
lem Güterverkehre, auf die Bahn verlagern möchte. Zu-
der Zuständigkeit des Bundes in Bezug auf Fluglärm.
nächst einmal ist das mit mehr Lärm verbunden. Wir
(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben das Flug- müssen uns ganz klar dazu bekennen, dass wir den so
lärmgesetz gemacht!) entstehenden Lärm in den Griff bekommen wollen. Des-
halb müssen wir mit allem Nachdruck an der Lärmredu-
Gerade ist geleugnet worden, dass wir auf Bundesebene zierung an der Quelle weiterarbeiten. Mit einem großen
Einwirkungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben. Maßnahmenpaket im Rheintal ist ein wichtiger Schritt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und geschehen. Der Minister hat ein deutliches Zeichen ge-
der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Nein!) setzt. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen.
Ich nenne als Beispiele das Bundes-Immissionsschutz- Das muss Hand in Hand mit einer Trassenpreisdiffe-
gesetz und die Lärmschutzverordnung. Dies sind Bun- renzierung gehen. Nur mit der lärmabhängigen Differen-
desgesetze. Sie ignorieren eine der ganz wichtigen zierung der Trassenpreise bei der Bahn schaffen wir den
Lärmquellen, die wir ebenso in den Griff bekommen Anreiz, schnellstmöglich umzurüsten, und zwar im euro-
müssen, nämlich den Fluglärm. Auch dazu hätten wir päischen Maßstab. Wir haben natürlich Verkehre, die
uns einige Vorschläge von Ihnen erwünscht. durch ganz Europa gehen und von den verschiedensten
Eigentümern gestellt werden. Daher müssen wir eine eu-
(Gustav Herzog [SPD]: Kommt noch! – Ge- ropäische Lösung finden.
(B) genruf der Abg. Daniela Ludwig [CDU/CSU]: (D)
Kommt noch? Noch so eine Debatte!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf zu-
sammenfassend feststellen: Wir haben mit dem Nationa-
Das sind die Ankündigungen, die Sie vorher in den
len Verkehrslärmschutzpaket II und den Festlegungen
Mund genommen haben. Der Unterschied zwischen uns
im Koalitionsvertrag die richtigen Instrumente in der
in dieser Politik ist: Wir handeln, unser Minister handelt,
Hand. Wir haben eine gute Grundlage für die notwendi-
die Koalition handelt,
gen weiteren Schritte beim Verkehrslärmschutz. Wir do-
(Gustav Herzog [SPD]: Sie fassen kumentieren auch mit unseren Handlungen, mit den
Beschlüsse!) Maßnahmen, die wir ergreifen, und mit dem Geld, das
wir in die Hand nehmen, dass Verkehrslärmschutz für
und Sie kündigen an, dass es Ankündigungen gibt. diese Koalition ein wesentlicher Bestandteil einer nach-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und haltigen Verkehrspolitik ist. Ich darf feststellen: Wir sind
der FDP) bei der Umsetzung der Maßnahmen auf einem guten
Weg.
Unser Ziel ist klar formuliert, und wir haben die ers-
ten Schritte unternommen. Wir wollen die Lärmbelas- Vielen Dank.
tung bezogen auf Lärmbrennpunkte in Deutschland re-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
duzieren. Wir leugnen auch nicht das, was wir mit dem
Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II aus dem Jahre
2009 gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Es bildet Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die Grundlage für Maßnahmen zur Vermeidung von und Ich schließe die Aussprache.
zum Schutz vor Verkehrslärm. Wir haben das Ganze mit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag ergänzt, vor al- Drucksache 17/5461 an die in der Tagesordnung aufge-
lem mit der Einführung lärmabhängiger Trassenpreis- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
gestaltungen bei der Bahn. Auch da verstehe ich Ihre verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
Aufregung nicht. Alles wurde auf den Weg gebracht, al- beschlossen.
les wird kommen. Dies gilt auch für die stufenweise Ab-
schaffung des Schienenbonus. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
Die Koalition hat eindeutig Schwerpunkte gesetzt, a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
und einer der Schwerpunkte, den wir gesetzt haben, be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
trifft die Lärmemissionen im Schienenverkehr. Wir müs- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
11990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus In dieser Debatte beantragen die heutigen Oppositi- (C)
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion onsfraktionen, Mindestlohnregelungen für Deutschland
DIE LINKE zu beschließen. Für die Öffentlichkeit sollte aber Fol-
gendes gelten: Wichtig ist nicht, was man in den Zeiten,
Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzli- in denen man in der Opposition ist, beantragt, sondern
chen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai wichtig ist, was man in den Zeiten, in denen man in Re-
2011 einführen gierungsverantwortung ist bzw. gewesen ist, tut bzw. ge-
– Drucksachen 17/4038, 17/5499 – tan hat.
Berichterstattung: (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!
Abgeordnete Gitta Connemann Sehr gut!)
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Es kommt auf das Tun und nicht auf das Reden an.
neten Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Fritz Kuhn, weiteren Abgeordneten und der Frak- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt! An
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ihren Taten sollt ihr sie erkennen!)
ten Entwurfs eines Gesetzes für die Einführung
flächendeckender Mindestlöhne im Vorfeld Nun zum Tun. Die Sozialdemokraten, die ihren Par-
der Einführung der Arbeitnehmerfreizügig- teivorsitzenden als Redner in diese Debatte schicken,
keit (Mindestlohngesetz) und die Grünen haben sieben Jahre lang eine Koalition
gebildet und die Bundesregierung gestellt.
– Drucksache 17/4435 –
(Zurufe von der SPD: Ach! Bitte nicht schon
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wieder! Das macht langsam wirklich keinen
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Spaß mehr! – Oh! Das ist jetzt wirklich neu!)
– Drucksache 17/5499 – In dieser Zeit ist gerade einmal ein branchenspezifischer
Mindestlohn in Kraft gesetzt worden. Alle anderen sieben
Berichterstattung:
branchenbezogenen Mindestlöhne, die es in Deutschland
Abgeordnete Gitta Connemann
gibt, sind in Zeiten, in denen die Union den Bundeskanz-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ler bzw. die Bundeskanzlerin gestellt hat, eingeführt
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales worden.
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) ten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris (D)
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Es ist schön, dass Sie in Zeiten, in denen Sie in der Op-
der SPD position sind, solche Anträge stellen. Es kommt aber auf
das Handeln an. Beim Handeln ist eindeutig die Union
Gesetzlichen Mindestlohn einführen – Ar- diejenige politische Kraft, die durch ihre Gesetzgebung
mutslöhne verhindern branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland ermög-
– Drucksachen 17/1408, 17/5101 – licht und sie faktisch und praktisch eingeführt hat.
Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Petzold
Abgeordnete Gitta Connemann [CDU/CSU]: Und zwar schon zu Adenauers
Zeiten!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Christdemokraten
es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so und Sozialdemokraten haben sich in der Großen Koali-
beschlossen. tion, in der die Sozialdemokraten in der Tat den Bundes-
arbeitsminister gestellt haben, mit der Novellierung des
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeits-
nerin der Kollegin Gitta Connemann das Wort. bedingungengesetzes gemeinsam auf den Weg gemacht,
branchenbezogene Mindestlöhne zu ermöglichen. Die Ta-
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die ist unterwegs
rifpartner können – und wenn es keine Tarifverträge
hierher! Der Peter Weiß beginnt für uns!)
gibt, dann kann das auf der Grundlage des Mindest-
– Gut. – Dann erteile ich dem Kollegen Peter Weiß das arbeitsbedingungengesetzes in einer Kommission ge-
Wort, wenn er anwesend ist. schehen – für die jeweilige Branche Mindestlöhne bean-
tragen. Ich finde, dass dieser Weg in der Tradition der
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): tariflichen Autonomie steht, die wir grundgesetzlich
schützen. Es ist richtig, dass wir Politiker, bevor wir et-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
was zum Thema Löhne sagen und entscheiden, zualler-
Das Thema „Gute Löhne für gute Arbeit“ beschäftigt zu
erst diejenigen, die etwas von Löhnen verstehen, näm-
Recht das Parlament und auch die Bürgerinnen und Bür-
lich Arbeitgeber und Gewerkschaften, etwas aushandeln
ger. Um es klar und deutlich zu sagen: Zu einer sozialen
lassen.
Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, gehört auch das
Prinzip „Gute Löhne für gute Arbeit“. Daran darf es kei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nen Zweifel geben. Die Frage ist nur: Wie? Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ach, Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11991
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) verstehen nichts davon? Das war die Aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
sage?) Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
Deshalb betone ich den Vorrang von Tarifautonomie und SPD.
branchenbezogenen Mindestlöhnen. Das ist der Weg, (Beifall bei der SPD)
den wir zusammen mit den Sozialdemokraten einge-
schlagen haben, der nach wie vor richtig ist und den wir
Anette Kramme (SPD):
auch in der neuen Koalition verteidigen und weiter
durchsetzen wollen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir freuen uns deshalb auf den 1. Mai, weil
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gerade die Herstellung der vollständigen Arbeitnehmer-
Mein Wunsch ist, dass die Möglichkeiten, die das Ar- freizügigkeit für die betreffenden Staaten so wichtig ist.
beitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbe- Sie ist deshalb so wichtig, weil damit auch ein ganz klein
dingungengesetz bieten, besser genutzt werden. In der wenig vom Eisernen Vorhang weggeräumt wird. Des-
Tat könnte ich mir vorstellen, dass in weiteren Branchen halb ist es gut und richtig, was da kommt. Wir dürfen bei
branchenbezogene Mindestlöhne festgelegt werden, um diesem Thema allerdings nicht völlig blauäugig sein und
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndum- die voraussichtlichen Arbeitsmarktprobleme ausblen-
ping und – das ist genauso wichtig – Unternehmen vor den. Halten wir uns vor Augen, was dort geschehen
Schmutzkonkurrenz mit niedrigen Löhnen zu schützen. wird: Arbeitnehmer aus den sogenannten MOE-Staaten
können zuwandern. Sie können aus diesen Ländern zu
(Zuruf von der SPD: Was sagt denn Herr Brü- uns einpendeln. Vor allen Dingen ist auch grenzüber-
derle dazu?) schreitende Leiharbeit möglich. Sämtliche Beschränkun-
gen bei der sogenannten Dienstleistungsfreiheit fallen
Viele Arbeitgeber – gerade auch im Handwerk – sagen weg. Das heißt, Unternehmen aus den MOE-Staaten
uns: Es wäre gut, wenn wir beim Thema Löhne eine können nunmehr ihre Leistungen bei uns vollständig er-
klare Regelung nach unten hätten, also eine untere Lohn- bringen.
grenze,
Es ist schwierig, die ökonomischen Folgen vollum-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
fänglich zu erfassen. Die Forschung stößt hier an ihre
damit es bei der Konkurrenz darum geht, wer die beste Grenzen. Wir haben sicherlich nicht mit einer Völker-
Arbeitsleistung erbringt, und nicht darum, wer seinen wanderung zu rechnen. Trotzdem wird es keine unbe-
Leuten den geringsten Lohn zahlt. Darum darf es nicht achtliche Größenordnung von Arbeitnehmern sein, die
gehen. wir hier zu erwarten haben. Das IAB geht davon aus,
(B) dass eine jährliche Zuwanderung von 130 000 Personen (D)
Unsere Politik hat zum Ziel – ich rufe Sie auf, dies zu möglich ist. Bis zum Jahr 2020 werden es möglicher-
unterstützen –, die Möglichkeiten für branchenbezogene weise sogar 1,5 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitneh-
Mindestlöhne in Deutschland noch mehr zu nutzen, als merinnen sein. Der DGB geht davon aus, dass es vor al-
es bisher der Fall ist. Das ist der Weg, den wir einge- len Dingen eine Zuwanderung in den Bereich der
schlagen haben. Er ist besser als jedwede staatliche prekären Beschäftigung gibt, nachdem der Arbeitsmarkt
Lohnfestsetzung und besser als jeder per Gesetzgeber für Akademiker durch den Wegfall der sogenannten Vor-
dekretierte Mindestlohn. Denn wir wollen nicht, dass die rangprüfung im Prinzip schon vollständig geöffnet ist.
zum Teil sehr guten Mindestlohnregelungen in einigen Die Folgen der sogenannten Dienstleistungsfreiheit sind
Branchen – manchmal liegt der Stundenlohn über noch weitaus schwieriger zu kalkulieren.
10 Euro – eines Tages einkassiert werden, weil Arbeitge-
ber bzw. Unternehmen sagen: Da gibt es doch vom Staat, Deutschland ist auf die neuen Regelungen gänzlich
per Gesetz dekretiert, einen gesetzlichen Mindestlohn, unvollständig vorbereitet:
an den wir die Löhne – auch nach unten – anpassen.
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was
Es geht in der Debatte nicht nur um die Frage, ob es sollen wir denn machen?)
bei den Löhnen eine Bewegung von unten nach oben
gibt, sondern auch darum, ob möglicherweise die Wir haben keinen generellen Mindestlohn, der für zuge-
Schleuse geöffnet wird, um Löhne zu senken, wie es lei- wanderte und entsandte Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
der in vielen Ländern geschieht, in denen Mindestlohn- rinnen gleichermaßen gilt. Möglicherweise gilt nicht
regelungen existieren. einmal die sogenannte Schranke der Sittenwidrigkeit.
Herr Professor Bayreuther hat dies in der Sachverständi-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genanhörung beleuchtet. Die Mindestlohnregelung für
NEN]: Beispiele nennen!) die Leiharbeit, die wir kürzlich erst in das Arbeitnehmer-
Zur sozialen Marktwirtschaft gehört, dass gute Löhne überlassungsgesetz aufgenommen haben, wird durch
für gute Arbeit gezahlt werden. Wir treten für branchen- Dienst- und Werkverträge möglicherweise umgangen
bezogene Mindestlöhne ein. Damit haben wir bisher werden. Für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen,
schon Erfolg gehabt. Wir glauben, dass wir damit weiter die auf der Grundlage von Werk- und Dienstverträgen
Erfolg haben werden und eine sinnvolle Alternative zu hierhin kommen, gelten nämlich die Entlohnungsbedin-
einem gesetzlich dekretierten Mindestlohn anbieten. gungen des Heimatlandes. Darüber hinaus besteht auch
die Gefahr, dass die beschränkten Mindestlohnregelun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits durch
11992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Anette Kramme
(A) Scheinselbstständigkeit und andererseits durch falsche Man sucht nach Neuem, nach Überraschendem, nach (C)
Tätigkeitsbezeichnungen umgangen werden. Verborgenem. Stellen Sie sich vor: Ich habe ein Mindest-
lohnnest mit drei Eiern – ein rotes, ein grünes und ein
Wir müssen registrieren: Seitens der Regierung ist
dunkelrotes – entdeckt. Sie sahen zunächst einmal ziem-
nichts unternommen worden. Wir haben im Zuge der
lich ähnlich aus. Bei näherer Untersuchung stellte ich
Verhandlungen über die Regelsätze ernsthaft versucht, fest: Sie waren ein bisschen hohl und teilweise ein biss-
die Einführung eines generellen Mindestlohns zu errei-
chen faul.
chen und das Prinzip des Equal Pay bei der Leiharbeit zu
verankern. Rechtzeitig zum 1. Mai – früher hieß es „Hinaus zum
Kampfmai“; der Reflex scheint jedenfalls auf der linken
Meines Erachtens benötigen wir hier zwingend vier Seite dieses Hauses noch zu funktionieren – stellen Sie
Regelungen: die Forderung nach einem gesetzlichen flächendecken-
Zuerst benötigen wir einen generellen Mindestlohn den Mindestlohn. Weil Sie anscheinend doch kein gutes
und eine sogenannte Equal-Pay-Regelung für die Leih- Gefühl dabei haben – ein flächendeckender Mindestlohn
arbeit. wirkt eben in allen Teilen des Landes und in allen Bran-
chen sehr undifferenziert –, soll er auf eine Art und
Vor allen Dingen brauchen wir effektive Sanktions- Weise festgelegt werden, dass sich die Politik möglichst
regelungen zur Einhaltung des Mindestlohnes in der heraushalten kann. Die Kommissionslösung feiert Ur-
Leiharbeit. Hier stehen entsprechende Regelungen noch stände. Aber Sie alle haben Ihre Vorstellungen, was am
aus. Ende herauskommen soll. Die Grünen wollen einen
Zudem brauchen wir eine angemessene Ausstattung Mindestlohn von 7,50 Euro. Die SPD legt sich nicht fest,
der Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“. Die Aufgaben der sondern fordert in ihrem Antrag „zum Beispiel
Finanzkontrolle „Schwarzarbeit“ haben in den letzten 8,50 Euro“. Die Linken gehen von mindestens 10 Euro
Jahren durch die Ausdehnung der Bedingungen für einen bis 2013 aus.
Mindestlohn stark zugenommen. Aber eine entspre- (Beifall bei der LINKEN – Sigmar Gabriel
chende Zunahme der Zahl der dort Beschäftigten hat es [SPD]: Sie haben wenigstens die Anträge gele-
nicht gegeben. Es gab eine aktuelle Anfrage. Die Ant- sen!)
wort war: Es besteht keinerlei Bereitschaft, dort mehr
Personal zur Verfügung zu stellen. – Ich weiß nicht, ob das ein Grund zum Klatschen ist. –
Ich habe unlängst von einem SPD-Landesminister ge-
Zu guter Letzt brauchen wir eine Beratungstätigkeit. lernt: Löhne müssen der Wertschöpfung entsprechen.
Wir werden es mit Arbeitnehmern zu tun haben, die
(Sigmar Gabriel [SPD]: Mein Gott!)
(B) schlechte Sprachkenntnisse und schlechte Informationen (D)
über das Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutsch- Wenn Sie, egal was die unabhängige Kommission emp-
land haben. Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese fehlen wird, schon heute wissen, dass auf jeden Fall ein
Menschen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland Mindestlohn von 10 Euro herauskommen muss, dann
ausgenutzt und ausgebeutet werden. Natürlich dürfen frage ich mich, ob die Wertschöpfung wirklich in allen
wir es auch nicht zulassen, dass sich der Niedriglohnsek- Branchen und allen Teilen unseres Landes mithalten
tor, der sich in der Bundesrepublik Deutschland so ver- kann und ob nicht letzten Endes Arbeitsplätze verloren
heerend entwickelt hat, noch weiter ausdehnt. gehen werden. Das würde ich bedauern. Das Beispiel
Meine Damen und Herren der Regierung, deshalb Postdienstleistungen hat gezeigt, dass Arbeitsplätze in
kann ich nur sagen: Im Herbst wird es mit Sicherheit die sehr kurzer Frist und großer Zahl – dort waren 8 000 bis
ersten Missbrauchsfälle geben. Die Verantwortung dafür 10 000 Arbeitsplätze betroffen – verloren gehen können.
liegt ausschließlich bei Ihnen. Ich glaube, wir sind besser beraten, wenn wir, wie es
Vielen Dank. die schwarz-gelbe Koalition getan hat, mit Branchen-
mindestlöhnen operieren, die von Tarifpartnern festge-
(Beifall bei der SPD) legt werden. Diese können einschätzen, welche Größen-
ordnung in den jeweiligen Branchen richtig ist. Ich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weise darauf hin, dass sich die Koalition in den letzten
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der Monaten bewegt hat. Wir haben da, wo es sich anbot, in
FDP-Fraktion. nahezu allen Branchen, die im Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz aufgeführt sind, den Weg für eine Lohnunter-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten grenze freigemacht, auch im Bereich der Zeitarbeit. Hier
der CDU/CSU) hatten viele im Haus große Bedenken, obwohl alle nam-
haften Forschungsinstitute einschließlich des IAB gesagt
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): haben: So schlimm wird es nicht werden; es wird in ei-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ner überschaubaren Größenordnung bleiben. Ich kann
Wenn man jetzt im Frühling, kurz vor Ostern, durch Sie beruhigen, Frau Kramme: Wir werden auch rechtzei-
Stadt und Land streift, dann schärft sich unwillkürlich tig die Kontrollinstrumente einführen. Daran wird es
der Blick. nicht scheitern.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rate dazu, dass wir, nachdem wir jetzt einen derart
NEN]: Es wäre schön, wenn es so wäre!) vernünftigen Weg eingeschlagen haben, abwarten, was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11993
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) die Evaluierung bringt, die sich die Regierung für die Partei weiterbringen. Dann müssten Sie kein Personal (C)
zweite Hälfte dieses Jahres vorgenommen hat. Wir soll- auswechseln, sondern Sie müssten einfach den Kurs
ten in Ruhe und ohne Zorn und Eifer abwarten, wie sich wechseln. Dann kämen Sie einen Schritt weiter.
Mindestlöhne tatsächlich auswirken. Dann kann man se-
hen, ob weiterer Handlungsbedarf besteht. Ich glaube, (Beifall bei der LINKEN)
das ist ein Vorgehen mit Augenmaß. Die Realität in unserem Lande ist bedrückend. Das
Ich bin anscheinend im Gegensatz zu vielen von Ih- Callcenterunternehmen Teleperformance – offensicht-
nen optimistisch, was den 1. Mai anbelangt. Ich glaube, lich eines der Großen der Branche weltweit – hat Nieder-
dass in der Freizügigkeit eine große Chance für unser lassungen in Deutschland und zahlt Löhne zwischen
Land und unsere Wirtschaft besteht. 5,61 Euro und 7,50 Euro. In den ostdeutschen Ländern
verdient kaum jemand über 6 Euro, Herr Kolb. Gehalts-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erhöhungen finden dort seit Jahren nicht mehr statt. Das
NEN]: Daran zweifle ich!) Unternehmen – diese Information ist an Herrn Weiß ge-
– Auch Sie sollten optimistisch sein, Kollegin Pothmer, richtet – ist nicht tarifgebunden. Die Betreiber von Call-
und mit Freude diesen weiteren Schritt des Zusammen- centern haben zwischen 1998 und 2009 ihre Renditen
wachsens in Europa gehen. um mehr als 20 Prozent gesteigert. Sie werden übrigens
mit 19 Millionen Euro subventioniert. Ich denke, es gibt
Was die Mindestlohnfrage anbelangt, glaube ich sa- einen engen Zusammenhang zwischen den niedrigen
gen zu können: Wir sind gut vorbereitet, und es besteht Löhnen in den Callcentern und den Extraprofiten, die of-
kein Grund zur Sorge. Wenn Sie sich ein bisschen öffnen fensichtlich in diesen Unternehmen üblich sind.
und lockerer geben, als es aus Ihren Anträgen spricht, er-
leben Sie vielleicht mit der Freizügigkeit eine ange- Mein nächstes Beispiel ist die Firma KiK, ein Textil-
nehme Überraschung. discounter. Diese Firma zahlt Aushilfen Stundenlöhne
von 5,20 Euro. Diese Löhne waren sogar dem Arbeitsge-
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
richt zu niedrig. Es hat diese für sittenwidrig erklärt. Das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Problem ist allerdings: Die Firma hätte mindestens
7,80 Euro zahlen müssen. Hätten wir einen Mindestlohn,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und zwar einen flächendeckenden, Herr Weiß, wäre das
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak- Risiko, dass die Menschen mit einem solchen Lohn ab-
tion Die Linke. gespeist werden, bei weitem geringer. Zu den Fragen der
Kontrollen komme ich noch. Aber Sie, Herr Weiß, ak-
(Beifall bei der LINKEN) zeptieren offensichtlich – da Sie keine flächendeckenden
(B) (D)
Mindestlöhne einführen wollen –, dass Niedriglöhne
Klaus Ernst (DIE LINKE): – wie gerade dargelegt – in der Bundesrepublik Deutsch-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und land üblich sind und üblich bleiben.
Herren! Herr Kolb, es freut mich, dass Sie Osterspazier-
gänge machen und Eier suchen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch Sie erlauben eine Zwischenfrage von Herrn Weiß?
gelb-rote Eier!)
Ich habe einen Tipp für Sie: Versuchen Sie es mit einem Klaus Ernst (DIE LINKE):
Spaziergang bei Ihrem Arbeitsminister Heiner Garg Mit großer Freude.
– Mitglied der FDP –, der Ihnen in dieser Frage einen
Rat gibt. Diesen Rat möchte ich Ihnen zur Kenntnis ge-
ben, weil Sie ihn Ostern vielleicht nicht treffen. Er hat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
am 7. April dem Tagesspiegel gesagt: Bitte schön, Herr Weiß. Herr Ernst erlaubt eine Zwi-
schenfrage.
Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit he-
ranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im
Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe … Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Men- Herr Kollege Ernst, Sie haben mich persönlich ange-
schen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und sprochen und die Branchen Callcenter und Einzelhandel
sich und ihre Familien davon nicht ernähren kön- erwähnt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
nen. „Zwei Euro Stundenlohn sind weder sozial die dbb tarifunion für Callcenter einen Mindestlohnan-
noch liberal“, sagte Garg. Genauso wenig sei es für trag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt
einen liberalen Politiker hinnehmbar, dass der Staat hat, der dem Hauptausschuss vorliegt? Würden Sie
Unternehmen dauerhaft subventioniere, die den freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass im Be-
Wettbewerb mit Niedrigstlöhnen aushebelten. reich des Einzelhandels die Arbeitgeberseite, der HDE,
mit der Arbeitnehmerseite über einen Mindestlohntarif-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja
vertrag verhandelt? Würden Sie schließlich zur Kenntnis
Mast [SPD])
nehmen, dass ich mich freuen würde, wenn in beiden
So weit Ihr Parteifreund, Herr Kolb. Wenn Sie meinen Branchen Mindestlohnregelungen in Kraft treten wür-
Tipp für einen Spaziergang befolgten, würde das Ihre den?
11994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Klaus Ernst (DIE LINKE): was hier gefordert wird, nämlich den Familien einen an- (C)
Herr Weiß, ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass gemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.
Sie offensichtlich das bestätigen, was ich sage; denn Sie
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ihnen fehlt
sind nicht bereit, gesetzgeberisch zu handeln. Sie akzep-
doch persönlich die Glaubwürdigkeit! – Weite-
tieren, dass Löhne in dieser Republik gezahlt werden,
rer Zuruf von der CDU/CSU)
von denen man nicht leben kann.
Das ist nur möglich, wenn wir Mindestlöhne in Höhe
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was sind Sie von mindestens 10 Euro einführen, Herr Weiß. Das ist
für ein Gewerkschafter!) die Wahrheit.
Das ist der Skandal in diesem Land. Ihre Partei weigert (Beifall bei der LINKEN)
sich zusammen mit der FDP hartnäckig, dafür zu sorgen,
dass die Menschen einen Lohn erhalten, von dem sie le- Wir wissen, dass jeder Lohn unter 9,46 Euro im Er-
ben können. Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Weiß. gebnis dazu führt, dass ein Mensch, der diesen Lohn sein
Leben lang erhält, eine Rente bezieht, die unter der
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer Grundsicherung im Alter liegt. Bei 9,46 Euro ist die
[Göttingen] [CDU/CSU]: Und so was sagt ein Grenze. Wir wissen, dass – je nach Arbeitszeit – bei
Gewerkschafter!) 7,50 Euro oder 7,80 Euro die Grenze ist, unterhalb derer
Wir können gern bei Ihrem Argument bleiben. Es ist man einen Lohn bekommt, den man aufstocken muss.
bekannt, dass der Einstiegslohn im Hotel- und Gaststät- Die Löhne vieler Menschen in unserem Land liegen dar-
tengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern bei 5,39 Euro unter. Sie akzeptieren, dass Arbeitgeber Löhne zulasten
und in Sachsen-Anhalt bei 6,75 Euro liegt. Dort gelten Dritter vereinbaren können. Denn wenn die Löhne so
Tarifverträge, in denen offensichtlich so niedrige Löhne niedrig sind, dass der Staat die Löhne zahlen muss, oder
festgelegt sind, dass man davon nicht leben kann. Herr die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Renten zah-
Weiß, jetzt können wir so tun, als ob uns das nicht inter- len muss, handelt es sich um Löhne und Vereinbarungen
essierte. Aber wir sind hier nicht nur zum Beobachten zulasten Dritter, die aus meiner Sicht als sittenwidrig ab-
und zum Appellieren da; Sie als Regierungspartei sind gelehnt gehören. Das ist die Situation, in der wir uns be-
vielmehr zum Regieren da. Wenn Sie richtig regieren finden.
würden, würden Sie solch niedrige Löhne verhindern (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sig-
und dazu beitragen, dass die Menschen Löhne beziehen, mar Gabriel [SPD])
von denen sie leben können. Das aber tun Sie nicht, Herr
Weiß. Meine Damen und Herren, ein Thema, das in diesem
(B) Zusammenhang auch noch von Bedeutung ist, sind die (D)
(Beifall bei der LINKEN) Kontrollen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das Land-
Sie sind mittlerweile relativ isoliert mit Ihrer Position. gericht Magdeburg im Juni 2010 einen Reinigungsunter-
Am vergangenen Dienstag hat die Parlamentarische Ver- nehmer zu nur 1 000 Euro – nur 1 000 Euro! – Geld-
sammlung des Europarats eine Entschließung mit dem strafe verurteilt hat, weil er statt des Mindestlohns von
Titel „Bekämpfung der Armut in Europa“ verabschiedet. damals 7,68 Euro einen Stundenlohn von weniger als
In dieser Entschließung heißt es in Punkt 5.9: Die Mit- 1 Euro gezahlt hat. Bei einer solch geringen Bestrafung
gliedstaaten werden aufgefordert, – ich zitiere wörtlich –, von Leuten, die Hungerlöhne offensichtlich für akzepta-
bel halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sich
durch die Gewährung eines angemessenen Min- der Niedriglohnsektor ausweitet und dass sich ein Teil
destlohns das Recht auf faire Entlohnung zu sichern unserer Bürger an Gesetze, die hier verabschiedet wer-
und das Recht der Arbeitnehmer auf einen Lohn, den, nicht mehr hält. Wir brauchen drastische Strafen für
der ihnen und ihren Familien einen angemessenen die Menschen, die Hungerlöhne zahlen. Dafür treten wir
Lebensstandard ermöglicht, anzuerkennen. Linken ein.
Herr Weiß, diesem Antrag hat auch Ihre Partei, die (Beifall bei der LINKEN)
Mitglied in der Europäischen Volkspartei ist, zuge-
stimmt. – Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich bei Besonders betroffen sind Frauen. Sie sind deshalb be-
diesem Thema lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten, sonders betroffen, weil sie nach wie vor die schlechteren
als sich die Argumente eines politischen Konkurrenten Jobs haben und nach wie vor schlechter bezahlt werden.
anzuhören. Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im
Monat verdienen, sind Frauen. Ich wiederhole: Zwei von
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat ver-
gehen ja auf die Argumente nicht ein! Sie er- dienen, sind Frauen. Frau von der Leyen, Sie machen
zählen etwas ganz anderes!) sich immer für die Frauenrechte stark; das begrüßen wir.
Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnten Sie dazu
Ich möchte hinzufügen: Sie sind offensichtlich mit beizutragen, dass einer Vielzahl von Frauen in diesem
der Position, die Sie einnehmen, auch in der Union voll- Land wenigstens ein anständiger Lohn gezahlt wird.
kommen alleine. Ihr Kollege im Europarat ist offensicht-
lich schon deutlich weiter; denn Sie werden nicht ab- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
streiten können, Herr Weiß, dass man mit dem Lohn, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
über den Sie gerade diskutieren, keinesfalls das erreicht, GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11995
Klaus Ernst
(A) 33 Prozent aller weiblichen Vollzeitkräfte sind Ge- geht, die Kurve gekriegt und sich vom Saulus zum Pau- (C)
ringverdienerinnen. 33 Prozent aller weiblichen Vollzeit- lus gewandelt. Als dann noch der Kieler Arbeitsminister
beschäftigten! Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich kann presseöffentlich gesagt hat – Herr Ernst hat es schon zi-
überhaupt nicht verstehen, dass man sich auf der einen tiert –: „Wir müssen uns für Lohnuntergrenzen öffnen“;
Seite berechtigterweise für einen höheren Frauenanteil „2 Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal“, da
in den oberen Etagen unserer Wirtschaft starkmacht, dachte ich: Das findet vielleicht Gehör in der FDP-Bun-
aber gleichzeitig offensichtlich den Blick nach unten destagsfraktion.
vollkommen vergisst. Dass insbesondere Frauen mit
Aber seit dem letzten Wochenende lässt es sich nicht
Hungerlöhnen abgespeist werden, ist ein Skandal, ge-
leugnen: Das marktliberale Beharrungsvermögen hat
nauso wie die Tatsache, dass Sie das akzeptieren, Frau
sich in der FDP ganz offensichtlich durchgesetzt.
von der Leyen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was war denn
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
am letzten Wochenende? Habe ich da was ver-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
passt?)
GRÜNEN)
Die Erneuerung ist abgeblasen. Der Parteivorsitzende
Ein weiteres Argument. Wir haben 6,7 Millionen aty-
sagt nämlich: Der liberale Kompass stimmt.
pisch Beschäftigte in unserem Land. 74 Prozent davon
sind Frauen. Frau von der Leyen, es ist nicht akzeptabel, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Bei uns ist
dass Sie in diesem Bereich schlichtweg nur durch Zu- Norden immer Norden!)
schauen glänzen. Ich möchte Ihnen sagen: Wir isolieren
– Ich will Ihnen einmal etwas sagen, lieber Herr Kolb:
uns nicht nur in Europa – in Luxemburg gibt es einen
Wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, dann ist es vollkom-
Mindestlohn von 10,16 Euro; in Frankreich liegt er bei
men egal, wer bei Ihnen regelt oder segelt, dann wird die
9 Euro –, sondern auch weltweit. In Australien liegt der
FDP weiterhin Schiffbruch erleiden.
Mindestlohn bei 10,40 Euro. Ich könnte die Liste belie-
big fortsetzen. 70 Prozent der Bevölkerung in Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
land befürworten die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns, übrigens auch 61 Prozent der Selbststän- Sagen Sie doch einmal ganz im Ernst: Sie müssten
digen. Warum? Weil es inzwischen auch die Selbst- jetzt doch eigentlich ein bisschen spüren, was es heißt, in
ständigen satthaben, von einer Schmutzkonkurrenz von einer prekären Lage zu sein.
Unternehmen bedroht zu werden, die Niedrigst- und Bil- (Lachen des Abg. Sigmar Gabriel [SPD] –
ligstlöhne zahlen. Tun Sie etwas dagegen! Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist
(Beifall bei der LINKEN) doch gut so!)
(B) (D)
Sie sind Regierungspartei, also appellieren Sie nicht, Ich dachte, dass die prekäre Lage, in der Sie sich befin-
sondern regieren Sie. Es wird Zeit, dass wir endlich Er- den, dazu führen könnte, dass Sie wenigstens ein biss-
gebnisse sehen. chen für die Situation derjenigen Menschen sensibilisiert
werden, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder sind.
[CDU/CSU]: Also, die Rede hat Sie nicht ge-
rettet!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Diese Krokodils-
tränen! Heuchlerisch!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber nichts davon scheint der Fall zu sein. Nein, Sie ha-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von ben ein kaltes Herz, und Sie haben keinen sozialpoliti-
Bündnis 90/Die Grünen. schen Verstand.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bei der SPD und der LINKEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit
Die Fakten sind lange bekannt: 6,6 Millionen Men-
vielen Jahren ist die Bevölkerung für einen gesetzlichen
schen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor,
Mindestlohn; das wissen wir alle. Ich gebe zu: Ich hatte
Tendenz steigend. 3,4 Millionen arbeiten für weniger als
zeitweise wirklich die Illusion, wir könnten auch hier in
7 Euro die Stunde. Mehr als 1 Million arbeiten für
diesem Hohen Hause eine parlamentarische Mehrheit für
Löhne unter 5 Euro die Stunde brutto. Eine Friseurin in
den gesetzlichen Mindestlohn erreichen. Nach den
Sachsen bekommt 3,06 Euro die Stunde. Dafür kann
Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-
man sich nicht die Haare schneiden lassen; da kann man
Pfalz schien es mir so, als würde der Schock, den die
sich wirklich nur die Haare raufen.
FDP dort erfahren hat, tatsächlich dazu führen, dass sie
auch sozialpolitisch ein bisschen Vernunft annimmt. Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hieß nach diesen Landtagswahlen tatsächlich: Es ist jetzt sowie bei Abgeordneten der SPD)
unsere Aufgabe, unser soziales Profil zu schärfen.
Mehr als 350 000 Menschen arbeiten Vollzeit und be-
Als bekannt wurde, dass an die Spitze der Partei Herr kommen trotzdem ergänzend Hartz IV. Ich finde, das ist
Rösler gesetzt werden soll, dachte ich: Vielleicht liegt beschämend für eine Regierung, das ist entwürdigend
darin auch eine Chance für den Mindestlohn. Herr Rös- für die Betroffenen, und das ist für die Steuerzahler ver-
ler hatte nämlich, was den Mindestlohn in der Pflege an- dammt teuer. Denn allein ein Mindestlohn von 7,50 Euro
11996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Brigitte Pothmer
(A) würde für den Staat Einsparungen in Höhe von 1,5 Milli- Ich appelliere an Sie: Folgen Sie Ihrem sozialpoli- (C)
arden Euro bedeuten. tischen Verstand und verstecken Sie sich nicht länger
hinter branchenspezifischen Mindestlöhnen! Branchen-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn alle spezifische Mindestlöhne sind eine sinnvolle Ergänzung
Arbeitsplätze erhalten blieben!) – das will ich gar nicht bestreiten –, wenn sie oberhalb
Diese 1,5 Milliarden Euro nehmen Sie, um skrupellose der allgemeinen Mindestlohngrenze liegen, aber sie tau-
Unternehmer zu subventionieren, die sich gegenüber gen wirklich nicht als Ersatz. Selbst wenn sich Arbeit-
denjenigen Wettbewerbsvorteile verschaffen, die faire nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber in ei-
Löhne zahlen. Das ist Wettbewerb à la FDP. Dem geben ner Branche auf einen Mindestlohn verständigt haben,
Sie Ihren Segen. zelebrieren sofort die Hohepriester um Rainer Brüderle
ihr Hochamt der Ideologie und blockieren die Einfüh-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung dieses Mindestlohns. Das haben wir nun wirklich
sowie bei Abgeordneten der SPD) hinlänglich erfahren müssen.
Mit der Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit Meine Damen und Herren von Union und FDP, der
werden die Probleme zunehmen; das hat die Anhörung Mindestlohn wird kommen. Vielleicht können Sie diese
eindeutig ergeben. Es wird nicht zu einem allgemeinen historische Gewissheit noch für eine bestimmte Zeit ver-
Problem kommen, aber es wird Druck auf die unteren drängen. Vielleicht können Sie diesen Prozess noch et-
Löhne ausgeübt werden. was verzögern. Eines ist sicher: Aufhalten können Sie
Liebe Kollegen von der FDP-Fraktion, Sie sind ein- ihn nicht.
mal angetreten mit dem Grundsatz: Arbeit muss sich
Ich danke Ihnen.
wieder lohnen. – Jetzt müssen Sie uns hier im Parlament
erklären: Warum gilt das eigentlich nicht für die unters- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ten Lohngruppen? Die Lohnspreizung hat in den letzten sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Jahren immer weiter zugenommen. Im letzten Jahr hat es KEN)
auf den Veranstaltungen zum 1. Mai schon viele Trans-
parente gegeben, auf denen stand: Habe Arbeit, brauche
Geld. – Es ist auch Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die Menschen für ihre Arbeit einen vernünftigen Lohn Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/
bekommen. CSU.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD) (D)
Das Arbeitsplatzvernichtungsargument ist seit Jahren Ulrich Lange (CDU/CSU):
widerlegt. Wenn Sie bei der Anhörung zugehört hätten, Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
hätten Sie mitbekommen, dass das IAB noch einmal Ich möchte vorab dem Kollegen Markus Kurth von den
deutlich darauf hingewiesen hat, dass ein klug einge- Grünen zum heutigen Geburtstag ganz herzlich auch in
führter Mindestlohn positive Arbeitsplatzeffekte haben unserem Namen gratulieren.
würde.
(Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
könnte es vielleicht sein, dass Sie, nachdem Sie in der Herzlich willkommen zur Mobilmachung für den
Energiepolitik einen Scherbenhaufen produziert haben, 1. Mai! Diese Debatte scheint mir dazu zu dienen, die
gerade dabei sind, den nächsten Polterabend, jetzt in der leeren Säle bei DGB, Linken und SPD vielleicht wieder
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, zu organisieren? ein bisschen zu füllen. Der 1. Mai ist ein Sonntag. Ich
freue mich auf Sonne und Bayern.
(Jens Ackermann [FDP]: Ist das ein Antrag? –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer heiratet (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wen? – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Weil der FDP)
wir eurem Antrag nicht zustimmen?) Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag planen
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Sie in erster Linie eines: Sie wollen in die Tarifautono-
alle sozial- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen mie eingreifen,
erfüllt. Sie wissen das im Prinzip genau. Herr Weiß, ich
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So sieht es aus!)
spreche Sie noch einmal an. Sie sind in Ihrer CDU-Ar-
beitnehmerorganisation doch seit Jahren unterwegs im die die Väter des Grundgesetzes aus gutem Grund so de-
Kampf für einen flächendeckenden gesetzlichen Min- finiert und aufgeschrieben haben. Wir sind mit dieser Ta-
destlohn – rifautonomie in den vergangenen über 60 Jahren in
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein, er Deutschland sehr gut gefahren, wie ich glaube. Überall
ist schon überzeugt!) dort, wo es soziale Ungleichgewichte gab, wo es ein
strukturelles Funktionsdefizit der Tarifautonomie gab,
bisher leider ohne Erfolg. Sie haben jetzt die Chance! haben wir – in verschiedenen Konstellationen – gehan-
Machen Sie den Rücken gerade und stimmen Sie unse- delt, zuletzt bei der Zeitarbeitsbranche – wie ich finde,
rem Gesetzentwurf zu! sehr schlüssig –, aber auch bei der Pflege.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11997
Ulrich Lange
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verdi, NGG und andere Gewerkschaften den Mindest- (C)
neten der FDP) lohn fordern und sogar Kampagnen dafür veranstalten?
Es steht also durchaus nicht im Widerspruch zu meiner
Liebe Kollegin Pothmer, Sie haben zu Recht den zu- Gewerkschaft, wenn ich hier den Mindestlohn fordere.
künftigen FDP-Vorsitzenden gelobt. Sie sehen also: Die
schwarz-gelbe Koalition weiß sehr wohl, was Sozial-, Zweitens. Ist Ihnen bekannt, dass es insbesondere im
Lohn- und Arbeitsmarktpolitik ist. Niedriglohnbereich Unternehmen gibt, in denen es aus
unterschiedlichen Gründen, die nicht bei den Arbeitneh-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
mern zu suchen sind, kaum gewerkschaftlich organi-
der FDP)
sierte Mitarbeiter gibt, dass also von den beiden erwähn-
Deswegen werden wir beim Prinzip der branchenbe- ten Polen einer fehlt, sodass Tarifergebnisse, wie Sie sie
zogenen Mindestlöhne bleiben. Mindestlöhne gibt es fordern, nicht zustande kommen können? Könnte das
derzeit in acht Branchen. Fünf davon sind unter vielleicht der Grund sein, warum die Gewerkschaften,
Schwarz-Gelb aufgenommen worden, nur eine einzige obwohl sie an der Tarifautonomie festhalten, gesetzliche
unter Rot-Grün. Deswegen bitte ich, das Ganze in dieser Mindestlöhne fordern?
Relation zu sehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Lieber Kollege Ernst, Sie kommen ja aus der Gewerk-
schaft. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es in Ulrich Lange (CDU/CSU):
Deutschland zwei starke Pole, zwei starke Blöcke gibt:
zum einen die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeit- Lieber Kollege Ernst, könnte es sein, dass die Men-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, zum anderen die Ar- schen das Vertrauen in die Gewerkschaften so sehr ver-
beitgeberverbände. Genau das macht Tarifpolitik aus. loren haben, dass sie nicht mehr glauben, dass diese in
Jetzt muss ich fast annehmen, dass Sie der eigenen Ge- der Lage sind, den einen Pol darzustellen und diese
werkschaft nicht mehr vertrauen. Löhne durchzusetzen? Ich glaube, dass meine Argumen-
tation insoweit sehr schlüssig ist.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau so ist
es!) (Widerspruch bei der LINKEN)

Oder ist der Vertrauensverlust schon so weit fortgeschrit- Was Sie letztlich wollen und machen, ist, den Tarifpar-
ten, wie es bei Ihrer Partei in Bezug auf Ihre Person der teien ihr Recht zu beschneiden und staatlichen Einfluss
Fall ist? auf die Löhne zu fordern. Das wird am Ende, auch wenn
Sie es nicht glauben, Arbeitsplätze kosten. Denn ein flä-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – chendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird regiona- (D)
(B)
Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu len Unterschieden nicht gerecht. Das müssten Sie eigent-
einer Zwischenfrage) lich selber erkennen. In einer Region wie derjenigen, aus
der ich komme, mit weniger als 3 Prozent Arbeitslosen,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ist die Situation völlig anders als beispielsweise in
Herr Kollege Lange – – Mecklenburg-Vorpommern.
Ich glaube, dass wir mit branchenspezifischen Min-
Ulrich Lange (CDU/CSU): destlöhnen und mit den vorhandenen gesetzlichen Rege-
Ich möchte den Gedanken erst zu Ende führen, dann lungen, mit denen soziale Unwuchten ausgeglichen
gerne; meine Redezeit ist sehr knapp. werden können, den richtigen Weg gehen. Mit dem Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz – es wurde schon genannt –
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sitzen an und mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Ta-
einem Tisch. Sie wissen um die Probleme der Betriebe rifverträgen verhindern wir Lohndumping. Wir haben
und der Branche, sie kennen die Sichtweisen und tau- auch – Sie glauben nicht daran, aber ich setze auf unsere
schen sich auf Augenhöhe aus. Wir befinden uns eben Gerichte – die Rechtsprechung zu sittenwidrigen Löh-
nicht in einer Planwirtschaft, wo der Staat losgelöst von nen, und wir haben noch andere Instrumentarien wie das
Produktivität und Realität die Löhne in den Betrieben Tariftreuegesetz und vieles andere mehr.
festsetzt. Genau das macht das Wesen der Tarifautono-
mie aus. (Sigmar Gabriel [SPD]: Welches Tarif-
treuegesetz denn?)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Peinlich
ist das!) Setzen wir weiter auf die Systemstimmigkeit und
Jetzt bitte ich um die Verlängerung der Redezeit. Übersichtlichkeit gesetzlicher Vergütungsregulierungen
dort, wo wir sie brauchen! Setzen wir aber auch auf das
Koalitionsgrundrecht, auf die Tarifautonomie und auf
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft gegen Plan-
Bitte schön, Herr Ernst. wirtschaft und staatlichen Eingriff.
Danke schön.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Ich habe folgende Fragen. Erstens. Ist Ihnen bekannt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dass der Deutsche Gewerkschaftsbund, die IG Metall, Zurufe von der SPD: Oh!)
11998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Dann schauen wir uns doch einmal an, was in den (C)
Das Wort hat der Kollege Sigmar Gabriel von der Bundesländern los ist, in denen Sie den Ministerpräsi-
SPD-Fraktion. denten stellen.

(Beifall bei der SPD) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben in


Bayern die Tarifbindung!)
Sigmar Gabriel (SPD): Deren Zahl wird Gott sei Dank – der Ausgang der letzten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wer- Wahlen war da ganz erfreulich – geringer.
den uns an den letzten Beitrag gern erinnern und einmal (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/
einen Gesetzentwurf über Tariftreue in den Deutschen CSU)
Bundestag einbringen. Der Kollege Lange wird dann
erstens erstaunt feststellen, dass es dieses Gesetz bisher – Ich verstehe ja, dass Sie jetzt nervös werden. Aber ich
nicht gibt. sage Ihnen eines: Ihre Arbeitsministerin und Ihre Kolle-
gen von CDU/CSU und FDP haben dafür gesorgt, dass
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Auf ausgehandelte Mindestlöhne in vielen Teilen Deutsch-
Länderebene!) lands eben nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind.
Zweitens wird er ihm, nachdem er es gerade angespro- Ihre Leute waren übrigens schon einmal klüger. Herr
chen hat, bestimmt zustimmen. Dieses Gesetz ist also Kollege Lange, die CDU/CSU hat einmal einem Gesetz-
eine gute Idee. entwurf der SPD-Bundestagsfraktion zugestimmt, ob-
wohl Ihre Fraktion die Mehrheit hatte. Das war aller-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dings – das will ich zugeben – zu Konrad Adenauers
DIE GRÜNEN) Zeiten, aber Konrad Adenauer loben Sie so gerne. Wenn
Herr Kollege, man muss schon eine Menge Humor Sie das nachlesen, dann werden Sie wissen, dass es Be-
haben – die Menschen, die es betrifft, können diesen Hu- reiche gibt, in denen Tarifverträge nicht existieren und in
mor aber nicht mehr aufbringen, weil sie in Verhältnis- denen die Gewerkschaften nicht stark genug sind. Herr
sen leben, in denen ihnen der Spaß am Leben genommen Kollege Lange, in dem Gesetz steht, dass sich in diesem
wird –, um das zu ertragen, was Sie gerade vorgetragen Fall der Staat einmischen muss. Denn wir müssen dafür
haben. Die rechte Seite des Hauses hat sich 20 Jahre lang sorgen, dass die Menschen in Deutschland von ihrer Ar-
Mühe gegeben, der Öffentlichkeit zu erklären, warum beit leben können, egal ob es einen Tarifvertrag gibt oder
Flächentarifverträge abgeschafft werden müssen und nicht.
(B) warum betriebliche Bündnisse besser sind. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (D)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Stimmt doch
gar nicht!) Herr Weiß, ich kann Ihnen Ihre Parteitagsbeschlüsse
zur Tarifvertragsfreiheit gerne zusenden, wenn Sie sie
– Was? Ihre Arbeitsministerin ist doch eine der Protago- nicht kennen.
nistinnen gewesen für die Abschaffung des Flächentarif-
vertrages. Die CDU hat auf ihrem Leipziger Parteitag (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich
beschlossen, dass es betriebliche Bündnisse geben soll. kenne aber auch die anderen! – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Was ist mit der Agenda 2010?)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie in die
Vergangenheit gucken, dann schauen wir mal, – Da haben wir die Tarifvertragsfreiheit verteidigt.
was Sie gemacht haben!)
Herr Kollege Weiß, Sie verweisen darauf, dass Sie bei
Diejenigen, die uns in das letzte Jahrhundert zurückfüh- der Einführung der Branchenmindestlöhne mitgemacht
ren wollen, die die Gewerkschaften in Deutschland ge- haben. Sie gestatten mir hoffentlich, dass ich sage: Ja,
schwächt haben und die Ostdeutschland, wo kaum noch auch wir sind stolz darauf, dass wir in der Großen Koali-
ein Arbeitsplatz der Tarifbindung unterliegt, zum Nied- tion mit Ihnen einen Mindestlohn für 2,5 Millionen
riglohnland gemacht haben – das sind Sie und Ihre Kol- Menschen einführen konnten. Übrigens erhalten durch
legen von der FDP –, sagen jetzt: Das sollen doch bitte unsere Anträge bei den Verhandlungen zu Hartz IV jetzt
die Gewerkschaften klären. – Dabei sind Sie es doch, die wieder 1,2 Millionen Menschen mehr einen Mindest-
die Tarifvertragsfreiheit in Deutschland aufs Spiel ge- lohn.
setzt haben. Sie haben zu verantworten, was hier passiert
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja, gell!)
ist. Das ist ein Ding aus dem Tollhaus.
– Ich war dabei; ich weiß, dass wir das erst beantragen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mussten. Sie hatten das zuvor nicht vorgesehen. – Viel-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leicht verstehen Sie, dass der Beschluss in der Großen
Sie sorgen durch Ihr Handeln dafür, dass es keine Ta- Koalition ein Kompromiss war – Sie können auch Ihre
rifverträge gibt. Arbeitsministerin fragen, die damals in einem anderen
Aufgabenbereich tätig war –, weil die CDU/CSU nicht
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt bereit war, unseren Anträgen auf Einführung eines ge-
doch überhaupt nicht!) setzlichen Mindestlohns zu folgen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 11999
Sigmar Gabriel
(A) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da hatten wir Aufträge verlieren, weil sie Tariflöhne zahlen, dass die (C)
auch mehr Arbeitslose!) Gesellen hinterher arbeitslos sind, weil sie mit anderen,
die mit Sub-Sub-Subunternehmern agieren und keine
Ich würde Ihnen jetzt gerne einmal zeigen, wo die vernünftigen Löhne zahlen, nicht mithalten können? Sie
Schwachstellen der Branchenmindestlöhne liegen. Wir vernichten Arbeitsplätze in Deutschland, und zwar Ar-
haben zum Beispiel – Frau von der Leyen hat das groß beitsplätze mit einem Lohn, von dem man leben kann.
angekündigt – einen Branchenmindestlohn im Pflegebe-
reich. Ihre Arbeitsministerin hat gesagt, das sei etwas (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
richtig Gutes. In Osnabrück gibt es einen jungen Unter- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
nehmer, der gerade mit häuslicher Pflege zum Billigtarif GRÜNEN)
wirbt: Pflege für 1 490 Euro brutto im Monat; das sind
ungefähr 1 000 Euro netto. Sie können jetzt einmal aus- Sie schicken die Leute hinterher zum Sozialamt. Das ist
rechnen – es geht hier um 24-Stunden-Pflege –, ob man die Realität Ihrer Politik.
so auf den Mindestlohn im Pflegebereich kommt. Natür-
lich nicht! Der Unternehmer unterläuft den Mindestlohn; Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ich erkläre Ihnen gleich, wie er das macht. Herr Kollege Gabriel, erlauben Sie eine Zwischen-
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dann kriegt frage des Kollegen Kolb?
er den Zoll an den Hals! Der Zoll wird sich das
anschauen!) Sigmar Gabriel (SPD):
Die Caritas wirbt mit einer 24-Stunden-Pflege für Sehr gerne.
1 850 Euro im Monat; davon bleiben gut 1 000 Euro
netto übrig. Natürlich werben beide mit polnischen Pfle- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gekräften, nicht etwa mit deutschen; Bitte schön.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Für
die gilt das auch!) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Gabriel, Sie haben in Bezug auf die
das Angebot gilt ab dem 1. Mai.
Kollegen der Union den Blick bis zurück in das Jahr
Warum können sie das machen? Weil ein großer Teil 2005 gerichtet. Deswegen werden Sie sicherlich nichts
der 24-Stunden-Pflege Bereitschaftsdienst oder Haus- dagegen haben, wenn wir den Blick zurück auf das Han-
wirtschaftshilfe umfasst. Deshalb treffen die Bedingun- deln der SPD bis 2005 richten.
(B) gen des Mindestlohns in der Pflege nicht zu; sie gelten (D)
nicht. Diese Unternehmen unterlaufen also den Mindest- Sigmar Gabriel (SPD):
lohn. Diejenigen, die sich bei uns zur Altenpflegerin aus- Gerne!
bilden lassen, werden demnächst arbeitslos, weil andere,
die in ihren Heimatländern häufig bittere Lebensbedin-
gungen vorfinden – das gebe ich gerne zu; ich werfe es Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
ihnen nicht vor –, mit einem solchen Lohn besser leben Sie haben Geschäftsmodelle beklagt, bei denen Ar-
können als mit dem Lohn zu Hause. beitgeber Löhne zahlen, die durch öffentliche Transfers
aufgestockt werden müssen. Könnten Sie mir sagen, ob
Sie von der Koalition vernichten hier qualifizierte Ar- das Konzept der Aufstockung Teil der Agenda 2010 ist,
beitsplätze, weil Sie einen Mindestlohn verhindern. Das die sich namentlich mit Ihrer Partei, der SPD, verbindet?
ist die Realität. War es damals nicht gerade Ihre Idee, geringqualifizier-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Menschen durch eine Art Kombi-Einkommen, eine
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Kombination aus dem selbst erwirtschafteten Einkom-
GRÜNEN) men und einem öffentlichen Transfer, zu einem Min-
desteinkommen zu verhelfen, das in jedem einzelnen
Wissen Sie, hier zeigt sich der Irrsinn Ihrer Position in Fall bedarfsdeckend ist? Würden Sie mir zustimmen,
der Debatte. Welcher Auftraggeber im Handels-, Dienst- dass Sie sich gerade über sich selbst beklagen und Ihr
leistungs- oder Handwerksbereich kriegt wohl den Auf- Handeln in den Jahren 2005 und davor beweinen?
trag: derjenige, der einen fairen Lohn bietet, der Auslöse
und Tariflöhne zahlt, oder derjenige, der mit Sub-Sub-
Subunternehmern und miserablen Löhnen unter 7, 6 Sigmar Gabriel (SPD):
oder 5 Euro pro Stunde agiert? Natürlich derjenige, der Erstens. Wenn es so wäre, wäre es vernünftig, eigene
mit Billigarbeitskräften auftritt. Was macht er hinterher? Fehler einzusehen und sie zu korrigieren.
Er schickt seine Leute zum Sozialamt; denn da können (Zuruf von der LINKEN: Ja, dann machen Sie
sie sich über Hartz IV das restliche Geld holen. das doch!)
Herr Brüderle ist nicht hier. Ich würde aber gerne ein- Zweitens. Wir reden hier nicht mehr über Geringqua-
mal fragen, Herr Kolb: Was ist das eigentlich für eine li- lifizierte.
berale Wirtschaftsauffassung, die es zulässt, dass der
Staat eine Lohnsubventionierung in Milliardenhöhe vor- (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] –
nimmt, dass die anständigen Handwerksmeister ihre Zuruf von der SPD: Genau!)
12000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sigmar Gabriel
(A) Wir reden über Menschen mit einer ganz normalen Be- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C)
rufsausbildung. Na klar! Glauben Sie, dass die Alten- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
pflegerin, die Krankenschwester und der Pfleger keine
Es geht um die Substanz der sozialen Marktwirt-
anständige Berufsausbildung haben?
schaft. Es geht darum, ob sich Arbeit lohnt. Es geht da-
Drittens. Wir haben 2002 nicht von der Öffnung des rum, dass nicht das sozial ist, was Arbeit schafft, son-
Arbeitsmarktes für osteuropäische Arbeitskräfte zum dern das, wovon man leben kann, wenn man arbeiten
1. Mai dieses Jahres geredet. Darum geht es doch. Das geht. Darum geht es in Deutschland.
hat die Kollegin Kramme klargemacht. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Wir haben jetzt eine andere Situation. Deswegen bieten Es geht um den Wert von Arbeit. Das scheinen Sie
diese Unternehmen Pflegekräfte für 1 400 oder 1 800 Euro nicht zu verstehen. Es geht – da hat die Kollegin Poth-
zum 1. Mai an. Dann wird der Arbeitsmarkt für die ost- mer recht – auch um die Würde von Menschen, die ar-
europäischen Arbeitskräfte geöffnet. Davon sind die beiten gehen. Es geht darum, dass jemand, der einem
Fachkräfte betroffen und nicht diejenigen, für die wir Menschen im Altenheim täglich mehrfach die Windeln
alle möglichen Kombilöhne in Deutschland ausprobiert wechselt, der ihn füttert, der ihn betreut, auch einen an-
haben, um sie sukzessive an den ersten Arbeitsmarkt he- ständigen Lohn bekommt und nicht Angst davor haben
ranzuführen. Sie dringen richtig in den ersten Arbeits- muss, wegen Lohndumping aus dem Ausland hinterher
markt ein. zum Sozialamt gehen zu müssen.
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: (Max Straubinger [CDU/CSU]: Da haben wir
Schlimm!) doch den Mindestlohn!)
Inzwischen sind mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer Das dürfen die Leute in Deutschland doch von Ihnen er-
in Deutschland im Niedriglohnsektor beschäftigt. Wenn warten.
wir – das sage ich Ihnen – mit unserer Politik Fehler ge-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
macht haben, dann wird es jetzt Zeit, dass wir sie korrigie-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ren. Wir erleben eine falsche Entwicklung in Deutsch-
land. Diese wollen wir korrigieren, Herr Kollege Kolb. Sie sind dagegen.
Sie wollen sie ausbauen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) nicht wahr!)

Ich weiß nicht, Herr Kolb, wann Sie sich hinsetzen Sie sorgen dafür, dass Mindestlöhne unterlaufen werden
(B)
dürfen. Aber meine Antwort ist damit jedenfalls beendet. können. Sie tun so, als ob man in Deutschland Jobs ver- (D)
liert, wenn man den Mindestlohn einführt. In Wahrheit
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann setze ich verlieren wir Jobs, wenn wir ihn nicht einführen.
mich!)
Meine Damen und Herren, es ist Zeit, dass wir in
Herr Kolb, ich mache ein bisschen weiter. Sie erheben Deutschland wieder Recht und Ordnung auf dem Ar-
das zum Prinzip. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wo- beitsmarkt herbeiführen.
rum es im Kern geht. Im Kern geht es nicht nur um die (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das schaffen
Höhe des Lohnes. Es geht um die Substanz unseres Lan- wir! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
des. Denn was hat dieses Land kräftig, wohlhabend und
stark gemacht? Die Tatsache, dass sich Arbeit gelohnt – Nein, Sie und Frau von der Leyen sind den Frauen in
hat. Wir erleben in Deutschland gerade eine Entwick- Deutschland zweimal in den Rücken gefallen,
lung, die dazu führt, dass sich Arbeit und Leistung nicht
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mehr lohnen.
als Sie dagegen waren, dass es bei der Leiharbeit glei-
Wir alle sind mit dem Spruch unserer Eltern groß ge- chen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und als Sie dagegen
worden: Du sollst es einmal besser haben als wir. waren, dass wir endlich eingreifen, sodass Frauen und
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) Männer gleichen Lohn bei gleicher Arbeit kriegen. Sie
haben beide Male dagegen gestimmt. Ihre Ministerin
Was meinen Sie, wie viele Eltern sich heute Sorgen ma- fällt den Frauen in den Rücken, wenn es ums Handeln
chen, dass es ihren Kindern trotz guter Berufsausbildung geht,
schlechter gehen wird als ihnen? 40 Prozent der jungen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Leute, die eine gute Ausbildung haben, landen in prekä-
ren Beschäftigungsverhältnissen oder Zeitarbeit und und nach draußen hält sie feine Reden über Aufsichtsräte
werden schlecht bezahlt. Das sind diejenigen, denen wir und Quoten, die sie dort einführen will. Das ist das, was
immer sagen: Wir wollen, dass ihr Kinder bekommt, Sie hier machen.
eine Familie gründet, dass ihr etwas für das Alter zu-
rücklegt. Die halten uns für gaga, Herr Kollege Kolb. (Beifall bei der SPD)
Wir wollen dafür sorgen, dass sie nur noch Sie für gaga
halten und nicht diejenigen, die das ändern wollen. Dar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
auf können Sie sich verlassen. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12001

(A) Sigmar Gabriel (SPD): wenn sie festlegen will, was ein gerechter und guter (C)
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Lohn ist.

Meine Bitte an die CDU/CSU ist: Damals, 1952, gab (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
es einen Gesetzentwurf der SPD. Darüber gab es lange
Deshalb sagen wir nach wie vor: Versuchen wir, die Po-
Beratungen. Sie bildeten – wie heute – eine gemeinsame
litik aus dieser Frage herauszuhalten! Mittlerweile ver-
Regierung mit der FDP. Am Ende der Beratungen hatte
suchen Sie in Ihren Vorlagen, Ihre Vorstellungen verges-
Ihre Regierung unter Konrad Adenauer den Mut, dem
sen zu machen, dass nämlich für die Festlegung eines
Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen Ent-
gesetzlichen Mindestlohnes die Politik zuständig ist, in-
wurf die SPD eingebracht hatte, mit den Stimmen von
dem Sie plötzlich davon sprechen, dass irgendwelche
CDU/CSU zur Mehrheit zu verhelfen – gegen die Stim-
unabhängigen Kommissionen die Mindestlohnhöhe fest-
men Ihres Koalitionspartners FDP. Sie zitieren Adenauer
legen sollen.
so gern. Verhalten Sie sich doch einmal so wie er.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herzlichen Dank.
NEN]: In England sehr erfolgreich!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wenn man die Anträge bzw. den Gesetzentwurf von
der LINKEN)
der Opposition genau liest, dann stellt man fest, dass Sie
Ihren eigenen Vorschlägen misstrauen und dass Ihre Vor-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lagen nicht konsistent formuliert sind; denn der nationale
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP- Mindestlohnrat, den beispielsweise die Linkspartei vor-
Fraktion. schlägt, soll die Lohnhöhe fortwährend entwickeln, aber
den Eingangsmindestlohn von 10 Euro möchten Sie ihm
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) politisch vorgeben, genauso wie die Grünen ihren gefor-
derten Eingangsmindestlohn von 7,50 Euro.
Pascal Kober (FDP): Wir haben nichts dagegen, dass Löhne gut und ge-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! recht sein sollen. Aber die Frage ist doch: Wer kann das
Lieber Herr Gabriel, Ihre rhetorischen Fähigkeiten, Ihre feststellen? Es ist nicht so, dass wir bzw. die Tarifpartner
Wortgewandtheit sind beeindruckend. Aber Sie waren in einfach, losgelöst von der marktwirtschaftlichen Wirk-
den vergangenen Beratungen zum Thema Mindestlohn lichkeit, Lohnhöhen festlegen könnten. Dann wären wir
nicht anwesend. Insofern haben Sie nicht gehört, was wir uns vielleicht schnell einig. Das Gleiche gilt auch, wenn
(B) den Kollegen Ihrer Fraktion schon immer versucht ha- man die Lohnhöhe danach definieren wollte, was für die (D)
ben von Grund auf zu erläutern. Rentensicherungssysteme angemessen wäre. Am Ende
ist immer der Verbraucher mit seinem individuellen
Wenn Sie die Anträge bzw. den Gesetzentwurf gele- Preisempfinden daran beteiligt, welche Löhne in unserer
sen hätten, die zur Beratung vorliegen, wenn Sie sich ein Gesellschaft gezahlt werden. Denn wenn die Löhne zu
bisschen in der Diskussion auskennen würden, dann hoch sind, dann werden die Produkte zu dem sich daraus
würden Sie sehen, dass gegenwärtig unterschiedliche ergebenden Preis nicht mehr abgenommen. Dann droht
Mindestlohnhöhen im Gespräch sind: Da gibt es die Arbeitslosigkeit; dann droht, dass Menschen nicht mehr
7,50 Euro von Bündnis 90/Die Grünen, die 8,50 Euro an der Gesellschaft teilhaben können; dann droht, dass
von Ihrer Partei und die 10 Euro der Linkspartei. die Menschen keine Chancen mehr auf dem Arbeits-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Da sind doch markt haben. Das scheint Ihnen, lieber Herr Gabriel, völ-
8,50 Euro ein schönes Mittel!) lig egal zu sein.

Ich habe von meinem Kollegen Herrn Schlecht auf einer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Eindruck
Podiumsdiskussion in Freiburg, auf der wir gemeinsam muss man haben!)
mit Peter Weiß waren, gelernt, dass die Linkspartei in Wir sagen: Die Menschen sollen Arbeit haben. Wenn
Baden-Württemberg sogar 12 Euro für notwendig und das, was sie verdienen, für sie und ihre Familien nicht
für einen gerechten Lohn hält. zum Leben reicht, dann ist es auch nicht unanständig
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Neuer deutscher und nicht moralisch fragwürdig, wenn sie von der Soli-
Rekord!) dargemeinschaft, vom Steuerzahler, etwas zu ihrem
Lohn dazubekommen.
Ein Bürger hat mir geschrieben, er habe eine Partei ge-
gründet, um einen Mindestlohn von 16 Euro durchzuset- Vielen Dank.
zen. Als ich Sie, Herr Schlecht, gefragt habe: „Warum (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dann nicht einen gesetzlichen Mindestlohn von
20 Euro?“, haben Sie ernsthaft gesagt: Stimmt, darüber
müsste man einmal nachdenken. – Lieber Herr Gabriel, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sie sehen, es ist gar nicht so leicht, wenn sich die Politik Jetzt hat das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-
in die Findung von Lohnhöhen einmischt, Möller von der SPD-Fraktion.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!) (Beifall bei der SPD)
12002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): schen Metzger werden in diesem Redebeitrag (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ko- verunglimpft!)
ber, worüber Sie zum Schluss sprachen, halte ich für ei-
Zweites Beispiel: Herr Kolb, die Metzger in Thürin-
nen Rechtsanspruch.
gen – da kommt die berühmte Rostbratwurst her – haben
(Zuruf des Abg. Pascal Kober [FDP]) einen Lohn von 5,49 Euro pro Stunde. Dafür können sie
sich eindreiviertel Rostbratwürste leisten. Das stellen Sie
Kollege Kolb, den gab es übrigens schon zu Zeiten der
sich bitte vor.
Sozialhilfe, wenn der Lohn nicht ausreichte, den man am
Ende des Monats nach Hause brachte. Ich sage Ihnen Drittes Beispiel: Floristin – das ist ein Wunschberuf
das, weil Sie in Ihrer Fraktion der Experte sind. vieler Frauen. Die machen wunderbare Sachen. Aber
was verdienen sie? 4,58 Euro pro Stunde in Brandenburg
Die SPD-Fraktion hat heute 80 junge Frauen zu Be-
und im Hochlohnland Baden-Württemberg sage und
such, es ist nämlich Girls’ Day. Diese Girls, die wir herz-
schreibe 6,36 Euro.
lich willkommen heißen, erwarten, dass eine Sache aufhört
– denn das ist wesentlich für ihre berufliche Zukunft –: Sie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tarifvertrag!)
wollen, dass Schluss ist mit der Spirale nach unten, nach
dem Motto: Es geht auch billiger, wenn es um Arbeit Viertes Beispiel: die Friseure in Thüringen. Darüber
geht. – Herr Gabriel hat zu Recht darauf hingewiesen: hat die Kollegin Pothmer schon gesprochen.
Wünschen wir nicht all unseren Söhnen und Töchtern, Deswegen sage ich: Wir müssen raus aus dieser Spi-
dass es ihnen besser geht als uns? Wenn wir das in Sa- rale „Es geht noch billiger“.
chen Lohn nicht hinbekommen, dann lösen wir dieses
Versprechen nicht ein. Das lassen Sozialdemokraten Der FDP-Minister aus Schleswig-Holstein ist von
nicht durchgehen. Herrn Ernst bereits zitiert worden. Da sickert die Er-
kenntnis durch, dass es so nicht weitergeht. Herzlichen
(Beifall bei der SPD) Glückwunsch, kann ich da nur sagen. Sie haben den Di-
Deshalb will ich Ihnen sagen: Wir brauchen mehr Recht rektor des IAB auf Ihrer Seite. In Spiegel-Online ist zu
und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das steht mitnich- lesen, er verstehe gar nicht, warum man einen gesetzli-
ten der Tarifautonomie oder Branchentarifverträgen ent- chen Mindestlohn in Deutschland für Teufelszeug hält.
gegen; es ist vielmehr eine notwendige Ergänzung. So Wissen Sie, was er sagt? Er sagt: Das ist Ökonomiefolk-
sehen das auch die Gewerkschaften. Wer meint, er könne lore. – Recht hat der Mann.
hier einen Keil dazwischentreiben, der glaubt auch, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Osterhasen würden im Laufe des Jahres zu Weihnachts- DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich
(B) männern umgeformt. L. Kolb [FDP]) (D)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das passiert Ich empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre.
tatsächlich!)
Danke schön.
Bei den Branchenmindestlöhnen haben wir Sie doch,
ehrlich gesagt, zum Jagen tragen müssen. Glauben Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
denn, ohne unseren Druck hätten wir heute diese Min- DIE GRÜNEN)
destlöhne? Nein, dem ist nicht so. Wenn wir nicht jeden
Monat Druck machen würden in Sachen Mindestlohn, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dann wären wir nicht einmal da, wo wir heute sind. Das Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Johann Wadephul
ist ein Teil der Wahrheit. von der CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU)
Lassen Sie mich an vier Beispielen kurz und knapp
darstellen, wie es um den Mangel an Recht und Ordnung Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
auf dem Arbeitsmarkt bestellt ist. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Erstes Beispiel. Es ist halb drei, wir alle haben zu Herren! Der letzte sozialdemokratische Beitrag hat mich
Mittag gegessen, fast schon wieder etwas milder gestimmt. Aber die davor
zu Gehör gebrachten Beiträge und insbesondere derje-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ich noch nicht!) nige des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei
deshalb können wir über die Fleischwirtschaft reden, waren an Populismus nicht zu überbieten.
zum Beispiel die in Niedersachsen. Die Zustände dort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind absolut unappetitlich, weil Recht und Ordnung feh-
len. Die Dänen sagen: Deutschland ist ein Niedriglohn- Nur, Herr Gabriel: Seien Sie vorsichtig! Sie werden
land. – Deshalb schicken sie ihre Schweine zum schon jetzt an mancher Stelle von der Linkspartei über-
Schlachten nach Deutschland. In der niedersächsischen holt. Herr Ernst ist der bessere Populist als Sie.
Fleischindustrie herrschen Bedingungen, da vergeht Ih- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
nen jeder Appetit auf das nächste Schnitzel.
Sie werden ihn in diesem Bereich auch nicht überholen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mir nicht! –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die niedersächsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12003
Dr. Johann Wadephul
(A) Ich beginne mit den europapolitischen Aspekten Ihres und angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland ei- (C)
Beitrages und auch des Beitrages der Kollegin Kramme, nen Fachkräftemangel haben, muss man sich keine Sor-
die sogar von Völkerwanderung sprach. Herr Gabriel, gen darüber machen, dass 130 000 Menschen nach
Sie sprachen davon: Die dringen hier ein. – So reden Sie Deutschland kommen.
darüber, wenn für den lange Zeit unfreien Teil Europas
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber
nun endlich, nach einer langen Übergangszeit – das hat
die müssen anständig bezahlt werden!)
dort nicht jeder verstanden –, weil sich Deutschland auf
seinem Arbeitsmarkt lange abgegrenzt hat, eine Öffnung Aus deutscher Sicht muss man sich eher darüber freuen
stattfindet; eine Öffnung, die nicht weniger als die tat- – das tun die Betriebe auch –, dass wir Arbeitskräfte be-
sächliche Vollendung der Einheit Europas bedeutet, die kommen, die uns unterstützen können. Diese Menschen
vor 20 Jahren begonnen hat. heißen wir willkommen, und wir behandeln sie selbst-
verständlich gut.
Das ist die Zäsur, vor der wir stehen. Bei europapoliti-
schen Veranstaltungen – in Warschau oder hier –, bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Veranstaltungen mit Menschen aus Polen, Tschechien der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darum
oder dem Baltikum halten Sie schöne Reden über Euro- geht es ja gar nicht!)
papolitik. In arbeitsmarktpolitischen Debatten hingegen
verbreiten Sie einen dumpfen Populismus und sagen: Herr Gabriel, da Sie an Herrn Adenauer erinnert ha-
Die dringen hier ein und nehmen den Deutschen die Ar- ben, sage ich: Das ist nicht das erste Mal, dass wir eine
beitsplätze weg. – Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt haben.
Jahrzehntelang gab es eine Zuwanderung in den deut-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen Arbeitsmarkt insbesondere von Menschen aus der
der FDP) Türkei. Wo waren Sie denn damals? In welcher Art und
Weise haben Sie denn damals Alarm geschlagen? Haben
Lieber Herr Gabriel, Sie befinden sich, um das vornehm Sie damals eine Abschottung gefordert und gesagt: „Das
auszudrücken, in einer unguten Gesellschaft. darf nicht stattfinden!“?
(Anette Kramme [SPD]: Ihr Vortrag ist (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Darum geht es
unsubstanziiert!) doch gar nicht! Meine Güte!)
Die Tatsache, dass Sie sich dieser Mittel bedienen müs- Jetzt verbreiten Sie plötzlich Panik und sorgen für eine
sen, spricht nicht dafür, dass Sie in Ihrer Rolle souverän Verunsicherung, die aufgrund der Zahlen überhaupt
sind. nicht gerechtfertigt ist.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Geschäftsmodell (D)
neten der FDP) Angst! Das ist das Modell der SPD!)
Dafür sprach übrigens auch die sehr zufriedene Miene,
mit der Herr Steinmeier den Saal nach Ihrem Beitrag Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
verlassen hat. Herr Kollege Wadephul, genehmigen Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ernst?
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Sigmar Gabriel
[SPD]: Der wollte sich Sie ersparen!)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Zur Sache: Worüber reden wir? Frau Kramme hat auf Ja.
die Recherchen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung hingewiesen. Wir reden über 100 000 Ar- (Zuruf von der SPD)
beitskräfte – vielleicht sind es auch 130 000 –, die ab – Links ist links.
dem 1. Mai 2011 zusätzlich auf dem deutschen Arbeits-
markt zu finden sein werden. Angesichts eines Verlustes Klaus Ernst (DIE LINKE):
von 200 000 Arbeitskräften in diesem Jahr als Folge des
Herr Wadephul, ist Ihnen entgangen, dass kein Red-
demografischen Wandels – darauf hat die Bundesagentur
ner der Oppositionsfraktionen gefordert hat, den deut-
für Arbeit hingewiesen –,
schen Arbeitsmarkt abzuschotten? Ein gesetzlicher Min-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei einer Gesamt- destlohn würde – dabei ist es in diesem Zusammenhang
zahl von 40 Millionen Erwerbstätigen!) erst einmal egal, wie hoch er wäre – selbstverständlich
auch für die Kolleginnen und Kollegen gelten, die aus
angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Wirt- anderen Ländern zu uns kommen.
schaftswachstum hat wie kaum ein anderes Land
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und immer nicht egal!)
noch über 4 Millionen Arbeitslose!)
Insofern ist es eine Verdrehung der Tatsachen, wenn Sie
– in einigen Bereichen herrscht in Deutschland glückli- uns unterstellen, wir würden aus irgendwelchen nationa-
cherweise sogar wieder Vollbeschäftigung –, listischen Gründen unser Land abschotten wollen.
(Anette Kramme [SPD]: Aber in welchen Herr Wadephul, ist Ihnen auch entgangen, dass es ein
Bereichen denn?) Erfolg war, dass der Lohn in Deutschland in den letzten
12004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Klaus Ernst
(A) Jahrzehnten nicht einfach gedrückt werden konnte und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
die Arbeitszeiten nicht einfach verlängert werden konn- Herr Kollege Wadephul, der Kollege Gabriel würde
ten, weil sie tarifvertraglich festgelegt waren? Ist Ihnen Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
entgangen, dass sich die Unternehmerinnen und Unter-
nehmer in unserem Land etwas anderes einfallen lassen
mussten, als einfach nur billige Leute einzustellen oder Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
die Löhne zu drücken, wenn sie mehr Geld verdienen Nein. Ich würde jetzt gerne einmal versuchen, diesen
wollten? Sie mussten vernünftige Produktionsweisen er- Gedanken zu Ende zu bringen.
arbeiten, neue Ideen haben und neue Produkte entwi-
ckeln, kurz: Innovationen voranbringen. (Anette Kramme [SPD]: Schade! Das ist aber
feige! – Sigmar Gabriel [SPD]: Schade! Sie
Können Sie sich vorstellen – das ist der letzte Teil haben ein bisschen Schiss jetzt gerade! Dabei
meiner Frage –, dass eine Aufhebung dieser Grenzen wollte ich Ihnen helfen, Herr Kollege!)
dazu führt – ich meine: wenn die Löhne wegrutschen
und die Arbeitszeiten verlängert werden können –, dass – Haben Sie so wenig Gelegenheit, zu Wort zu kommen,
die Unternehmerinnen und Unternehmer künftig in gro- Herr Gabriel? Das tut mir leid. Ich werde Ihnen gegen
ßer Zahl den schlechteren Weg wählen, um mehr zu ver- Ende meiner Rede Gelegenheit geben, da einzuhaken.
dienen, das heißt, dass sie die Löhne senken und die (Anette Kramme [SPD]: Das wird ja ein span-
Arbeitszeiten ohne finanziellen Ausgleich erhöhen wer-
nendes Ergebnis!)
den?
Herr Gabriel, Sie haben insbesondere die Pflege ange-
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): sprochen. Ich möchte zunächst einmal auf eines hinwei-
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal sage ich: Ich sen. Erstens ist es so, dass in diesem Bereich Mindest-
habe Ihren Antrag gelesen. löhne gelten.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist (Anette Kramme [SPD]: Ja, aber die werden
gut!) unterlaufen, indem das als Haushaltshilfe be-
zeichnet wird!)
Sämtliche Forderungen werden mit dem Datum 1. Mai
oder einer besonderen Dringlichkeit wegen der Gefahr Dies haben Sie leider verschwiegen. Zweitens wundere
für deutsche Arbeitsplätze begründet. Lesen Sie Ihren ei- ich mich, in welcher Art und Weise Sie an dieser Stelle
genen Antrag, bevor Sie mir hier eine Frage stellen! Panik machen. Wir haben in der Pflege – das weiß ei-
gentlich jeder in Deutschland – einen akuten Fachkräfte-
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist genau mangel. Es fehlen mindestens 10 000 Arbeitskräfte. Es (D)
(B) der Punkt!)
werden mittlerweile Kopfprämien für Menschen, die be-
Zweitens habe ich den Ausführungen zugehört. Es reit sind, in diesem Bereich zu arbeiten, gezahlt. Das ist
wurde genau darauf, was ich hier angeführt habe, Bezug in Ihrem Redebeitrag überhaupt nicht zum Ausdruck ge-
genommen. kommen, lieber Herr Gabriel. Das muss ich Ihnen in al-
ler Deutlichkeit sagen.
Drittens verweise ich Sie darauf, dass vor uns andere
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Großbritannien, ihren Arbeitsmarkt geöffnet haben. der FDP – Anette Kramme [SPD]: Aber nicht
zu einem anständigen Mindestlohn! Das sind
(Sigmar Gabriel [SPD]: Die haben Mindest-
Haushaltshilfen!)
löhne! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben
Mindestlöhne!) Ich muss hinzufügen: Wenn Sie hier diese in der Tat
Dort gibt es übrigens – darauf werden wir ja immer hin- schwierige Arbeit schildern und beschreiben, dass in
gewiesen – Mindestlöhne. Ja, die haben Mindestlöhne. diesem Bereich Beschäftigte Menschen aus Windeln ho-
Nur, lieber Herr Gabriel, das hat überhaupt nichts geän- len und ähnliche schwierige Tätigkeiten ausüben, muss
dert. ich sagen: Sie haben sich für diesen Beruf entschieden. –
Dass wir oder irgendjemand in diesem Hause die Würde
(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie verstehen gar dieser Arbeitskräfte infrage stellen und nicht der Mei-
nichts!) nung sind, dass sie gerecht entlohnt werden müssen,
Die meisten Polen sind in der Zeit nach 2004 nach Groß- stimmt nicht.
britannien gegangen. Der dortige Arbeitsmarkt hat die- (Anette Kramme [SPD]: Deshalb Mindest-
sen Zuwachs voll verkraftet. Das hat überhaupt keine lohn! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann ma-
Probleme gegeben. Es hat keinen signifikanten Anstieg chen Sie es doch! Einfach machen!)
der Arbeitslosigkeit gegeben.
Uns so etwas vorzuwerfen, Herr Gabriel, finde ich
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Eben!) schlicht und ergreifend daneben. Es ist eigentlich auch
Im Ergebnis wird das also überhaupt nichts ausrichten; unter Ihrem Niveau. Das sollten Sie in Zukunft so nicht
das spielt überhaupt keine Rolle. wiederholen. Auf dem Niveau brauchen wir derartige
Debatten nicht miteinander zu führen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12005
Dr. Johann Wadephul
(A) Ich möchte abschließend sagen: Es gibt hier nicht nur dass wir dann allerdings auch die Bedingungen wie in (C)
schwarz und weiß. Großbritannien schaffen, nämlich einen flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, dann sind
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!)
wir uns einig. Sie haben eben nur die Öffnung der Gren-
Es ist nicht so, dass die einen für Mindestlohn und die zen thematisiert, aber nicht den gesetzlichen Mindest-
anderen dagegen sind, sondern es gibt unterschiedliche lohn in Großbritannien.
Wege. Auch wir sind für Mindestlöhne, wir sind sogar
(Beifall bei der SPD)
für gesetzliche Mindestlöhne. Das, was aufgrund des Ar-
beitnehmer-Entsendegesetzes und anderer Gesetze statt- Zweitens. Sie merken, dass ich Ihnen zuhöre. Sie ha-
findet, sind gesetzliche Maßnahmen. Wir sind der Mei- ben mir anscheinend nicht zugehört. Ich habe ausdrück-
nung, dass es branchenspezifisch unterschiedliche Min- lich darauf hingewiesen, dass es einen Mindestlohn in
destlöhne geben sollte. Das findet zum Beispiel auch im der Pflege gibt, aber dass das Problem gerade darin be-
Antrag der Grünen seinen Niederschlag. steht, dass er unterlaufen wird.
Vielleicht sollten Sie etwas differenzierter an die De- (Anette Kramme [SPD]: So ist es!)
batte herangehen, so, wie es auch der Sachverständige
Professor Bayreuther getan hat, den Sie, Frau Kramme, Dem können Sie nur begegnen, wenn Sie einen gesetzli-
erwähnt haben. Daher möchte ich abschließend – Herr chen Mindestlohn einführen. Darum geht es.
Präsident, mit Ihrer Genehmigung – noch kurz zitieren, (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
was dieser Sachverständige gesagt hat: Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Frage
Ich hielte eine Generalisierung des Entsenderechts der Kontrolle, nicht der Gesetzgebung!)
für relativ schwierig, weil es einfach Branchen gibt, Drittens, Herr Kollege – damit das noch einmal deut-
die sich dazu nicht eignen. Es gibt diversifizierende lich an Ihr Ohr dringt –: Ja, ich finde, wer die Menschen,
Lohnstrukturen in großen unterschiedlichen Lohn- die in der Pflege arbeiten, mit 1 000 Euro netto und we-
gittern. Das passt nicht ins Entsendegesetz. Die niger abspeisen will, der verstößt gegen die Würde der
Branchen, die prekäre Beschäftigung aufweisen, Arbeit genauso wie gegen die Würde dieser Menschen in
sind überwiegend im Entsendegesetz. ihrer Arbeit. Genau das werfe ich Ihnen vor, ob Sie es
Wir haben dafür gesorgt, dass die Branchen, in denen nun hören wollen oder nicht.
es am notwendigsten ist, durch einen gesetzlich flankier- (Beifall bei der SPD)
ten Mindestlohn geschützt werden. Wir schauen uns in
aller Ruhe andere Bereiche an, aber es gibt keinen An-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) lass, mit Blick auf den 1. Mai 2011 in Panik zu verfallen. (D)
Herr Kollege Wadephul zur Erwiderung, bitte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
neten der FDP) Herr Kollege Gabriel, das Erste ist: Im Gegensatz zu
Ihnen bin ich regelmäßig als Arbeitsrechtsanwalt tätig.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich erlebe immer wieder, wie die Kollegin Kramme
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem möglicherweise auch, dass es gesetzliche Regelungen,
Kollegen Sigmar Gabriel. tarifliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen, sogar
Arbeitsverträge gibt, die klar und eindeutig sind, die aber
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Nicht schon wie- unterlaufen werden, Herr Gabriel;
der! – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Da-
durch wird es auch nicht besser!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)
sogar strafrechtliche Vorschriften werden gelegentlich
Sigmar Gabriel (SPD): unterlaufen. Das gibt es in Deutschland.
Herr Kollege, ich wollte erstens nur sagen, dass ich (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das gibt es
mir einen Zustand wie in Großbritannien wünsche. auch in der Metallindustrie! – Sigmar Gabriel
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ich nicht!) [SPD]: Der kennt sich aus!)
Deswegen finde ich Ihr Beispiel, dass die Briten ihren Das wird häufig sanktioniert, aber nicht immer.
Arbeitsmarkt geöffnet haben, so wunderbar. Das wollen
Ich will Sie vor dem Trugschluss, dem Sie möglicher-
auch wir. Aber die Briten haben schon seit langer Zeit ei-
weise aufsitzen, warnen, dass eine gesetzliche Regelung
nen gesetzlichen Mindestlohn.
die Lösung sämtlicher Probleme wäre und all dies dann
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Und warum nicht mehr geschähe. Das ist nicht so. Es wird immer
geht es den Engländern schlechter?) wieder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die
sich in einer schwachen Position befinden und sich so et-
Lieber Herr Kollege, wenn wir uns darauf verständigen
was gefallen lassen.
können – ich vermute, dass Sie das gar nicht wollen –,
dass wir uns die Briten als Beispiel nehmen, dass wir für (Anette Kramme [SPD]: Deswegen wollen wir
die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa sind, und zwar ja auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
so, wie Sie es am Beispiel der Briten beschrieben haben, stärken!)
12006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Johann Wadephul


(A) Das ist traurig. Diesen Menschen muss man helfen. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
tue das im Rahmen meiner Möglichkeiten als Abgeord- Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
neter und als Anwalt. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie lö- FDP-Fraktion.
sen damit nicht alle Probleme.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das Zweite ist: Sie müssen sich schon genau überle- der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
gen, welche Beispiele Sie anführen. Wollen Sie uns Gabriel will in Deutschland englische Verhält-
ernsthaft vorschlagen, dass wir das englische Arbeitsver- nisse! Das ist wirklich die Sensation!)
tragssystem, praktisch ohne Kündigungsschutz, über-
nehmen?
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Allerdings!
Mein lieber Freund! – Max Straubinger [CDU/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
CSU]: Genau! Ein „Superkündigungsschutz“ kann mich in fast allen Punkten dem Kollegen Johann
wäre das! Das gäbe Probleme ohne Ende! – Wadephul anschließen,
Anette Kramme [SPD]: Nein! Das ist falsch! (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Das hat er nicht vorgeschlagen! Doch nicht al- Sehr gut!)
les!)
außer bei einer Aussage.
– Ein bisschen geht nicht. Sie haben gerade gesagt: Das
gesamte britische System soll übernommen werden. – (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ha-
Das haben Sie mir vorgehalten. ben ja auch nur drei Minuten! – Heiterkeit bei
(Widerspruch bei der SPD – Anette Kramme Abgeordneten der SPD)
[SPD]: Nein! Blödsinn! – Sigmar Gabriel – Ich habe nur drei Minuten, genau.
[SPD]: Nein! Das habe ich nicht gesagt!)
– Natürlich, das haben Sie mir vorgehalten. Dann neh- (Anette Kramme [SPD]: Das passt zu den
men Sie bitte auch alles. Prozentzahlen der FDP!)

(Sigmar Gabriel [SPD]: Man merkt: Sie sind An einer Stelle seiner Rede hat er gesagt: Herr Gabriel,
Anwalt! Man merkt, welchen Beruf Sie ha- Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht vom größeren
ben!) Populisten Klaus Ernst überholt werden. – Ich sage ganz
ehrlich: Diese Sorge habe ich nach Ihrem Auftritt hier
Lieber Herr Gabriel, Sie werden nicht nur ein biss- und heute nicht, Herr Gabriel.
chen übernehmen können, sondern Sie müssen sich
(B) schon auf das gesamte System in Großbritannien einlas- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der (D)
sen. CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Das brau-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie würde ich auch als chen Sie auch nicht! Sie sollten ganz andere
Anwalt nehmen! – Christian Lange [Back- Sorgen haben! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es
nang] [SPD]: Nein! Wieso das denn?) sind noch zwei Minuten!)

– Ja. Neu war in der heutigen Debatte – wir führen sie ja


häufig, meistens in gleicher Besetzung, aber bei wech-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir wol- selnden Anlässen – wenig. Sie sagen, Sie wollen die
len doch nicht das Pfund einführen! Das ist ja Lohnfindung in die Hand der Politik legen. Wir sagen,
nicht zu fassen, was Sie hier erzählen! Worü- sie ist bei den Tarifpartnern besser aufgehoben. Wir sind
ber reden Sie denn?) auch völlig pragmatisch, wenn die Politik einmal Tarif-
– Das ist ja in Ordnung. verträge für allgemeinverbindlich erklären muss.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir reden hier (Anette Kramme [SPD]: Ach! Das machen Sie
über den Kündigungsschutz, Herr Lange! – einfach nicht! Da sind Sie pragmatisch!)
Sigmar Gabriel [SPD]: Wir merken gerade,
warum Sie diesen Beruf gewählt haben!) Das haben wir in dieser Regierungszeit auch schon ge-
tan.
Wir reden über arbeitsrechtliche und sozialrechtliche
Grundlagen unseres Wirtschaftssystems. Wenn Sie mir Nur, wir lassen es Ihnen, Herr Gabriel, nicht durchge-
angesichts des Krankenversicherungsrechts in Großbri- hen, dass Sie für die Essenz der sozialen Marktwirtschaft
tannien, angesichts der Situation, dass es dort praktisch streiten. Denn zur Essenz der sozialen Marktwirtschaft
keinen Kündigungsschutz gibt, und angesichts der Situa- gehört auch die Tarifautonomie. Dazu gehört auch, dass
tion, dass es dort einen Mindestlohn von gerade einmal nicht der Staat und nicht Politiker für die Lohnfindung
6,50 Euro gibt, erzählen wollen, dass die Menschen auf zuständig sind,
der Insel in besseren sozialen Verhältnissen als die Men-
schen hierzulande leben, dann bin ich nicht Ihrer Auffas- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
sung. Ich bin der Meinung, möglichst viele Menschen in DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja auch gar
Deutschland sollten wissen, wie Sie über dieses Thema nicht!)
denken.
sondern Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das werden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir gegen Sie verteidigen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12007
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Michael Schlecht [DIE LINKE]: Sie haben (C)
Anette Kramme [SPD]: Wie war das noch mit doch damals applaudiert! – Anette Kramme
„Gewerkschaften sind eine Plage“?) [SPD]: Da haben Sie aber ein ganz schlechtes
Gedächtnis!)
Ich will auf einen anderen Punkt eingehen.
Zweitens. Herr Schlecht, Sie werden die Tarifautono-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Redezeitverlän- mie nicht retten können, wenn Sie der Politik die Lohn-
gerung! Der Kollege Schlecht möchte eine findung in die Hand geben. Ich prophezeie Ihnen: Das
Frage stellen!) klappt nicht. Wenn wir die Sorge teilen, dass es Gewerk-
– Herr Schlecht, möchten Sie eine Frage stellen? schaften mit einem zu geringen Organisationsgrad gibt,
könnten wir uns die Frage stellen: Wie können wir das
korrigieren? Ich sage Ihnen: Das wird nicht dadurch ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lingen, dass Sie Politikern die Lohnfindung in die Hand
Ich wollte gerade fragen: Wollen Sie eine Frage des geben.
Herrn Schlecht zulassen?
Es würde übrigens auch ein Zweites nicht gelingen.
Großbritannien ist hier immer wieder angesprochen wor-
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
den. Herr Gabriel, ich habe mich in der Tat – wie der
Bei drei Minuten Redezeit sehr gerne. Kollege Wadephul – schon sehr gewundert. Wir können
(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP] – gerne über den britischen Kündigungsschutz, die Zahl
Anette Kramme [SPD]: Drei Minuten? Das britischer Urlaubstage, das britische Niveau der sozialen
passt zu den Prozentzahlen!) Sicherung und andere Arbeitsmarktregelungen Großbri-
tanniens reden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Annette Kramme [SPD]: Das ist die neue so-
Bitte schön, Herr Schlecht. ziale Ader der FDP! Da hat Herr Rösler was
anderes erzählt! – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Hoffentlich Das hätten Sie wohl gerne!)
fragt er nicht auch schlecht!)
Vor allem liegt die Lohnfindung in Großbritannien in der
Michael Schlecht (DIE LINKE): Hand einer unabhängigen Kommission. Ich würde gerne
mit Ihnen darüber diskutieren, ob das eine denkbare Lö-
Sie sind eben auf die Tarifautonomie eingegangen.
sung ist. Allein, wir glauben Ihnen nicht, dass Sie das
Das große Problem ist doch, dass die Tarifautonomie in durchhalten.
den letzten zehn Jahren erheblich beschädigt worden ist.
(B) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ (D)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Durch die DIE GRÜNEN]: Doch! Halten wir!)
Politik!)
Schon in Ihren Anträgen beweisen Sie immer wieder,
Ich will Ihnen einen zentralen Punkt nennen. Ich selbst dass Sie dieser Kommission schon bei der Einführung
komme als Hauptamtlicher von Verdi. Bis Anfang 2003 vorgeben wollen, wie hoch der Lohn sein darf. Das ist
waren wir dem gesetzlichen Mindestlohn gegenüber sehr alles, aber nicht unabhängig.
zurückhaltend. Wir haben ihn zu einem zentralen Thema
erhoben, nachdem mit Einführung des Arbeitslosengel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
des II die Zumutbarkeitsregelungen entfallen sind und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
damit der freie Fall der Löhne nach unten eintrat. Damit DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie doch einen
war uns klar: Es muss eine andere Regelung her, wenn eigenen Vorschlag vor!)
der Gesetzgeber diese Zumutbarkeitsregelungen fortfal- Ich will noch zu einem weiteren Punkt, zum Thema
len lässt. Populismus, etwas sagen. Mich hat – auch da muss ich
Das ist der entscheidende Punkt: Sie haben – gerade mich meinem Vorredner anschließen – eines wirklich ge-
unter tätiger Mithilfe der FDP – längst die Tarifautono- stört, und zwar dass Sie allen Ernstes den 1. Mai zum
mie so beschädigt, dass schon allein als Notlösung der Aufhänger für Ihre Forderungen gemacht haben. Wir
sind daran gewöhnt, dass wir hier mit Ihnen in jedem
gesetzliche Mindestlohn in Deutschland mehr als not-
Monat die Mindestlohnfrage noch einmal diskutieren
wendig ist.
und die bekannten Argumente austauschen müssen. Das
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: War das können wir gerne machen. Aber Sie können doch nicht
eine Frage?) den Beginn der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am
1. Mai zum Ausgangspunkt machen!
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Kollegin Kramme, man kann nicht allen Ernstes
Lieber Herr Kollege Schlecht, ich habe die Frage sagen, Deutschland sei gänzlich unvorbereitet und im
zwar nicht verstanden, werde aber trotzdem kurz auf die Herbst gebe es Missbrauch, weil die Bürgerinnen und
Bemerkung eingehen. Bürger aus den östlichen Mitgliedstaaten der EU zu uns
kommen können. Das ist ein Schüren von Ängsten, die
Erstens: die Zumutbarkeitsregelung im Zusammen- es in Deutschland viel zu lange gibt,
hang mit Hartz IV – es war nach meiner Erinnerung Rot-
Grün, die sich als Retter der sozialen Marktwirtschaft (Anette Kramme [SPD]: Ihrerseits ist das das
aufgespielt haben. Schließen der Augen vor Gefährdungen!)
12008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) von Ängsten, dass aus der Europäischen Union nur glied in den Arbeitgeberverbänden zu sein. Wir würden (C)
Schlechtes kommt. Das ist uneuropäisch für ein Land, diese Diskussion überhaupt nicht führen, wenn es dort
das so sehr wie wir vom Binnenmarkt profitiert – da- nicht ein Defizit gäbe. Anders ausgedrückt: Wir würden
durch werden hier Arbeitsplätze geschaffen –, das aber über gesetzliche Mindestlöhne nicht diskutieren, wenn
die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht einführen will. die Tarifautonomie in der Art und Weise funktionieren
würde, wie wir es gewohnt waren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sig-
mar Gabriel [SPD]: Das zitieren wir mal bei (Sigmar Gabriel [SPD]: Richtig!)
der Euro-Rettung! Da zitieren wir mal die
FDP!) Ich vermute einmal, dass das Thema – Herr Gabriel,
ich glaube, Sie haben es angesprochen oder Frau Poth-
– Da spielen Sie sich als die großen Europäer auf. Hier mer – in der rot-grünen Koalition noch nicht so aktuell
handeln Sie als europapolitische Populisten. gewesen ist, weil der Stand der Tarifbindung damals
(Beifall bei der FDP) noch anders war, dass wir es also mit einer Entwicklung
der letzten zehn Jahre zu tun haben. Wenn es aber eine
Das ist erstens uneuropäisch. Zweitens verhindert das Erosion der Tarifbindung gibt, dann ist doch der erste
auch Chancen für unser Land. Sie schüren die Sorge vor Weg, dies zu heilen, von der Tarifautonomie auszuge-
Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. vor Menschen, die hier- hen, wo immer das möglich ist. Wir haben das mit bran-
her kommen und weitere Arbeitsplätze schaffen, wie es chenbezogenen Mindestlöhnen getan,
in anderen europäischen Mitgliedsländern schon lange
passiert. Wir hätten früher öffnen sollen. Genau diese (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP])
Angst, die Sie schüren, verhindert auch, dass wir bei unter anderem in der Abfallwirtschaft, bei den Dachde-
weiteren Themen schnell genug vorankommen. Dabei ckern, im Elektrohandwerk, in der Gebäudereinigung,
geht es zum Beispiel um die Frage, ob wir nicht auch bei den Malern und Lackierern, in der Pflege und in der
von außerhalb Europas Menschen haben wollen, die als Wäscherei, und in den letzten Wochen haben wir Lohn-
Fachkräfte hierher kommen, Arbeitsplätze schaffen und untergrenzen in der Zeitarbeit vereinbart. Ich halte das
unsere Gesellschaft bereichern. für einen ganz deutlichen Schritt nach vorne, weil wir
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch durch die Lohnuntergrenzen in der Zeitarbeit faktisch ei-
die müssen anständig bezahlt werden! Anstän- nen branchenübergreifenden Mindestlohn definiert ha-
diger Lohn für alle!) ben, der natürlich eine Drittwirkung auf diejenigen ent-
faltet, die nicht als Zeitarbeitnehmer in diesen Branchen
Damit schaden Sie gerade den Arbeitnehmerinnen und beschäftigt sind.
Arbeitnehmern in diesem Land.
(B) Wir haben bei den branchenbezogenen Mindestlöh- (D)
In diesem Sinne: Schämen Sie sich, dass Sie diesen nen differenzierte Löhne vereinbart, die sich teilweise
Antrag ausgerechnet zum 1. Mai hier wieder vorlegen. noch zwischen Ost und West unterscheiden. Man kann
Ich fürchte aber, wir werden ihn sowieso in den nächsten über die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme geteilter Mei-
Monaten weiter diskutieren. Wir können dann auch nung sein; aber das haben die Tarifpartner nun einmal so
gerne weiterhin die Argumente austauschen. ausgehandelt. Mein großer Einwand gegen den Antrag
Vielen Dank. der Linken besteht darin, dass die Einführung eines Min-
destlohns von 10 Euro im Grunde genommen bedeuten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) würde, wie mit einer Dampfwalze durch die Tarifland-
schaft zu gehen und sämtliche Differenzierungsmöglich-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: keiten ad acta zu legen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von
der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Michael Schlecht [DIE LINKE]:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Welchen Stundenlohn haben Sie denn?)
Der Kollege Kolb hat natürlich recht: Mindestlöhne
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
hängen mit Wertschöpfung zusammen. Es ist aber auch
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben wichtig, dass wir nicht erlauben dürfen, dass über einen
gestern in der Ausschusssitzung in einem anderen Zu- Wettbewerb Lohndumping betrieben wird. Deswegen ist
sammenhang – da ging es um Flexicurity – über Däne- es ordnungspolitisch geboten, dort, wo es keine Rege-
mark gesprochen. Da rief ein Kollege dazwischen: Die lungen gibt, sehr genau darüber nachzudenken, wie wir
haben ja auch eine hohe Tarifbindung. – Für einen Au- einen wilden Wettbewerb verhindern können.
genblick vermeinte ich, ein wenig Melancholie bei uns
im Saal darüber zu spüren, dass uns das verloren gegan- Die Väter der sozialen Marktwirtschaft standen dem
gen ist: die hohe gewerkschaftliche Bindung der Arbeit- sehr offen gegenüber. Müller-Armack hat einmal davon
nehmer, gesprochen, dass man durchaus Ordnungstaxen in Höhe
des Gleichgewichtslohns begrüßen kann, um willkürli-
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
che Einzellohnsenkungen zu vermeiden. Ich bin sehr da-
NEN]: Und der Arbeitgeber!)
für. Im Übrigen würde auch der Mittelstand, vor allen
aber auch die Bindung der Arbeitgeber, die teilweise die Dingen das Handwerk, durch tariflich gebundene Min-
Möglichkeit haben, OT, also ohne Tarifbindung, Mit- destlöhne geschützt. Es ist moralisch und ethisch gebo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12009
Dr. Matthias Zimmer
(A) ten – das wussten nicht nur die Väter der katholischen für die Hilfskräfte. Drittens hätte er sich informieren (C)
Soziallehre, sondern auch Adam Smith – und kann auch können und sollen, wie hoch der entsprechende Mindest-
sozialpolitisch geboten sein. lohn für diese Hilfskräfte in der Pflege ist. Er liegt im
Westen bei 8,50 Euro und im Osten bei 7,50 Euro. Er
Was mir bei der ganzen Diskussion ein klein wenig zu
hätte besser daran getan, sich zu informieren.
kurz kommt – das als abschließende Bemerkung, die ich
hier machen will –, ist, dass wir es beim Mindestlohn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
mit einer relativ kleinen Gruppe zu tun haben im Ver- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben nicht zu-
gleich zu den großen Gruppen, die über die Zunahme an gehört! Unglaublich!)
gewerkschaftlicher Kraft und die Lohnabschlüsse, die in
Viertens hätte er gut daran getan, sich darüber zu infor-
den letzten Wochen und Monaten sehr hoch ausgefallen
mieren, dass es nicht eines gesetzlichen Mindestlohns
sind, von dem Wirtschaftswachstum profitieren. Ich
bedarf, damit die entsprechenden Regelungen eingehal-
glaube, man darf an dieser Stelle auch einmal daran erin-
ten werden können. Vielmehr kann selbstverständlich
nern, dass die Bundesregierung die Prognose für das
auch ein Verstoß gegen einen Branchenmindestlohn
Wirtschaftswachstum heute auf 2,6 Prozent nach oben
nach einer entsprechenden Kontrolle sanktioniert wer-
korrigiert hat. Bei einer solch hohen Zahl hätten Sie
den. Dafür setzen wir uns ein. Hier gibt es kein Rechtset-
noch vor wenigen Jahren den Kölner Dom dreimal am
zungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.
Tag läuten lassen. Wir sind stolz darauf, dass wir das
hinbekommen haben. Wir müssen die Debatte über Min- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
destlöhne auch im Kontext des gesamtwirtschaftlichen der FDP)
Wachstums führen.
Mir ist klar, dass der Kollege Gabriel sich englische
Danke schön. Verhältnisse wünscht. Ich habe immer vermutet, dass er
gerne einmal Kronprinz oder König sein will.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Das bleibt England
erspart!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es dient der Debatte aber sicherlich in keiner Weise.
Nun hat Kollegin Gitta Connemann für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort. Das Niveau, das Sie in Gänze gezeigt haben – das zog
sich leider nicht nur durch den Debattenbeitrag des Kol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) legen Gabriel –, beschränkte sich darauf, Angst zu schü-
ren. Sie schüren Angst vor dem 1. Mai.
(B) Gitta Connemann (CDU/CSU): (D)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man
Geschäftsmodell!)
merkt, es nähert sich der 1. Mai. Zum einen nimmt die
Anzahl an Mindestlohnanträgen schlagartig zu. Zum an- Sie suggerieren das Bild des Ansturms von Billigkon-
deren haben uns heute in der Debatte zum Thema Min- kurrenz. Meine Damen und Herren von der Opposition,
destlohn Kollegen beehrt, die wir hier sonst nicht sehen. wie müssen sich eigentlich unsere europäischen Nach-
barn fühlen? Welches Bild zeichnen Sie damit von Men-
(Pascal Kober [FDP]: So ist es! Kollege Gab-
schen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowa-
riel zum Beispiel! Er ist auch schon wieder
kei, aus Slowenien, Tschechien und Ungarn? Ich finde
weg! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hat
das skandalös. Denn bei unseren Nachbarn muss der
nicht so viel Zeit!)
Eindruck entstehen, dass sie hier nicht willkommen sind.
Das sind die Kollegen Ernst und Gabriel. Ich habe sehr Ich sage für die Unionsfraktion sehr deutlich: Herzlich
genau zugehört und muss sagen, dass das der Qualität willkommen in Deutschland, und zwar ab dem 1. Mai!
dieser Debatte leider nicht gedient hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
der FDP)
darf ich sagen: Haben Sie keine Angst vor dem 1. Mai!
Bei den Ausführungen zum Thema wurde sehr deut- Dabei lasse ich die Frage außen vor, ob es tatsächlich zu
lich, dass Herr Gabriel, der sicherlich häufig auf Kund- einem Ansturm kommen wird. Der Kollege Wadephul
gebungen und Parteiveranstaltungen spricht, nicht weiß, ist sehr detailliert darauf eingegangen. Es kommt aber
worüber er hier redet. Das wurde am Detail sehr deut- auch nicht auf die Zahl an. Es kommt darauf an, dass Sie
lich, als er zum Beispiel über die Pflege gesprochen und suggerieren, es gäbe dadurch Billigkonkurrenz. Ohne
das Schreckensszenario an die Wand gemalt hat, dass Not; denn die Erfahrungen aus anderen Ländern, die ihre
eine Horde von Arbeitnehmern an unseren Grenzen Arbeitsmärkte früher geöffnet haben, zeigen, dass diese
steht, die zu uns wollen, um hier insbesondere in der Befürchtungen nicht eingetreten sind.
Pflege das Lohnniveau zu drücken. Er hätte sich besser
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie
darüber informieren sollen, dass erstens schon seit eini-
beim Mindestlohn! Da gehen auch keine Ar-
gen Jahren Pflegekräfte aus dem Ausland bei uns tätig
beitsplätze verloren!)
werden dürfen. Zweitens gibt es für diese Pflegekräfte
bereits einen Mindestlohn, und zwar nicht für die Fach- Dort kam es nicht zur Verdrängung einheimischer Ar-
kräfte, wie der Kollege Gabriel suggeriert hat, sondern beitnehmer. Die Arbeitslosigkeit ist dort nicht gestiegen.
12010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Gitta Connemann
(A) Die Löhne sind nicht gesunken. Das gilt übrigens auch (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
für Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn wie Schwe- NEN]: Ein kaltes Herz!)
den. Auch darüber hätten Sie sich vielleicht besser im
Kein Herz haben diejenigen, die populistisch argumen-
Vorfeld informiert.
tieren,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die, die
der FDP) Ängste schüren!)
Dort, wo es einen Missbrauch geben könnte, haben ein Herz haben diejenigen, die sich mit den Betroffenen
wir vorgesorgt. Ab dem 1. Mai gibt es eine Lohnunter- vor Ort auseinandersetzen. Ich gehe in jeder sitzungs-
grenze bei der Zeitarbeit, auch dank Ihnen, Frau Ministe- freien Woche von einem Betrieb zum anderen, um das zu
rin von der Leyen; denn hier bestand tatsächlich die Ge- tun. Ich habe in meinem Wahlkreis einen wunderbaren
fahr, dass ausländische Firmen unter dem Deckmantel Berufsbildungsträger, der viele Jugendliche ausbildet,
der Zeitarbeit Arbeitnehmer zu niedrigeren Löhnen nach die es etwas schwerer als die anderen haben. Das sind
Deutschland entsenden. Einem solchen Verdrängungs- die Geringqualifizierten. Sie erhalten dort eine Ausbil-
wettbewerb haben wir zugunsten unserer Betriebe und dung zum sogenannten Werker, eine minderqualifizierte
der Mitarbeiter, die dort arbeiten, einen Riegel vorge- Ausbildung. Bei einem gesetzlichen Mindestlohn hätten
schoben. Das ist der richtige Weg, den wir übrigens auf genau diese jungen Menschen eines nicht: Arbeit. Damit
Antrag der betreffenden Branche eingeschlagen haben. würden wir sie vom Arbeitsmarkt abschneiden. Arbeit
Denn wir in der Union sind für Mindestlöhne. Arbeit bedeutet aber nicht nur Geld, sondern auch Würde.
darf nicht arm machen. Alles andere wäre unsozial, un-
würdig und unerträglich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir setzen bei der Festlegung von Mindestlöhnen Ich bitte Sie um eines: Machen Sie doch diesen jungen
eben nicht auf den Staat, sondern auf die Tarifpartner. Menschen nicht ihre Zukunft kaputt.
Dieses System hat sich in 60 Jahren bewährt. Heute ist
die pulsierende Wirtschaft in Deutschland auch von Ih- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nen bejubelt worden. Auch Herr Gabriel hat darauf hin- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
gewiesen, was in den letzten Jahren hier passiert ist. Das
war das Ergebnis der Tarifautonomie, die eine der Gitta Connemann (CDU/CSU):
Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ist. Lassen Sie Sehr gerne.
uns stolz darauf sein, anstatt sie ständig kaputtzureden.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
neten der FDP) Bitte schön.
Nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kön- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nen sicherstellen, dass die Mindestlöhne den jeweiligen
Frau Connemann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
Verhältnissen angemessen sind. Ein Einheitslohn für je-
nehmen, dass das IAB bei der letzten Ausschussanhö-
den Betrieb in ganz Deutschland
rung zum Thema Mindestlohn ausdrücklich darauf hin-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist gewiesen hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn
doch kein Einheitslohn!) Arbeitsplätze nicht vernichten, sondern schaffen würde,
auch und ausdrücklich solche für Geringqualifizierte?
wird diesen Unterschieden nicht gerecht. Er könnte ver-
heerende Folgen haben. Ich weiß, dass die Grünen in
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
diesem Zusammenhang für regionale Mindestlöhne sind.
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der
Aber in dieser Hinsicht würde ich auch den Grünen emp-
Kollegin Golze? Dann könnten Sie die beiden Fragen
fehlen, sich besser zu informieren. Ich verweise auf die
zusammen beantworten.
EuGH-Entscheidung in der Sache Rüffert, wonach es re-
gionale allgemeinverbindliche Mindestlöhne nicht geben
kann. Wir müssen auch die Entscheidungen des EuGH Gitta Connemann (CDU/CSU):
beachten. Darum bitte ich sehr. Denken Sie auch an das Ich beantworte erst die Frage der Kollegin Pothmer,
Vertragsstrafeverfahren in Sachen Island. Sie haben vor- dann die Frage der Kollegin Golze.
geschlagen, unsere Entgeltbestimmungen auch auf aus- Ja, liebe Frau Kollegin Pothmer, es ist so. Sie haben
ländische Betriebe anzuwenden. Das ist nicht möglich. betont, worauf es ankommt, nämlich auf die kluge Ein-
Bitte machen Sie doch Ihre Hausarbeiten, bevor Sie sich führung eines Mindestlohns.
hier als Gesetzgeber gerieren. Bitte, bitte, bitte!
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Es geht um einen gesetzlichen Min-
neten der FDP) destlohn!)
Unsere Aufgabe ist es übrigens nicht, Meinungen Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass das
oder Stimmungen wiederzugeben. Ein Satz der Kollegin IAB, übrigens ebenso wie die Friedrich-Ebert-Stiftung,
Pothmer hat mich wirklich sauer gemacht. Sie hat ge- gesagt hat, dass ein klug eingeführter Mindestlohn der
sagt, wir hätten kein Herz. Branchenmindestlohn ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12011
Gitta Connemann
(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
NEN]: Ein gesetzlicher! – Dr. Wolfgang NEN]: Sie hören doch bei Anhörungen gar
Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht zu!)
NEN]: Nein, das stimmt nicht! Das ist falsch!
Lesen Sie doch mal die Sachen! Hören Sie mal die wir auch zum Thema Freizügigkeit durchgeführt ha-
zu!) ben, anwesend gewesen wären, wüssten Sie, dass die
Bundesagentur für Arbeit in ganz Deutschland Bera-
Wir haben Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen. tungsstellen gerade für die Arbeitnehmer unterhält, die
Schauen Sie sich zwei Volkswirtschaften an. aus den EU-Beitrittsstaaten zu uns kommen. Wir haben
(Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE nachgefragt, ob diese Beratungsstellen unterfinanziert
GRÜNEN] nimmt wieder Platz) sind. Die Bundesagentur hat gesagt: Nein. Die Mittel
sind sogar noch einmal verdoppelt worden, damit nicht
– Ich bin noch gar nicht fertig. passiert, dass sich europäische Arbeitnehmer, die zu uns
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen, hier hilflos wiederfinden. Dafür, dass das nicht
NEN]: Das ist aber keine Antwort auf meine passiert, haben wir Sorge getragen – Gott sei Dank auch
Frage!) außerhalb Berlins.

– Das ist nicht die Antwort, die Sie hören möchten, liebe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frau Kollegin Pothmer, aber dazu dienen Fragen nicht.
Sie müssen sich schon mit der Wahrheit konfrontieren Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
lassen. Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ihre Redezeit ist überschritten.
der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND-
DIE GRÜNEN]: Das hat mit der Wahrheit NIS 90/DIE GRÜNEN])
nichts zu tun!)
Wenn es eng wird, setzen Sie sich und wollen nicht mehr Gitta Connemann (CDU/CSU):
zuhören. Das ist interessant. Das verweist auf Ihr Ver- Durch die vielen Fragen.
ständnis von Demokratie. Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der FDP) Nein, ich habe die Uhr angehalten.
(B) (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Kollegin, gestatten Sie jetzt eine weitere Zwi- Wir sind für den 1. Mai gut gerüstet. Ich sage noch
schenfrage der Kollegin Golze? einmal für die Union voller Freude: Herzlich willkom-
men!
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Sehr gerne. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] meldet
sich zu einer Zwischenfrage)
Diana Golze (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Connemann. – Sie haben eben ge-
sagt, ein Herz hätten diejenigen, die mit den Betroffenen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sprächen und ihnen zuhörten. Deshalb eine klare Frage: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sinn von Zwi-
Erklären Sie mir bitte, wie es kommt, dass es im rot-rot schenfragen ist nicht, nach Ende der Redezeit noch Fra-
regierten Berlin die bundesweit einzige Beratungsstelle gen zu stellen, um die Redezeit zu verlängern. Das wäre
für entsandte Beschäftigte aus dem europäischen Aus- kein faires Spiel.
land gibt, die genau die Arbeitskräfte, die wir hier sehr
begrüßen und die wir vor Ausbeutung schützen wollen, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das war nicht
berät? meine Absicht!)

(Beifall bei der LINKEN) – Das ist wunderbar.


Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
Gitta Connemann (CDU/CSU): stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
Erstens. Ich kann es Ihnen nicht erklären; denn nach ses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
meiner Wahrnehmung hat der rot-rote Senat in der Ver- Die Linke mit dem Titel „Gute Arbeit in Europa stärken –
gangenheit allen Beratungsstellen so das Geld gekürzt, Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am
dass es keine mehr gibt. 1. Mai 2011 einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sache 17/5499, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Zweitens ist Ihre Wahrnehmung falsch. Wenn Sie Drucksache 17/4038 abzulehnen. Wer stimmt für diese
zum Beispiel bei der letzten Anhörung am vergangenen Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
Montag, haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
12012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Überweisungsvorschlag: (C)
restlichen Hauses angenommen. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
die Einführung flächendeckender Mindestlöhne im Vor- Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Pe-
feld der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der ter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter tion der SPD sowie der Abgeordneten Krista Sa-
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ger, Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer
sache 17/5499, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd- Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4435 abzulehnen. DIE GRÜNEN
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Stärkung des Europäischen Forschungsraums –
Die Vorbereitung für das 8. Forschungsrah-
(Zurufe: Der Ausschussempfehlung!) menprogramm in die richtigen Bahnen lenken
– Mir ist aufgeschrieben worden: Gesetzentwurf. Wir – Drucksache 17/5449 –
verändern das also. Ich bitte diejenigen, die der Aus- Überweisungsvorschlag:
schussempfehlung – also Ablehnung – zustimmen wol- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Verbraucherschutz
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ausschuss für Arbeit und Soziales
Stimmenthaltung von SPD und Linken angenommen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
tere Beratung. Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ausschuss für Kultur und Medien
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Haushaltsausschuss
Fraktion der SPD mit dem Titel „Gesetzlichen Mindest- d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
lohn einführen – Armutslöhne verhindern“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze
Drucksache 17/5101, den Antrag der Fraktion der SPD
(B) auf Drucksache 17/1408 abzulehnen. Wer stimmt für – Drucksache 17/5483 – (D)
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Rechtsausschuss
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Finanzausschuss
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l Ausschuss für Kultur und Medien
sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Doro- Die Chance zur Stärkung des UN-Menschen-
thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len- rechtsrates nutzen
kert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 17/5482 –
… Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes – Überweisungsvorschlag:
Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
– Drucksache 17/5472 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Überweisungsvorschlag: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Be-


Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) cker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Ab-
Innenausschuss geordneter und der Fraktion der SPD
Rechtsausschuss
Finanzausschuss Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wert-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stofferfassung im Rahmen des Planspiels zur
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Fortentwicklung der Verpackungsverordnung
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer – Drucksache 17/5484 –
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Europäische Forschungsförderung in den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Dienst der sozialen und ökologischen Erneue-
rung stellen g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Ab-
– Drucksache 17/5386 – geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, (C)
stärken – Unabdingbares Zweitveröffentli- SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
chungsrecht einführen
Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana-
– Drucksache 17/5479 – sie“-Morde
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
– Drucksache 17/5493 –
Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag:
Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Kultur und Medien Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro- Ausschuss für Gesundheit
thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
kert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Bildung, Forschung und
LINKE Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Sofortige Stilllegung der sieben ältesten Atom-
kraftwerke und des Atomkraftwerkes Krümmel b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Al-
– Drucksache 17/5478 – bert Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter
Überweisungsvorschlag: und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) ordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-
thee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Len- Gestaltung der zukünftigen europäischen For-
kert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE schungsförderung der EU (2014–2020)
LINKE – Drucksache 17/5492 –
Überführung der Rückstellungen der AKW- Überweisungsvorschlag:
Betreiber in einen öffentlich-rechtlichen Fonds Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
– Drucksache 17/5480 – Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Verbraucherschutz
Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales
(B) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D)
Ausschuss für Gesundheit
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Roth (Augsburg), Agnes Krumwiede, Renate Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Öffentlichen Diskurs zum geplanten Freiheits- Haushaltsausschuss
und Einheitsdenkmal in Berlin ermöglichen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
– Drucksache 17/5469 – Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Pries-
Überweisungsvorschlag: meier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ausschuss für Kultur und Medien (f) der SPD
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fried- tion verbieten
rich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg),
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 17/5485 –
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Tierschutz bei Tiertransporten verbessern Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/5491 – Ausschuss für Gesundheit
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Technikfolgenabschätzung
Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
desrechnungshofes Dr. Marlies Volkmer, Karin Roth (Esslingen), Pe-
tra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Fraktion der SPD
Haushaltsjahr 2010
– Einzelplan 20 – Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut –
Rolle der Weltgesundheitsorganisation WHO
– Drucksache 17/5385 – in der „Global Health Governance“ stärken
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss – Drucksache 17/5486 –
12014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (C)
Ausschuss für Gesundheit (f) 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Deutschland und dem Commonwealth der Ba-
Entwicklung hamas über die Unterstützung in Steuer- und
Steuerstrafsachen durch Informationsaus-
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten tausch
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und – Drucksache 17/5128 –
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
Transparenz in Public Privat Partnerships im von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Verkehrswesen eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli
2010 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
– Drucksache 17/5258 –
land und dem Fürstentum Monaco über die
Überweisungsvorschlag: Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsa-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss chen durch Informationsaustausch
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
– Drucksache 17/5129 –

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des


ten Verfahren ohne Debatte. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an 27. Mai 2010 zwischen der Bundesrepublik
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Deutschland und der Regierung der Kaiman-
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der inseln über die Unterstützung in Steuer- und
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Steuerstrafsachen durch Informationsaus-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie tausch
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf. – Drucksache 17/5130 –
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. schusses (7. Ausschuss)
Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 29 a: – Drucksache 17/5467 –
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Berichterstattung:
(B) (D)
regierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Abgeordnete Manfred Kolbe
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuer- Lothar Binding (Heidelberg)
gesetzen
Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchsta-
– Drucksachen 17/5127, 17/5201 – ben a, b und c seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- sache 17/5467, die Gesetzentwürfe anzunehmen. Wenn
schusses (7. Ausschuss) Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Ge-
setzentwürfe gemeinsam abstimmen. – Es erhebt sich
– Drucksache 17/5510 – kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Berichterstattung: Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzent-
Abgeordnete Patricia Lips würfen zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
Dr. Birgit Reinemund stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- sind mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei
empfehlung auf Drucksache 17/5510, den Gesetzent- Stimmenthaltung der Linken und der Grünen angenom-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5127 men.
und 17/5201 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Tagesordnungspunkt 29 c:
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Dritte Beratung
Bericht über die Wohnungs- und Immobilien-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem wirtschaft in Deutschland
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- – Drucksachen 16/13325, 17/5314 –
wurf ist damit einstimmig angenommen.
Berichterstattung:
Tagesordnungspunkt 29 b: Abgeordnete Daniela Wagner
– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs lung auf Drucksache 17/5314, in Kenntnis der Unter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12015
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) richtung auf Drucksache 16/13325 eine Entschließung Tagesordnungspunkt 29 f: (C)
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
ausschusses (2. Ausschuss)
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der Grünen angenommen. Sammelübersicht 249 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 29 d: – Drucksache 17/5393 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz tungen? – Die Sammelübersicht 249 ist einstimmig an-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der genommen.
Verordnung der Bundesregierung
Tagesordnungspunkt 29 g:
Erste Verordnung zur Änderung der Deponie-
verordnung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksachen 17/5112, 17/5269 Nr. 2, 17/5462 –
Sammelübersicht 250 zu Petitionen
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand – Drucksache 17/5394 –
Gerd Bollmann Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Horst Meierhofer tungen? – Die Sammelübersicht 250 ist ebenso einstim-
Ralph Lenkert mig angenommen.
Dorothea Steiner
Tagesordnungspunkt 29 h:
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/5462, der Verordnung der Bun- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
desregierung auf Drucksache 17/5112 zuzustimmen. ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Sammelübersicht 251 zu Petitionen
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrakti- – Drucksache 17/5395 –
onen und der SPD bei Ablehnung der Fraktionen Die Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht 251 ist gegen die Stim-
Tagesordnungspunkt 29 e: men der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im
(B) Übrigen angenommen. (D)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Tagesordnungspunkt 29 i:
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Verordnung der Bundesregierung ausschusses (2. Ausschuss)
Verordnung zur Anpassung chemikalienrecht- Sammelübersicht 252 zu Petitionen
licher Vorschriften an die Verordnung (EG)
Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der – Drucksache 17/5396 –
Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprü- tungen? – Die Sammelübersicht 252 ist mit den Stimmen
fung an Änderungen der Gefahrstoffverord- von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
nung Linken und der Grünen angenommen.
– Drucksachen 17/5333, 17/5423 Nr. 2, 17/5497 – Tagesordnungspunkt 29 j:
Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Abgeordnete Jens Koeppen ausschusses (2. Ausschuss)
Frank Schwabe
Dr. Lutz Knopek Sammelübersicht 253 zu Petitionen
Ralph Lenkert – Drucksache 17/5397 –
Dorothea Steiner
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- tungen? – Die Sammelübersicht 253 ist mit den Stimmen
lung auf Drucksache 17/5497, der Verordnung der Bun- der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
desregierung auf Drucksache 17/5333 zuzustimmen. Oppositionsfraktionen angenommen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Zusatzpunkt 4 a:
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
FDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen ange-
ausschusses (2. Ausschuss)
nommen.
Sammelübersicht 254 zu Petitionen
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses. – Drucksache 17/5501 –
12016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Zusatzpunkt 4 g: (C)
tungen? – Die Sammelübersicht 254 ist einstimmig an-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
genommen.
ausschusses (2. Ausschuss)
Zusatzpunkt 4 b: Sammelübersicht 260 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/5507 –
ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die
Sammelübersicht 255 zu Petitionen Sammelübersicht 260 ist mit den Stimmen von CDU/
– Drucksache 17/5502 – CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und
Grünen angenommen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Zusatzpunkt 4 h:
tungen? – Die Sammelübersicht 255 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. ausschusses (2. Ausschuss)
Zusatzpunkt 4 c: Sammelübersicht 261 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/5508 –
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Sammelübersicht 256 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 261 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
– Drucksache 17/5503 – drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
tungen? – Die Sammelübersicht 256 ist einstimmig an- Aktuelle Stunde
genommen. auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
Zusatzpunkt 4 d: FDP

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Pläne der EU-Kommission zur stärkeren Be-
ausschusses (2. Ausschuss) steuerung von Dieselkraftstoffen

Sammelübersicht 257 zu Petitionen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
(B) ner dem Kollegen Norbert Schindler für die CDU/CSU- (D)
– Drucksache 17/5504 – Fraktion das Wort. Bitte schön.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tungen? – Die Sammelübersicht 257 ist gegen die Stim-
men der Fraktion der Linken mit den Stimmen des Hau- Norbert Schindler (CDU/CSU):
ses im Übrigen angenommen. Herr Präsident! Verehrte Gäste auf den Tribünen!
Meine Damen und Herren hier im Plenarsaal! Warum re-
Zusatzpunkt 4 e:
den wir über dieses Thema? Es ist wichtig, das deutsche
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Volk darüber aufzuklären,
ausschusses (2. Ausschuss) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]:
Sammelübersicht 258 zu Petitionen Die Bevölkerung!)

– Drucksache 17/5505 – was uns in den nächsten zwölf Jahren bei der Umstel-
lung von Energiesteuern ins Haus steht.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Sammelübersicht 258 haben CDU/CSU, Zur Sachlage: 2004 hat die Europäische Union be-
FDP und Grüne zugestimmt; die SPD hat abgelehnt, und gonnen, sich dem Thema zu widmen. Das war ein Auf-
die Linken haben sich enthalten. trag, von allen gewollt. Die Deutschen waren mit der
Ökosteuer schon einige Jahre früher dabei. Unter ande-
Zusatzpunkt 4 f: rem wegen der Ökosteuer, die übrigens nicht die Union
eingeführt hat – sie ist mit Mehrheit eingeführt worden –,
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- haben wir hohe Treibstoffsteuersätze.
ausschusses (2. Ausschuss)
Jetzt versucht die Europäische Union, die Steuersätze
Sammelübersicht 259 zu Petitionen in einem bestimmten Zeitraum anzugleichen; besteuert
– Drucksache 17/5506 – werden soll nicht mehr nach der Menge, sondern nach
dem Energiegehalt.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Sammelübersicht 259 ist mit den Stimmen von CDU/
Gute Idee!)
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und
der Grünen angenommen. So weit, so gut.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12017
Norbert Schindler
(A) Wir haben gemeinsam mit Großbritannien mit Ab- pagne der Automobilhersteller, denn wegen ihnen wurde (C)
stand die höchste Besteuerung in diesem Bereich: Bei das überhaupt eingeführt.
Diesel sind es 47 Cent, bei Benzin circa 65 Cent. Wenn
der europäische Durchschnitt bei Diesel derzeit bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
33 Cent liegt, hätte eine Harmonisierung des Steuersat- Die Mineralölverbände haben kläglich versagt. Sie wa-
zes erst langfristig eine Steuererhöhung zur Folge. Wir ren nicht bereit, die 8 Millionen Prospekte, die im Um-
haben noch drei Legislaturperioden Zeit. Deswegen ver- weltministerium gedruckt worden sind, an den Tankstel-
stehe ich manchmal die Aufregung nicht, wie sie in den len so zu verteilen, wie es im Nachhinein auf dem
Zeitungen nachzulesen ist. Man muss sich nur die Ziele Benzingipfel verabredet worden ist. Auch die Garantie-
anschauen. Dass Deutschland nur vor dem Hintergrund erklärung der Autohersteller, das, was man mit ihnen in
des Einstimmigkeitsprinzips der Europäischen Union Brüssel 2008 zum Wohle des deutschen Wirtschafts-
zustimmt, ist für uns so sicher wie das Amen in der Kir- standortes vereinbart hat, ist nicht eingehalten worden.
che. Jetzt kommt Herr Matthias Wissmann! Ich hätte mir
gewünscht, er hätte vor fünf oder sechs Wochen eine
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann können wir
Aufklärungskampagne gemacht, um den Einsatz von
uns das heute schenken!)
nachwachsenden Rohstoffen im Treibstoffbereich zur
Natürlich wollen wir auf lange Sicht eine Steuerharmo- Erreichung der Umweltziele vernünftig zu erklären.
nisierung, aber nicht zulasten des deutschen Autofahrers, Nein, das wird ausschließlich der Politik zugeschoben,
der schon genug zahlt. Bei der momentanen Belastung und der Umweltminister wird auch noch vorgeführt. Das
hat er absolut die Schnauze voll; so muss man das ein- war schon ein sehr starkes Stück.
mal sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der FDP)
neten der FDP) Herr Präsident, Sie gestatten mir noch einen Satz
Deswegen soll man mit Gemach und einer gewissen dazu. Wenn die Kirchen Gutmenschenpolitik in den
Gelassenheit an die Ziele herangehen, die wir letztend- Entwicklungsländern machen wollen, sollen sie sich
lich alle erreichen wollen. Da noch viele Kolleginnen Brasilien anschauen: Dort gibt es 240 Millionen Hektar
und Kollegen zu diesem Punkt reden werden, will ich landwirtschaftliche Nutzfläche, wobei kein Regenwald
nur darauf hinweisen, was Deutschland derzeit umzuset- betroffen ist. 6 Millionen Hektar werden zur Ethanol-
zen versucht, um den CO2-Ausstoß zu senken. erzeugung genutzt. Wenn es nur 3 Millionen Hektar
mehr wären, könnte Brasilien den gesamten lateinameri-
(B) Ich wundere mich und bin erstaunt, dass Matthias kanischen Kontinent mit Benzinersatz versorgen. Im ei- (D)
Wissmann, unser oberster Autobauer, darauf hinweist, genen Land ist das heute schon der Fall. Aber wir regen
dass die Premiumklasse unter den Dieselfahrzeugen uns in Deutschland über einen Ethanolanteil von 5 oder
vielleicht betroffen wäre. 2008 – Gabriel war noch Um- 10 Prozent auf.
weltminister – stand man, ebenfalls beim Autogipfel, vor
Wenn wir über die Steuerharmonisierung in der Euro-
der Frage: Können wir angesichts der Premiumklasse,
päischen Gemeinschaft reden, dann müssen wir über die
die besonders wichtig für unsere Arbeitsplätze und unse-
langfristigen Klimaschutzziele wie die Verminderung
ren Export ist, beim CO2-Ausstoß die europäische
des CO2-Ausstosses nachdenken. Für das Erreichen die-
Durchschnittszahl von 120 erreichen? Nein, das können
wir in Deutschland nicht, deswegen die Kombination ser Ziele müssen wir alle in Deutschland etwas tun, auch
mit Biokraftstoffen. B7 wurde eingeführt, und kein Hahn wenn es wie im Moment mühevoll ist.
auf einem Misthaufen hat sich deswegen aufgeregt; alle Die Debatte über Atomausstieg und Ersatztechnolo-
Treibstoffe waren absolut motorenverträglich. Auch die gien auf Basis von Gas wird uns im nächsten Vierteljahr
Einführung von E5 hat niemand zur Kenntnis genom- oder noch länger begleiten. Auch da wird einiges von
men; man ging zur Tagesordnung über. Aber die Einfüh- Deutschland abverlangt. Aber wenn wir erfolgreich sein
rung von E10 hat in Deutschland Furcht ausgelöst. Ob- wollen, müssen wir auch kerzengerade zu diesen Zielen
wohl 99 Prozent aller in Deutschland hergestellten stehen. Das gilt auch für die Industrie, die daraus einen
Autos absolut E10-verträglich sind, reden alle vom Un- großen Profit ziehen wird. Ich nenne da Herrn Wissmann
tergang des Abendlandes. Typisch deutsch: Mein heili- von der Automobilindustrie und Herrn Picard von der
ges Blechle ist vielleicht davon betroffen. Mineralölindustrie, die nach außen verbindlich wirken,
aber intern Steine in den Weg legen.
Ich habe hier eine Untersuchung vom TÜV Rhein-
land. Die DEKRA in Norddeutschland bestätigt die Un- Danke schön.
tersuchungen zum tatsächlichen Verbrauch von E10. Er
ist geringer im Vergleich zu E0 oder E5, und die Leis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tung von E10 ist noch besser, weil der ETBE-Anteil in
diesem Sprit die Intelligenz der Motoren besser ausreizt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und nutzt. So sagen mir das Techniker. Herr Kollege, wenn ich richtig gezählt habe, waren
das 17 Sätze. – Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin
Deswegen sollte man das mit Gelassenheit angehen. für die SPD-Fraktion.
Ich sage hier im Parlament offen: Ich erwarte in den
nächsten Tagen und Wochen auch eine Aufklärungskam- (Beifall bei der SPD)
12018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Garrelt Duin (SPD): heimischen Industrie gekümmert. Dieses Problem wird (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch im Rahmen der Diskussion um die Besteuerung
Sehr geehrter Herr Schindler, wenn ich das richtig sehe, von Diesel deutlich.
hat die Koalition diese Aktuelle Stunde zum Thema Be-
steuerung von Dieselkraftstoffen und nicht zum Thema Die Politik in Brüssel machen zum Teil deindustriali-
E10 beantragt. sierte Länder. In Brüssel machen zum Teil Leute Politik,
die von der Sache selbst am Ende nicht betroffen sind.
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das gehört Ich bin wirklich ein glühender Europäer. Aber ich weiß
zusammen!) auch: Um gute europäische Politik zu machen, bedarf es
einer starken deutschen Stimme in Europa. Diese fehlt
– Das sind zwei doch deutlich unterschiedliche Themen. aber in allen Feldern.
Ich will auf das eigentliche Thema, nämlich auf den
(Beifall bei der SPD)
Diesel, zurückkommen. Überall konnten wir am Wo-
chenende lesen, dass die EU den Diesel teurer machen Was wir mit Blick auf die Automobilindustrie, auf die
will. Das war die Botschaft. Nach näherem Hinsehen Autofahrer und auf unsere Umwelt brauchen, ist eine
konnte man in Erfahrung bringen, dass es innerhalb der Politik aus einem Guss. Wir brauchen eine Verständi-
EU-Kommission Überlegungen gibt, den Diesel um gung darüber, wie wir die Antriebstechnologien der Zu-
17 Prozent teurer als Superbenzin zu machen. kunft fördern wollen. Aber dieses Thema darf man nicht
Es war sehr bemerkenswert, dass am Freitag die Bun- singulär betrachten. Wir müssen uns auch fragen, wie
desregierung auf entsprechende Nachfrage in der Bun- hoch wir welchen Kraftstoff besteuern wollen. Wir müs-
despressekonferenz dazu keine Meinung hatte. Ich finde, sen uns außerdem fragen: Welche Anreize wollen wir im
dass man sich dazu sehr schnell eine Meinung bilden Bereich E-Mobility geben? Wollen wir etwa Kauf-
kann. Man muss sich nur fragen: Soll diese Politik der anreize geben, um diesen Sektor zu fördern? Wie viel
Umwelt, der Industrie oder dem Verbraucher, in dem Geld wollen wir im Bereich Forschung und Entwicklung
Fall dem Autofahrer, nutzen? Dann kommt man sehr ausgeben? Wie wollen wir die Reduzierung der CO2-
schnell zu dem Ergebnis: Die Pläne für eine Verteuerung Emissionen weiter vorantreiben, nicht nur bei Pkw, son-
des Diesels nützen keinem der drei Genannten. Deswe- dern auch bei den Nutzfahrzeugen? Welche Infrastruktur
gen sind solche Pläne abzulehnen. wollen wir ausbauen? Wie gehen wir mit dem Thema
„Zölle und Außenhandel“ um, also mit der Frage des
(Beifall bei der SPD) Wettbewerbs mit Herstellern von Automobilen aus au-
Eine höhere Dieselsteuer hilft niemandem. ßereuropäischen Ländern? Auch das Thema Sicherheit
(B) ist nicht zu vernachlässigen. (D)
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Genau das ist falsch! Man müsste sich inhalt- Wir können in jedem einzelnen Feld die Regulierung
lich damit beschäftigen!) vorantreiben. Aber es sind nicht die einzelnen Regulie-
rungen, die Auswirkungen auf den Standort Deutschland
– Dass die Grünen dafür sind, ist mir schon klar. Darauf haben. Es geht vielmehr um die kumulierende Wirkung
komme ich gleich noch. der Gesetzgebung in all den Feldern, die ich gerade ge-
nannt habe. Wenn wir hier nicht handeln, kann das dazu
Die Pläne innerhalb der Europäischen Union zur stär-
führen, dass der deutsche Industriestandort mit der star-
keren Besteuerung von Diesel sind ein Paradebeispiel
ken Automobilindustrie – wir sollten sie nicht in eine
für etwas ganz anderes. Sie sind quasi ein Lehrstück, das
Ecke stellen, sondern froh sein, dass wir sie nach wie vor
zeigt, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist,
in Deutschland haben – in Schwierigkeiten gerät.
rechtzeitig, ausgestattet mit einem entsprechenden Früh-
warnsystem, auf europäische Entwicklungen zu reagie- Es ist die Aufgabe einer Bundesregierung, dafür zu
ren und sie zu beeinflussen. sorgen, dass wir endlich – im Grunde in einem Korridor
(Beifall bei der SPD) von zehn Jahren – eine verlässliche Gesetzgebung auf
der europäischen Ebene bekommen, bei der sich die An-
Das haben wir wieder einmal vor Augen geführt bekom- liegen der Industrie und der Verbraucher, in diesem Fall
men. der Autofahrer, aber auch die ökologischen Aspekte wie-
derfinden. Deswegen sage ich mit Blick auf die Bundes-
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus der jüngsten regierung, die am Sonntag, nach 48 Stunden, auch er-
Vergangenheit. Herr Burgbacher, Sie kennen sie auch; kannt hat, dass das ein wichtiges Thema ist, und sich
die Grünen werden sagen, dass sie anders zu bewerten dann dazu positioniert hat: Machen Sie nicht hier in
sind. Bei der Steinkohlefinanzierung ist die Bundes- Deutschland dicke Backen! Protestieren Sie nicht in
regierung im wahrsten Sinne des Wortes nicht mit Ener- Deutschland gegen Pläne der EU, sondern machen Sie
gie in Brüssel aufgetreten. Das Thema energieintensive Ihre Arbeit: Seien Sie in Brüssel vor Ort und kümmern
Industrien wurde mit Blick auf den Emissionsrechtehan- Sie sich dort um die Interessen der deutschen Autofah-
del auf Brüsseler Ebene nicht kraftvoll vorangetrieben.
rer, der deutschen Industrie und der Umwelt!
Oder nehmen wir die wettbewerbsrechtlichen Nachteile
für die deutsche Automobilindustrie durch das jüngst ab- Vielen Dank.
geschlossene Handelsabkommen mit Südkorea. Auch da
hat sich die Bundesregierung nicht um die Belange der (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12019

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie sehen ein, dass der Atomausstieg eine Gefahr für (C)
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak- Menschen mit niedrigem Einkommen ist. Da fragt man
tion. sich, warum in Ihrem Atomausstiegskonzept ein Sozial-
ausgleich fehlt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was ist denn das
für ein Beitrag? Kommen Sie doch mal zum
Dr. Volker Wissing (FDP):
Thema!)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben schon frühzeitig darauf hingewie- – Wir reden hier über Energiepreise.
sen, dass die Energiepreise die Brotpreise des 21. Jahr- Mittlerweile ist die Atomausstiegspanik schon so weit
hunderts sind. Wir haben immer auf die Kostenbelastung gediehen, dass der haushaltspolitische Sprecher der
der Bürgerinnen und Bürger geachtet. Aber andere in SPD-Fraktion, Carsten Schneider, vor einem übereilten
diesem Hause haben es anders gesehen; es gibt Vertreter Ausstieg warnt und sagt, man dürfe nicht einfach so her-
der Grünen, die hier im Hause immer der Meinung wa- aus aus der Atomenergie, ohne einen Plan zu haben, wie
ren, dass die Energiepreise höher sein müssen, damit die man das „zu vertretbaren Preisen macht“. Ja, der Mann
Bevölkerung zum Energiesparen erzogen wird. Wir erin- hat recht; wir sagen das schon seit Monaten.
nern uns an Ihre Forderung, den Spritpreis auf gut
2,50 Euro, damals 5 DM, anzuheben; das ist das Ziel, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
das Sie verfolgen. Es war Ihnen egal, dass Energiepreise der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und
auch eine soziale Bedeutung haben; es ist Ihnen auch der LINKEN)
heute noch gleichgültig.
Zum Thema Dieselsteuererhöhung.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie
(Zuruf von der SPD: Endlich!)
wissen selbst, dass das nicht stimmt!)
Die Grünen freuen sich – die Forderung der EU-Kom-
Es hat das linke Parteispektrum lange nicht interessiert, mission muss für Sie toll sein –: Man versucht nun von
dass der Zugang zu Energie auch etwas mit Teilhabe, europäischer Seite, sich den von den Grünen geforderten
Mobilität und Wohlstand zu tun hat. Die SPD fängt jetzt Spritpreisen von 2,50 Euro pro Liter anzunähern.
langsam an, sich mit dem Thema zu beschäftigen; so viel
zum Stichwort „frühzeitig“, Herr Kollege Duin. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Auch das ist nicht richtig! Auch das wissen
(Beifall bei der FDP) Sie!)
(B) Frank-Walter Steinmeier sagte neulich, man müsse Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden das verhindern, (D)
aufpassen, dass Strom nicht zum Luxusgut wird. Das ha- weil wir die Menschen im Blick haben, die heute schon
ben wir seit Jahren gepredigt; das war bei unserer Ener- verzweifeln, wenn der Tank leer ist. Es gibt in Deutsch-
giepolitik immer Teil der Abwägung. Schön, dass auch land – das mögen Sie nicht mehr wahrnehmen – viele
Sie sich langsam etwas mit diesem Thema beschäftigen. Bürgerinnen und Bürger, die vor weiteren Spritpreiser-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: höhungen regelrecht Angst haben, weil sie nicht wissen,
Aber zukunftstauglich ist Ihre Energiepolitik wie sie das mit ihren Einkommen finanzieren sollen.
nicht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Denn als Sie zusammen mit den Grünen den Atomaus- Die Grenze des Zumutbaren ist erreicht. Mobilität
stieg beschlossen haben, war von einer sozialen Abfede- darf kein Privileg für Wohlhabende werden. Alle, die
rung nicht die Rede. diese Debatte heute verfolgen, können ganz sicher sein,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass sich die christlich-liberale Koalition für bezahlbare
der CDU/CSU) Energiepreise einsetzen wird, und zwar auf europäischer
Ebene genauso wie auf nationaler Ebene.
Jetzt, wo es Ihnen langsam dämmert, was es für Ar-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland be-
der CDU/CSU)
deutet, zügig aus der Kernenergie auszusteigen, über-
schlagen Sie sich mit Forderungen nach sozialen Das ist eine gute Botschaft für unser Land. Es ist eine
Abfederungen, die man dabei brauche. Die arbeitsmarkt- wichtige Botschaft für unser Land, dass die Bundesre-
politische Sprecherin der SPD, Frau Kollegin Kramme, gierung die Bedeutung der Energiepreise erkannt und
fordert jetzt: „Wir brauchen Energiepreissubventionen auch entsprechend gehandelt hat. Es ist gut, dass die Re-
für sozial Schwache, Langzeitarbeitslose und Geringver- gierung die Pläne der Europäischen Union für eine Erhö-
diener.“ Meine Damen und Herren, was ist das denn für hung der Spritpreise für Diesel entschlossen abgelehnt
ein Konzept? Erst sollen die Arbeitnehmer und Arbeit- hat.
nehmerinnen den Vermietern die Solaranlagen auf den
Dächern finanzieren; dann soll der Staat die Energie- Der Zugang zur Energie ist heutzutage die Vorausset-
preise der Arbeitnehmer subventionieren. Das hat mit zung für gesellschaftliche Teilhabe. Die SPD fängt lang-
Marktwirtschaft nichts zu tun. sam an, das zu verstehen. Die Grünen sehen das anders.
Ihnen war die Bezahlbarkeit von Energie immer egal.
(Beifall bei der FDP) Die FDP hat stets gewusst – und entsprechend verant-
12020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Volker Wissing


(A) wortungsbewusst gehandelt –, worauf es ankommt. Wir Ich hätte mir an dieser Stelle gewünscht, dass Sie als (C)
wollen Politik für die Menschen in diesem Land ma- Koalition die Regierung in die Schranken gewiesen und
chen. gesagt hätten: Das Parlament möchte Umweltpolitik
Schritt für Schritt tatsächlich umgesetzt haben!
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)
Nun kommen wir einmal zum Inhalt und reden nicht
Wir wollen, dass Energie bezahlbar bleibt. Das wer-
über E10 und die Arbeit in der EU usw., gucken also dar-
den wir auch weiterhin tun. Tun Sie nicht so, als agierten
auf, was die EU vorgeschlagen hat. Die CO2-Emissionen
wir auf europäischer Ebene nicht mit ganz klarem Kurs.
werden in zwei verschiedenen Bereichen behandelt. Das
Wir haben frühzeitig Nein dazu gesagt. Wir haben es
eine ist – richtig! – die Energieerzeugung, Kraftwerke
verhindert.
usw. Dazu gibt es den Emissionshandel, um den CO2-
(Garrelt Duin [SPD]: Freitag hatten Sie noch Ausstoß zu reduzieren. Der andere Bereich betrifft Ver-
nicht einmal eine Meinung dazu!) kehr, Haushalte, Landwirtschaft und kleine Industriebe-
triebe. Der ist noch nicht geregelt. Hier holt die EU-
Die Grünen müssten, wenn sie ehrlich sind, jetzt auf
Kommission einfach etwas nach. Geht in Ordnung.
die Menschen zugehen und sagen: Wir wollen höhere
Preise, wir wollen bald das Ziel von 2,50 Euro erreichen. Jetzt – wir sind im Jahr 2011 – wird vorgeschlagen,
Ich sage Ihnen: Wir werden es verhindern. schrittweise einen Übergang vorzunehmen, dass nicht
mehr die fossilen Brennstoffe, die umweltschädlich sind,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lisa
steuerlich besser behandelt werden, also weniger kosten
Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit
als die anderen – wie Ökobrennstoffe –, die für die Um-
letzter Kraft!)
welt besser sind. Gut.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die EU-Kommission schlägt vor, den EU-Mindest-
Das Wort hat nun Dr. Barbara Höll für die Fraktion steuersatz in drei Schritten anzuheben. Dies soll unter
Die Linke. zwei Aspekten geschehen: CO2-Emissionen und Ener-
giegehalt des Kraftstoffs. Da der Steuersatz für Diesel in
(Beifall bei der LINKEN) Deutschland derzeit rund 47 Cent beträgt und der EU-
Mindeststeuersatz – wenn ich das richtig sehe – ab 2018
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): bei 41 Cent liegen soll, muss weiß Gott niemand Angst
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben, dass die Steuererhöhung hinter der Tanksäule lau-
Herr Präsident, ich vergewissere mich: Dies ist doch ert. Herr Wissing, was Sie eben gesagt haben, ist völliger
eine Aktuelle Stunde, gemeinsam von CDU/CSU und Blödsinn. Es wird sich vorerst überhaupt nichts ändern.
(B) FDP beantragt. Dann hätte es gut getan, sich vorher dar- (D)
Die EU-Kommission hat einen zweiten Schritt vorge-
über abzustimmen, was Sie hier überhaupt wollen. We- schlagen: 2023 soll der EU-Mindeststeuersatz für Diesel
nigstens das sollte man vermitteln. über dem für Benzin liegen. Wenn man sich die aktuel-
(Beifall bei der LINKEN) len Steuersätze anschaut, stellt man fest, dass man dann
in Bezug auf die Dieselbesteuerung in der Tat einen gro-
Herr Schindler, Sie haben – wenn ich Sie richtig ver- ßen Schritt machen würde. Wir reden derzeit aber über
standen habe – hier darum geworben, Ruhe und Sach- einen Zeitraum von zwölf Jahren. In diesen zwölf Jahren
lichkeit in die Debatte zu bringen. Was Herr Wissing kann man Anpassungsmaßnahmen vornehmen. Die Au-
eben gemacht hat, war genau das Gegenteil davon. toindustrie könnte in dieser Zeit aus dem Knick kom-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ men. Man könnte richtig etwas tun. Man könnte Ange-
DIE GRÜNEN) bote unterbreiten. Die Erneuerungsrate bei Fahrzeugen
liegt im Durchschnitt sicher bei unter zehn Jahren. So
Das wollen wir einmal festhalten. Herr Schindler, Sie haben Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglich-
haben gesagt, wir wollen, da seien wir uns hier im Saal keit, zu sagen: Dann steige ich vielleicht doch vom Die-
doch einig, die notwendige Abkehr von fossilen Brenn- selauto wieder auf den Benziner um. Es gibt also viele
stoffen und ein ökologischeres Wirtschaften bei der Möglichkeiten.
Energieerzeugung, bezüglich des Verbrauches von
Kraftstoffen im Verkehr, für Heizzwecke usw. Auch das Es gibt überhaupt keinen Grund, hier eine solche Pa-
ist einvernehmlich. nik zu veranstalten. Ich finde es wirklich katastrophal,
dass Sie als Koalition gegenüber der Bundesregierung
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Mit weniger keine eindeutige Meinung beziehen
Steuern!)
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Klar haben wir
Nun hat die EU-Kommission gehandelt und einen eine eindeutige Meinung!)
Vorschlag vorgelegt. Die Reaktionen dazu: Herr
Ramsauer geht ins Kampfblatt Bild und verkündet: und ein klares Zeichen setzen,
„Geht überhaupt nicht!“, Herr Oettinger hat als EU-
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir
Kommissar gleich gesagt: „Heftiger Widerstand!“, und
doch gemacht!)
Frau Merkel hat erklären lassen: „Mit mir ist das nicht
zu machen!“ Tosender Applaus vom Verband der Auto- indem Sie sagen: Jawohl, das sind richtige Überlegun-
mobilindustrie. Herr Wissing findet das klasse. Herr gen. Denen können wir folgen. Wir begrüßen den Vor-
Schindler, Sie fanden das eben nicht klasse. schlag der EU-Kommission. – Ich denke, er verdient es,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12021
Dr. Barbara Höll
(A) in Ruhe und sachlich diskutiert zu werden. Es muss nicht 2018. Hinzu kommt, dass in anderen europäischen Län- (C)
unnötig via Kampfpresse Stimmung erzeugt werden, dern zusätzliche Ermäßigungen für Fahrzeuge aus ge-
weil Sie versuchen, von Ihrer katastrophalen Politik ab- werblicher Nutzung gelten. Auch diese Ausnahmen sol-
zulenken. len abgeschafft werden.
(Beifall bei der LINKEN) Was ändert sich dadurch in Deutschland? Nichts.
Nehmen wir einmal die energetische Gebäudesanie- Nichts ändert sich in Deutschland, denn hier liegt der
rung: Der Umweltminister verkündete in dieser Woche, Dieselsteuersatz bereits über dieser Mindestgrenze, und
er möchte 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen und zwar bei 47 Cent pro Liter. Das hat eine Konsequenz:
richtig Geld hineinstecken. Das finde ich völlig in Ord- den Tanktourismus. Dieser ist massiv. Es gibt Schätzun-
nung. Wo soll das Geld aber herkommen? Die Atomin- gen, dass allein in Österreich der Absatz von Sprit zu
dustrie will einfach nicht weiter einzahlen, weil Sie nicht 30 Prozent auf Tanktourismus zurückzuführen ist. Die-
in der Lage waren, wasserdichte Verträge abzuschließen. ser Tanktourismus, der umweltpolitisch unsinnig ist,
Deshalb muss man sagen: Es ist ein plumpes Ablen- würde zurückgedrängt. Was kann daran aus deutscher
kungsmanöver und tatsächlich schädlich für den Um- Sicht falsch sein?
weltgedanken. Es ist schädlich, weil es eine Verunsiche-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rung der Bevölkerung darstellt.
Danke. Zweitens. Dieser Kommissionsentwurf schlägt vor,
dass ab 2023 Kraftstoffe endlich gleich zu behandeln
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sind und dann nach ihrem Energiegehalt und ihrem CO2-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausstoß besteuert werden sollen. Das ist klima- und um-
weltpolitisch sinnvoll. Wenn Sie von der Koalition sich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tatsächlich einmal dem Inhalt des Papieres widmen wür-
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion der Grü- den, dann könnten auch Sie nur zu dem Schluss kom-
nen. men, dass dieser Vorschlag zu begrüßen ist. Es gibt näm-
lich keine ökologische Begründung dafür, dass in
Deutschland Diesel mit 18 Cent gegenüber Benzin sub-
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ventioniert wird. Diese Begünstigung ist kontraproduk-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auto- tiv.
deutschland befindet sich seit mehreren Wochen in Auf-
ruhr. Nach dem Murks mit E10 fragte sich Deutschland Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Fakten:
am letzten Wochenende: Kommt jetzt der nächste Der CO2-Ausstoß von Diesel liegt pro Liter um
(B) Murks? Was wir erleben mussten, war in der Tat Murks. (D)
21 Prozent höher als der von Benzin, wohingegen der
Es handelt sich dabei aber nicht um den Vorschlag der Steuersatz auf Diesel um 28 Prozent niedriger ist. Was
Europäischen Union. Es war vielmehr Unsinn, die Vor- ist daran ökologisch sinnvoll? Das macht einfach keinen
schläge in einer solch dummen und pauschalen Art und Sinn.
Weise zurückzuweisen, wie es Brüderle, Gabriel,
Ramsauer und Merkel getan haben. Der Verweis auf die großen Fortschritte, die in den
letzten Jahren in der Dieseltechnologie gemacht worden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind, zieht heute nicht mehr, jedenfalls nicht, was um-
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Ver- welt- und klimaschutzpolitische Argumente angeht.
such, den Volkszorn über E10 auf Brüssel abzuwälzen, Denn seit 2001 sinken die durchschnittlichen CO2-Emis-
ist bisher misslungen. Er wird auch weiterhin nicht tra- sionen neuer Dieselfahrzeuge nicht mehr, stattdessen
gen. Die Bevölkerung ist inzwischen weiter, als Sie den- steigen sie an. Das hängt damit zusammen, dass der
ken. technologische Fortschritt durch die Anmeldung von
leistungsstärkeren Pkw komplett aufgefressen worden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist. Bei Neuzulassungen liegen Dieselfahrzeuge derzeit
Auch ich muss einmal rekapitulieren, worum es denn im Schnitt bei einem Wert von 173 Gramm CO2 pro Ki-
eigentlich geht. Am Wochenende hatte man den Ein- lometer. Damit liegen sie über dem Wert von Benzinern
druck: Übermorgen kommt die Erhöhung der Diesel- und weit über den angepeilten 120 Gramm CO2 pro Ki-
steuer. So ist es aber nicht. Es geht nicht um ein Gesetz, lometer. Die Dieselförderung in Deutschland bremst an-
das morgen in Kraft tritt. Es geht um den Entwurf einer dere emissionsärmere Technologien, wie beispielsweise
Richtlinie der Europäischen Union, der gestern vorge- die Hybridfahrzeuge, aus. Diesel wird im Vergleich zum
stellt worden ist. Damit beginnt nun eine lange, voraus- Benzin – um eine Hausnummer zu nennen – in Höhe
sichtlich über zwei Jahre dauernde Diskussion zwischen von 6,4 Milliarden Euro subventioniert.
der Europäischen Kommission, den europäischen Mit-
gliedsländern und dem Europäischen Parlament. Dann Außerdem gibt es bei Dieselfahrzeugen ein weiteres
wird es zu einer Entscheidung kommen. Problem, das eigentlich allgemein bekannt ist: Gesund-
heitsgefährdung durch Feinstaub. Kraftstoffverbren-
Worum geht es inhaltlich? In Bezug auf Diesel geht es nung und -filter sind beim Diesel eben nicht so effektiv
um zwei Dinge: Erstens geht es um die schrittweise Er- wie beim Benziner. Weitere Umweltprobleme kommen
höhung des europaweiten Mindeststeuersatzes für Diesel hinzu. Stichworte sind beispielsweise Bodenversäuerung
von heute 33 Cent pro Liter auf 41,2 Cent pro Liter bis oder Sommersmog.
12022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Lisa Paus
(A) Noch ein Wort zu den Preisen. Herr Wissing, die Ich glaube, es ist durchaus legitim, dass wir in einer (C)
Rede war von 2,50 Euro. Es ist gar nicht einmal sicher, solchen Debatte, in der es um ein europäisches Rege-
dass, würde eine Steuererhöhung kommen, diese tat- lungsvorhaben geht, auch einmal darüber nachdenken,
sächlich zu Preiserhöhungen führen muss. Momentan ist welche Interessen Deutschland in diesem Zusammen-
es schon so: Aufgrund der stark gewachsenen diesel- hang hat. Auch die deutschen Interessen sollten meiner
betriebenen Pkw-Flotte in Deutschland müssen wir der- Ansicht nach eine Rolle spielen. Diese Frage spielt näm-
zeit nicht nur Rohöl importieren, das in Deutschland raf- lich für den Standort Deutschland eine Rolle, insbeson-
finiert wird, sondern wir müssen zusätzlich Diesel dere für die Automobilindustrie, aber auch für unsere
importieren, um die Dieselfahrzeuge in Deutschland be- Verbraucher. Jedes zweite Fahrzeug, das hier neu zuge-
treiben zu können. Auch das macht keinen Sinn. lassen wird, ist ein Dieselfahrzeug. Diese Frage spielt für
die Menschen in Deutschland also eine ganz große
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Rolle. Herr Wissing hat zu Recht darauf hingewiesen,
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. dass sich viele schon heute fragen, ob sie die Spritpreise
von morgen noch bezahlen können.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deswegen: Wenn wir das Regelungsvorhaben, das
Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie ein bisschen he- auf europäischer Ebene angedacht wird, nämlich die An-
runter, lassen Sie Luft ab! Setzen Sie sich mit dem Inhalt gleichung der Diesel- und Benzinbesteuerung, bis zum
der Richtlinie auseinander! Ansonsten stehen Sie vor ei- Ende durchspielen, stellen wir fest, dass sich die Diesel-
nem Problem. Wenn Sie das nicht wollen, was wollen besteuerung um 60 Prozent erhöhen würde. Im Endef-
Sie stattdessen unternehmen, um die Klimaziele zu errei- fekt läge der Dieselpreis 17 Prozent über dem Benzin-
chen? Dazu hätte ich dann gerne eine Äußerung von Ih- preis.
nen. Ich befürchte, wir haben bald nicht nur E10, son- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
dern dann kommt E20, E30 oder Weiteres. Bitte zeigen Aber es liegt in Ihrer Hand, das national anders
Sie uns Ihre Alternativvorschläge! zu regeln!)
Herzlichen Dank.
Das ist eine Belastung, die für den deutschen Verbrau-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cher nicht hinnehmbar ist. Diese Regelung ist vor allem
mit Blick auf die Menschen nicht vertretbar, die im länd-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lichen Raum leben und zur Arbeit pendeln.
Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) CSU-Fraktion. (D)
Diese Regelung wäre auch für unsere Landwirtschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine schwere Belastung. Im Übrigen geht sie auch mit
Blick auf unsere Automobilindustrie in die falsche Rich-
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): tung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Kolleginnen und Kollegen! Die Kritik, die hier in Rich- Die Erhöhung können Sie aber nicht Brüssel
tung Regierung auf den Weg gebracht wurde, ist bislang anlasten!)
so vielfältig, so unterschiedlich und einander widerspre-
chend, dass aus meiner Sicht sehr vieles dafür spricht, Schließlich würde auch das Transportgewerbe – ich
dass die Position der Bundesregierung genau die richtige denke an den Gütertransfer auf der Straße, der gerade in
ist. Insofern ist eine Debatte wie die, die wir jetzt hier dem Logistikland Deutschland eine große Rolle spielt –
führen, durchaus erhellend. Die einen sagen, wir hätten schwerstens belastet werden, weil fast jeder große Lkw
uns früher und stärker aufpumpen müssen. Die anderen dieselbetrieben ist.
sagen, wir sollten Luft ablassen. Ich meine, wir sollten
uns mit der Geschichte sachlich und vernünftig ausein- Hier ist Diesel als Kraftstoff generell angesprochen
andersetzen. worden. Ich glaube, an dieser Stelle muss man sehr sorg-
fältig differenzieren. Der CO2-Ausstoß pro Liter ist bei
Die Kritik von Herrn Duin, wir hätten nicht rechtzei- Diesel zwar höher, aber der Verbrauch ist bei einem Die-
tig reagiert, ist vollständig verfehlt. selmotor gegenüber einem Benzinmotor 25 Prozent
niedriger. Das heißt, wir müssen sehen, wie hoch die Be-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was?)
lastung pro gefahrenem Kilometer ist. Das ist die ent-
Immerhin hat sich die Kanzlerin zügig, unmittelbar zu scheidende Größe, wenn man fragt, welche Fortbewe-
Beginn dieser Debatte geäußert, und das ist nun einmal gungsart belastender oder weniger belastend für Klima
die höchste Instanz der Regierung, die sich hierzu mel- und Umwelt ist.
den kann. Das heißt, man kann der Regierung wirklich
nicht vorwerfen, sie hätte sich nicht adäquat gemeldet, Dann sind wir bei der Frage: Welche technologischen
wenn sich die Bundeskanzlerin zu Wort gemeldet hat. Entwicklungsmöglichkeiten haben wir? Wenn Sie mit
den Experten in der Automobilindustrie sprechen, sagen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lisa sie Ihnen: Wir sind beim Diesel noch lange nicht am
Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Endpunkt der Entwicklung angelangt. Ich nenne das
falschen Antwort!) Stichwort „Clean Diesel“.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12023
Dr. Mathias Middelberg
(A) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird erstens deutlich gesagt – da sind wir gar nicht (C)
Das ist bei 172 Gramm pro Kilometer auch auseinander –, dass Mobilität – hören Sie zu –
dringend nötig!)
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Hören Sie
Gerade Hersteller wie Volkswagen und Daimler sind bei zu! – Gegenruf der Abg. Ingrid Arndt-Brauer
dieser Technologie weltweit führend. Wir wären ja mit [SPD]: Sie sind nicht lernfähig!)
dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir diesen Schritt
tun würden. Dadurch würden wir unsere Automobilin- in Deutschland bezahlbar bleiben muss und soll, und
dustrie in diesem Kernfeld, in dem wir absolut Welt- zweitens, dass wir eine Automobilindustrie haben, die
marktführer sind – unsere Dieselautos lassen sich her- auch national von uns im Auge behalten werden muss,
vorragend exportieren –, unsere industrielle Basis mit weil eine große Zahl von Industriearbeitsplätzen von der
Hundertausenden von Arbeitsplätzen dort und bei den Automobilproduktion in Deutschland abhängt.
Zulieferunternehmen, eilfertig beschädigen. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Autogipfel gab es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur bei Gabriel! Da haben Sie recht!)
– Hören Sie zu.
Ich bin der Meinung, dass wir uns mit den Vorschlä-
gen der EU-Kommission sachlich, vernünftig und behut- Wir haben vor einigen Tagen das eine oder andere
sam auseinandersetzen sollten. Wir sollten in der De- schriftlich bekommen, in dem zu lesen ist, wie die Bun-
batte die deutschen Interessen aber durchaus deutlich desregierung zu diesen Papieren der Europäischen
und klar artikulieren. Das haben die Bundeskanzlerin Union und zu diesen Plänen steht. Da wird vom Bundes-
und der Bundesverkehrsminister aus meiner Sicht über- finanzministerium auf die Frage der Fraktion der Grü-
zeugend getan. nen, welche Position die Bundesregierung zur Energie-
steuerrichtlinie vertritt, in einem offiziellen Schreiben
Vielen Dank.
geantwortet:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lisa Die Vorlage eines Änderungsvorschlags zur Ener-
Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie
giesteuerrichtlinie an den Rat ist ein interner Vor-
erreichen Sie die Klimaziele im Verkehrsbe- gang der Kommission, in den die Mitgliedstaaten
reich?) nicht offiziell einbezogen sind. Die Bundesregie-
rung nimmt zu informell in die Öffentlichkeit ge-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: langten Punkten keine Stellung, da weder bekannt
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Frak- ist, ob diese zutreffend sind, noch bekannt ist, ob
(B) tion. die Kommission diese dem Rat förmlich vorschla- (D)
gen wird.
(Beifall bei der SPD)
So weit die Bundesregierung auf diese Frage.
Uwe Beckmeyer (SPD): Nun hören Sie zu: Seit anderthalb Jahren existiert ein
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Arbeitspapier der Generaldirektion Steuern und der Zoll-
ren! Ich habe den Eindruck, dass bei den Regierungs- union hinsichtlich der entsprechenden Modifizierung.
fraktionen und damit natürlich auch bei der Bundesre- Dieses ist den Mitgliedstaaten zugesandt worden und be-
gierung am letzten Wochenende die große Nebelma- kannt.
schine angeworfen worden ist. Wie kommt man zu die-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ach nee!)
sem Eindruck? Plötzlich haben wir in großen Zeitungen
den Weckruf des ADAC und des Herrn Wissmann ge- Die Frage an Sie oder an die Bundesregierung lautet
hört und gelesen, der Sie hinsichtlich der möglichen Re- doch: Was ist seitdem in Deutschland geschehen? Haben
aktionen hier in Deutschland aufgeschreckt hat. Da fragt Sie sich eine Meinung dazu gebildet?
man sich: Brauchten Sie diesen Weckruf? Es schien so;
denn danach äußerten sich Frau Merkel und Herr (Beifall bei der SPD – Dorothee Menzner [DIE
Ramsauer. Man hat den Eindruck: O Gott, bei denen ist LINKE]: Nicht einmal gelesen!)
der Weckruf angekommen. Die Frage ist nur: Wer regiert Haben Sie etwas getan? Sie machen hier die Windma-
eigentlich unser Land? Der ADAC, der Verband der Au- schine an, Herr Dr. Wissing, und sagen: Ho, wir sind die-
tomobilindustrie oder diese Bundesregierung? ser und jener Meinung. Aber was ist seitdem geschehen?
Man muss ernsthaft fragen, Herr Schindler, ob Sie Hat sich Deutschland in diese Diskussion eingebracht?
hier Ihre Einzelmeinung vorgetragen haben oder ob das Nein, Deutschland hat es nicht; sonst wäre die Überra-
die Linie Ihrer Fraktion ist. schung nicht so groß gewesen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Wenn man
Das war die des Bauernverbandes!) es nicht liest!)

Was war das? Es ist bekannt – auch das kann man diesen Dokumen-
ten entnehmen –, dass sich sehr wohl Unternehmen,
(Zuruf des Abg. Norbert Schindler [CDU/ Kommissionsdienststellen und Mitgliedstaaten in viel-
CSU]) fältigen Beiträgen aus den Mitgliedsländern dazu geäu-
12024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Uwe Beckmeyer
(A) ßert und dies bewertet haben. Sie aber sind überrascht Deutschland ist das einzige europäische Land, das so (C)
worden. erfolgreich aus der Krise kam. Heute titelt die Bild-Zei-
tung: „So viele Jobs wie noch nie!“ Die Bundesregie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung erwartet für 2011 ein Wirtschaftswachstum von
der LINKEN) 2,6 Prozent; das sind 0,3 Prozentpunkte mehr als in der
Sie mussten geweckt werden. Bei dieser katastrophalen Prognose zu Jahresbeginn. Die Zahl der Arbeitslosen
Politik in Richtung Europa frage ich mich: Wo ist eigent- wird auf 2,9 Millionen sinken. Sollen wir diese positive
lich Ihre Verantwortung für den Industriestandort Entwicklung jetzt etwa gefährden? Eine neue Steuerpoli-
Deutschland? tik aus Brüssel ist das Letzte, was wir derzeit gebrauchen
können.
(Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg
[CDU/CSU]: Der Arbeitsplatzstandort ist im Kommen wir nun zur Besteuerung von Dieselkraft-
besten Zustand, Herr Beckmeyer! – Zuruf des stoff.
Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich glaube, insofern war der Weckruf sinnvoll. Ich Wie war dazu noch mal Ihr Vorschlag?)
kann an dieser Stelle nur sagen: Das alles erinnert mich Es gibt bereits die Euro-5- und Euro-6-Verordnung,
sehr stark an das, was wir bei E10 erlebt haben. Herr durch welche der Schadstoffausstoß von Dieselmotoren
Ramsauer sagte, er sei dafür, dass E10 eingeführt wird, und Benzinern angeglichen wurde. Ab 2014 werden die
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, der gerade nicht Stickoxidemissionen durch die Euro-6-Norm um weitere
anwesend ist, sagte natürlich, dass das überhaupt nicht 68 Prozent gesenkt.
infrage kommt.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das stimmt Dann gibt es sie aber immer noch!)
nicht! Sie lügen!)
Außerdem gibt es eine EU-Verordnung aus dem Jahre
Welche Haltung haben Sie denn? Sie haben gar keine 2009 zu den Neuzulassungen von Pkw nach Emissions-
Haltung. Sie sind in dieser Frage meinungslos. gruppen und Kraftstoffarten, welche eindeutige Ziele zur
(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht nur in der Verringerung der CO2-Emissionen verfolgt. Die Europä-
Frage!) ische Kommission sieht sogar vor, diejenigen Hersteller
mit einer Lenkungsabgabe zu belegen, deren Jahresmit-
Das allerdings ist sträflich und verantwortungslos bezo- tel bei Pkw-Neuzulassungen über dem für sie festgeleg-
gen auf unsere Position in Europa. Da kann ich nur sa- ten Wert liegt. Eine höhere Besteuerung des hocheffizi-
(B) gen: Werden Sie besser. Wenn nicht, bestätigt sich die enten Dieselkraftstoffs ergibt daher umweltpolitisch (D)
These: Wir werden zurzeit in Deutschland schlecht re- wenig Sinn.
giert.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Danke schön. Ahnungslos!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wirtschaftlich hätte sie fatale Folgen. Fast der ge-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingrid samte Straßengütertransport erfolgt durch Dieselfahr-
Arndt-Brauer [SPD]: Das stimmt allerdings!) zeuge. Eine zusätzliche Besteuerung würde nicht nur ge-
rade viele kleine und mittlere Unternehmen in den
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: finanziellen Ruin treiben, sondern es würden auch die
Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDP- Landwirtschaft, das Handwerk, die Speditionsbetriebe,
Fraktion. kurzum der Mittelstand, der Leistungsträger unserer Ge-
sellschaft, unverhältnismäßig belastet. Nicht zuletzt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten würde die Besteuerung längerfristig auf den Verbraucher
der CDU/CSU) umgewälzt werden, der für viele Produkte tiefer in die
Tasche greifen müsste.
Heinz Golombeck (FDP):
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Dann lassen Sie das doch! Brüssel jedenfalls
und Kollegen! Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist zwingt Sie nicht dazu!)
schlecht. Insbesondere beim Klimaschutz ist es durchaus
sinnvoll, europäische Regelungen einzuführen. Denn na- Nein, meine Damen und Herren, wir haben derzeit
tionalstaatliche Insellösungen tragen zum Klimaschutz keinen Spielraum für Teuerungsraten. Gerade erst kam
kaum bei und führen außerdem zu Wettbewerbsverzer- von EU-Kommissar Lewandowski der Vorschlag, künf-
rungen. tig ein Drittel der EU-Einnahmen mit einer EU-Steuer
auf bestimmte Waren zu generieren. Dies widerspricht
Alle Mitgliedstaaten haben der Strategie Europa 2020 eindeutig dem Koalitionsvertrag von Union und FDP.
und den 20-20-20-Zielen zugestimmt. Deutschland ist Denn dort steht:
mit seinem ambitionierten Ziel, 40 Prozent des CO2-Aus-
stoßes bis 2020 einzusparen, der absolute Vorreiter. Dies Eine EU-Steuer oder die Beteiligung der EU an na-
ist nicht ungewöhnlich. Man kennt uns in Europa als Im- tionalen Steuern und Abgaben lehnen wir ab. Auch
pulsgeber und Pionier, insbesondere in Umweltfragen. darf die EU keine eigenen Kompetenzen zur Abga-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12025
Heinz Golombeck
(A) benerhebung oder zur Kreditaufnahme für Eigen- Ich rede jetzt einmal über Energiesteuern, also über (C)
mittel erhalten. unser Thema. Energiesteuern werden aus verschiedenen
Gründen erhoben. Natürlich will man Einnahmen erzie-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len, man möchte die Leute zu sparsamem Verhalten ani-
Aha! Und warum?) mieren, und man möchte lenken, was bedeutet, dass sau-
Genauso verhält es sich auch mit der Vorgabe von Min- bere Energie bevorzugt werden soll.
deststeuersätzen. Auch diese lehnen wir ab. Wir brau- Was ist in Brüssel passiert? Man hat dort festgestellt:
chen in der Steuerpolitik keinen Nachhilfekurs von Energie wird völlig unterschiedlich besteuert, und es
Brüssel. wäre sinnvoll, zu schauen, was für Produkte man hat und
Aufgrund des schnelleren Ausstiegs aus der Kernen- wie man die ganze Sache harmonisiert. Das ist an sich
ergie werden wir massiv investieren müssen: in den Lei- überhaupt nichts Schlimmes bzw. Schlechtes. Das hätten
tungsausbau, in intelligente Netze, in Speichertechnolo- wir heute auch alles aktuell abfeiern können.
gie und nicht zuletzt in die Energieforschung. Wie war die Situation? Die Situation war folgende:
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon am letzten Wochenende wurden vorab Nachrich-
Haben Sie nicht eben etwas von gemeinsamer ten durchgestochen, die dazu führten, dass vor allem die
Zeitung mit den großen Buchstaben den Untergang des
Klimaschutzpolitik gesagt?)
Abendlandes postulierte. Aber die Kanzlerin stellte klar:
Es nützt nichts, darum herumzureden: Energie wird oh- Diesel wird nicht teurer. Ein kraftvolles Wort! Niemand
nehin teurer werden. Wir können und wollen die Ver- hatte vorher in Brüssel gesagt: Wir wollen Diesel verteu-
braucher nicht von mehreren Seiten durch höhere Preise ern. Vielmehr wollte man Energie nur anders besteuern
belasten. Dies würde unser gerade erst mühsam er- und vielleicht einmal Sachen auf den Prüfstand stellen.
kämpftes Wirtschaftswachstum bremsen. Überhaupt wundert es mich, dass sich die Bundesre-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der gierung aktuell mit dem Thema so stark beschäftigt;
CDU/CSU) denn die ganze Sache wird für uns frühestens 2023 rich-
tig akut. Da diese Bundesregierung nur noch bis 2013 im
In Steuersachen muss im Rat einstimmig entschieden Amt ist, muss sie sich über solche langfristigen Dinge,
werden. Das heißt, ein Veto der Bundesregierung kann denke ich, überhaupt keine Gedanken machen. Ich emp-
und wird die Richtlinie zur Energiebesteuerung, so wie finde das Ganze als gigantisches Ablenkungsmanöver.
sie uns vorliegt, kippen. Daher sagen wir Nein.
Schauen Sie mal: Die Regierungsbank ist leider sehr
Vielen Dank. spärlich besetzt. Normalerweise sitzt da eine Kanzlerin,
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die plötzlich den Atomausstieg forciert, obwohl sie im- (D)
mer für Atompolitik war. Das treibt die Leute natürlich
in die Verunsicherung. Normalerweise sitzt da noch ein
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Außenminister, zu dem mir nur einfällt, dass er in Zu-
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD- kunft das falsche Amt abgeben wird. Dann sitzt daneben
Fraktion. ein Innenminister, der bei Migranten Chaos verursacht.
All das bringt die Leute in Panik. Sie setzen dann ihre
(Beifall bei der SPD)
Hoffnungen auf den meistens danebensitzenden Finanz-
minister, der leider keine Steuersenkungen vornehmen
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): kann, aber auch sonst nicht einmal die Gemeindefinan-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zen geregelt bekommt. Normalerweise sehen wir dane-
ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern, am ben einen Wirtschaftsminister,
13. April 2011, kam eine Nachricht aus Brüssel mit der
Überschrift – ich zitiere –: „Energiebesteuerung: Kom- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Guter Wirtschafts-
mission setzt sich für Energieeffizienz und umwelt- minister!)
freundlichere Erzeugnisse ein“. In dieser Nachricht hieß der wie ein Fels in der Brandung steht. Allerdings ist das
es: Wasser schon weg; das hat er nur nicht gemerkt.
Die Europäische Kommission hat heute einen Vor- (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])
schlag vorgelegt, mit dem die veralteten Regelun-
Am Rand sitzt normalerweise unsere Arbeitsministerin,
gen zur Besteuerung von Energieerzeugnissen in
die Kürzungen bei Eingliederungsmaßnahmen in der
der Europäischen Union überholt werden sollen.
Form forciert, dass nicht nur den Arbeitslosen angst und
Man könnte sagen: Na endlich! Man könnte sich freuen bange wird.
und könnte sagen: Jawohl, jetzt machen wir eine Das alles bringt die Bevölkerung natürlich in Aufruhr.
Aktuelle Stunde zu dem Thema und sagen, wie wir das Man kann das verstehen, wenn dann noch die Apoka-
in Deutschland umsetzen wollen. Darauf habe ich ge- lypse „Jetzt geht es gegen Autofahrer“ an die Wand ge-
wartet; leider wurde ich bisher enttäuscht. Herr Schind- malt wird. Denn dann hilft auch nicht die in der zweiten
ler sprach über E10, und Dr. Wissing sprach – ein ganz Reihe sitzende Verbraucherministerin, die sich bisher
neues Feld – über Sozialpolitik. Dr. Middelberg sprach um alles Mögliche gekümmert hat, nur nicht um den
hauptsächlich von deutschen Interessen innerhalb Euro- Schutz der Verbraucher.
pas. Herr Golombeck redete von der Arbeitslosenquote
und wollte auf keinen Fall Steuererhöhungen. (Beifall bei der SPD)
12026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ingrid Arndt-Brauer
(A) Alle Hoffnung ruht – gleich nachfolgend – auf der Fami- über die man verantwortungsvoll und verlässlich disku- (C)
lienministerin mit ihren Freiwilligendiensten. Ob das tieren muss. Das tun wir.
dem Land helfen wird, wage ich zu bezweifeln. Beim
Gesundheitsminister kann ich nur fragen: Wo ist die Re- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Nichts!)
form? Bei Ramsauer frage ich mich: Wo ist der Plan? Wir setzen uns mit den Dingen verantwortungsvoll aus-
Und bei Röttgen kann ich nur hoffen, dass das Morato- einander und spielen hier nicht Fasching oder sonstige
rium dauerhaft sein wird; ansonsten hat er nämlich auch Dinge. Das kann nicht sein. Das war eine Büttenrede und
keine Lösung. Schavan muss man nicht großartig erwäh- nichts anderes.
nen, und bei Niebel fällt mir, ehrlich gesagt, außer Wirt-
schaftsförderung auf Kosten der Armen nichts mehr ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – In-
grid Arndt-Brauer [SPD]: Das war doch nicht
Jetzt könnte man sagen: Unsere Hoffnung in der EU
Fasching! Das war eine Situationsbeschrei-
ruht auf Oettinger.
bung! – Zuruf des Abg. Dr. Hermann Ott
(Olav Gutting [CDU/CSU]: Guter Mann!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir haben ja einen Energiekommissar. Nur frage ich Unser gemeinsames Ziel ist eine EU-Wirtschaft, die
mich: Wo ist eigentlich unser Energiekommissar? Wenn grüner und wettbewerbsfähiger ist sowie effizienter
es um langfristige energiepolitische Ziele geht, habe ich mit den Ressourcen umgeht.
von ihm auch noch nichts gehört.
Das hat gestern der EU-Steuerkommissar bei der Vor-
Das ist das Problem. Die aktuelle Regierung – die, stellung der Richtlinie, über die wir heute reden, gesagt.
wie gesagt, auf zwei Jahre befristet ist – kümmert sich Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. Das ist für uns
nicht aktuell um die wirklichen Probleme in diesem jedoch ein Vorschlag, der durchdacht werden muss, und
Land, sondern lässt es zu, dass dieses Land in Panik ver- man muss sich den Themen natürlich auch verantwor-
fällt und dieser Zeitung mit den vier Buchstaben hinter- tungsvoll stellen.
herläuft, ansonsten macht sie nichts als Ankündigungen.
Herr Beckmeyer hat vorhin gesagt, dass wir als christ-
Ich möchte Sie bitten, sich in Zukunft zu bemühen,
lich-liberale und die Regierung tragende Koalition nicht
diese zwei Jahre einigermaßen anständig über die Bühne
verantwortungsvoll mit dem Industriestandort Deutsch-
zu bringen und uns nicht nur Chaos zu hinterlassen; denn
land umgehen. Lieber Herr Beckmeyer, dieser Verant-
so viel können wir dann auch nicht mehr aufräumen.
wortung sollten auch Sie in der Energiedebatte gerecht
Vielen Dank. werden;
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wohl wahr! Aber Sie (D)
DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das scheinen ein Wahrnehmungsproblem zu ha-
war eine sehr lachhafte Rede!) ben!)
denn wir handeln verantwortungsvoll und schauen, wie
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
man die Energiepolitik für die nächsten Jahrzehnte rich-
Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSU-
tig und verantwortungsvoll ausrichten kann. Dazu gehört
Fraktion.
natürlich auch, dass man bei dem Thema Besteuerung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genauer hinschaut und dass man für die Erreichung der
Klimaziele eine gemeinsame Politik machen muss, die
Peter Aumer (CDU/CSU): verantwortungsvoll in die Zukunft gerichtet ist. Wir tun
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten das. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Oppo-
Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Arndt-Brauer, sition, Sie haben zwar viel gesagt, aber keine konkreten
Sie haben an dem Thema dieser Aktuellen Stunde total Vorschläge dafür gemacht,
vorbeigeredet. Sie haben gesagt, welche Kollegen von (Garrelt Duin [SPD]: Doch, natürlich! Sie
uns zum Thema gesprochen haben. Das Wesentliche ist, haben nicht zugehört!)
dass man bei all den Punkten den roten Faden erkennt.
Bei Ihrer Satire, die Sie in Bezug auf das Kabinett von – Sie auch nicht –, wie man bei der Energiebesteuerung
sich gegeben haben, fehlte es aus meiner Sicht an jegli- andere Wege gehen kann.
cher Verantwortung für das Thema.
Wir denken, dass gerade die Dieselbesteuerung ein
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war eine wichtiger Punkt für die deutsche Steuerpolitik und für
Situationsbeschreibung!) die Energiepolitik in Deutschland ist.
Ich glaube, Sie stellen sich dieser Debatte nicht mit der (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und warum
gebotenen Ernsthaftigkeit. kümmern Sie sich nicht darum?)
Wenn man sich der Situation in unserem Land stellt,
Für die private Wirtschaft und für Privatnutzer gilt: Seit
dann sieht man, dass die Energie eines der wesentlichen
längerem gibt es eine ökologische Besteuerung des
Themen ist,
Treibstoffes, die in dieser Zeit sicherlich auch richtig
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Tun Sie doch endlich und wichtig war, weil man damit lenkend wirkt. Man
mal etwas!) darf aber natürlich auch nicht überbesteuern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12027
Peter Aumer
(A) Gerade bei den Dieselfahrzeugen ist die CO2-Vermei- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber (C)
dung ein wesentliches Ziel. Liebe Frau Paus, es wundert auch in Zukunft! Nicht nur kurzzeitig!)
mich, dass die Grünen dieses Ziel ganz aus den Augen
Das hat die Bundesregierung dazu veranlasst, den
verloren haben. Ich habe aus Ihrer Rede geschlossen – so
Vorschlag der Europäischen Kommission kritisch zu se-
ist mir das vorgekommen –, dass Sie die dieselbetriebe-
hen und ganz klar zu sagen, dass man alle Auswirkungen
nen Fahrzeuge verdammen. Ich finde das nicht unbe-
der Energiesteuerrichtlinie auf den Standort Deutsch-
dingt sehr verantwortungsvoll.
land, auf die gewachsene Besteuerungsstruktur und auf
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE Wirtschaft und Verbraucher in unserem Land mitberück-
GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!) sichtigen muss.
– Das war der Tenor ihrer Rede und aus meiner Sicht (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht unbedingt richtig; denn die Dieselfahrzeuge sind Da muss man eine kluge, zukunftsfähige Poli-
effizient und energiesparend, und es ist kontraproduktiv, tik machen!)
wenn man sie falsch besteuert.
Wenn die Bundesregierung merkt, dass die geplanten
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Änderungen der gewachsenen Besteuerungsstrukturen in
Ich habe gesagt: Beim Diesel ist nicht alles Europa den richtigen Weg einschlagen, dann kann man
Gold, was glänzt!) ihnen zustimmen. Wenn nicht, dann muss man die Richt-
linie ablehnen und einen anderen Weg der Energiebe-
Die Nachfrage nach Dieselfahrzeugen ergibt sich vor
steuerung beschreiten, damit die Klimaziele in Europa
allem aufgrund der Kostenfaktoren. Das muss man ganz
und in Deutschland verlässlich erreicht werden.
klar sehen. Man muss sich natürlich auch die Besteue-
rungsstruktur in unserem Land ansehen. Danke schön.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das können Sie ändern! Damit hat Brüssel
nichts zu tun!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Neben der Besteuerung des Kraftstoffs gibt es auch die Das Wort hat Olav Gutting für die CDU/CSU-Frak-
Kfz-Steuer, die sich natürlich auf die Wettbewerbsfähig- tion.
keit der Dieselfahrzeuge auswirkt. Deswegen muss man
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Dieselbesteuerung als Ganzes sehen.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Olav Gutting (CDU/CSU):
(B) Genau!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- (D)
Mit der Vorgabe in der Energiesteuerrichtlinie ist es gentlich könnte man es kurz machen. Die Pläne zur Er-
einfach schwierig, die Dieselfahrzeuge in unserem Land höhung der Mindestbesteuerung von Diesel verlangen in
wettbewerbsfähig zu halten und nicht zusätzlich durch Europa Einstimmigkeit. Kanzlerin und Bundesregie-
eine Besteuerung zu belasten. Zum anderen muss man rung haben bereits eindeutig gesagt, dass es mit dieser
natürlich auch sehen, dass die Dieseltechnologie vor al- Regierung keine Zustimmung, sondern ein Veto gibt,
lem im Transportgewerbe und im industriellen Bereich und zwar aus gutem Grund.
vorherrscht. Eine höhere Besteuerung wird sicherlich (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit un- NEN]: Es gibt keine Sicherheit mehr, Herr
seres Landes verbessert wird. Hierüber muss man ver- Gutting!)
antwortungsvoll diskutieren.
Denn bereits heute werden Dieselfahrzeuge in Deutsch-
Frau Paus, Sie haben es ja auch gesagt: Die bisher land bei der Kfz-Steuer erheblich höher besteuert als
geltende Ermäßigung kann dann nicht mehr aufrecht- Fahrzeuge mit Ottomotor. Deswegen zur Dieselsteuer-
erhalten werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass erhöhung ein klares Nein, heute und auch in den nächs-
man gerade im Bereich des Transportgewerbes und bei ten Jahren. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt.
der Besteuerung der industriellen Fahrzeuge Ausnahmen
machen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wie erreichen Sie Ihre Klimaschutzziele im Aber es geht auch um Grundsätzliches. Eine große
Verkehrsbereich?) deutsche Zeitung hat – vorhin haben wir das schon ge-
hört – in dieser Woche getitelt: „Sind wir Autofahrer die
Des Weiteren sind wir in Deutschland mit unseren
Deppen der Nation?“ Ja, dieses Gefühl kann den einen
großen Automobilherstellern in der Dieseltechnologie
oder anderen in unserem Land beschleichen. Das muss
weltweit führend. Auch hier muss man die Wettbewerbs-
uns Sorgen machen. Denn es gibt aus meiner Sicht spür-
fähigkeit des Standortes Deutschland aufrechterhalten
bare Tendenzen in diesem Land gegen das Autofahren
und den Vorsprung sichern. Denn das Entscheidende für
insgesamt.
den Industriestandort Deutschland ist, Herr Beckmeyer,
dass wir auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig und in Die Brüsseler Vorschläge zur Erhöhung der Mindest-
diesem Bereich Vorreiter in wirtschaftlichen Fragen besteuerung von Diesel sind nur ein Teil des europäi-
sind. schen Weißbuches zur Verkehrspolitik. Darin stehen
12028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Olav Gutting
(A) noch mehr Punkte, zum Beispiel radikale europaweite Wenn wir zukünftig die Spitzenstellung unserer Wirt- (C)
Geschwindigkeitsbegrenzungen schaft in Baden-Württemberg und deutschlandweit er-
halten wollen, dann dürfen wir dem drohenden Ver-
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jawohl!) kehrskollaps nicht tatenlos zusehen. Sonst sind wir in
und der an den Haaren herbeigezogene Vorwurf, dass es Baden-Württemberg bald nicht mehr nur die Erfinder
sich bei der Dienstwagenbesteuerung um eine Subven- des Autofahrens, sondern auch die Erfinder des „Auto-
tion handele. stehens“.
Hinzu kommen die Meinungen der Grünen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ganze ist aus meiner Sicht ein Frontalangriff auf die Die deutschen Autofahrer zahlen an der Tankstelle,
deutsche Automobilindustrie, vor allem auf die in Ba- über die Kfz-Steuer und über die Lkw-Maut jährlich
den-Württemberg ansässigen Prämiumhersteller. knapp 52 Milliarden Euro. Diese 52 Milliarden Euro
(Zurufe von der LINKEN: Oh!) sprudeln aus dem Bereich des Straßenverkehrs, aber nur
ein Bruchteil davon, nämlich knapp 6 Milliarden Euro,
Wir sind mit der deutschen Automobilindustrie Techno- fließt in den Bundesfernstraßenbau. Ich glaube, da
logieführer, gerade auch beim Diesel. Die Modelle wer- stimmt etwas nicht.
den immer sparsamer und effizienter. Bei den Dienstwa-
gen haben wir Deutschen einen Marktanteil von knapp Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land erwarten
80 Prozent. Unsere Produkte aus der Automobilindustrie von der Politik zu Recht mehr Investitionen in die Straße
sind weltweit gefragt. (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es ist einigen in Europa offensichtlich ein Dorn im NEN]: Diese Politik ist doch gerade abgewählt
Auge, dass die deutsche Automobilindustrie mit ihren worden, Herr Gutting! Das gibt es doch gar
Spitzenprodukten weite Teile der Märkte dominiert. nicht!)
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und nicht mehr Abzocke an der Tankstelle.
NEN]: Das ist doch Quatsch, Herr Gutting! Herzlichen Dank.
Jetzt malen Sie nicht was an die Wand!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Verschließen Sie ruhig die Augen. Aber diese Vor-
schläge aus Brüssel haben System. Sie richten sich ge-
gen die deutsche Automobilindustrie und gegen die vie- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
len Hunderttausend Arbeitsplätze in diesem Segment. Als letzter Rednerin in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion
(B) (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
das Wort.
NEN]: Mir kommen die Tränen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hinzu kommt, dass Grüne aus den eigenen Reihen im
eigenen Land sagen:
Patricia Lips (CDU/CSU):
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
NEN]: Vaterlandsverräter!) sehr geehrten Damen und Herren! Klimaschutz wird in
Europa und in Deutschland und damit vor allem auch bei
Straßenbau ist nicht mehr zeitgemäß. Unvergessen ist
den Menschen in diesem Land groß geschrieben.
auch Ihre Forderung von 5 DM bzw. heute 2,50 Euro pro
Liter Benzin. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das haben wir
der Grünen aus Baden-Württemberg sagt, die Auto- gerade gehört!)
mobilindustrie habe nicht mehr dieselbe Bedeutung wie
früher und sei nicht mehr so wichtig, obwohl in Baden- – Das kann man nicht oft genug sagen. – Nun kann man
Württemberg knapp jeder vierte Arbeitsplatz von der das zunehmende Engagement seitens der Politik unter-
Automobilindustrie abhängt. schiedlich forcieren: Man kann auf der einen Seite An-
reize setzen, seien es steuerliche Anreize oder Zu-
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schüsse, oder man kann gezielt einzelne Steuerelemente
NEN]: Ihr habt nur mit uns Grünen eine erhöhen, um dadurch, dass man ein Produkt unattraktiv
Chance!) macht, Lenkungswirkungen zu erzielen.
Aus den Koalitionsverhandlungen von Grün-Rot in Die europäische Energiesteuerrichtlinie, um die es
Stuttgart hört man Beschwichtigungen: Ja, ja, wir wer- heute geht, ist dabei grundsätzlich ein Instrument, um
den schon noch die eine oder andere Umgehungsstraße Klimaschutz voranzubringen.
bauen. Aber ich sage Ihnen: Mit der einen oder anderen
Umgehungsstraße ist das Problem nicht zu lösen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist doch einmal eine Aussage!)
Wir brauchen dringend mehr Investitionen in den
Straßenbau. Wirtschaft braucht Mobilität. Sie gibt es nicht erst seit heute, und sie soll weiterentwi-
ckelt werden. Sie setzt Mindeststandards hinsichtlich der
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energiesteuern für die Mitgliedstaaten, durchaus verbun-
NEN]: Wir brauchen mehr kreative Ingeni- den mit der Möglichkeit, Anreize zu setzen. So weit, so
eure! Kreativität!) gut. Doch was geschieht nun im Rahmen dieser Weiter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12029
Patricia Lips
(A) entwicklung? Der aktuelle Vorschlag der Europäischen schadstoffärmere Fahrzeuge umzusteigen, nun durch (C)
Kommission sieht nicht einfach vor, die Mindeststeuer- eine pauschal höhere Dieselbesteuerung fast schon kon-
sätze zu harmonisieren bzw. zu erhöhen, sondern geht terkariert würde, ohne das Genannte zu berücksichtigen.
vielmehr davon aus, dass es perspektivisch zu einer völ- Was sollen wir denn den Menschen sagen, die heute
lig neuen Bemessungsgrundlage kommt. Durch diese vielleicht mehr auf den Verbrauch als auf die Ausstat-
qualitative Änderung verschieben sich die Parameter der tung oder die Farbe eines Wagens achten, worüber wir
Besteuerung – vornehmlich im Kraftstoffbereich und uns ja freuen? Bisher war die Strategie auch innerhalb
insbesondere bei Diesel – nicht unerheblich. der EU immer sehr stark auf die Prinzipien ausgerichtet,
Anreize für die technologische Entwicklung von Fahr-
Ich betone: Maßnahmen, die zu Energieeinsparung zeugen und steuerliche Anreize zu setzen, damit die Hal-
und Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, sind grund- ter ihre Kaufentscheidung bewusst nach diesen Kriterien
sätzlich immer zu begrüßen. Wer wollte da Nein sagen? ausrichten.
Aber der Teufel steckt im Detail. Deshalb möchte ich die
Gelegenheit nutzen, etwas in Erinnerung zu rufen, was Nun am Ende aber diejenigen zu strafen, die in die-
wir in jüngster Vergangenheit beschlossen haben. Ver- sem Sinne gehandelt haben, die Zange quasi von beiden
folgt man manche aktuelle Diskussion, hat man zurzeit Seiten anzusetzen, kann nicht unser Ziel sein. Da reicht
fast das Gefühl, wir stünden erst am Anfang von schon das Signal aus Brüssel. Die Reaktionen kann man
Erkenntnissen. Ich sage dies auch, weil man eben nicht auch mit „Wehret den Anfängen“ rechtfertigen.
einfach eine Einzelmaßnahme – in diesem Fall die Än-
Jedes zweite Auto – es wurde schon darauf hingewie-
derung der Dieselbesteuerung – von außen einem diffe-
sen –, das heute in Deutschland gekauft wird, ist ein Die-
renzierten Gefüge von bereits vorhandener steuerlicher
sel. Wir sind führend in der Weiterentwicklung dieser
Gesamtbelastung der Teilnehmer im Straßenverkehr
Technologie. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Die
quasi zusätzlich überstülpen kann.
Auswirkungen würden auch und vor allem den kommer-
Kollege Gutting hat schon darauf hingewiesen: Die- ziellen Bereich wie das Transportgewerbe empfindlich
selfahrzeuge werden in Deutschland mit einem höheren treffen und damit die Wettbewerbsfähigkeit dieses Lan-
Kfz-Steuersatz belegt, um gerade den Steuervorteil bei des beeinträchtigen. Auch das kann uns nicht gleichgül-
der Energiesteuer wieder auszugleichen. Es ärgert mich, tig sein.
wenn immer wieder einseitig geschrieben oder gesagt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wird, es finde eine Subventionierung der Dieselfahr- neten der FDP)
zeuge statt. Diese Medaille hat zwei Seiten.
Bei Abwägung des beschriebenen Gesamtbildes kann
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zumindest den bisher bekannten Vorschlägen mit den (D)
(B) neten der FDP) entsprechenden Auswirkungen von unserer Seite nicht
Wir haben darüber hinaus erst vor kurzem die Kfz- gefolgt werden.
Steuer mit Elementen weiterentwickelt, die Anreize set- Vielen Dank.
zen sollen, grundsätzlich auf verbrauchsarme Fahrzeuge
umzuschwenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lisa
Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie
Warum sind wir so verfahren? Das Optimierungs- wollen Sie die Klimaschutzziele erreichen?)
potenzial bei Dieselfahrzeugen ist höher als bei Fahrzeu-
gen mit Ottomotoren, deren Verbrauch ist damit in der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Regel geringer,
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
War!)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-
und sie sind sparsamer. Kollege Middelberg hat darauf thee Bär, Markus Grübel, Michaela Noll, weiterer
hingewiesen: Eigentlich müsste man vielmehr auf die Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
Kilometerleistung abzielen und nicht so sehr auf den wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Kraftstoff. Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abge-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ordneter und der Fraktion der FDP
Beim Klimaschutz geht es nicht um den Liter, Neue Perspektiven für Jungen und Männer
sondern um den Inhalt!)
– Drucksache 17/5494 –
Deshalb war es das Ziel, nicht erst an der sprichwörtli- Überweisungsvorschlag:
chen Zapfsäule anzusetzen, sondern bereits beim Erwerb Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
eines Fahrzeugs. Diese Maßnahmen wurden ergriffen, Innenausschuss
weil man deren Notwendigkeit erkannt und sie als ziel- Rechtsausschuss
führend im Sinne des Klimaschutzes bewertet und vor Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
allen Dingen auch als gerecht angesehen hat. Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Nicht gerecht wäre es, wenn diese Bemühungen und Technikfolgenabschätzung
die damit hervorgerufene Bereitschaft der Menschen, auf Haushaltsausschuss
12030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) In einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Glücklicherweise gibt es heute immer mehr Väter, die (C)
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei- mehr von ihrer Familie haben wollen als ein Bild auf
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dem Schreibtisch. Auch sie bezahlen im Moment mit
schlechteren Karriereaussichten, wenn sie ihre Prioritä-
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis- ten entsprechend setzen. Auch sie sind in stereotypen
terin Kristina Schröder das Wort. Rollenerwartungen gefangen, so wie vielleicht ihre Müt-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ter vor 50 Jahren.
Wenn wir faire Chancen für Frauen wollen, dann
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- müssen wir auch Männern die Chance geben, sich von
lie, Senioren, Frauen und Jugend: Rollenmustern zu lösen, und zwar sowohl in der Familie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor als auch in der Arbeitswelt.
ein paar Wochen, am 8. März, haben wir den 100. Welt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
frauentag gefeiert. Er steht für all die Rechte, die sich
Frauen hart erkämpft haben. Seit 1999 gibt es auch einen Union und FDP sagen: Männer- und Frauenpolitik
Internationalen Männertag. Was aber die öffentliche stützen sich gegenseitig. Was man aus männer- und jun-
Aufmerksamkeit betrifft, kann dieser Internationale genpolitischer Sicht machen kann, zeigt der Antrag der
Männertag mit dem Weltfrauentag bei weitem nicht mit- Koalitionsfraktionen auf. Auch für mich als Ministerin
halten. Er bewegt sich eher auf dem Niveau des Welttags hatte dieses Thema seit Beginn meiner Amtszeit höchste
für die Bekämpfung von Wüstenbildung und Dürre. Priorität.
Dieses Aufmerksamkeitsgefälle zwischen Frauentag Deswegen hat heute in Deutschland zum ersten Mal
und Männertag ist symptomatisch für eine Schieflage in bundesweit ein Boys’ Day stattgefunden, ein Ereignis,
der Gleichstellungspolitik. Wenn wir über Gleichberech- an dem sich auf Anhieb 35 000 Jungen beteiligt haben.
tigung reden, reden wir vor allem über Frauenpolitik. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Anklang, den dieser
Die Bedeutung der Jungen- und Männerpolitik in der Boys’ Day gefunden hat, hat meine eigenen Erwartun-
Gleichstellungspolitik wird immer noch unterschätzt. gen bei weitem übertroffen. Dieser Tag ist auch interna-
Das müssen wir ändern, und zwar sowohl im Interesse tional schon bekannt geworden. Ich freue mich sehr,
der Männer als auch im Interesse der Frauen. dass heute mein norwegischer Kollege, der norwegische
Minister für Kinder, Gleichstellung und soziale Inklu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sion, Audun Lysbakken, in Deutschland ist – er sitzt
Florian Bernschneider [FDP]) oben auf der Tribüne –, um sich den hiesigen Boys’ Day
Wir wollen Gleichberechtigung – nicht als Ergebnis- anzuschauen.
(B) (D)
gleichheit, sondern als Chancengleichheit. Der Schlüssel (Beifall)
zur Gleichberechtigung der Geschlechter ist die Gestal-
tungsfreiheit von Männern und Frauen, was ihren eige- Wir haben deswegen vor einigen Monaten einen Bei-
nen Lebensentwurf betrifft. rat für Jungenpolitik gegründet, ein Gremium, in dem
nicht nur, wie sonst, Wissenschaftler und Praktiker zu-
Wie sehr dabei Männerleben und Frauenleben von- sammensitzen, sondern auch sechs Jungen aus ganz un-
einander abhängen, sehen wir zum Beispiel, wenn wir terschiedlichen sozialen Milieus. Sie alle entwickeln
die Chancengleichheit im Berufsleben betrachten. Wir Handlungsempfehlungen für die Jungen- und Männer-
führen die Debatte um Frauen in Führungspositionen politik. Ich sage Ihnen: Wenn wir uns das anschauen,
auch fast ausschließlich als eine frauenpolitische De- dann können wir alle noch etwas lernen.
batte. Das ist ein Fehler.
Wir haben das Programm „MEHR Männer in Kitas“
(Caren Marks [SPD]: Sie sind ja nie da bei den gestartet. Mehr Männer in Kitas sind wichtig, um Män-
Debatten! – Gegenruf von der CDU/CSU: Sie nern neue Berufsaussichten zu ermöglichen, um Kindern
redet doch gerade! – Caren Marks [SPD]: Mal von Anfang an zu zeigen, dass Erziehungsaufgaben von
ausnahmsweise!) Frauen und Männern wahrgenommen werden können,
und um mehr männliche Vorbilder zu haben. Männliche
Fakt ist: Wenn in vielen Topführungspositionen 70- oder
Vorbilder in den Kitas – das ist sowohl für die Jungen als
80-Stunden-Wochen immer noch üblich sind, dann ste-
auch für die Mädchen wichtig.
hen das nur diejenigen durch, denen jemand zu Hause
den Rücken freihält. Damit macht unsere Arbeitswelt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eine traditionelle Rollenverteilung in der Partnerschaft
quasi zu einer Art Karrierevoraussetzung. Wir haben auch für die sogenannten Vätermonate
– eigentlich sind es die Partnermonate – beim Elterngeld
Für das Prinzip „Karriere wird nach Feierabend ge- gesorgt. Diese Monate sind ein riesiger Erfolg. Bevor
macht“ bezahlen viele Frauen also gleich doppelt: zum wir das Elterngeld eingeführt hatten, haben nur
einen mit eingeschränkten Karrierechancen für sie selbst 3,5 Prozent der Väter eine berufliche Auszeit für die Be-
– wenn sie am Feierabend eben nicht Karriere machen, treuung ihrer Kinder genommen. Jetzt sind es fast
sondern die Kinder bettfertig machen – und zum anderen 25 Prozent. Das ist ein bemerkenswerter Wandel in so
mit Verzicht auf Unterstützung durch den Partner, weil wenigen Jahren. Die Ausweitung der Anzahl der Väter-
auch er sich diesem Prinzip beugen muss. Genau das ist monate steht selbstverständlich nach wie vor auf unserer
doch der Punkt. Agenda. Genauso wie alle anderen Maßnahmen, die wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12031
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
(A) geplant haben, unterliegt diese Maßnahme natürlich im Blick haben muss? Das ist eine ebenso selbstver- (C)
– der Neuigkeitswert dieser Aussage liegt genau bei null – ständliche wie banale Erkenntnis.
auch dem Finanzierungsvorbehalt.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ach,
Noch eins will ich Ihnen von der Opposition sagen: neuerdings?)
Ihre Konzepte für eine Ausweitung der Anzahl der Vä- Selbstverständlich setzen erfolgreiche familien- und
termonate – Sie gehen teilweise so weit, zu fordern, der gleichstellungspolitische Maßnahmen bei Frauen und
Staat solle vorschreiben, dass die Anzahl der Väter- und Männern, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen an.
der Müttermonate hälftig, aktuell also sieben zu sieben,
aufzuteilen sei – sind einfach nur Ausdruck eines Mehrs Sozialdemokratische Gleichstellungspolitik war schon
an Bevormundung, eines Mehrs an Umerziehung. Die immer darauf ausgerichtet, die Lebensbedingungen ei-
Umsetzung dieses Konzepts würde für 90 bis 95 Prozent nes jeden Kindes und Jugendlichen unabhängig vom Ge-
aller Paare bedeuten, dass ihnen das Elterngeld gekürzt schlecht zu verbessern und auf Chancengleichheit hinzu-
wird. wirken.

(Caren Marks [SPD]: Warum das denn?) (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Die Ergebnisse
sehen wir!)
Das wird es mit uns nicht geben.
Diese schwarz-gelbe Bundesregierung und insbeson-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dere ihre Ministerin aber suchen nicht das Verbindende,
sondern das Trennende zwischen den Geschlechtern.
Schließlich hat die Bundesregierung vor einigen
Wochen im Kabinett die Einführung einer Familien- (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt
pflegezeit beschlossen. Die Familienpflegezeit ist auf überhaupt nicht!)
Menschen ausgerichtet, die Vollzeitarbeitsplätze haben. Noch nie wurden so tiefe Gräben zwischen der Jungen-
Insofern ist die Familienpflegezeit auch auf Männer aus- und der Mädchenförderung gezogen wie unter dieser Fa-
gerichtet. Diese bessere Vereinbarkeit von Pflege und milienministerin.
Beruf trägt dazu bei, dass die Pflege nicht weiter als rein
weibliche Aufgabe wahrgenommen wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Meine Damen und Herren, es hat knapp 90 Jahre LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU –
gedauert, bis ein Internationaler Männertag den Welt- Zuruf von der CDU/CSU: Unterste Schub-
frauentag ergänzt hat. Es hat zehn Jahre gedauert, bis lade!)
zum Girls’ Day ein Boys’ Day hinzukam. Ich bin mir si-
Frau Schröder, Sie spielen sich in den Medien gern
(B) cher: Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Er- als Retterin der Jungs und der Männer auf. Sie behaup- (D)
kenntnis durchsetzt, dass zeitgemäße Politik Männer und
Frauen gleichzeitig ansprechen muss. Die Zeit der Ge- ten pauschal, Jungen würden in der Schule benachteiligt
und am Junge-Sein gehindert. Auch im Antrag von Ih-
schlechterkämpfe ist vorbei. Sorgen wir für die notwen-
nen, meine Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-
dige Gestaltungsfreiheit, damit Männer und Frauen
Gelb, heißt es schwammig:
Gleichberechtigung sowohl in der Partnerschaft als auch
im Beruf leben können! Auch in der Schule muss den besonderen Bedürf-
nissen von Jungen Rechnung getragen werden.
Herzlichen Dank.
Was bitte sollen denn deren besondere Bedürfnisse sein?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag nichts.
(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Bei den Sozial-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
demokraten ist das gleich!)
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Nicht alle
(Beifall bei der SPD) Jungen sind gleich, und auch nicht jedes Mädchen be-
schäftigt sich gern still und – so das Klischee der Fami-
Caren Marks (SPD): lienministerin – malt mit einem Stift Schmetterlinge. Er-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- weitern Sie doch erst einmal Ihren Horizont und bauen
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Sie die Rollenstereotypen in Ihrem Kopf ab! Das würde
Ministerin, schön, dass Sie heute mal bei einem Thema Jungen und Mädchen in diesem Land wirklich helfen,
aus Ihrem Ressort anwesend sind! Frau Ministerin.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall bei der SPD – Markus Grübel [CDU/
CSU) CSU]: Das ist jetzt wirklich keine Stern-
stunde!)
Aber leider ist es wie üblich: viele Worte, keine Taten.
Nicht Jungen per se sind benachteiligt bzw. haben
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Zur Sache!) Schulprobleme; es sind die Jungen aus benachteiligten
und bildungsfernen Familien, die vor allem durch
Mit Erstaunen habe ich den Antrag von Union und
schwarz-gelbe Politik konsequent weiter abgehängt wer-
FDP „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ gele-
den. Das ist ein Widerspruch höchsten Grades.
sen. Wie ist es möglich, dass Ihnen erst jetzt klar gewor-
den ist, dass Gleichstellungspolitik beide Geschlechter (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])
12032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Caren Marks
(A) Es ist doch gerade die Politik von Union und FDP in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einfache Welt (C)
Bundesländern – man braucht nur einmal in mein Bun- von Familienministerin Schröder erklärt die Benachteili-
desland, Niedersachsen, zu schauen, um das festzustel- gung von Jungen wie folgt: Schuld am schulischen Miss-
len –, die dafür verantwortlich ist, dass Kinder nicht mit- erfolg von Jungen haben Frauen, da sie die Mehrheit der
genommen und gefördert, sondern abgehängt und im Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen stellen – inte-
Stich gelassen werden. ressant. Natürlich begrüßen auch wir, wenn sich mehr
Männer für den Beruf des Erziehers oder des Grund-
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war unter schullehrers entscheiden. Das Aufbrechen von Rollen-
Ihrer Regierung anders?) stereotypen ist grundsätzlich positiv. Doch, Frau Schrö-
Sie halten stur am dreigliedrigen Schulsystem fest, der, ich möchte Sie beruhigen: Studien belegen, dass
wo Abschulen – ein schreckliches Wort! – und Sitzen- Jungen keine Nachteile und schlechtere Beurteilungen
bleiben zur Tagesordnung gehören. Sie bekämpfen kon- erfahren, wenn sie in erster Linie von Frauen betreut und
sequent längeres gemeinsames Lernen. Das alles sind unterrichtet werden.
Fakten, die manchen Jungen mehr Probleme machen als Was tun Sie eigentlich für die Förderung von Mäd-
manchen Mädchen. chen und Frauen? Hier kürzen Sie und verteilen Mittel
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für die Förderung von Frauen in die Förderung von Män-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nern um. So wird Gleichstellungspolitik nicht gelingen;
LINKEN) denn diese muss auf beide Geschlechter ausgerichtet
sein.
Gerade Jungen macht das frühe Aussortieren, das die
Union ja mit Verve vertritt, viel häufiger zu schaffen. Es sind überwiegend Frauen, die in der Pflege tätig
sind. Das ist ein anstrengender Beruf mit viel zu wenig
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ich denke, es Anerkennung und viel zu wenig Geld. Doch anstatt sich
gibt nichts Spezifisches für Jungen!) dafür starkzumachen, dass der Dienst am Menschen
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, mehr Anerkennung erfährt, sagen Sie ganz profan,
im krassen Widerspruch zu Ihrer Forderung, mehr Jun- Frauen sollten doch einfach die richtigen Berufe ergrei-
gen zu fördern, steht Ihr aktuelles Handeln. Sie kürzen fen. Das muss schön zu hören sein für Frauen in so an-
gerade radikal bei erfolgreichen Projekten und Maßnah- strengenden Berufen, die bemerken, dass sie im Stich
men, von denen insbesondere Jungen in schwierigen Si- gelassen werden.
tuationen, aber durchaus auch Mädchen – die blenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Sie ja völlig aus – profitieren. Ob es das erfolgreiche In- LINKEN – Claudia Bögel [FDP]: Was?)
(B) tegrationsprojekt im Problemstadtteil ist, das durch das (D)
Programm „Soziale Stadt“ gefördert wurde, oder das Im heute debattierten Antrag von Schwarz-Gelb heißt
Programm zur Senkung der Schulabbrecherquote: Dra- es: „Stereotype Zuschreibungen müssen überwunden
matische Kürzungen, wohin man blickt! Sieht so Ihre werden.“ Weiterhin ist zu lesen, dass „Männer in ihrer
Vorstellung von der Förderung benachteiligter Jungen Aufgabe als Väter“ gestärkt werden müssen. Ich sage:
aus, die Sie hier angeblich ganz neu in den Blick genom- nur zu, mit Mut voran!
men haben?
Warum aber hat diese Bundesregierung eine partner-
Die SPD-Bundestagsfraktion hat ernsthafte Antwor- schaftliche Weiterentwicklung des Elterngeldes auf Eis
ten auf die Frage, wie wir Kinder und Jugendliche besser gelegt? Warum trennen Sie sich nicht von steuerlichen
unterstützen und fördern können: Es kommt auf den An- Regelungen, die die klassische Rollenverteilung zemen-
fang an. Kinder müssen also so früh wie möglich geför- tieren? Warum wollen Sie nur unverbindliche Vereinba-
dert werden. Darum müssen wir beim Krippenausbau rungen mit der Wirtschaft? Wirklich gebraucht wird eine
mehr Fahrt aufnehmen. Aber da, Frau Ministerin, gehen verbindliche Zeitpolitik, die sowohl Männer als auch
Sie auf Tauchstation. Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf un-
terstützt, und kein Larifari mit netten Treffen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingrid
Fischbach [CDU/CSU]: Es geht um die Quali- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tät, Frau Marks! Sie haben es immer noch der LINKEN)
nicht begriffen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hilft den Fami-
Im Gegenteil, Sie, Frau Ministerin, halten am rück- lien nicht weiter, wenn Männer und Frauen gegeneinan-
wärtsgewandten Betreuungsgeld fest. Sie sagen nicht der ausgespielt werden, wie Sie es tun.
Nein zum Betreuungsgeld, sondern stehen weiter zu die-
ser Bildungsverhinderungsprämie. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das machen Sie
doch die ganze Zeit!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Es hilft auch nicht, wenn Sie als Familien- und Frauen-
ministerin gleichstellungspolitisch Engagierte bei jeder
Damit unterstützen Sie benachteiligte Kinder mit Sicher- Gelegenheit abfällig als Altfeministinnen bezeichnen.
heit nicht, und auch bei dem notwendigen konsequenten Frau Schröder, machen Sie endlich konkrete Politik!
Ausbau von Ganztagsschulen ist keinerlei Unterstützung Entwickeln Sie Maßnahmen, die bei den Familien an-
sichtbar. kommen! Reden Sie weniger, und handeln Sie endlich!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12033
Caren Marks
(A) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hören So schaut es aus, denn wir machen eine gute Wirt- (C)
Sie auf! Sie haben genug geredet!) schaftspolitik, die es ermöglicht, das zu erwirtschaften,
was notwendigerweise verteilt werden muss.
Das würde helfen – Jungen wie Mädchen, Frauen wie
Männern. Darauf wartet unser Land, seit Sie Ministerin (Zuruf des Abg. Sönke Rix [SPD])
sind, vergeblich.
Nach Ihrer Politik würde es keinem Kind, keinem Vater
Vielen Dank. und keiner Familie besser gehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ren Marks [SPD]: Aber Mindestlohn könnte
LINKEN) gegen Armut in den Familien helfen!)
Tatsache ist, dass Jungs heutzutage schlechter lesen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: können und dass sie häufiger in der Schule versagen.
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. Das zeigen die Zahlen ganz eindeutig. Fakt ist auch, dass
es mehr Mädchen gibt, die Abitur machen, und dass es
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Mi- mehr junge Frauen gibt, die Hochschulabsolventinnen
chaela Noll [CDU/CSU]: Endlich was Ver- sind.
nünftiges!)
Das Problem für die Frauen ist letztendlich die Kin-
der-oder-Karriere-Frage, weil wir hinsichtlich Verein-
Miriam Gruß (FDP):
barkeit von Familie und Beruf immer noch etwas zurück
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten sind. Weil Sie uns die ganze Zeit vorwerfen, hier Kür-
Damen und Herren! Sie wissen, dass ich im Plenum nor- zungen vorzunehmen,
malerweise sehr gern frei rede; aber ich habe heute bei
Ihrer Rede, Frau Marks, so viel mitgeschrieben, dass ich (Caren Marks [SPD]: Beim Elterngeld haben
jetzt einige Zettel mitnehmen musste. Sie gekürzt!)
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das will ich Ihnen an dieser Stelle sagen: Wir kürzen in die-
wäre aber nicht nötig gewesen!) sem Bereich nicht, sondern bauen die Betreuungsplätze
sowohl quantitativ als auch qualitativ weiter aus und hal-
Zunächst einmal: Die Maßnahmen, die wir getroffen ten am Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 fest.
haben, beruhen nicht auf banalen Erkenntnissen, sondern
auf der harten Realität, die wir vorfinden. Es ist eigent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(B) lich schade, dass erst wir als schwarz-gelbe Koalition Christel Humme [SPD]: Das ist ja unglaub- (D)
kommen mussten, damit etwas gegen die Missstände in lich!)
Deutschland getan wird,
Sie behaupten weiterhin, wir würden uns nicht um die
(Caren Marks [SPD]: Sie haben nichts begrif- besonderen Bedürfnisse der Jungs in der Schule küm-
fen! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mern und dazu nichts sagen. Ja, sehr geehrte Frau
NEN]: Aber Sie tun doch nichts, Sie reden Marks, das ist so, weil wir uns hier auf Bundesebene be-
doch nur!) finden. Ich spreche mich zwar gegen das Kooperations-
verbot aus, das nach wie vor besteht, aber derzeit sind
die damit zusammenhängen, dass Jungen und auch Män- die Länder allein für die Schulen zuständig. Aber wir ha-
ner benachteiligt sind. ben die Fakten angesprochen; sie liegen jetzt auf dem
Es ist ja schön, dass Sie grundsätzlich sagen, dass wir Tisch.
hier niemanden gegeneinander ausspielen sollen. Aber (Caren Marks [SPD]: Ist die CDU hier eine an-
genau das haben Sie mit Ihrer Rede getan; Sie haben dere als in Niedersachsen?)
Frauen gegen Männer ausgespielt.
Von Ihnen habe ich in dieser Richtung noch gar nichts
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca- gehört. Wir erkennen die Realität, und wir handeln dem-
ren Marks [SPD]: Ganz im Gegenteil! Un- entsprechend.
sinn!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen
Sie haben dann angesprochen, dass Sie die Lebensbe- des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])
dingungen eines jeden Kindes verbessern wollten.
Schauen wir uns doch einmal die Kinderarmutszahlen in Ich bin der Meinung, dass die Phase des Kampfes der
den einzelnen Ländern an: In Berlin sind 35 Prozent von Geschlechter überwunden werden muss. Dafür sorgen
Kinderarmut betroffen, in Niedersachsen sind es 15 Pro- wir mit unserer Politik. Nur ein Miteinander ist erfolg-
zent, reich.

(Diana Golze [DIE LINKE]: Was tun Sie denn (Caren Marks [SPD]: Eben! Das machen Sie
dagegen?) aber nicht!)

in Bayern 7 Prozent. – Doch. Sie dagegen machen nichts. Ihre Politik basiert
auf dem Kampf Frau gegen Mann. Wir sind längst wei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ter. – Unsere Politik geht davon aus, dass Frauen und
12034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Miriam Gruß
(A) Männer auf einer Seite stehen und es in den Familien ein (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Gegenstück ist, (C)
Miteinander gibt. Jungen für Frauenberufe zu interessieren!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai Nun gibt es dieses Jahr zum ersten Mal den sogenann-
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei ten Boys’ Day. Ich finde es so schade, dass Sie schon
uns kämpfen auch Männer für die Frauen- wieder das machen, was Sie auch sonst tun, nämlich die
quote! Bei Ihnen sind alle dagegen!) Menschen, in diesem Falle Jungen und Mädchen, gegen-
einander auszuspielen, statt sich um die Ursachen des
Die Regierung nimmt sozusagen eine Vorbildfunktion Problems zu kümmern, sehr geehrte Kolleginnen und
ein, und wir brechen Strukturen auf. Kollegen der die Bundesregierung stellenden Parteien.
Ich will noch eine persönliche Anekdote anbringen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Als ich 2005 in den Bundestag gewählt wurde, hat der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch
Apotheker um die Ecke gesagt: Wir sind stolz, dass Sie bei der CDU/CSU – Markus Grübel [CDU/
in den Bundestag gekommen sind. Aber, Herr Gruß, wie CSU]: Die beiden Dinge bedingen sich! – Paul
machen Sie das jetzt eigentlich mit dem Essen? – Daran Lehrieder [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)
konnte man sehen, wie tradiert die Rollenverständnisse
waren. Seit September ist mein Mann allerdings zu In Ihrem Antrag erklären Sie, werte Kolleginnen und
Hause. Jetzt wird er nicht mehr ausgelacht. An diesen Kollegen von CDU/CSU und FDP, dass die Jungen – Sie
Punkt müssen wir gelangen. Wir müssen Vorbild sein. reden ja immer gleich von allen – immer offensichtlicher
Dazu braucht es solche Signale wie die entsprechenden zu Bildungsverlierern werden. Der Focus titelte bereits
Anträge, die wir in den Bundestag einbringen. 2002 „Arme Jungs!“. Die Zeit titelte „Die neuen Prügel-
knaben“. Sie zählen in Ihrem Antrag genau die Fakten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf, die in dieses Bild passen: Jungen wiederholen häufi-
Zur Diskussion über das Elterngeld: Das Elterngeld ger eine Klasse, brechen häufiger als Mädchen die
ist, was die Männer anbelangt, ein Erfolg. Vorher kam es Schule ab und weisen geringere Lesekompetenzen als
so gut wie nicht vor, dass Männer wie selbstverständlich Mädchen auf.
zu Hause blieben. Die schwarz-gelbe Regierung bricht Eine OECD-Studie vom Mai 2009 kommt zu dem
die Strukturen auf, und jetzt machen sich Unternehmen Schluss, dass
Gedanken darüber, wie sie nicht nur den Frauen, sondern
auch den Männern familienfreundliche Arbeitszeiten an- diese Unterschiede eher auf Stereotype als auf un-
bieten können. terschiedliche Begabung zurückzuführen sind, …
Doch an dieser Stelle kommt die gute Nachricht zu die-
(B) Für die Ausweitung des Elterngeldes gilt: Wenn es zu (D)
sem traurigen Befund: Sie glauben, Sie hätten die Ant-
viel kostet, dann können wir sie nicht durchführen. So ist
wort und damit die Schuldigen gefunden. Den Jungen
es nun einmal. Aber wir machen eine verantwortungs-
fehle aufgrund der Feminisierung in Kita und Schule und
volle Politik, die auf die nächsten Generationen ausge-
des „Fehlens männlicher Bezugspersonen im familiären
richtet ist. Wir sagen nämlich: Wir können nicht immer
Bereich“ die „Ermutigung und positive Vorbilder“.
nur verteilen; denn erstens muss das, was verteilt wird,
auch erwirtschaftet werden, und zweitens dürfen wir (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau so ist
nicht Geld verteilen, wenn dadurch auf dem Rücken un- das!)
serer Kinder Schuldenberge angehäuft werden. Schließ-
lich haben die Kinder dann den Schlamassel. Auf Schul- Schuld sind also die zu hohe Zahl der Frauen in den Er-
denbergen können sie nicht spielen und erst recht nicht ziehungs- und Bildungsberufen und – wenn ich es richtig
lernen. verstanden habe – alleinerziehende Frauen bzw. gleich-
geschlechtliche Beziehungen, in denen Kinder ohne
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai männliche Ermutigung und positive Vorbilder aufwach-
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sen, nach dem Motto: „Ich habe Feuer gemacht!“
hat das mit Jungenpolitik zu tun?)
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und
der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜND-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Das sind Familienkonstellationen, die inzwischen zum
Linke.
ganz normalen Alltag gehören, offenkundig aber nicht in
(Beifall bei der LINKEN) das eine oder andere Weltbild passen.
Auf die Frage, was genau ein solches positives Vor-
Diana Golze (DIE LINKE): bild ausmacht, welche Ansprüche eine Lehrerin, ein
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Lehrer, ein Erzieher erfüllen muss, um diese Lücke zu
nen und Kollegen! Es ist schon bezeichnend, dass wir schließen, hüllen Sie sich allerdings in Schweigen.
ausgerechnet heute über einen Antrag debattieren, der Ebenso vage bleiben Sie bei der Unterlegung Ihrer The-
sich mit der Benachteiligung von Jungen und Männern sen mit wissenschaftlich oder empirisch belegbaren Zah-
in unserer Gesellschaft befasst; denn es ist Girls’ Day, len und Fakten, und zwar mit gutem Grund, denn solche
also ein Tag, der eigentlich geschaffen wurde, um Mäd- Zahlen und Fakten gibt es nicht; eine Studie, die belegt,
chen für männerdominierte Berufe zu interessieren. dass sich allein durch die Anwesenheit von männlichem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12035
Diana Golze
(A) Erzieher- und Lehrerpersonal die Situation von Jungen (Caren Marks [SPD]: Ganz genau! – Ingrid (C)
explizit verbessert hätte, liegt nicht vor. Österreichische Fischbach [CDU/CSU]: Nein! Das ist falsch!
Erhebungen belegen sogar eine Diskriminierung von Das ist nicht die Wahrheit! Auch wenn Sie es
Jungen in der Benotung, wenn sie von Männern unter- dreimal sagen, ist es nicht wahr!)
richtet werden.
Ist es nicht Ihre Regierung, die einen verfassungswidri-
Es ist also nicht wichtig, ob Kinder von Männern oder gen Regelsatz für Kinder unverändert lässt, obwohl er
Frauen unterrichtet werden; wir brauchen Pädagoginnen die besonderen und eigenständigen Bedarfe aller Kinder
und Pädagogen, die in die Lage versetzt werden, eine ge- nicht berücksichtigt? Ist es nicht die christlich-liberale
schlechtssensible und gleichstellungsorientierte Schule Koalition, die ein Bildungspaket feiert, das sich gerade
gestalten zu können. in der Praxis als bürokratisches Monstrum erweist und
keine gerechten Bildungschancen für alle Jungen und
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Mädchen schafft?
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Das
Füllhorn für alle ausschütten!)
Anträge wie dieser werden aber bestimmt keinen kon-
struktiven Beitrag dazu leisten. An welcher Stelle im christlich-liberalen Antrag the-
matisieren Sie die Arbeitsbedingungen und die schlechte
Die bloße Forderung nach mehr männlichen Vorbil-
Bezahlung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehre-
dern hilft nicht weiter. Vielmehr bauen Sie damit ein
rinnen und Lehrern?
Bild von scheiternden Jungen und von karriereorientier-
ten Mädchen auf, bei dem die einen absteigen und die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
anderen aufsteigen, ein Bild, das der Realität nicht stand- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
hält. Es gibt im realen Leben eben nicht die Jungen, die SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
als Loser zurückbleiben, und nicht die Mädchen, die auf An keiner Stelle!)
der Überholspur an ihnen vorbeirauschen.
Ist es nicht die christlich-liberale Koalition, die gerade
(Caren Marks [SPD]: Ganz genau! – Michaela ein bewährtes Programm für Schul- und Ausbildungsab-
Noll [CDU/CSU]: Das sagt auch keiner! – Ge- brecher so radikal zusammenstreicht, dass wahrschein-
genruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Doch!) lich über die Hälfte der Beratungsstellen schließen
Es gibt Kinder und Jugendliche, die von vornherein muss?
benachteiligt sind bzw. benachteiligt werden, und das (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wir brauchen
(B) aus unterschiedlichen Gründen. Dazu können die Haut- (D)
keine Beratungsstellen!)
farbe, der Migrationshintergrund, Armutserfahrungen,
Homosexualität, Behinderungen und anderes gehören. Auch wenn es um die Aufgabenverteilung geht, sind Sie
prima: Alle Vorschläge, die Sie machen, gehen zulasten
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Ju- der Länder und Kommunen, ohne dass Sie erklären, wo-
gendliche Homosexuelle mit Migrationshin- mit sie die Kosten bestreiten sollen.
tergrund! – Caren Marks [SPD]: Alles Grup-
pen, für die die Ministerin nichts macht!) Sehr geehrte Damen und Herren, ich selbst bin Mutter
von zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen.
Aber all das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus. Mit
Forderungen nach jungengerechter Bildung stecken Sie (Caren Marks [SPD]: Ich auch!)
lediglich den Erzieherinnen und Lehrerinnen den
Schwarzen Peter für Ihre verkorkste Sozial-, Bildungs- Ich befürchte, dass es das Mädchen sein wird, dem es
und Arbeitsmarktpolitik zu. schwerfallen wird, trotz gleicher Voraussetzungen in Fa-
milie und Schule später selbstbewusst durch das Leben
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- zu gehen, dass sie also nicht fair und gerecht behandelt
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- wird und nicht denselben Erfolg haben wird. Denn
ten der SPD) Frauen erhalten trotz steigenden Bildungsniveaus immer
noch 26 Prozent weniger Gehalt als Männer
Gesamtgesellschaftliche Probleme werden einzelnen
Personengruppen zugeschoben. Damit lenken Sie ganz (Michaela Noll [CDU/CSU]: Wer spielt hier
bewusst davon ab, dass Sie von der christlich-liberalen wen gegen wen aus? Das machen Sie jetzt
Koalition nicht in der Lage waren, eine Politik zu ma- wieder!)
chen, die jedem Kind, damit auch jedem Jungen, gleich-
berechtigte Startchancen bietet. Sie waren nicht in der und sind an Unis, in Chefetagen und in den Vorständen
Lage, Akzente zu setzen, um Väter in die Situation zu nach wie vor selten oder gar nicht anzutreffen. Vor die-
bringen, eine – so beschreiben Sie es – „neue Balance im sem Hintergrund kann ich über den von Ihnen formulier-
Dreieck zwischen Beruf, Familie und Partnerschaft zu ten Prüfauftrag, ob auch Männer Gleichstellungsbeauf-
schaffen“. Ist es nicht diese Regierung, die in dieser Wo- tragte sein sollten, nur den Kopf schütteln. Solange es
che bekannt gemacht hat, dass die versprochene Auswei- eine strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen gibt,
tung der Vätermonate beim Elterngeld nicht kommen bedarf es eines solchen besonderen Wächteramtes für
wird? Frauen.
12036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Diana Golze
(A) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
[SPD]: Das versteht die Ministerin nicht!) CDU/CSU und der FDP)
Thomas Gesterkamp schrieb in einer Studie für die Daher sollten neue Wege und Perspektiven für Jungs das
Friedrich-Ebert-Stiftung: ganze Jahr über aufgezeigt werden:
Nur miteinander und nicht gegeneinander lässt sich (Zuruf von der FDP: Ja, genau! – Dr. Thomas
Geschlechterdemokratie umsetzen. Vereinfachun- Feist [CDU/CSU]: Dafür gibt es doch diesen
gen und die umgekehrte Stilisierung von Männern hervorragenden Antrag!)
zum Opfer „des Feminismus“ helfen nicht weiter.
im Bildungssystem, in der Jugendhilfe und in der Be-
Vielen Dank. rufswelt.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt durchaus Forderungen in Ihrem Antrag, die
Vizepräsidentin Petra Pau: unterstützenswert sind, zumal wir seit langem etwa Pro-
Der Kollege Gehring hat für die Fraktion Bündnis 90/ bleme von Jungen im Bildungssystem thematisieren.
Die Grünen das Wort. Manche Jungs stehen tatsächlich auf der Standspur.
Viele Mädchen scheinen auf der Überholspur zu sein. Im
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durchschnitt schneiden sie in der Schule besser ab, neh-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men häufiger ein Studium auf, machen bessere Ab-
Als ich vor fünf Jahren die Einführung des Boys’ Day schlüsse. Trotzdem sind Frauen in Führungspositionen
gefordert habe, bin ich von nicht wenigen in diesem immer noch eine Seltenheit. Trotzdem entscheidet die
Haus dafür belächelt worden. soziale Herkunft viel stärker über den Bildungserfolg als
das Geschlecht. Deshalb müssen wir vor allem da anset-
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Aber nicht von zen.
mir! Ich fand das immer gut!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heute gibt es endlich den ersten bundesweiten Boys’ sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])
Day. Das begrüßen wir. Wir wünschen allen Beteiligten
viel Erfolg. Besonders bei der Finanzierung von Jungenarbeit und
der tatsächlichen Verankerung bleibt Ihr Antrag völlig
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nebulös. Jungenpolitik darf nicht auf Kosten der weiter- (D)
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- hin notwendigen Mädchenpolitik gehen.
geordneten der SPD)
(Zuruf von der FDP: Das will doch keiner!)
Noch besser wäre, wenn der Girls’ Day – übrigens
herzlichen Glückwunsch zum heutigen zehnten Geburts- Das ist offensichtlich auf der rechten Seite des Hauses
tag – und der Boys’ Day an verschiedenen Tagen statt- Konsens. Dies wäre ein schwerer Fehler. Dies würde von
finden würden. Damit würde man beiden Geschlechtern uns entschieden abgelehnt.
noch gerechter. (Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/
(Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] und Jörn Wunderlich [DIE
DIE GRÜNEN]) LINKE] – Michaela Noll [CDU/CSU]: Von
mir auch!)
Für eine nachhaltige Jungenpolitik reicht ein einzel-
ner symbolischer Boys’ Day aber nicht aus. Wir brau- Wir wollen eine Jungenpolitik, die Jungen individuell
chen einen grundlegenderen Ansatz. fördert, ihnen bessere Teilhabe ermöglicht, neue Pers-
pektiven eröffnet und Mädchenpolitik sinnvoll ergänzt.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Deswegen ha- Sie können sich ein gutes Beispiel etwa an Nordrhein-
ben wir einen Antrag eingebracht!) Westfalen nehmen, wo eine Mittelerhöhung des Kinder-
Geschlechtergerechtigkeit für Jungen und Mädchen und Jugendförderplans um 25 Prozent vorgesehen ist
kann nur dann Normalität werden, wenn sie jeden Tag und die darin enthaltenen Gendermittel verdoppelt wer-
gelebt wird. den – sowohl für Jungenförderung als auch für Mäd-
chenförderung.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Von der Kindertagesstätte an sollte jeder und jede frei bei der SPD und der LINKEN – Ewa Klamt
von tradierten Klischees verschiedene Rollenmuster und [CDU/CSU]: Nur das Geld ist nicht da! Die
Angebote kennenlernen können – Frage ist, wer das bezahlt!)
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz ohne – Sie wissen, Jugendförderung ist Zukunftsinvestition.
Tradition ist auch nicht schön!)
Wir wollen, dass sich das Spektrum bei der Ausbil-
ohne Bevormundung, dafür mit Wahlfreiheit und Freude dungs- und Studienwahl von Jungen erweitert und sie
an Vielfalt. sich für weitere Berufe begeistern. Mehr als die Hälfte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12037
Kai Gehring
(A) der männlichen Auszubildenden entscheidet sich für ei- politik. Das sehe ich so nicht. Das Gegenteil ist doch der (C)
nen jungentypischen Ausbildungsberuf. Leider ist noch Fall.
kein einziger aus dem sozialen, erzieherischen oder pfle-
gerischen Bereich darunter. Hier sind Männer deutlich (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Stimmen Sie
unterrepräsentiert. In Kitas stellen sie nur 3,5 Prozent doch einfach unserem Antrag zu, Herr Geh-
des Personals, obwohl die EU seit Jahren einen Anteil ring!)
von 20 Prozent anpeilt. Automechatroniker und Koch Das beweist der heutige erfolgreiche Boys’ Day ein-
sind spannende Ausbildungsberufe. Wir wollen aber drucksvoll. Feminismus-Bashing ersetzt keine ge-
mehr Männer für Pflege- und Erzieherberufe gewinnen. schlechtergerechte Politik für Frauen und Männer, son-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dern schadet nur.
bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Weil das so ist, müssen viel stärker als bisher in allen bei der SPD und der LINKEN)
Schulen Geschlechterklischees, in der Berufsberatung Das Ausspielen von Mädchenförderung gegen Jun-
und -orientierung geschlechterstereotypische Berufsinte- genpolitik ist ebenso falsch wie Ihr Versuch, die untaug-
ressen hinterfragt werden. liche Familienpflegezeit als neue Männerpolitik zu ver-
(Zuruf von der FDP: Ganz genau!) kaufen. Es ist genauso falsch, die Ausweitung der
Partner- und Vätermonate beim Elterngeld einfach zu
Der Bundesregierung und Ministerin Schröder fehlt beerdigen. Denn hiermit wären große Schritte in Rich-
aber offenbar der notwendige Gestaltungswille, um Ge- tung Gleichstellung möglich. Es ist ebenso falsch, am
schlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Sie müssen antiquierten Ehegattensplitting und der Zuhausebleib-
endlich an geschlechtsspezifische Benachteiligungen im prämie Betreuungsgeld festzuhalten.
Berufsleben heran. Die müssen sie konkret angehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])
einen Vorschlag!)
Sie bedienen mit solchen Scheindebatten gegen den
Frauen werden in ihren beruflichen Karrierewegen aus- vermeintlich alten Feminismus letztlich abgestandene
gebremst. Die Chefsessel bleiben männlich besetzt. Klischees. Moderne Gleichstellungspolitik lässt sich nur
mit Frauen und Männern gemeinsam gestalten. Denn
Hier betreiben Sie, Frau Schröder, im Kabinett Blo-
Männer sind Partner für die Gleichstellungspolitik. Das
ckadepolitik und werden Ihrem Amt nicht gerecht.
sage ich auch als männlicher Feminist.
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Sie sind die erste Bundesfrauenministerin, die eine Frau- bei der SPD und der LINKEN)
enquote in den Aufsichtsräten und in den Vorständen ak-
Auch Männer wollen eine neue Arbeitszeitpolitik.
tiv hintertreibt. Es geht hierbei konkret um Geschlech-
Auch Männer profitieren von mehr Kita- und Ganztags-
terpolitik und Geschlechtergerechtigkeit.
schulplätzen. Auch sie wollen eine bessere Vereinbarkeit
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie von Familie und Beruf. Moderne Väter sind keine Fata
doch mal einen Vorschlag!) Morgana. Sie wollen weder von Kollegen noch Vorge-
setzten schief angeguckt werden,
Da muss ich Ihnen sagen: Folgenlose Appelle und
Flexi-Selbstverpflichtungen bringen bei diesem Thema (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Macht doch
genauso wenig wie bei der skandalösen Lohndiskrimi- niemand! Was für Leute kennen Sie denn? Das
nierung, die es in diesem Land immer noch gibt. Glei- ist ja schrecklich!)
cher Lohn für gleichwertige Arbeit – nur das ist fair. Das
gilt sowohl für Männer als auch für Frauen. Daher müs- wenn sie Teilzeitarbeit einfordern, Vätermonate bean-
sen Sie endlich aktiv werden. spruchen oder sagen: Ich muss heute auch einmal um
14 Uhr gehen, weil ich Vater geworden bin. – Da ist es
Wir werden bei der heutigen Debatte das Gefühl nicht völlig egal, ob diese Väter Automechatroniker, Grund-
los, dass diese Initiative von Ihrem frauenpolitischen schullehrer, Spitzenmanager oder Staatssekretär sind.
Nichtstun ablenken soll. Frau Schröder, wir wollen end-
lich Taten sehen. Wir kritisieren auch Ihre unsachliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Feminismuskritik, mit der Sie nur von eigenen Versäum- sowie bei Abgeordneten der SPD)
nissen ablenken wollen. Männer brauchen eine bessere gesundheitliche Prä-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vention. Wir brauchen keine blöden und dumpfen Sprü-
und bei der SPD) che wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ mehr.
Dies führt nur dazu, dass sie bezüglich der eigenen Ge-
Sie erklären den Geschlechterkampf für beendet. In sundheit oder Ungesundheit Warnsignale überhören.
Gastbeiträgen in der FAS führen sie ihn aber munter wei- Männer wollen wertvolle Zeit. Sie wollen auch eine Ent-
ter, indem Sie sozusagen Feminismus-Bashing betrei- schleunigung im Beruf. Moderne Männer wollen Verant-
ben. Sie bauen einen Popanz auf, indem Sie dort behaup- wortung teilen und vorgegebene Geschlechterrollen ver-
ten, es gebe eine verbreitete Ablehnung der Jungen- lassen. Sie wollen Neues ausprobieren.
12038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Kai Gehring
(A) Männer und Frauen wollen egalitäre Partnerschafts- macht. So sagt sie zum Beispiel, wir würden alleinerzie- (C)
modelle leben. Weil das so ist, muss eine geschlechter- hende Mütter an den Pranger stellen. Das ist weiß Gott
gerechte Politik schon heute kluge und flexible Rahmen- nicht der Fall. In unserem Antrag steht explizit, dass wir
bedingungen dafür schaffen. Genau das tun Sie nicht. auf wissenschaftliche Studien zurückgreifen wollen.
Genau das leistet auch Ihr Antrag nicht. Ein gemeinsa- Diese fehlen aber. Zur Mädchenforschung haben wir re-
mer Ansatz, der beiden Geschlechtern nutzt, bedeutet lativ viel, zur Jungenforschung ist bisher nicht viel vor-
nicht, gesellschaftlichen Konflikten aus dem Weg zu ge- handen. Diese Forderung ist in unserem Antrag enthal-
hen. Das aber tut die Ministerin. Statt warmer Worte ten, damit wir künftig auf wissenschaftlichen Daten
wollen wir eine mutige Gleichstellungspolitik. Das aufbauen können.
heißt: Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau: Die Ministerin als erste Rednerin hat erläutert, dass
Kollege Gehring, bitte achten Sie auf die Zeit. die Ausweitung der Vätermonate unter einem Finanzie-
rungsvorbehalt steht. Sie haben hier gesessen und die
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Argumente gehört. Hinterher behaupten Sie wieder das
Das heißt: Frauenquote für die Aufsichtsräte und Vor- Gegenteil. Das finde ich mehr als unfair. So kann man
stände. Das heißt: eine emanzipierte Jugendpolitik, die keine Politik für die Bürger in Deutschland machen. Tut
geschlechtersensibel ist und für Jungen und Mädchen die mir leid.
besten Voraussetzungen für die Zukunft schafft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Di-
Herzlichen Dank. ana Golze [DIE LINKE]: Das ist aber so!
Kommen die Vätermonate oder kommen sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht?)
und bei der SPD sowie des Abg. Peter Wichtel
[CDU/CSU] – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechen
Der Anfang war gut, Herr Gehring!) kommen. Seit 2002 bin ich im Deutschen Bundestag.
Das Thema „Jungen- und Männerpolitik“ liegt mir seit-
Vizepräsidentin Petra Pau: dem wirklich am Herzen. Damals waren die Kollegin
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Noll das Gruß und ich noch Oppositionspartner, und wir befanden
Wort. uns auf einem gemeinsamen Weg. Ich habe eine Anfrage
gestellt; sie hat einige Jahre später ebenfalls eine An-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) frage gestellt. Jeder, der diese Anfrage liest – und das
(B) würde ich Ihnen einmal empfehlen –, kann das Fazit zie- (D)
Michaela Noll (CDU/CSU): hen: Es liegt Handlungsbedarf vor; wir müssen uns um
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die Jungen kümmern.
Kollegen! Ich sage es ehrlich: Ich finde es schade. Frau
Marks, ich hatte eigentlich gedacht, wir hätten dieses Das heißt nicht, dass ich irgendetwas gegen die Mäd-
Spalten zwischen Jungen und Mädchen, das Sie gerade chen unternehmen möchte. Ständig sprechen wir von der
vollzogen haben, längst überwunden. demografischen Entwicklung und darüber, wie wenig
Kinder wir haben. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca- wir nicht versuchen, beide Geschlechter zu fördern, und
ren Marks [SPD]: Sie spalten! Sie haben nicht zwar in den Bereichen, wo sie vielleicht Probleme ha-
zugehört, Frau Noll!) ben. Bei den Mädchen ist das später – gläserne Decke,
Aufstieg, Wiedereinstieg –, bei den Jungen ist es viel-
Die Art, wie Sie argumentiert haben, ist für mich sehr
leicht früher. Wie Sie aber argumentiert haben, kommen
enttäuschend.
wir definitiv nicht weiter.
Ich hatte im Vorfeld schon zum Kollegen Kai Gehring
gesagt, er müsse sich nicht wundern, wenn ich ihn lobe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca-
Ich tue es nun auch. Vieles von dem, was er gerade ge- ren Marks [SPD]: Kürzung der Mittel für Be-
sagt hat, ist im Endeffekt das, was im grünen Männer- nachteiligte!)
Manifest steht. Es geht darum, nicht länger Macho sein Das finde ich persönlich nach wie vor ausgesprochen
zu müssen. enttäuschend.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das habe ich sogar geschrieben!) Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihrem Wahlkreis geht.
Ich bin Familienpolitikerin, und wenn ich in Kindergär-
Einiges davon hat der Herr Kollege Gehring soeben be- ten, in Schulen oder bei Elternvereinen bin, werde ich oft
schrieben. Recht hat er. von Eltern angesprochen. Ich habe einen Brief von einer
Mutter dabei, die sich heute noch per E-Mail dafür be-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
dankt hat, dass wir uns dieses Thema überhaupt einmal
der FDP)
vornehmen. Wir alle hören die Eltern, wir alle hören die
Ich finde es unerträglich, dass die Kollegin Golze, deren Lehrer, und viele sagen: Wir müssen uns um die Jungs
Arbeit in der Kinderkommission ich sehr schätze, hier kümmern. Das hat für mich nichts damit zu tun, etwas
Sachen in den Raum stellt und Schuldzuweisungen gegen die Mädchen zu tun.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12039
Michaela Noll
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – damit die Kinder die Möglichkeit haben, beide Ge- (C)
Zuruf von der FDP: Genau!) schlechter und damit andere berufliche Perspektiven
kennenzulernen.
Sie waren doch in der letzten Woche selber im Aus-
schuss. Dort hat Professor Mathias Albert noch einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Di-
bestätigt: Der geschlechtsspezifische Trend beim Thema ana Golze [DIE LINKE]: Warum sind es män-
Bildung ist ungebrochen. Junge Frauen haben ihre nerfreie Zonen? Die können nicht für 800 Euro
männlichen Altersgenossen bei der Schulbildung über- im Monat arbeiten!)
holt. Ob Bildung oder Gesundheit: Mädchen haben die Wir wollen Männern Mut machen, so wie es Kollege
Jungen in wichtigen Bereichen abgehängt. – Das ist gut Gehring sagte. Wir wollen Männern Mut machen, sich
für die Mädchen, aber es ist schlecht für die Jungs. auch in anderen Rollen zurechtzufinden, sodass sie nicht
(Caren Marks [SPD]: Aber Sie machen Bil- mehr belächelt werden. Viele Väter kommen zu mir und
dungspolitik, die das verstärkt!) sagen: Wissen Sie, Frau Noll, die Elternzeit würde ich
gerne machen, aber wenn ich mit diesem Anliegen zu
Sie machen einen Fehler. Wir spielen die Menschen meinem Arbeitgeber gehe, erhalte ich nur ein müdes
nicht gegeneinander aus. Schmunzeln. Hier, in den Köpfen der Menschen, müssen
wir etwas verändern, sodass die Männer Akzeptanz er-
(Caren Marks [SPD]: Doch! Genau das tun
fahren. Ich möchte den Männern Mut machen, auch ihr
Sie! Sie verschärfen das!)
Rollenbild zu erweitern.
Ich möchte, dass wir sie dort abholen, wo sie Defizite (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben. Das tun Sie eben nicht. Beide Geschlechter haben
Förderbedarf. Lassen Sie mich noch kurz auf den Punkt bringen,
warum ich glaube, dass wir dringend handeln müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Professor Almendinger hat uns damals im Aus-
Weil Sie das vorhin angesprochen haben: Haben wir schuss die Brigitte-Studie „Frauen auf dem Sprung“ vor-
in der 17. Legislaturperiode überhaupt einmal über die gestellt. Damit hat sie deutlich gemacht, dass die Frauen
Probleme von Männern oder Jungen gesprochen? Das in ihrer Entwicklung zugelegt haben. Was passiert aber,
haben wir nicht getan. Ich habe einmal die entsprechen- wenn diese kompetenten Frauen langfristig keinen
den Anträge aus der 17. Legislaturperiode herausge- adäquaten Partner mehr finden? Dann sieht es düster aus
sucht. Es waren 15 Anträge, und nur einer hat am Rande mit der Familiengründung. Dann sind wir mit der Fami-
die Situation von Jungen gestreift. – Vielen Dank an die lienpolitik am Ende. Wenn Sie das ändern wollen, dann
helfen Sie doch bitte mit, dass wir beide Geschlechter
(B) Grünen, denn es war Ihr Antrag. stark machen für eine Zukunft in Deutschland und sie (D)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dort abholen, wo Defizite bestehen. Ich würde mich
Wir sind meistens Vorreiter!) freuen, wenn Sie Ihr Schwarz-Weiß-Denken endlich ein-
mal ad acta legen würden.
Ich sage: Das ist zu wenig. Wir müssen uns für Männer-
und Jungenforschung öffnen. Vielen Dank.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Aber wir waren immer für die Frauenquote!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir müssen zusehen, dass wir in diesem Punkt weiter- Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort.
kommen. Es gibt kein Entweder-oder, sondern nur ein
Sowohl-als-auch für ein Miteinander der Geschlechter. (Beifall bei der SPD)
(Diana Golze [DIE LINKE]: Genau das steht
aber nicht in Ihrem Antrag!) Sönke Rix (SPD):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das haben Sie leider mit Ihrem Kommentar zu verhin- Ein Hinweis, liebe Frau Noll: Lesen Sie sich die Rede
dern versucht. von Frau Marks noch einmal durch.
Professor Rauschenbach hat damals gesagt – viele (Markus Grübel [CDU/CSU]: Oje! Sie hat keine
von Ihnen waren dabei –: masochistischen Anwandlungen!)
Es ist ein Drama, dass zunehmend Kinder bis zum In der nächsten Debatte können wir dann gerne noch ein-
10. Lebensjahr in männerfreien Zonen aufwachsen. mal aufschlüsseln, an welchen Stellen Frau Marks die
Geschlechter gegeneinander ausgespielt hat. Dass man
Wir möchten die männerfreien Zonen mit Männern fül- die Jungen- und Männerpolitik, von der Sie sprechen,
len, mehr nicht, kritisiert, heißt noch lange nicht, dass man eine entspre-
chende Förderpolitik nicht für notwendig hält.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ca-
ren Marks [SPD]: Nur zu! – Kai Gehring (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ach so! Das
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Auf- ist etwas ganz Neues! – Ingrid Fischbach
sichtsräten und Vorständen sitzen genug Män- [CDU/CSU]: Herr Rix, sie hat doch gesagt,
ner!) das ist gar nicht nötig!)
12040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sönke Rix
(A) Das sollten Sie nicht miteinander verwechseln. Die Kri- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C)
tik an Ihren Ansätzen beinhaltet nicht automatisch eine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ablehnung der Männer- und Jungenförderung.
In Ihrem Antrag erwähnen Sie auch den Gleichstel-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lungsbericht. Diesen Bericht hat die zuständige Ministe-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE rin übrigens nicht einmal persönlich entgegengenom-
GRÜNEN) men, vielleicht weil das eine oder andere, was darin
formuliert ist, ihr nicht passt – das sind aber Ansätze,
Ich gehöre zu den Männern, die 2,4 Prozent der Erzie- über die wir zu diskutieren haben –: Das eine ist die
her ausmachen. Quote in Aufsichtsräten und Vorständen, das andere die
Entgeltgleichheit. Mit diesen Maßnahmen, mit der Ein-
(Beifall des Abg. Florian Bernschneider
führung der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsrä-
[FDP])
ten und der Herstellung der Entgeltgleichheit, überwinde
Ich bin also einer von denen, die mit den neuesten Initia- ich die von Ihnen kritisierten Rollenbilder. Warum fan-
tiven in vielen Bereichen gesucht werden. Mit diesem gen wir damit nicht einfach an?
Blickwinkel will ich versuchen, auf zwei, drei Punkte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
einzugehen. Vor allem möchte ich auf die männerfreien der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Zonen eingehen, die auch Sie, Frau Noll, gerade ange- GRÜNEN)
sprochen haben. Den Kindergarten und die Grundschule
hat Herr Rauschenbach zu Recht als männerfreie Zonen Die Fokussierung auf Jungen und Männer in dieser
bezeichnet. Ich weiß das, weil ich zu den 2,4 Prozent ge- Debatte ist – das ist schon mehrfach angesprochen wor-
höre. Aber warum ist das so, und welche Antworten bie- den – ein Ausdruck des Geschlechterkampfes, den Sie
ten Sie, Frau Ministerin, mit dem Programm „MEHR eigentlich überwinden wollen.
Männer in Kitas“?
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie müssen
Erstens. Jetzt, wo wir mehr Männer in die Kinderta- den Antrag einmal lesen!)
gesstätten holen wollen, spielt die Bezahlung der Erzie-
herinnen und Erzieher eine Rolle. Warum war das nicht Eine Jungen- und Männerförderung kann nur in einem
schon vorher der Fall? Was haben Sie eigentlich für ein Gesamtkonzept der Gleichstellungspolitik eine Rolle
Bild? spielen. Man kann nicht einerseits die Frauenpolitik und
die vermeintlich alte Emanzipationsbewegung kritisie-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ren und andererseits sagen: Wir machen jetzt nur etwas
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks für Jungen und Männer, um den Geschlechterkampf zu (D)
(B)
[SPD]: Ja! Das ist unglaublich! – Markus überwinden. Sie befördern den Geschlechterkampf an
Grübel [CDU/CSU]: Ist das in SPD-regierten dieser Stelle.
Ländern anders?)
(Beifall der Abg. Petra Crone [SPD] – Miriam
Und Sie sprechen davon, dass es darum geht, Rollen- Gruß [FDP]: Was? – Dr. Thomas Feist [CDU/
typen zu überwinden. Dabei wird dadurch ein Rollentyp CSU]: Eine super Rede! Es ist gut, dass Sie
bestätigt: Der Mann ist der Ernährer, und deshalb muss kein Erzieher mehr sind!)
er besser verdienen. Das ist nicht der richtige Ansatz,
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, weil Sie
Frau Ministerin.
immer von der Überwindung der Rollentypen reden. Auf
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die Frage nach den Partnermonaten beim Elterngeld in
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesem Zusammenhang – das ist eine ganz aktuelle De-
batte – haben leider auch Sie, Frau Noll, keine Antwort
Zweitens. Arbeitslose Männer sollen jetzt in einem gegeben. Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition
Crashkurs in relativ kurzer Zeit den Beruf des Erziehers etwas unternommen, um die Rollentypen zu überwin-
im Rahmen einer Umschulung erlernen können. Da den. Wir waren es, die die Partnermonate eingeführt ha-
frage ich wieder: Was haben Sie eigentlich für ein Bild ben. Jetzt, wo wir es verstärken wollen, weil wir alle der
von den jetzt arbeitenden Erzieherinnen und Erziehern? Meinung sind, dass wir diese Rollentypen überwinden
Wie bewerten Sie die Tätigkeit, die sie ausüben? Es kann wollen, zieht die Ministerin zurück und kneift, angeblich
doch nicht angehen, dass wir einerseits sagen, dass sich weil nicht genügend Geld da ist.
gut qualifizierte Personen um die frühkindliche Bildung
kümmern müssen – es geht ja nicht nur um die Betreu- (Caren Marks [SPD]: Ja! Schade, schade!)
ung, um das Aufpassen im klassischen Sinne, sondern Frau Ministerin, es wird nicht besser, wenn Sie
auch um die frühkindliche Bildung –, und auf der ande- Schaufensterpolitik betreiben, wenn Sie einfach nur
ren Seite nehmen wir einfach jemanden, der in einem neue Projekte ankündigen und neben dem Girls’ Day
Crashkurs von vielleicht anderthalb Jahren den Beruf jetzt auch noch den Boys’ Day einführen. Von unserer
des Erziehers erlernt hat. Seite sage ich: Wir finden es wunderbar, wenn Men-
(Miriam Gruß [FDP]: Das will doch keiner!) schen am Boys’ und Girls’ Day teilnehmen und Mäd-
chen die Berufe kennenlernen, die vielleicht eher typisch
So werte ich den Beruf des Erziehers und der Erzieherin männlich sind, und Jungen die Berufe kennenlernen, die
mit Sicherheit nicht auf. typisch weiblich sind.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12041
Sönke Rix
(A) (Beifall des Abg. Florian Bernschneider Deswegen verstehe ich nicht die Aufregung, die in die- (C)
[FDP]) ser Debatte von Teilen der Opposition suggeriert wird.
Niemand will jetzt den Fokus auf die Jungs rücken und
Das hat hier niemand kritisiert. Aber daraus müssen dabei die Errungenschaften der Mädchen- und Frauen-
auch Konsequenzen gezogen werden. politik der letzten Jahrzehnte aufs Spiel setzen.
(Florian Bernschneider [FDP]: Ja! Steht im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Antrag!) der CDU/CSU)
Das fängt bei der Bezahlung, bei Quoten in Aufsichts- Wir wollen das eine tun, ohne das andere zu lassen.
räten, aber auch bei dem Bild, das man über Erzieherin-
nen und Erzieher in der Öffentlichkeit zeichnet, an. Das (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das begreifen
Bild, das Sie prägen, ist nicht hilfreich zur Überwindung die nicht! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
der Rollentypen. GRÜNEN]: Welche neuen Errungenschaften
in der Frauenpolitik planen Sie denn? Fordert
Herzlichen Dank. die FDP jetzt eine Frauenquote?)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Die althergebrachte Maxime: „Willst du die Mädchen
stärken, musst du die Jungs schwächen“, war falsch und
Vizepräsidentin Petra Pau: ist falsch. Sie wäre auch falsch, wenn die Jungs in die-
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Bernschneider sem Satz zuerst genannt würden. Das möchte niemand.
das Wort. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was tun Sie gegen neue Ungleichheit? Wann
der CDU/CSU) kommt die Frauenquote?)
Natürlich reicht zur Förderung der Jungs nicht ein
Florian Bernschneider (FDP): einzelner Boys’ Day.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Diana Golze [DIE LINKE]: Richtig!)
Herren! Wir haben heute mehrfach gehört – ich möchte
es einmal positiv ausdrücken –, wie gut die Bilanz der Ich finde, Kollege Gehring hat es in seiner Pressemittei-
Bildungsabschlüsse junger Frauen heute ist: Mädchen lung wunderbar formuliert: „Jeder Tag muss ein Boys’
machen häufiger und ein besseres Abitur, Mädchen bzw. Day sein.“ Das ist völlig richtig. Ich möchte Ihnen da
junge Frauen sind auch die Gewinner an deutschen recht geben. Genau deswegen legen wir Ihnen ja heute
(B) (D)
Hochschulen. Die Expertise zum Programm „Neue diesen Antrag vor. Uns allen ist doch bewusst, dass es
Wege für Jungs“ bringt es, wie ich finde, auf Seite 10 gut uns gelingen muss, mehr junge Männer von zum Bei-
auf den Punkt: Das katholische Arbeitermädchen vom spiel einer Ausbildung im sozialen Bereich zu begeis-
Land, das noch in den 70er-Jahren in der Bundesrepub- tern. Deswegen ist der Boys’ Day in das Projekt „Neue
lik als Bildungsverliererin galt, gibt es heute nicht mehr. Wege für Jungs“ eingebettet. Dieses Projekt versucht,
– Das sollte uns zunächst einmal freuen; denn all das nicht nur an einem Tag, sondern an 365 Tagen im Jahr
sind Zeichen eines positiven Wandels in unserer Gesell- genau dieses Ziel zu erreichen. Wir wollen erzieherische
schaft und positive Ergebnisse einer erfolgreichen deut- und pflegerische Berufe attraktiver machen. Wir wollen
schen Gleichstellungspolitik. gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen, dass das Per-
sonal in der Berufs- und Ausbildungsberatung entspre-
Aber die eben genannte Expertise stellt auf Seite 10 chend geschult wird.
auch klar: Der Bildungsverlierer von heute ist der Mi-
grantensohn aus einer bildungsschwachen Familie. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
kann uns nicht zufriedenstellen; damit können wir uns
nicht zufriedengeben. Nun kann man natürlich immer Wir fordern im vorliegenden Antrag die Bundesregie-
der Logik folgen und sagen: Es ist doch klar, wenn einer rung auf, die bestehenden Programme in diesem Bereich
in die erste Liga aufsteigt, nämlich die Mädchen, dann auszubauen. Weil ich jetzt immer wieder die Stichworte
muss auch jemand anders in die zweite Liga absteigen, Mindestlohn und Bezahlung gehört habe, sage ich: Das
nämlich die Jungs. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: allein löst das Problem nicht. Wenn Sie das Gehalt eines
Das ist nicht meine Auffassung von moderner Gleich- jungen Tischlers mit dem eines jungen Erziehers oder
stellungspolitik. Kindergärtners vergleichen, dann werden Sie feststellen,
dass die Bezahlung nicht der Grund für die Berufswahl
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dieser jungen Männer ist. Die Gründe liegen tiefer. Man
der CDU/CSU) muss die Gründe angehen; das tun wir richtigerweise in
diesem Antrag.
Unsere Aufgabe ist es, gute Rahmenbedingungen so
zu setzen, dass Kinder und Jugendliche unabhängig vom (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Geschlecht Entwicklungschancen und Perspektiven er- der CDU/CSU)
halten. Wir wollen, dass Jungen und Mädchen gemein-
sam in der ersten Liga spielen. Ich möchte mit einem Zitat von Norbert Blüm schlie-
ßen, das meiner Meinung nach sehr gut auf die heutige
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Debatte passt,
12042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Florian Bernschneider
(A) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Caren Marks [SPD]: Das habe ich schon! Fra- (C)
Die Rente ist sicher!) gen Sie doch mal die Lehrer, was die von Ih-
rem Antrag halten!)
gerade wenn ich mir die Rednerinnen und Redner der
Opposition vor Augen führe. Norbert Blüm hat einmal Kollege Feist und ich haben das getan. An meiner ehe-
gesagt: „Der Kampf der Geschlechter ist so einfallslos maligen Schule, einer katholischen Grund-, Haupt- und
wie der Klassenkampf.“ Wo er recht hat, hat er recht. Realschule – sie befindet sich in einem sozialen Brenn-
punkt im Süden Hamburgs, in Hamburg-Wilhelmsburg –,
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. haben die Jungen bzw. die Männer von sich aus eine AG
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ca- gegründet. Sie wollen das Thema Jungenförderung mehr
ren Marks [SPD]: Dann lassen Sie ihn ein- in den Fokus rücken, weil sie festgestellt haben, dass es
fach!) besondere Bedürfnisse gibt.
(Caren Marks [SPD]: Dann machen Sie von
Vizepräsidentin Petra Pau: der CDU doch in den Ländern eine bessere
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weinberg das Bildungspolitik!)
Wort. Dies haben wir politisch aufgegriffen. Insofern können
(Beifall bei der CDU/CSU) Sie uns nicht vorwerfen, wir hätten keine besonderen
Bedürfnisse definiert.
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen haben bereits klar zum Ausdruck ge-
Tatsächlich – Michaela Noll hat recht – ist der Verlauf bracht: Die Defizite der Jungen gerade im Bildungsbe-
dieser Debatte interessant. Im Vorfeld habe ich mir die reich zu betrachten, hat nichts damit zu tun, Jungen und
Frage gestellt: Wie diskutieren wir wohl heute? Nehmen Mädchen in irgendeiner Weise gegeneinander auszuspie-
wir dieses ernste gesellschaftliche Thema gemeinsam len. Wenn ich mir die Bildungsergebnisse ansehe, Frau
mit der Opposition in den Fokus, Golze, dann stelle ich fest: Die Bildungsergebnisse der
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Oh ja! Das wäre Jungen stagnieren nicht etwa, sondern die Jungen verlie-
schön gewesen!) ren in nahezu allen Bereichen immer weiter an Boden.
Die letzte PISA-Studie kam zu dem Ergebnis, dass der
oder transportieren wir weiterhin alte, ideologisch ge- Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bei der Le-
prägte Vorurteile in die Debatte? Letzteres haben einige sekompetenz mittlerweile 39 Punkte beträgt; das ent-
(B) Redner der Opposition leider getan. spricht einem Schuljahr. (D)

(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Caren Marks [SPD]: Ja! Wir brauchen eben
Ach was! Dann müssen Sie etwas Vernünfti- längeres gemeinsames Lernen!)
ges vorschlagen!) Darauf muss man als Bildungspolitiker und Familienpo-
Ich sage ausdrücklich – Kollege Gehring, ich hatte schon litiker eingehen. Man muss sich überlegen, wie ein Pro-
große Sorge, dass wir ihn zu sehr gelobt haben und er gramm ausgestaltet sein könnte, mit dem man die Lese-
den Raum verlässt –: Ich möchte mich bei den Grünen kompetenz der Jungen stärkt. Das haben wir getan. Sie
für die Art und Weise, wie sie diese Diskussion geführt aber werfen uns vor, wir würden einseitige Politik betrei-
haben, bedanken. ben.

Der Hamburger Pädagoge Frank Beuster hat in sei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nem Buch Die Jungenkatastrophe Folgendes formuliert: neten der FDP – Caren Marks [SPD]: Länge-
res gemeinsames Lernen, Herr Weinberg! Das
Viele Jungen sind in Not geraten. Grund ist eine wäre eine Antwort!)
einseitige, unzureichende Prägung. … Auch fehlen
zu häufig die Väter und die Männer in der Erzie- Zur Schulabbrecherquote und zum Thema Klassen-
hung von Jungen. wiederholungen haben die Kolleginnen und Kollegen
schon einiges gesagt.
Wir haben diese Aussage politisch aufgegriffen und zur
Diskussion gestellt. Frau Golze kritisierte daraufhin, wir Es gibt eine subjektive und eine objektive Wahrneh-
würden nur auf das Trennende hinweisen. Das ist völlig mung; Michaela Noll hat es formuliert. Wir wollen, wie
falsch. Wir greifen genau die Punkte auf, die in der ge- in unserem Antrag formuliert, wissenschaftlich untersu-
sellschaftlichen Diskussion, aber auch in der Wissen- chen: Wo genau liegen bei der Bildung und Ausbildung
schaft mehr und mehr Raum einnehmen. Heutzutage von Jungen und Mädchen die Schwerpunkte? Herr Rix,
sind es nämlich in erster Linie die Jungen, die unterstützt wir wollen auch erfahren: Was macht ein Erzieher ei-
und gefördert werden müssen. gentlich anders als eine Erzieherin? Auch wir wollen,
dass der Anteil männlicher Erzieher steigt und nicht wei-
Frau Marks, Sie fordern von uns, die besonderen Be- terhin nur 2,8 Prozent beträgt. Dies betrachten wir als
dürfnisse der Jungen in der Bildungspolitik zu definie- Forschungsauftrag. Wir müssen vermeiden, dass in die-
ren. Frau Marks, besuchen Sie doch einmal die Schulen ser Republik möglicherweise ein neues gesellschaftli-
in Ihrem Wahlkreis. ches Problem entsteht. Das Thema „Migration und sozi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12043
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) aler Status“ – Sie haben es erwähnt – haben wir Zum Schluss will ich Frank Beuster zitieren: (C)
Bildungspolitiker als bedeutsam erkannt. Entsprechende
Programme gibt es bereits. Wir wollen dafür sorgen, Es liegt nun in der Hand von uns Männern, Vätern,
dass sozialer Status und Migrationshintergrund in Zu- Lebensgefährten, ob wir diese Aufgabe – Vorbild
kunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheiden. zu sein – dem Fernsehen, Computerspielen und der
Darüber hinaus muss ein weiteres Problem, das in den Straße überlassen.
letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, Wir als Politik, als Regierung haben das aufgenommen.
in den Fokus gerückt werden: die Entwicklung der Jun- Sie als Opposition können sich gerne anschließen. Wir
gen. Wenn Jungen in ihrer subjektiven Wahrnehmung zu würden uns freuen, wenn wir in den Ausschüssen kon-
Bildungsverlierern werden und weniger Chancen auf struktiv und kritisch darüber diskutierten.
dem Ausbildungsmarkt haben, dann entwickeln sie sich
anders. Wenn sie zusätzlich einen Migrationshintergrund Herzlichen Dank.
haben oder ihr sozialer Status gering ist, dann entsteht in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
weiten Teilen der Gesellschaft ein Problem.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Kernproblem ist trotzdem die soziale Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Lage!) Lehrieder für die Unionsfraktion.
Der Anlass dafür, dass wir uns mit diesem Thema be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fasst haben, war die Frage: Wie genau reagieren diese
Jungen? Die Antwort lautet: Sie reagieren auch mit Ag-
gression und üben häusliche Gewalt aus. Genau dies ist Paul Lehrieder (CDU/CSU):
familienpolitisch das Desaster und die Urkatastrophe. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Darauf müssen wir so schnell wie möglich reagieren, Liebe Kollegen! Während wir hier im Plenum des Deut-
insbesondere im Bildungsbereich. schen Bundestages über unseren Koalitionsantrag debat-
tieren, sind bundesweit – um 18.30 Uhr werden hoffent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lich die ersten schon Feierabend haben – zahlreiche
Worum geht es in unserem Antrag en détail? Der Kol- Schüler seit heute früh quasi bei der praktischen Umset-
lege von den Grünen hat den einen oder anderen Aspekt zung. Denn am heutigen Boys’ Day – dem ersten offiziel-
bereits erwähnt. Es geht um eine geschlechtersensible len Zukunftstag für Jungen in unserem Land – erhalten
Pädagogik als Querschnittsaufgabe an den Schulen. Un- bundesweit zahlreiche Schüler der Klassen 5 bis 10 – Frau
terrichtsinhalte sollen so gestaltet werden, dass sie so- Ministerin Schröder hat ausgeführt, dass 35 000 Jungen
(B) (D)
wohl Mädchen als auch Jungen gerechter werden. Das die Gelegenheit wahrnehmen – Einblicke in interessante
heißt nicht, dass Pädagogen männliche Rollenbilder und und chancenreiche Dienstleistungsberufe, besonders in
Pädagoginnen weibliche Rollenbilder übernehmen sol- den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege. So be-
len, sondern das heißt, dass Männer und Frauen an den kommen sie erste Eindrücke von Berufsbereichen, in de-
Institutionen, in der Kita und in der Schule, Jungen und nen bislang nur wenige Männer arbeiten. Herr Rix hat
Mädchen gemeinsam unterrichten sollen. Die Unter- ausgeführt, dass er zu der sehr kleinen Minderheit von
richtsinhalte sollten so gestaltet sein, dass sie beiden, 2,4 Prozent Erziehern gehört, die im Kindergarten das
Jungen und Mädchen, gerecht werden. Wir brauchen entsprechende Rollenbild tradieren. Bestenfalls lernen
Programme zur Stärkung der Lesekompetenz und müs- die Schüler bereits am heutigen Tag ihre potenziellen
sen bei der Berufswahl dafür sorgen, dass sich auch Jun- Arbeitgeber kennen. Ich glaube, das Programm ist wich-
gen – heute findet erstmalig der Boys’ Day statt – stärker tig. Am 1. Juli fällt die Wehrpflicht weg. Viele junge
für Berufe interessieren, die sie bisher nicht angestrebt Männer mussten in den letzten Jahren, bedingt durch den
haben. Nur so schaffen wir einen Ausgleich. Zivildienst, in Berufe „hineinschnuppern“, die sie an-
sonsten vielleicht nicht aus freien Stücken gewählt hät-
Das Programm „MEHR Männer in Kitas“ mit der
ten. Deshalb ist es, Frau Ministerin, ganz wichtig, dass
Zielmarke 20 Prozent ist bereits ein erster Aufschlag.
wir in den nächsten Monaten auch die Freiwilligen-
Frau Marks hat gesagt, sie sei darüber erstaunt, dass uns
dienste im Auge behalten. Wir müssen aufpassen, dass
erst jetzt klar werde, dass beide Geschlechter in den
auch in Zukunft das Kennenlernen von bestimmten Be-
Blick zu nehmen seien.
rufsbildern ermöglicht wird, was früher, als es die Wehr-
(Caren Marks [SPD]: So schreiben Sie das ja!) pflicht noch gab, zwangsläufig geschah.
Was haben Sie eigentlich bis 2005 gemacht? Schon im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, eine
moderne Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln und
(Caren Marks [SPD]: Viel!)
bereits bestehende Projekte weiter zu unterstützen. Die
Wo haben Sie Ihre Akzente gesetzt? Ich kann nicht er- Einführung des Boys’ Day am heutigen Tag ist ein wei-
kennen, dass die SPD damals in der Regierungsverant- terer richtiger und wichtiger Schritt hin zur Verbesserung
wortung irgendwie die Thematik der Jungen aufgenom- der Zukunftsperspektiven für Jungen. Ich hätte es, Frau
men hätte. Sie haben sich richtigerweise zu den Kollegin Marks, begrüßt, wenn Sie gesagt hätten: Ja-
Mädchen geäußert. Das wird von uns nicht als negativ wohl, hier seid ihr auf dem richtigen Weg. Wir haben das
oder defizitär angesehen. Vielmehr nehmen wir jetzt die früher vielleicht noch nicht so dramatisch gesehen, aber
jungen Männer bzw. die Jungen mit in den Fokus. wir sind auf einem guten Weg. Wir begleiten euch kon-
12044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Paul Lehrieder
(A) struktiv, aber auch kritisch, um für mehr Verständnis zu (Beifall der Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/ (C)
sorgen. CSU] und Miriam Gruß [FDP])
Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle auf das – Liebe Frau Gruß, hier dürfen Sie laut klatschen. – Von
Projekt „Neue Wege für Jungs“ und die Initiative Bayern lernen, heißt Siegen lernen. Machen Sie weiter in
„MEHR Männer in Kitas“ mit dem gleichstellungspoliti- dieser Richtung!
schen Ziel, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kinder- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
tagesstätten deutlich zu erhöhen, verweisen. Jahrzehnte-
lang galten nur Mädchen und Frauen als besonders (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
förderungsbedürftig. Gleichstellungspolitische Ansätze Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Über Sachsen
für Jungen und Männer fehlten weitestgehend. Nun rü- könnte er auch einmal etwas Nettes sagen!)
cken zusätzlich die Jungen in den Fokus der Gleichstel-
lungspolitik, und das ist gut so. Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Von einer zeitgemäßen Gleichstellungspolitik können Drucksache 17/5494 an die in der Tagesordnung aufge-
wir alle nur profitieren. Die Vorredner haben in Bezug führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
auf viele Bereiche bereits darauf hingewiesen. Beson- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
ders im pädagogischen Bereich sowie im Dienstleis-
tungssektor bei Gesundheit und Pflege zeichnen sich ein Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Fachkräftemangel und auch ein besonderer gesellschaft- Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
licher Bedarf ab, der sich durch die demografische Ent- Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Petra Ernst-
wicklung unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
noch deutlich verstärken wird. der SPD
Wir wollen erreichen, dass die Männer von morgen Potenziale des Alters und des Alterns stärken –
durch eine moderne Gleichstellungspolitik vor allem in Die Teilhabe der älteren Generation durch
bildungs- und berufspolitischer Hinsicht gestärkt wer- bürgerschaftliches Engagement und Bildung
den. Jungen wie Mädchen, Männer wie Frauen sollen in fördern
unserer Gesellschaft in allen Lebensbereichen die glei-
– Drucksache 17/2145 –
chen Chancen und Gestaltungsfreiheiten haben. Ich
Überweisungsvorschlag:
(B) glaube, es ist gut, wenn wir an dieser Sache hier gemein- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (D)
sam konstruktiv arbeiten und keine Feindbilder aufbauen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
bzw. Gegenposition darstellen, die die Sache nicht ver- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
dient. Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ich finde es auch gut, dass Kollege Gehrig gesagt hat: Technikfolgenabschätzung
Ein Boys’ Day im Jahr ist eigentlich zu wenig; wir Haushaltsausschuss
brauchten 365 Boys’ Days im Jahr. Natürlich kann ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
das nur unterstützen und sage: Jawohl, den Fokus, den Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
wir heute hier ganz bewusst auf dieses Thema richten, höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
müssen wir das ganze Jahr über beibehalten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Dazu brauchen wir zum einen die Weiterentwicklung gin Petra Crone für die SPD-Fraktion.
von Programmen und Maßnahmen der Gleichstellungs- (Beifall bei der SPD)
politik, um einseitige männliche Rollenzuschreibungen
aufzubrechen. Zum anderen brauchen wir die Akzeptanz
für die Notwendigkeit dieser Fortentwicklung und die Petra Crone (SPD):
gemeinsame Überwindung von Rollenstereotypen in un- Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolle-
serer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich bei den ginnen! Meine Damen und Herren!
Geschlechterrollen von Jungen und Männern einiges ge- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist mal ein
tan. Werte haben sich verschoben. Familie, Beziehung netter Anfang!)
und Freundschaft sind wichtiger geworden. Das Ge-
schlechterverhältnis wird neu ausbalanciert. Ist es nicht ganz wunderbar? Das, was sich die Men-
schen schon immer gewünscht haben, ist eingetreten:
Ein Beispiel, das ich bewusst zum Schluss nenne, Unsere Lebensspanne wird immer länger. Ich finde,
sind die von mehreren Vorrednern bereits zitierten Vä- diese dazugewonnene Zeit ist ein ganz schönes Ge-
termonate, die in den letzten Jahren dazu geführt haben, schenk; denn wir sind immer besser gebildet, gesünder
dass sich deutschlandweit immerhin etwa 24 Prozent der und fitter. Kurz: Wir haben mehr vom Leben. Gleichzei-
jungen Väter – Tendenz steigend – durch eine Auszeit tig kann man unsere Lebensläufe nicht mehr uniformiert
von ihrem beruflichen Leben zu ihrer Erziehungsverant- in drei Teile einteilen: Schule/Ausbildung/Studium, Ar-
wortung bekannt haben. In Bayern – darauf bin ich ganz beitszeit und Ruhestand. Nein, viele Lebensläufe sind
besonders stolz – sind es sogar über 30 Prozent. von Brüchen, Umwegen, Veränderungen und Neubeginn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12045
Petra Crone
(A) gekennzeichnet. Keine Arbeitsphase kommt mehr ohne Migranten, Migrantinnen und Menschen mit Behinde- (C)
Weiterbildung aus. Der Begriff „lebenslanges Lernen“ rung. Es geht uns auch um die Älteren in ländlichen Re-
ist damit zum Teil schon mit Leben gefüllt. Nun muss er gionen.
sich auch noch deutlicher in der verlängerten Lebens-
Ziel ist eine neue Sicht des Alters in der Arbeitswelt.
phase verfestigen.
Dazu gehört das Recht auf Bildung für alle Lebensalter.
Werfen wir einen Blick in den Sechsten Altenbericht, Jeder, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, egal
der sich mit dem Thema Altersbilder beschäftigt. Die welchen Alters, hat das Recht auf Bildung.
Älteren existieren überhaupt nicht. Diese Altersgruppe
ist genauso vielfältig wie alle anderen Bevölkerungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gruppen – mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von DIE GRÜNEN)
Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Leider Lernen ist für die ältere Generation mehr als nur Wis-
wird immer viel zu sehr darüber gesprochen, was Ältere senserwerb. Es ist vor allem soziale Teilhabe und bedeu-
nicht mehr können und welche Macken sie haben. Diese tet eine enorme Steigerung der Lebensqualität. Selbst im
Diskriminierung muss endlich aufhören. hohen Alter hat Lernen noch positive Auswirkungen auf
(Beifall bei der SPD) Leib, Seele und Selbstbestimmtheit, und es ist für uns
deshalb auch Gesundheitsförderung und Prävention.
Stattdessen müssen wir die Potenziale und Stärken viel Wenn ich mich hier umschaue und die älteren Kollegen
stärker hervorheben. Wir brauchen eine breite politische und Kolleginnen sehe, kann ich nur sagen: Das Parla-
und gesellschaftliche Debatte darüber, wie ältere Mitbür- ment ist fast ein Jungbrunnen.
ger in der Arbeitswelt behandelt werden: ob sie gezielt
weitergebildet werden, ob ihre Erfahrung geschätzt wird (Heiterkeit bei der SPD)
und ob die Arbeitsbedingungen ihnen gerecht werden. Letztendlich motiviert Lernen auch zu bürgerschaftli-
Auch muss darüber gesprochen werden, inwiefern die chem Engagement. Die älteren Generationen prägen die
Bildungspolitik schon auf lebenslanges Lernen ausge- Gesellschaft – genauso wie die jüngeren – mit ihrer Er-
richtet ist und ob das Gesundheitswesen entsprechend fahrung, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sie haben
vorbereitet ist. mehr Zeit und wollen auch mehr Verantwortung über-
Darum fordere ich die Bundesregierung auf, die An- nehmen. Neben den Fachkräften leisten vor allem ältere
regungen der Wissenschaftler aus dem Fünften und Menschen einen wertvollen Beitrag in Hospizen, Pflege-
Sechsten Altenbericht in konkrete politische Program- heimen, aber auch für das sportliche und kulturelle Le-
matik umzusetzen. Familienministerin Schröder hat ben in den Kommunen. Davon profitieren wir alle.
nicht nur die Jungenpolitik, sondern auch die Senioren- Wir, meine Herren und Damen, müssen gute Rahmen- (D)
(B)
politik zu einem ihrer Kernthemen ausgerufen. – Auch bedingungen für flexible Angebote schaffen. Allzu starre
wenn sie gerade nicht anwesend ist, frage ich sie: Wann Regelungen und Verpflichtungen allerdings schrecken
beschäftigen wir uns in diesem Parlament mit dem ab. Besser ist ein großes Spektrum möglichst passge-
Sechsten Altenbericht? Eine Debatte darüber stand zwar nauer Vereinbarungen. Ein Signal ist mir dabei sehr
ursprünglich auf der heutigen Tagesordnung, ist aber wichtig: Dieses Engagement darf kein billiger Ersatz für
kurzfristig wieder abgesetzt worden. Leistungen unseres Sozialstaates sein.
(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Nein! Er ist uns (Beifall bei der SPD)
auch wichtig! Es kommt auf die Tagesord-
nung!) Es ist ein wichtiger Beitrag für den Zusammenhalt unse-
rer Gesellschaft.
Ergreifen Sie bitte endlich Initiativen, um die Potenziale
des Alters ausreichend zu fördern und zu stärken! Zwar Ich danke Ihnen.
folgt ein Modellprojekt auf das nächste – ich erinnere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nur an den Kampf um die Mehrgenerationenhäuser –, DIE GRÜNEN)
das ersetzt aber keinen langfristigen Aufbau und keine
langfristige Förderung von sinnvoller Infrastruktur, und
zwar gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Hier et- Vizepräsidentin Petra Pau:
was und dort etwas: Das reicht nicht aus, um das Große Der Kollege Grübel hat für die Unionsfraktion das
und Ganze zu gestalten. Wort.

In einer Gesellschaft mit einem größer werdenden (Beifall bei der CDU/CSU)
Anteil älterer Menschen muss die Politik, müssen wir
gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft die Teilha- Markus Grübel (CDU/CSU):
bemöglichkeiten auch für diese Gruppe sicherstellen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Analyse der demografischen Entwicklung in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Deutschland sind wir uns einig. Die Gesellschaft wird
CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
älter. Die Lebenserwartung steigt. Gleichzeitig nimmt
GRÜNEN)
die Zahl der Jüngeren ab. In Zahlen: In den Zeiten der
Das ist das Anliegen unseres Antrags. Dabei geht es uns, geburtenstarken Jahrgänge gab es rund 1,4 Millionen
der SPD-Bundestagsfraktion, vor allem auch um die Be- Geburten im Jahr. Jetzt sind es weniger als 700 000. Das
dürfnisse von sozial Schwächeren, Geringqualifizierten, entspricht einem Verhältnis von zwei zu eins. Das heißt,
12046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Markus Grübel
(A) in wenigen Jahren gehen zwei Menschen in Ruhestand, In dem Antrag gibt es Punkte, bei denen wir nicht (C)
während einer aus der Ausbildung in das Erwerbsleben weit auseinander sind, teilweise sogar eng zusammen,
nachrückt. Das ist eine Herausforderung für die Gesell- zum Beispiel bei der Überprüfung der Altersgrenzen.
schaft, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme, Diesen Punkt haben wir auch im Koalitionsvertrag fest-
aber auch eine Chance. Im Alter liegen nämlich auch gehalten. Es gibt auch Punkte im Antrag – zum Beispiel
große Potenziale. eine weitere EU-Antidiskriminierungsrichtlinie –, die
wir anders bewerten. Wir hatten über das Thema im
Wir müssen realistische und differenzierte Altersbil- Ausschuss und im Plenum mehrfach diskutiert; deshalb
der entwickeln. Wir benötigen Altersbilder, die die Men- brauche ich das nicht näher auszuführen. Im Bereich der
schen motivieren, Altersbilder, die Alter als Chance be- Forschung hat die Antidiskriminierungsstelle letztes Jahr
greifen. Alt sein heißt heute nicht in erster Linie, hilfs- eine Expertise zum Thema „Diskriminierung im Alter“
oder pflegebedürftig zu sein; nur 5 Prozent der 70- bis vorgelegt. Eine Konsequenz daraus ist, dass die Antidis-
75-Jährigen sind auf fremde Hilfe angewiesen und pfle- kriminierungsstelle des Bundes nächstes Jahr den
gebedürftig. Die heutigen Seniorinnen und Senioren sind Schwerpunkt auf Altersdiskriminierung legt. Hier sind
im Durchschnitt besser ausgebildet und vitaler als frü- wir also schon sehr aktiv.
here Generationen. Auch die Werbung greift das auf: Als Fortentwicklung der Erkenntnisse aus dem fünf-
„Schönheit kennt kein Alter“, sagt die Werbung für ein ten Altenbericht hat das Familienministerium den sechs-
Körperpflegemittel. Ich möchte ergänzen: Kreativität ten Altenbericht „Altersbilder in der Gesellschaft“ in
kennt kein Alter, Engagement kennt kein Alter, Bildung Auftrag gegeben. Der Bericht und auch die Stellung-
kennt kein Alter. nahme der Bundesregierung liegen vor. Frau Crone, wir
werden noch vor der Sommerpause den sechsten Alten-
Nun zum vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion. Sie
bericht hier besprechen. Ihr Antrag stützt sich aber im
haben einen ungewöhnlichen Weg gewählt. Sie haben
Wesentlichen auf den fünften Altenbericht. Der sechste
Mitte Juni erst einmal einen Antrag geschrieben, in dem lag damals noch nicht vor.
Sie ganz viele konkrete Forderungen erhoben haben.
Wenige Tage später richten Sie eine Kleine Anfrage an Als einen wichtigen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag
die Bundesregierung und fragen nach all dem, wozu Sie nicht ansprechen konnten, weil das damals nicht bekannt
vorher Position bezogen haben. Die Antworten konnten war, möchte ich den Bundesfreiwilligendienst erwähnen.
aber nicht in Ihren Antrag einfließen. Platter gesagt: Sie Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst bieten wir den
erklären zuerst den Weg, um dann nach dem richtigen über 27-Jährigen und damit auch der älteren Generation
Weg zu fragen. Umgekehrt wäre es wohl sinnvoller ge- die Möglichkeit, sich zu engagieren und ihre Potenziale
einzubringen. Dieser Dienst steht Männern und Frauen
(B) wesen. Dann wären manche Punkte in dem Antrag nicht (D)
mehr aufgeführt worden. offen. Er dauert in der Regel 12 Monate, mindestens 6
und höchstens 18 Monate, wenn er nicht von einer be-
Die Erkenntnisse und Empfehlungen des fünften sonderen pädagogischen Maßnahme begleitet wird. Für
Altenberichts haben Eingang in die Arbeit der verschie- die über 27-Jährigen und damit für die Älteren sind
denen Ressorts der Bundesregierung gefunden. Eine 20 Wochenstunden vorgesehen. Zu der 20-Stunden-Re-
Vielzahl von Programmen insbesondere aus dem Bun- gelung haben wir in der Anhörung zum Bundesfreiwilli-
desfamilienministerium fördert zielgruppengenau das gendienstgesetz die Sachverständigen befragt. Alle
Engagement der älteren Menschen und trägt dazu bei, Sachverständigen haben einvernehmlich gesagt, dass sie
dass die so vielfältig vorhandenen Potenziale der Älteren die 20-Stunden-Regelung für richtig halten, weil da-
genutzt werden. Programme wie „Alter schafft Neues – durch eine Verstaatlichung des Ehrenamts verhindert
Aktiv im Alter“, die Freiwilligendienste aller Generatio- wird.
nen und die Mehrgenerationenhäuser fördern das Enga- Mitte Mai startet die Informationskampagne mit dem
gement gerade älterer Menschen. Wir haben jetzt eine Titel „Zeit, das Richtige zu tun – Nichts erfüllt mehr, als
Lösung gefunden, wie wir die Förderung der Mehrgene- gebraucht zu werden“. Eine der vielfältigen Maßnahmen
rationenhäuser für die Jahre 2012, 2013 und 2014 er- wird sein, dass ein Bus der Linie 100, die auch hier am
möglichen können. Die Antragstellung ist ab Sommer Reichstagsgebäude vorbeiführt, mit entsprechenden In-
möglich. formationen versehen wird. Ich hoffe, dass dieses Ange-
bot viele Interessenten auch aus dem Kreis der Älteren
Die Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ greift die Er- findet. Sie sehen also: Es geschieht schon viel, und wir
fahrungen und Anliegen der über 50-Jährigen auf und wollen noch mehr anpacken. Es wäre gut, wenn wir hier
macht gleichzeitig Unternehmen auf die ökonomischen an einem Strang ziehen würden.
Chancen der demografischen Entwicklung aufmerksam.
Die Initiative „Internet erfahren“ will die Nutzung neuer Herzlichen Dank.
Medien durch Ältere gezielt fördern. Auch dafür gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Programme in den Mehrgenerationenhäusern. Der „Frei-
willigendienst aller Generationen“ und sein Vorläufer,
Vizepräsidentin Petra Pau:
der „Generationsübergreifende Freiwilligendienst“, sind
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich
beides Modellprogramme mit großem Erfolg. Die Eva-
das Wort.
luation hat ergeben, dass 64 Prozent der Freiwilligen äl-
ter als 50 Jahre sind. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12047

(A) Heidrun Dittrich (DIE LINKE): bände bekannt, die dies fordern. Die Unternehmen und (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten die Regierungen fordern das, weil sie so mit staatlicher
Damen und Herren! Wir debattieren heute über den An- Subvention einen neuen Niedriglohnbereich – Freiwilli-
trag der SPD und nicht über den Altersbericht der Bun- gendienst aller Generationen – einführen. Kranke, er-
desregierung. Das finde ich schade, denn da wäre mehr schöpfte und ältere Menschen und Menschen mit Behin-
drin. derung werden in Ihrem Antrag nicht bedacht. Wer aber
länger fit ist, könnte sich Urlaubswünsche erfüllen und
(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist uns so Hobbys nachgehen. Das ist selbstbestimmt, aber das ist
wichtig, dass wir das separat machen!) nicht vorgesehen. Wenn ein Liedermacher wie Konstan-
Der Titel des Antrags lautet fast genauso wie der Be- tin Wecker Konzerte gegen rechts organisiert, so habe
richt: „Potenziale des Alters und Alterns stärken – Die ich nichts dagegen. Er soll singen, solange er möchte. Er
Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches kann das auch; denn er ist finanziell abgesichert. Er kann
Engagement und Bildung fördern“. Leider schreiben Sie sich frei entscheiden.
nicht hinein, dass eine Teilhabe auch durch armutsfeste Setzen Sie sich mit uns für den gesetzlichen Mindest-
Renten gefördert werden kann. Die besondere Benach- lohn von 10 Euro ein, damit die Beschäftigten eine
teiligung von Frauen, Migranten und Menschen mit Be- Rente aufbauen können.
hinderung auf dem Arbeitsmarkt wird auch in Ihrer Be-
gründung nicht angesprochen. Frauen und Migranten (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
haben nicht 47 Jahre in Vollzeit gearbeitet, um eine langen] [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu Horst
Rente ohne Abschläge mit 67 Jahren zu erhalten. Sie Janson?)
bleiben in Minijobs und Teilzeitstellen hängen; sie blei-
ben im Alter arm. Dann können sie sich entscheiden. Der Freiwilligen-
dienst aller Generationen orientiert sich an Mehrgenera-
Was bieten Sie diesen Menschen an? Als ersten Punkt tionenhäusern, die zu Pflegestützpunkten werden sollen.
fordern Sie, meine Damen und Herren von der SPD, den Alle Wege der Freiwilligen führen in die Pflege; denn
Freiwilligendienst aller Generationen. Die Benachteilig- 35 000 Zivis wollen ersetzt werden.
ten auf dem Arbeitsmarkt, die keine eigene existenz-
sichernde Rente aufbauen können, sind aber genau Ihre Mit Ihrer Forderung nach lebenslangem Lernen und
Zielgruppe – die Freiwilligen aller Generationen –, und Überprüfung der Altersgrenzen beim bürgerschaftlichen
sie werden auch dazu gezwungen sein zu arbeiten, wenn Engagement unterstützt auch die SPD die Altersbilder
sie ihre Teilrente, ihr Hartz IV oder ihre Grundsicherung im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung. Dort
aufbessern wollen. Diesen Freiwilligendienst von 16 bis geht es um eine Überprüfung der tariflichen Schutzvor-
(B) 70 Jahren braucht kein Mensch. schriften für Ältere. Es geht um den Abbau des Kündi- (D)
gungsschutzes. Es geht darum, die noch gewerkschaftli-
(Beifall bei der LINKEN) chen Vorstellungen von einem Anspruch auf Rente mit 67
Die Jugendlichen benötigen stattdessen Ausbildungs- zu beseitigen.
plätze. 80 Prozent der Menschen in Deutschland wollen Dem Sechsten Altenbericht sind zwei Varianten zu
nicht bis 67 arbeiten, und sie wollen auch nicht bis zum entnehmen: Erste Variante: Das Rentenalter wird, ohne
Alter von 70 Jahren tätig sein. Hören Sie auf die Ge- eine Alterszahl zu nennen, erst mit Ende der individuel-
werkschaften, und verringern Sie das Renteneintrittsalter len Leistungsfähigkeit erreicht. Zweite Variante: Das
wieder! Damit schaffen Sie Arbeitsplätze, auch für Ju- Rentenalter wird erreicht, wenn das 67. Lebensjahr voll-
gendliche. endet ist. Dann wird die individuelle Leistungsfähigkeit
(Beifall bei der LINKEN) überprüft. Warum sollen die Rentnerinnen und Rentner
als niedrig Entlohnte bis 70 tätig sein und damit Arbeits-
Sie haben in der letzten Woche im Bundestag gemein- plätze im öffentlichen Dienst besetzen? Sie leisten doch
sam mit der Linken und den Grünen gegen den Bundes- bereits etwas für die staatliche Gemeinschaft, Stichworte:
freiwilligendienst gestimmt. Warum fordern Sie jetzt den Einkommensteuer, Medikamentenzuzahlung, Kranken-
Freiwilligendienst aller Generationen, wo es noch weni- versicherung, Pflegeversicherung, 19 Prozent Mehrwert-
ger Geld als Belohnung – zwischen 50 und 150 Euro – steuer und eventuell Hundesteuer. Das ist nicht wenig.
gibt? Sind Ihnen denn die älteren Menschen so wenig
wert? Wo bleibt das Rentenalter als Lebensabschnitt, der Fordern Sie mit uns Arbeitsplätze im öffentlichen
selbstbestimmt und erholsam sein kann, frei vom Zwang Dienst. Statt eine Teilhabe durch ausreichendes Einkom-
der Erwerbstätigkeit? men und Rente zu fordern, diskriminieren Sie die Älte-
ren durch Ihr Angebot, sich im Freiwilligendienst aller
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Generationen zu verpflichten, und das – über die gesetz-
Trotzdem ist es bürgerschaftliches Engage- liche Altersgrenze hinaus – bis 70 Jahre. Damit wenden
ment!) Sie sich gegen die Beschäftigten, die auf ein gesetzliches
Engagement bedeutet bei diesen Parteien, nicht für sich Rentenalter vertrauen. Wir hingegen sind für eine ar-
selbst, sondern für die Gesellschaft, für andere tätig zu mutsfeste Rente und einen zwanglosen Lebensabend.
sein, und das auch noch mit einem Dienst. Die Älteren Danke schön.
fordern das ein, behaupten Sie von der SPD. Mir sind
keine Briefe der Gewerkschaften und der Seniorenver- (Beifall bei der LINKEN)
12048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Eine Rentnerin oder ein Rentner hat sogar die Möglich- (C)
Nächste Rednerin ist Nicole Bracht-Bendt für die keit, Geld dazuzuverdienen. Ich verweise auch auf den
FDP-Fraktion. Ausbau der Mehrgenerationenhäuser. Die Ministerin hat
erst im Dezember das Pilotprojekt neu ausgeschrieben.
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Sowohl etablierte Einrichtungen als auch ganz neue Pro-
jekte wird der Bund auch künftig tragen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere Gesellschaft wird älter; das haben hier Im Antrag heißt es weiter: Altersgrenzen sollen beim
heute schon mehrere festgestellt. Seniorenpolitik ist bürgerschaftlichen Engagement überprüft und abgebaut
längst kein Randthema mehr. Die demografische Ent- werden. – Daran arbeiten wir doch ebenfalls. Dies ist mir
wicklung betrifft uns alle. 2050 wird jeder dritte Bundes- ein wichtiges Anliegen.
bürger älter als 60 Jahre sein. Die Veränderung der Al-
tersstrukturen wurde lange von vielen lediglich als Außerdem fordern Sie die Bundesregierung auf, Al-
Belastung unserer Sozialsysteme dargestellt. Das ist in- tersdiskriminierung aktiv zu bekämpfen. Was glauben
zwischen erfreulicherweise anders geworden. Sie, was die Antidiskriminierungsstelle des Bundes tut?
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle berichtete
Wir sind uns wohl alle darin einig, dass Menschen
im Familienausschuss auf meine Frage hin, dass es sich
nicht aufs Abstellgleis geführt werden dürfen, nur weil
in zwei von drei Beschwerdefällen um Altersdiskrimi-
sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Die meisten Äl-
nierung handele, zum Beispiel dass Ältere von Weiter-
teren wollen sich nicht von heute auf morgen aus dem
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zurück- bildungsmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt kei-
nen Grund dafür, dass in Betrieben das Recht auf
ziehen. Sie wollen mit ihrer Bildung und ihrem Wissen
Weiterbildung an bestimmte Altersgrenzen gekoppelt
aktiv bleiben. Das zu ermöglichen, ist eine wichtige Zu-
kunftsaufgabe. Von der geistigen Fitness profitieren sein soll. Die Antidiskriminierungsstelle legt hier bereits
einen klaren Schwerpunkt.
nicht nur die Senioren, sondern alle.
(Caren Marks [SPD]: Den die FDP nie
Die FDP-Fraktion setzt sich seit langem für ein Ende
wollte!)
starrer Altersgrenzen ein. Deshalb unterstütze ich Ihre
Forderung, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD- Ansonsten enthält der Antrag zusätzliche, kostenin-
Fraktion, Potenziale des Alters und des Alterns zu stär- tensive Programme und Projekte, so wie wir es von der
ken. Die Teilhabe älterer Generationen – sei es durch SPD gewohnt sind – ein Wohlfühlprogramm aus Steuer-
Bildung oder durch bürgerschaftliches Engagement – ist mitteln finanziert.
auch mein Ziel. Im ersten Teil Ihres Antrags schildern
(B) Sie treffend die Situation. Sie haben recht: Diesen demo- (Caren Marks [SPD]: Sie machen lieber Wohl- (D)
grafischen Prozess können wir nur gemeinsam mit den fühlprogramme für Mövenpick!)
Älteren gestalten. Nie waren Senioren so selbstständig In einer Zeit, in der wir Politiker alles tun sollten, um un-
und führten individuell ihr Leben, wie sie es wollten. seren Kindern und Großkindern keine gigantischen
Ältere Menschen gestalten und prägen die Gesell- Schuldenberge zu hinterlassen – auf denen können sie
schaft im Beruf wie in ihrer privaten Zeit. Wir wären nicht spielen –, tun Sie so, als könnten wir Wohltaten mit
dumm, wenn wir auf diese wertvollen Potenziale ver- dem Füllhorn ausschütten.
zichten würden. Bildung ist für Menschen ein Leben Ich möchte daran erinnern, dass es schon eine ganze
lang die Voraussetzung, um in der sich wandelnden Ar- Reihe von guten Maßnahmen gibt. Lebenslanges Lernen
beitswelt Schritt zu halten. Wer fordert, muss fördern. wird bereits in vielen Projekten umgesetzt. Ob bei den
Wer sich mit 50, 60 oder 70 beruflich engagiert, verdient Landfrauen, dem Kolpingwerk oder den Kommunen –
Anerkennung und Dank und muss, wie auch alle jünge- das Weiterbildungsangebot für Senioren ist mittlerweile
ren Arbeitnehmer, motiviert und weitergebildet werden. eindrucksvoll. Viele Angebote sind sogar kostenlos. Ob
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es ein Computerkurs ist, ein Fremdsprachenkurs oder ein
der CDU/CSU) Seniorenstudiengang an der Universität – alles das stärkt
die Kompetenz für ein eigen- und mitverantwortliches
Lernen für das Alter umfasst die gesamte Lebensspanne. Leben.
Dies alles sind Forderungen, die wir, die FDP-Fraktion,
mittragen. (Beifall bei der FDP)

Allerdings ist der Forderungskatalog im SPD-Antrag Der Sechste Altenbericht enthält wichtige Erkennt-
überzogen. Vieles darin ist ohnehin überholt oder nicht nisse und Handlungsempfehlungen für die Politik. Diese
finanzierbar, etwa der Ausbau der generationenübergrei- umzusetzen, muss unser vorrangiges Ziel sein. Die Bun-
fenden Freiwilligendienste. Wir haben gerade den Bun- desregierung hat mit der Initiative „Aktiv im Alter“ be-
desfreiwilligendienst auf den Weg gebracht; er ist gene- reits klar Impulse zur Stärkung älterer Menschen gesetzt.
rationenübergreifend. Zum ersten Mal werden gerade Es werden Kommunen dabei unterstützt, Strukturen auf-
Ältere ermuntert, sich einzubringen. Ich wünsche mir oder auszubauen, die eine stärkere Partizipation älterer
zum Beispiel, dass ein Tischler in die Kita geht und dort Menschen ermöglichen. In der Initiative „Wirtschafts-
Jungen und Mädchen zeigt, was man alles machen kann. faktor Alter“ unter Federführung des Wirtschaftsminis-
teriums werden Senioren-, Wirtschafts- und Verbrau-
(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) cherpolitik miteinander verbunden mit dem Ziel, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12049
Nicole Bracht-Bendt
(A) Lebensqualität von älteren Menschen zu erhöhen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir sind ge- (C)
gleichzeitig das Wirtschaftswachstum zu stärken. fragt in unserer persönlichen Einstellung gegenüber dem
Alter, in unserer Rolle als Abgeordnete, wie wir uns öf-
Die FDP-Fraktion unterstützt das wichtige Ziel, Poten- fentlich äußern. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind
ziale des Alters zu stärken. Die Koalition hat bereits genauso gefragt wie Familienangehörige.
wichtige, wegweisende Entscheidungen dazu gefällt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Caren Marks [SPD]: Oh!)
Es gilt, ein realistisches Bild des Alters zu entwerfen.
Wir wollen eine Seniorenpolitik, die ältere Menschen als
selbstbewusste Personen wahrnimmt und mit allen Es gibt nicht die Alten; da haben Sie recht, Frau
Rechten und Pflichten einbindet. Dazu braucht es aber Crone. Das dritte und vierte Lebensalter sind von so gro-
keine utopischen Programme, wie von der SPD ge- ßer Unterschiedlichkeit geprägt wie kaum ein anderes
wünscht, die nicht finanziert werden können und an der Lebensalter zuvor. Deshalb muss auch unser Altersbild
Realität vorbeigehen. Deshalb werden wir den Antrag facettenreich sein.
natürlich ablehnen.
Es gibt eben nicht nur die fitten Älteren, es gibt auch
Danke schön. diejenigen, die einen weitreichenden Unterstützungs-
und Pflegebedarf haben. Auch diese müssen wir im
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Blick haben. Das bedeutet aber auch, dass wir umfassen-
dere Strategien brauchen, um die Potenziale und Res-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sourcen dieses Personenkreises zu fördern.
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg für die Die Nationale Engagementstrategie der Bundesregie-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. rung sollte ein Grundstein für die Förderung des bürger-
schaftlichen Engagements werden. Die diesbezüglichen
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Erwartungen waren immens groß, und eine Strategie
NEN): verspricht ja auch Großes. Doch was dabei herausge-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- kommen ist, spottet wirklich jeder Beschreibung. Von
gen! Gespräche und Debatten über den demografischen strategischem Handeln auf der Bundesebene ist nichts zu
Wandel, über seine Herausforderungen und seine Folgen erkennen. Stattdessen folgte eine Inventurliste von Maß-
sind mittlerweile ein Dauerbrenner. Jeder weiß, dass die- nahmen und Modellprojekten.
ses Feuer seit einiger Zeit munter vor sich hinlodert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) und bei der SPD) (D)
Der Anteil der Älteren in unserer Bevölkerung steigt.
Das ist erfreulich; denn auch unsere Lebenserwartung Kein Wort wird darauf verwendet, wie es gelingen
steigt. Dazu tragen der medizinische Fortschritt genauso soll, die wichtige Frage der Förderung zwischen Bund,
wie die besseren Lebensbedingungen bei. Das bedeutet Land und Kommune zu diskutieren und zu klären, und
für uns aber auch ganz klar: Wir haben einen politischen kein Wort darüber, wie man sich die eigene Verantwor-
Handlungsauftrag. tung zur Infrastruktursicherung vorstellt. Als Trostpflas-
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit Ihrem ter stellt man dagegen einen neuen Freiwilligendienst
Antrag machen Sie deutlich, dass Ihnen der Handlungs- vor. Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre einzige Ant-
bedarf durchaus bewusst ist. Ich möchte hier den Blick wort sein! Sie wissen doch sicherlich, dass dabei Träger-
auf die Potenziale Älterer noch etwas weiten. Das Enga- prinzipien verletzt werden. Es werden Doppelstrukturen
gement der Älteren schiebt sich immer weiter über den aufgebaut, und das Wissen Älterer über Engagementför-
Beginn des Ruhestandes hinaus. Eine Grenze, sich zu derung wird missachtet.
engagieren, ist oft dann erreicht, wenn es die eigene Ge- Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der
sundheit nicht mehr zulässt. Hier sehen wir deutlich, Linken geantwortet, dass bürgerschaftliches Engage-
dass außer Engagement und Bildung auch andere Berei- ment ein „Motor für die Entwicklung sozial innovativer
che gefragt sind, damit sich die Potenziale Älterer entfal- Lösungen“ sei und die „Entwicklungsfähigkeit unserer
ten können. Gesellschaft“ stärke. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-
Altenpolitik ist ein Querschnittsthema. Es wird also gen, dieser Motor benötigt auch Energie. Die Nationale
höchste Zeit, dass wir es in den Debatten verankern – im Engagementstrategie taugt dafür nicht.
Sinne einer bewussten Generationenpolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie der Abg. Petra Crone [SPD])

Tun wir dies nicht, wird die Herausforderung des demo- Diese Strategie lässt den Motor stottern. Ich befürchte,
grafischen Wandels schnell zur Überforderung für alle, am Ende würgt sie den Motor sogar noch ab. Dadurch
und aus dem Dauerbrenner wird dann ganz schnell ein verschwendet man die Potenziale Älterer, anstatt sie im
Flächenbrand. Zukünftig müssen alle Politikfelder auf Sinne aller Generationen zu fördern und zu nutzen.
ihre generationengerechte Ausgestaltung und die dort Vielen Dank.
vorherrschenden Altersbilder und diskriminierenden Re-
gelungen überprüft werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
12050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich füge hinzu: Das gilt auch für die Bundesbildungs- (C)
Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSU- ministerin. Ich denke dabei an das Programm „Lernen
Fraktion. im Lebenslauf“, welches an das anschließt, was im Rah-
men der Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
umgesetzt wird.
neten der FDP)
Umso mehr erstaunt der Antrag der SPD. Sie rennen
Erwin Rüddel (CDU/CSU): hier seitenlang offene Türen ein und beschwören wort-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen reich Dinge, die in unserem Land schon längst gelebte
und Herren! Noch nie sind so viele Menschen so alt ge- Wirklichkeit sind. Sie legen ein weiteres Mal Zeugnis
worden wie heute, von Ihrem unerschütterlichen Staatsglauben ab.
(Beifall des Abg. Tom Koenigs [BÜND- Wir werden noch ausführlich Gelegenheit haben, im
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ausschuss über Ihren Antrag zu sprechen. Aber schon
jetzt möchte ich sagen: Es geht um Menschen, die in der
und noch nie waren sie dabei so gesund und so gut aus- Regel ein jahrzehntelanges Berufsleben hinter sich ha-
gebildet. Unsere Volkswirtschaft und unsere Gesell- ben und durchaus in der Lage sind, selbstverantwortlich
schaft insgesamt brauchen ihr Wissen und ihre Erfah- über ihre Aktivitäten und Interessen zu entscheiden. Wir
rung. Ich habe gerade festgestellt, dass darüber sehr
sollten ihnen Angebote machen und ihnen zusätzliche
großer Konsens in diesem Hause herrscht.
Anreize für ihr freiwilliges Engagement und für ihre in-
Die ältere Generation hat wachsende Bedeutung für dividuelle Weiterbildung geben. Aber wir sollten jeden
das Wirtschafts- und Arbeitsleben, den Bildungsbereich, Anschein von Bevormundung und von staatlich gelenk-
die Integrationspolitik und den gesellschaftlichen Zu- ter Zwangsbeglückung der älteren Generation vermei-
sammenhalt in unserem Land. Es geht um soziale Teil- den.
habe, um den Austausch von Erfahrungen und um ein
breites bürgerschaftliches Engagement in einer lebendi- (Beifall bei der CDU/CSU)
gen Zivilgesellschaft. Damit die älter werdende Gesell- Wir haben es schließlich mit mündigen Frauen und
schaft zu einer Chance für jeden Einzelnen und für unser Männern zu tun, die über eine gehörige Portion Lebens-
Land wird, hat die Bundesregierung eine Fülle von Ini- erfahrung verfügen und eine beachtliche Lebensleistung
tiativen ins Leben gerufen, liebe Frau Scharfenberg. Ich vorzuweisen haben. Ich glaube nicht, dass sie noch im
erwähne beispielhaft die Mehrgenerationenhäuser, eine Alter auf Schritt und Tritt vom Staat gesagt bekommen
große Erfolgsgeschichte, die wir deshalb auch fort- möchten, was sie zu tun haben. Unserem Leitbild ent-
schreiben. Ich erwähne die Freiwilligendienste aller Ge- spricht eine ältere Generation, die selbstbewusst und ei- (D)
(B) nerationen. Sie sind ausdrücklich für jedes Alter offen
genverantwortlich über ihre Aktivitäten und ihr freiwilli-
und fördern das Miteinander in unserer Gesellschaft.
ges Engagement entscheidet. Diesem Leitbild fühlen wir
Beispielhaft sind auch die bundesweit 46 Leuchtturm-
uns verpflichtet.
projekte sowie die ebenfalls geförderten kommunalen
Onlinemarktplätze, über die Interessenten ein passendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Angebot in ihrer Region finden können. neten der FDP)
Ich erwähne ferner die Initiative der Bundesregierung
„Alter schafft Neues“, die insbesondere der älteren Ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
neration vielfältige Wege aufzeigt, sich nach eigener Das Wort hat nun Franz Müntefering für die SPD-
Wahl für das Gemeinwohl zu engagieren. Dazu gehört Fraktion.
auch das Programm „Aktiv im Alter“, das vor allem auf
die Kommunen zielt. Hier geht es darum, Nachbar- (Beifall bei der SPD)
schaftshilfen aufzubauen und altersgerechtes Wohnen zu
fördern. Auf diese Weise können die älteren Mitbürge- Franz Müntefering (SPD):
rinnen und Mitbürger unmittelbar ihr örtliches Gemein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
wesen mitgestalten. Immanuel Kant 50 Jahre alt wurde, wurde er mit der Be-
Schließlich soll auch die Initiative „Wirtschaftsfaktor merkung laudatiert „Verehrungswürdiger Greis“. Es ist
Alter“ nicht unerwähnt bleiben, die Senioren-, Wirt- lange her; das würde heute keiner mehr sagen. Heute
schafts- und Verbraucherpolitik miteinander verbindet. gibt es in Deutschland 4 Millionen Menschen, die über
Denn adäquate Dienstleistungen und Produkte steigern 80 Jahre alt sind. Im Jahr 2050 werden es 10 Millionen
die Lebensqualität älterer Menschen und stärken ihre sein. Heute sind 7 000 Menschen in Deutschland über
Rolle als Verbraucher. 100 Jahre alt. Im Jahr 2050 werden es etwa 75 000 sein.
Das heißt, es verändert sich ganz viel, und es ist gut,
(Beifall bei der CDU/CSU) wenn man darüber spricht und sich bewusst macht, was
Mit Blick auf diese kurze Aufzählung wird es Sie sich da verändert.
nicht erstaunen, wenn ich feststelle, dass wir die Politik Alt ist man nicht mehr mit 50. Ich sage: auch nicht
für die ältere Generation bei der zuständigen Bundesmi-
mit 70, vielleicht mit 80 oder 85 Jahren. Wir sprechen
nisterin und natürlich auch beim zuständigen Staats-
über Ältere. Das sind die Menschen zwischen 60 und
sekretär in den besten Händen wissen.
70 Jahren. Dann kommen die Alten. Die Älteren sind
(Caren Marks [SPD]: Wie anspruchslos!) jünger als die Alten. Das zeigt, dass wir die richtigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12051
Franz Müntefering
(A) Worte an dieser Stelle noch gar nicht gefunden haben, Es ist auch eine Frage der Einstellung, wie man sich die- (C)
und macht deutlich, wie schnell sich diesbezüglich etwas sem Alter nähert und was man sich vornimmt, dann zu
verändert hat. tun.
Ich komme zum Ansehen der alten Menschen. Wenn Nun will ich aber nicht nur über die schönen Seiten
in einer Gesellschaft nur ganz wenige Menschen alt wa- und die philosophischen Aspekte sprechen. Ich will
ren, dann galten sie als Weise. Wenn aber ganz viele schon ernst nehmen, was eben von der Linken gesagt
Menschen alt sind, dann ist sozusagen die Patina dünn, worden ist: Natürlich geht es hier auch um materielle
Sicherheit im Alter. Ich glaube, dass wir deshalb nicht
(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und
mehr allzu lange Altenberichte diskutieren werden, son-
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dern Gesellschaftsberichte diskutieren müssen; alle Ge-
und man erkennt schnell, dass sich etwas verändert hat. nerationen müssen berücksichtigt werden.
Deshalb müssen wir lernen, mit dem Alter richtig umzu-
Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen
gehen.
uns richtig bewusst geworden ist, dass sich da etwas ver-
Wer 70 ist, hat deshalb nicht recht. Er hat deshalb aber ändert, lange darüber gesprochen, dass wir uns mit dem
auch nicht unrecht. Wer 30 ist, hat nicht recht, nur weil Thema der Älteren beschäftigen müssen, dass wir hier
er 30 ist. Aber er hat auch nicht automatisch unrecht. neu denken und organisieren müssen. Jetzt müssen wir
Vielleicht müssen wir uns einfach daran gewöhnen, das darangehen, sämtliche Konsequenzen der demografi-
Senioritätsprinzip ein bisschen infrage zu stellen und uns schen Entwicklung zu betrachten. Alle Generationen
klarzumachen, dass die Antwort auf die Frage, wie alt je- sind aufeinander angewiesen. Mich erinnert das ein biss-
mand ist, relativ wenig darüber aussagt, ob er recht hat chen an die Debatte über Jungen und Mädchen, die wir
oder nicht recht hat. Das gilt übrigens auch für sein Kön- vor einer Stunde geführt haben: Dort ist von allen gesagt
nen; denn Ältere können eine ganze Menge. worden, dass es nicht um einen Gegensatz geht. Auch
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP bei den Generationen geht es nicht um Gegensätze. Alle,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie die über Generationenkonflikte und -kriege sprechen,
des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) machen etwas ganz Gefährliches und Unnötiges.

Wir müssen auch über die Potenziale sprechen. Der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
erste Punkt, der einem an dieser Stelle einfällt, ist das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Versprechen, eine Politik für alte Menschen zu machen. geordneten der FDP und des Abg. Dr. Ilja Sei-
Ich sage dazu: Wir müssen auch an der Stelle fördern fert [DIE LINKE])
(B) und fordern. Denn es gibt in der Demokratie keinen Man muss deshalb darauf achten, dass wir uns bewusst (D)
Schaukelstuhl. Wenn man älter wird und der Kopf noch darüber bleiben, dass wir alle Generationen brauchen,
in Ordnung ist, dann hat man eine Mitverantwortung da- dass diejenigen, die heute älter sind, nicht nur für sich
für, dass die Gesellschaft funktioniert. Das Schlimmste, verantwortlich sind – das haben wir in den 80er-Jahren
was Deutschland passieren könnte, wäre, dass die große von Hans Jonas gelernt –, sondern auch für die Jüngeren
Gruppe der Menschen, die älter werden, nur von Mal- und diejenigen, die danach kommen werden.
lorca aus Karten schreibt und sagt: „Schickt uns noch
zwei Jahrzehnte die Rente! Das werdet ihr noch hinbe- Ich glaube, dass wir in Deutschland – auch wir im
kommen. Dann schaut mal zu, wie ihr klarkommt!“ Wir Deutschen Bundestag – bald die Grundsatzdebatte ange-
müssen wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind, hen und Handlungskonzepte für ein Land entwickeln
dass wir diese Probleme miteinander klären müssen. müssen, das eine große demografische Veränderung er-
lebt, die erhebliche Konsequenzen in allen Lebensberei-
Das zweite Potenzial, um das es geht, liegt in der Prä- chen haben wird. Da sind wir gerne dabei.
vention. Altwerden fängt jung an. Was wir heute bei den
Kindern nicht hinbekommen – gesunde Ernährung, gute Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Bildung und Selbstbewusstsein –, das kann sich auch (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
nicht auszahlen, wenn sie in ein höheres Alter kommen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Menschen verändern sich nicht so sehr. Wenn wir sagen
„Engagiert euch!“, dann ist die Frage, ob die Kinder das
lernen, solange sie klein und jung sind, damit sie weiter- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
machen, wenn sie ins Alter hereinwachsen, wenn sie das Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
Alter von 65, 67 oder 70 erreicht haben. Prävention ist erteile ich Kollegen Norbert Geis für die CDU/CSU-
also etwas ganz Wichtiges. Fraktion das Wort.
Es gibt so einen schönen Spruch von Voltaire – wir in (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutschland sollten hier zuhören –:
Norbert Geis (CDU/CSU):
Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
ich beschlossen, glücklich zu sein.
Herren! Niemand zieht in Zweifel, dass sich unsere Ge-
Ich finde das sehr geschickt: Wenn man sich darauf ein- sellschaft – die Gesellschaften der Industrienationen ins-
stellt, dass man die Chance hat, gesund alt zu werden, gesamt – in den letzten zwei Generationen entscheidend
dann kann man ein gutes Leben haben und etwas leisten. verändert hat: Sie wird nicht mehr so sehr von Jugendli-
12052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Norbert Geis
(A) chen und Kindern geprägt, sondern mehr und mehr von haus herauszuholen und sie für eine Mitarbeit im Ge- (C)
Erwachsenen, vor allen Dingen auch von rüstigen Pen- meinwesen zu begeistern.
sionisten und Rentnern. Dieser Wandel der Gesellschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fordert uns natürlich heraus. Im Antrag der SPD werden
die Herausforderungen benannt. Aber auch schon im Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann
Sechsten Altenbericht werden die Herausforderungen kommt eine weitere Phase des Alters, in der die Men-
genau analysiert und hervorragend dargestellt. Die Bun- schen gebrechlich werden, in der sie sich selbst nicht
desregierung hat entsprechend gehandelt. Eine Maß- mehr vorstehen können, in der sie hilflos wie ein Kind
nahme aufgrund des demografischen Wandels ist zum sind. Dann kommt es zur Krise – nicht nur für diese alten
Beispiel die Rente mit 67. Menschen, sondern auch für ihre Umgebung. Sie sind
hilflos wie ein Kind. Bei Kindern weckt diese Hilflosig-
Trifft man auf einen rüstigen Alten, einen rüstigen keit die Liebe der Mutter und bringt die sorgende Umar-
Rentner oder Pensionisten, dann begegnet einem oft ein mung der Umgebung hervor. Bei den Alten wird oft mit
gutaussehender, strahlender Mensch, der sich darüber einer spontanen Ablehnung reagiert, die aus einer natür-
freut, dass er den Druck des Berufslebens hinter sich hat lichen Empfindung heraus kommt, weil das Alter in die-
und jetzt endlich zu dem kommt, was er schon immer ser Phase des Lebens keine Zukunft mehr verspricht,
machen wollte. Aber es ist genauso richtig, dass die Ge- weil das Alter in dieser Phase des Lebens Gebrechlich-
sellschaft auf das Potenzial, auf das Können dieser rüsti- keit zeigt, auch auf das eigene Ende hinweist. Hier
gen älteren Menschen nicht verzichten kann. kommt es darauf an, dass solche Menschen von einer gu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten Familie umgeben sind, aber auch darauf, dass die
neten der FDP) Jungen und die rüstigen Alten bereit sind, diesen Men-
schen gegenüber Verantwortung zu übernehmen.
Deshalb glaube ich, dass alle Überlegungen richtig sind,
die einen Anreiz dafür bieten, dass sich die älteren Men- Ich habe einen weiteren Gedanken. Es gibt auch die
schen dafür begeistern lassen, sich im Gemeinwesen zu alten Menschen, deren Lebensbogen eine große Höhe
organisieren und einzubringen. und Weite aufzeigt. Wir erinnern uns an unsere jüngste
Vergangenheit, in der alte Menschen, alte Männer bereit
Damit die älteren Menschen einen entsprechenden waren, Verantwortung für den ganzen Staat zu überneh-
Beitrag leisten können, kommt es darauf an, dass sie sich men. Wir kennen die großen Staatsmänner gerade aus
weiterbilden. Überhaupt meine ich, dass das lebenslange unserer jüngsten Vergangenheit, die aus einer schier un-
Lernen, die Bereitschaft, die Augen aufzumachen und zu glaublichen physischen und psychischen Reserve heraus
sehen, was auf einen zukommt, und sich danach auszu- täglich gehandelt und entschieden haben. Ich habe hier
(B) richten, ein Grundmerkmal gerade im Alter sein sollte. das Bild des jetzt amtierenden Papstes vor meinen Au- (D)
So wird die Erstarrung verhindert, die den älteren Men- gen.
schen oft genug – manchmal sehr zu Unrecht – vorge-
Es kommt auch in der Wissenschaft vor. Denken Sie
worfen wird.
an Einstein. Oder denken Sie an die Literatur, an
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bernard Shaw oder an Ernst Jünger. Oder denken Sie an
Goethe, der in seinem Alter wunderbar abgeklärte Werke
Das ist nur die eine Seite des Alters, in der die Men- geschrieben hat. Oder denken Sie an einen Mann wie
schen noch rüstig sind, in der sie Heiterkeit ausstrahlen Tizian, der mit 100 Jahren von der Pest dahingerafft wer-
und bereit sind, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten und sich den musste – so möchte ich beinahe sagen – und bis zum
im Gemeinwesen zu engagieren. letzten Augenblick gemalt hat. Diesen Bogen gibt es
auch.
Aber es gibt auch die andere Seite des Alters. Es gibt
viele einsame alte Menschen. Es gibt viele Menschen, Es gibt aus den 60er-Jahren einen Ausspruch von
die ohne Familie sind, die keinen Anschluss haben, die Guardini. Er heißt:
keine Freunde haben, die allein in ihrer Wohnung im
vierten, achten, zehnten Stock eines Hochhauses wohnen Es gehört zu den fragwürdigsten Erscheinungen un-
und sich ausgegrenzt fühlen. Dies ist eines der großen serer Zeit, dass sie wertvolles Leben einfachhin mit
Probleme der Gesellschaften in einer Industrienation. Jo- Jungsein gleichsetzt.
hannes Paul II. hat folgerichtig in seinem Schreiben Ich meine, dass diese Mahnung bzw. diese Erkenntnis
Novo Millennio Ineunte, das er zur Jahrtausendwende auch heute noch Gültigkeit haben.
herausgegeben hat, auf dieses Problem hingewiesen und
es als eines der drängenden Probleme unserer Zeit gese- Danke schön.
hen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist notwendig, dass es karitative Organisationen
gibt, die sich um diese Menschen kümmern, dass sich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die Kirchengemeinden ihre Altentreffs erhalten, die sehr Ich schließe die Aussprache.
hilfreich sein können. Das Mehrgenerationenhaus spielt
hier eine große Rolle. Es ist aber auch der Ideenreichtum Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
einer guten Kommunalpolitik gefragt, die bereit ist, auf Drucksache 17/2145 an die in der Tagesordnung aufge-
diese Menschen zuzugehen, sie aus ihrem Schnecken- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12053
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung messenen Ausgleich zu bringen. Dabei haben wir uns (C)
so beschlossen. von dem Ziel leiten lassen, möglichst wenig in die Ent-
faltung der Mediation als eines noch in der Entwicklung
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: befindlichen Konfliktlösungsverfahrens einzugreifen.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf ein breites und
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- überwiegend positives Echo bei den Verbänden und auch
rung der Mediation und anderer Verfahren in der Gesellschaft gefunden hat. Auch die Länder be-
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung grüßen die mit dem Entwurf verfolgte Zielrichtung.
Gleichwohl will ich nicht verhehlen, dass der vorgelegte
– Drucksachen 17/5335, 17/5496 – Entwurf auch in der Kritik steht. Diese Kritik konzen-
Überweisungsvorschlag: triert sich vornehmlich auf einige wenige, allerdings
Rechtsausschuss auch bedeutsame Punkte.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Ansprechen möchte ich zunächst das Thema der ge-
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
richtsinternen Mediation. Die von verschiedenen Seiten
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
erhobenen Forderungen nach einer kompletten Abschaf-
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis- fung dieser Mediationsform teile ich nicht. Die gerichts-
terin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort. interne Mediation ist in den letzten Jahren eine feste
Größe an deutschen Gerichten geworden. Erfolgsquoten
(Beifall der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP]) von bis zu 74 Prozent bei Konfliktbereinigung sprechen
für sich. Mit dem Mediationsgesetz stellen wir den Län-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- dern das notwendige Instrumentarium zur Verfügung,
ministerin der Justiz: die gerichtsinterne Mediation fortzuführen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! In einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 hat das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bundesverfassungsgericht festgestellt – ich zitiere –: der CDU/CSU)

Eine zunächst streitige Problemlage durch eine ein- Allerdings wollen wir den richterlichen Mediatoren auch
verständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in ei- keine weiter gehenden Befugnisse einräumen als ihren
nem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig ge- außergerichtlich tätigen Kollegen.
genüber einer richterlichen Streitentscheidung. Bei der Prüfung und Umsetzung von Vorschlägen aus
An diesen Grundsatz knüpfen wir mit dem eingebrach- dem parlamentarischen Raum, die auf eine weitere För-
(B) ten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation derung gerade der außergerichtlichen Mediation abzie- (D)
und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konflikt- len, werden wir gerne unterstützend tätig werden.
beilegung an. Die Mediation als eine Methode, in geord-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
neter und konstruktiver Weise mit Konflikten umzuge-
der CDU/CSU und der Abg. Ingrid Hönlinger
hen, ist besonders geeignet, die Verantwortung der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Bürgerinnen und Bürger für sich selbst und andere zu
stärken. Deshalb wollen wir die Bürger ermuntern, ihre Natürlich greifen wir das Anliegen gern auf, gerade die
Streitigkeiten vornehmlich eigenverantwortlich zu lösen. außergerichtliche Mediation so attraktiv zu machen, dass
Bislang ist die Mediation gesetzlich weitgehend un- sie sich entfalten kann. Aber wir dürfen nicht aus den
geregelt. Nunmehr verpflichtet uns die EU-Mediations- Augen verlieren, dass die finanziellen Rahmenbedingun-
richtlinie zum Handeln. Anders als bei den meisten Ge- gen den Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen setzen.
setzesvorlagen, die im Deutschen Bundestag behandelt Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch hin-
werden, betreten wir rechtliches Neuland. Das bedeutet: sichtlich der Frage, wie die Aus- und Fortbildung der
Wir konnten nicht auf vorhandenen Strukturen aufbauen, Mediatoren und damit der Zugang zur Mediatorentätig-
sondern mussten das Mediationsgesetz von Grund auf keit geregelt werden soll. Hier haben wir die verschie-
neu entwickeln. Deshalb haben wir im Rahmen einer densten Modelle intensiv geprüft, wie zum Beispiel die
Expertengruppe namhafte Vertreter aus Wissenschaft Schaffung von Zulassungsvoraussetzungen oder einer
und Praxis in die Vorarbeiten einbezogen. Eine wichtige staatliche Anerkennung.
Hilfestellung lieferte uns das vom Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Privatrecht im Am Ende haben wir uns mit dem Entwurf gegen eine
Auftrag meines Hauses erstellte rechtsvergleichende detaillierte gesetzliche Regelung entschieden. Damit
Gutachten. Hierdurch konnten wir wertvolle Informatio- wollen wir gewährleisten, dass der Mediation als einem
nen über die Erfahrungen anderer Länder mit der Media- noch stark in der Entwicklung begriffenen Verfahren ge-
tion gewinnen und bei der Erarbeitung des Entwurfs be- nügend Entfaltungsspielraum verbleibt. Zugleich wol-
rücksichtigen. len wir neuen bürokratischen Strukturen entgegenwir-
ken, die wiederum mit Kosten verbunden wären.
Im Bereich der Mediation treffen sehr unterschiedli-
che Auffassungen aufeinander, die nicht ganz leicht in Die Qualität der Mediation und die Transparenz auf
Einklang zu bringen sind. Bei der Schaffung des Regie- dem Mediatorenmarkt sollen im Interesse der Verbrau-
rungsentwurfs haben wir die verschiedenen Interessen cherinnen und Verbraucher durch die Schaffung eines
abgewogen und darauf hingewirkt, diese in einen ange- privaten Zertifizierungssystems gefördert werden. Wir
12054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) zählen dabei auf die Kraft der Selbstregulierung durch Beim Stichwort „Mediation“ dachten und denken (C)
die Berufsgruppen und Verbände. viele Menschen bis heute an einen Schreibfehler des Be-
griffs „Meditation“.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Zivil-
gesellschaft erfordert die Weiterentwicklung von moder- (Heiterkeit und Beifall der Abg. Christine
nen und effektiven Methoden autonomer Konfliktbeile- Lambrecht [SPD])
gung. Ich bin sicher, dass wir mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf diese Entwicklung befördern und damit Es geht hierbei jedoch nicht darum, bei Räucherstäbchen
auch einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der und Keksen Probleme zu diskutieren.
Streitkultur in Deutschland leisten werden. Ich freue (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau,
mich auf konstruktive Beratungen im zuständigen Aus- die Zeiten sind vorbei! – Gegenruf des Abg.
schuss. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Recht herzlichen Dank. Schade! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]:
Ich denke, so löst die SPD ihre Probleme! –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gegenruf der Abg. Christine Lambrecht [SPD]:
Da geht es schon handfester zu!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Der Mediator soll nach dem Gesetzesvorhaben eine sehr
Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. entscheidende Aufgabe übernehmen: Er bringt die
(Beifall bei der SPD) Streitparteien an einen Tisch und hilft ihnen, selbst zu ei-
ner Lösung zu kommen. Der Mediator muss auf die Inte-
Sonja Steffen (SPD): ressen der Kontrahenten eingehen, und er muss Men-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Mi- schen einschätzen können. Schließlich soll er eine
nisterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Me- Vereinbarung fixieren, und diese soll dann auch noch
diationsrichtlinie der Europäischen Union verfolgt das vollstreckbar sein, das heißt, die Wirkung einer gerichtli-
Ziel, den Zugang von Einzelpersonen und sonstigen chen Entscheidung haben.
Wirtschaftsteilnehmern zu modernen Methoden der al- Seit das Kabinett den Entwurf des Gesetzes auf den
ternativen Streitschlichtung zu verbessern. Wir EU-Mit- Weg gebracht hat, schießen Mediatorenkurse wie Pilze
gliedstaaten haben bis Ende Mai dieses Jahres Zeit, diese aus dem Boden. Das bereitet uns Sorge; denn bislang
Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Der uns schreibt das geplante Gesetz nicht vor, was ein Mediator
heute vorliegende Entwurf des BMJ sieht ein entspre- gelernt haben muss. Wenn Politik und Gerichtsbarkeit
chendes Bundesgesetz vor. Ziel des Gesetzes ist es, die Kontrolle abgeben, der Mediator aber nicht über eine
(B) Mediation zu fördern und die außergerichtliche Kon- fundierte theoretische Ausbildung und vor allem über (D)
fliktbewältigung voranzubringen. Wir alle begrüßen keine praktische Erfahrung im Umgang mit Menschen
grundsätzlich dieses Ziel. verfügt – was insbesondere bei der professionellen Kon-
Die entscheidenden Vorteile einer Streitbeilegung fliktbeilegung wichtig ist –, dann ist zu befürchten, dass
durch Mediation gegenüber Prozess und Urteil sind fol- sich am Ende der Stärkere durchsetzt und unbefriedi-
gende: Eine Mediation ist in der Regel kürzer und billi- gende Ergebnisse erzielt werden.
ger als ein streitiges Verfahren. Außerdem entscheiden (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Hönlinger
die Konfliktparteien selbst über das Ergebnis. Dies för- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
dert in aller Regel die Zufriedenheit der Beteiligten am
Ausgang des Verfahrens. Untersuchungen haben auch Wir halten daher eine psychosoziale und bzw. oder ei-
gezeigt, dass die durch eine Mediation entstandenen Lö- nen juristischen Hintergrund und ausreichende berufli-
sungen länger halten. che Erfahrung für unbedingt erforderlich.
Besonders Familienrechtler werden die Stärkung der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Mediation zur Streitbeilegung sehr begrüßen. Gerade in der CDU/CSU und des Abg. Jens Petermann
hochemotionalen Familienkonflikten bietet die Media- [DIE LINKE])
tion große Chancen. Sie macht nämlich vor allem dann Vor allem, wenn es um Streitigkeiten um Kinder geht, ist
Sinn, wenn es nicht nur darum geht, einen Streit irgend- besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen ge-
wie zu klären, sondern auch darum, dass die Beteiligten fragt. Wir meinen daher, dass es verbindlicher gesetzli-
hinterher noch miteinander auskommen müssen. cher Anforderungen an die Aus- und Fortbildung der
So weit, so gut. Mediatoren bedarf.
In den bisherigen, wie ich finde, sehr konstruktiven Ich möchte nun auf einen weiteren Punkt eingehen,
Gesprächen, die überfraktionell stattfanden, haben sich den Sie, Frau Ministerin, bereits angesprochen haben.
entscheidende Schwierigkeiten bei der Schaffung einer Nach dem vorliegenden Entwurf soll es unterschiedliche
neuen gesetzlichen Regelung der Mediation gezeigt, die Formen der Mediation geben: Sie kann unabhängig von
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu klären sein einem Gerichtsverfahren, im Verlauf des Prozesses oder
werden. Die Frau Ministerin hat auf einige Punkte be- auch mit einem Richter als Mediator ablaufen. Bei ei-
reits hingewiesen. Ich teile diese Auffassung. Ich möchte nem Scheitern der Mediation darf derselbe Richter nicht
an dieser Stelle auf drei besonders wichtige Punkte ein- mehr selbst in der Sache entscheiden, wenn es sich um
gehen. eine gerichtliche Mediation handelt. Gerade die eigent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12055
Sonja Steffen
(A) lich nicht gewollte Stärkung der sogenannten gerichts- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
internen Mediation sehen wir kritisch. Wir haben Sorge, Das Wort hat nun Patrick Sensburg für die CDU/
dass mit der richterlichen Mediation die eigentliche Auf- CSU-Fraktion.
gabe der Justiz in den Hintergrund gedrängt wird. Statt
einen Streit zu verkürzen, können Gerichtsverfahren so (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durchaus auch in die Länge gezogen werden. Es ent-
spricht auch nicht dem Bild des unabhängigen Richters Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
nach dem Grundgesetz, wenn er erst als Mediator auftritt Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Ver-
und anschließend nicht in der Sache entscheiden darf. ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Mediation ist gar
Diese Einschränkung ist jedoch notwendig, um eine Vor- nicht ein so neues Verfahren. Bereits im 17. Jahrhundert
eingenommenheit des urteilenden Richters zu vermei- hat Alvise Contarini im Westfälischen Frieden 1648 als
den. Mediator die Abschlussverhandlungen mitgeführt. Er
war von allen Seiten anerkannt und mit hohem Vertrauen
Die gewünschte Beschleunigung der Streitbeilegung ausgestattet. So gesehen hat es einige Zeit gedauert, bis
und die gewünschte Kostenersparnis setzen daher vor- uns der Gesetzesentwurf des BMJ, des Justizministeri-
aus, dass der Schwerpunkt des Gesetzes auf der außerge- ums, heute vorgelegt wurde. Aber das liegt nicht an einer
richtlichen Streitbeilegung liegt. zeitlichen Verzögerung durch das Justizministerium,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ganz im Gegenteil.
der CDU/CSU und der LINKEN) (Heiterkeit des Abg. Otto Fricke [FDP])
Hierfür müssen im Gesetz zusätzliche Kostenanreize für Es hat vielmehr europarechtliche Gründe, dass es jetzt
eine außergerichtliche Streitschlichtung geschaffen wer- zu einem Mediationsgesetz gekommen ist. Bereits 1999
den. hatte der Rat von Tampere beschlossen, dass die Mit-
gliedstaaten außergerichtliche Streitbeilegungsmecha-
Damit bin ich beim letzten Punkt angelangt. Eine Me- nismen einführen sollen. 2002 ist mit dem Grünbuch zur
diationskostenhilfe für die Nichtwohlhabenden ist im außergerichtlichen Streitbeilegung im Grunde der
Gesetzentwurf bislang nicht vorgesehen. Sie haben be- nächste Schritt gegangen worden, bis dann die Richtlinie
reits darauf hingewiesen, dass das Probleme mit sich zur Mediation, die wir heute umsetzen, von der EU er-
bringt, weil das finanziert werden muss. Ich halte die lassen worden ist. Es gibt also einen europarechtlichen
Mediationskostenhilfe insbesondere im Familienrecht Hintergrund; die entsprechende Richtlinie setzen wir
für unbedingt angebracht. jetzt in deutsches Gesetz um.
(B) (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Ab Generell soll der Gesetzentwurf die Mediation stär- (D)
welchem Einkommen denn?) ken, das außergerichtliche Streitverfahren der Mediation
befördern, und speziell soll die Richtlinie umgesetzt
– Da gibt es die üblichen Regeln. – An dieser Stelle ist werden. Kern der Richtlinie sind drei Punkte: Vollstreck-
der Gesetzentwurf aus unserer Sicht bislang nicht mutig barkeit, Verjährung und Vertraulichkeit. Bezüglich der
genug. Wenn das geplante Gesetz parallel dafür sorgt, Vollstreckbarkeit geht es darum, dass die Parteien die am
dass die Mediation im Gericht und zudem auch noch Abschluss getroffene Vereinbarung für vollstreckbar er-
kostenlos angeboten wird, werden die Parteien verständ- klären lassen können oder sollen. Bezüglich der Verjäh-
licherweise sagen: Zur Not machen wir die Mediation rung geht es darum, dass die Parteien, die eine Mediation
eben im Gericht. – Dies würde nicht zu der gewünschten eingehen, nicht im Nachhinein schlechtergestellt wer-
Entlastung der Gerichte führen. Daher müssen auch die den, falls die Mediation scheitert und für sie dann gege-
Länder ein Interesse daran haben, eine Kostenhilfe für benenfalls Fristen abgelaufen sind. Bezüglich des Ver-
die außergerichtliche Mediation bereitzustellen. trauensschutzes geht es darum, dass die Dinge, die in
einem Mediationsverfahren vor dem Mediator diskutiert
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jens Pe-
werden – dies sind teilweise sehr vertrauliche, sehr in-
termann [DIE LINKE] – Otto Fricke [FDP]:
time Sachverhalte –, dann nicht durch den Mediator oder
Da können die rot-grünen Länder ja mal vor-
an der Mediation teilnehmende Dritte in die Öffentlich-
gehen!)
keit gelangen.
Der Gesetzentwurf ist ein guter Ansatz und zeigt die Zu Recht hat die Justizministerin weitere Aspekte im
Bedeutung, die Mediation in unserer Gesellschaft zu- Gesetzentwurf ergänzt, nämlich die Ausdehnung auf in-
künftig haben soll. Klare gesetzliche Regelungen erhö- nerstaatliche Sachverhalte. Das ist richtig. Ich glaube, es
hen die Transparenz und werden den Zugang zur Media- wäre zu kurz gegriffen, wenn man gesagt hätte: Wir be-
tion erleichtern. Aber dazu bedarf der vorliegende rücksichtigen nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Es
Entwurf der Überarbeitung; denn Sie haben es richtig war ein richtiger Entschluss, zu sagen: Wir dehnen dies
gesagt: Wir betreten gesetzliches Neuland. – Ich hoffe auf deutsche Sachverhalte aus und erstrecken das Media-
daher, dass wir konstruktiv zusammenarbeiten und zu ei- tionsgesetz auf alle Bereiche.
nem guten Ergebnis kommen werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank.
Ebenso ist es richtig, dass wir bestimmte Definitionen
(Beifall bei der SPD) schaffen, zum Beispiel des Mediators und des Media-
12056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) tionsverfahrens, und auch gewisse Grundsätze festlegen, ator“ nennen und ein entsprechendes Schild an seine Tür (C)
beispielsweise die Verpflichtungen, die ein Mediator hängen darf und wir glauben, dadurch würden wir die
eingehen muss. Das Gesetz leistet also zum einen eine Mediation befördern. Denken Sie nur an die Recht-
Umsetzung der Richtlinie, zum anderen – zu Recht – schutzversicherer, die sich im Bereich der Mediation
eine Ausdehnung auf bestimmte weitere Aspekte. Von gerne engagieren möchten. Sie brauchen aber auch die
daher bedanke ich mich ganz herzlich an dieser Stelle Sicherheit, dass der Mediator, der einen Fall mediiert,
bei der Frau Ministerin und bei Staatssekretär Dr. Stadler gut ausgebildet ist.
für die konstruktiven Gespräche in den letzten Wochen.
(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Und dass er
Der schlanke Gesetzgebungsvorschlag wirft aber zu- haftet!)
gleich verschiedene Fragen auf. An manchen Stellen
Dies dürfen wir, glaube ich, nicht allein der Selbstregu-
wirft er sogar mehr Fragen auf, als er Klärungen schafft.
lierung der Verbände überlassen. Denn in den letzten 10,
Die Frage, die zuerst aufgeworfen wird, betrifft den An-
15 Jahren hat sich gezeigt: Den Verbänden alleine ist es
wendungsbereich. Für welchen Anwendungsbereich gilt
bisher nicht gelungen, hier Standards zu schaffen. Das
dieses Gesetz? Welche Arten der Mediation werden er-
hat auch die Diskussion gezeigt.
fasst? Sollen beispielsweise auch Mediationen auf dem
Schulhof, wenn ein 18-jähriger Oberstufenschüler zwi- In den nächsten Wochen wird es wichtig sein, in § 5
schen 15- und 16-jährigen Schülern mediiert, erfasst Mediationsgesetz eine klare Regelung zu treffen, gege-
werden? Soll beispielsweise auch die Mediation in einer benenfalls im Rahmen einer Rechtsverordnung oder ei-
sechsköpfigen Familie, wenn der ältere Bruder für eine ner Verwaltungsvorschrift, die, was die Voraussetzungen
Schwester als Mediator tätig ist, erfasst werden? Das ist angeht, gewisse Mindeststandards und im Hinblick auf
unklar. Von einem Gesetz kann man, glaube ich, schon die Ausbildung eine gewisse Mindeststundenzahl nennt.
erwarten, dass zumindest sein Anwendungsbereich klar Ich denke, für die Ausbildung eines Mediators sollten
definiert ist; diese Definition muss mindestens in der Be- 120 bis 150 Stunden notwendig sein; eine geringere
gründung erfolgen. Sonst wird das Gesetz sicherlich Stundenzahl ist, glaube ich, nicht möglich.
nicht den Erfolg haben, den wir ihm wünschen.
Dies sind unserer Auffassung nach die Kernpunkte, in
Der zweite Aspekt betrifft die Mediationsarten. Die denen wir in den nächsten Wochen eine Verbesserung
Kollegin Steffen hat es schon angesprochen: Ganz wich- des Gesetzentwurfes erzielen müssen.
tig ist ein richtig austariertes Verhältnis zwischen der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
gerichtlichen Mediation und der außergerichtlichen Me-
SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
diation. Hier muss der Schwerpunkt auf der außerge-
DIE GRÜNEN)
richtlichen Mediation liegen; denn das ist das, was wir
(B) (D)
im Kern wollen. Wir wollen nicht, dass Streitigkeiten Viele Detailfragen sind noch zu klären. Dabei geht es
vor ein Gericht gebracht werden, sondern wir wollen, nach meiner Meinung aber im Wesentlichen um techni-
dass möglichst viele Streitigkeiten bereits im Vorfeld ge- sche Fragen, beispielsweise um die Hemmung von Fris-
klärt werden. Es entlastet auch die Staats- und Länder- ten; ich denke nur an § 4 Kündigungsschutzgesetz. Ein
kassen, wenn die Gerichte gar nicht erst bemüht werden, bloßer Verweis auf die BGB-Fristen reicht nicht aus.
und führt bei den Parteien zu viel größerem Vertrauen. Hier müssen wir, glaube ich, etwas genauer hinschauen.
Die Mediation schafft im besten Fall eine Win-win-
Situation. Eine weitere Frage lautet: Welche Gerichtsbarkeiten
sollen einbezogen werden: die Sozialgerichtsbarkeit, die
In den nächsten Wochen muss es uns gelingen, die au- Finanzgerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit? Wol-
ßergerichtliche Mediation zu stärken, ohne auf die aus len wir all diese Gerichtsbarkeiten in dem Gesetz erfas-
meiner Sicht guten Ansätze der Gerichtsmediation, die sen oder nicht? Das ist bisher etwas unklar. Ein anderer
insbesondere aus den Bundesländern gekommen sind, zu wichtiger Aspekt ist die Vollstreckbarkeit der Abschluss-
verzichten. Es muss aber, wie gesagt, eine Stärkung der vereinbarung einer Mediation. Soll jeder Mediator, auch
außergerichtlichen Mediation geben. Dies sieht der Ge- ein Soziologe oder Philosoph, eine Mediationsvereinba-
setzgebungsentwurf derzeit nicht vor. Wenn man ihn rung, die später vollstreckbar ist, verfassen dürfen? All
liest, stellt man fest: Er stärkt eher die in Bezug auf die diese Fragen müssen wir noch klären, wenn dieses Ge-
Kosten nicht so günstige Gerichtsmediation. setz Erfolg haben soll. Ich glaube, wir werden sie auch
klären, zumal gerade die letzten Fragen eher technischer
Hier spielt übrigens § 2 Abs. 4 Mediationsgesetz eine
Art sind.
große Rolle. Er schließt nämlich die anwaltliche Bera-
tung im Rahmen der Mediation aus, wenn eine Partei Die beiden zentralen Punkte, die angesprochen wor-
dem widerspricht. Hier müssen wir nachbessern. Sonst den sind, die Aus- und Fortbildung – dies betrifft § 5 des
bekommen wir an dieser Stelle ein Problem mit der an- Mediationsgesetzes – und die Austarierung des Verhält-
waltlichen Beratung der Parteien in der Mediation. nisses zwischen gerichtlicher Mediation und außerge-
richtlicher Mediation, sind die Knackpunkte dieses Ge-
Der dritte ganz wesentliche Punkt – die Kollegin Stef-
setzes, mit denen wir uns befassen müssen. Ich glaube,
fen hat auch ihn schon angesprochen – ist die Aus- und
wenn wir diese beiden Probleme lösen, dann wird die
Fortbildung. Will der Gesetzgebungsentwurf Erfolg ha-
Mediation Erfolg haben.
ben, will er die Mediation wirklich voranbringen, dann
muss die Frage der Ausbildung der Mediatoren geklärt Frau Ministerin, von parlamentarischer Seite kann ich
sein. Es kann nicht sein, dass sich weiterhin jeder „Medi- Ihnen unsere Zusammenarbeit zusichern. Ich glaube, wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12057
Dr. Patrick Sensburg
(A) werden mit diesem Gesetz einen großen Erfolg erzielen, Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass die schwä- (C)
wenn wir es schaffen, die genannten Probleme gemein- chere Partei regelmäßig über den Tisch gezogen wird.
sam zu lösen. Ich hoffe, dass uns dies in den nächsten Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Wochen gelingen wird.
Das Bundesjustizministerium will nun die gerichtli-
Ich bedanke mich ganz herzlich. che, die gerichtsnahe und die außergerichtliche Media-
tion in den Bereichen Zivilrecht, Familienrecht, Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- recht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht einführen.
neten der FDP) Fraglich ist dabei, ob die Umsetzung der Richtlinie das
überhaupt erfordert. Gerade im Sozial-, Arbeits- und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Verwaltungsrecht besteht ein strukturelles Ungleichge-
Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die wicht zwischen den Beteiligten. Hat zum Beispiel ein
Linke. Hartz-IV-Empfänger Probleme mit der Kürzung seiner
Regelleistungen, soll er sich künftig erst einmal mit der
(Beifall bei der LINKEN) Behörde bei Kaffee und Kuchen und den berühmten
Räucherstäbchen – das Copyright dafür liegt beim Kol-
Jens Petermann (DIE LINKE):
legen Ahrendt – an einen Tisch setzen und um eine ge-
ringere Kürzung feilschen, obwohl die Kürzung an sich
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten unter Umständen rechtswidrig war.
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin,
mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Um- Wenn nun ein Hartz-IV-Empfänger eine Streitigkeit
setzung der europäischen Richtlinie über bestimmte vor dem Zivilgericht austrägt, besteht für ihn die Möglich-
Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen prä- keit, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ergibt sich aus
sentiert die Bundesregierung leider nur ein halbgares dem Justizgewährungsanspruch und dem Sozialstaatsge-
Gericht. Es besteht die Gefahr, dass es ungenießbar ist, bot. Hinsichtlich der Mediationskosten schweigt sich der
also schwer im Magen liegt, und Sie den Adressaten, Entwurf allerdings aus. Der Hartz-IV-Empfänger müsste
also den Bürgerinnen und Bürgern, den Betrieben, aber also, wenn er sich auf die Mediation einlässt, mindestens
auch den Institutionen, Steine statt Brot geben. die Hälfte der Kosten des Mediationsgespräches selbst
tragen. Das BMJ kann die Höhe der Kosten bisher nur
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schätzen. Es ist von circa 450 Euro die Rede. Bei einem
NEN]: Ist es nun halbgar, oder sind es Steine? Regelsatz von 364 Euro, der in unserem eben geschilder-
Können Steine halbgar sein?) ten Fall durch die Sanktionen noch gekürzt werden
(B) Der Entwurf aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, ver- würde, ist das Ganze unbezahlbar. Hier bedarf es eines (D)
dient leider keine Bestnote. Das sagt nicht nur die Oppo- Rechtsanspruchs auf Mediationskostenhilfe. Ein For-
sition, die hier etwas schärfer kritisieren darf, das sieht schungsprojekt der Länder, wie es in dem derzeitigen § 6
auch die Koalition so. Es gibt gravierende Mängel. Die des Entwurfs geplant wird, ist unzureichend.
Kostenfrage sowie die Frage der Aus- und Weiterbil- (Beifall bei der LINKEN)
dung sind nicht geklärt. Ich glaube, die bisherige Debatte
hat gezeigt, dass hier wirklich Nachbesserungsbedarf be- Die im Übrigen sehr spannende Frage, wer sich Me-
steht. diator nennen darf, bleibt letztlich unbeantwortet. Der
Entwurf überlässt es dem Mediator selbst, durch geeig-
Am 21. Mai 2008 erteilten der Europäische Rat und nete Aus- und Fortbildung Sachkunde zu erlangen. Das
das Europäische Parlament den Mitgliedsländern die ist mir viel zu beliebig. Für die sachkundige Durchfüh-
Hausaufgabe, für grenzüberschreitende Streitigkeiten in rung einer Mediation – das ist hier schon gesagt worden –
Zivil- und Handelssachen den Zugang zur Mediation zu braucht man meines Erachtens eine hochqualifizierte
fördern. Die Frist zur Umsetzung endet demnächst, am Ausbildung in Psychologie und Kommunikation sowie
20. Mai dieses Jahres, also in circa fünf Wochen. Die mindestens durchschnittliche Rechtskenntnisse.
Regierung hatte fast drei Jahre Zeit, die Richtlinie umzu-
setzen. Das zu diskutierende Ergebnis scheint indes mit
heißer Nadel gestrickt. Es entsteht der Eindruck, dass Sie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den Auftrag aus Brüssel nicht so recht verstanden haben. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Laut Richtlinie soll die Mediation für grenzüber-
schreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen
gesichert werden. Explizit ausgeschlossen sind Steuer- Jens Petermann (DIE LINKE):
und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegen- Nein. – Herr Kollege Sensburg hat in der FAZ geäu-
heiten und die Staatshaftung. Diese Ausschlüsse bezie- ßert, dass es einer verbindlichen Zertifizierung bedarf.
hen sich auf Rechtsgebiete, wo es ein starkes strukturel- Da bin ich mit Ihnen, geschätzter Kollege Sensburg, ei-
les Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten gibt. Das ner Meinung. Ich kann mich da nur anschließen.
hat auch seinen Grund; denn eine Mediation macht nur
Sinn, wenn sich die Parteien auf Augenhöhe gegenüber- Schließlich soll die Mediation auch bundeseinheitlich
stehen. geregelt sein. Ansonsten droht ein Flickenteppich mit
unterschiedlichen Standards wie bereits in der Beamten-
(Beifall bei der LINKEN) besoldung, und das ist von Nachteil.
12058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Jens Petermann
(A) Die Linke fordert: Mediation muss auf grenzüber- Die Modellprojekte der richterlichen Mediation zeigen, (C)
schreitende Zivil- und Handelssachen beschränkt sein; dass dort die Mediation in ein bis zwei Sitzungen durch-
Mediationskostenhilfe muss eingeführt werden, und eine geführt wird. Oft hat der Richter die Akte vorher gelesen,
bundesweit einheitliche Ausbildung der Mediatoren lässt sich die Interessenlage also nicht von den Parteien
muss sichergestellt werden. erklären, und am Ende gibt es einen Vergleichsvorschlag.
Wir verkennen nicht, dass zahlreiche Richterinnen und
(Beifall bei der LINKEN)
Richter viel Zeit und Geld investiert haben, um eine Me-
Frau Ministerin, bessern Sie den Entwurf insoweit diationsausbildung zu absolvieren. Innerhalb der ihnen
nach. Beachten Sie dabei auch unseren Entschließungs- zur Verfügung stehenden Zeit arbeiten sie mit viel Enga-
antrag. Dann können wir die Regelung mittragen. gement, erzielen auch gute Ergebnisse, aber das Verfah-
ren entspricht doch eher dem Modell eines Güterichters,
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
wie wir es aus Thüringen und Bayern kennen, das in
(Beifall bei der LINKEN) § 278 Abs. 5 ZPO verankert ist, und nicht der Mediation,
wie sie außerhalb der Gerichte durchgeführt wird.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Mechthild Dyckmans [FDP]: Völlig falsch!)
Das Wort hat nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Wenn wir eine eigenverantwortliche Konfliktlösung
und die Entlastung der Justiz erreichen wollen, dann
müssen wir weiterdenken. Dann müssen wir auch an die
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Punkte denken, die die Kolleginnen und Kollegen schon
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und angesprochen haben, nämlich daran, wie wir die Aus-
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir diskutieren und Fortbildung von Mediatorinnen und Mediatoren si-
heute über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregie- chern können. Wir müssen die Grundzüge klar artikulie-
rung zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren ren. Ich weiß, dass große Mediations- und Anwaltsver-
der außergerichtlichen Konfliktbeilegung. Heribert bände schon an Qualitätsstandards arbeiten und eine
Prantl hat die Intention dieses Gesetzentwurfs in der qualitätsvolle Ausbildung anbieten. Es reicht aber nicht
Süddeutschen Zeitung als „juristischen Paradigmen- aus, diese Entwicklung nur dem freien Markt zu überlas-
wechsel“ geadelt. sen, wie es die Bundesregierung vorschlägt.
Was müssen wir gesetzlich regeln, damit Mediation (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ein effektiver Bestandteil dieser Gesellschaft wird? Wir und bei der SPD)
müssen uns zunächst im Klaren darüber sein, wo und
Ist die Qualität der Mediation erst einmal gesichert,
(B) wie wir Mediation und andere Konfliktlösungsmethoden (D)
vorrangig verankern wollen. Wollen wir sie in den Ge- dann wird es der Justiz sicher leichter fallen, Streitfälle
richtssälen bei den Richtern oder außerhalb des Ge- an geeignete Mediatorinnen und Mediatoren nach außen
richtsverfahrens bei freiberuflichen Mediatorinnen und zu verweisen. Das hätte viele Vorteile. Die Koordina-
Mediatoren oder Beratungsstellen integrieren? tionsstellen, die schon an den Gerichten existieren,
könnten genutzt werden, um Fälle auf ihre Geeignetheit
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Warum „oder“? – hin zu überprüfen. Dort arbeiten erfahrene Richterinnen
Otto Fricke [FDP]: Wie wäre es mit „oder/ und Richter, die Mediationsfälle bearbeitet haben. Ein
und“?) ähnliches Modell kennen wir aus den Niederlanden.
In dem Gesetzentwurf werden beide Modelle definiert. Auch dort werden häufig Mediationsfälle in die freie
Die Begrifflichkeit orientiert sich aber am Wort „Ge- Mediation verwiesen.
richt“, indem von außergerichtlicher, gerichtsnaher und
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Das ist doch
gerichtsinterner Mediation ausgegangen wird. Die ge-
auch heute schon möglich!)
richtsinterne Mediation wird dabei durch Kostenfreiheit
privilegiert. Für die Mediatorinnen und Mediatoren bestünde ein An-
reiz, an dem Projekt mitzuwirken. Wir könnten die Mit-
Meine Damen und Herren, das Mediationsverfahren
wirkung auch mit der Verpflichtung zu einer Evaluation
gewinnt seine Wirksamkeit durch Eigenverantwortlich-
verbinden. Es entstünde ein positiver Kreislauf: Wir
keit der Parteien und durch die Gesprächsleitung eines
könnten die Gerichte effektiv entlasten, die außergericht-
allparteilichen Mediators. In den Sitzungen können die
liche Mediation würde in Anspruch genommen, die
Parteien ihre Interessen und Bedürfnisse im direkten Ge-
Konfliktlösungen würden immer nachhaltiger, und die
spräch selbst herausarbeiten. Normalerweise dauert ein
Gerichte würden weiter entlastet.
Mediationsverfahren zwischen drei und acht Sitzungen à
1,5 Stunden. Es erstreckt sich über mehrere Wochen, Das führt mich zu dem letzten Schritt, den wir aus
und am Ende kann eine gültige, von allen Parteien unter- meiner Sicht gehen müssen: die Einführung einer Media-
zeichnete Vereinbarung stehen. tionskostenhilfe. Das würde Mediation unabhängig vom
Einkommen ermöglichen und durch die Anbindung an
Wie stellt sich der Vergleich zwischen richterlicher
die Gerichte die notwendige Qualitätssicherung bieten.
und außergerichtlicher Mediation dar? Der Richterberuf
Die Bundesregierung führt immer wieder an, das sei
ist aufgrund hoher Fallzahlen und gekürzter Richterstel-
nicht finanzierbar und falle in die Länderzuständigkeit.
len durch einen enormen Zeit- und Erfolgsdruck geprägt.
Wir wissen aber, dass zum Beispiel ein streitiges Fami-
(Otto Fricke [FDP]: Böse Länder!) liengerichtsverfahren mit Regelungen zum Sorgerecht,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12059
Ingrid Hönlinger
(A) zum Umgang und zum Unterhalt sehr viel Zeit, Geld und keit nicht dabei ist, kann vielleicht noch überprüft wer- (C)
Nerven kostet. Ich denke, auch die Bundesländer sollten den. Dass beispielsweise ausdrücklich das Markengesetz
ernsthaft darüber nachdenken, zumindest in Modellpro- genannt ist, finde ich durchaus mutig, weil in diesem
jekten eine Mediationskostenhilfe einzuführen; denn die Rechtsbereich, in dem es häufig um hohe Streitwerte
Mediation würde mit Sicherheit auch die Justizhaushalte und wettbewerbsrechtliche Bezüge geht, oft um jeden
entlasten. Quadratmillimeter gekämpft wird. Aber immerhin: Wir
haben einen sehr breiten Anwendungsbereich. Das zeigt,
(Otto Fricke [FDP]: Das können ja die Rot- dass es völlig ausreichend ist, wenn sich die Europäische
Grünen machen!) Union mit Mindestharmonisierung befasst. Wir sind
Aus unserer Sicht ist der Gesetzentwurf leider in der selbst in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen, das Wei-
aktuellen Form nicht ausgewogen genug. Deswegen tere in eigener Zuständigkeit zu regeln. Wir brauchen in
können wir ihm in dieser Form nicht zustimmen. diesem Bereich keine Vollharmonisierung.
Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Gesetzentwurf soll zunächst einmal das Bewusst-
sowie bei Abgeordneten der SPD) sein für die Möglichkeiten schaffen, Konflikte im Ein-
vernehmen beizulegen. Dazu soll schon in der Klage-
Vizepräsidentin Petra Pau:
schrift erklärt werden, ob der Versuch einer Mediation
oder eines anderen Verfahrens zur außergerichtlichen
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Silberhorn das
Konfliktbeilegung unternommen worden ist oder ob
Wort.
Gründe entgegenstehen. Diese Verfahren der Mediation
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind bei rechtsuchenden Bürgern noch nicht sehr stark
neten der FDP) verankert. Ich denke, das Gesetz wird einen Beitrag dazu
leisten.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Die streitenden Parteien sollen im Rahmen der Me-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diation eigenverantwortlich zu einer Einigung über ihre
Streitigkeit gelangen. Das setzt voraus, dass dieses Ver-
Eine zunächst streitige Problemlage durch eine ein-
fahren in einem vertraulichen Rahmen geführt werden
verständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in ei-
kann. Zu diesem Zweck ist es richtig, genauso eine Ver-
nem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig ge-
schwiegenheitspflicht des Mediators zu vereinbaren wie
genüber einer richterlichen Streitentscheidung.
ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht zu geben. Wir soll-
(B) Das schrieb das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007. ten vielleicht noch einmal die Frage, die an uns von vie- (D)
In der Tat führen streitige Verfahren zwar zur Klärung len Seiten herangetragen worden ist, aufwerfen, inwie-
einer Rechtsfrage, aber nicht notwendig zu einer hinrei- weit ein Beweisverwertungsverbot realisiert werden
chenden Befriedung der Parteien. Das mag daran liegen, kann. Das wird nicht ganz einfach; aber das Anliegen, in
dass unsere Zivilverfahren stark formalisiert sind und einem solchen Verfahren die Vertraulichkeit zu wahren
auch in materieller Hinsicht unser Zivilrecht schrecklich und als Partei eines Mediationsverfahrens nicht in einem
logisch ist. Jeder Student lernt in seiner ersten Stunde Zi- streitigen Gerichtsverfahren zu scheitern, müssen wir
vilrecht, die Frage zu beantworten, wer von vom was ernst nehmen.
woraus verlangen kann. Wer diese Frage stellt, wird in
Die Vollstreckbarkeit der Vereinbarungen soll erleich-
unserem Zivilrecht eine Antwort finden. Allerdings ist
tert werden. Ob das auf die Zustimmung der Gerichte
die Wirklichkeit oft so komplex, dass es mit der Beant-
stößt, werden wir nochmals diskutieren können. Gerade
wortung dieser Frage allein nicht getan ist. So können
im außergerichtlichen Mediationsverfahren ist es nicht
ordentliche Gerichtsverfahren oft wenig Rücksicht auf
ganz einfach, zur Vollstreckbarkeit zu kommen. Aber
die Ursachen einer Streitigkeit und auf die Befindlich-
hier ist ein sinnvoller Ansatz gewählt.
keiten der Parteien nehmen.
Ich begrüße ebenfalls, dass wir die gerichtsinterne
In diesem Zusammenhang begrüße ich es, dass wir
Mediation hier regeln. Die Frage, ob man dadurch tat-
nun die Mediation in allen Formen – außergerichtlich,
sächlich zu einer Entlastung der Gerichte und zu effizi-
gerichtlich und gerichtsnah – auf eine neue rechtliche
enteren Verfahren kommen kann, wird sich den Bundes-
Grundlage stellen. Wir setzen damit zugleich die EG-
ländern selbst stellen und auch von diesen zu
Richtlinie über bestimmte Aspekte der Mediation in Zi-
beantworten sein. Es ist von unserer Seite aus richtig,
vil- und Handelssachen um, eine Richtlinie, die sich zu
den Ländern diese Möglichkeit an die Hand zu geben.
Recht auf grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil-
Ich denke, wir können den Bundesländern selbst über-
und Handelssachen beschränkt.
lassen, ob sie der Meinung sind, dass dieses Verfahren
In Deutschland finden sich bislang Regelungen zu für sie eine Effizienzsteigerung und Erleichterung ist
konsensualen Konfliktlösungen nur vereinzelt, beispiels- oder ob nicht durch den höheren Zeitaufwand oder hö-
weise im Familienrecht und im Rahmen der Gütever- here Kosten auch höhere Belastungen entstehen.
handlungen in Zivilrechtsstreitigkeiten. Wir stellen das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nun auf eine deutlich breitere Grundlage. Der Anwen-
dungsbereich des Mediationsgesetzes wird nahezu alle Das Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist aber insbe-
Rechtsgebiete erfassen. Weshalb die Finanzgerichtsbar- sondere, die Möglichkeiten der außergerichtlichen
12060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Thomas Silberhorn
(A) Mediation zu erweitern. Die gerichtsinterne Mediation Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
findet nun schon seit geraumer Zeit, wenn auch erpro- Ich schließe die Aussprache.
bungsweise, mit Erfolg statt. Die Frage, ob hinreichende
Anreize bestehen, zu einer außergerichtlichen Media- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
tion zu kommen, müssen wir uns noch einmal vorlegen. wurfs auf den Drucksachen 17/5335 und 17/5496 an den
Es ist jedenfalls ernst zu nehmen, wenn viele sagen, Rechtsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-
dass die Kostentragungspflicht der Parteien im außerge- tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
richtlichen Mediationsverfahren ein Wettbewerbsnach- Überweisung so beschlossen.
teil sein kann. Dieser Wettbewerbsnachteil darf jeden- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
falls nicht so weit gehen, dass er prohibitiv wirkt und die
Parteien überhaupt nicht die Möglichkeit der Mediation Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
in Anspruch nehmen. Die Vorschläge, eine Gebührenan- Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
rechnung auf streitige Gerichtsverfahren zu erwägen, Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
können wir im Rahmen des parlamentarischen Verfah- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rens überdenken.
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deswehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-
luation verbessern
Die Ausbildung der Mediatoren ist schon angespro-
chen worden. Nach dem Gesetzentwurf wird die Aus- – Drucksache 17/5099 –
und Fortbildung in die Verantwortung des Mediators ge- Überweisungsvorschlag:
legt. Das, Frau Bundesministerin, ist in der Tat mutig. Auswärtiger Ausschuss (f)
Wir könnten uns durchaus vorstellen, die Entwicklung Innenausschuss
von Mindeststandards zu erwägen, wie sie von verschie- Rechtsausschuss
dener Seite an uns herangetragen werden. Ich jedenfalls Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
teile das Anliegen, das hier schon mehrfach vorgetragen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
worden ist. Wir reden hier nicht über eine esoterische Entwicklung
Veranstaltung, sondern über die Beilegung von Rechts-
streitigkeiten. In diesem Zusammenhang muss die Qua- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
litätssicherung ein wichtiger Punkt sein. Ich weise aller- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dings auch darauf hin, dass beispielsweise der Deutsche keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Anwaltverein davon ausgeht, diese Qualitätssicherung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
werde sich schon einstellen – nach dem Motto: Qualität gin Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(B) setzt sich durch. Das mag durchaus so sein; aber dann (D)
sollten wir auch die Frage beantworten, wie es mit der
Haftung der Mediatoren steht. Wenn wir es weitgehend Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
in die Verantwortung der Mediatoren stellen, mit wel- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
cher Ausbildung und mit welcher Erfahrung sie diese Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Aufgabe übernehmen, dann muss auch sichergestellt Das bedeutet für uns Parlamentarier eine enorme Verant-
sein, dass bei einer mangelnden Beratung der Mediator wortung. Ich weiß, dass nicht nur bei uns Grünen vor je-
für das haftet, was er zwischen den Parteien vermittelt; dem neuen Einsatz und vor jeder Verlängerung eines
Einsatzes schwierige Debatten stattfinden, um dieser
(Otto Fricke [FDP]: Also Haftpflicht!) Verantwortung gerecht zu werden.
denn es kann am Ende nicht der rechtsuchende Bürger Grundlage für unsere persönliche Gewissensentschei-
darunter leiden, dass er mangelhaft beraten wird. Es be- dung sind die Informationen, die uns die Bundesregie-
steht also ein Zusammenhang: Wenn man die Ausbil- rung zukommen lässt. Die Qualität dieser Informationen
dung weitgehend freistellt, dann muss man die Frage der ist allerdings in Anbetracht der Tragweite unserer Ent-
Haftung beantworten. scheidungen in vielerlei Hinsicht unbefriedigend.
Ich bin auch der Auffassung, dass rechtsberatende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Berufe immer für Mediation infrage kommen; denn die-
ses Verfahren zur Streitbeilegung ist ein Bestandteil der Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine deutlich
Rechtspflege. Deshalb ist es wichtig, dass Parteien, die verbesserte Unterrichtungs- und Evaluationspraxis sei-
eine Vereinbarung treffen, nicht nur in Kenntnis der tens der Bundesregierung einfordern.
Sachlage, sondern auch in Kenntnis der Rechtslage han-
deln. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz legt fest, dass die
Bundesregierung den Bundestag regelmäßig unterrich-
Wir haben also viel Potenzial für konsensuale Streit- tet. In der Gesetzesbegründung heißt es: Es soll über
beilegungen in Deutschland. Dieser Gesetzentwurf ist vorbereitende Maßnahmen, Planungen und den Verlauf
ein guter Grundstein dafür. Wir sollten die offenen Fra- von Einsätzen sowie Entwicklungen im Einsatzland be-
gen in einem guten Miteinander im parlamentarischen richtet werden. Jährlich und nach Abschluss der Einsätze
Verfahren beraten. ist ein Evaluationsbericht vorzulegen. In Ausnahmefäl-
Vielen Dank. len findet die Unterrichtung über die Obleute statt. – Die
tatsächliche Praxis der Unterrichtung wird diesem An-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) spruch nicht gerecht. Die wöchentliche Aufzählung von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12061
Katja Keul
(A) lagerelevanten Vorfällen im Verteidigungsausschuss ist nicht im Sinne einer transparenten parlamentarischen (C)
kann eine Analyse der Entwicklungen nicht ersetzen. Kontrolle.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan 2010
war der erste seiner Art, obwohl der Einsatz schon neun Überall, wo es irgendwie möglich ist, sollte das Parla-
Jahre andauerte und meine Fraktion einen solchen Be- ment als Ganzes über den Verlauf der Einsätze schrift-
richt seit Jahren immer wieder angefordert hatte. lich und öffentlich informiert werden; denn wer Verant-
wortung übernehmen soll, ist auf eine qualifizierte
(Zuruf von der FDP: Wir machen es endlich!) Unterrichtung angewiesen.
Wir wollen aber nicht nur vergangene Einsätze aus- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
werten, sondern auch konkrete Kriterien für zukünftige
Einsätze ermitteln. Oft geht es in der parlamentarischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
und öffentlichen Debatte um die Frage der völkerrechtli- des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])
chen Legitimität, aber viel zu selten um die Frage der
Wirksamkeit militärischer Mittel. Dabei ist völkerrecht- Vizepräsidentin Petra Pau:
liche Legitimität zweifelsohne eine erforderliche, nicht
Der Kollege Kiesewetter hat für die Unionsfraktion
aber eine hinreichende Voraussetzung für einen Militär-
das Wort.
einsatz.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ob ein Militäreinsatz erfolgreich ist oder nicht, kann nur Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
dann bestimmt werden, wenn ein konkretes Ziel gesetzt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
wurde. An der Erreichung dieses Ziels müssen sich dann Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
die eingesetzten Mittel messen lassen. Keul, Sie fordern in Ihrem Antrag eine andere, eine um-
Ich denke, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass fassendere Berichterstattung gegenüber dem Parlament.
in Afghanistan viele Fehler gemacht worden sind. Daher Ich möchte Ihnen einmal kurz darstellen, wie sich die
ist es auch so wichtig, aus diesen Fehlern zu lernen. Berichterstattung in den letzten zehn Jahren entwickelt
hat. Im Jahr 2000 hat Ihre Fraktion verlangt, dass der
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kosovo-Einsatz nicht mehr jährlich mandatiert wird, um
GRÜNEN]: Sehr richtig!) jährliche namentliche Abstimmungen im Rahmen eines (D)
(B)
Beschlusses zu vermeiden.
2001 sind die Bündnispartner aus lauter Solidarität in ei-
nen gemeinsamen Einsatz gegangen, ohne zuvor ein ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
meinsames Ziel zu definieren und sich darüber einig zu GRÜNEN]: Was?)
werden, mit welchen Mitteln man das Ziel erreichen
will. Jeder hat das gemacht, was er gerade konnte oder Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die erreicht
für sinnvoll hielt, bis klar war, dass keine Strategie die hat, dass gerade beim Kosovo-Einsatz eine jährliche
schlechteste Strategie war. Trotz dieser Erfahrung haben Mandatierung erfolgt. Wir haben uns damals für die
sich die Bündnispartner auch hinsichtlich der Flugver- Rechte des Parlaments eingesetzt.
botszone über Libyen wieder einmal nicht auf gemein- Ich möchte noch einen anderen Punkt erwähnen. Es
same Ziele einigen können. kommt darauf an, wie die Mandate formuliert sind. Es
Wir fordern also mit unserem Antrag klare Prüfkrite- war im Jahr 2003, als Außenminister Fischer sich recht-
rien für Auslandseinsätze und aussagekräftige Fort- fertigen musste, weil die Mandatsformulierung damals
schrittsberichte inklusive der Auswertung ziviler Maß- so zweideutig war, dass Drogenbekämpfung eine Auf-
nahmen. gabe der Bundeswehr hätte sein können. Das haben wir
mit einer aufwendigen Protokollerklärung verhindert. –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Zeiten sind vorbei. Ich freue mich, dass Sie den
Evaluierungsbericht Afghanistan angesprochen haben.
Dazu ist es aber auch erforderlich, Geheimhaltung auf Wir machen Fortschritte. Das ist auch ein Verdienst die-
das zu beschränken, was wirklich geheimhaltungsbe- ses Parlaments.
dürftig ist. Es ist nachvollziehbar, dass in sicherheitsrele-
vanten Bereichen eine vertrauliche Einstufung notwen- Ich möchte kurz auf Ihre Kritik an den Berichtspflich-
dig sein kann. Dafür gibt es aber im Wesentlichen nur ten eingehen. Die Berichtspflichten haben natürlich auch
zwei relevante Gründe: der Schutz involvierter Personen – Sie haben es angesprochen – Geheimhaltungsschutz-
und der laufender Operationen. In der Praxis sieht es lei- gründe. Es geht ebenfalls darum, dass das jetzige Obleu-
der so aus, dass jeder, der einen Bericht schreibt, selbst teverfahren eingehalten wird. Wenn es gewünscht wird,
über die Einstufung dieses Berichts entscheidet und an- kann ich nachher gerne einzelne Obleuteinformationen,
schließend niemand mehr prüft, ob das eigentlich wirk- insbesondere was Spezialkräfte angeht, darlegen. Offen-
lich erforderlich war. Am Ende werden dann nur noch sichtlich ist es nur Ihr Wunsch, entsprechende Informati-
die Obleute geheim unterrichtet, die dann nicht einmal onen über den Einsatz der Spezialkräfte zu erhalten.
mehr ihre Ausschusskollegen informieren dürfen. Das Dazu aber haben Sie Ihre Obleute.
12062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Roderich Kiesewetter
(A) Ich möchte auf das eigentliche Thema, den Kriterien- che nichtmilitärischen Maßnahmen bzw. Maßnahmen (C)
katalog, eingehen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns der zivilen Krisenprävention werden zur politischen Lö-
darüber unterhalten, was die Prüfsteine für einen Aus- sung des Konflikts ergriffen, und ist die Wahl der Mittel
landseinsatz sind. Grundsätzlich gilt für uns, die CDU/ verhältnismäßig?
CSU-Fraktion, dass jeder Einsatz seine politische und
militärische Besonderheit hat. Ich möchte fast sagen: Je- Sechster Baustein: Welche Risiken bestehen für die
der Einsatz hat seine eigene Geografie. Die sachlichen Einsatzkräfte? Wir haben nicht nur die Verantwortung
und politischen Ausgangslagen sind unterschiedlich. Ein für die Umsetzung der politischen Ziele, liebe Kollegin-
Schema eines Kriterienkatalogs entspricht nicht dem nen und Kollegen; wir haben auch eine Verantwortung
Grundsatz, dass jeder einzelne Einsatz eine besondere si- gegenüber den Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbau-
cherheitspolitische Herausforderung ist und es damit helfern, die wir in die Einsätze schicken. Welche Risiken
auch spezieller sicherheitspolitischer Lösungsansätze bestehen für sie, und wie können sie begrenzt werden?
bedarf. Ich sage auch ganz offen: Der außenpolitische Siebter Baustein. Damit spreche ich die öffentliche
Handlungsspielraum muss erhalten bleiben. Deswegen Kommunikation an. Dabei geht es um die Stichworte
müssen wir jeden Einzelfall konkret prüfen. Wir brau- „Überforderung, politisch wie finanziell“ und „Kommu-
chen Ermessensspielräume. Ich nehme einfach einmal nikationsbedarf“. Wir müssen auch darüber nachdenken,
das Beispiel „Responsibility to Protect“. Wäre dies ein wie weit unsere Einsätze gehen können. Was können wir
maßgebliches Kriterium für die Beteiligung an Auslands- uns leisten? Vor allen Dingen – damit schlage ich den
einsätzen, müssten wir tatsächlich überall dort interve- Bogen zur Evaluierung –: Welche Lektionen lernen wir
nieren, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Dies aus den Einsätzen?
würde zu einer Überforderung nicht nur unserer Streit-
kräfte, sondern auch unserer Gesellschaft führen. Somit sind diese sieben Bausteine nicht als Checkliste
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu verstehen. Mein Kollege Reinhard Brandl wird noch
einen anderen Gesichtspunkt einbringen. Wenn Sie von
Ich möchte einen Bogen schlagen. Natürlich kann ein den Streitkräften sprechen, so sprechen wir auch von der
Kriterienkatalog hilfreich sein; er kann Orientierung ge- Verantwortung des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin
ben. Dem ist auch unsere Fraktion nachgekommen. Ich in Uniform. Das ist auch eine verantwortungsethische
verweise darauf, dass Herr Schockenhoff im Jahr 2006 Frage, auf die wir nachher eingehen werden.
einen Zehnpunktekatalog vorgelegt hat. Ich möchte sie-
ben Bausteine nennen, die für unsere Debatte ganz hilf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
reich sind. neten der FDP)
(B) Erster Baustein: völkerrechtlicher Rahmen. Liegt ein Auf jeden Fall muss über jeden Einsatz neu entschieden (D)
Mandat der Vereinten Nationen vor? Ist es ein Einsatz im werden.
Rahmen der kollektiven oder der Selbstverteidigung? Ist
es ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen? Sie fordern in dem Zusammenhang einen Gesamtbe-
richt unabhängiger Experten. Ich sage ganz offen: Si-
Zweiter Baustein: das politische Ziel. Frau Keul, Sie cherheitspolitik kann man nicht outsourcen. Wir, das
haben vorhin zu Recht gefragt: Was ist die Exit-Strate- Parlament, haben die Verantwortung. Wir können uns
gie? Was ist das Ziel eines Einsatzes? Wie realistisch ist natürlich Expertise ins Haus holen – wir haben auch
der Einsatz? Unter welchen Voraussetzungen und in wel- schon viele Anhörungen durchgeführt –, aber ich warne
chem Zeitraum kann der Einsatz erfolgreich beendet davor, dass wir als Parlament unsere Verantwortung ab-
werden? Für uns Deutsche ist besonders wichtig: Mit geben. Wir müssen dazu stehen und dürfen nicht sagen:
welchen Partnern gehen wir in den Einsatz? Die Wissenschaftler haben uns das empfohlen.
Dritter Baustein: deutsche Interessen. Sind durch den Allerdings – ich komme zum Schluss – ist Ihr Antrag
Konflikt deutsche Interessen betroffen? Ein deutsches in einem Punkt hilfreich, und das ist der bilanzierende
Interesse ist immer, abgesehen von der Evakuierung Gesamtbericht. Wir als Union haben im letzten Jahr
deutscher Staatsbürger, die Aufrechterhaltung des Prin- selbst gefordert – das waren einige Kollegen von mir
zips „Keine Alleingänge“. Es gibt keine deutschen Son- und auch ich –, dass die Unterrichtung des Parlaments
derwege bei Auslandseinsätzen. Sind die Einsatzregeln umfassender geschieht, dass vielleicht ein Ministerium
so gestaltet, dass unsere Interessen und auch das politi- federführend beauftragt wird, aber dass wir ganzheitli-
sche Ziel umsetzbar sind? In dem Zusammenhang cher informiert werden, aus entwicklungspolitischer
nehme ich noch einmal den Gedanken einer nationalen Sicht, aus wirtschaftlicher Sicht und natürlich – das ist
Sicherheitsstrategie auf, den unsere Fraktion im Jahr bisher auch immer sehr gut geschehen – aus verteidi-
2008 sehr deutlich formuliert hat. gungspolitischer Sicht. Das halte ich für ganz entschei-
Vierter Baustein: Was sind die Konsequenzen eines dend.
Einsatzes oder Nichteinsatzes? Welche Folgen hat es,
Diesen Punkt aus Ihrem Antrag können wir mittragen,
wenn wir nicht eingreifen? Wie bedeutsam ist unser
aber die anderen Punkte aus nachvollziehbaren Gründen
deutscher Beitrag zum Gelingen einer Mission? – Das
nicht. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Wir
sind Fragen, die wir uns auch aktuell stellen.
sind aber offen für Vorschläge, wie wir die Unterrich-
Fünfter Baustein: die zivile Krisenprävention. Frau tung des Parlaments verbessern können. Das ist die Auf-
Keul, Sie haben den Punkt zu Recht angesprochen. Wel- fassung und Erwartung der Union. Aber es gilt: Sicher-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12063
Roderich Kiesewetter
(A) heitspolitik kann man nicht outsourcen und auch nicht Bisher haben wir die Verpflichtung zur umfassenden (C)
katalogisieren. Information. Wir haben die Verpflichtung, über Einsätze
schon im Stadium der Vorplanung zu diskutieren. Aktu-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ell besteht das Problem: Welche Libyen-Einsätze werden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von wem mit welcher Legitimation wo vorbereitet?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Vizepräsidentin Petra Pau: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat der Kollege Groschek für die SPD-Frak-
tion. Das ist ein Hinweis darauf, dass aktuell Defizite festzu-
stellen sind. Wir haben Informationspflichten in Bezug
auf den jeweiligen Verlauf, und wir haben Informations-
Michael Groschek (SPD): pflichten im Rahmen einer Jahresbilanz. Ich glaube,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich diese bilanzierenden Berichte sind ein Pferdefuß; sie
glaube, Herr Kiesewetter hat mit dem letzten Punkt ei- werden noch nicht hinreichend praktiziert, und es be-
nen Hinweis darauf gegeben, wo die Schwachstelle beim steht großer Nachholbedarf.
Antrag der Grünen ist. Bei der Überschrift fängt es an.
Die Prüfkriterien für einen Einsatz erinnern doch zu Die formale Obleuteunterrichtung ist in Ordnung,
stark an eine Katalogisierung, bei der es dann nach dem aber sie kann nicht reichen. Die Parlamentsarmee ist ein
Motto geht: Wenn acht von zehn Punkten gegeben sind, Verfassungsgebot, und sie ist unteilbar. Es gibt keine Ar-
dann ja; wenn es sieben und weniger sind, dann nein. mee in der Armee und schon gar keine Armee neben der
Armee. Deshalb ist auch die KSK integraler Bestandteil
(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dieser Parlamentsarmee und entsprechend in ihrem Tun
NEN]: So ein Quatsch!)
und Handeln rechenschaftspflichtig. Wir sind rechen-
Darüber besteht bei uns noch Diskussionsbedarf. An- schaftspflichtig, was die Wahrnehmung unserer Verant-
sonsten finden wir den Antrag wichtig und richtig, was wortung gerade bei diesen Einsätzen angeht.
die Verdichtung und die wachsende Transparenz von In-
formationen angeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich komme auf einen Punkt zu sprechen, bei dem wir
uns, zumindest wir aus dem Verteidigungsausschuss, an Das heißt aber auch, dass wir mit dieser Verantwor-
die eigene Nase fassen müssen. Ich sehe den Herrn tung sorgfältig umgehen müssen.
Staatssekretär Kossendey und habe seine wiederholten
Mahnungen im Ohr, dass sich der Ausschuss doch bitte Vizepräsidentin Petra Pau:
(B) einmal intensiv und zeitlich angemessen mit dem Stich- Kollege Groschek, gestatten Sie eine Frage des Kolle- (D)
wort „Atalanta“ befasst. Der Bitte ist der Ausschuss bis- gen Ströbele?
lang nur rhetorisch nickend, aber nicht de facto gefolgt.
Zur Wahrheit gehört, glaube ich, nicht nur die Informa- Michael Groschek (SPD):
tionspflicht der Bundesregierung, die in ihren Defiziten
Bitte.
hier richtig beschrieben ist, sondern auch das politische
Management von Ausschussdiskussionen, um unserer
Verantwortung auf der anderen Seite gerecht zu werden. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
Wenn wir die Diskussionskultur so beleben, kommen GRÜNEN):
wir ein ganzes Stück weiter. Danke, Herr Kollege. – Da Sie gerade bei dieser
Frage sind: Ich hatte nachgeschaut, seit wann der Kol-
Jetzt konkret zum Antrag. Jeder Einsatz ist ein Uni- lege Kiesewetter Mitglied dieses Hauses ist und ob er
kat. Das muss man bei den Einsätzen berücksichtigen.
das wissen kann; aber er kann es offenbar nicht wissen:
Man kann eine Zustimmung nicht nach Schema F geben.
Die Verantwortung bezieht sich auf das ganze Parla-
Ich komme zum Schluss noch auf eine andere Perspek-
ment, nicht auf einen Ausschuss und schon gar nicht auf
tive zu sprechen, mit der man das Problem lösen kann.
Die Problembeschreibung wurde auch schon im Antrag die Obleute eines Ausschusses. Deshalb muss auch das
gegeben. ganze Parlament über alle Einsätze informiert werden.

Ich finde, Herr Kiesewetter, Sie haben zu Unrecht auf (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Ist das
Rot-Grün gezeigt, nach dem Motto: Da war die CDU eine Zwischenfrage an mich, oder? – Heiter-
schon weiter, angefangen beim Kosovo. – Ich denke, es keit bei der CDU/CSU)
war schon eine gemeinsame Leistung, sich nach der Ver-
einigung in einem sehr schwierigen Prozess des Lear- Michael Groschek (SPD):
ning by Doing in der neuen Rolle gesteigerter Verant- Billard!
wortung zurechtzufinden und diese zu praktizieren.
Dann wurde ein Gesetz über die parlamentarische Betei- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
ligung auf den Weg gebracht. Damit haben wir seit 2005 GRÜNEN):
eine klare gesetzliche Grundlage, wie ein Beschluss mit
Die Frage kommt jetzt. – Ist Ihnen bekannt, dass das
Parlamentsbeteiligung zu fassen ist. Auf dieses Gesetz
Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus-
und auf unsere Erfahrungen können wir uns stützen.
drücklich festgestellt hat, dass „Parlamentsarmee“ heißt:
(Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Richtig!) eine dem gesamten Parlament verantwortliche Armee
12064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Hans-Christian Ströbele
(A) – das bedeutet, dass das gesamte Parlament informiert Das zeigt, dass wir ganz dringend eine Agenda der ver- (C)
werden muss –, und dass es nicht der Entscheidung des netzten Sicherheitspolitik brauchen, die dann Grundlage
Bundesverfassungsgerichts entspricht, wenn die jetzige für eine gemeinsame Formulierung sicherheitspoliti-
Bundesregierung irrtümlicherweise meint, dass sie, scher Schritte sein kann. Das ist der entscheidende
wenn sie einzelne Leute wie zum Beispiel Obleute infor- Punkt. Kollege Kiesewetter, Ihre Schlussbemerkung
miert hat, ihrer Informationspflicht ausreichend nachge- zielt in diese Richtung. Ich würde mich freuen, wenn wir
kommen ist? in den Ausschussdiskussionen über eine sicherheitspoli-
tische Agenda einen Verständigungsprozess organisieren
könnten, wie er auch in manch anderen Bereichen mög-
Michael Groschek (SPD): lich geworden ist.
Kollege Ströbele, da kann ich Ihnen nur antworten:
Ja. Im Übrigen teile ich Ihre Einschätzung, dass die Ich will mir einen Hinweis noch erlauben. Bei den
Obleuteunterrichtung im Sinne dieser Rechtsprechung Bausteinen und Kriterien für eine denkbare Einsatzori-
nicht ausreichend ist. entierung haben Sie ein wesentliches Merkmal verges-
sen, das aber unter anderem bei der Stimmenthaltung im
Ich komme zum Antrag zurück. Ich war bei dem Sicherheitsrat eine Rolle zu spielen schien. Das war der
Stichwort „wechselseitige Verantwortung“. Die Solda- Hinweis darauf, dass wir nicht nur eine Verantwortung
tinnen und Soldaten des KSK tragen ganz besondere Ri- gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in den
siken. Sie sind bei ihren Einsätzen unmittelbar mit tödli- Einsatz schicken, haben, sondern dass wir auch eine ge-
cher Bedrohung konfrontiert. Deshalb haben wir die meinsame Verantwortung für die potenziellen Opfer ei-
große Verantwortung, bei dem Bedürfnis, den gläsernen ner solchen Auseinandersetzung tragen, gleich welcher
Soldaten zu schaffen, Grenzen zu ziehen und zu akzep- Herkunft und unabhängig davon, ob sie in Uniform oder
tieren. Die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten kann in Zivil im Rahmen eines solchen Einsatzes sterben.
nicht in Kompromissen zwischen Opposition und Regie- Man muss sich daher fragen, wie adäquat der Mittelein-
rung verhandelt werden. Da muss man Fingerspitzenge- satz ist, wenn es gilt, Soldatinnen und Soldaten in den
fühl haben. Deshalb sagen wir Ja; aber nach Einsätzen Einsatz zu schicken.
müssen die Grundzüge im Parlament evaluierbar und Frau Keul, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-
kritisierbar sein, um im Zweifel Konsequenzen für künf- nen, wir hoffen, dass wir diesen Punkt in einem Diskus-
tige Einsätze ziehen und im Rahmen parlamentarischer sionsprozess auflösen können. Wir teilen Ihr Bedürfnis
Verantwortung korrigierend eingreifen zu können. Ich nach dichterer und transparenterer Information und ap-
habe Soldatinnen und Soldaten so kennengelernt, dass pellieren an uns Parlamentarier, die Informationspflich-
sie gesagt haben: Die Parlamentsverantwortung ist ein ten wahrzunehmen. Wir hoffen, dass wir beim Formulie-
(B) hohes Gut. Seitdem es gefährliche Auslandseinsätze (D)
ren einer sicherheitspolitischen Agenda einen Schritt
gibt, wissen wir, wie wichtig die Verantwortung des Par- nach vorne kommen; denn sie fehlt an allen Ecken und
lamentes für uns im Einsatz ist. – Wir haben daher eine Kanten.
Verpflichtung, dieser Verantwortung auch durch das Ein-
fordern neuer Informationsqualitäten bestmöglich nach- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zukommen. DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Punkt zwei, der uns wie das Einfor- Vizepräsidentin Petra Pau:
dern eines Kriterienkatalogs vorkommt. Wir sagen: Das Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion
macht keinen Sinn. Wenn man den Punkt zwei mit dem das Wort.
Punkt drei zusammennimmt, dann wird das eigentliche
Problem deutlich, das Sie mit diesen Instrumenten hilfs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
weise lösen wollen. Unser gemeinsames Problem ist das
Fehlen einer aktualisierbaren sicherheitspolitischen Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP):
Agenda. Es gibt viel Stückwerk und Schubladen neben- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
einander. Wir leiden manchmal eher an zu viel parallel Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmigung neuer
laufender schriftlicher als an systematischer und zielge- Auslandsmandate – das ist vorhin schon von allen Red-
richteter Unterrichtung. Deshalb muss es unser gemein- nern gesagt worden – oder eine Einsatzverlängerung
sames Interesse sein, eine sicherheitspolitische Agenda, liegt nicht in der Hand der Regierung. Nein, die Ent-
nationale Interessen beachtend, zu schaffen und in eine scheidung, deutsche Soldaten in Auslandseinsätze zu
europäische sowie in eine Bündnisperspektive – Stich- schicken, muss vom Parlament getroffen werden.
wort „NATO“ – einzubetten.
Die Parlamentsarmee ist deshalb ein starkes Symbol
Es gibt viele aktuelle Hinweise, die genau dieses De- für die demokratische Willensbildung und zeigt den gro-
fizit belegen: angefangen von der Bundeswehrreform, ßen Einfluss des deutschen Parlaments. Dieses Privileg
die ohne eine konzeptionelle Einbettung gestartet wurde, ist natürlich nicht nur mit Rechten, sondern auch mit
bis hin zu der Diskussion über Libyen. Die Enthaltung Verpflichtungen verbunden. Dabei sind wir uns selbst-
im Sicherheitsrat ist strategisch überhaupt nicht einzu- verständlich der großen Verantwortung bewusst, die mit
ordnen, sondern sie erscheint wie ein Zufallsprodukt. dem Parlamentsbeteiligungsgesetz einhergeht. Die Grund-
voraussetzung für eine gewissenhafte Entscheidung ist
(Beifall bei der SPD) die sehr gute Versorgung mit Informationen, Informatio-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12065
Dr. Bijan Djir-Sarai
(A) nen zu Situationen im Einsatzgebiet, Informationen zum An dieser Stelle haben Dritte keine Legitimation zu er- (C)
Zweck des Einsatzes oder zur Einsatzgestaltung. warten. Hier darf und wird keine Ausgliederung der Ver-
antwortung stattfinden; mein Kollege hat das vorhin ge-
Jede einzelne Einsatzentscheidung muss im Vorfeld
sagt.
genauestens analysiert werden. Aus diesem Grunde ver-
sorgt uns die Bundesregierung auf vielfältige Weise mit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den wichtigsten Informationen dazu. Die Bundesregie-
rung fokussiert in der wöchentlichen Ausgabe der „Un- Sicherheitspolitik kann nicht ausgegliedert werden.
terrichtung des Parlaments“ eine zeitnahe Unterrichtung Ich kann zusammenfassend sagen: Einige der Forde-
zu den laufenden Bundeswehreinsätzen. Damit wird al- rungen der Antragsteller erfüllt die Bundesregierung be-
len interessierten Parlamentariern die Möglichkeit zur reits in hohem Maße. Die anderen Forderungen, die in
Beobachtung der verschiedenen Einsätze gegeben. Ihrem Antrag enthalten sind, können bei aller wohlge-
Ich halte den Aspekt der Aktualität für besonders meinten Intention nicht rational umgesetzt werden. Bei
wichtig. Deshalb begrüße ich die derzeitige Gestaltung allem Verständnis: Die geplante Umsetzung ist so nicht
der Unterrichtung sehr. Ein Gesamtbericht, wie er vom möglich. Der Antrag ist daher abzulehnen.
Antragsteller gefordert wurde, kann nicht im Sinne einer Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Be-
zeitnahen Erfassung der Lage sein; das haben wir bereits merkung machen. Sie haben das Thema Afghanistan und
bei anderen Diskussionen festgestellt. Der geforderte den Fortschrittsbericht angesprochen. Sie haben all die
zeitnahe Evaluierungsbericht kann auch nicht im Sinne Jahre natürlich darüber geredet, aber wir haben letztend-
einer rationalen Beurteilung des Einsatzes betrachtet lich gehandelt. Wir haben geliefert, nicht Sie.
werden.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ein Evaluierungsbericht würde höchstens dann Sinn ma-
chen, wenn er mittel- bis langfristig ausgerichtet wird.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Erfolg der meisten Einsätze der Bundeswehr lässt
Das Wort hat der Kollege Gehrcke für die Fraktion
sich nämlich erst im Laufe der Zeit erkennen; das ist die
Die Linke.
Realität.
Schon allein die Forderungen nach einem Kriterien- (Beifall bei der LINKEN)
katalog sowie nach konkreten und überprüfbaren Ziel-
vorgaben in diesem Antrag führen aufs Glatteis. Wie die Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
(B) Fachpolitiker unter uns wissen, finden sich in der Ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
schichte keine zwei exakt gleichen Auslandseinsätze Ich habe die ganze Zeit geknobelt: Wie argumentiere ich
wieder. Jeder Einsatz ist speziell und ist mit speziellen bei diesem Antrag? Ich habe bislang keinem Ausland-
Herausforderungen verbunden. seinsatz zugestimmt und habe auch nicht vor, das zu ma-
chen. Ich bin stolz darauf, dass dies nicht nur eine indivi-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten duelle Haltung ist, sondern auch die Haltung meiner
der CDU/CSU) Fraktion: Wir haben keinem Auslandseinsatz zuge-
Aus diesem Grund kann ein einzelner Kriterienkatalog stimmt und werden es auch nicht tun.
niemals die Komplexität der Situation angemessen wi- (Beifall bei der LINKEN – Roderich Kiese-
derspiegeln. Jeder Einsatz muss individuell betrachtet wetter [CDU/CSU]: Dann brauchen Sie auch
werden und darf nicht durch ein uniformes Raster gestri- keine Kriterien!)
chen werden.
– Eben. Das war ja mein Problem.
Konkrete und überprüfbare Zielvorgaben sind natür-
lich insbesondere im Militärbereich leicht aufzustellen. Im Antrag werden jetzt Prüfkriterien präsentiert. Ich
Die Frage, die sich stellt, ist jedoch: Wie sinnvoll ist ein bin trotz meiner grundsätzlichen Position, die ich gerade
solches Vorgehen? Ich bin davon überzeugt, dass das deutlich gemacht habe, dafür, dass man ernsthaft darüber
nicht sonderlich sinnvoll ist, denn alle quantifizierbaren redet. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Mich persön-
Erfolge lassen in keinem Fall Rückschlüsse auf zivilge- lich bewegen hier zwei Motive: Erstens. Ich will mit sol-
sellschaftliche Erfolge von Auslandseinsätzen zu. Der chen Prüfkriterien die Zustimmung zu Auslandseinsät-
Einfluss des Einsatzes auf die Regierungsführung, die zen der Bundeswehr schwerer, wenn nicht sogar
politische Stabilität eines Landes oder das Vertrauen der unmöglich machen. Das kann man erreichen, wenn man
Bevölkerung in eine Verbesserung der Lage können mit- es schlau anfängt. Zweitens. Ich möchte eine Kräftever-
tels der in diesem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen schiebung mit befördern, weg vom Regierungshandeln,
nicht beurteilt werden. hin zu den Parlamentsrechten. Das ist hier immer um-
stritten gewesen. Das sind die Motive, die mich bewe-
Deutlich beurteilt werden kann aber die Forderung im
gen, überhaupt ernsthaft bei dieser Frage mitzudiskutie-
Antrag nach einem unabhängigen Expertengremium. Es
ren. Man kann sich verschiedene Sachen anschauen, die
handelt sich hierbei um die Berichtsfunktion dieses Gre-
im Antrag enthalten sind.
miums. Die Aufstellung eines Mandats sowie die Beurtei-
lung und Unterrichtung über Auslandseinsätze deutscher Der erste Punkt, bei dem ich glaube, dass der Antrag
Soldaten sind ureigene Aufgaben der Bundesregierung. völlig berechtigt ist, ist folgender: Ich halte die Unter-
12066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Wolfgang Gehrcke
(A) richtung des Parlaments über die Auslandseinsätze in- Zum Schluss, liebe Kollegen der Grünen: Als ich Ih- (C)
haltlich wie formal für völlig ungenügend und nicht zu ren Antrag gelesen habe, habe ich mich an meinen Lieb-
akzeptieren. lingsroman erinnert: Die Abenteuer des braven Soldaten
Schwejk. Schwejk war entschieden dafür, dass der Krieg
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Regeln erhält. Ich bin entschieden dafür, dass der Frie-
DIE GRÜNEN) den Regeln erhält. Sie hatten einmal gute Positionen.
Auch die Sonderbehandlung, das Obleutesystem – die Wenn Sie ordentlich arbeiten und wieder darauf zurück-
Fraktionsvorsitzenden haben dem ja zugestimmt –, halte kommen, wäre das ein echter Fortschritt in diesem
ich für völlig inakzeptabel. Man erfährt nämlich über- Hause.
haupt nichts. Wir werden morgen um 7.30 Uhr wieder Danke sehr.
im U-Boot im Verteidigungsministerium sitzen. Dann
glaubt man, man hat etwas erfahren, geht raus, geht ins (Beifall bei der LINKEN)
Cafe, weil man nicht mitschreiben kann, guckt sich an,
was man erfahren hat, und stellt fest: Es stand alles Vizepräsidentin Petra Pau:
schon in der Zeitung. Die Regierung informiert nicht
vernünftig. Sie informiert nicht präzise. Das Wort hat der Kollege Dr. Brandl für die Unions-
fraktion.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte auch nicht, dass zwei Kategorien von Ab-
geordneten entstehen, Abgeordnete, die etwas erfahren, Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):
und Abgeordnete, denen etwas verschwiegen wird. Die-
jenigen, die etwas erfahren, werden sogar unter Druck Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gesetzt und dürfen noch nicht einmal ihren Kollegen in gen! Die Entscheidungen über Auslandseinsätze, die wir
den Ausschüssen mitteilen, was sie erfahren haben. Es hier in diesem Saal zu treffen haben, sind mit die
ist absurd, wenn man gefragt wird: „Wie ist es mit der schwerwiegendsten Entscheidungen, die von diesen Ab-
KSK?“, und man noch nicht einmal sagen darf, ob die da geordneten zu treffen sind. Schwerwiegend sind sie be-
oder nicht da sind, weil selbst das geheim ist. Das muss sonders deshalb, weil es neben den politischen Fragen
unbedingt geändert werden. auch ethische Aspekte des Handelns und des Nichthan-
delns abzuwägen gilt, und zwar in jedem einzelnen Fall.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Die Kollegen haben es vorhin angesprochen: Jeder Fall
DIE GRÜNEN) ist anders.
(B) Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, dass man Wenn wir eines aus der Geschichte lernen können, (D)
erst jetzt über eine Bilanzierung von Auslandseinsätzen dann ist es doch, dass wir heute nicht vorhersehen kön-
redet. Dieses Parlament hat Auslandseinsatz auf Aus- nen, vor welchen Fragen wir in einem Jahr, geschweige
landseinsatz beschlossen. Aber keiner hat am Ende wirk- denn in fünf oder in zehn Jahren stehen. Die Situation in
lich kritisch nachgefragt: Welches sind die Ergebnisse Libyen ist heute doch ganz anders gelagert, als sie da-
der Einsätze? Was ist moralisch, politisch, menschlich mals in Afghanistan war oder wie sie auf dem Balkan
zerstört worden? Was ist mit den Einsätzen erreicht wor- war. Die Situation war vor einem Jahr auch nicht vorher-
den? Auch das halte ich für völlig inakzeptabel. sehbar.
Ich möchte auch gern, dass am Parlamentsbeteili- Klar ist, dass unsere Entscheidungen weder nach au-
gungsgesetz Veränderungen vorgenommen werden. Dar- ßen noch nach innen willkürlich wirken dürfen. Wir
über müsste man ernsthaft reden. Das Parlament muss brauchen für unsere Außenpolitik und die Entscheidun-
ein größeres Recht erhalten, Auslandseinsätze zu been- gen über Auslandseinsätze eine klare politische, wert-
den – auch mitten im Einsatz – und die Armee zurückzu- orientierte Linie. Die Frage ist, inwieweit wir diese Linie
holen. anhand einer Checkliste in die Zukunft vorzeichnen kön-
nen. Meine Einschätzung dazu ist: Angesichts der Kom-
(Beifall bei der LINKEN – Katja Keul plexität und der Unterschiedlichkeit der einzelnen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Recht Einsätze und der einzelnen Anfragen, die uns gestellt
hat es ja!) wurden, muss man sagen: Wir können es nicht.
Es muss das Recht haben, solche Auslandseinsätze zu Natürlich gibt es politische Leitplanken, an denen wir
verbieten. Wir diskutieren doch nicht im luftleeren uns orientieren können, wie zum Beispiel das Vorhan-
Raum. Schauen wir uns einmal das Trauerspiel um den densein eines völkerrechtlichen Mandats. Der Kollege
Libyen-Einsatz an. Das ist doch eine Katastrophe, was Kiesewetter hat vorhin in seiner Rede sechs weitere sol-
dort abläuft. cher Leitplanken genannt. Vermutlich, Frau Kollegin
Bei der Beschlussfassung müssen die Fraktionen das Keul, haben Sie in Ihren Fraktionen – –
Recht haben, zu Anträgen der Bundesregierung Alterna- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tivanträge zu stellen. Wir haben ja nur das Recht, Ja oder Ich habe nur eine!)
Nein zu sagen. Außer einer Entschließung gibt es keine
materiellen Rechte. Ich glaube, dass man über solche – Ich habe gleichzeitig auch die SPD gemeint. Es tut mir
Fragen reden muss. leid.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12067
Dr. Reinhard Brandl
(A) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dung als letztes Mittel der Politik als nur dann zulässig (C)
DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ beschrieben, wenn sie zeitlich begrenzt ist, mit klarer
DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch fast das Glei- Zielsetzung auf das internationale Gemeinwohl ausge-
che!) richtet ist
Vermutlich haben Sie, Frau Kollegin Keul und Herr Kol- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
lege Groschek, in Ihren Fraktionen ähnliche oder andere Na bitte!)
Punkte, an denen Sie sich orientieren. Das ist auch rich-
tig. und in der Verantwortung einer internationalen Autori-
tät, das heißt der Vereinten Nationen, erfolgt. Alle ande-
Ich stimme Ihnen und dem Kollegen Kiesewetter zu, ren Mittel müssen entweder unanwendbar oder unwirk-
dass wir in der Frage der Unterrichtung des Parlaments sam sein. Der Waffeneinsatz darf nicht mehr Übel
eine ganzheitliche, ressortübergreifende Information hervorbringen als das zu beseitigende Übel selbst.
brauchen. Wir können heute aber nicht festschreiben,
welche Kriterien mit welcher Gewichtung in einem nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
bekannten Fall in der Zukunft maßgeblich sein sollen. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wenn ich dann irgendwann einmal zu einem Einsatz Sehr richtig!)
Nein sage, Aber, Frau Kollegin Keul, auch das sind nur Leitplan-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na gut, ken, die uns die konkrete Entscheidung im Einzelfall
machen Sie doch!) nicht abnehmen. Über den jeweiligen Einzelfall müssen
wir selbst nach bestem Wissen und Gewissen entschei-
dann will ich mir auch nicht vorhalten lassen: Aber du den.
musst doch, alle Kriterien, denen du damals zugestimmt
hast, sind erfüllt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist damit nicht gemeint!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Jenseits aller politischen Kriterien ist eine solche Ent-
scheidung immer auch eine Gewissensentscheidung. Die Ich schließe die Aussprache.
Freiheit dazu möchte ich mir nicht nehmen lassen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Drucksache 17/5099 an die in der Tagesordnung aufge-
Die will ich Ihnen auch nicht nehmen!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
(B) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (D)
Welche Leitlinien für das Gewissen gelten, muss jeder so beschlossen.
Abgeordnete mit sich selbst vereinbaren. Auch das ist
nicht einfach. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

Der Herr Kollege Kiesewetter hat heute eine Reihe a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
von politischen Kriterien hergeleitet. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Vormundschafts- und
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betreuungsrechts
Leitplanken! – Roderich Kiesewetter [CDU/
CSU]: Bausteine!) – Drucksache 17/3617 –

– Ob Sie es Kriterien oder Leitplanken nennen, Frau Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
Kollegin Keul, ist eigentlich egal. – Es geht uns darum, schusses (6. Ausschuss)
dass es keine Checklisten gibt, an denen man abhaken – Drucksache 17/5512 –
kann: 80 Prozent sind erfüllt, was machen wir dann?
Stimmen wir zu, oder stimmen wir nicht zu? Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonja Steffen
Da steht auch nicht „Checklisten für Bundes- Stephan Thomae
wehr-Auslandseinsätze“!) Jörn Wunderlich
– Ja, da steht „Prüfkriterien“. Aber wenn Sie den Antrag Ingrid Hönlinger
lesen, sehen Sie, dass genau das darin steht. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Es gibt neben den politischen Leitplanken, die Herr richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
Kollege Kieswetter angesprochen hat, auch noch ethi- dem Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen,
sche Leitplanken. Für mich persönlich war es sehr hilf- Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weite-
reich, dass sich auch die Kirchen mit diesem Thema in- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
tensiv beschäftigt haben. Bevor ich ins Parlament kam, Änderung des Vormundschaftsrechts und wei-
war mir das gar nicht so sehr bewusst. Ich habe danach tere familienrechtliche Maßnahmen
das Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz „Ge-
rechter Friede“ gelesen. Darin wird die Gewaltanwen- – Drucksachen 17/2411, 17/5512 –
12068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Berichterstattung: der Kontakt nicht unbedingt zu Hause stattfinden muss, (C)
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff ist in Ihrem Antrag ebenso enthalten wie im Gesetzent-
Sonja Steffen wurf der Regierung; Frau Kollegin Steffen wird sich
Stephan Thomae nachher noch dazu äußern. Im Einzelfall kann von dieser
Jörn Wunderlich Regel abgewichen werden. Wir haben Vertrauen zu den
Ingrid Hönlinger Mitarbeitern der Jugendämter, dass sie bestimmen kön-
nen, wo ein problemloser oder ein problembehafteter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Fall vorliegt. Wir wollen hier die Jugendämter nicht in
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ein zu enges Korsett zwängen.
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Punkt zwei. Wir wollen die Fallzahl pro Amtsvor-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege mund auf 50 begrenzen. Der Antrag der SPD-Fraktion
Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. sieht eine Begrenzung auf 40 Fälle vor. Man kann natür-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich immer eine Unterbietung vornehmen. Egal wo man
der CDU/CSU) diese Grenze ansetzt, kann man immer versuchen, diese
Zahl zu unterbieten. Der Hintergrund ist aber der, dass
wir in vielen Bundesländern gute Erfahrungen mit einer
Stephan Thomae (FDP): Begrenzung auf 50 Fälle gemacht haben. Wir haben Ver-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte trauen in die Mitarbeiter der Jugendämter, dass sie mit
Kollegen! Am 10. Oktober 2006 machten Polizeibeamte dieser Größenordnung verantwortungsvoll umgehen
in Bremen einen grausigen Fund: Sie entdeckten im können.
Kühlschrank der Wohnung eines drogenabhängigen Va-
ters die Leiche eines kleinen Kindes. Bei 200 Fällen allerdings – das ist uns allen klar – ist
ein verantwortungsvoller Kontakt auch für den fürsorg-
Der kleine Kevin, geboren im Januar 2004, hat in sei- lichsten und gewissenhaftesten Mitarbeiter nicht mehr
nem kurzen Leben Bekanntschaft gemacht mit Kliniken, möglich. Da ist auch der fürsorglichste Jugendamtsmit-
mit Heimen, mit Sozialarbeitern, aber die notwendige arbeiter überlastet. Das Problem liegt also nicht in dem
Fürsorge hat er nicht erfahren. Als Kevin acht Monate Unterschied zwischen 40 und 50 Fällen, sondern in dem
alt war, äußerte die Polizei gegenüber dem Jugendamt zwischen 50 und 200 Fällen. Dieses Problem lösen wir
den Verdacht auf einen gravierenden Fall der Kindes- mit unserem Gesetzentwurf. Eine geringfügige Über-
misshandlung. Als Kevin neun Monate alt war, wurde er schneidung ist, glaube ich, nicht das Problem. Das ist der
mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Als Kernpunkt, in dem wir uns – darüber freue ich mich sehr –
Kevin elf Monate alt war, kam er in die Obhut eines Kin- in diesem Hohen Hause weitgehend einig sind.
(B) derheimes. Als er 18 Monate alt war, starb seine drogen- (D)
süchtige Mutter. Das Jugendamt erhielt die Vormund- Das sind die beiden Kernpunkte des heute zu verab-
schaft über ihn, und er wurde zurück in die Obhut seines schiedenden Gesetzentwurfs.
Vaters gegeben. Im Oktober 2006 wurde seine Leiche im Ich erlaube mir, abschließend einen Ausblick zu ge-
Kühlschrank des Vaters gefunden. ben; denn wir wollen nicht bei dem stehen bleiben, was
Wir haben in der Politik die Aufgabe, die Konsequen- wir heute zur Vermeidung von Fällen wie dem von
zen hieraus zu ziehen, indem wir zunächst die Ursachen Kevin beschließen wollen. Im Zusammenhang mit den
eines solchen Falles analysieren und ihn einer genauen Vormündern wollen wir auch eine Leitbilddiskussion
Betrachtung unterziehen. Der Vater nahm Termine, die führen. Diesbezüglich wollen wir weitere Korrekturen
das Jugendamt anberaumt hatte, nicht mehr wahr. Der vornehmen, zum Beispiel bei der Frage, ob ein Vormund
Amtsvormund, der für Kevin verantwortlich war, hatte auch das Sorgerecht für seine Mündel erhalten soll. Das
200 Vormundschaftsfälle zu betreuen. Er hatte kaum würde eine Änderung des § 1800 BGB bedeuten. Wir
persönlichen Kontakt zu seinem Mündel, was bei dieser wollen auch darüber diskutieren, ob ein Vormund in ge-
großen Fallanzahl, die er zu bewältigen hatte, fast nicht richtlichen Verfahren als Beteiligter zwingend angehört
verwundern kann. Kevin füllte eine dicke Akte beim Ju- werden muss. All das wollen wir weiter besprechen.
gendamt; aber diese dicke Akte konnte sein kurzes Le- Wir wollen uns den Anregungen, die vonseiten der
ben nicht retten. Opposition kommen werden, nicht verschließen. Im
Rahmen des Gesetzesvorhabens, das heute auf der
Die Regierung und wir als Gesetzgeber wollen heute
Agenda steht, haben wir alle Anregungen aufgenommen.
mit der zweiten und dritten Beratung eines Gesetzes zur
An dieser Stelle möchte ich deshalb allen Kolleginnen
Verbesserung der Vormundschaftsregelungen die Konse-
und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen und den Op-
quenzen daraus ziehen. Es gibt zwei wichtige Punkte,
positionsfraktionen meinen Dank für die konstruktive
derer wir uns heute in dem Ihnen vorliegenden Entwurf
Mitwirkung bei diesem, wie ich meine, auch menschlich
der Bundesregierung annehmen wollen.
sehr wichtigen Gesetzesvorhaben aussprechen. Im An-
Punkt eins betrifft die Regelung, dass ein Vormund schluss an den Dank möchte ich die Bitte aussprechen,
ein Mündel in der Regel einmal monatlich in seiner ge- dass der heute vorliegende Gesetzentwurf in diesem Par-
wöhnlichen Umgebung, also zu Hause, besuchen muss. lament eine breite Zustimmung erfährt.
Im Einzelfall kann das auch mehr oder weniger häufig Vielen Dank.
sein. Es kann auch in Betracht kommen, dass dieser
Kontakt an anderen Orten stattfindet. Dieser Punkt, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12069

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kontaktes. Ich will Ihnen das einmal anhand eines Zah- (C)
Das Wort hat die Kollegin Sonja Steffen von der lenbeispiels erklären: Ein vollzeitarbeitender Vormund
SPD-Fraktion. mit 50 Mündeln müsste nach Ihren Vorgaben zum mo-
natlichen persönlichen Kontakt pro Jahr 600 Besuche or-
(Beifall bei der SPD) ganisieren. Bei 220 Arbeitstagen bedeutet das, dass pro
Tag zwei bis drei Mündel besucht werden müssen. Wenn
Sonja Steffen (SPD): man bedenkt, dass jeder Besuch der Planung bedarf, dass
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sich viele Mündel weit weg von der Behörde aufhalten,
Kollegen! In einem Punkt sind wir uns fraktionsüber- dass sie in Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht
greifend einig: Der Schutz unserer Kinder hat oberste sind, dann wird klar, dass das im Grunde genommen
Priorität, und der Gesetzgeber muss alles daransetzen, kaum möglich ist. Es kann sich nur um sehr kurze Kon-
dass Fälle wie der des kleinen Kevin, dessen trauriges trollbesuche handeln, die den unterschiedlichen Situatio-
Schicksal Herr Thomae uns vorhin geschildert hat, zu- nen, in denen sich die Mündel befinden, und der Perso-
künftig verhindert werden, nensorge nicht gerecht werden können. Vor diesem
praktischen Hintergrund wurde der monatliche Kontakt
(Beifall bei der SPD) im vorliegenden Entwurf – auch das haben Sie schon ge-
jedenfalls soweit dies mit staatlicher Hilfe möglich ist. sagt – als Regelausnahmevorschrift ausgestaltet. Das
lässt natürlich einen Freiraum zu. Wie sich dieser Frei-
Wir begrüßen daher jede gesetzliche Änderung, die raum in der Praxis allerdings tatsächlich auswirken wird,
dazu dient, die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht bleibt abzuwarten. Wir hätten uns hier eine stärker am
gegenüber Kindern zu verbessern. Vormünder spielen in Wohl des Mündels orientierte Vorschrift mit einem klar
diesem Bereich eine ganz zentrale Rolle. Im Fall von festgeschriebenen vierteljährlichen Kontakt gewünscht.
Kevin – auch das hat der Kollege Thomae vorhin schon
gesagt – kamen auf zweieinhalb Planstellen bei der (Beifall bei der SPD)
Sozialbehörde rund 650 Mündel. Das bedeutet für jeden Denn die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach
Vormund 260 zu betreuende Kinder. Eine verantwor- Kontakt richten sich nach der individuellen Fallgestal-
tungsvolle Wahrnehmung der mit einer Vormundschaft tung. Die Kontakte sind vom Einzelfall und von der Si-
verbundenen Aufgaben ist unter solchen Umständen un- tuation vor Ort abhängig. Ausschlaggebend für die In-
möglich. tensität der persönlichen Kontakte zwischen Vormund
(Beifall bei der SPD) und Kind sollte immer der Bedarf des Kindes sein. An-
dererseits sollte gewährleistet sein, dass der Vormund
Zu Recht stehen daher bei dem vorliegenden Gesetz- auch bei augenscheinlich unproblematischen Situationen
(B) entwurf der persönliche Kontakt mit dem Mündel und (D)
im Lebensbereich des Kindes regelmäßige Besuche vor-
die Begrenzung der Vormundschaftsfälle im Vorder- nimmt; denn die Neuregelung soll es dem Mündel er-
grund. Allerdings sind wir uns nicht mehr einig – darauf möglichen, in seinem Vormund eine zuverlässige Be-
haben Sie schon hingewiesen –, wenn es um die kon- zugsperson zu finden. Die Umsetzung eines monatlichen
krete Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen geht, Kontaktes läuft Gefahr, für den Vormund und für das
insbesondere wenn es um die Fallobergrenze geht. Mündel zu einer oft nicht nötigen Pflichtveranstaltung
In dem vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, dass ein zu werden. Den Vormündern ist hier ein größerer zeitli-
vollzeitbeschäftigter Beamter oder Angestellter höchs- cher Spielraum innerhalb verbindlicher und praktisch er-
tens 50 Vormundschaften führen soll. „Soll“ in einer ge- reichbarer Eckdaten zu überlassen.
setzlichen Regelung heißt zwar in der Regel „muss“; (Beifall bei der SPD)
Überschreitungen sind in Ausnahmefällen jedoch mög-
lich. Aus unserer Sicht wäre hier eine Mussvorschrift er- Die Einführung einer als Mussvorschrift festgeschrie-
forderlich gewesen, um eine tatsächliche Schallgrenze benen vierteljährlichen Regelung wäre aus unserer Sicht
zu setzen. zielführender gewesen als ein im Regelfall monatlicher
Kontakt, der vermutlich schon bald eine Ausnahme sein
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird. Um auch hier noch einmal ein Rechenbeispiel zu
der LINKEN und der Abg. Ingrid Hönlinger bringen: Bei unserem Vorschlag, vierteljährlicher Kon-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) takt und Fallzahlobergrenze 40, wäre es möglich, einen
Wir bleiben daher bei der Forderung unseres heute eben- Besuch pro Arbeitstag zu organisieren. Dann findet man
falls zur Abstimmung vorliegenden Antrags, die Ober- zu vernünftigen Lösungen.
grenze auf 40 Vormundschaften in Form einer Mussvor- Einige der in unserem Antrag angeregten Änderun-
schrift festzulegen. gen, wie beispielsweise die Einführung eines Anhö-
rungsrechts für den Vormund vor dem Familiengericht,
(Beifall bei der SPD)
hat das BMJ mit dem Hinweis auf die geplante Gesamt-
Die Aussagen der Sachverständigen in der öffentli- reform des Vormundschaftsrechts vorerst abgelehnt bzw.
chen Anhörung – viele von uns waren dabei – haben uns verschoben. Herr Thomae hat hier schon eine Diskus-
in dieser Position bestärkt; denn es bestanden aufseiten sion angekündigt. Wir hoffen, dass wir in der Opposition
der Experten große Zweifel im Hinblick auf die prakti- uns dort einbringen können. Sie können sich sicher sein,
sche Einhaltung der Fallobergrenze und der Durchfüh- dass wir dies an der einen oder anderen Stelle mit Nach-
rung des gleichzeitig vorgeschriebenen monatlichen druck versuchen und hoffentlich auch erfolgreich tun
12070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sonja Steffen
(A) werden. Denn es bleibt noch einiges zu tun, wenn wir die Praxis so aus, dass, wenn ein Gericht eingeschaltet (C)
die Vormundschaft und die Betreuung grundsätzlich ver- wurde, das letzte Mittel im Entzug der elterlichen Sorge
bessern wollen. bestand. Wir wollten die Möglichkeit schaffen, dass die
Gerichte schon früher eingeschaltet werden. Wir wollten
Es gibt noch ein weiteres Problem. Es bleibt schließ- ein möglichst frühes und niederschwelliges Tätigwer-
lich offen, inwiefern der Bundesrat bei der Verabschie- den, das für die Kinder und für die Eltern gut ist. So wur-
dung des vorliegenden Gesetzentwurfes mitzureden hat. den zum Beispiel das Gebot, für die Einhaltung der
Nicht nur der Bundesrat, auch der Wissenschaftliche Schulpflicht zu sorgen, und das Gebot, Leistungen der
Dienst des Deutschen Bundestages geht bei dem Gesetz- Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen, einge-
entwurf von einer Zustimmungspflicht aus. Die Bundes- führt. Ich denke, in diesem Bereich ist das materielle
regierung bleibt jedoch bei ihrer Haltung, dass der Bun- Recht zum Positiven geändert worden.
desrat nicht zustimmen muss. Wir befürchten daher, dass
der Gesetzentwurf an der Zustimmungspflicht des Bun- Im Anschluss daran haben wir das Familienverfah-
desrates scheitern könnte. Es wäre daher vielleicht klü- rensgesetz in Kraft gesetzt – das FGG haben wir aufge-
ger gewesen, sich im laufenden Reformverfahren mit hoben – und damit begleitend dazu beigetragen, dass den
den Ländern zusammenzusetzen, Verfahren, die Kinder betreffen, Vorrang eingeräumt
wird. Sie müssen innerhalb eines Monats durchgeführt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden. Damit haben wir ein Vorrang- und Beschleuni-
der LINKEN) gungsgebot in das Gesetz aufgenommen.
um eine bessere Praktikabilität des Gesetzes und damit An dieser Stelle ist es ganz wichtig, darauf hinzuwei-
eine breite Zustimmung auf Länderebene zu erreichen. sen, dass die allermeisten Eltern ihrer Sorgepflicht nach-
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insgesamt – kommen, ihre Kinder verantwortlich erziehen und sie
darin sind wir uns einig; das möchte ich hier noch ein- liebevoll betreuen und versorgen. Der Schutzauftrag des
mal betonen – geht der Gesetzentwurf mit seiner Absicht Staates ist den Fällen vorbehalten, in denen es im jewei-
des stärkeren Kinderschutzes in die richtige Richtung. ligen Elternhaus Defizite gibt.
Allerdings geht er uns nicht weit genug. Deshalb werden Wir haben einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf
wir uns bei der Abstimmung enthalten. erkannt, sowohl aufgrund der Empfehlungen der Arbeits-
Danke schön. gruppe, die vom Justizministerium eingesetzt wurde,
nachdem wir den § 1666 BGB geändert haben, als auch
(Beifall bei der SPD) aufgrund der Evaluierung des Betreuungsrechtänderungs-
gesetzes, das wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gebracht haben. (D)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold von der Der zentrale Punkt – er wurde schon angesprochen –
CDU/CSU-Fraktion. ist der persönliche Kontakt des Vormundes zum Mündel
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bzw. des Betreuers zu seinem Schützling, dem Betreu-
neten der FDP) ten. Dieser Kontakt muss im Gesetz verankert werden.
Das ist für uns ein wichtiger Punkt, der sofort umgesetzt
Ute Granold (CDU/CSU): werden soll.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Hinzu kommt, dass dieser Kontakt auch kontrolliert
befassen uns heute mit einer Gesetzesänderung zum Vor- wird; dies muss deshalb auch in den jährlichen Bericht
mundschafts- und Betreuungsrecht. Wir haben in den des Vormundes, des Betreuers, aufgenommen werden. In
letzten Wochen, denke ich, auf sehr sachlicher Basis ver- einem weiteren Schritt untersteht das Ganze der Kon-
sucht, hier gemeinsam einen Weg zu finden, einen ersten trolle, der Aufsicht durch das Familiengericht. Weil uns
Schritt zu tun. Ich denke, er geht in die richtige Rich- dies so wichtig ist, haben wir festgelegt: Wenn der per-
tung. Es geht um das Wohl und die Interessen minder- sönliche Kontakt im Falle der Betreuung nicht eingehal-
jähriger Kinder, die unter Vormundschaft stehen. Es geht ten wird, ist dies ein Grund, den Betreuer zu entlassen.
um Menschen, die des besonderen Schutzes des Staates
bedürfen. Es geht um Kevin und viele andere Kinder, die Ebenso bedeutsam wie der persönliche Kontakt ist die
ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Es geht bei die- Begrenzung der Zahl der Mündel, um die sich ein Vor-
sem Gesetz darum, Vernachlässigung und Missbrauch mund zu kümmern hat. Wir haben im Rechtsausschuss
rechtzeitig zu erkennen und verhindern zu helfen. eine umfassende Anhörung durchgeführt; das wurde
schon angesprochen. In Anbetracht der Ergebnisse die-
Die Vormundschaft umfasst die gesamte elterliche ser Anhörung haben wir einige Änderungen am Gesetz-
Sorge, das heißt Fälle, wo den Eltern die Sorge entzogen entwurf der Koalitionsfraktionen vorgenommen. Auch
und diese in der Regel auf das Jugendamt übertragen unter Einbeziehung der Änderungsanträge von SPD und
wurde. Wir hatten in Deutschland 2007 30 547 Fälle, Linken haben wir dem Rechtsausschuss einen Be-
2009 waren es 31 082 Fälle. schlussvorschlag vorgelegt, von dem wir denken, dass
wir ihn umsetzen können. Dabei war für uns der allei-
Wir haben in der letzten Wahlperiode einiges in die- nige Maßstab das Wohl des Kindes bzw. des Mündels.
sem Bereich getan. Ich erinnere daran: § 1666 BGB, das
Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnah- Der persönliche Kontakt wurde bereits angesprochen.
men bei der Gefährdung des Kindeswohls. Vorher sah Wir haben im Gesetz die Regelung getroffen, dass der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12071
Ute Granold
(A) Kontakt im Regelfall monatlich zu erfolgen hat, dass im mit dem Tag der Verkündung, umgesetzt werden muss. (C)
Einzelfall aber auch kürzere oder längere Besuchsab- Zu allem anderen – das heißt zur Fallzahlbegrenzung
stände erforderlich sein können. Das Interesse des Kin- und zur Aufsicht durch das Familiengericht – sagen wir,
des und die Situation des Mündels sollen bei der jeweili- dass ein Jahr Zeit gegeben werden muss, um die nötige
gen Regelung berücksichtigt werden, und die notwen- Organisation in den Behörden bzw. bei den Gerichten zu
dige Flexibilität soll gewährleistet sein. ermöglichen. Das ist auch realistisch. Die SPD hat zwar
beantragt, dass es kein Jahr sein soll, sondern neun Mo-
Weil uns sehr wichtig ist, dass der Kontakt in der Pra- nate. Darauf wird es, denke ich, aber nicht ankommen.
xis tatsächlich erfolgt, haben wir festgelegt, dass die Wir wollen in einem zweiten Schritt – das wäre nach ei-
Fallzahl auf 50 Vormundschaften pro Vormund begrenzt nem Jahr – das Weitere, was uns ein Anliegen ist, auf
ist. Diese Fallzahl ist auch von den Sachverständigen in den Weg bringen.
der Anhörung als praktikabel beurteilt worden; diese Re-
gelung muss von den Jugendämtern umgesetzt werden. Die Beteiligung des Bundesrates wurde angespro-
Es sind also nicht 200 oder, wie es zurzeit durchschnitt- chen. Wir sind nach mehrfacher Überprüfung – dazu
lich der Fall ist, 120 Vormundschaften pro Vormund, wurden bereits einige Ausführungen gemacht; einige
sondern 50. Hätten wir die Fallzahl auf 40 festgelegt, meinten, es bedürfe einer Zustimmung des Bundesrates –
hätten Sie vielleicht 30 gefordert. Wir meinen, die Be- zu der Ansicht gelangt, dass eine solche Zustimmung
grenzung auf 50 Vormundschaften pro Vormund ist in nicht erforderlich ist. Nach Art. 104 a Abs. 4 des Grund-
Ordnung. gesetzes ist die Führung einer Vormundschaft keine ver-
gleichbare Dienstleistung im Sinne der Vorschrift. Bis-
Wir haben diese Regelung als Sollvorschrift ausge- lang sind im Gesetz die Vormundschaft und auch die
staltet, das heißt, 50 Vormundschaften pro Vormund sind Kontakte zum Mündel geregelt. Die Aufgaben des Vor-
der Regelfall. Wenn es aus jugendamtsinternen Gründen mundes sind konkretisiert worden. Die Fallzahlfest-
für kurze Zeit ein oder zwei Fälle mehr sein sollten, dann schreibung ist ebenfalls eine Konkretisierung, keine Er-
ist auch dies akzeptabel. Aber grundsätzlich ist die Zahl weiterung. Wir meinen daher, dass das Gesetz nicht
der Vormundschaften pro Vormund auf 50 begrenzt. Diese zustimmungspflichtig ist.
Begrenzung ist für uns unverzichtbar und stellt die abso-
lute Obergrenze dar. Wenn Sie dies als „Schallmauer“ Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was die
bezeichnen wollen – auch in der Anhörung hieß es, die Kollegin Hönlinger vielleicht noch ansprechen wird.
Fallzahl 50 sei akzeptabel, da realistisch und umsetzbar –, Das ist die Frage der Trennung zwischen Vormund-
dann soll es so sein. schafts- und Betreuungsrecht. – Ja, ich habe eine lange
Redezeit; die muss ich ausnutzen.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir alles Weitere,
(B) worüber wir diskutiert haben, gemeinsam mit der Oppo- (D)
(Beifall der Abg. Andrea Astrid Voßhoff
sition, in einem zweiten Schritt bei der Reform bzw. der [CDU/CSU] – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]:
Modernisierung des Vormundschaftsrechts, das noch aus Sie können mir ja was abgeben!)
dem vorletzten Jahrhundert stammt, umsetzen wollen.
Dazu gehört das Leitbild, das Berufsbild ebenso wie das – Es ist so! Eine große Fraktion hat eine lange Redezeit,
Tätigkeitsfeld des Vormundes. Die Beteiligung des und wir von der Union haben jetzt keinen zweiten Red-
Mündels wurde bereits angesprochen. Bei der Anord- ner. Ich meine daher, es ist sinnvoll, dass man auf das,
nung bzw. der Führung der Vormundschaft soll das Mün- was diskutiert wurde, auch eingeht; das ist gut so.
del dann auch abhängig von geistiger Fähigkeit und
Reife an Entscheidungen des Vormundes beteiligt wer- Bei der Trennung zwischen Vormundschaft und Be-
den. treuung gebe ich Ihnen grundsätzlich recht. Es hat sich
mit der Änderung des Betreuungsrechtes in der letzten
Ein eigenes Anhörungsrecht des Vormundes in fami- Wahlperiode – es wurde übrigens jetzt von der Bundes-
liengerichtlichen Verfahren ist ein weiterer Aspekt, über regierung auf eine Große Anfrage der Grünen hierzu ge-
den wir gerne noch diskutieren können. Über einige we- antwortet – gezeigt, dass wir überhaupt weltweit eines
nige Punkte, die ich gerade erwähnt habe, haben wir der modernsten Betreuungsrechte haben. Das war natür-
schon im Berichterstattergespräch diskutiert. Auch diese lich auch ein großes Lob an die Bundesregierung. Das
Vorhaben werden wir auf den Weg bringen. haben wir in der letzten Wahlperiode auf den Weg ge-
bracht. Die angesprochene Trennung ist grundsätzlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richtig. Es ist aber durch die Evaluierung festgestellt
Lassen Sie mich noch auf das Inkrafttreten des Geset- worden, dass der persönliche Kontakt zwischen Betreu-
zes zu sprechen kommen – ich denke, dieser Punkt wird ern und Betreuten – das sind in der Regel ältere Men-
vom Kollegen von der Linken noch angesprochen –: Es schen – durch dieses Gesetz zurückgegangen ist. Der
ist ein zweistufiges Verfahren vorgesehen. persönliche Kontakt hat gelitten. Uns ist es wie bei den
Kindern auch bei den Betreuten sehr wichtig, dass der
Zum Inkrafttreten. Wir haben das – nach eingehender persönliche Kontakt vorhanden ist. Deshalb gibt es die
Diskussion und nachdem wir es auch noch einmal über- Verweisung von der einen Vorschrift zur anderen. Wir
prüft haben – als richtigen Weg empfunden. Wir sagen: wollen mit diesem Schritt sicherstellen, dass der persön-
Der persönliche Kontakt des Vormundes mit dem Mün- liche Kontakt zu den älteren betreuten Menschen da ist.
del, aber auch die jährliche Berichtspflicht sind so wich- Deshalb haben wir im Gesetz diese Verbindung geschaf-
tig, dass dies mit Inkrafttreten des Gesetzes, das heißt fen.
12072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ute Granold
(A) Auch im Betreuungsrecht gibt es eine vom BMI ein- Jörn Wunderlich (DIE LINKE): (C)
gesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wenn deren Eva- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
luierung ausgewertet ist, wollen wir auch hier in einem Kollege Thomae hat den Grund für den Gesetzentwurf
weiteren Schritt, aufbauend auf dem jetzigen Gesetz, die zutreffend beschrieben: Fälle wie der von Kevin und an-
Änderungen, die unter anderem vom Bundesverband der deren sollen verhindert werden, der Kontakt zwischen
Berufsbetreuer an uns herangetragen wurden, beraten Mündel und Vormund soll gestärkt werden.
und das Erforderliche auf den Weg bringen.
Nach dem Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, sollen
Wir als Gesetzgeber wollen die Mündel schützen und persönliche monatliche Kontakte stattfinden. Das ist
dafür Sorge tragen, dass es unseren Kindern gut geht. eine Sollvorschrift. Nach einer Einzelfallprüfung kann
Aber wir wissen auch, dass das alleine nicht reicht. Der der Zeitraum kürzer oder länger ausfallen. Die Pflege
Kollege Thomae hat den Fall Kevin angesprochen. In und Entwicklung des Mündels ist durch den Vormund
meinem Mainzer Wahlkreis wurde gerade wieder ein persönlich zu fördern und durch ihn zu gewährleisten.
Fall abgeurteilt. Das Kind war sechs Wochen alt. Trotz Hier wird also eine Aufgabenerweiterung vorgenom-
einer engmaschigen Kontrolle durch das Jugendamt, die men, die ganz erheblich ist. Die Fallobergrenze ist ange-
Hebamme und Jugendhilfeeinrichtungen war es – auch sprochen worden. Das ist auch als Sollvorschrift ausge-
wegen Überforderung – nicht möglich, das Kind zu staltet, das heißt, ein Abweichen nach oben ist ebenso
schützen. Es ist dann zu Tode gekommen. Das heißt, wir möglich.
müssen versuchen, sehr schnell zu schauen, ob die Eltern
überfordert sind und ob das Kind der Hilfe bedarf. Auch Über die Kosten, die auf die Kommunen zukommen,
als Nachbarn sollte man darauf schauen, ob es Probleme ist überhaupt nicht gesprochen worden. Die Kommunen
in der Familie gibt: Wie geht es der Mutter? Wie geht es haben sich gemeldet und gesagt: Um Gottes Willen,
den Geschwisterkindern? Und vieles andere mehr ist in liebe Bundesregierung, hier kommen teilweise Personal-
dieser Hinsicht von Bedeutung. kosten auf uns zu, die um 100 Prozent über denen liegen,
die wir jetzt haben. Die Regierung sagt: Wir reden über
Unser Anliegen heute ist also nur ein Baustein von die Kosten nicht. – Die Aufgabenerweiterung soll sofort
vielen, wenn es darum geht, denen zu helfen, die die erfolgen, während es zur Fallobergrenze von 50 erst in
schwächsten Glieder unserer Gemeinschaft sind und einem Jahr kommt. Erst also die Aufgaben und dann die
keine große Lobby haben. Wir müssen in jedem Bereich Struktur? Ich kann die Kinder nicht auf die Wiese schi-
– auch im Jugendhilferecht – begleitend als Gesetzgeber cken und sagen: So, jetzt seid ihr alle da, jetzt baue ich
da sein und korrigieren, wo es Fehlentwicklungen gibt. einen Kindergarten um euch herum.
Deshalb ist es für uns gemeinsam sehr wichtig, dass wir
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(B) in einem zweiten Schritt sowohl im Vormundschafts- Sönke Rix [SPD]) (D)
recht als auch im Betreuungsrecht weitere Verbesserun-
gen vornehmen und das Gesetz, das in der Tat schon sehr Es hieß, es gebe eine breite Zustimmung in diesem
alt ist, den heutigen Verhältnissen anpassen. Haus. Frau Granold, Sie sagten auch noch: Vielleicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kann die SPD zustimmen; das wäre ein deutliches Signal.
Wir haben einen Änderungsantrag in den Ausschuss ein-
Wir würden uns freuen, wenn Sie in einem heutigen gebracht und nach der Sachverständigenanhörung über-
ersten Schritt diesem Gesetz zustimmen würden, damit einstimmend feststellen können, dass die Zahl 50 wirk-
wir dann in den weiteren Beratungen das, was wir schon lich als kritische Marke klassifiziert worden ist. Es hieß
im Ausschuss bzw. in den Berichterstattergesprächen – ich zitiere einmal –: Die Einführung einer Fallober-
diskutiert haben, noch auf den Weg bringen können. grenze von 50 ist unverzichtbar, aber aufgrund der Ar-
Vielleicht kann die SPD dann doch zustimmen. Ob die beitsbelastung praktisch nicht umsetzbar. Das ist hier ja
Fallobergrenze bei 50 oder 40 liegt, ob es nun neun Mo- vorgerechnet worden. Von anderer Seite hieß es dann:
nate sind oder ob es ein Jahr bis zum Inkrafttreten des 30 bis 40 Fälle sind angesichts der persönlichen Amts-
Gesetzes ist: Das sind Kleinigkeiten. Die Richtung ist führung die Grenze, und die Fallobergrenze von 50 muss
richtig. Es wäre ein gutes Zeichen für die, die betroffen in Form einer Mussvorschrift und nicht einer Sollvor-
sind, und für die, die mit den Kindern arbeiten. Das sind schrift festgelegt werden.
insbesondere die Mitarbeiter der Jugendämter, die wirk-
lich eine sehr, sehr gute und vorbildliche Arbeit leisten. Ein Grund dafür, das Ganze abzulehnen, war im We-
Insofern sollten wir hier in diesem Hause sagen: Wir sentlichen die Finanzierung. Es hieß, eine Fallober-
bringen in einem ersten Schritt ein Gesetz auf den Weg, grenze von 40 sei nicht zu finanzieren. Darüber, wie die
das für alle nur das Beste will. Fallobergrenze von 50 finanziert werden soll, ist aber nie
gesprochen worden.
Herzlichen Dank.
Die Zustimmung des Bundesrats ist nach Meinung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) meiner Fraktion ebenfalls erforderlich. Durch die Pflicht
der Länder, eine geldwerte Sachleistung oder vergleich-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bare Dienstleistung mit einer nicht unerheblichen Kos-
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der tenbelastung zu erbringen, wird eine Zustimmungs-
Fraktion Die Linke. pflicht nach Art. 104 a Abs. 4 Grundgesetz begründet.
Das hat auch der Bundesrat so gesehen, und auch ein
(Beifall bei der LINKEN) vom Wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegebenes
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12073
Jörn Wunderlich
(A) Gutachten und eine Stellungnahme besagen: Das ist zu- Schutz des Mündels realistisch verbessern und die Qua- (C)
stimmungspflichtig; die Länder müssen beteiligt wer- lität der Vormundschaft sichern können.
den.
Der erste Ansatzpunkt dafür ist die Begrenzung der
In unserem Änderungsantrag fordern wir, wie gesagt, Fallzahlen für die Vormundschaft. Die Bundesregierung
aufgrund der Sachverständigenanhörung eine Fallober- sieht in ihrem Gesetzentwurf eine Sollvorschrift vor. Die
grenze von 40. Außerdem sollte die Anhörung des Ju- Amtsvormundschaften sollen auf 50 Mündel pro Vor-
gendlichen in dem Verfahren zwingend vorgeschrieben mund beschränkt werden. Im Einzelfall ist es also mög-
werden, sofern das aufgrund des Alters und des Ent- lich, dass ein Vormund übergangsweise mehr als
wicklungsstandes möglich ist. Ein ganz wesentlicher 50 Mündel betreut.
Faktor ist: Das Personal sollte aus sozialpädagogischen
Fachkräften bestehen. Dazu hieß es: Das kommt in der Meine Fraktion unterstützt in der jetzigen Lage den
zweiten Stufe. Ebenso haben wir gesagt: Es müssen Inte- Gesetzentwurf. Er gibt den Kommunen eine klare
ressenskonflikte vermieden werden, das heißt, der Grenze nach oben vor, und er berücksichtigt auch, dass
Vormund darf nicht gleichzeitig Leistungsträger für Sozial- die Kommunen Zeit und Raum brauchen, Herr Kollege
leistungen sein, um hier Interessenskonflikte zu vermeiden. Wunderlich, um ihre finanzielle und personelle Situation
Es hieß: Das kommt auch erst in der zweiten Stufe. an die Neuregelung anzupassen.

Durch das Inkrafttreten – Frau Granold hat es ange- In dem zweiten Schritt, den die Bundesregierung an-
sprochen; ich habe das auch schon gesagt – wird ein un- gekündigt hat, sollte aber unbedingt klargestellt werden,
gemeiner Druck entstehen. Denn wie wollen Sie einem wie wir die Sollvorschrift zu einer Mussvorschrift umge-
Amtsvormund des Jugendamtes klarmachen: „Du hast stalten können. Denn es ist auf Dauer unerlässlich, dass
200 oder 250 Mündel – die Zahlen sind ja schon genannt die Fallzahlen auf 50 beschränkt werden. Das haben
worden –, bekommst von jetzt auf gleich einen erweiter- auch alle Sachverständigen in der Anhörung bestätigt.
ten Aufgabenkreis zugewiesen und bist für die Pflege Hier müssen wir handeln, meine Damen und Herren.
und Entwicklung dieser 200 oder 250 Mündel letztlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
persönlich haftbar, die Strukturen, um das zu gewährleis- sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
ten, bieten wir dir aber nicht, die lassen wir erst in einem LINKE])
Jahr in Kraft treten, wobei wir nicht geklärt haben, wie
das Ganze finanziell zu leisten ist“? Deshalb denkt die Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt ist die Verpflich-
Linke, dass man den Jugendämtern insgesamt ein Jahr tung des Vormunds zum persönlichen Kontakt mit dem
Zeit geben müsste, um dieses Gesetz dann tatsächlich Mündel. In der Regel, so der Gesetzentwurf, soll der per-
auch strukturell umzusetzen. sönliche Kontakt zwischen Vormund und Mündel einmal
(B) im Monat stattfinden. Dieser monatliche Kontakt wird (D)
Alles in allem bedeutet der Gesetzentwurf eine Ver- auch dem Schutz und den Interessen des Mündels ge-
besserung der gesetzlichen Vorgaben, wobei diese wohl recht. Missstände können frühzeitig erkannt und hel-
kaum tatsächlich umsetzbar sein werden. Deshalb kann fende Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden. Die Ge-
vonseiten der Linken keine Zustimmung erfolgen, und richte haben auch einen klaren Maßstab für die
wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetz- Überprüfung der vormundschaftlichen Tätigkeit.
entwurf enthalten.
Laut Gesetzentwurf kann der Besuchsabstand in Aus-
An Frau Granold und Herrn Thomae gerichtet: Hätten
nahmefällen verkürzt oder verlängert werden. Das kann
Sie dem Änderungsantrag der Linken in den Bericht-
für die Individualität der vormundschaftlichen Arbeit
erstattergesprächen zugestimmt, dann hätten wir mit den
sinnvoll sein. Allerdings sollte die Bundesregierung
Ländern die Finanzierung klären können, dann hätten
auch über ein geeignetes Instrumentarium nachdenken,
wir die Personalbedarfe klären können, dann würde hier
um eine Überprüfung bzw. einen Nachweis zu ermög-
Fachpersonal tätig werden, dann hätten wir in diesem
lichen. Das könnte zum Beispiel eine Berichtspflicht des
Haus wirklich eine breite Zustimmung, vielleicht sogar
Vormunds gegenüber dem Gericht oder auch eine Zu-
eine Einstimmigkeit, zu diesem Gesetzentwurf und dann
stimmungspflicht des Gerichts für längere Besuchs-
wäre ein wirklich deutliches Signal an die betroffenen
abstände sein.
Jugendlichen ausgesendet worden.
Frau Kollegin Granold, wir Grünen haben tatsächlich
Danke.
Probleme damit, dass auch Änderungen im Betreuungs-
(Beifall bei der LINKEN) recht vorgesehen sind. Wir meinen, dass wir grund-
legend über das Betreuungsrecht nachdenken müssen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und dass sogar die UN-Behindertenrechtskonvention
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt eine grundlegende Reform erfordern könnte. Wir mei-
hat die Kollegin Ingrid Hönlinger von Bündnis 90/Die nen, dass Regelungen zum Betreuungsrecht nicht am
Grünen das Wort. Rande anderer Gesetze getroffen werden sollten. An die-
sem Punkt können wir dem Gesetzentwurf nicht zustim-
men.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Insgesamt begrüßen wir den Gesetzentwurf der Bun-
Kollegen! Wir debattieren heute über Änderungen im desregierung, soweit er das Vormundschaftsrecht be-
Vormundschaftsrecht. Zentrale Frage ist, wie wir den trifft. Für eine umfassende Reform ist der angekündigte
12074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Ingrid Hönlinger
(A) zweite Schritt dringend erforderlich. Zu den bereits ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: (C)
nannten Punkten der zwingenden Begrenzung der Fall-
zahlen auf 50 und der Kontrolle des persönlichen Kon- Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
takts zwischen Vormund und Mündel kommen aus Gloser, Dietmar Nietan, Klaus Brandner, weiterer
unserer Sicht drei weitere hinzu. Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Erstens. Interessenkollisionen innerhalb der Jugend- Für einen Neubeginn der deutschen und euro-
ämter sollten überprüft werden. Zum Beispiel sollten päischen Mittelmeerpolitik
Fachkräfte, die finanzielle Aufgaben des Jugendamts als – Drucksache 17/5487 –
Sozialleistungsträger wahrnehmen, von der Führung von Überweisungsvorschlag:
Amtsvormundschaften ausgeschlossen sein, soweit sie Auswärtiger Ausschuss (f)
die Person ihres Mündels betreffen. Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Zweitens. Dem Vormund sollte ein eigenes Anhö- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
rungsrecht im familiengerichtlichen Verfahren einge- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
räumt werden, um eine umfassendere Beurteilung zu er- Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
möglichen. Haushaltsausschuss
Drittens sollte geprüft werden, inwieweit dem Mün- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
del gegen Entscheidungen seines Vormunds eine Be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
schwerdemöglichkeit eingeräumt werden kann. derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
Meine Damen und Herren von der Koalition und von so beschlossen.
der Regierungsbank, wir werden Sie an die offenen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
Punkte erinnern. ner dem Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. das Wort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Günter Gloser (SPD):
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Ich schließe die Aussprache. Kollegen! Erst vier Monate sind vergangen, seit der
junge Arbeitslose Mohammed Bouazizi am 17. Dezem-
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
(B) ber 2010 mit seiner Selbstverbrennung den Anlass für (D)
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
die Jasmin-Revolution in Tunesien gab. Gespannt ver-
des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Der Rechts-
folgen wir seither den mutigen Aufstand der Bevölke-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
rung vieler arabischer Staaten gegen die korrumpierten
empfehlung auf Drucksache 17/5512, den Gesetzent-
Machthaber und für die Verbesserung der eigenen Le-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3617 in
bensperspektiven. In Tunesien und Ägypten gibt es be-
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
reits hoffnungsvolle politische Reformen, und in der ge-
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
samten Region wird um politische Teilhabe und um
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
mehr Demokratie gerungen. Die arabische Welt, ja die
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Welt insgesamt, ist jedenfalls nicht mehr dieselbe wie
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
vor dem 17. Dezember 2010.
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Und wir Europäer? Müssen wir uns nicht angesichts
Dritte Beratung
der neuen politischen Situation bei unseren südlichen
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Nachbarn schnell und grundsätzlich neu positionieren?
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich meine: Ja. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ein Beitrag zu diesem Prozess und ruft zu einem
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. wirklichen Neubeginn der deutschen und europäischen
Nachbarschaftspolitik gegenüber der südlichen Mittel-
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- meerregion auf. Ich schließe mich einer Botschaft an, die
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit lautet: Wir glauben an die Zukunft der Region. – Das hat
dem Titel „Änderung des Vormundschaftsrechts und vor wenigen Tagen ein deutscher Unternehmer bei einer
weitere familienrechtliche Maßnahmen“. Der Ausschuss Debatte im Haus der Wirtschaft gesagt. Er hat hinzuge-
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- fügt, dass wir etwas für diese Region tun müssen. Ich
lung auf Drucksache 17/5512, den Antrag der Fraktion glaube, dass auch wir aus mindestens drei Gründen et-
der SPD auf Drucksache 17/2411 abzulehnen. Wer was tun müssen:
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Erstens, weil wir selbst in der Vergangenheit die
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen Chancen für die Verbesserung der Menschenrechte und
die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die für eine demokratische Entwicklung in der Region falsch
Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange- eingeschätzt haben. Damit meine ich Vertreter aller EU-
nommen. Staaten und Politiker jeder politischen Couleur.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12075
Günter Gloser
(A) Zweitens, weil die Menschen in unserer Nachbar- Wir dürfen in der Situation nicht abseitsstehen. Wir (C)
schaft verdient haben, dass sie nach ihrem mutigen müssen vielmehr alles tun, um die friedlichen Revolutio-
Kampf für die Freiheit nicht im Stich gelassen werden. nen zu unterstützen. Europa darf nicht in Kleinmut ver-
Und drittens, weil eine jetzt unterlassene Unterstüt- harren, Europa muss der historischen Herausforderung
zung für die Entwicklung im Norden Afrikas uns selbst durch neue Konzepte gerecht werden. Leider ist von die-
in Zukunft sehr teuer zu stehen kommen würde und wir sen Konzepten bisher nicht viel zu erkennen. Zwar hat
besser zum gegenseitigen Vorteil handeln sollten. die Europäische Kommission in einer Mitteilung zur Re-
form der Nachbarschaftspolitik gezeigt, dass sie die Her-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ausforderungen erkannt hat; die EU bleibt aber in ihren
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Man- bisherigen Instrumenten genauso gefangen wie in der
fred Grund [CDU/CSU]: Und was machen wir sehr engen Budgetplanung; diese ist ja von 2007 bis
konkret?)
2013 festgeschrieben. Aber wir brauchen nicht nur neue
Nur wenn es uns gelingt, gemeinsam mit den Men- Konzepte, wir brauchen auch zusätzliche Mittel, zum
schen in dieser Region eine soziale und wirtschaftliche Beispiel für einen regionalen Entwicklungsfonds.
Lebensperspektive zu entwickeln, wird es auch für den
gesamten Mittelmeerraum und letztlich die ganze EU Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist
eine stabile und friedliche Zukunft geben. natürlich, dass der deutsch-französische Motor in dieser
Frage sehr stark stottert. Frankreich geht einen nationa-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) len Weg, Deutschland hat sich durch die Enthaltung im
Wir haben also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einige Sympathien
einmalige historische Chance, einen Beitrag zu Frieden, bei den Reformern im arabischen Raum verscherzt. Ins-
Freiheit und Entwicklung im Norden Afrikas zu leisten. gesamt gibt die EU kein gutes Bild ab. Und um Europas
Wir haben aber auch die einmalige Chance, unsere eige- Glaubwürdigkeit in der Region steht es momentan nicht
nen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der zum Besten. Ich denke aber, mit dem Projekt einer kohä-
Region im Wettstreit mit anderen Entwicklungsmodellen renten Nachbarschaftspolitik könnte Europa in der Mit-
zu verfolgen. telmeerregion zerschlagenes Porzellan wieder zusam-
In dieser Zeit ist nicht Kleinmütigkeit gefragt. Des- menfügen.
halb wiederhole ich die Idee, die Frank-Walter Stein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
meier und ich schon vor einigen Wochen in einer ersten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Reaktion genannt haben, nämlich einen Marshallplan für
den Mittelmeerraum aufzulegen. Natürlich nicht etwas Was müssen wir also tun?
Vergleichbares zu dem, den es nach dem Zweiten Welt-
(B) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Gute Frage!) (D)
krieg gab, aber wir müssen deutlich machen, welche Di-
mension der Unterstützung notwendig ist, und den epo- Ich denke, wir müssen gemeinsame Wege mit den Staa-
chalen Wandel mit einem angemessenen, großen ten Nordafrikas gehen.
europäischen Projekt begleiten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Iris Gleicke [SPD]: Dafür interessiert sich die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesregierung überhaupt nicht! Die Bänke
sind leer!)
Die friedlichen Revolutionen in der arabischen Welt
müssen erfolgreich weitergehen. Den Menschen muss es Ich greife hier ganz bewusst und deutlich, weil diese
gelingen, die Forderung nach mehr Freiheit, mehr Ge- Diskussion in den letzten Tagen etwas an Dynamik ge-
rechtigkeit und mehr Wohlstand auch umzusetzen. Das wonnen hat, den Vorschlag von Experten auf, Tausende
ist ja keinesfalls gesichert, wie wir in den letzten Wo- befristete EU-Arbeitsvisa für arabische Akademiker aus-
chen verfolgen konnten. In manchen Ländern sind die zustellen. Diese könnten nach einer befristeten Beschäf-
herrschenden Eliten verlockt, die Diktatur fortzusetzen, tigung in der Europäischen Union günstige Kredite für
selbst wenn die Diktatoren entmachtet sind. Existenzgründungen in ihrer Heimat erhalten.
Die Region und die Welt stehen vor einer historischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Systementscheidung. Wird der Wandel zu Demokratie
und Freiheit gelingen, oder werden nur andere, wieder Damit würde der Perspektivlosigkeit gut ausgebildeter
autoritäre Regime an die Macht kommen? Orientieren junger Menschen in der Region etwas entgegengesetzt,
sich die Menschen in Zukunft an Europa, oder wählen aber auch dem Fachkräftemangel in der EU. Das ist auch
sie lieber das chinesische Modell, das autoritäre Führung für uns wieder von Bedeutung. Selbst aus der deutschen
mit wirtschaftlicher Liberalisierung verbindet? – Ich Wirtschaft höre ich positive Signale, die besagen: Das ist
glaube, das wäre der falsche Weg; das ist ein Holzweg. ein Beispiel für eine neue Partnerschaft. – Wir sollten
Was sich in den letzten Tagen in Syrien zugetragen hat, keine Angst haben, aber wir sollten auch nicht mit klei-
zeigt es wieder: Allein mit wirtschaftlicher Liberalisie- nen Zahlen hantieren. Auch der Ruf nach Hilfe zur
rung kann man keine politische Liberalisierung herbei- Selbsthilfe wird nicht reichen, um die Probleme in der
führen. arabischen Welt – insbesondere auf dem Arbeitsmarkt –
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu lösen.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Die Entscheidung liegt also bei den Menschen vor Ort. DIE GRÜNEN)
12076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Günter Gloser
(A) Ein weiteres Projekt ist die Energiepartnerschaft. Das Joachim Hörster (CDU/CSU): (C)
könnte gerade im Hinblick auf die Katastrophe von Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
Fukushima ein ganz wichtiger Punkt zwischen der EU mit großer Aufmerksamkeit die Ausführungen des Kol-
und Nordafrika sein. Dezentral erzeugte, erneuerbare legen Gloser verfolgt, mit dem ich auch auf anderer
Energie und qualifizierte Arbeitsplätze in der Region Ebene – nämlich in den Parlamentariergruppen – gut zu-
können für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen. sammenarbeite.
Stromimporte in die EU können dazu beitragen, die am-
bitionierten Klimaschutzziele zu erreichen. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt keine Fra-
ternisierung!)
Deshalb, weil es eine epochale Herausforderung ist
– ich wiederhole eine Forderung –, wäre es auch an der Ich finde, es gibt einen Punkt, in dem sich unsere
Zeit, dass die EU endlich einen Sondergipfel mit den re- Auffassungen gravierend unterscheiden: Sie suchen die
formbereiten arabischen Staaten organisiert und damit Schuld für Fehlentwicklungen vorwiegend bei der Euro-
ihren Willen zur Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt. päischen Union. Sie lassen der Europäischen Union
Schuldzuweisungen zukommen, ohne dass auf der ande-
Ein weiterer Punkt ist die auswärtige Kulturpolitik. ren Seite danach gefragt wird, was die betroffenen arabi-
Auch hier müssen in den nächsten Jahren mehr Mittel schen Länder mit den Chancen und Möglichkeiten ma-
eingesetzt werden, um die Reformbestrebungen in den chen, die die Europäische Union angeboten hat.
arabischen Ländern zu unterstützen.
Vielleicht stört es einen Sozialdemokraten ein biss-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen, dass auf dem Europäischen Rat in Essen im
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jahre 1994 unter dem Vorsitz von Helmut Kohl der
Auch das wiederholt, aber dennoch wichtig – heute Grundstein für die Mittelmeerpolitik der Europäischen
vielleicht eineinhalb Stunden früher als bei der letzten Union gelegt worden ist
Debatte –: Wir müssen auch die Handelshemmnisse auf-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
heben, damit diese Länder auch Zugang zu Dienstleis-
tungen und Agrarprodukten bekommen. GRÜNEN]: Der Gipfel ist gescheitert!)

Als Letztes noch ein Wort zur aktuellen Flüchtlings- und dass daraus der Barcelona-Prozess entstanden ist.
frage: Es ist ein Trauerspiel, wie hier die Europäische (Günter Gloser [SPD]: Essen ist eine schöne
Union vorgeht. Stadt!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Ich empfehle Ihnen, Herr Kollege Gloser, sich aus pu-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rer Kollegialität etwas zurückzuhalten. – Es stört Sie
(B)
Man muss sich das einmal vorstellen: Es ist gegenüber vielleicht außerdem, dass es dann, nachdem im (D)
einem Land wie Tunesien, das bei 10 Millionen Einwoh- Jahre 1995 der Barcelona-Prozess in Gang gesetzt wor-
nern 240 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, blamabel, den war, in Stuttgart die Europa-Mittelmeer-Konferenz
wenn seitens der EU mit ihren über 500 Millionen Ein- der EU-Außenminister gegeben hat.
wohnern behauptet wird, sie sei nicht in der Lage, All diese Veranstaltungen haben in Deutschland statt-
25 000 Flüchtlinge, die sich derzeit auf Lampedusa auf- gefunden. Mithilfe von Deutschland sind also von der
halten, vorübergehend unterzubringen. Europäischen Union eine ganze Reihe von Initiativen er-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ griffen worden. Wir haben den Barcelona-Prozess einge-
DIE GRÜNEN) leitet. Diesen haben wir auch ernst gemeint. Wir haben
in einer ganzen Reihe von Fällen echte Fortschritte in
Das versteht in Tunesien und auch in Ägypten kein den arabischen Ländern erreicht. Wir haben eine ge-
Mensch. Sonntagsreden helfen diesen Menschen nicht. meinsame Sicherheits- und Stabilitätspolitik für den ara-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir bischen Raum betrieben. Wir haben eine gemeinsame
von der Bundesregierung und der EU-Kommission an Handelspolitik betrieben.
Vorschlägen zur Mittelmeernachbarschaftspolitik bisher Schwierigkeiten hatten wir – darüber haben wir uns
gesehen und gehört haben, reicht nicht aus. Wir müssen oft genug unterhalten – damit, dass der Korb III, die Ent-
einen wirklichen Neubeginn wagen. Die Region ist zu wicklung der Zivilgesellschaft, etwa in Tunesien, Alge-
nahe und die Chance ist zu groß, als dass wir untätig rien, Ägypten oder Syrien, massiv abgebremst worden
oder kleinmütig bleiben dürften. In diesem Sinne fordere
ist. Wir haben beim Abschluss des Vertrages zum Barce-
ich Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen.
lona-Prozess durchgesetzt, dass Syrien auf Massenver-
Vielen Dank. nichtungswaffen verzichtet. Dass es sich aber zur Demo-
kratie verpflichtet, haben wir nicht durchgesetzt. Da hat
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es eine Reihe von Schwachpunkten gegeben. Es musste
DIE GRÜNEN) allerdings eine Güterabwägung vorgenommen werden.
So mussten wir uns fragen: Welche Möglichkeiten haben
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir, um auf diese Länder einzuwirken? Und: Führt eine
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Hörster von Einwirkung zur Destabilisierung der Region oder nicht?
der CDU/CSU-Fraktion.
Bei all den Vorgängen, die jetzt stattfinden – im Gan-
(Beifall bei der CDU/CSU) zen halten wir sie für sehr sympathisch und wollen sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12077
Joachim Hörster
(A) auch unterstützen –, wissen wir nicht, wie sie enden wer- oder ob wir regiert haben: Wir haben doch versucht, aus (C)
den. Das sollte uns nicht daran hindern, zu handeln, aber der Situation das Beste im Interesse dieser Länder zu
es sollte uns dazu veranlassen, klug zu handeln. Wir ha- machen.
ben seinerzeit verlangt, dass in Palästina freie, allge-
(Lachen bei der LINKEN – Sevim Dağdelen
meine und geheime Wahlen stattfinden. Dann ist gewählt
worden, und die Hamas hat 64 Sitze im Parlament erhal- [DIE LINKE]: Im Interesse des deutschen Ka-
pitals! In dem Interesse haben Sie gehandelt!)
ten. Damit hatte sie einen Sitz mehr, als für die absolute
Mehrheit notwendig ist. Die Folge war, dass die Verei- Diesen Erfolg würde ich ungern unter den Scheffel stel-
nigten Staaten und die Europäer unisono gesagt haben: len; den würde ich ungern leugnen.
Ihr habt zwar demokratisch gewählt, mit den neuen Re-
gierungsvertretern verhandeln wir aber nicht; das ist Ich glaube, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen
nicht unser Feld. können, auch unter den veränderten Bedingungen, wenn
– hoffentlich – Demokratie entsteht. In Ägypten muss
Wir müssen uns fragen: Sind wir bereit, jede Ent- man ja im Augenblick befürchten, dass das nicht gelingt,
wicklung in einem dieser arabischen Länder zu akzeptie- da nur zwei politische Organisationen das Organisati-
ren, selbst wenn nach demokratischen Wahlen Personen ons-Know-how zur Bildung von politischen Parteien ha-
an die Macht kommen, die gar nicht daran denken, ihre ben, die bisherige Regierungspartei und die Muslimbrü-
Macht wieder abzugeben? Das alles sind Überlegungen, der, die nicht dafür bekannt sind, dass sie demokratische
die wir in dem Zusammenhang anstellen müssen. Es Werte besonders respektieren oder fördern.
sind deswegen nicht Schnellschüsse gefragt, sondern
kluge Überlegungen. (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das wissen Sie doch gar
Ich finde, die im Barcelona-Prozess angelegte Ent- nicht! Sie haben doch nicht mit den Muslim
wicklung der Zusammenarbeit war gar nicht so falsch. Brothers geredet!)
Was sich in der Mittelmeerunion später herauskristalli-
siert hat – auch aufgrund der Vorschläge, die Sarkozy – Doch, habe ich, mehrfach. Es war politisch zwar nicht
gemacht hat –, ist auch nicht so schlecht. erwünscht, aber ich habe mir die Freiheit genommen.

Zu all diesen Vorgängen gibt es eine bedeutende Rede (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das glaube
vom 19. Juni 2009, die der damalige Staatsminister Glo- ich!)
ser in der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Mittelmeerdia- Wenn ich all diese Entwicklungen sehe, komme ich
log gehalten hat. Er hat da ausgeführt: zu dem Schluss: Wir sollten versuchen, einen positiven
Und den zentralen Verdienst des Barcelona-Prozes- Einfluss darauf zu nehmen unter der Maßgabe, dass die
(B)
ses dürfen wir nicht unterschätzen: Das ist die Fort- Menschen dort im Prinzip selbst bestimmen müssen, wie (D)
setzung des Dialogs zwischen allen Beteiligten sie es haben wollen. Wir sollten uns allerdings nicht in
trotz der immer wiederkehrenden Schwierigkeiten die Ecke der Schuldigen und der Büßer bringen lassen,
im Nahostfriedensprozess. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Doch!)
Ich teile diese Meinung vollinhaltlich, und sie gilt auch weil wir da nicht hingehören.
heute noch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Wir haben uns nämlich gewaltig angestrengt, aber die
anderen haben die Angebote nicht angenommen.
Herr Gloser hat weiter ausgeführt:
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Wir wollen mit unseren Partnern gemeinsam oblie-
gende Herausforderungen angehen. Ich nenne nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
beispielhaft den Schutz des Klimas und der Um-
welt, die Auswirkungen der Migration oder die de- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
mographische Entwicklung in unseren Ländern. Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
Wir haben also die Probleme erkannt, und die Pro- Fraktion Die Linke.
bleme sind auch behandelt worden. Wir waren aufgrund (Beifall bei der LINKEN – Heike Hänsel [DIE
der politischen Strukturen in den arabischen Ländern LINKE]: Jetzt hören Sie mal gut zu!)
aber nicht in der Lage, so Einfluss zu nehmen, dass sich
die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend entwi-
Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
ckelt hätten.
Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Gloser, Sie haben dann lobende Worte dafür ge- Kaum hatte die im Juli 2008 in Paris gegründete Mittel-
funden, dass Ägypten gleichberechtigt mit Frankreich in meerunion vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen, da
Abstimmung mit der tschechischen EU-Ratspräsident- wurde sie durch die Dynamik des demokratischen Auf-
schaft der Union für das Mittelmeer vorsteht. – Ägypten begehrens in Nordafrika eigentlich schon zur Makulatur.
war damals Mubarak. Ich werfe Ihnen, Herr Gloser, Erneut bestätigte sich, dass im Ernstfall, wenn es um die
nicht vor, dass Sie das lobend erwähnt haben. Wir hatten Einforderung demokratischer Teilhabe in Afrika geht,
ja keinen anderen; das gebe ich zu. Ob Sie regiert haben die EU uns Schweigen als Gold serviert.
12078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Das ist auch kein Zufall. Die Mittelmeerunion richtete Form von Rückübernahmeabkommen. Das lehnt die (C)
sich nämlich nicht, wie eben gesagt wurde, an die gesell- Linke ab.
schaftlichen Akteure in der Region, sondern war von
(Beifall bei der LINKEN)
Anfang an ein rein zwischenstaatliches Forum. Als Ga-
ranten für die europäischen Interessen und Werte galten Bei all den guten Vorschlägen stecken Sie somit im-
dabei der Tunesier Ben Ali als Präsident dieser Union mer noch mit beiden Füßen in der Vergangenheit. Der
und dessen ägyptischer Kollege Mubarak als Vizepräsi- von Ihnen vorgeschlagene Neustart ist in Wirklichkeit
dent dieser Union. der Versuch der Wiederbelebung einer Politik, der der
demokratische Aufbruch längst einen klinischen Tod be-
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Genau!) scheinigt hat. Diese Politik ist gescheitert, weil sie sich
Der französische Präsident Sarkozy besaß mehr Witz als an den nationalen Kapitalinteressen in Europa und nicht
Verstand, als er damals noch um die Teilnahme Gaddafis am Gemeinwohl der betroffenen Menschen in Nord-
buhlte. afrika orientierte. Es muss um die Menschen in Nord-
afrika mit ihren Bedürfnissen und Interessen gehen und
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Illustre nicht um die Steigerung der Profite der Großkonzerne in
Runde!) Europa und der deutschen Unternehmen, der Sie so un-
missverständlich zustimmen.
In dem vorliegenden Antrag der Kolleginnen und
Kollegen von der SPD findet sich leider kein Wort dazu. (Beifall bei der LINKEN – Dietmar Nietan
Mit keinem Wort wird erwähnt, dass beide, Ben Ali und [SPD]: Das steht nun wirklich nicht in dem
Mubarak, jahrzehntelang ihren Platz in der sozialdemo- Antrag! – Iris Gleicke [SPD]: Man muss da-
kratischen Internationale an der Seite der SPD hatten. von ausgehen, dass Sie nicht lesen können!)
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist jetzt So ist es auch kein Zufall, dass Sie die Zivilgesell-
aber wirklich eine olle Kamelle!) schaft in Nordafrika noch nicht einmal fragen, sondern
den Menschen mit einem fertigen Konzept regelrecht
Es findet sich kein Wort dazu, dass man diese Diktatoren drohen. In Ihrem Antrag ist denn auch die Rede von ei-
jahrzehntelang mit Waffen, Ausbildungs- und Ausstat- nem „wirksamen Hebel“, der bei richtiger Anwendung
tungshilfe beliefert hat. Es ist – das muss ich schon sa- vorhanden ist.
gen – an Heuchelei kaum zu überbieten, wenn Sie beim
Thema Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum den Sa- Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Der wahre
mariter mimen. Wir unterstützen ja den Willen, Flücht- Maßstab für einen Neubeginn wäre die Einlösung des
linge aufzunehmen. Aber wenn Sie in Ihrem Antrag an Freiheits- und Demokratieversprechens und des Verspre-
(B) Rückübernahme – sprich: einem Abschiebeabkommen chens eines sozialen Europas gegenüber den Menschen (D)
der EU – festhalten, geht das meines Erachtens nicht. in den arabischen Staaten.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Es fehlen nur noch die Mindest-
Meine Damen und Herren, die Menschen in Nord- löhne!)
afrika können sich von Sympathiebekundungen nichts Dass Sie dazu nichts beizutragen haben, überrascht nicht
kaufen. Das Versagen Europas angesichts der Umbrüche wirklich. Dass Sie dies aber für alle offensichtlich auch
in der arabischen Welt darf nicht nachträglich in eine Tu- noch aufschreiben, überrascht dann schon. Es scheint
gend umformuliert werden. Die Zukunft Afrikas darf noch ein weiter Weg zu sein, bis Sie wieder zu einer So-
nicht weiterhin auf Konferenzen in Paris, Berlin oder zialdemokratie zurückgekehrt sind,
Brüssel entschieden werden. Diese Politik muss ein für
allemal der Vergangenheit angehören. (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Mach dir mal
keine Sorgen!)
(Beifall bei der LINKEN)
die einst unter internationaler Solidarität nicht Marktöff-
Der SPD-Antrag beweist, dass aus der Vergangenheit nung und Konzerninteresse verstand. Die Menschen in
keine Lehren gezogen wurden. Es geht nicht darum, wie Nordafrika brauchen keine neuen einseitigen Verträge.
Sie in Ihrem Antrag schreiben, europäische Werte und Die Menschen in Nordafrika brauchen echte und ehrli-
Ziele in der unmittelbaren südlichen Nachbarschaft poli- che Solidarität.
tische Praxis werden zu lassen. Ihr Antrag entspricht ei-
nem Doppeldenk frei nach George Orwell zwischen (Beifall bei der LINKEN)
Feststellungs- und Forderungsteil. Sie sprechen von
Sympathie, Demokratie und Werten und meinen ledig- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lich strategische Interessen Europas, besser gesagt der Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der
Europäischen Union. Das haben Sie hier ja auch weiter FDP-Fraktion.
ausgeführt. Sie sprechen von Unterstützung und be-
schäftigen sich nur mit der Lösung europäischer Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bleme wie der Energieversorgung und der Außen- und
Sicherheitspolitik der EU. Sie sprechen von Demokratie Dr. Rainer Stinner (FDP):
und Wohlstand und meinen Freihandelszone. Sie spre- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine das ganz
chen von Freiheit und meinen Migrationskontrolle in ernst: Es ist schon ein Fortschritt, dass wir uns bei dieser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12079
Dr. Rainer Stinner
(A) Debatte nicht um ein weiteres Land kümmern müssen, Diese besitzen nicht die entsprechende Absorptionska- (C)
wie wir es bedauerlicherweise in den letzten Wochen im pazität. Ich glaube daher, dass wir allein mit Geld nicht
Wochenrhythmus erlebt haben. Das gibt uns Gelegen- weiterkommen.
heit, uns damit zu beschäftigen, wie es weitergeht und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
was wir tun können.
der CDU/CSU)
Ich glaube, wir sind alle der Meinung, dass es richtig Unsere Bemühungen werden einen langen Atem er-
ist, die Instrumente zu überprüfen, die in den letzten Jah- fordern. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Bun-
ren eingeführt worden sind. Die SPD macht das in ihrem desregierung schon in den nächsten zwei oder drei Jah-
Antrag sehr ausführlich. Manchmal grenzt das, was Sie ren wesentliche Dinge in der Region so verändern kann,
da betreiben, an Selbstgeißelung, wenn man bedenkt, dass man dort nachhaltige Erfolge sehen wird. Wir wis-
wer in den letzten Jahren Verantwortung gehabt hat. sen aber, dass wir schnell an den richtigen Hebeln anset-
Aber Herr Hörster hat ja völlig zu Recht ausgeführt: Im zen müssen. Diese Hebel sind bekannt:
Prinzip haben wir alle gleichermaßen daran mitgewirkt,
diese Rahmenbedingungen zu schaffen, und deshalb Erstens. Humanitäre Maßnahmen – auf diese Weise
brauchen wir uns hier auch nicht gegenseitig die Augen handelt die Bundesregierung bereits; da sind wir uns alle
auszuhacken. Wir müssen aber daraus lernen und uns einig – müssen dort, wo sie notwendig sind, im Vorder-
überlegen, wie wir in Zukunft vorgehen wollen. grund stehen.
Die Bundesregierung hat, wie ich finde, schnell und Zweitens. Wir müssen den Aufbau von politischen
unbürokratisch gehandelt. Ich will Ihnen einige Zahlen Strukturen unterstützen; diese sind ja die Voraussetzung
präsentieren: für einen politischen Wandel. Dazu hatte ich ja bereits
vorhin im Zusammenhang mit dem Marshallplan etwas
Die Bundesregierung hat für den demokratischen gesagt. Wir können nicht erwarten, dass sich etwas ent-
Übergang 17 Millionen Euro zur Unterstützung verarm- wickelt, wenn es keine entsprechenden Strukturen, Ent-
ter Regionen in Tunesien und 30 Millionen Euro zur De- scheidungsprozesse etc. gibt. Das betrifft sowohl die ad-
ckung der dringendsten humanitären Bedürfnisse der ministrativen Strukturen als auch die grundlegenden
Flüchtlinge bereitgestellt. Infrastrukturen wie Straßen, Stromversorgung etc., die
Die politischen Stiftungen sind gestärkt worden: Sie noch aufgebaut werden müssen.
bekommen mehr Geld und sollen stärker einbezogen Drittens. Natürlich ist es völlig richtig, dass die lokale
werden. Wirtschaft aufgebaut werden muss. Es wird Sie nicht
Minister Niebel hat in seinem Ministerium einen verwundern, dass ich als Vertreter der FDP darauf be-
(B) Fonds in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelegt, mit sonderen Wert lege. Unser liberales Credo – ich sage (D)
dem die Mittelmeerländer in den Bereichen Demokratie- das, auch wenn man es nicht hören mag – lautet: Wirt-
förderung, Bildung und Wirtschaftsförderung unterstützt schaft ist nichts alles, aber ohne Wirtschaft ist leider sehr
werden. vieles nichts.

Die Europäische Union hat am 8. März einen Maß- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nahmenkatalog verabschiedet. der CDU/CSU)
Das gilt auch insbesondere für diese Region. Deshalb
Der Kollege Lischka von der SPD hat eine Anfrage
müssen wir schauen, wie wir schnell einen Beitrag dazu
an die Bundesregierung gerichtet, was denn mit dem
leisten können, dass sich die Wirtschaft entwickelt. Dazu
Geld gemacht worden sei. Er hat als Antwort darauf ei-
gehören die Unterstützung des Mittelstandes und der
nen dicken Katalog vorgelegt bekommen, in dem seiten-
Aufbau von Unternehmen.
lang die Projekte beschrieben werden, die die Bundes-
regierung unterstützt; wobei es gar keine Frage ist, dass Natürlich ist genauso wichtig, zur Kenntnis zu neh-
das zum Teil auch unter Ihrer Ägide angestoßen wurde. men – Sie haben es vorhin gesagt; da liegen wir gar nicht
weit auseinander –, dass sich die Bundesregierung in den
All das zeigt, dass finanziell schon sehr viel getan
nächsten Wochen und Monaten innerhalb der Europäi-
wird. Ich glaube deshalb, dass wir mit dem Ruf nach
schen Union in einen ziemlich harten Kampf begeben
mehr Geld nicht weiterkommen. Lieber Herr Gloser, ich
muss, um dafür zu sorgen, dass die EU ihre Märkte öff-
bin auch hinsichtlich Ihres Vorschlages bezüglich eines
net. Wirtschaftliche Entwicklung heißt: Wandel und
Marshallplans skeptisch; denn mit dem Begriff
Handel zwischen Ländern. Unser Credo ist: Uns geht es
„Marshallplan“ verbinden wir zunächst einmal – ich
besser, wenn es diesen Ländern ebenfalls besser geht
sage es einmal platt – fette Kohle. Der Marshallplan
und umgekehrt. Ich wünsche der Bundesregierung bei
hatte damals ein Volumen von ungefähr 11 Milliarden
der Auseinandersetzung um diese Frage viel Glück und
Dollar. Das entspricht einem heutigen Wert – kluge
Durchhaltevermögen. Wir alle wissen, dass es schwer
Leute haben das ausgerechnet – von 75 Milliarden Dol-
wird. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam die Bundes-
lar. Herr Gloser, der Unterschied zu damals ist, dass die
regierung unterstützen und sie nicht kleinteilig kritisie-
Absorptionskapazität in den Ländern, um die es geht,
ren.
eine völlig andere ist als die, die es damals in Europa ge-
geben hat. Ich meine das in zweierlei Hinsicht: zum ei- Viertens. Wir müssen gesellschaftliche Strukturen
nen infrastrukturell und zum anderen in Bezug auf die aufbauen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Stiftun-
gesellschaftlichen Strukturen und auf das Staatswesen. gen können dazu einen Beitrag leisten. Sie werden dafür
12080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Rainer Stinner


(A) auch allenthalben gelobt. Aber lassen Sie uns auch da re- regierung im März dazu bekannt hat, dass sie eine klare (C)
alistisch sein, meine Damen und Herren: Die Stiftungen Antwort auf die Umbrüche in diesen Ländern liefern
erreichen nur einen geringen Anteil, zum Teil im Promil- will. Wir bitten daher alle Mitglieder der Bundesregie-
lebereich, der Bevölkerung in den einzelnen Ländern. rung, nicht wieder in alte Reflexe zu verfallen, also nicht
Schauen Sie sich einmal Ägypten an. Dort sind alle gu- die Flüchtlingsabwehr an den Anfang der neuen Zusam-
ten Willens, aber natürlich können wir nicht erwarten, menarbeit zu stellen.
dass die Arbeit der deutschen Stiftungen allein einen we-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sentlichen Umschwung bewirkt und für den Aufbau ge-
sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])
sellschaftlicher Strukturen sorgt. Da würden wir uns
überheben. Aber wir müssen es natürlich versuchen. Das wäre ein vollkommen falsches Signal, wenn es da-
rum geht, die Aufbruchstimmung in diesen Ländern auf-
Fünftens. Wir müssen Strukturen für die Ausbildung
zunehmen.
schaffen. Hier ist von Ihnen angeregt worden – ich be-
grüße das –, einmal zu überlegen, ob wir nicht jungen Wenn wir Partnerschaften anbieten wollen – das be-
ausgebildeten Leuten eine zeitweilige Lern- und Arbeits- schreiben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
phase in Deutschland ermöglichen. Das ist völlig richtig. SPD, in Ihrem Antrag in der Tat sehr gut –, dann müssen
Auch hier müssen wir uns dessen bewusst sein: Das wir die Instrumente der Partnerschaft nutzen. Eine Rhe-
kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die torik, bei der man von „Schleusen“ und Ähnlichem re-
Flüchtlinge, die uns jetzt entgegenkommen, sind nicht det, hilft da sehr wenig.
diejenigen, von denen wir jetzt gesprochen haben. Auch
Der SPD-Antrag verweist auf die drei Dimensionen
das müssen wir fairerweise zur Kenntnis nehmen.
des Barcelona-Prozesses, an die sich jetzt mit verstärkter
Meine Damen und Herren, es ist in unserem Interesse, Intensität anknüpfen lässt. Richtig ist ebenfalls, dass es
dass sich diese Region entwickelt. Das entspricht der einen signifikanten Unterschied zu den Umbrüchen in
Leitlinie der Europäischen Union für die europäische Mittel- und Osteuropa nach 1989 gibt, denn wir können
Nachbarschaftspolitik, in deren Rahmen zwischen 2007 den Ländern Nordafrikas kaum eine Beitrittsperspektive
und 2013 immerhin 7 Milliarden Euro in die Region ver- bieten. Daher müssen wir die anderen Möglichkeiten der
bracht werden: Es geht uns besser, wenn es dieser Re- Zusammenarbeit voll ausschöpfen.
gion besser geht. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, da-
In den Ländern Nordafrikas ist das Wort „Stabilität“
für zu sorgen. Das wird schwer sein; wir werden
inzwischen ein Schimpfwort. Ich bin gerade heute aus
schrittweise vorgehen müssen. Die Bundesregierung hat
Kairo zurückgekommen. Dort habe ich erfahren, dass
damit angefangen; wir werden sie dabei unterstützen.
sich die Menschen dort, vor allem jene, die die Revolu-
Wir alle wissen aber: Es bedarf eines langen Atems, um
(B) tion maßgeblich mitgetragen haben, eine ideelle und in- (D)
dorthin zu kommen, wohin wir wollen.
stitutionelle Anerkennung ihres Mutes wünschen. Denn
Vielen Dank. den haben sie über Wochen hinweg bewiesen: Sie waren
unendlich mutig und haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) um Ägypten von Mubaraks Herrschaft zu befreien. Jetzt
gilt es, ihnen eine solche Anerkennung und kontinuierli-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: che Unterstützung zukommen zu lassen. Da bin ich mir
Das Wort hat die Kollegin Viola von Cramon-Tauba- nicht sicher, ob ein Marshallplan die richtige Antwort
del vom Bündnis 90/Die Grünen. ist.
Die Anerkennung kann aus unserer Sicht auf ver-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE schiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden:
GRÜNEN):
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Zunächst einmal ist es wichtig, dass alle politischen
legen! Ich möchte kurz vorwegschicken: Ich bin mit der Entscheidungsträger – angefangen bei Lady Ashton, die
Uhrzeit, zu der wir über dieses Thema diskutieren, nicht ab heute für zwei Tage Kairo besucht – immer auch die
ganz einverstanden. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten NGOs, also die Nichtregierungsorganisationen, die
einen Platz am frühen Morgen gehabt, nicht erst am spä- Menschenrechtsanwälte und die treibenden Revolutions-
ten Abend. kräfte aus der Jugend treffen. Das war bei Lady Ashtons
erstem Besuch nicht der Fall und scheint erstaunlicher-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weise auch dieses Mal nicht geplant zu sein.
sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])
Zweitens müssen die westlichen Politikerinnen und
Ich bin aber mit dem Zeitpunkt der Einbringung die- Politiker bei Besuchen die Rolle des Militärs und seine
ses Antrags sehr einverstanden – er ist absolut richtig –: eigenen Interessen stärker hinterfragen.
Es ist ein historischer Zeitpunkt, also genau der richtige
Zeitpunkt, um hier im Deutschen Bundestag über das Drittens müssen dringend die Voraussetzungen für
freie und faire Wahlen in Ägypten geschaffen werden:
Thema zu reden.
Parteien müssen zugelassen werden. Dabei ist es ent-
Ich möchte auch betonen, dass die Notwendigkeit ei- scheidend, dass die Barrieren für die Registrierung von
ner neuen Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas neuen Parteien möglichst niedrig gehalten werden. Die
von allen Fraktionen in diesem Haus gesehen wird; das Bürgerinnen und Bürger müssen über ihre Rechte und
ist sicherlich gut. Es ist auch gut, dass sich die Bundes- Pflichten als Wähler informiert werden. Da leisten alle
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12081
Viola von Cramon-Taubadel
(A) Stiftungen hervorragende Arbeit; das sollten wir nicht (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die Nützli- (C)
unterschätzen. chen wollen Sie reinholen! Der Rest kann er-
saufen!)
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nein, das unter-
schätzen wir nicht! Auf keinen Fall!) Wir müssen uns in der EU darüber verständigen, wie ein
Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie zwischen der
Wir müssen an genau dieser Stelle ansetzen. EU und den Staaten Nordafrikas aussehen soll.
Wahlkommissionen müssen geschult werden. Die
Menschen dürfen am Ende nicht das Gefühl haben, un- Vizepräsident Eduard Oswald:
sichtbare Mächte oder das Militär hätten ihnen durch Das wäre ein guter Schlusssatz gewesen.
Fälschung der Wahlen die Errungenschaften der Revolu- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
tion entzogen. Das wäre ein fataler Rückschlag. DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der
Ägypten besitzt in der arabischen Welt eine Vorbild- SPD)
funktion für viele andere Staaten, deren Bevölkerung
noch schwankt, ob sich ein Weiterkämpfen lohnt oder Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE
nicht. Wenn das ägyptische Modell nicht überlebt, wer- GRÜNEN):
den viele Demonstrantinnen und Demonstranten in an- Wir brauchen eine Euro-Mediterrane Mobilitätspart-
deren Ländern den Mut, für die Freiheit zu kämpfen, nerschaft mit Weitblick, die die Vergabe von Visa er-
schnell verlieren. leichtert, Bildungschancen ermöglicht und den Arbeits-
markt gezielt für junge Menschen aus Nordafrika öffnet.
Wichtig ist – darauf beziehen Sie sich auch in Ihrem
Antrag –: Wir müssen die Ebenen der interparlamentari- Vielen Dank.
schen Zusammenarbeit von Demokratien nutzen. Eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
junge Demokratie mit vielen neuen und unerfahrenen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Parlamentarierinnen und Parlamentariern ist äußerst ver- CDU/CSU und der FDP)
letzlich. Wir sollten insbesondere unseren Kollegen nach
der Wahl Unterstützung in jeder Form zukommen lassen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Dann muss selbstverständlich – ich glaube, es ist uns Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht
noch nicht ganz klar, was das bedeutet – die Rehabilitie- für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
rung vieler Inhaftierter der Revolution, die derzeit in Dr. Wolfgang Götzer.
(B) schwierigen und undurchsichtigen Prozessen abseits jeg- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
licher Öffentlichkeit und meist ohne rechtlichen Bei-
stand vor einem Militärgericht stehen, unbedingt von
uns, von westlichen Politikern angemahnt werden. Der Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
Militärrat scheint ein starkes Eigenleben zu führen, ohne Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
sich mit anderen innerhalb der Übergangsregierung ab- Inzwischen vergeht keine Woche, in der wir uns nicht
zustimmen. Durch diese Entwicklung, wird sie nicht ge- mit den Umbrüchen in der arabischen Welt beschäftigen.
nau beobachtet, besteht die Gefahr, dass viele der ersten Letzte Woche hatten wir im Auswärtigen Ausschuss eine
Errungenschaften wie die Presse-, die Medien- und die sehr interessante Anhörung, die uns einmal mehr sehr
Versammlungsfreiheit wieder aufs Spiel gesetzt werden. deutlich gezeigt hat, wie unübersichtlich und differen-
Nur durch eine enge Kooperation, die auf Dauer ange- ziert die Lage in den einzelnen Länder in der Region ist.
legt ist, können wir das verhindern. Nach wie vor ist unklar, wohin sich die einzelnen Länder
entwickeln. Nur in Tunesien und Ägypten hat bisher ein
Die EU und auch die deutsche Außenpolitik könnten Machtwechsel, eine Entmachtung der alten Regime
jetzt an dieser Stelle viel Glaubwürdigkeit zurückgewin- stattgefunden. Was am Ende des Prozesses in beiden
nen, indem sie die Demokratisierungsbemühungen und Ländern steht – etwa eine rechtsstaatliche Demokratie –,
den gesellschaftlichen Wandel in Nordafrika unterstüt- ist noch offen. In den übrigen Ländern ist nur eines klar
zen. Die Nachricht von der Festnahme Mubaraks ist si- und den Aufständischen gemeinsam, nämlich die Forde-
cherlich eine gute, reicht aber allein noch nicht aus. Für rung nach besserer Zukunftsperspektive und einer Ent-
den weiteren Verlauf der Umwälzungen ist auch die kri- machtung der alten Regime.
tische wirtschaftliche Lage von Bedeutung, die die poli-
tischen Gestaltungsspielräume in Tunesien und Ägypten Deshalb glaube ich, dass es noch zu früh ist, eine um-
stark einengt. fassende Neuausrichtung unserer Politik gegenüber der
arabischen Welt zu konzipieren, wie es in dem Antrag
Europa hat deshalb auch eine Verantwortung, soziale der SPD anklingt. Sie verwenden in der Überschrift das
und ökonomische Reformen in diesen Ländern zu unter- Wort „Neubeginn“. Wie gesagt, ich halte das für verfrüht
stützen. Auch da liegen Sie mit Ihrer Forderung, die aus und vor allem auch für etwas vollmundig – wenn Sie mir
unserer Sicht noch deutlicher hätte ausfallen können, diese Bemerkung erlauben.
richtig. Wir sind gern bereit, Menschen mit guter Ausbil-
(Günter Gloser [SPD]: Ist erlaubt!)
dung eine Migration – auch mit einer Arbeitsperspektive –
anzubieten. Eine richtig konzipierte zirkuläre Migration Im Moment ist wichtig – das haben wir, die Koaliti-
kann hier eine Lösung darstellen. onsfraktionen, in dem Antrag zum Ausdruck gebracht,
12082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Wolfgang Götzer


(A) der am 24. März beschlossen wurde –: Wir unterstützen Es ist in den letzten Tagen viel von der eingeforderten (C)
den demokratischen Wandel in der arabischen Welt. Wir Solidarität Deutschlands die Rede. Wir zeigen durch die
tun dies zum einen, weil die Menschen dort ein Recht Aufnahme von Flüchtlingen, die beispielsweise in Malta
auf ein Leben in Freiheit und in Würde haben, und zum angekommen sind, dass wir solidarisch sind.
anderen, weil es auch in unserem Interesse liegt, dass in
diesen Ländern Rechtsstaatlichkeit herrscht und sich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Wohlstand entwickelt. Denn diese Region ist von strate- GRÜNEN]: 100!)
gischer Bedeutung für unsere innere und äußere Sicher- Wenn etwas unsolidarisch ist, dann ist es das Verhalten
heit. Wir brauchen also die Unterstützung des Transfor- Italiens. Herr Kollege Gloser, Ihre Aufforderung im
mationsprozesses durch uns und durch alle EU-Staaten SPD-Antrag zu solidarischem Verhalten ist nicht an die
– das ist eine gesamteuropäische Aufgabe –, aber auch Bundesregierung zu richten, sondern an Italien.
die Klarstellung, dass die Eigenverantwortung der Län-
der in der arabischen Region entscheidend ist. Wohin der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Weg wirklich führt, können wir nicht beeinflussen. der FDP – Günter Gloser [SPD]: An die EU!)

Wir leisten nicht nur beim Aufbau von Demokratie, – Sie fordern aber die Bundesregierung auf; den Antrag
Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit humanitäre habe ich gelesen.
Hilfe. Wir schaffen auch Zukunftsperspektiven für die Dass Italien die rund 25 000 Flüchtlinge aufnehmen
Menschen, vor allem für die jungen Menschen in der Re- soll, ist gerecht unter dem Gesichtspunkt der fairen Las-
gion. Herr Kollege Gloser, ich rede von Hilfe vor Ort tenverteilung. Die Zahlen der Asylbewerberzugänge zei-
und nicht in Europa. Diese kommt in Ihrem Antrag lei- gen, dass im Jahr 2010 auf Deutschland mehr als 40 000
der nicht zum Ausdruck. und auf Italien 6 500 Asylbewerber entfallen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU – Viola von Cra- Deutschland hat allein infolge des Balkan-Krieges etwa
mon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zwanzigmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie jetzt
NEN]: Warum das denn nicht? Das ist doch Italien. Da kann man weiß Gott nicht von unsolidari-
Quatsch!) schem Verhalten Deutschlands sprechen, vielmehr von
dem Italiens.
Wir brauchen Arbeitsplätze in den Heimatländern und
(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/
nicht in der Europäischen Union.
DIE GRÜNEN]: Aber es ist eine faire Lasten-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verteilung, wenn wir 100 nehmen?)
neten der FDP – Viola von Cramon-Taubadel Ich möchte an dieser Stelle – damit möchte ich schlie-
(B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die (D)
ßen – dem Bundesinnenminister Dr. Friedrich für seine
Amerikaner demnächst auch: Lassen Sie doch klare Haltung in dieser Frage ausdrücklich danken.
die deutschen Studenten an deutschen Unis
studieren!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Die Maßnahmen zur Hilfe und Förderung des Trans-
formationsprozesses müssen nach Spielregeln von Good
Governance erfolgen. Wir haben keinen Zweifel daran, Vizepräsident Eduard Oswald:
dass die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik be- Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
züglich der südlichen Nachbarn der EU hinter der strate- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
gischen Zielsetzung zurückgeblieben ist. Das gilt auch Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5487 an
für die Mittelmeerunion. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
NEN]: Das können Sie doch vergessen!) Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Da muss sich einiges verbessern. Es muss sich aber auch Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
in bilateraler Hinsicht mehr tun. Denn es ist erfahrungs- Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Hol-
gemäß nicht leicht, alle Mitgliedstaaten der Europäi- meier, Marlene Mortler, Thomas Silberhorn, wei-
schen Union in dieser Frage auf eine Linie zu bekom- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
men. CSU sowie der Abgeordneten Joachim Spatz, Mi-
Da die Formulierung in Ihrem Antrag nicht eindeutig chael Link (Heilbronn), Heinz Golombeck, wei-
und daher missverständlich ist, möchte ich noch eine terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klarstellung anbringen: Es gibt keine EU-Beitritts- Strategie der Europäischen Union für den
perspektive für die Länder Nordafrikas. Ich weiß nicht, Donauraum effizient gestalten
ob Sie das mit Ihrem Antrag verklausuliert gemeint ha-
ben. Wir stellen das jetzt jedenfalls klar. – Drucksache 17/5495 –

Abschließend ein letztes Wort zur Flüchtlingsfrage: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: „Abschot- keinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls so beschlos-
tungsfrage“ meinen Sie!) sen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12083
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Güterverkehr darf aber auch der Personenverkehr nicht (C)
Debatte ist unser Kollege Karl Holmeier für die Fraktion vernachlässigt werden. Ich begrüße daher ausdrücklich
der CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Reise-
Wort. zeiten im Personenverkehr zwischen Großstädten zu ver-
kürzen. Auch hier haben wir einiges nachzuholen. So
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gibt es beispielsweise leider immer noch keine attraktive
neten der FDP)
Bahnverbindung zwischen den europäischen Metropolen
München und Prag. Beide Städte liegen im direkten Ein-
Karl Holmeier (CDU/CSU): zugsbereich der Donau. Beide Städte haben eine heraus-
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen ragende europäische Bedeutung, sind aber nur sehr un-
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! zureichend miteinander vernetzt.
Wir beraten heute einen Antrag der Koalitionsfraktionen
zur Strategie der Europäischen Union für den Donau- Im Rahmen eines neuen transeuropäischen Verkehrs-
raum. projekts von Prag über die Donaustadt Regensburg über
München bis zur Adriaküste könnte diese Lücke im eu-
Was ist das eigentlich? Wozu ist diese Strategie not- ropäischen Netz geschlossen werden. Weitere Hand-
wendig? Und warum brauchen wir dazu einen Antrag? lungsfelder der Donaustrategie sind unter anderem die
Am 8. Dezember 2010 hat die EU-Kommission einen Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung,
Vorschlag für die Donauraumstrategie vorgestellt, und die Förderung von Austauschprogrammen vor allem im
zwar in Form einer 16-seitigen Mitteilung sowie eines Bereich der Berufsausbildung, die gegenseitige Aner-
89 Seiten umfassenden Aktionsplans. kennung von Abschlüssen, die Stärkung des interkultu-
Die Donaustrategie ist die zweite makroregionale rellen Dialogs zwischen jungen Menschen und die Un-
Strategie der Europäischen Union und befasst sich mit terstützung von Austauschprogrammen für Studenten
der Zukunft einer Region, die fast 115 Millionen Ein- und Wissenschaftler.
wohner zählt und von der Fläche etwa ein Fünftel der
Europäischen Union ausmacht. Sie umfasst acht EU- Meine Damen und Herren, kürzlich hat der Europa-
Mitgliedstaaten und sechs Nichtmitgliedstaaten. ausschuss eine Delegationsreise nach Ungarn unternom-
men. Ich darf Ihnen berichten, dass zum Beispiel bei der
Die Donaustrategie ist nach dem Vorbild der Ostsee- deutschsprachigen Andrassy-Universität in Budapest das
strategie eine Initiative zur nachhaltigen Entwicklung Vorhaben auf Gründung eines Donaujugendwerks nach
des Donauraums durch eine bessere Koordinierung der dem Vorbild des Deutsch-Französischen und des
Mitgliedstaaten in verschiedenen Politikbereichen und Deutsch-Polnischen Jugendwerks vorgestellt wurde. Au-
(B) vor allem durch eine verbesserte grenzüberschreitende ßerdem plant die Universität die Etablierung eines neuen (D)
Zusammenarbeit. Wir sind daher als nationale Parlamen- Donaustudiengangs. Diese Projekte finden sich in der
tarier gefordert, uns zu dieser umfangreichen Strategie Donaustrategie wieder und leisten auf diese Weise einen
zu positionieren. Ich freue mich, dass ich Ihnen heute bedeutenden Mehrwert für die europäische Integration
diesen Antrag der Koalitionsfraktionen vorstellen darf. und den Zusammenhalt im Donauraum.
Aus unserer Sicht müssen bei der Verabschiedung der (Beifall bei der CDU/CSU)
Strategie folgende Punkte dringend beachtet werden: An
oberster Stelle steht dabei die strikte Einhaltung der so- Ein kleiner Beitrag konnte aufgrund dieser Reise zwi-
genannten drei Neins; das heißt, es darf keine neuen In- schenzeitlich geleistet werden: Die Studenten baten da-
stitutionen geben, keine neuen Rechtsetzungsakte und mals um ein Abonnement von deutschen Zeitungen. Ich
vor allem keine zusätzlichen Finanzmittel. danke der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die
Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung der sich bereit erklärt hat, die Kosten der Abos für die Uni-
drei Neins ist die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. In versität zu übernehmen.
unserem Antrag machen wir daher klar, dass die Donau- Abschließend möchte ich auf zwei Punkte eingehen,
strategie nicht in Bereiche hineinragen darf, die genauso
die aus meiner Sicht im Vorschlag der Europäischen
gut auf nationaler Ebene geregelt werden können. Viel-
Kommission zur Donaustrategie zu kurz kommen: die
mehr muss sie sich auf Handlungsfelder konzentrieren,
Entwicklung des ländlichen Raums und die Stärkung der
in denen ein echter Mehrwert – ich betone: ein echter
Landwirtschaft.
Mehrwert – für den Donauraum erzielt werden kann.
Hierzu gehört beispielsweise die dringend notwendige Der Donauraum ist maßgeblich ländlich geprägt.
Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfra- Viele Vorhaben der Donaustrategie haben daher indirekt
struktur, sowohl im Bereich Schiene als auch in den Be- mit der Förderung ländlicher Regionen zu tun. Die Stär-
reichen Straße und Wasserstraße, sowie die Vernetzung kung und Entwicklung des ländlichen Raums als Ziel
dieser Verkehrsträger. sucht man in der Strategie der Europäischen Union je-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. doch vergebens. Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, ei-
Joachim Spatz [FDP]) nen eigenen Schwerpunktbereich zum ländlichen Raum
aufzunehmen, der sich mit allen für den ländlichen
Besonders die Stärkung des grenzüberschreitenden Raum typischen Belangen befasst.
Güterverkehrs ist für die wirtschaftliche Entwicklung
des Donauraums von enormer Bedeutung. Neben dem (Beifall bei der CDU/CSU)
12084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Karl Holmeier
(A) Gleiches gilt für die Landwirtschaft als ein wichtiger die Europäische Union und damit wir alle sind, wenn es (C)
Wirtschaftsfaktor im ländlichen Raum. Hier erwarten die darum geht, auf wichtigen, großen Politikfeldern der EU
Koalitionsfraktionen eine stärkere Gewichtung. Reformen vorzunehmen. Das ist erforderlich, damit die
Donaustrategie eingebunden in andere Politiken und
An der Themenbreite der Donaustrategie sehen Sie,
Strategien eine Chance hat. Ich nenne in diesem Zusam-
wie wichtig die Auseinandersetzung und die Befassung
menhang die Nachbarschaftspolitik, die Gemeinsame
des Deutschen Bundestages mit diesem Thema ist. Ich
Agrarpolitik, die Kohäsionspolitik und letztlich auch die
konnte bei weitem nicht alle Themen aufgreifen.
Frage der zukünftigen Haushaltsgestaltung. Die Ent-
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: wicklung in diesen Politikfeldern darf man nicht ge-
Schade!) trennt sehen von dem, was wir gemeinsam an positiver
Entwicklung für den Donauraum erreichen wollen.
Dafür hätte ich nicht 7, sondern 70 Minuten gebraucht.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Um Got-
Krichbaum [CDU/CSU])
tes willen!)
Ich finde es hervorragend, dass sich die Donaustrate-
Vizepräsident Eduard Oswald: gie, die nach ihrer derzeitigen Ausgestaltung 14 Staaten
Wir haben Verständnis dafür, dass Sie das nicht bean- umfasst, nicht nur auf EU-Mitgliedstaaten und direkte
tragt haben, Herr Kollege. Anrainer der Donau bezieht, sondern auch Länder be-
rücksichtigt, die nicht oder noch nicht Mitglied der Eu-
(Heiterkeit) ropäischen Union sind. Ich finde es auch sehr gut, dass
in dem Antrag von CDU/CSU und FDP ausdrücklich un-
Karl Holmeier (CDU/CSU): terstrichen wird, dass die Expertise nichtstaatlicher Ak-
Ich danke allen, die an der Einbringung dieses umfas- teure eine große Rolle bei der Entwicklung und Umset-
senden Antrags beteiligt waren, für ihre Unterstützung. zung der Donaustrategie spielen soll. Allerdings hätte
Ich bitte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, den ich mir gewünscht, dass an der einen oder anderen Stelle
Prozess bis zur endgültigen Verabschiedung der Donau- des Antrags der Koalitionsfraktionen noch etwas stärker
strategie beim Europäischen Rat im Juni dieses Jahres herausgearbeitet worden wäre – das steht ohne Zweifel
kritisch und konstruktiv zu begleiten und unserem An- drin –, dass im Zusammenhang mit den nichtstaatlichen
trag zur Strategie für den Donauraum zuzustimmen. Akteuren nicht nur die Unternehmensverbände und
IHKs eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch die
Herzlichen Dank. Zivilgesellschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)
(B) (D)
Vizepräsident Eduard Oswald: und die Donaustrategie daher in der Zivilgesellschaft
Wir haben zu danken, Kollege Karl Holmeier. – Jetzt verankert sein muss und sie den Austausch und die Zu-
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kol- sammenarbeit der Zivilgesellschaften im Donauraum
lege Dietmar Nietan. Bitte schön, Herr Kollege. fördern muss.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Viola von Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, dass ich es
Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für eine hervorragende Idee halte, ein Donaujugendwerk
NEN]) zu installieren. Das ist, glaube ich, genau der richtige
Weg, um gerade auch die nächste Generation für dieses
Projekt zu begeistern und dazu zu befähigen, in der Re-
Dietmar Nietan (SPD):
gion eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und betreiben. Abseits der Frage, wie man ein solches Ju-
Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die gendwerk am Ende institutionalisiert, halte ich es für
Strategie für den Donauraum für diese Makroregion eine wichtig, dass man sehr schnell damit beginnt, dieses Ju-
große Chance bedeuten kann. Ich sage ausdrücklich „be- gendwerk zu gründen und es mit Leben zu füllen. Denn
deuten kann“, weil ich glaube, dass diese Strategie der das wäre, glaube ich, ein Symbol für die nach vorne ge-
Europäischen Union noch präzisiert werden muss. Ich richtete Donaustrategie.
glaube, dass sie konsistent in andere Politiken eingebaut
werden muss, damit sie ihre Wirkung entfalten kann. (Beifall bei der SPD)
Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir heute im Parla- Eine entscheidende Frage, die sich mir stellt, ist na-
ment darüber diskutieren; denn das ist eine wichtige türlich: Wie gelingt es uns, der gesamten Makroregion
Strategie, die ein großes Entwicklungspotenzial in sich mit der Donaustrategie eine gute Perspektive zu geben?
birgt. Ich halte es auch für richtig, dass im Koalitionsan- Wie kann man einen Mehrwert für eine nachhaltige Ent-
trag gefordert wird, dass die Entwicklungspotenziale, die wicklung in der Region schaffen? Ich möchte noch ein-
in dieser Makroregion schlummern, gehoben werden. mal aufgreifen, was ich gerade schon angeführt habe. Ich
Allerdings möchte ich auch dies betonen: Ob uns das am glaube, nur wenn sich die europäische Donaustrategie
Ende des Tages gelingt, hängt nicht allein davon ab, wie konsistent in eine Weiterentwicklung wichtiger EU-Poli-
die Donaustrategie formuliert ist – in dem Aktionsplan tikfelder einfügt, wird sie am Ende erfolgreich sein. Des-
finden wir teilweise sehr gute und konkrete Projekte –, halb müssen wir uns die Fragen stellen – das ist ein
sondern das hängt am Ende auch davon ab, wie mutig Punkt, der in diesem Antrag zu kurz kommt; über diesen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12085
Dietmar Nietan
(A) Punkt müssen wir sicherlich über diesen Antrag hinaus diskutieren müssen, wie wir die europäische Nachbar- (C)
auch hier im Parlament weiter ringen –: Welche Initiati- schaftspolitik so reformieren, dass sie sich entfaltet und
ven werden aus Deutschland kommen, um die Kohä- zu Stabilität, Prosperität und Entwicklungschancen für
sionspolitik, die Strukturpolitik weiterzuentwickeln, die die Menschen in den Nachbarstaaten führen kann. Ich
Rolle der Regionen zu stärken und die grenzüberschrei- glaube, das ist der entscheidende Punkt: Haben wir den
tende Zusammenarbeit mit neuen zielführenden Instru- Mut, diese wichtigen EU-Politiken über die Donaustra-
menten zu bestücken, nicht nur die grenzüberschreitende tegie hinaus so zu reformieren, dass sie den Menschen
Zusammenarbeit zwischen EU-Mitgliedstaaten, sondern dienen? Ich glaube, nur wenn wir beides tun, wird die
gerade auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und Nicht- Donaustrategie Erfolg haben. Das sollten wir uns alle
EU-Mitgliedstaaten? Welche Ziele geben wir der Kohä- gemeinsam wünschen.
sionspolitik in Zukunft? Wie präzisieren wir die Instru-
mente? Wie statten wir sie mit Mitteln aus? Ich glaube, Vielen Dank.
nur wenn sich die Kohäsionspolitik weiterentwickelt, (Beifall bei der SPD)
wird es einen Rahmen geben, in dem sich die Donaustra-
tegie erfolgreich entfalten kann.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ebenfalls zu Recht betonen die Koalitionsfraktionen, Vielen Dank, Herr Kollege Dietmar Nietan. – Jetzt
dass die Entwicklung im ländlichen Raum ein ganz ent- spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Joachim
scheidender Punkt ist. Aber wenn man das so betont, Spatz. Bitte schön, Kollege Spatz.
wird man nicht um folgende Fragen herumkommen: Wie
werden wir uns als Bundesrepublik Deutschland in die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Diskussion über die grundsätzlich notwendigen Refor- der CDU/CSU)
men der Gemeinsamen Agrarpolitik einbringen? Wie
schaffen wir es, noch stärker als bisher von den direkten Joachim Spatz (FDP):
Subventionen hin zur Förderung einer nachhaltigen Ent- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde
wicklung im ländlichen Raum zu kommen? verschiedentlich schon gesagt: Der alte Kulturraum Bal-
Ebenfalls geht es darum – darauf wird rekurriert –, kan/Donau ist ein wesentlicher Bestandteil der europäi-
das Ganze in die EU-Strategie 2020 einzubinden. Aber schen Geschichte und der europäischen Zukunft. Des-
das kann nur gelingen, wenn die EU-Strategie 2020 halb ist es wichtig und folgerichtig, dass sich die
nicht allein auf Wettbewerbsfähigkeit achtet, sondern Europäische Union um diesem Raum ähnlich wie um
auch Wohlstand und Prosperität für die gesamte Region den Ostseeraum, der auch eine gewachsene Kulturregion
ist, kümmert. Eines möchte ich gleich zu Beginn betonen
(B) und nicht nur für die EU-Mitgliedstaaten beinhaltet. Ich – auch der Kollege Nietan hat dies angesprochen –: Na- (D)
habe den Finanzrahmen angesprochen. Wir werden si-
cherlich auch darüber diskutieren müssen, wie die ein- türlich ist diese Strategie nur glaubwürdig, wenn auch
zelnen Politiken im Finanzrahmen von 2014 bis 2020 der Westbalkan eine Perspektive innerhalb der Europäi-
neu strukturiert werden, damit die benötigten Mittel mit schen Union hat. Allerdings glaube ich, dass daran nie-
entsprechenden Prioritäten versehen zur Verfügung ge- mand in diesem Hause zweifelt. Entschlossene Schritte
stellt werden können. in diese Richtung gehen wir jedenfalls.
Zum Schluss erlauben Sie mir noch den Hinweis auf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zwei Politiken, die ich bisher nicht genannt habe, aber der CDU/CSU)
jetzt noch einmal betonen möchte. Wir haben mit der Ich finde es richtig und wichtig, dass sich die Europä-
Donaustrategie den großen Vorteil, dass wir damit zum
ische Union und ihre Mitgliedstaaten dieser Aufgabe
Beispiel auch die Staaten des sogenannten Westbalkans
stellen. Dabei will man keine neue Institution schaffen,
ansprechen. Ich glaube, die Donaustrategie ist am Ende
keine neuen, zusätzlichen Mittel rekrutieren und ohne
nur glaubwürdig, wenn wir in der europäischen Erweite-
neue Rechtsetzungsakte auskommen. Das heißt, man
rungspolitik deutlich machen, dass die Perspektive der
stellt sich dieser Aufgabe, ohne sofort nach dem Füll-
EU-Erweiterung für diese Staaten weiterhin besteht,
horn der zentralen Umverteilung zu rufen. Das ist in Zei-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael ten wie diesen, in denen wir über Stabilisierungsmecha-
Link [Heilbronn] [FDP]) nismen und Ähnliches diskutieren, ein bemerkenswerter
und unterstützenswerter Vorgang. Auch dies sei betont.
dass nach Kroatien nicht Schluss ist, sondern dass wir
uns ernsthaft darum bemühen, diesen Staaten diese Pers- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
pektive zu geben. Ich glaube, wenn das konsistent der der CDU/CSU)
Fall ist, ist auch die Donaustrategie für diese Staaten
eine glaubwürdige Strategie, eine Strategie, in die sie An der Strategie für den Donauraum sind nicht nur
sich sicherlich gerne einbringen werden. EU-Mitgliedstaaten, sondern auch sechs Nichtmitglied-
staaten beteiligt. Dies zeigt ganz deutlich, dass Europa in
Wir werden nicht nur im Zusammenhang mit den Ent- der Lage ist, über seine Grenzen hinaus zu denken und
wicklungen in Nordafrika – darüber haben wir hier im die Anrainerstaaten an der ökonomischen Prosperität,
Plenum ja gerade eine Diskussion geführt –, sondern die diese Region durch die engere Kooperation mit der
auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der EU erfahren wird, teilhaben lassen will. Wir begrüßen
Republik Moldau, in der Ukraine und in Belarus darüber ausdrücklich, dass das Prinzip der Subsidiarität auch hier
12086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Joachim Spatz
(A) gelten soll. Dies hat zur Folge, dass Bundesländer wie europäische Integration, dass wir die partnerschaftliche (C)
Baden-Württemberg und Bayern die Expertise, die sie Hand in fairer Art und Weise ausstrecken.
bei diesem Thema seit vielen Jahren haben, einbringen
Danke schön.
können.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vier Säulen sind wichtig: die Anbindung des Donau-
raums an den zentraleuropäischen Raum, der Umwelt-
Vizepräsident Eduard Oswald:
schutz im Donauraum – auch dies ist ein wichtiges
Thema –, der Aufbau von Wohlstand und die Stärkung Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. – Als Nächster
der inneren Sicherheit, Stichwort „Bekämpfung organi- hat unser Kollege Dr. Diether Dehm das Wort. Bitte
sierter Kriminalität“; dies ist besonders wichtig, wenn schön, Kollege Diether Dehm, für die Fraktion Die
man die Aufnahme der Staaten des Westbalkans in die Linke.
EU weiter vorantreiben will. Diese vier Säulen sind (Beifall bei der LINKEN)
Kernbestandteile der Strategie.
Ein zentraler Punkt ist die Befähigung der Länder des Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Westbalkans zur Wettbewerbsfähigkeit. Es sei daran er- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Donau-
innert: Das ist kein Nebenkriegsschauplatz, Herr Kol- strategie bzw. das, was die Kommission da will, stellt
lege Nietan, sondern ein Hauptkriegsschauplatz. Denken wirtschafts- und verkehrspolitische Ziele über den Erhalt
Sie nur an die Diskussionen, die wir in Bezug auf andere von Ökosystemen und verschärft außerdem die vorhan-
Länder der Euro-Zone führen. Ich denke, eine zentrale denen sozioökonomischen Gegensätze zwischen den
Weichenstellung für die nächsten Jahre besteht darin, die acht EU-Staaten und den sechs Donauanrainern weiter.
Länder des Donauraums zu befähigen, aufgrund eigener Der Koalitionsvertrag fällt noch hinter den Vorschlag der
wettbewerbsfähiger Strukturen wirtschaftlichen An- Kommission zurück. Bis 2020 sollen die Kapazitäten für
schluss an Zentraleuropa zu finden. Am Ende der Reise den Güterschiffsverkehr verdoppelt werden. Dazu sollen
sollte natürlich ihre Mitwirkung an der Europäischen bestehende Engpässe für die Schifffahrt beseitigt wer-
Wirtschafts- und Währungsunion stehen. den. Die Donau soll ganzjährig für große Binnenschiffe
mit einem Tiefgang von bis zu 2,50 Metern schiffbar
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sein. Das bedeutet Flussbegradigung, Vertiefung von
der CDU/CSU) Fahrrinnen und Aufstauungen. Die Engpässe, die da ein-
betoniert werden sollen, sind aber auch Auenlandschaf-
Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wurde bereits ten. Wir halten Güterschiffe durchaus für eine zukunfts-
angesprochen. Der wesentlichste Punkt ist meiner Mei- fähige Verkehrsform. Sie sollte aber kein Bauplan für ein (D)
(B) nung nach allerdings der Ausbau der Infrastruktur beim
soziales und ökologisches Desaster sein.
Energietransfer. Wenn der Donauraum im Hinblick auf
den Austausch von Strom, Gas und anderen Energieträ- (Beifall bei der LINKEN)
gern an Zentraleuropa gut angebunden wird, ist zu er- Die Umweltziele bleiben unkonkret. Aber es gibt be-
warten, dass sich dort eine vernünftige Infrastruktur ent- reits eine konkrete Finanzierung für NAIADES und die
wickelt. Auch für diesen Raum wird es unumgänglich TEN-Projekte bzw. für den Straßen- und Schienenver-
sein, seine Energiewirtschaft umzustellen. kehr. Bayern plant so den Donauausbau mit Staustufen
Das Jugendwerk und der Austausch von Studierenden im einzig unverbauten Abschnitt zwischen Straubing
wurden bereits angesprochen. In diesem Bereich kann und Vilshofen. Die Linke ist dagegen und steht an der
man bereits den ersten greifbaren Erfolg vermelden: Seite der Umweltinitiativen vor Ort.
Schon bevor die Strategie zu Papier gebracht wird, wur- (Beifall bei der LINKEN)
den entsprechende Aktivitäten eingeleitet. So wird die
Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, In Mittel- und Südosteuropa ist die Wirtschaft noch
morgen in Budapest den Partnerschaftsvertrag zwischen stärker eingebrochen als sonst in Europa. Das gilt beson-
Bayern, Baden-Württemberg, der Bundesrepublik Deutsch- ders für Ungarn und Rumänien, die im Gegenzug für
land und der deutschen Andrassy-Universität in Buda- IWF-Kredite brutale Verarmungsprogramme einleiten
pest unterzeichnen. mussten. Das Wiener Institut für Internationale Wirt-
schaftsvergleiche rechnet zwar ab diesem Jahr mit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wachstumsraten von durchschnittlich 3 Prozent, unter-
der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜND- streicht aber, dass diese Staaten fünf bis sieben Jahre an
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschsprachig! Sie sozioökonomischer Entwicklung verloren haben. Wie
diskriminieren sonst die Schweiz und das Tes- sollen mit den brutalen Sparprogrammen der Europa-
sin!) 2020-Strategie, auf die die Kommission als Ausweg ver-
weist, Bildung und Beschäftigung ausgebaut werden?
– Ja, es ist eine deutschsprachige Universität in Buda-
pest. Die Kommission veranschlagt die Gesamtkosten der
Donaustrategie auf rund 100 Milliarden Euro, die 2014
Ich finde, dass wir im Übrigen – vielleicht weil wir bis 2020 durch Einschnitte im Kohäsionsfonds, beim
am Rande dieser Region liegen – nicht unterschätzen Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und beim
sollten, für wie wichtig die betreffenden Länder diese Sozialfonds aufgebracht werden sollen. Der Förderfokus
Strategie halten. Es ist ein wichtiges Zeichen für die wird weiter auf Privatisierung und Wettbewerbsfähigkeit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12087
Dr. Diether Dehm
(A) zulasten von nötigen sozialen Ausgleichsprogrammen Dafür hat die EU-Kommission selbstverständlich die (C)
eingeengt. Monopolkapitalistische EU-Politik beantwor- volle Unterstützung von uns Grünen.
tet nirgendwo die Frage: Wie sind Wirtschafts- und Bin-
(Joachim Spatz [FDP]: Da hättet ihr
nennachfrage anzukurbeln, wenn man sie gleichzeitig
applaudieren müssen!)
– an der Donau, in Griechenland, Portugal und letztlich
auch in Deutschland – kaputtkürzt? Weiterhin wird betont, für die Strategie keine neuen EU-
(Zuruf von der CDU/CSU: Seit wann fließt die Gelder zu erheben, keine neuen EU-Vorschriften zu er-
Donau in Kuba?) lassen und keine neuen EU-Strukturen zu schaffen. Viel-
mehr soll es zu einer verstärkten regionalen Kooperation
– Ich habe schon intelligentere Zwischenrufe gehört. – kommen. Auch diesen Ansatz unterstützen wir.
So profitieren von diesem gigantischen Infrastrukturpro-
gramm in erster Linie Konzerne und Großbanken aus Es gibt allerdings einen Knackpunkt, auf den ich Sie
Kerneuropa – besonders deutsche und österreichische –, gerne hinweisen möchte. Das Hauptproblem der Donau-
die die Märkte bereits beherrschen. strategie liegt – Herr Dehm hat das eben schon angespro-
chen – in den eklatanten Widersprüchen, also in einem
Eine nachhaltige soziale und ökologische Integration Zielkonflikt. So soll auf der einen Seite die Donau
der Region kann nur mit der von Gewerkschaften und schiffbarer gemacht werden. Die Zielvorgabe lautet, den
uns geforderten sozialen Fortschrittsklausel sowie der Frachtverkehr bis 2020 um mindestens 20 Prozent zu
grundlegenden Revision der Lissabon-Verträge erreicht steigern. Damit verbunden sind die geplanten Begradi-
werden. gungen und Staustufen, um den flachen Fluss für die
großen Frachtkähne befahrbar zu machen. Gleichzeitig
(Beifall bei der LINKEN)
– ich denke, das liegt uns Grünen wirklich besonders am
Die EU muss ihre Grundrichtung komplett ändern, so- Herzen – soll das Erreichen des anderen Ziels, die Bio-
zial und ökologisch werden und nicht nur in der Donau- diversität, gefördert werden.
region endlich zu den Menschen kommen.
Wer sich einmal die Statistiken anschaut und sieht,
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. wie viele Arten täglich verloren gehen, der oder die
weiß, wie wichtig die Erreichung genau dieses Ziels
(Beifall bei der LINKEN) nicht nur für das Donaugebiet, sondern für den gesamten
europäischen Kontinent ist.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Dehm. – Jetzt spricht als (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!)

(B) Nächste auf unserer Rednerliste für die Fraktion – Ich meine das ernst. (D)
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Viola von Cra-
mon-Taubadel. Bitte schön, Sie sind erneut im Einsatz. (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Gut, dass
Sie das dazusagen!)
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE Die Natur im Donaugebiet ist ein besonders schützens-
GRÜNEN): werter und einmaliger Naturraum hier in Europa
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen! Die Donau verbindet. Sie verbindet EU-Mitglied- sowie bei Abgeordneten der SPD)
staaten wie Deutschland mit EU-Anwärtern wie Kroa-
tien und mit den Ländern der EU-Nachbarschaftspolitik, – das wissen Sie aus Bayern wahrscheinlich noch besser
der Ukraine und Moldau. Es ist daher folgerichtig – wir als ich –; denn mehr als 300 Vogelarten leben hier, und
unterstützen das sehr –, dass die EU-Kommission eine viele von ihnen sind sehr selten.
gemeinsame Strategie für diese Region entworfen hat.
Nun zurück zur Schlüsselfrage, wie dieser Zielkon-
Ich glaube, schon gestern haben die EU-Außenminister
flikt zu überwinden ist. Sogar die Bundeskanzlerin hat in
genau diese Strategie beschlossen. Aber vielleicht haben
einem Statement genau diese Herausforderung als das
Sie eben über eine andere Vereinbarung gesprochen,
Spannungsfeld der Strategie ausgemacht: Wie lassen
Herr Spatz.
sich Naturschutz und Gütertransport auf dem Fluss ver-
(Joachim Spatz [FDP]: Das war in der Tat eine einbaren? Antworten darauf, wie dieses Spannungsver-
andere Vereinbarung!) hältnis aufzulösen ist, finden wir in Ihrem Antrag keine.
Das ist das Bedauerliche, weswegen wir uns am Ende
Die Umsetzung soll nun schnell beginnen, damit die Le- auch enthalten werden.
bensqualität der etwa 115 Millionen Menschen in die-
sem Gebiet, wie Sie auch geschrieben haben, langfristig (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Oh! Das ist
verbessert werden kann. ja überraschend!)
Was haben wir uns nun unter dieser Donaustrategie Sie sagen nur, was nicht geschehen darf, bieten in Ihrem
vorzustellen? Es heißt dort: Eine dynamische Donau- Antrag allerdings keine Lösungsvorschläge an.
region unter Beachtung des Naturschutzes und der Bio-
Für uns Grüne ist klar: Ein Schutz des Donauraums
diversität soll gefördert werden.
über die Grenzen der 14 Anrainerstaaten hinweg ist drin-
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das muss Ihnen gend nötig. Aber eine Flussbegradigung und Staustufen
doch gefallen!) sind unnötige Eingriffe. Vielmehr sollten wir darin in-
12088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Viola von Cramon-Taubadel


(A) vestieren, die Schiffe dem Fluss anzupassen – nicht um- Was die Verkehrskapazitäten angeht, muss sich in der (C)
gekehrt. Ingenieure werden Ihnen sagen, dass es durch- nächsten Zeit in der Tat erheblich mehr tun. Dazu nur
aus möglich ist, Schiffe so zu konstruieren, dass die zwei Zahlen: Während sich der schiffbare Verlauf des
gleichen Lasten getragen werden können und die Donau Rheins über 700 Kilometer erstreckt, sind es auf der Do-
dennoch in ihrem ursprünglichen, natürlichen Zustand nau immerhin 2 200 Kilometer. Was die Frachtgüter an-
befahren werden kann. Ich begrüße es daher ausdrück- geht, fällt aber auf, dass auf der Donau 60 Millionen bis
lich, dass sich die deutsche Delegation beim Treffen des 70 Millionen Tonnen im Jahr befördert werden, während
Rates der Europäischen Union am 8. April gegen die Be- es auf dem Rhein bei einem Drittel der Länge immerhin
seitigung der Engpässe der Donau ausgesprochen hat. 350 Millionen Tonnen sind. Das entspricht einem Ver-
Sie sehen: Ab und zu erkennen wir es sogar an, wenn hältnis von circa 1 zu 20.
sich die Regierung richtig verhält. Der Schutz der Um-
welt muss aus unserer Sicht Priorität behalten. Nur wenn (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der Umweltschutz gelingt, werden auch die anderen NEN]: Rotterdam an die Donau!)
Ziele der Strategie erreicht. Das bedeutet, dass es zum einen in den Anrainerstaaten
Am Ende komme ich nun zu den großen Chancen der unterschiedliche Voraussetzungen gibt und dass es zum
Strategie. Die größte Chance liegt für uns im nachhalti- anderen an schiffbaren Abschnitten fehlt. Deswegen
gen, grenzüberschreitenden Tourismus. Das ist ein Pro- werden wir langfristig nicht darum herumkommen, dar-
jekt mit großer Priorität. Als eine wichtige Vorausset- über zu diskutieren, inwieweit die Donau vertieft werden
zung genau hierfür – damit komme ich wieder auf den muss. Die Transportkapazitäten müssen schon deswegen
Naturschutz zurück – muss es eben eine Verbesserung ausgebaut werden, weil wir zunehmend auch im Stra-
des Naturschutzes und vor allem auch eine Verbesserung ßenverkehr an unsere Kapazitätsgrenzen kommen. Unter
der Wasserqualität geben. Die biologische und kulturelle anderem daran zeigt sich die Wichtigkeit.
Vielfalt des Donauraums bietet ein enormes Potenzial Die Donau ist auch Energieträger und Energiebringer.
und hat eben auch eine existenzielle Bedeutung für den Das wird vor allem in Österreich deutlich. In Österreich
Ökotourismus. Nachhaltiger Tourismus kann maßgeb- hat die Donau auf ihrer Gesamtlänge ein Gefälle von
lich – auch das wissen Sie – zur Wirtschaftsförderung circa 10 Metern. Das heißt, sie ist faktisch ein Gebirgs-
beitragen. Natürliche und kulturelle Ressourcen werden fluss. Das ermöglicht es, dass zahlreiche Wasserkraft-
geschützt, indem auf die umweltgerechte Gestaltung von werke zur Deckung des Strombedarfs in Österreich bei-
touristischer Infrastruktur gesetzt wird. Genau darauf tragen. Auch hier gibt es Möglichkeiten des Ausbaus,
kommt es aus unserer Sicht in der Donauregion und in nicht unbedingt entlang der Donau in Österreich, wohl
dieser Strategie an. aber bei den Zuflüssen. Das spielt für eine Energiestrate-
(B) gie in Europa eine zunehmend wichtige Rolle. (D)
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt in der Tat sehr viele Facetten, bis hin zu der
und bei der SPD) kulturellen Verbindung. Das ist der eigentlich Charme
der Donauraumstrategie, die von Ländern wie Baden-
Württemberg und Bayern entwickelt wurde. Die Initia-
Vizepräsident Eduard Oswald: tive ging damals von der EU-Regionalkommissarin
Wir haben zu danken. – Der letzte Redner in dieser Danuta Hübner und dem damaligen Ministerpräsidenten
Debatte ist der Kollege Gunther Krichbaum für die Frak- Günther Oettinger aus. Ich erwähne das deswegen, weil
tion der CDU/CSU. es zeigt, dass sehr wohl auch die Bundesländer dafür
(Beifall bei der CDU/CSU) Sorge tragen können, dass aus solchen Ideen eines Tages
eine gesamteuropäische Strategie entstehen kann. Die
Bundesländer können sich in Europa durchaus aktiver
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): einbringen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Donau hat viele Gesichter: Für die einen ist sie eine neten der FDP)
Grenze, für die anderen eine lebensnotwendige Ver-
kehrsader und für Dritte ohne jeden Zweifel auch ein tol- Die Donauraumstrategie hat aber – das haben manche
les Naherholungsgebiet. Redner bereits erwähnt – ihren besonderen Charme da-
rin, dass sie Nicht-EU-Länder mit EU-Ländern verbin-
Was die Grenze angeht – damit sind wir schon mitten- det. Ja, es wäre deutlich zu kurz gesprungen, wenn man
drin –, wird ersichtlich, dass es letztlich darauf an- die Donauraumstrategie nur als ein Infrastrukturprojekt
kommt, was wir aus der Donau machen. Allein zwischen definieren würde. Sie muss eine Anstoßwirkung haben,
Bulgarien und Rumänien erstreckt sich der Grenzverlauf als Katalysator wirken, insbesondere was die Erweite-
entlang der Donau über eine Länge von 380 Kilometern. rungspolitik der Europäischen Union angeht. Länder wie
Aber es gibt nur eine einzige Brücke. Schon daraus wird die Republik Moldau und Serbien brauchen eine Pers-
ersichtlich, dass diese beiden Länder so gut wie nichts pektive in dieser Richtung. Für die Gesamtentwicklung
miteinander zu tun haben. Sie haben weder ein gutes solcher Länder ist dies unabdingbar. Diese Länder rü-
noch ein schlechtes Verhältnis zueinander; sie haben gar cken näher zusammen. Das ist von unserer Seite zu be-
kein Verhältnis zueinander. Genau an dem Punkt kann grüßen. Wir wollen deswegen die Donauraumstrategie
die Donaustrategie ansetzen. dahin gehend fördern, dass sie ein Ansporn zur soge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12089
Gunther Krichbaum
(A) nannten Good Governance ist, dass sie eben die gute Re- Berichterstattung: (C)
gierungstätigkeit in den Ländern zu befördern hilft. Abgeordnete Philipp Mißfelder
Johannes Pflug
(Beifall bei der CDU/CSU) Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Ich glaube, es sollte nicht nur eine Binnenstrategie der Wolfgang Gehrcke
Europäischen Union sein, sondern insbesondere auch ei- Dr. Frithjof Schmidt
nen Beitrag dazu leisten, dass die Bürgerinnen und Bür- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
ger enger zusammenrücken und Städtepartnerschaften diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
entstehen. Dazu ein letztes Beispiel. Wir stellen fest, dass Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Na-
Baden-Württemberg über 490 Städtepartnerschaften mit men der Redner liegt dem Präsidium vor.
Frankreich hat, während Gesamtdeutschland mit Serbien
gerade einmal drei Städtepartnerschaften hat. Auch das Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
sollte uns zu denken geben. nungspunkt 13 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Be-
Vielen Dank. schlussempfehlung auf Drucksache 17/4628, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1965 abzuleh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
bei Abgeordneten der SPD) genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist somit angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
Vielen Dank, Kollege Gunther Krichbaum. – Gunther nungspunkt 13 b. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt
Krichbaum war der letzte Redner in dieser Debatte. in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4629,
Ich schließe die Aussprache. den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/3866 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf nen und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Bündnis 90/
Drucksache 17/5495 mit dem Titel „Strategie der Euro- Die Grünen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Die
päischen Union für den Donauraum effizient gestalten“. Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Enthaltungen? – Dieser Antrag ist angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D)
(B)
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gegen den Handel mit illegal eingeschlagenem
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Holz (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – Holz-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) SiG)
zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard – Drucksache 17/5261 –
Lischka, Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Ra-
abe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
SPD ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)
Stärkung der humanitären Lage in Afghani-
stan und der partnerschaftlichen Kooperation – Drucksache 17/5498 –
mit Nichtregierungsorganisationen Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
– Drucksachen 17/1965, 17/4628 – Petra Crone
Berichterstattung: Dr. Christel Happach-Kasan
Abgeordnete Jürgen Klimke Dr. Kirsten Tackmann
Burkhard Lischka Cornelia Behm
Harald Leibrecht Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Heike Hänsel diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –
Ute Koczy Alle Kolleginnen und Kollegen sind einverstanden, wie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ich sehe. Die Liste der Namen der Redner liegt uns vor.
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weite- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 17/5498, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
DIE GRÜNEN Drucksache 17/5261 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs-
und Hochschulsystems in Afghanistan
1) Anlage 4
– Drucksachen 17/3866, 17/4629 – 2) Anlage 5
12090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Handzeichen. – Gegenstimmen? – Keine. Enthaltun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter LINKE
Beratung einstimmig angenommen.
Hunger bekämpfen – Spekulation mit Nah-
Dritte Beratung rungsmitteln beenden
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 17/4533 –
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Überweisungsvorschlag:
Wer stimmt dagegen? – Keiner. Enthaltungen? – Keine. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Entwicklung
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen
Hochschulzulassung bundesgesetzlich regeln – der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.
Sozialen Zugang und Durchlässigkeit in Mas-
terstudiengängen sichern Helmut Heiderich (CDU/CSU):
– Drucksache 17/5475 – In den vergangenen drei Jahren haben Investoren aus
Industrie- und Schwellenländern in Afrika rund 20 Mil-
Überweisungsvorschlag: lionen Hektar Ackerland gepachtet bzw. gekauft. Diese
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) Landnahme, auch „Land Grabbing“ oder „Offshore
Ausschuss für Arbeit und Soziales Farming“ genannt, ist gerade in Afrika besonders aus-
Haushaltsausschuss geprägt, da dort sowohl ausreichend landwirtschaftli-
che Flächen als auch genügend preiswerte Arbeitskräfte
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- zur Verfügung stehen.
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.1) –
Sie sind alle einverstanden. Die Liste der Namen der Die Herkunft der zum Teil privaten, aber auch staat-
Redner liegt uns vor. lichen Investoren ist so vielfältig wie ihre Beweggründe.
Sie stammen zum Beispiel aus der arabischen Welt, die
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf besonders mit Wasser- und Ackerlandmangel zu kämp-
Drucksache 17/5475 an die in der Tagesordnung aufge- fen hat, aber vor allem aus asiatischen Ländern, wie
(B) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (D)
China und Indien, die ihrem rasanten Bevölkerungs-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung wachstum und dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise
so beschlossen. (um 15 Prozent zwischen 2007 und 2009) begegnen
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b auf: müssen. So kostet etwa Weizen international heute mit
gut 330 Dollar pro Tonne über 50 Prozent mehr als noch
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut vor einem Jahr. Auch die Spekulationen mit Nahrungs-
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, mitteln führen zu massiven Preissteigerungen, deren Ra-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ ten von Wissenschaftlern auf 20 Prozent bis 40 Prozent
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Rat- eingeschätzt werden. Finanzinvestoren suchen verstärkt
jen-Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, wei- nach Anlagemöglichkeiten in vermeintlich sicheren und
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP profitablen Sachwerten, und dazu gehören nicht nur
Gold, sondern zum Beispiel auch Weizen, Mais, Soja und
Illegale Landnahme verhindern, Eigentums-
Zucker. Die steigende Nachfrage treibt die Preise in die
freiheit schützen, Ernährungsgrundlage in
Höhe – mit fatalen Folgen für arme Bevölkerungs-
Entwicklungsländern sichern
schichten in Entwicklungsländern. Daneben macht sich
– Drucksache 17/5488 – der steigende Lebensstandard vieler Einwohner von
Schwellenländern, die verstärkt höherwertige Nah-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und rungsmittel wie Fleisch und Milch nachfragen, bemerk-
Entwicklung (f) bar. Der daraus entstehende größere Bedarf an Getreide
Auswärtiger Ausschuss für Tierfutter lässt zusätzlich die Preise für Grundnah-
Rechtsausschuss rungsmittel klettern.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und In der Tat kann eine ausländische Investition in
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Agrarflächen mit enormen Chancen für die einheimi-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sche Bevölkerung verbunden sein: Investitionen in die
Haushaltsausschuss Landwirtschaft sowie der Einsatz moderner Technik
können zu deutlichen Steigerungen der Nahrungsmittel-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema produktion führen. Außerdem können zusätzliche Ein-
Movassat, Sahra Wagenknecht, Dr. Axel Troost, nahmen durch Verkaufserlöse, Pachterträge und Steuern
erzielt werden; es können neue Märkte entstehen, und
1) Anlage 6 die Zahl der Beschäftigten kann deutlich ansteigen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12091
Helmut Heiderich
(A) wenn die Investition mit einer Strategie zur Armutsbe- tionierende Institutionen, insbesondere in vielen afrika- (C)
kämpfung verbunden ist. Es gibt diese positiven Fälle, nischen Ländern, machen die Durchsetzung von Land-
wie beispielsweise in Malawi, wo Tausende ortsansäs- rechten lokaler Gruppen jedoch oft schwierig, manch-
sige Arbeiter beschäftigt werden und ein Großteil der mal sogar unmöglich. Daher wollen wir die Etablierung
Wertschöpfung im Land verbleibt. von Beschwerdemechanismen und die Stärkung bereits
vorhandener Menschenrechtsinstitutionen vor Ort för-
Die Realität sieht aber oftmals anders aus: Tatsäch- dern.
lich finden Investitionen vor allem in den Ländern statt,
in denen diktatorische und korrupte Regierungen herr- Vor dem Hintergrund des riesigen globalen Interesses
schen. Es gibt Beispiele, wo bestechliche Beamte Land- an Land müssen wir so zu einer Stärkung von Good-Go-
flächen als unfruchtbar eingestuft haben, nur um diese vernance-Strukturen beitragen. Es kann doch nicht sein,
besser an ausländische Investoren verkaufen zu können. dass internationale Investoren auf Kosten der einheimi-
Andererseits lassen sich viele Länder auf diese Ge- schen Bevölkerung Millionengewinne machen und wir
schäfte ein, weil sie sich in den ländlichen Regionen In- parallel dazu als Industrieländer die Ausgaben bei der
vestitionen in Schulen, Krankenhäuser und Verkehrs- Nahrungsmittelhilfe andauernd drastisch erhöhen müs-
infrastruktur erhoffen. Außerdem möchte man vom sen.
Know-how der ausländischen Fachkräfte profitieren. Die deutschen Auslandsvertretungen in den betreffen-
So kommt es häufig vor, dass Länder, die im besonde- den Ländern müssen künftig noch stärker darauf hinwir-
ren Maße vom Hunger betroffen sind, Investoren gegen- ken, dass Staaten, die über keine ausreichenden gesetzli-
über am großzügigsten mit ihrem Ackerland umgehen. chen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Eigentum
Die betroffenen Kleinbauern werden dann aber bei der verfügen, einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen.
Landverteilung nicht berücksichtigt und damit oftmals Im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit und des
zu Opfern von Vertreibung und Ausbeutung. In Äthio- Rechtsstaatsdialogs wollen wir Unterstützung bei der
pien gibt es zum Beispiel kein Privateigentum an Land – Ausgestaltung dieses Gesetzgebungsprozesses – etwa in
alles Land gehört dem Staat. Die Regierung kann es so den Bereichen Immobiliarrecht, Sachenrecht, Grund-
problemlos an Investoren vergeben. 3,6 Millionen Hek- buch- und Katasterwesen, Staatshaftungsrecht oder Ent-
tar – das entspricht der Größe Belgiens – hat Äthiopien schädigungsregelungen – geben. Um Korruption und
für Investoren inzwischen bereitgestellt. Der „Tages- Menschenrechtsverstöße zu verhindern, wollen wir bei
spiegel“ berichtete am 3. April 2011 von enttäuschten der Gestaltung der Verträge von ausländischen Investo-
äthiopischen Kleinbauern: „Als die Behörden ihnen das ren mit Regierungen künftig darauf hinwirken, dass sie
erste Mal von den ausländischen Investoren erzählten, beim Verkauf oder der Verpachtung von Flächen die Be-
lange der betroffenen ortsansässigen Bauern und die
(B) hätten sie Strom, bessere Gesundheitsversorgung, Schu- (D)
len, Straßen und Wasser versprochen, doch nichts davon Risiken für die Umwelt berücksichtigen.
sei gekommen. Stattdessen habe man ihnen das Land Die Entwicklung und Stärkung der Zivilgesellschaft
weggenommen, auf dem sie Sesam und Mais anbauten ist für uns von zentraler Bedeutung, ebenso wie die Auf-
und auf denen ihr Vieh weidete.“ klärung der Bevölkerung über ihre Rechte. Insbesondere
Nicolas Sarkozy hat das Problem der Rohstoffpreise Frauen soll Hilfestellung für die Bewirtschaftung von
und der Lebensmittelsicherheit zu einer Priorität der Eigentum und Besitz angeboten werden. Gemeinsam mit
G 20 in diesem Jahr erklärt. Die Steigerung der Nah- unseren EU-Partnern treten wir zudem bei den Vereinten
rungsmittelproduktion, neue Anbaumethoden und die Nationen für ein Zusatzprotokoll ein, das den Schutz des
Verbesserung bei Marktzugang und Infrastruktur sind Eigentums vor unberechtigten Eingriffen durch private
Herausforderungen, denen sich jedes Land stellen muss, Dritte oder den Staat garantiert und angemessene Ent-
wenn es dauerhaft Hunger und Armut beseitigen schädigungen im Falle von Enteignungen vorschreibt.
möchte. Genau dies verfolgen wir mit unserem Antrag. Wenn wir konsequent und mit langem Atem auf die
Besserer Zugang der Bauern zu den Märkten kann dazu Einhaltung dieser Standards drängen, stellen FDIs
beitragen, die Effizienz der Lebensmittelversorgung zu – Foreign Direct Investments – kein Risiko oder eine Be-
steigern. Eine bessere staatliche Verwaltung ist Voraus- drohung dar, sondern können eine wirkliche Chance für
setzung, damit Investitionsprogramme der einheimi- Entwicklungsländer und die Bekämpfung des Hungers
schen Bevölkerung zugutekommen. Eine verbesserte in der Welt sein.
Infrastruktur für Lagerung und Transport kann hohe
Verluste vermeiden. Johannes Röring (CDU/CSU):
Die Nutzung von Grund und Boden für die Erzeugung
Deshalb müssen wir in Zukunft Verstöße gegen das von Lebensmitteln stand schon 1992 bei der „Agenda 21“-
Recht auf Besitz und Eigentum noch gezielter themati- Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro
sieren, insbesondere im Menschenrechtsrat der Verein- ganz oben auf der Tagesordnung. In Kapitel 14 der
ten Nationen. Im Rahmen der Entwicklungszusammen- Agenda werden bedeutende Themen für die Zukunftsfä-
arbeit wollen wir die Partnerländer noch stärker bei higkeit der Agrarwirtschaft besonders in Schwellen- und
einer zukunftsorientierten Landbewirtschaftungspolitik Entwicklungsländern genannt, darunter auch die Bo-
unterstützen, um die Ernährung der Bevölkerung vor denordnung, Eigentumsfragen und die Bodenerhaltung.
Ort und global zu verbessern und auch um das Klima
und die Ressourcen für nachkommende Generationen zu Aktuell sehen wir in vielen Entwicklungs- und
schonen. Mangelnde Rechtsstaatlichkeit und kaum funk- Schwellenländern einen zunehmenden Wettbewerb um

Zu Protokoll gegebene Reden


12092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Johannes Röring
(A) die Nutzung von Grund und Boden. Grund dafür ist, landwirtschaftliche Potenzial ihres Landes selbstständig (C)
dass wir eine stark wachsende Weltbevölkerung und die nutzen zu können.
damit einhergehende gestiegene Nachfrage nach Roh-
stoffen erkennen. Wir sehen ein verändertes Konsumver- Landwirtschaft ist ein Wirtschaftsfaktor, der auch und
halten in den sich entwickelnden Regionen der Welt, be- besonders in Afrika Wohlstand in ländlichen Räumen
sonders in Asien. Auch die Nachfrage nach Bioenergie mehren kann. Denn perspektivisch müssen diese Länder
sowie der Klimawandel, durch den immer mehr Flächen die Vorteile von ihrem fruchtbaren Grund und Boden
durch Erosion und Wüstenbildung unfruchtbar werden, selber nutzen. Sie sollten zunächst in der Lage sein, sich
sind Faktoren für diese Entwicklung. Wie dramatisch selbst zu versorgen, um dann im nächsten Schritt Über-
dieser Entwicklungszustand ist, zeigen die Nahrungsmit- schüsse zu produzieren, mit denen sie Handel treiben
telkrisen der letzten Jahre und eine zunehmende Anzahl können, um so die wirtschaftliche Entwicklung, beson-
von hungernden Menschen auf der Welt. ders in den ländlichen Gebieten, antreiben zu können.

Eine Folge dieser Entwicklung, die je nach Bewer- Durch die Zunahme von Investitionen in die Res-
tung entweder mit „Land Grabbing“ oder „Direct In- source Boden ergeben sich politische Handlungsfelder,
vestment in Land“ überschrieben wird, ist der Kauf oder die besonders auf den Gebieten der Land- und Wasser-
die Anpachtung von Flächen in Entwicklungs- und rechte, der sinnvollen Förderung und der notwendigen
Schwellenländern. Wir sehen, besonders in Afrika, aber Investitionen in die Landwirtschaft und in den ländli-
auch in Teilen Asiens, meist zwei Arten von Käufern von chen Raum liegen. All diese Aspekte betonen wir in un-
Landbesitz, die zu unterscheiden sind. Auf der einen serem Antrag. Wir wollen verantwortungsvoll getätigte
Seite stehen Länder wie etwa Saudi-Arabien, China, Ja- und notwendige Investitionen in den Agrarsektor, bei de-
pan oder Südkorea, die vor allem daran interessiert nen die lokalen, nationalen Rechte und der Schutz der
sind, Nahrung für deren eigene Bevölkerung in den kom- dort lebenden Menschen und der dort verfügbaren Res-
menden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. All diese sourcen sichergestellt werden müssen. Wir wollen nicht,
Länder leiden unter einem Mangel an Wasser und dass der Ackerboden in den Ländern der Dritten Welt
fruchtbaren Ackerböden. Spekulationsobjekt ist. Das Ziel unserer Politik muss es
sein, den Stellenwert der Landwirtschaft zu erhöhen und
Auf der anderen Seite sind jedoch auch vermehrt Pri- so den Menschen die Möglichkeit zu geben, Ernährungs-
vatkonzerne, Finanzinvestoren und Hedgefonds in das sicherheit zu gewährleisten und langfristig Strukturen
„Land Grabbing“ eingestiegen. Diese Käufer kaufen aufzubauen, die Wohlstand ermöglichen.
Agrarland oftmals aufgrund der in den nächsten Jahren
zu erwartenden Verknappung und erhoffen sich dadurch
Dr. Sascha Raabe (SPD):
(B) hohe Renditen durch ihre Investitionen. Wir sehen bei Heute diskutieren wir zwei Anträge, die sich inhalt- (D)
dieser Landnahme sowohl positive als auch negative
Entwicklungen für die betroffenen Staaten, die wir in un- lich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen, im We-
serem Antrag ja auch ausführlich beschrieben haben. senskern aber ein immer wieder auftretendes Phänomen
Allerdings sollten wir uns viel mehr die Frage stellen, aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Es geht
warum diese Staaten ihre Flächen nicht selber nutzen. um Spekulationen, Spekulationen um landwirtschaftli-
ches Nutzland und um Nahrungsmittel, die an den gro-
Die große Herausforderung von unserer Seite besteht ßen Warenterminbösen dieser Welt gehandelt werden.
nun eigentlich darin, Unterstützung anzubieten, damit Gemein ist beiden Themenfeldern, dass die jeweiligen
insbesondere afrikanische Staaten in der Lage sind, die Spekulationen – sofern sie keinen Regelungen unterle-
landwirtschaftliche Produktion in den eigenen Händen gen sind und unkontrolliertes Ausmaß annehmen – ver-
zu behalten. Eine Modernisierung und erhöhte Effektivi- heerende Folgen für die Menschen in den Entwicklungs-
tät und Effizienz der ortsansässigen Landwirtschaft ländern haben. Hieß es früher noch: „Mit Lebensmitteln
würden dabei helfen, „Land Grabbing“ unattraktiv zu spielt man nicht“, müsste es heute heißen: „Mit Lebens-
machen. Dabei denke ich insbesondere an Know-how- mitteln spekuliert man nicht.“ Denn Hunger und Armut
Transfer, Verbesserung von Anbaumethoden und Unter- entstehen, weil an anderer Stelle mit dem Essen speku-
stützung bei der Ausbildung von Fachkräften. Dies liert wird.
würde die Unabhängigkeit von der Praxis des „Land
Grabbing“ ermöglichen. Im Februar 2011 erreichten die Lebensmittelpreise
nach Angabe der Welternährungsorganisation der Ver-
Die politische Umsetzung, hin zu einer erfolgreichen einten Nationen, UN Food and Agricultural Organisa-
Landwirtschaft, hängt auch entscheidend von einer gu- tion, FAO, einen neuen Rekordhöchststand. Innerhalb
ten Regierungsführung ab, weshalb wir auch besonderes eines Jahres schnellten die Preise für Grundlebensmittel
Augenmerk auf diesen Bereich legen. Mangelnde wie Weizen mit 74 Prozent oder Mais mit sogar 87 Pro-
Rechtssicherheit im Bezug auf Besitzverhältnisse sehen zent unkontrolliert in die Höhe. Welche Auswirkungen
wir als wichtigen Hinderungsgrund einer erfolgreichen diese Preisexplosionen für die Menschen in den Ent-
Entwicklung der am wenigsten entwickelten Länder an. wicklungsländern haben, lässt sich schnell beantworten,
Die Bundesregierung setzt sich aktiv für den Aufbau von wenn man weiß, dass die meisten Menschen in den Ent-
rechtsstaatlichen Normen in Ländern der Dritten Welt wicklungsländern bis zu 80 Prozent ihres Einkommens
ein. Wir hoffen dadurch, unseren Partnerländern nicht für Nahrungsmittel aufwenden müssen. Solche rasanten
nur die Möglichkeit zu eröffnen, die Versorgung der ei- Preisentwicklungen sind dann fast nicht mehr zu stem-
genen Bevölkerung sicherzustellen, sondern auch das men und ziehen gravierende Folgen nach sich. Schon

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12093
Dr. Sascha Raabe
(A) nach der enormen Preisexplosion im Frühjahr 2008 teure – vorwiegend aus Schwellenländern und arabi- (C)
stellte die Weltbank fest, dass über 150 Millionen Men- schen Ländern –, insbesondere aber private Investoren
schen aufgrund der Preisentwicklungen der Grundnah- aus Industrie- und Schwellenländern versuchen, mit
rungsmittel unter die Armutsgrenze gefallen sind. Aber langfristigen Pacht- oder Kaufverträgen großer Agrar-
auch ein Einbruch wirtschaftlichen Wachstums verbun- flächen in Entwicklungsländern die Eigenversorgung
den mit Unruhen und politischen Turbulenzen resultie- mit Nahrungsmitteln und Energiepflanzen zu sichern.
ren aus dem mangelnden Zugang zu Lebensmitteln. Wel- Fast 90 Prozent der Investitionen im Bereich „Land
che Auswirklungen der diesjährige erneute Preisanstieg Grabbing“ werden von privaten Kaufinteressenten – die
haben wird, lässt sich schnell erahnen. Investoren sind zum einen dem Bereich Agrobusiness,
zum anderen der Finanzindustrie zuzuordnen – getätigt,
Die Ursachen dieser Preisentwicklungen sind vielfäl- die dabei auch mit der Erwartung steigender Landpreise
tig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölke- in Agrarflächen als Spekulationsgut investieren, und das
rung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten – aus gutem Grund: Die Welthungerhilfe stellt in einem
vorwiegend der steigende Fleischkonsum der Menschen Bericht fest: „Bis 2030 müsste die heute verfügbare
in asiatischen Schwellenländern – zu einem erhöhten landwirtschaftliche Fläche um 515 Millionen Hektar
Lebensmittelbedarf. Zum anderen tragen der vermehrte wachsen, um eine ausreichende Produktion von Agrar-
Anbau von Bioenergieträgern, die durch Erosion und Energie- und Forsterzeugnissen zu sichern.“ Das ent-
Versalzung für die Landwirtschaft unwirtschaftlich ge- spräche ungefähr der Hälfte der Fläche Europas. Gerade
wordenen Flächen und die zunehmenden Ernteausfälle, die in Deutschland aufkeimende Debatte um die Bio-
bedingt durch vom Klimawandel verursachte Naturka- kraftstoffbeimischung E10 zeigt, dass der Anbau von
tastrophen, zu einer Verringerung der fruchtbaren Land- Biokraftstoffen in Konkurrenz zum Anbau von Nah-
flächen und Produktionsmengen von Nahrungsmitteln rungsmitteln steht und damit unbewusst auch vermehrt
bei. zum Kauf von Landflächen beiträgt. Das kann politisch
Diese vorwiegend strukturellen Faktoren führen ers- nicht gewollt sein.
tens zu einem erhöhten Bedarf an begrenzten Ressour-
Zwar hat es schon immer ausländische Landpacht
cen wie Lebensmittel und pflanzliche Energieträger.
oder Landkäufe gegeben, und neben der zu Recht ange-
Zweitens wird fruchtbares Land zu einem noch kostbare-
brachten Kritik gibt es bei Direktinvestitionen in Land
ren Gut. Begehrte Güter rufen Spekulanten auf die Ta-
auch viele positive Effekte, auf die im Einzelnen einzuge-
gesordnung, die versuchen, sich am Bedarf knapper Gü-
hen ich verzichte. Neu sind jedoch das Ausmaß und die
ter zu bereichern. Leider ist das nicht nur an den
Geschwindigkeit dieses Landerwerbs, und das ist unge-
Finanzmärkten der Fall, sondern auch an den zur Er-
sund. Laut einer Studie von FAO/IFAD wurden allein seit
(B) mittlung des Preises für Grundnahrungsmittel zuständi- 2004 in nur fünf afrikanischen Ländern Vereinbarungen (D)
gen Warenterminbörsen.
über mehr als 2,5 Millionen Hektar Land abgeschlos-
Viel wurde in den letzten Wochen und Monaten über sen. Schätzungen des International Food Policy Re-
Warenterminbörsen geredet, geschrieben und diskutiert search Institut, IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalb
und dabei versucht herauszufinden, welchen Anteil die der letzten 5 Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15
Spekulationen in Bezug auf die hohe Volatilität der Preis- bis 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer
entwicklung haben. Hier teile ich die Meinung der Fläche in Entwicklungsländern getätigt wurden. Doch
Nichtregierungsorganisation Oxfam, die exzessiven Spe- diese Einschätzung erscheint recht konservativ. Die
kulationen mit Agrarrohstoffen seien für die extremen Weltbank hat in ihrer neuesten Studie ermittelt, dass es
Preissprünge mitverantwortlich. Selbst die Weltbank in über 450 Projekten mit insgesamt 46,6 Millionen
geht in einem Papier von 2010 davon aus, dass Index- Hektar weltweit bereits weit großflächigere Landak-
fonds einen wesentlichen Anteil an den Preisexplosionen quise gibt als angenommen. Mit ein Grund für diese ra-
haben. Grundsätzlich geht es nicht darum, den Handel sante Entwicklung sind die auf den Finanzmärkten als
und die Spekulationen an den Warenterminbörsen zu un- Investment getätigten Land-Deals. Die Erwartung stei-
terbinden. Das wäre falsch und marktwirtschaftlich gender Renditen bei Investitionen in Land scheint Anle-
nicht dienlich. Genauso falsch wäre es aber, alles so zu ger zu locken, die auf den Kaufpreis spekulieren. Invest-
belassen, wie es ist. Denn aktuell „funktionieren“ die menthäuser wie Morgan Stanley oder Goldman Sachs
Warenterminbörsen im Sinne der Steuerung von waren- sind dick im Geschäft, so dick, dass in einem Artikel in
interessiertem Angebot und Nachfrage nicht. Daher be- der „Wirtschaftswoche“ unreflektiert den Lesern die In-
darf es klarer Regelungen und einer erhöhten Transpa- vestition in Landfläche schmackhaft gemacht wurde,
renz in den und abseits der Warenbörsen. Es muss ohne auf die möglichen negativen Folgen der Investitio-
eindeutig feststellbar sein, welche Akteure am Markt zu nen in Ackerfläche hinzuweisen – und die können ver-
welchen Konditionen aktiv sind. Die Einführung von Po- heerend sein.
sitionslimits ist dabei nur eine von vielen notwendigen
Maßnahmen, um der maßlosen Spekulation Einhalt zu Oftmals werden beim Erwerb von Landflächen – be-
bieten. Daher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion wusst oder unbewusst – Landrechte der lokalen Bevölke-
mit einem Antrag – Drucksache 17/3413 – gegen diese rung missachtet, die Einbindung oder eine Beteiligung
Spekulationen ein Zeichen gesetzt. der ansässigen Dorfgemeinschaften oder Kleinbauern
findet so gut wie nicht statt. Das Recht auf Eigentum ist
Bei der Spekulation mit agrarischer Landfläche ste- in vielen dieser Länder nur selten einklagbar – sodass
hen wir vor einem ähnlichen Problem. Staatliche Ak- Kleinbauern, die jahrzehntelang ihren Acker bewirt-

Zu Protokoll gegebene Reden


12094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Sascha Raabe


(A) schafteten, von ihrem Land vertrieben werden. Mögliche in den Forderungen des Koalitionsantrages nicht. Im (C)
Ausgleichszahlungen liegen meist ein Vielfaches unter Rahmen der G-20-Verhandlungen bestünde die Mög-
dem Wert des verkauften oder verpachtenden Landes. lichkeit, gegen sittenwidrigen und menschenverachten-
Dabei bildet vor allem in Afrika für viele Haushalte die den Landraub vorzugehen. Die Verankerung internatio-
Verfügbarkeit über Land die eigentliche Lebensgrund- naler Regelungen gilt es auch deshalb zu forcieren,
lage. Trotz dieser existenziellen Relevanz fehlen klare damit die durchaus vorhandenen positiven Effekte von
gesetzliche Grundlagen, die die Menschen vor meist il- Investitionen in Land in die richtigen Bahnen gelenkt
legitimen Landverlusten schützen. In Sambia beispiels- werden und dort ankommen, wo sie benötigt werden: bei
weise ist ein Viertel der ländlichen Bevölkerung landlos. den Menschen vor Ort.
Daher ist es richtig und wichtig, die Verbesserung der
gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Besitz und Ei- Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
gentum in den jeweils betroffenen Staaten einzufordern. Die Preisexplosion bei Grundnahrungsmitteln ist
Allerdings muss dabei sehr sensibel vorgegangen wer- dramatisch: Allein der Preis für Weizen lag im März
den, wenn es gilt, festzustellen, welches Land legal und 2011 um mehr als die Hälfte über dem Niveau von 2010.
welcher Besitztum illegal erworben wurde. Hier müssen Russland hat sein im August 2010 eingeführtes Export-
aus dem jeweiligen spezifischen historischen Kontext verbot von Weizen bis heute noch nicht zurückgezogen.
die ursprünglich vorhandenen Besitztümer mit den aktu-
ellen Besitzansprüchen in Einklang gebracht werden. So Die Nahrungsmittelpreise liegen seit langem auf
wie ein nicht vorhandener Landtitel den Anspruch auf schwindelerregenden Höhen: Der VN-Index für die
Landbesitz nicht zwangsläufig auszuschließen hat, be- weltweiten Nahrungsmittelpreise stand im ersten Halb-
deutet es im Umkehrschluss nicht, dass ein bereits er- jahr 2010 nur rund 14 Prozent unter seinem Rekordwert
worbener Landtitel legalen Landbesitz definiert. Denn des Krisenjahres 2008 und war damit fast doppelt so
in vielen Entwicklungsländern existiert seit Jahrzehnten hoch wie noch im Jahr 2000.
eine himmelschreiende Ungerechtigkeit bei der Land- Eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Hunger.
verteilung. Viele Großgrundbesitzer haben zwar Landti- Jedoch ist im letzten Jahr diese Zahl um 98 Millionen
tel, diese sind aber nicht gerecht erworben worden. Des- gesunken. Das entspricht der Bevölkerung Deutsch-
wegen müssen Landreformen teils gegen den Willen der lands, Österreichs und der Schweiz zusammen.
Großgrundbesitzer auch künftig möglich sein. Deshalb
ist an dieser Stelle die zweite Forderung des Koalitions- Das energische und fordernde Handeln von einzelnen
antrages zumindest sehr missverständlich. Staaten wie Deutschland und der Weltgemeinschaft ha-
ben erfolgreich dazu beigetragen, den drastischen An-
Bei einer neuen Vergabe von Landtiteln ist somit sehr stieg der Zahl der hungernden Menschen zu stoppen. (D)
(B)
sensibel abzuwägen, wem das Recht auf Eigentum zuge- Aber dies bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen kön-
sprochen werden kann und wem nicht. Genauso wichtig nen. Immerhin leiden immer noch knapp eine Milliarde
wäre es aber auch, auf mehr Transparenz beim Vertrags- Menschen an Hunger. Wir müssen den Hunger weiter
abschluss von Landkäufen oder Pachtverträgen zu po- bekämpfen, um Stabilität und den Weltfrieden zu sichern
chen – so wie es im Bereich der extraktiven Rohstoffe und um das Leben und die Würde der Menschen zu
durch Extractive Industries Transparency Initiative, schützen. Die Tatsache, dass alle sechs Sekunden ein
EITI, bereits eingefordert wird. Der Antrag der Koaliti- Kind an Unterernährung oder den damit verbundenen
onsfraktionen ist daher in seinen Forderungen nicht Problemen stirbt, bleibt die größte Tragödie in der Welt.
falsch, jedoch einseitig und unzureichend, unzureichend
deshalb, weil die Forderungen nur auf die Stärkung lo- Die Ursachen des Hungers sind vielseitig: Anhalten-
kaler Regelungen abzielen. Die Umsetzung solcher Ge- des Bevölkerungswachstum, Klimawandel und die ohne-
setzesvorhaben ist jedoch meist langwierig und selten hin steigende Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermit-
erfolgreich. Wichtig wäre, an die Verantwortung unter- teln sowie nach Agrarrohstoffen zur Energiegewinnung
nehmerischen Handelns – insbesondere der westlichen haben eine völlig neue Epoche eingeleitet. Land ist eine
und arabischen Investoren – zu appellieren. Die Selbst- immer knapper werdende Ressource, die in Konkurrenz
verpflichtung von Investoren ist ein zusätzliches geeig- mit den verschiedensten Nutzungsinteressen steht: Die
netes Instrument, bei dem die Einbindung der lokalen wachsende Weltbevölkerung, steigende Nachfrage nach
Bevölkerung in für sie relevante Entscheidungsprozesse Nahrungs- und Futtermitteln, ökologische Belastungen,
möglich ist. Die FAO arbeitet aktuell an einer neuen die Energiepolitik verschiedener Staaten und der Klima-
Version der Voluntary Guidelines, die in den kommenden wandel sorgen für eine starke Rivalität der verschiede-
Tagen veröffentlicht werden soll. nen Bevölkerungsgruppen. Seit dem Jahr 2010 über-
steigt die weltweite Nachfrage nach Getreide fast jedes
Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden diesen Pro- Jahr das Angebot. Das Zeitalter der weltweiten Nah-
zess begleiten und uns dafür einsetzen, dass durch die rungsmittelüberschüsse ist vorbei.
Anerkennung solcher freiwilligen Leitlinien der öffentli-
che Druck dazu führt, beispielsweise das Menschenrecht Insgesamt hat dies zu einer Entwicklung geführt, die
auf Nahrung durchzusetzen. Neben diesen flankierenden je nach Bewertung entweder als „Land Grabbing“ oder
freiwilligen Maßnahmen wäre es jedoch noch wichtiger, als „Direct Investment in Land“ bezeichnet wird. Staat-
die lokale Bevölkerung durch verbindliches internatio- liche Akteure, private Investoren aus Industrie- und
nales Recht vor den negativen Auswirkungen von Agar- Schwellenländern sowie inländische private Investoren
investitionen zu schützen. Diese Perspektive findet sich sichern sich mittels langfristiger Pacht- oder Kaufver-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12095
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
(A) träge große Agrarflächen in Entwicklungsländern, um Zum Zweiten müssen wir sowohl bei Staaten als auch (C)
dort Nahrungsmittel oder Energiepflanzen für den bei Unternehmen, die an offizieller Landnahme beteiligt
Export anzubauen. Landwirtschaft wird zunehmend sind, offiziell protestieren. Gerade deutsche Unterneh-
nicht mehr nur zur Nahrungsmittelgewinnung betrieben. men müssen hier sensibilisiert und in die Verantwortung
genommen werden!
Vor allem finanzschwache Länder in Afrika und
Asien, vereinzelt auch osteuropäische Staaten haben die Und zum Dritten müssen wir Staaten und Unterneh-
verstärkte Nachfrage nach Ackerflächen erfahren müs- men bei der Umsetzung einer nachhaltigen Investitions-
sen. Zu beobachten ist dieser Prozess insbesondere in politik aktiv unterstützen. Wir müssen beraten, begleiten
Staaten mit schwachen demokratischen Strukturen und und beim Aufbau der Verwaltung, des Justiz- und Poli-
intransparenter Verwaltung. zeiwesens und eines funktionierenden Vergabesystems
mit unserem Wissen assistieren.
Dringend benötigte Investitionen haben in der Land-
Partnerländern müssen wir bei einer zukunftsorien-
wirtschaft der Entwicklungsländer jahrzehntelang
tierten Landnutzungsplanung behilflich sein und ihnen
gefehlt. Daher kann der derzeitige Trend zu mehr aus-
beim Abbau von Defiziten bei der tatsächlichen Durch-
ländischem Engagement im Agrarsektor der Entwick-
setzung von Recht und Eigentum helfen. Damit wird die
lungsländer grundsätzlich auch als große Chance be-
Ernährung der Bevölkerung erheblich verbessert sowie
griffen werden. Kapital- und Technologietransfer unter-
das Klima und die Ressourcen für nachkommende Gene-
stützen landwirtschaftliche Produktionssteigerung und
rationen geschont. Good Governance ist der Schlüssel
sorgen für eine Verbesserung beim Marktzugang und der zu einem fairen Wirtschaftssystem, das alle Menschen
Infrastruktur. partizipieren lässt und Wohlstand für die gesamte Bevöl-
Werden Direktinvestitionen in Land und Landwirt- kerung schafft.
schaft in Strategien der Armutsreduzierung eingebun- Als Berichterstatterin der FDP-Bundestagsfraktion
den, können zusätzliche Beschäftigungs- und Einkom- für Frauen in Entwicklungsländern möchte ich hierauf
mensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaffen noch einmal besonders eingehen: Frauen besitzen in
werden. Es gibt viele positive Beispiele nachhaltiger In- Entwicklungsländern trotz ihrer bedeutenden Rolle in
vestitionen in den Agrarsektor in Entwicklungsländern. der Landwirtschaft und bei der Versorgung ihrer Fami-
So profitieren beispielsweise bei der „Cotton made in lien nur 10 Prozent der Anbauflächen und nur 1 Prozent
Africa“-Initiative, die von dem Hamburger Unterneh- aller Landtitel. Jedoch produzieren sie 80 Prozent der
mer Michael Otto gegründet wurde, Farmer in Afrika Grundnahrungsmittel. Oftmals haben sie keine oder nur
genauso wie europäische Firmen – die einen, da hohe mangelhafte Besitzrechte. Sicherer Zugang zu Land ver-
(B) Umwelt- und Sozialstandards wie die Förderung von bessert nicht nur ihre ökonomische Situation, sondern (D)
Schulbesuchen der Kinder eingehalten werden, und die stärkt auch ihre soziale und politische Stellung in der
anderen, da sie zuverlässig hochwertige Ware erhalten. Gesellschaft. Daher müssen wir Staaten dabei unterstüt-
zen, gerade Frauen einen gerechten Zugang zu Eigen-
Doch es gibt auch zahlreiche negative Fälle: Bauern tum zu verschaffen.
werden von ihrem Land vertrieben, ohne sich dagegen
wehren zu können. Sie haben entweder keine formalen Auch müssen wir weiter im Rahmen der Welternäh-
Besitztitel, oder korrupte Behörden verwehren ihnen die rungsorganisation FAO und anderen internationalen In-
Durchsetzung ihrer Rechte. Entschädigungs- oder Aus- itiativen konstruktiv mitarbeiten und die Ausgestaltung
gleichszahlungen bleiben den enteigneten Bauern ver- freiwilliger Leitlinien zum Eigentumsrecht vorantreiben.
wehrt. Damit verlieren ganze Dörfer ihre Lebensgrund- Und wir müssen uns mit noch mehr internationalen
lage. Verschärfend kommt hinzu, dass auf diesen Partnern für die Eigentumsfreiheit verbünden und ver-
Flächen häufig Monokulturen angebaut werden, sodass bindliche Verträge mit anderen Staaten abschließen.
Konflikte um die Nutzungsrechte für das oftmals knappe Was wir aber nicht dürfen, ist, bevormunden und
Wasser oder Umweltbelastungen vorprogrammiert sind. übergehen. Wir müssen die Menschen, die Unternehmen
Was müssen wir nun verändern, damit wir die positi- und die Staaten bei dem Kampf gegen den Hunger mit-
ven Seiten der Investitionen nutzen und die negativen nehmen. Wir müssen sie mit unseren Argumenten über-
Auswirkungen verringern können? zeugen und einen gemeinsamen Pakt für die Eigentums-
freiheit schließen!
Als Erstes müssen wir uns alle des Problems bewusst Daher bitte ich Sie ganz herzlich um Unterstützung
werden. Daher gilt es, sich kohärent in der Außen- und für unseren Antrag.
Entwicklungspolitik für den Schutz von Besitz und Ei-
gentum einzusetzen.
Niema Movassat (DIE LINKE):
Ich denke, damit sind wir mit unseren beiden Bundes- Niemals waren Nahrungsmittel so teuer wie derzeit.
ministern Herrn Dr. Westerwelle und Herrn Niebel Der Preisindex der Welternährungsorganisation FAO
schon ein sehr gutes Stück vorangekommen. Auf das liegt aktuell bei mehr als 230 Punkten, dem höchsten
Menschenrecht auf Nahrung und das Menschenrecht auf Wert seit der Einführung im Jahr 1990. Dies ist kein
Eigentumsfreiheit haben beide im Rahmen ihrer Politik, Wunder, schließlich sind die Preise für Grundnahrungs-
ob im Inland, im Ausland oder bei internationalen Orga- mittel in den letzten zwölf Monaten explosionsartig ge-
nisationen, erfolgreich einen Fokus gesetzt. stiegen: für Weizen zum Beispiel, welches zusammen mit

Zu Protokoll gegebene Reden


12096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Niema Movassat
(A) Mais und Reis das meistangebaute Getreide der Welt ist, entkoppeln und stattdessen politisch auf der Grundlage (C)
um 45 Prozent, für Mais um 42 Prozent und für Öl und internationaler Abkommen und im Interesse von Ernäh-
Fette sogar um 56 Prozent. Dies bedeutet nichts ande- rungssicherheit und -souveränität zu regulieren.
res, als dass Millionen Menschen in den Hunger getrie-
ben werden. Verlierer in puncto hohe Nahrungsmittelpreise waren
und sind gerade diejenigen, die von Experten als der
Proteste gegen diese Entwicklung gibt es weltweit. In Schlüssel zur globalen Ernährungssicherung gesehen
der indischen Hauptstadt Delhi gingen Ende Februar werden: die Kleinbauern. Sie besitzen zu kleine Anbau-
bis zu 200 000 Menschen auf die Straße, um gegen die flächen, um ausreichend Nahrung zu produzieren, und
explodierenden Nahrungsmittelpreise und ungenügende sie sind zu schlecht an lokale Märkte angebunden, um
Gegenmaßnahmen zu protestieren. Im Norden Afrikas Gewinne zu erwirtschaften. Ihre Erträge reichen oftmals
begehren die Menschen nicht nur gegen autoritäre noch nicht einmal für die Selbstversorgung aus. Sobald
Regime auf. Sie demonstrieren auch gegen Hunger und die eigenen Ernteerträge aufgebraucht sind, müssen
Armut. Die Bilder gleichen denen der mexikanischen Kleinbauern wie auch Landlose Nahrungsmittel auf dem
Tortilla-Revolte von 2007. Markt kaufen. Wer jedoch mit weniger als einem Dollar
pro Tag seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, kann
Ein neuer preistreibender Faktor sind die Spekulatio- sich bei hohen Nahrungsmittelpreisen selbst die Grund-
nen mit Nahrungsmitteln. Diese treiben die Preise für nahrungsmittel kaum noch leisten.
Lebensmittel immer höher. Dies trifft die Menschen na-
türlich auch hierzulande, insbesondere die ärmeren Eines wird bei alledem klar: Mit einem „Weiter so!“
Teile der Bevölkerung. Wesentlich stärker betroffen aber und mit nur marginalen Änderungen an den herrschen-
sind die Menschen in den Entwicklungsländern, die bis den Strukturen lässt sich die Ernährung in den Entwick-
zu 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausge- lungsländern nicht sichern. Um die Grundnahrungsmit-
ben. Steigen die Preise für Nahrungsmittel dort an, be- telpreise stabil zu halten und den Hunger in der Welt
deutet das Hunger und Tod für die Bevölkerung. wirksam zu bekämpfen, müssen sich die Regierungen
endlich durchringen, die Gier an den Märkten nachhal-
Laut UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck be- tig einzudämmen. Dafür müssen die Agrarbörsen umge-
wegen sich die Preise von Nahrungsmitteln, die an den hend streng reguliert und transparent gemacht werden.
Börsen gehandelt werden, im Gleichschritt mit Aktien,
Währungen oder Öl. Da aber nur Finanzmarkttitel un- Da auch die aktuellen Zahlen für europäische
tereinander so stark korrelieren können, sind die hohen Fleischexporte, für illegale Landnahme und den Anbau
Soja- oder Weizenpreise eine Folge spekulativer Investi- von Agrotreibstoffen alle Rekorde brechen, muss sich die
tionen. Mit ihren Erwartungen, mit ihren Wetten auf die Bundesregierung endlich gegen die aggressive Freihan-
(B) Zukunft, treiben die Spekulanten die Preise hoch und delspolitik der EU gegenüber den Ländern des Südens (D)
machen Profite auf Kosten der Ärmsten. Die Beispiele stellen, gegen Agrarexportsubventionen, gegen Land-
dafür sind zahlreich. Im Jahr 2008, dem Jahr der letzten raub und gegen die Produktion von Agrotreibstoffen. Sie
großen Nahrungsmittelkrise, kauften Finanzinvestoren muss aktiv eintreten für die Stärkung regionaler Märkte,
die komplette Weizenproduktion der kommenden zwei für die Entwicklung ländlicher Regionen und für umfas-
Jahre auf. Damit heizten sie die Preisspirale massiv an. sende Landreformen – wie die Fraktion Die Linke es seit
2010 wurde der Kakao zum Spielball der Spekulanten. langem fordert. Die Durchsetzung des Menschenrechts
Ein Londoner Handelshaus und Hedge-Fonds-Betreiber auf Nahrung und damit die ernsthafte Bekämpfung von
kaufte binnen kürzester Zeit nahezu alle Warenbestände Armut und Hunger kann nur gelingen, wenn die Ge-
an Kakao auf und trieb den Preis pro Tonne schlagartig schäfte mit dem Hunger beendet werden.
um mehr als 300 Dollar in die Höhe. Allein Goldman
Sachs machte 2009 mit Rohstoffderivaten 5 Milliarden Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dollar Gewinn, darunter in steigendem Maße durch Es ist erfreulich, dass sich die Fraktionen der Union
Agrarrohstoffderivate. Ähnlich war es bei Merrill Lynch und FDP nun auch dem überaus wichtigen Thema der
und der Deutschen Bank. großflächigen Landnahme in Entwicklungsländern an-
nehmen. Bereits vor zwei Jahren hatten wir Grünen
Diese Preissteigerungen lohnen sich auch für die gro- hierzu einen Antrag eingereicht und durch diverse Fach-
ßen Lebensmittelkonzerne. So konnte Nestlé seinen veranstaltungen, Pressemitteilungen und Anhörungen
Reingewinn 2010 auf 26 Milliarden Euro mehr als ver- auf die Dringlichkeit der Problematik hingewiesen. End-
dreifachen, auch Danone und Unilever machten glän- lich scheinen wir die Regierungskoalition überzeugt zu
zende Geschäfte. Börsenblätter und Banken wie die haben.
Deutsche Bank rieten postwendend explizit zum Invest-
ment in Nahrungsmittelfirmen. Dabei mutet es schon Dennoch greift der Antrag in vielen Punkten zu kurz.
fast zynisch an, dass gerade die Unternehmen, die sich Die menschenrechtliche Frage wird sehr einseitig be-
der Nahrungsmittelproduktion verschrieben haben, leuchtet. So wird das Recht auf Nahrung nur ein einziges
durch ihr Profitstreben direkt an der Bedrohung der Er- Mal erwähnt, während das Recht auf Eigentum den gan-
nährungssicherheit eines Großteils der Menschheit mit- zen Text wie einen ultimativen Imperativ durchzieht. Da-
wirken. Nicht zuletzt deswegen fordern wir in unserem bei geht es bei dem Phänomen – neben zahlreichen an-
Antrag zum Verbot der Spekulation mit Nahrungsmit- deren ökonomischen, sozialen und ökologischen Aus-
teln, die Erzeugung und den Handel von Agrarrohstof- wirkungen – im Besonderen um die Frage der Ernäh-
fen mittelfristig vollständig von den Finanzmärkten zu rungssicherheit der lokalen Bevölkerung. Werden rie-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12097
Thilo Hoppe
(A) sige Landstriche von ausländischen oder nationalen In- rinnen und -bauern ohne solche verbrieften Rechte so- (C)
vestoren aufgekauft oder gepachtet und stehen somit gar eher gefährdet als geschützt wurde. Denn nun war es
nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zur für Großplantagenbetreiber leichter, das Land an sich zu
Selbstversorgung der dort wohnenden Menschen zur reißen – schließlich gehöre es offiziell niemandem.
Verfügung, dann ist das eine eklatante Beschneidung des
Rechts auf Nahrung. Auch die „Grundprinzipien und Die rechtliche Eintragung von Besitz und Eigentum
Leitlinien zu Zwangsräumungen und Zwangsvertreibun- kann ohne vorherige Umverteilung sogar zu einer Ze-
gen“ des UN-Menschenrechtsrats werden nicht er- mentierung extremer Verteilungsungleichheiten führen.
wähnt, obwohl groß angelegte Landinvestitionen häufig In unserem Antrag fordern wir Agrarreformen, die auch
die zwangsweise Vertreibung von Kleinbäuerinnen und Umverteilung einschließen, da diese einen essenziellen
-bauern nach sich ziehen. Bestandteil für eine gerechtere Landpolitik vor allem in
ländlichen Regionen darstellen. In dem Antrag der Re-
Wie bereits erwähnt, preist der Antrag stattdessen das gierungskoalition geht eine Umverteilung völlig unter –
Recht auf Besitz und Eigentum als Allheilmittel im außer mit dem Vermerk, dass „ein transparentes und
Kampf gegen „Land Grabbing“ an. Gewiss kann die rechtsstaatliches Vergabesystem zu errichten sei, das es
Verbriefung von Landnutzungsrechten in einigen Fällen ermöglicht, Eigentum und langfristige Bewirtschaf-
Kleinbäuerinnen und -bauern mehr Planungssicherheit tungsrechte zu erwerben“. Dabei bleibt unklar, ob hier-
geben, zumal sich heute viele der von Landnahme Be- mit ein rein marktwirtschaftliches System angestrebt
troffenen nicht wehren können, da sie über keine offiziel- wird, was wiederum ein Schlag ins Gesicht der Ärmsten
len Titel verfügen, obwohl ihre Familien das Land über der Armen ist, die sich auf diesem Weg niemals eigenes
Generationen hinweg bewirtschafteten. Allerdings ist Land leisten können.
hier große Vorsicht geboten. Denn allein die juristische
Absicherung von Landbesitz bedeutet noch keine nach- Was die Forderung zum Engagement auf internatio-
haltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und Er- naler Ebene angeht, bleibt die Formulierung schwam-
nährungssituation der neuen Titelhalterinnen und -hal- mig. Es wäre gut zu wissen, zu welchen „anderen inter-
ter. Werden nicht gleichzeitig andere ungerechte lokale nationalen Initiativen“ neben den freiwilligen Leitlinien
und globale Wirtschaftsstrukturen angegangen, ist es der FAO genau beigetragen werden soll. Vermutlich
wahrscheinlich, dass die Betroffenen schnell wieder in wird hier auf die Weltbank-Prinzipien zu verantwortli-
die Schuldenfalle geraten und aus der Not heraus ihr chem Investment angespielt, also auf die RAI-Prinzi-
Land an Investoren verkaufen oder verpachten. Durch pien. Beide Prozesse in gleichem Maße zu unterstützen,
die Formalisierung des Landbesitzes wird der Ausver- halten wir für wenig sinnvoll, da so Parallelstrukturen
kauf von Land in solchen Fällen sogar erleichtert. Ein geschaffen werden und die Autorität der freiwilligen
(B) Ausbrechen aus dem Teufelskreis aus Land- und Arbeits- Leitlinien aufgeweicht wird. Wir sprechen uns klar für (D)
losigkeit, Verstädterung, Verelendung und politischer die FAO-Richtlinien aus, für deren weitere Ausgestal-
Ohnmacht ist damit jedenfalls nicht in Sicht. tung die Bundesregierung dringend mehr finanzielle und
organisatorische Kapazitäten zur Verfügung stellen
Ein besonderes Augenmerk ist auch auf nomadisch sollte.
lebende Viehhirten zu legen. Bei der Ausstellung formel-
ler Landtitel kann es hier leicht zur Benachteiligung die- Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz des Hinweises
ser Gruppen kommen, da die exakten Ausmaße der auf die Gefahren von ausländischen Direktinvestitionen
Landflächen, die sie für ihre Herden benötigen, schwer – dieser Begriff wird trotz des Antragstitels bevorzugt –
abzustecken sind. Des Weiteren gehen die Antragstelle- die Landnahmen in ein unangemessen mildes Licht ge-
rinnen und -steller nicht darauf ein, wie mit kollektiv ge- stellt werden. Die bisher größte Konferenz zu dem
nutztem Land, das auf Gewohnheitsrecht basiert, umge- Thema, zu der sich 150 Wissenschaftlerinnen und Wis-
gangen werden soll. Dass hier zwei grundsätzlich senschaftler vor wenigen Tagen in Sussex versammelten,
verschiedene Verständnisse von Land – einerseits die kam zu dem Schluss, dass der Hunger nach Land gewal-
Idee von Land als Allgemeingut, das auch kulturelle und tige und unumkehrbare negative Auswirkungen auf Um-
soziale Dienste erfüllt, und andererseits von Land als welt und Menschen der betroffenen Länder hat.
reine Ware – aufeinanderprallen, wird schlichtweg unter
den Teppich gekehrt. Das ist ein nicht unerhebliches Vizepräsident Eduard Oswald:
Versäumnis, da diese Formen von Landnutzung in gro-
ßen Teilen des globalen Südens eine bedeutende Stellung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
einnehmen. Umso wichtiger ist die Einbeziehung der Zi- den Drucksachen 17/5488 und 17/4533 an die in der Ta-
vilgesellschaft und der betroffenen Landbevölkerung bei gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie
jedem Land-Deal. Der vorliegende Antrag hält dies sind damit einverstanden? – Widerspruch erhebt sich
wohl nicht für nötig; Regierungen sollen nur dahin nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
gehend beraten werden, dass „die Belange der betroffe- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
nen ortsansässigen Bevölkerung und die Risiken für die
Umwelt berücksichtigt werden“. Das ist eindeutig unzu- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
reichend. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss)
Erfahrungen aus Landtitelprogrammen in Südosta-
sien zeigen, dass in jenen Regionen, die nicht unter die – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Programme fielen, die Lebensgrundlage von Kleinbäue- Zimmermann, Diana Golze, Agnes Alpers,
12098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Bettina Hagedorn (C)
LINKE Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit Priska Hinz (Herborn)
schaffen, bessere Bildung ermöglichen,
vorhandene Qualifikationen anerkennen Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden
– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Po- die Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Na-
thmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Strategie statt Streit – Fachkräftemangel Seit vielen Jahrzehnten ist die Europäische Union ein
beseitigen Garant für Freiheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Er-
folg in ganz Europa. Als exportorientierte und größte
– Drucksachen 17/4615, 17/3198, 17/5100 – Volkswirtschaft in Europa profitiert Deutschland in be-
Berichterstattung: sonderem Maße vom freien Welthandel, vom europäi-
Abgeordneter Johannes Vogel (Lüdenscheid) schen Binnenmarkt und der EU-Erweiterung. Eine
starke Europäische Union ist die beste Voraussetzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu für Wachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit in unse-
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) – rem Land. Daher brauchen wir die richtigen Rahmen-
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Liste der Na- bedingungen für unternehmerische Initiativen, für Inno-
men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns vor. vationen in Wissenschaft und Technik und ein
leistungsfähiges Bildungssystem. Nur so können wir auf
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
Dauer neue Arbeitsplätze auch in Deutschland schaffen
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales
und den Erhalt unserer sozialen Sicherheit gewährleis-
auf Drucksache 17/5100. Der Ausschuss empfiehlt
ten.
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Wohlstand und Stabilität sind aber keine Selbstver-
Drucksache 17/4615. Wer stimmt für diese Beschluss- ständlichkeit. Das haben die Finanz- und Wirtschafts-
empfehlung? – Gegenprobe! – Die Fraktion Die Linke. – krise sowie die Schuldenkrise der Mitgliedstaaten ge-
Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Beschlussempfeh- zeigt. Europas Rahmenbedingungen im wirtschaftlichen
lung angenommen worden. und sozialen Bereich sind einem ständigen Prozess von
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Veränderung, Verwerfung und Neuorientierung unter-
(B)
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- worfen. In weniger als drei Wochen fallen auch in (D)
nen auf Drucksache 17/3198. Wer stimmt für diese Deutschland die letzten Zugangsbarrieren zu Europas
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Das ist die Arbeitsmärkten, und die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Das gilt auch für uns uneingeschränkt. Viele Stimmen in
sind die Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist Deutschland warnen schon seit langem vor einer „Bil-
somit angenommen. ligkonkurrenz“ aus den Nachbarländern und vor „So-
zialdumping“. Diese Panikmache halte ich für nicht be-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: rechtigt. Denn alle Experten sagen uns, dass mit einem
„Massenansturm“ und gravierenden Verwerfungen für
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
unseren Arbeitsmarkt nicht zu rechnen ist. Sorgen und
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Ängste in Deutschland, aber auch in unserem Nachbar-
zur Koordinierung der Systeme der sozialen
land Polen, in Bezug auf die bevorstehende Öffnung des
Sicherheit in Europa und zur Änderung ande-
Arbeitsmarktes nehmen wir ernst. Ich plädiere jedoch
rer Gesetze
für mehr Gelassenheit und für eine offene Willkommens-
– Drucksache 17/4978 – kultur.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Gäbe es keine Gemeinschaftsvorschriften über die
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) soziale Sicherheit, so wäre die Freizügigkeit der Arbeit-
– Drucksache 17/5509 – nehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht. Denn es be-
stünde die Gefahr, dass Wanderarbeitnehmer und ihre
Berichterstattung: Familienangehörigen im Hinblick auf die soziale Si-
Abgeordneter Anton Schaaf cherheit unzureichend geschützt wären. Personen, die
von ihrem Recht Gebrauch machen, sich frei innerhalb
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-
der Europäischen Union zu bewegen, werden mit vielfäl-
schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
tigen Fragen und Problemen im Hinblick auf ihre sozi-
– Drucksache 17/5513 – ale Sicherheit konfrontiert: Wie ist es um die Rentenan-
sprüche eines Arbeitnehmers bestellt, der mehrere Jahre
Berichterstattung: lang in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet hat?
Abgeordnete Norbert Barthle Welcher Mitgliedstaat ist zur Zahlung von Fami-
lienleistungen für Kinder verpflichtet, die in einem an-
1) Anlage 7 deren Mitgliedstaat wohnen? Welcher Mitgliedstaat ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12099
Dr. Johann Wadephul
(A) zur Zahlung von Arbeitslosenleistungen für Grenzgän- über diesen Vorschlag bis jetzt noch nicht abgeschlos- (C)
ger verpflichtet? Die nationalen Sozialgesetze geben auf sen.
diese Fragen oft nur unzureichende oder überhaupt
keine Antworten: Viele Arbeitnehmer liefen Gefahr, dass Die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71
sie in zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig oder gar nicht stellen in dreifacher Hinsicht sicher, dass die Anwen-
versichert wären oder erworbene Ansprüche auf Sozial- dung der verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvor-
leistungen verlören, ohne neue Ansprüche aufbauen zu schriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat,
können. die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der
Europäischen Union Gebrauch machen. Dies geschieht
Aus diesem Grund sind gemeinsame Regelungen in- in folgender Weise: Die Gleichbehandlung aller
nerhalb der Europäischen Union notwendig, die einen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist in den einzel-
wirksamen und umfassenden Schutz gewährleisten. Die staatlichen Rechtsvorschriften gewährleistet. Alle erfor-
Gemeinschaftsvorschriften für den Bereich der sozialen derlichen Versicherungs-, Aufenthalts- und Beschäfti-
Sicherheit ersetzen die bestehenden nationalen Sozial- gungszeiten werden berücksichtigt, nämlich durch die
versicherungssysteme nicht durch ein einheitliches eu- Zusammenrechnung der Versicherungszeiten. Wenn ein
ropäisches System. Eine derartige Harmonisierung Wanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem ande-
wäre unmöglich, da die Unterschiede im Lebensstan- ren Mitgliedstaat aufnimmt, werden die Zeiten berück-
dard zwischen den Staaten der Europäischen Union und sichtigt, die nach den Rechtsvorschriften über die sozi-
des Europäischen Wirtschaftsraums zu groß sind. Aber ale Sicherheit in anderen Mitgliedstaaten erworben
auch Staaten mit vergleichbarem Lebensstandard wei- wurden. Auf diese Weise gehen erworbene Leistungsan-
sen unterschiedliche Sozialversicherungssysteme auf, sprüche nicht verloren. Schließlich werden Sozialleis-
die auf etablierte Traditionen zurückgehen, die fest in tungen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen
der nationalen Kultur und den nationalen Gepflogenhei- ungeachtet des Beschäftigungs- oder Wohnorts garan-
ten verwurzelt sind. Daher kann jeder Mitgliedstaat tiert.
selbst darüber entscheiden, wer nach den innerstaatli-
chen Rechtsvorschriften zu versichern ist, welche Leis- Der durch die Gemeinschaftsbestimmungen vorgese-
tungen zu welchen Bedingungen gezahlt werden, wie hene Personenkreis ist umfassend geschützt. Die Ge-
diese Leistungen berechnet werden und welche Beiträge meinschaftsbestimmungen gelten für alle europäischen
zu zahlen sind. Bürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat bewe-
gen, und zwar unabhängig vom Grund und der Dauer
Anstelle einer Harmonisierung der einzelstaatlichen ihres Aufenthalts. Diese gemeinschaftlichen Regeln gel-
Sozialversicherungssysteme sehen die Gemeinschafts- ten für alle gesetzlichen Leistungen bei Krankheit und
vorschriften über die soziale Sicherheit lediglich eine Mutterschaft – für Geld- und für Sachleistungen –, bei (D)
(B)
Koordinierung der Systeme vor. In den Gemeinschafts- Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Invalidität,
vorschriften über die Koordinierung der sozialen bei Alter und im Todesfall, bei Arbeitslosigkeit sowie für
Sicherheit sind gemeinsame Regeln und Grundsätze Familienleistungen. Dagegen werden Sozialhilfe, Kran-
festgelegt, die von allen nationalen Behörden, Sozialver- kengeld, Leistungen an Kriegsversehrte und deren Hin-
sicherungsträgern und Gerichten beachtet werden terbliebene, Betriebsrenten und Vorruhestandsregelun-
müssen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die An- gen nicht durch Gemeinschaftsvorschriften abgedeckt.
wendung der unterschiedlichen innerstaatlichen Rechts-
vorschriften keine nachteiligen Folgen für Personen hat, Wie ich schon in der Debatte zur ersten Lesung dieses
die von ihrem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht in- Gesetzentwurfes ausgeführt habe, hat die Europäische
nerhalb der Europäischen Union und des Europäischen Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bereits einen
Wirtschaftsraums Gebrauch machen. Es geht also nicht ganzen Sockel verbindlicher Mindeststandards im Ar-
darum, die besonderen Merkmale der Systeme der ein- beits- und Gesundheitsschutz sowie im Arbeitsrecht ver-
zelnen Mitgliedstaaten zu beseitigen, sondern darum, abschiedet. Die Europäische Union hat auch Regeln für
einzelne Aspekte der innerstaatlichen Rechtsvorschrif- die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung
ten zu korrigieren, die sich für Wanderarbeitnehmer und der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Be-
ihre Familienangehörigen ungünstig auswirken können. triebsrat gehört ebenso dazu wie der „soziale Dialog“.
Bereits mit der Lissabon-Strategie haben sich die Mit-
Die einschlägigen Regelungen, die es seit mehr als gliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und So-
30 Jahren gibt, sind in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zialpolitiken besser zu koordinieren.
und der zugehörigen Durchführungsverordnung
Nr. 574/72 enthalten. Diese Verordnungen wurden seit Um mehr und bessere Arbeitsplätze in Europa zu
ihrer Verabschiedung im Jahre 1971 mehrfach ange- schaffen, arbeiten die Mitgliedstaaten und die Gemein-
passt, um den Änderungen in den nationalen Rechtsvor- schaft seit langem an einer koordinierten Beschäfti-
schriften Rechnung zu tragen, eine Reihe von Bestim- gungsstrategie und stimmen ihre Beschäftigungspolitik
mungen zu verbessern, Unzulänglichkeiten zu beheben aufeinander ab. Diese Koordinierung hat über die Lis-
oder die besondere Situation bestimmter Personengrup- sabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen.
pen zu berücksichtigen. Im Jahr 1998 legte die Kommis- Kernstück dieses Prozesses sind die beschäftigungspoli-
sion einen Vorschlag zur Modernisierung und Vereinfa- tischen Leitlinien als wesentlicher Bestandteil der EU-
chung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vor, um sie 2020-Strategie, die die Lissabon-Strategie abgelöst hat.
„effizienter und nutzerfreundlicher“ zu machen. Der Rat Wir können also festhalten: Es gibt durchaus einen
und das Europäische Parlament haben die Beratungen Sockel von sozialen Standards, Regeln für die Beteili-

Zu Protokoll gegebene Reden


12100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Dr. Johann Wadephul


(A) gung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Re- sorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstel- (C)
geln für die Koordinierung der sozialen Sicherheit, len als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Daten-
finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohä- austausch geschaffen werden, die alle in der EU-
sion und europäische Ziele im Bereich der Koordinie- Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.
rung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken. Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten,
Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie des
Der Koordinierung der sozialen Sicherung in den Gesetzes über die Altersversicherung der Landwirte ver-
Mitgliedstaaten kommt daher eine erhebliche Bedeutung merkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnun-
zu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union ist gen ergeben.
in den neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und
Nr. 987/2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet,
geregelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Si- so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Si-
cherungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren, cherung von Wohlstand, Wachstum, Beschäftigung und
damit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeit sozialer Sicherheit – kurz: die Erhaltung und Entwick-
in der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurch lung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, und
unangemessene sozialrechtliche Nachteile hat. zwar unter den Bedingungen der Globalisierung – ist
das, was die Bürger von Europa und von ihren Regie-
Diese Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel für rungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wir
ein Handlungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Denn die Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum ma-
nur durch verbindliche Regelungen auf europäischer chen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
Ebene kann sichergestellt werden, dass das Recht auf mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größe-
Freizügigkeit – eine der großen europäischen Grund- ren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.
freiheiten – im Hinblick auf die soziale Absicherung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Selbst-
Anton Schaaf (SPD):
ständigen bei ihren erworbenen Anwartschaften ange-
messen flankiert wird. Zahlreiche Zuständigkeitsfragen Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der
wurden nicht mehr in den Anhängen der Durchführungs- sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbunde-
verordnung geregelt, sondern sollen in eine öffentlich nen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatliche
zugängliche Datenbank eingetragen werden. Aus Grün- gesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die den
den der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollen zuständigen Behörden, Trägern und Verbindungsstellen
entsprechende Aufgabenzuweisungen durch innerstaat- zu mehr sozialer Sicherheit verhelfen soll. Mit dem Ge-
liche Regelungen vorgenommen werden. Auch bedingt setz werden die zuständige Behörde, die Verbindungs-
stellen für berufsständische Versorgungseinrichtungen
(B) die Ablösung der bisherigen Verordnungen entspre- und für Familienleistungen sowie die Zugangsstellen für (D)
chende Änderungen im Sozialgesetzbuch und anderen
Gesetzen sowie der darin enthaltenen Verweisungen. den grenzüberschreitenden elektronischen Datenaus-
gleich festgelegt. Außerdem wird die Benachrichtigung
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent- der Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Ent-
wurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Si- sendungen geregelt.
cherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßige
Bei den Änderungsanträgen geht es um ein Rückkehr-
Durchführung der neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/
recht in die gesetzliche Krankenversicherung der bei ei-
2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systeme
ner internationalen Organisation Beschäftigten, die ver-
der sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werden
waltungsinterne Beteiligung von Verbindungstellen bei
damit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrer
der Festlegung des anwendbaren Rechts, die Daten-
ausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezo-
übermittlung und die Urlaubs- und Lohnausgleichs-
gen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Be-
kasse der Bauwirtschaft sowie um Folgeänderungen
schäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund und
aufgrund des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedar-
Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle
fen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Krankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maß-
Sozialgesetzbuch.
nahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung von
Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen Durch die Herausnahme der vom Gesundheitsaus-
im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern ent- schuss beantragten Änderungen bei Übernahme in das
sprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes ist Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und
die Feststellung der zuständigen Behörden, Träger so- weiterer Gesetze können wir dem vorliegenden Gesetz
wie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwen- zustimmen. Das Gesetz dient dem bereits verankerten
dung und Durchführung der EU-Verordnungen. Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, in diesem
Fall den Beziehern einer ausländischen Rente. Diese
Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaus- soll künftig zur Beitragsfinanzierung der Kranken- und
tausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll Pflegeversicherung herangezogen werden. Ab dem
die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versor- 1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch für Renten
gungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungs- aus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und Pflegever-
hilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreiten- sicherung gezahlt werden.
den Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eine
Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenver- Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12101
Anton Schaaf
(A) mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat diesen Druck noch (C)
von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversi- weiter verstärkt. Unabhängig von der Koordination der
cherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischen sozialen Sicherheit in Europa ist es für die SPD ein
Renten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicher- Grundsatz, dass die Finanzierung und Bereitstellung
ten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als auch von Renten in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
eine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bis- bleiben muss. Wir werden es nicht zulassen, dass euro-
lang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung der paeinheitliche Standards zu einer Verschlechterung gu-
Beiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung her- ter Systeme einiger Mitgliedstaaten führen. Im Konflikt-
angezogen. Dieses eher technische Gesetz soll es er- fall müssen die sozialen Belange der Menschen Vorrang
leichtern, die Verfahren der Leistungen in grenzüber- haben.
greifenden Sachverhalten besser zu koordinieren.
Ich begrüße die Bereitschaft, die Änderungen aufzu-
Die Einbeziehung ausländischer Renten in die Bei- nehmen, die es ermöglicht haben, den Gesetzentwurf im
tragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung der Ausschuss für Arbeit und Soziales einstimmig anzuneh-
Rentner führt zu geringfügigen Mehreinnahmen der ge- men.
setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Insbeson-
dere durch die Einführung des elektronischen Datenaus-
Sebastian Blumenthal (FDP):
tauschs wird mit Mehrausgaben bei den zuständigen
Leistungsträgern – das sind die gesetzliche Krankenver- Zum 1. Mai wird die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit
sicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die ge- in der EU hergestellt. Um diesen Prozess sozialpolitisch
setzliche Rentenversicherung, die Bundesagentur für auf nationaler Ebene zu flankieren, werden wir mit dem
Arbeit, örtliche Familienkassen und örtliche Elterngeld- heute zu verabschiedenden Gesetz unseren nationalen
stellen – sowie bei den Verbindungsstellen gerechnet, Beitrag dazu leisten, die sozialen Sicherungssysteme in
die sich in den Jahren 2011 und 2012, in denen die benö- Europa zu koordinieren. Im vorliegenden Entwurf eines
tigte Software entwickelt wird, schätzungsweise auf rund Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen
2 bis 3 Millionen Euro und in den Folgejahren auf circa Sicherheit in Europa und zur Änderung anderer Gesetze
1 Million Euro belaufen werden. Sich hieraus ergebende werden von der Bundesregierung die Detailregelungen
Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt werden in den formuliert, um die entsprechenden EU-Vorgaben in
jeweiligen Einzelplänen im Rahmen der bestehenden nationales Recht umzusetzen.
Ansätze aufgefangen. Den Mehraufwendungen stehen
Seitens der christlich-liberalen Koalition haben wir
Effizienzzuwächse in der Zusammenarbeit zwischen den
unser Hauptaugenmerk darauf ausgerichtet, die Sicher-
inländischen und den ausländischen Stellen gegenüber.
heit unserer sozialen Versorgungssysteme zu erhalten
(B)
Für Bürgerinnen und Bürger werden durch das Ge- und zu stärken. Im Bereich der Alterssicherungssysteme (D)
setz keine Informationspflichten eingeführt, geändert werden Rentnerinnen und Rentner endlich gleichgestellt
oder aufgehoben. Für Unternehmen wird durch das Ge- – unabhängig davon, ob sie Renten aus dem Inland oder
setz eine neue Informationspflicht eingeführt. Unterneh- aus dem Ausland beziehen. Die gesetzliche Krankenver-
men müssen der Bundesagentur für Arbeit im Fall der sicherung und die soziale Pflegeversicherung werden
Arbeitslosigkeit ehemaliger beschäftigter Grenzgänger damit gestärkt, indem pflichtversicherte Rentnerinnen
und anderer Personen, die im Ausland Leistungen bei und Rentner künftig auch mit ihrer ausländischen Rente
Arbeitslosigkeit beantragen wollen, die für deren Leis- zur Beitragsfinanzierung ihrer Kranken- und Pflegever-
tungsanspruch maßgeblichen Tatsachen mitteilen. Für sicherung herangezogen werden. Die Versichertenge-
die Verwaltung wird eine Meldepflicht neu eingeführt. meinschaft wird dadurch dauerhaft und nachhaltig ge-
Da die vorgesehene Übermittlung der in den Entsende- schützt. Die Höhe der zu zahlenden Beiträge wird dabei
bescheinigungen enthaltenen Daten in einem automati- derart festgelegt, dass die Leistungsempfänger von Al-
sierten Verfahren über den GKV-Spitzenverband, Deut- terssicherungssystemen im Ausland keine höhere Belas-
sche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, tung erfahren als die Bezieher von gleich hohen Renten-
erfolgt, wird sich der Mehraufwand in überschaubaren zahlungen im Inland.
Grenzen halten.
Wir haben als christlich-liberale Koalition dafür
Klar ist, dass Neuregelungen nicht kostenlos umzu- Sorge getragen, zum einen die Versicherten – und damit
setzen sind. Natürlich ist der Gleichstellung der europä- die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler – zu schüt-
ischen Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinie- zen und zum anderen die Gesamtheit der Bürgerinnen
rung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa und Bürger vor zusätzlichen Bürokratie- und Kostenbe-
Rechnung zu tragen, wenn es um Neuregelungen geht. lastungen zu schützen. Von daher erachten wir es als au-
Dies darf aber nicht mit dem Ziel einhergehen, insge- ßerordentlich wichtig, wie der nationale Normenkont-
samt in Europa eine schrittweise Durchsetzung eines rollrat den Gesetzentwurf im Hinblick auf Bürokratie-
niedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit zu etablieren, kosten bewertet, die sich durch Informationspflichten er-
was an vielen Stellen der europäischen Handlungen lei- geben. Nach aktuell vorliegenden Kostenschätzungen
der allzu deutlich wird. Die SPD-Fraktion begrüßt, dass entstehen auf Verwaltungsseite Bürokratiekosten in
die EU-Kommission eine Gleichstellung der Europäer Höhe von rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Da die vor-
in den Blick nimmt. Da es in allen Mitgliedstaaten im- gesehene Übermittlung von Daten im automatisierten
mer mehr ältere Menschen gibt, stehen die aktuellen Verfahren erfolgen soll und die daraus resultierenden
Systeme für die Alterssicherung unter massivem Druck. Bürokratiekosten nachvollziehbar abgebildet werden,

Zu Protokoll gegebene Reden


12102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Sebastian Blumenthal
(A) wird sich die Kostensteigerung in sehr engen Grenzen ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Wir (C)
halten. Und für uns als FDP ist am allerwichtigsten: Linken wollen eine solidarische Kranken- und Pflege-
Der Normenkontrollrat stellt klar, dass mit dem Entwurf versicherung einführen. Mit dieser Bürgerinnen- und
„für Bürgerinnen und Bürger keine Informationspflich- Bürgerversicherung wird die Bemessungsgrundlage auf
ten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben werden“. alle Einnahmen ausgedehnt und die Versicherungs-
Von daher werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen pflichtgrenze ebenso abgeschafft wie die Beitragsbemes-
und hoffen auf eine breite Zustimmung – auch von den sungsgrenze. Unsere Vorstellungen zu einer solidari-
Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen schen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung haben wir
in diesem Haus. Ende März 2010 in den Bundestag eingebracht.
Mit dieser Debatte kommt das parlamentarische Ver- Die Linke hat also an der Koordinierung der sozialen
fahren zum vorliegenden Gesetzentwurf zum Abschluss. Systeme in Europa nichts auszusetzen. Die konkret in
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen friedliche und ereig- diesem Gesetz vorgesehenen Änderungen erscheinen
nisreiche Feiertage – gleich, ob Sie die Osterfeiertage unproblematisch. Wer allerdings ein wirklich soziales
im Kreise der Familie und Freunde verbringen oder den Europa will, also ein Europa auch der Arbeitnehmerin-
1. Mai gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen auf nen und Arbeitnehmer, der muss mehr tun, als hier und
Kundgebungen zubringen. da zu koordinieren. Wir brauchen endlich eine soziale
Fortschrittsklausel im Vertragswerk der Europäischen
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Union, die klarstellt, dass alle EU-Bürgerinnen und
Mit ihrem Gesetzentwurf legt die Bundesregierung Bürger soziale Grundrechte haben und nicht einfach nur
Detailregelungen zur Umsetzung der EU-Verordnungen Rangiermasse von Kapitalinteressen sind.
zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
und zur Festlegung der Modalitäten zur Durchführung Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dieser Verordnung fest. Die EU-Verordnung zur Koordi- NEN):
nierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt die
Anwendung der nationalen Sozialversicherungssysteme Stärkere Personenfreizügigkeit innerhalb der Mit-
in Europa, konkret in den 27 Mitgliedstaaten der EU gliedsländer der Europäischen Union erfordert auch
plus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, eine stärkere Abstimmung der sozialen Sicherungssys-
„Europäischer Wirtschaftsraum“. Die nationalen Siche- teme. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einem „sozia-
rungssysteme werden durch die Verordnung nicht er- len Europa“, in dem mobile Arbeitskräfte ausreichende
setzt, sondern zueinander kompatibel gemacht. und vor allem lückenlose Schutzrechte und Absicherun-
gen erhalten. Sofern grundlegende datenschutzrechtli-
(B) Ursprünglich wurde ein diskriminierungsfreier Zu- che Belange beachtet werden, kann der Abgleich von (D)
gang von EU-Ausländerinnen und Ausländern zu den Versichertendaten auch ein wichtiger Baustein im
nationalen Sozialversicherungssystemen festgelegt. Mit- Kampf gegen Schwarzarbeit und Sozialversicherungs-
tlerweile ist dieser Grundgedanke durch die VO 883/04 betrug sein. Die eher technische Aufgabenstellung wird
weitergeführt worden. Es gelten dabei vier Grundprinzi- durch den vorliegenden Entwurf insgesamt recht ordent-
pien: lich gelöst, deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zur
Koordinierung der sozialen Sicherheit in Europa zustim-
Erstens. Menschen unterliegen zu jedem Zeitpunkt
men.
immer nur den Vorschriften eines Landes und zahlen nur
in einem Land Beiträge. Die substanziellen Rechtsvor- Allerdings habe ich den Eindruck, dass es den Koali-
schriften werden in dem jeweiligen Land festgelegt. tionsfraktionen nicht gut bekommt, wenn die Opposition
Zweitens. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehand- zu wenig Anlass zur Kritik sieht. Nach den fraktionsü-
lung und Nichtdiskriminierung. Das heißt: Von der Ko- bergreifend im Grundsatz positiven Debattenbeiträgen
ordinierung umfasste Personen haben dieselben Rechte legten CDU/CSU und FDP einen Änderungsantrag zur
und Pflichten wie die jeweils Einheimischen. Beratung in den Ausschüssen vor. Dieser Änderungsan-
trag sollte unter anderem einen neuen § 295 a im Sozial-
Drittens. Wenn eine Leistung beansprucht wird, wer- gesetzbuch V schaffen, durch den die Datenverarbeitung
den Versicherungs-, Beschäftigungs- und Aufenthalts- bei besonderen Versorgungsformen geregelt werden
zeiten in anderen Ländern gegebenenfalls berücksich- sollte, unter anderem bei der hausarztzentrierten Ver-
tigt. sorgung. Die Aufnahme dieses Punktes war völlig dane-
Viertens. Wenn ein Anspruch in einem Land besteht, ben.
kann dieser auch in einem anderen Land ausgezahlt
Erstens handelt es sich dabei um ein komplexes
werden – Leistungen sind also „exportierbar“.
Thema, das seit Jahren auf eine Lösung wartet. Die Ein-
Ich möchte einen Aspekt herausgreifen. Künftig sol- schätzungen über die Rechtssicherheit und Zulässigkeit
len Grenzgängerinnen und Grenzgänger auch auf ihre der vorgeschlagenen Regelung gehen allerdings unter
ausländischen Renten Beiträge an die Krankenversiche- sachkundigen Experten auseinander. Dies zeigt auch die
rung entrichten. Die Linke hält das für richtig, und zwar Debatte zwischen dem Bundesbeauftragten für Daten-
aus einem einfachen Grund: Wir sind der Auffassung, schutz und Informationsfreiheit und seinem Amtskolle-
dass alle Bürgerinnen und Bürger mit allen ihren tat- gen aus dem Land Schleswig-Holstein. Damit be-
sächlichen Einnahmen im vollen Umfange einen Beitrag schleicht einen das Gefühl, hier solle unbemerkt eine
zur gesetzlichen Krankenversicherung leisten sollen, der seit Monaten ausstehende Regelung durchgewunken

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12103
Beate Müller-Gemmeke
(A) werden. So geht das natürlich nicht. Für uns hat der Da- Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
tenschutz einen besonderen Stellenwert. Wir kommen somit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
Genau deshalb ist es aber – zweitens – ein Unding, empfehlung auf Drucksache 17/5509, den Gesetzent-
dieses Regelungsvorhaben als Unterpunkt eines Ände- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4978 in
rungsantrages zu einem gänzlich anderen Thema einzu- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
bringen. Ohne Not, ohne begründeten Zeitdruck und die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
ohne zwingenden inhaltlichen Grund sollte der vorlie- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gende Gesetzentwurf quasi als „Omnibus“ für sonstige gen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Somit ist
Regelungsbedarfe verwendet werde. Ich finde, das wird der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
der Sache nicht gerecht. Es ist handwerklich wirklich nommen.
schlecht, wenn die Ablehnung einer an sich nicht
Dritte Beratung
schlechten Vorlage in Kauf genommen wird, weil man
sie mit anderen Themen überfrachtet. Das zeigt – drit- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
tens – auch mangelnden Respekt vor dem Parlament und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
seinen Ausschüssen. Die Strukturen und Verfahren des Gegenprobe! – Enthaltungen? – Auch keine. Der Ge-
Deutschen Bundestages sind darauf angelegt, zwischen setzentwurf ist somit einstimmig angenommen.
den Lesungen die parlamentarischen Initiativen durch
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung und Änderungsanträge zu verbessern. Aber sie
sind nicht dafür gedacht, gänzlich neue Themen hinzu- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
zustellen. Sachgerechte Beratung sieht anders aus. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsge-
Am Ende haben CDU/CSU und FDP ihr hemdsärmeli- setzes
ges Vorgehen offenbar eingesehen. Der besagte Punkt 1d
des Änderungsantrags wurde gestrichen. Die verblei- – Drucksache 17/4805 –
benden Punkte sind insgesamt unproblematisch und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
haben in den Ausschüssen auch die Zustimmung der ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Grünen gefunden. So sollen Rückkehrende aus internati- schuss)
onalen Organisationen demnach unter den gleichen Vo-
raussetzungen wie Auslandsrückkehrende Zugang zur – Drucksache 17/5511 –
GKV erhalten, wenn sie innerhalb von zwei Monaten Berichterstattung:
(B) eine neue Beschäftigung im Inland aufnehmen. Dem (D)
Abgeordneter Thomas Bareiß
steht nichts entgegen.
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Die „Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versor- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
gungseinrichtungen“ soll bei der Festlegung des anzu-
– Drucksache 17/5514 –
wendenden Rechts beteiligt werden, soweit der von ihr
betreute Personenkreis betroffen ist. Auch gegen diese Berichterstattung:
Anregung vonseiten des Bundesrates ist nichts einzu- Abgeordnete Dr. Michael Luther
wenden. Schließlich soll die zuständige Datenstelle ge- Klaus Brandner
gebenenfalls Informationen an die Urlaubs- und Lohn- Ulrike Flach
ausgleichskasse der Bauwirtschaft zum Zwecke der Roland Claus
Einziehung von Beiträgen und der Gewährung von Leis- Priska Hinz (Herborn)
tungen übermitteln. Dies ist als Schritt zur Verhinderung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
von Schwarzarbeit und zur Gewährleistung sozialer Ar- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1)
beitnehmerrechte zu begrüßen. Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na-
men der Kolleginnen und Kollegen liegt dem Präsidium
Wir, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, wer- vor.
den dem Gesetzentwurf daher auch in seiner geänderten
Form zustimmen. Als überzeugte Europäerinnen und Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Europäer werden wir uns Regelungen nicht entgegen- Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
stellen, welche die europaweite Mobilität von Arbeitneh- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5511, den Gesetz-
menden durch eine bessere Koordinierung sozialer Ab- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4805
sicherung ergänzt. In diesem Zusammenhang möchte ich anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
auch nochmals sagen: Hier gibt es noch einiges zu tun. wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das
Beispielsweise sollte die Bundesregierung dafür Sorge sind die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und Bünd-
tragen, dass auch Ansprüche aus Betriebsrenten in ein nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Ein Kollege
anderes europäisches Land mitgenommen werden kön- stimmt dagegen. Enthaltungen? – Das sind die Fraktion
nen. Kollege Wadephul hat diesen Aspekt in seiner Rede der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Der Ge-
zur Einbringung des Gesetzentwurfes ebenfalls erwähnt.
Nun müssen den Worten allerdings noch Taten folgen. 1) Anlage 8
12104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen onsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt erstellen“. Wer (C)
worden. stimmt für diesen Antrag? – Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Die Linke. Wer
Dritte Beratung
stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen CDU/CSU
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und FDP. Enthaltungen? – Keine. Der Antrag ist abge-
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – lehnt.
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das sind die
Fraktion der SPD und die Linksfraktion. Der Gesetzent- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wurf ist somit angenommen.1) wärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/5092. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und b auf: schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, DIE tion der SPD auf Drucksache 17/3176 mit dem Titel
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „10 Jahre UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Si-
cherheit‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Deutschland im UN-Sicherheitsrat – Nationa- Das sind die Fraktionen CDU/CSU, FDP und Die Linke.
len Aktionsplan zur UN-Resolution 1325 jetzt Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen SPD und
erstellen Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Die
– Drucksache 17/5044 – Beschlussempfehlung ist angenommen.

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
richts des Auswärtigen Ausschusses lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
(3. Ausschuss) Drucksache 17/3205 mit dem Titel „Verpflichtung zur
UN-Resolution 1325 ‚Frauen, Frieden und Sicherheit‘
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD einhalten – Auf Gewalt in internationalen Konflikten
10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen, Frie- verzichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
den und Sicherheit“ lung? – Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-
kraten. Gegenprobe! – Die Linksfraktion und ein Abge-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia ordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? –
Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weite- Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE angenommen.
Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
„Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhalten – Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
(B) Auf Gewalt in internationalen Konflikten des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf (D)
verzichten Drucksache 17/2484 mit dem Titel „10 Jahre UN-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Mül- Resolution 1325 – Frauen, Frieden und Sicherheit – Na-
ler (Köln), Katja Keul, Ute Koczy, weiterer Ab- tionaler Aktionsplan für eine gezielte Umsetzung“. Wer
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
GRÜNEN Koalitionsfraktionen und die Linke. Gegenprobe! – SPD
und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine.
10 Jahre UN-Resolution 1325 – Frauen, Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Frieden und Sicherheit – Nationaler Akti-
onsplan für eine gezielte Umsetzung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
– Drucksachen 17/3176, 17/3205, 17/2484, Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
17/5092 – CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Neunundzwanzigsten Gesetzes zur Ände-
Berichterstattung: rung des Abgeordnetengesetzes – Einführung
Abgeordnete Philipp Mißfelder eines Ordnungsgeldes
Edelgard Bulmahn
Dr. Bijan Djir-Sarai – Drucksache 17/5471 –
Sevim Dağdelen Überweisungsvorschlag:
Kerstin Müller (Köln) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) – Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Sie sind sicher damit einverstanden. Die Liste der Na- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.3) –
men der Kolleginnen und Kollegen liegt uns hier vor. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Auch hier ver-
zichte ich auf das Vorlesen der Namen der einzelnen
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Redner.
Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5044 mit dem Titel Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
„Deutschland im UN-Sicherheitsrat – Nationalen Akti- wurfs auf Drucksache 17/5471 an den Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorge-
1) Erklärungen nach § 31 GO siehe Anlage 2
2) Anlage 9 3) Anlage 10
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12105
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) schlagen. – Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist Grundlage hier ein Mensch zum Tode verurteilt werden (C)
das somit beschlossen. soll.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: In den Grundsätzen, Argumenten und Zielen unserer
Menschenrechtspolitik sind wir uns über die Fraktionen
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette hinweg einig. Weniger einig sind wir uns dagegen in der
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Einschätzung, dass auch Menschenrechte etwas Dyna-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE misches sind, dass man sie politisch nur mit Augenmaß,
Nein zur Todesstrafe – Hinrichtung von Troy nur durch das behutsame, aber hartnäckige Bohren di-
Davis verhindern cker Bretter durchsetzen kann, vor allem aber, dass eine
Menschenrechtspolitik, die sich – in den Begriffen Max
– Drucksache 17/5476 – Webers – von einer Verantwortungsethik leiten lässt, die
sich auf den konkreten nächsten Schritt konzentriert und
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
auch Teilerfolge akzeptiert, letztlich zu besseren Ergeb-
Reden zu Protokoll genommen. Die Liste der Namen
nissen führt als eine gesinnungsethische Alles-oder-
der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.
Nichts-Politik, die ihren Anhängern zwar das Gefühl
moralischer Überlegenheit gibt, aber mehr Porzellan
Michael Frieser (CDU/CSU): zerschlägt, als ihnen selbst lieb sein kann.
Für uns Deutsche und die große Mehrzahl der euro-
päischen Länder ist die Todesstrafe Geschichte, kein Der hier vorliegende Antrag akzentuiert diejenigen
Thema mehr, über das wir in Pro und Kontra diskutie- politischen Handlungsmuster, welche in der Sicht von
ren. Nach unserer Vorstellung, nach unserem christlich Union und FDP als der Sache nicht dienlich, tendenziell
geprägten Menschenbild ist die Todesstrafe eine grau- kontraproduktiv und letztlich parteipolitischer Instru-
same und unmenschliche Strafe. Der Mensch kann nicht mentalisierung dienend angesehen werden: die Bindung
Richter über Leben und Tod anderer Menschen sein, politischer Einflussnahme und Aufklärungsarbeit an
ohne immer auch über sich selbst zu richten. Die Todes- Einzelfälle; die Auswahl der Einzelfälle nach Ländern in
strafe verstößt gegen das Grundrecht auf Leben und die der Weise, dass das Thema Todesstrafe mit einer Kritik
unantastbare Würde des Menschen. der deutschen Außenbeziehungen zu bestimmten Staaten
verbunden werden kann. Einen Antrag zur Aufhebung
Aber gerade hier erleben wir in bedrängender Weise einer Todesstrafe im Libanon oder im Iran scheint die
die Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit der politi- Linke dagegen stets zu vermeiden.
schen und kulturellen Verhältnisse in unserer Welt. Noch
(B) immer gibt es eine Vielzahl von Ländern, die an der To- Vor allem Punkt 5 der Feststellung, dass der Deut- (D)
desstrafe festhalten. sche Bundestag seine Überzeugung bekräftigen solle,
dass sich die Einhaltung der Menschenrechte und die
Wir sehen aber auch, wenn die jeweils von einem kon- gleichzeitige Verhängung der Todesstrafe mit Hinweis
kreten Fall ausgelöste Welle von Emotionen wieder ein auf die USA zwingend gegenseitig ausschließen, kann in
Stück weit abgeebbt ist, dass in den letzten Jahren nicht dieser Form nicht die Zustimmung von Union und FDP
nur hier in Europa, sondern weltweit erhebliche Fort- finden. Schließlich sind die USA diejenigen, die erstmals
schritte erreicht worden sind. Auch in den Ländern, die die Menschenrechte in der Bill of Rights proklamiert ha-
zurzeit noch an der Todesstrafe festhalten, beginnen un- ben. Sie jetzt aufgrund eines einzigen Problempunkts mit
sere Argumente zu wirken. Kein System ist vor einem diktatorisch regierten Unrechtsstaaten in eine Ecke der
Fehler sicher. Die Angst vor einem öffentlichen, weltweit Menschenrechtsverletzer mit Staaten wie Nordkorea,
diskutierten Justizirrtum ist groß. Eine Gesellschaft, die China oder auch dem Iran zu stellen, ist absurd.
– und sei sie noch so rechtstaatlich und demokratisch le-
gitimiert – für sich das Recht in Anspruch nimmt, über Aber auch die Forderung, sich in Gesprächen auf bi-
Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden, stellt mit lateraler Ebene und im Rahmen der EU gegenüber den
jedem konkreten Fall ihre eigenen Existenzgrundlagen USA für ein umgehendes Moratorium als ersten Schritt
infrage. Niemand kann den Fehler korrigieren, wenn zur Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, sollte hier
einmal doch ein Unschuldiger getötet wurde. Ein Todes- nicht ernsthaft aufgestellt werden. Die Empfehlung an
urteil, einmal vollstreckt, kann nicht mehr revidiert wer- die USA, die Todesstrafe abzuschaffen, ist seitens der
den. Dies sollte letztlich jeden Menschen, sei er auch Bundesrepublik wie auch der EU stets ausgesprochen
noch so sehr durch ein schreckliches Verbrechen aufge- worden. Aber wie die USA dies umsetzt und wann, ist Sa-
wühlt, überzeugen und seinen Ruf nach harter Strafe che dieses souveränen Staates. Die Forderung nach dem
mäßigen. Mittel (Moratorium) und der Zeit (unmittelbar, sofort)
halte ich für eine unzulässige Einmischung in die Innen-
Troy Davis wurde für den Mord an einem Polizeibe- politik dieses Staates.
amten zum Tode verurteilt. Die Verurteilung beruhte
ausschließlich auf Aussagen von Augenzeugen. Seither Um es hier erneut klarzustellen: Der Bundestag hat
haben sieben von neun Belastungszeugen ihre Aussagen bereits unter anderem mit der Drucksache 17/257 vom
widerrufen. Der Zeuge, der Davis‘ Tat zur Anzeige ge- 16. Dezember 2009 beschlossen, sich weltweit für den
bracht hatte, war zwar am Tatort, stand aber ursprüng- Schutz der Menschenrechte einzusetzen. Die Abschaf-
lich selbst unter dem Verdacht, den Mord begangen zu fung von Todesstrafe und Folter waren Kernbestandteile
haben. Das allein zeigt schon, auf welch unsicherer dieses Beschlusses.
12106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Michael Frieser
(A) Ich möchte aus unserem früheren Antrag und Be- lichen Befindlichkeiten auch in diesem Fall über die Sa- (C)
schluss „Menschenrechte weltweit schützen“ zitieren: che stellen, nämlich über den Kampf gegen die
Gleich zu Anfang nehmen wir klar und unmissverständ- Todesstrafe.
lich zur Todesstrafe Stellung:
Dieser Kampf bleibt aktuell. Zwar gibt es einen welt-
Unveräußerliche Prinzipien wie körperliche und weiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe, doch
geistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungs- 58 Staaten halten noch an der Todesstrafe fest, und
freiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind circa 25 von ihnen vollstrecken sie auch noch heute. In
in vielen Teilen der Welt gefährdet. Die grausamste dem kürzlich erschienenen Jahresbericht von Amnesty
und unmenschlichste Form der Bestrafung, die International „Todesstrafen und Hinrichtungen 2010“
Todesstrafe, wurde in vielen Staaten der Welt abge- ist China wieder der grausame Rekordhalter. China exe-
schafft. Darunter sind alle Staaten der Europäi- kutiert mehr Menschen als alle anderen Staaten zusam-
schen Union. Doch immer noch wird die Todes-
men. Im Reich der Mitte sind Todesstrafen Staatsge-
strafe verhängt bzw. vollstreckt, und dies nicht nur
heimnis. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass
in autoritären Regimen wie Iran, China oder Su-
allein in China jährlich bis zu 5 000 Menschen hinge-
dan, sondern auch in Demokratien wie den USA
richtet werden. Diejenigen, die sich aufgrund kleinster
und Japan. Es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund,
der die Todesstrafe rechtfertigt; zudem können Vergehen in den Arbeitslagern zu Tode arbeiten, werden
Fehlurteile nie ganz ausgeschlossen werden. Ein da noch nicht mitgerechnet. Außerhalb Chinas sind
Grundanliegen deutscher Menschenrechtspolitik weltweit im Jahr 2010 mindestens 527 weitere Men-
bleibt deshalb die Aussetzung und in letzter Konse- schen der Todesstrafe zum Opfer gefallen. Auf den vor-
quenz die Abschaffung der Todesstrafe. deren Plätzen dieser grausamen Hitliste der Todes-
urteile verhängenden und vollstreckenden Staaten sind
Damit haben wir die Todesstrafe klar abgelehnt. der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die USA und der Je-
Menschenrechtliche, rechtsstaatliche und humanitäre men. Weltweit warten noch mehr als 17 800 Menschen
Gründe sprechen mit einer Stimme gegen die Todes- auf den Tod durch den Staat. Drei davon sind übrigens
strafe. Aber wir wissen auch, dass wir hier einen langen Deutsche. Sie wurden wegen Mordes in den USA zum
und schweren Weg angetreten haben. Unser Antrag Tode verurteilt.
heute geht einen weiteren Schritt in eine Richtung, die
wir alle für richtig halten – zur weltweiten Abschaffung Staaten sprechen ihnen das Recht auf Leben ab. Sie
der Todesstrafe. werden enthauptet, vergiftet, erschossen, gesteinigt oder
verschwinden einfach. Die Delikte muten bisweilen gro-
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
(B) Die Linke, ich verstehe Ihr Engagement und schätze Ih- tesk an: In Laos und einer Reihe anderer Länder steht (D)
ren guten Willen. Aber aufgrund dieser Gleichmacherei beispielsweise auf Drogenbesitz die Todesstrafe, in zahl-
völlig unterschiedlicher Länder und Regierungsformen reichen muslimischen Ländern auf Ehebruch, Apostasie
müssen Union und FDP Ihren Antrag in der vorliegen- oder die Beleidigung des nationalen Ehrgefühls. In der
den Form ablehnen. chinesischen Provinz Guangdong müssen selbst Hand-
taschendiebe um ihr Leben fürchten. Und vor ein paar
Tagen wurde das Gerücht verbreitet, dass im ugandi-
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): schen Parlament erneut versucht wird, Homosexualität
Die SPD tritt seit langem für die weltweite Bekämp- unter bestimmten Bedingungen mit der Todesstrafe zu
fung der Todesstrafe ein. Als Abgeordnete und Men- „bestrafen“.
schenrechtspolitikerin ist dies für mich eine der wich-
tigsten menschenrechtlichen Aufgaben. Troy Davis, der in dem Linken-Antrag thematisierte
Deshalb hatte die SPD-Bundestagsfraktion im Juni Todeskandidat aus den USA, steht in diesen Tagen zum
2010 gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den An- wiederholten Mal vor der Vollstreckung seines Todes-
trag „Todesstrafe weltweit abschaffen“ eingebracht. urteils. Und er könnte – so die Vermutung vieler Exper-
Die Regierungskoalition hatte unseren Antrag – obwohl ten – unschuldig sein. Seit er 1991, also vor 20 Jahren,
wir gerne einen interfraktionellen Antrag daraus ge- ausschließlich auf der Grundlage von Zeugenaussagen
macht hätten – aus nicht nachvollziehbaren Gründen wegen des Mordes an einem weißen Polizisten zum Tode
abgelehnt, um dann schnell noch einen eigenen, in we- verurteilt wurde, sitzt er in der Todeszelle. Weder eine
sentlichen Teilen von uns abgeschriebenen Antrag ein- Tatwaffe noch DNA-Spuren oder andere stichhaltige Be-
zubringen. Deutsche Wirtschaftspartner, die ziemlich ex- weise wiesen auf ihn hin. Im Laufe seiner bereits drei an-
zessiv die Todesstrafe verhängen, wie die USA oder gestrengten Berufungsverfahren – das letzte wurde erst
China, sind in der Version Ihres Antrages allerdings aus kürzlich vom Obersten Bundesgerichtshof abgelehnt –
der kritischen Würdigung rausgeflogen – ebenso wie der zogen sieben der insgesamt neun Zeugen ihre Aussagen
Iran. Damit aber nicht genug: Auch den gemeinsam mit zurück. Sie hätten im Prozess gegen einen angeblichen
den Grünen und Linken eingebrachten Antrag zu der da- Polizistenmörder Angst bei ihren Aussagen gehabt. Ich
mals von der Steinigung bedrohten Iranerin Sakineh bin generell gegen die Todesstrafe, aber selbst wenn sie
Ashtiani haben Sie abgelehnt. Verehrte Kollegen und für die USA rechtsstaatlich legitim ist, so dachte ich,
Kolleginnen von der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, auch in den USA gilt „in dubio pro reo“, im Zweifel für
wir haben es Ihnen damals schon ins Stammbuch ge- den Angeklagten. Ich kann die Ablehnung eines neuen
schrieben: Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre persön- Verfahrens beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12107
Angelika Graf (Rosenheim)
(A) Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Menschenrechte, das In zahlreichen Ländern sind Todesurteile und die (C)
sind die Stichworte, die viele Amerikaner persönlich als Hinrichtung von Menschen jedoch noch immer Realität.
die Maxime ihres Handelns bezeichnen. Aber auch die 47 Staaten sehen die Todesstrafe noch als Strafform vor.
USA als Staat möchte Vorbild sein für die Welt. Nicht Dazu gehören auch die USA, einer unserer engsten Ver-
erst seit heute zweifle ich daran, wie diese Grundsätze bündeten. Dort existiert sie weiterhin in 33 Bundesstaa-
mit der Exekution von Menschen, mit Guantanamo oder ten als grausames und unmenschliches rechtliches Re-
mit der grausamen und unmenschlichen Behandlung des likt in einer ansonsten so modernen Nation. Ich bin zwar
Wiki-Leaks-Informanten Bradley Manning zusammen- ein großer Freund der USA, aber diese Tatsache macht
gehen. mich immer wieder aufs Neue fassungslos. Vergangenes
Jahr wurden 46 Menschen in den USA hingerichtet. Da-
Was den Antrag der Linken betrifft, werden wir uns mit gehört das Land gemeinsam mit China, Iran, Saudi-
bei aller Zustimmung zur Abschaffung der Todesstrafe Arabien, Pakistan, Nordkorea und Irak zu den sieben
und zum Einsetzen von Moratorien enthalten. Ihre For- Staaten, die derzeit für 95 Prozent aller Hinrichtungen
derung an die Bundesregierung, den USA das Angebot weltweit verantwortlich sind. Wollen die USA in Sachen
zu machen, Troy Davis in Deutschland aufzunehmen, Menschenrechte eine Vorbildfunktion für andere Länder
halte ich nicht für den richtigen Weg. Was im Falle der übernehmen, müssen sie zu Hause für eine möglichst
Uriguren aus Guantanamo zweifellos richtig gewesen konsequente Ächtung der Menschenrechte sorgen. Teil
wäre, wollen Sie hier offensichtlich als Regelfall einfüh- unserer Menschenrechtspolitik gegenüber den USA
ren. Ich bin der Ansicht, dass die USA selbst die Verant- muss es sein, sie auf diesem Weg zu unterstützen.
wortung für den Fall übernehmen müssen. Unsere Auf-
gabe ist es, in den diplomatischen Beziehungen mit den Die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todes-
USA stetig für die Einsetzung eines Moratoriums zu strafe ist ein erklärtes Ziel liberaler Menschenrechtspo-
werben. Das Ziel muss die Abschaffung der Todesstrafe litik und ein Arbeitsschwerpunkt dieser Bundesregie-
sein. rung. Schon unser Koalitionsvertrag hält dieses Ziel
schriftlich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine ak-
Der Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen tive Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese
Amt, Markus Löning, hat den weltweiten Kampf gegen Praxis in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf
die Todesstrafe zu seinem „persönlichen Schwerpunkt“ Aussetzung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwir-
erklärt. Dafür hat er meinen hohen Respekt. Er sollte ken.
diesen Fall zu „seinem“ machen.
In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise
daran erinnern, dass Gesundheitsminister Philipp Rös-
Pascal Kober (FDP): ler im Januar für einen Lieferboykott des häufig in To- (D)
(B)
Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag desspritzen enthaltenen Wirkstoffs Thiopental geworben
der Linken zur drohenden Hinrichtung von Troy Davis. hat. Er warnte vor dem möglichen Missbrauch dieses
Die FDP lehnt die Todesstrafe unter allen Umständen Narkosemittels zur Hinrichtung und appellierte an den
ab – völlig unabhängig von der Frage der Schuld oder Großhandel, solchen Lieferungsersuchen aus den USA
Unschuld der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktio- nicht nachzukommen. Auch Markus Löning, der Men-
nen dieses Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die schenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, war An-
Todesstrafe ist mit der Würde des Menschen unverein- fang Februar in den USA, um sich über die aktuelle Dis-
bar, sie verletzt das unveräußerliche Grundrecht auf Le- kussion zur Todesstrafe zu informieren und sich mit
ben. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie ihren Verfechtern zu treffen. Mit seiner Kritik ist er mit-
eine abschreckende Wirkung bei der Verbrechensbe- nichten auf taube Ohren gestoßen. Wie er uns berichtet
kämpfung noch kann sie aus dem Motiv der Sühne oder hat, existiert dort selbst in konservativen Kreisen eine
der Gerechtigkeit heraus begründet werden. Debatte über die Todesstrafe, die nicht frei von Skepsis
ist.
Dass im Fall von Troy Davis, wie von Menschen-
rechtsorganisationen berichtet wird, sieben von neun Wir begrüßen auch die Entscheidung von Pat Quinn,
Zeugen mittlerweile ihre Zeugenaussage widerrufen ha- Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois, der am
ben sollen, erinnert uns daran, dass kein Justizsystem 9. März die Todesstrafe in diesem Bundesstaat abge-
dieser Welt und kein Gerichtsverfahren gegen Irrtümer schafft hat. Die Tatsache, dass die Debatte um die Ab-
gefeit ist. Vor diesem Hintergrund ist die Todesstrafe schaffung der Todesstrafe in Illinois von einer Gruppe
schon allein wegen ihrer Unumkehrbarkeit mit unserem von Studenten 1999 angestoßen worden ist, zeigt, wie
liberalen Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar. wichtig das Engagement der Zivilgesellschaft bei der
Durchsetzung von Menschenrechten ist. Diese Entschei-
In den letzten Jahren war ein wachsender Widerstand dung in Illinois ist geeignet, einen Bewusstseinswandel
gegen die Todesstrafe zu verzeichnen, sodass sich mit- auch in den anderen 33 US-Bundesstaaten, die bis heute
tlerweile 65 Staaten zu ihrer vollständigen Abschaffung an der Todesstrafe festhalten, herbeizuführen. Hier den
verpflichtet haben und 150 Staaten auf ihre Anwendung Dialog mit Menschenrechtsaktivisten in den USA auf-
verzichten. Dass auch die Generalversammlung der Ver- recht zu halten verspricht eher Erfolge, als nur mit dem
einten Nationen die Resolution über ein Moratorium zur moralischen Zeigefinger über den Atlantik zu winken.
Vollstreckung der Todesstrafe vergangenes Jahr mit gro-
ßer Mehrheit verabschiedet hat, bestätigt den Trend in Ich denke, ich habe damit deutlich gemacht, dass die
Richtung ihrer weltweiten Abschaffung. FDP das grundsätzliche Anliegen, die Todesstrafe welt-

Zu Protokoll gegebene Reden


12108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

Pascal Kober
(A) weit abzuschaffen, nicht nur teilt, sondern sich auch ak- deutlich gezeigt, dass die Abschaffung der Todesstrafe (C)
tiv dafür einsetzt. Insofern kann ich dem ersten Teil des von der Mehrzahl der Staaten unterstützt wird.
Antragstitels „Nein zur Todesstrafe!“ voll zustimmen.
Der dänische Pharmakonzern Lundbeck, Hersteller
In einem anderen Punkt widerspricht dieser Antrag des Präparates Nembutal Pentobarbital Sodium, kurz
jedoch einem unserer Grundsätze. Nach unserer Auffas- Pentobarbital, weigert sich, in seine Verträge eine Klau-
sung sollte nämlich kein einzelnes Todesurteil und keine sel einzufügen, mit der ausgeschlossen wird, dass Pento-
Hinrichtung einer einzelnen Person herausgestellt wer- barbital an die Todeskammern in den US-Bundesstaaten
den. Denn jede Hinrichtung, auch jene der Tausenden weitergegeben werden darf. Pentobarbital soll das bis-
Namenlosen, ist eine zu viel. Schließlich wenden wir uns her in den USA eingesetzte Narkosemittel Thiopental
nicht nur in diesem Fall gegen die Todesstrafe, sondern der US-Firma Hospira für die Vollstreckung der Todes-
verfolgen deren gänzliche Abschaffung in den USA und strafe ersetzen. Eine solche Ausschlussklausel verwei-
weltweit. Dies geht weit über Ihren Antrag hinaus. In- gert die Firma Lundbeck mit dem Argument, man könne
dem Sie hingegen Einzelpersonen herausstellen, werden „das komplexe Vertriebssystem letztendlich nicht kon-
Sie einerseits der Tragweite dieser Problematik nicht trollieren“. Es ist völlig inakzeptabel, dass eine Firma in
gerecht. Andererseits ist es uns als Bundestag nicht der Europäischen Union, in der alle Staaten die Ächtung
möglich, Abgrenzungen vorzunehmen, für welche von der Todesstrafe vereinbart haben, mit diesem Mittel zur
der Hinrichtung konkret bedrohte Person wir uns einset- Vollstreckung der Todesstrafe beiträgt. Dafür sollte die
zen und für welche nicht. Die Entscheidung gegen Ihren Firma Lundbeck boykottiert werden.
Antrag ist ausdrücklich keine Entscheidung gegen Troy
Davis. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, Trotz der seit vielen Jahren über ihm schwebenden
der weltweiten Ächtung und einem völkerrechtlichen Hinrichtung hat Troy Davis seine Hoffnung auf ein faires
Verbot der Todesstrafe näher zu kommen. Verfahren niemals verloren. Wir befürchten, dass die
Vollstreckung der Todesstrafe jetzt unmittelbar droht.
Wir freuen uns sehr, dass sich weltweit viele Menschen
Annette Groth (DIE LINKE): gegen die Hinrichtung von Troy Davis engagieren und
Für viele von uns war die Nachricht, dass der Supreme hier in Deutschland ein breites Bündnis von Organisati-
Court das Berufungsverfahren des seit 20 Jahren inhaf- onen und Initiativen einen Aktionstag für die Rettung
tierten Häftlings Troy Davis aus dem Bundesstaat Geor- von Troy Davis plant. Auch in den letzten Jahren haben
gia abgelehnt hat, sehr erschütternd. Mehrmals hat Troy Hunderttausende Menschen gezeigt, dass sie gegen die
Davis vergeblich beantragt, dass sein Verfahren wieder Todesstrafe kämpfen. Alleine im Jahr 2009 haben in einer
aufgenommen wird, da er neue, entlastende Beweise Mail-Aktion mehr als 200 000 Menschen an den Gou-
(B) vorlegen möchte. Dies wurde ihm immer verweigert. Mit verneur von Georgia geschrieben, um gegen die Verhän- (D)
der Ablehnung durch den Supreme Court ist eine Neu- gung der Todesstrafe gegen Troy Davis zu protestieren.
verhandlung nun definitiv ausgeschlossen.
Wir alle können Druck auf die Regierung der USA
Die letzten zwanzig Jahre der Haft von Troy Davis ausüben. Deshalb bitten wir Sie, dem Antrag der Frak-
waren von traumatischen Erlebnissen geprägt. Dreimal tion Die Linke zuzustimmen, um für die Begnadigung
wurde ein Termin für die Hinrichtung von Troy Davis von Troy Davis ein starkes Zeichen zu setzen. Die Frak-
festgesetzt und jeweils erst in letzter Minute verschoben. tion Die Linke unterstützt die Haltung der Bundesregie-
Jedes Mal musste sich Davis mit seinem unmittelbar be- rung, wonach die Todesstrafe weder ethisch noch rechts-
vorstehenden Tod auseinandersetzen und konnte dann politisch zu rechtfertigen ist. Deshalb bitten wir Sie, sich
wieder Hoffnung schöpfen. In diesen zwanzig Jahren weiterhin weltweit für die Ächtung und die Abschaffung
seiner Haft hat sich Troy Davis zu einem Symbol für den der Todesstrafe einzusetzen.
Kampf gegen die menschenverachtende und inhumane
Wir wollen uns nicht in die Verfahren der US-Ge-
Todesstrafe entwickelt. Troy Davis war im Jahr 1991 al-
richtsbarkeit einmischen. Wir appellieren jedoch an die
lein aufgrund von Zeugenaussagen wegen Mordes an
Verantwortlichen, im Rahmen der Möglichkeiten des
dem Polizisten Mark McPhail zum Tode verurteilt wor-
US-Rechts eine Begnadigung oder die Umwandlung der
den, obwohl niemals eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder
Todesstrafe von Troy Davis in eine Haftstrafe zu erwir-
andere konkrete Tathinweise gefunden wurden. Viele ha-
ken. Vom Deutschen Bundestag wünschen wir uns, dass
ben sich für das Leben von Davis eingesetzt: das Euro-
er – als klares Zeichen gegen die Todesstrafe – den USA
päische Parlament, der ehemalige US-Präsident Jimmy
auch ausdrücklich anbietet, Troy Davis in Deutschland
Carter, der südafrikanische Friedensnobelpreisträger
Aufnahme zu gewähren.
Desmond Tutu sowie Papst Benedikt XVI.
Laut Amnesty International gibt es nur in China, dem Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Iran, Saudi-Arabien und Pakistan mehr Exekutionen als Seit nunmehr 20 Jahren wartet der US-Amerikaner
in den Vereinigten Staaten. Angehörige von Minderhei- Troy Davis nach mehreren kräfteaufreibenden Gerichts-
ten und sozial Benachteiligte werden in den USA über- verfahren darauf, dass sein Todesurteil vollstreckt wird,
proportional häufig zum Tode verurteilt und hingerich- das 1991 wegen des Mordes an einem Polizisten gegen
tet. Weltweit gibt es seit einigen Jahren einen Trend zur ihn verhängt wurde.
Ächtung der Todesstrafe. Die Annahme der Resolution
gegen die Todesstrafe durch die 62. Generalversamm- Aber nicht erst die Fraktion Die Linke hat mit ihrem
lung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2007 hat Antrag auf eklatante Mängel im Verfahren hingewiesen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12109
Tom Koenigs
(A) Es sind vielmehr die Familie des Verurteilten, die vielen Begnadigung Troy Davis‘ einzusetzen, bilaterale Ge- (C)
freiwilligen Freunde und Helfer, die Menschenrechts- spräche mit den USA zu suchen, um unter Hinweis auf
organisationen und -verteidiger, die sich mit all ihren unkalkulierbare Risiken und menschenrechtliche Beden-
Kräften, ihren Ängsten und in ihrer Verzweiflung erweh- ken für die Abschaffung der Todesstrafe einzutreten, und
ren und dem Verurteilten beistehen. in ihrer Arbeit gegen die Todesstrafe weltweit nicht
nachzulassen.
Mit der Ablehnung eines Antrages zur Wiederauf-
nahme des Verfahrens durch den Supreme Court am
28. März 2011 scheint der letzte Funken Hoffnung erlo- Vizepräsident Eduard Oswald:
schen: Die Behörden des Bundesstaates Georgia sind Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
nun berechtigt, einen endgültigen Termin zur Vollstre- Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5476. Wer
ckung des Urteils anzuberaumen. Davis kann jetzt nur stimmt für diesen Antrag? – Das ist die Fraktion Die
noch hoffen, dass ein Begnadigungskomitee die Todes- Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen.
strafe in lebenslange Haft umwandelt. Und ich hoffe Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
sehr, dass diese Umwandlung vorgenommen wird. Denn Grünen. Der Antrag ist somit abgelehnt.
solange man an der Todesstrafe festhält, lässt sich das Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Risiko, Unschuldige hinzurichten, nicht ausschließen. In
der Causa Davis scheint das Risiko, einen Unschuldigen Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
zu töten, besonders hoch zu sein. Im Antrag der Linken CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
werden die Zweifel am Verfahren ja hinreichend ange- setzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher
sprochen. Gerade in einer solchen Frage ist es ange- Richtlinien der Europäischen Union und zur
zeigt, sich auf das rechtstaatliche Prinzip „in dubio pro Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an
reo“ zurückzubesinnen. den EU-Visakodex

Einem Bericht von Amnesty International zufolge – Drucksache 17/5470 –


sind seit 1973 in den USA 139 zum Tod verurteilte Ge- Überweisungsvorschlag:
fangene aus der Todeszelle entlassen worden, nachdem Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
in Revisionsverfahren ihre Unschuld festgestellt wurde. Rechtsausschuss
Diese Menschen saßen viele Jahre unschuldig im Todes- Finanzausschuss
trakt. Einige standen nur wenige Stunden vor ihrer dro- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
henden Hinrichtung. Andere Gefangene werden hinge- Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
richtet, obwohl starke Zweifel an ihrer Schuld bestehen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(B) Letztlich speist sich die Kritik an der Todesstrafe aus Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu (D)
der Wahrung und Achtung der allgemeinen Menschen- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
rechte. In Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Men- Ich sehe, Sie sind einverstanden. Die Liste der Namen
schenrechte ist das Recht auf Leben verbürgt. Das Recht der Kolleginnen und Kollegen liegt hier vor.
auf Leben ist das fundamentalste Menschenrecht, weil
das Leben des Menschen die notwendige Bedingung für Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
seine körperliche und psychische Integrität darstellt. Es wurfs auf Drucksache 17/5470 an die in der Tagesord-
ist eine Vorbedingung, um alle anderen Menschenrechte nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
genießen zu können. Selbst die Würde einer Person ist andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
ohne den Eintritt in das Leben undenkbar. Überweisung so beschlossen.

Hinrichtungen sind dagegen archaische, vormoderne Wir sind damit – Sie werden es nicht glauben, aber es
und anti-aufklärerische Methoden des Strafvollzuges. ist wahr – am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Der Staat muss sich vielmehr zum Leben bekennen. Er Der eine oder andere hätte vermutlich hier noch gern
ist dafür da, das Leben und die Rechte seiner Bürgerin- weitergearbeitet,
nen und Bürger zu schützen. Die Freiheitsstrafe ist ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mittel, mit dem der Staat die Gesellschaft vor jenen zu
bewahren versucht, von denen eine Gefahr ausgeht. Die aber es gibt ja noch die Bürotätigkeit.
Todesstrafe ist hingegen ein Akt der Rache. Mit Ab- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
schreckung ist sie nicht zu begründen: Zahlreiche empi- destages auf morgen, Freitag, den 15. April 2011, 9 Uhr,
rische Studien widerlegen die Annahme, dass die Todes- ein.
strafe als Kriminalsanktion eine präventive Wirkung
entfaltet. Kurzum: Die Todesstrafe ist irrational und ein Die Sitzung ist geschlossen.
anti-aufklärerisches Übel. (Schluss: 22.05 Uhr)
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Bundesregie-
rung dazu auf, an die USA zu appellieren, sich für eine 1) Anlage 11
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12111

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Arnold, Rainer SPD 14.04.2011 Roth (Esslingen), Karin SPD 14.04.2011

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 14.04.2011
DIE GRÜNEN
Schmidt (Eisleben), SPD 14.04.2011
Becker, Dirk SPD 14.04.2011 Silvia

Binding (Heidelberg), SPD 14.04.2011 Schuster, Marina FDP 14.04.2011*


Lothar
Süßmair, Alexander DIE LINKE 14.04.2011
Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ 14.04.2011
DIE GRÜNEN Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 14.04.2011
DIE GRÜNEN
Brinkmann (Hildesheim), SPD 14.04.2011
Bernhard Ulrich, Alexander DIE LINKE 14.04.2011

Dr. Danckert, Peter SPD 14.04.2011 Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ 14.04.2011
DIE GRÜNEN
Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 14.04.2011
DIE GRÜNEN Weinberg, Harald DIE LINKE 14.04.2011

Friedhoff, Paul K. FDP 14.04.2011 Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 14.04.2011*


(B) (D)
Friedrich, Peter SPD 14.04.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 14.04.2011*

Gerster, Martin SPD 14.04.2011 Dr. Westerwelle, Guido FDP 14.04.2011

Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 14.04.2011
DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 Wolff (Wolmirstedt), SPD 14.04.2011


DIE GRÜNEN Waltraud

Kampeter, Steffen CDU/CSU 14.04.2011


* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 lung des Europarates
DIE GRÜNEN

Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 Anlage 2


DIE GRÜNEN
Erklärungen nach § 31 GO
Lange (Backnang), SPD 14.04.2011 zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
Christian zes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungs-
gesetzes (Tagesordnungspunkt 18)
Leutert, Michael DIE LINKE 14.04.2011

Möller, Kornelia DIE LINKE 14.04.2011 Michael Groß (SPD): Nach den Versäumnissen der
Bundesregierung, rechtzeitig für den deutschen Stein-
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 kohlebergbau eine Regulierung im europäischen Beihil-
DIE GRÜNEN ferecht bei der EU-Kommission in Brüssel zu erwirken,
folgte ein schlechter Kompromiss, nachdem nun die Re-
Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ 14.04.2011 visionsklausel ersatzlos gestrichen werden soll. Damit
DIE GRÜNEN müssen die wenigen noch bestehenden deutschen Stein-
kohlebergwerke einen Stilllegungsplan und einen kon-
12112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) kreten Stilllegungszeitpunkt vorlegen, damit weiterhin tionierten Steinkohlebergbau bis zum Jahr 2018 regelten. (C)
Beihilfen gewährt werden können. Mit der jetzigen Lö- Diese Vereinbarung beinhaltete auch die sogenannte Re-
sung der derzeitigen Regierungspolitik müssen Stein- visionsklausel, die festlegte, dass dieser Beschluss im
kohlebergwerke nicht nur rentabel und beihilfefrei arbei- Jahr 2012 noch einmal überprüft werden sollte. Völlig
ten wie andere Unternehmen, sondern sind zusätzlich überraschend forderte die Europäische Kommission im
verpflichtet, die Beihilfen aus den vergangenen Jahren letzten Jahr einen früheren Ausstieg aus der Kohleförde-
zurückzuzahlen. rung bis zum Jahr 2014.
Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass ange- Dies hätte für Deutschland und gerade auch für meine
sichts weltweiter Rohstoffknappheit, steigenden Ener- Heimatregion dramatische wirtschaftliche und soziale
giebedarfs und des Ausstiegs aus der Atomkraft in Konsequenzen gehabt. In Ibbenbüren im Tecklenburger
Deutschland die Rentabilität deutscher Steinkohleberg- Land liegt eine der letzten Steinkohlenzechen in Deutsch-
werke durchaus in naher Zukunft realistisch sein kann. land. Hier wird schon seit langer Zeit hochwertige An-
Die deutschen Bergbaumaschinentechnologie ist welt- thrazitkohle gefördert. Diese wird zu einem großen Teil
marktführend und genießt hohes internationales Anse- im direkt anliegenden hocheffizienten Kohlekraftwerk
hen. Der Technologieexport kann einen sinnvollen Bei- verfeuert und zum anderen Teil für den regionalen Wär-
trag zur Wirtschaftlichkeit unserer Steinkohlebergwerke memarkt verwendet.
leisten. Die Sicherheitsstandards sind weltweit vorbild-
Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des Berg-
lich.
baus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden Berg-
Die heimische Steinkohleförderung liegt zurzeit bei baugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstel und
23 Prozent des bundesweiten Verbrauchs. Zukünftig Westerkappeln ist enorm. In der Bevölkerung und über
wird dieser Bedarf ausschließlich durch Importkohle ge- alle gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg herrscht
deckt werden, die über weite klimaschädliche Transport- eine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeit direkt über
wege nach Deutschland gelangt, Kohle, die billiger auf 2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich der Zulieferbe-
den Markt gelangt, da sie in vielen Förderländern unter triebe sind im Laufe der Zeit mehrere Tausend Arbeits-
menschenunwürdigen und unsicheren Lebens- und Ar- plätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbildung leis-
beitsbedingungen gefördert wird. Die heimische Stein- tet die Zeche ganz hervorragende und unverzichtbare
kohle weist Lagerstätten hochwertiger Kokskohle auf. In Arbeit.
der Stahlerzeugung ist Kokskohle nicht zu substituieren.
Als der Vorschlag der EU-Kommission bekannt wurde,
Etwa 18 Prozent des deutschen Stroms wird mit Stein-
führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irritation in
kohle produziert. Als Brücke in das Zeitalter der erneu-
unserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau
erbaren Energien sind hocheffiziente, lastflexible Kohle-
(B) bereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dass es zu be- (D)
kraftwerke derzeit nicht verzichtbar, bis die Maßnahmen
triebsbedingten Kündigungen gekommen wäre und auch
zu Energieeffizienz greifen und der Strombedarf aus er-
sonst massive wirtschaftliche und soziale Probleme ent-
neuerbaren Energien vollständig abdeckt wird.
standen wären.
Im Bergbau und in der Wertschöpfungskette des Stein- In dieser Situation habe ich mich unmittelbar an un-
kohlebergbaus bestehen mehr als 10 000 Arbeitsplätze sere Bundeskanzlerin gewandt und um Hilfe und Unter-
und kaum ersetzbare Ausbildungsplätze, hauptsächlich stützung gebeten. Unter Einsatz aller Kräfte und durch
im Kreis Recklinghausen, die jetzt infrage gestellt sind. tatkräftige Unterstützung des Parlamentarischen Staats-
Die Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes wird sekretärs Peter Hintze konnte erreicht werden, dass der
automatisch zu massiven weiteren sozial- und arbeits- Beschluss der EU revidiert wurde. Die Unterstützung
marktpolitischen Verwerfungen im Kreis Recklinghau- der heimischen Steinkohlenförderung bis ins Jahr 2018
sen führen. wurde unter bestimmten Bedingungen auf europäischer
Ebene akzeptiert.
Dieter Jasper (CDU/CSU): Ich erkläre hiermit, dass
ich dem Gesetz zur Änderung des Steinkohlefinanzie- Eine dieser Bedingungen für die notwendige europäi-
rungsgesetzes in der vorliegenden Form nicht zustimme. sche Regelung war, dass die Revisionsklausel aus dem
Dies möchte ich folgendermaßen begründen: nationalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit un-
umkehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mit
Mit dem heutigen Gesetzentwurf erfüllt die christlich- dem heutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus euro-
liberale Koalition eine normative Voraussetzung, damit päischer Sicht darf es nach 2018 keinen subventionierten
aus europäischer Sicht in Deutschland ein subventionier- Steinkohlenbergbau in Deutschland mehr geben, sodass
ter Steinkohlenbergbau bis ins Jahr 2018 ermöglicht es auch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf.
wird und sichergestellt werden kann. Inhaltlich bedeutet
dieser Gesetzentwurf, dass die sogenannte Revisions- Hier handelt die christlich-liberale Regierungskoali-
klausel ersatzlos gestrichen wird. tion konsequent und richtig, da es an vorderster Stelle
darum geht, die auf europäischer Ebene gefundene Eini-
Zum Hintergrund: gung nicht zu gefährden, die nur unter größten Mühen
gefunden werden konnte.
Im Jahr 2007 wurde eine kohlepolitische Verständi-
gung getroffen, in der die Bundesregierung, das Land Für mich persönlich stellt sich die Situation aber et-
NRW, das Saarland, die RAG und die IGBCE den sozial- was komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristisch
verträglichen und geordneten Ausstieg aus dem subven- überflüssig geworden, und ihre Streichung dient dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12113

(A) Zweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlen- krankheiten zulassen. Gerade das Schicksal der betroffe- (C)
bergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch ge- nen Familien treibt uns alle um.
hört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung der
zukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einer Verfassungsrechtlich und ethisch muss aber meines
Streichung nicht zustimmen. Erachtens der Schutz des menschlichen Lebens im Mit-
telpunkt stehen und die Frage beurteilt werden, ob er
Ich möchte ein deutliches Signal setzen, dass die Zu- ggf. mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden muss.
kunftschancen der Steinkohle nicht nur jetzt, sondern
auch nach 2018 erkannt und genutzt werden müssen. Mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle ent-
Dazu müssen wir die weitere Entwicklung im Fokus ha- steht menschliches Leben und ist genetisch die Identität
ben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimi- eines Menschen individuell festgelegt. Und jedes
sche Steinkohle weiterhin als nationale Energiereserve menschliche Leben ist zu schützen. Dies entspricht nicht
benötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten er- nur christlicher Überzeugung, es entspricht – und darauf
halten sollten. kommt es hier an – meines Erachtens der Logik der ers-
ten drei Artikel unserer Verfassung und der Logik der
In einem zukunftsorientierten Energiemix brauchen bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
wir neben den regenerativen Energien auch hochmo- richtes hierzu.
derne und effiziente Kohlekraftwerke, in denen dann
auch die heimische Steinkohle verströmt werden kann. Oft wird ja die PID-Problematik mit der Abtreibung
verglichen. Dies verbietet sich hier genauso wie bei der
Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformen auf Diskussion um embryonale Stammzellen. Die PID ist
dem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen, wie die bewusste und gewollte künstliche Erzeugung von
eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für unser acht Embryonen zum Zwecke des Aussortierens und
Land zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wir uns kein existenzieller Konflikt.
diese Möglichkeit eines heimischen Energieträgers nicht
In meiner Rede zur Stichtagsregelung für den Import
verbauen.
embryonaler Stammzellen hatte ich ausgeführt:
Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene euro-
Bei der Frage der Abtreibung steht das Leben der
päische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren.
Mutter mit dem Leben des Kindes in einem direk-
Aber wir dürfen die weitere wirtschaftliche Entwick- ten, unauflösbaren Konflikt. … Die Abtreibung
lung nicht aus den Augen verlieren und müssen uns be- bleibt auch nach dem Urteil des Bundesverfas-
wusst sein, dass wir in unserem rohstoffarmen Land mit sungsgerichts zum § 218 StGB Unrecht, auch wenn
der Steinkohle einen der ganz wenigen grundlastfähigen sie nicht in jedem Fall strafrechtlich verfolgt wird.
(B) Energieträger verfügbar haben. Diesen sollten wir nicht Das ist eine ganz klare ethische Linie. Lediglich bei (D)
vorschnell aufgeben. den Instrumenten, also dabei, wie wir das menschli-
che Leben in diesen Situationen schützen, hat das
Bundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber,
Anlage 3 erlaubt, nicht in jedem Fall zum Mittel des Straf-
rechts zu greifen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Beratung: und die Vorgabe des Grundgesetzes sind klar. Beim
– Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Prä- Luftsicherheitsgesetz hat das Bundesverfassungs-
implantationsdiagnostik (PID) gericht uns als Gesetzgeber noch einmal ermahnt:
Leben ist nicht gegen Leben abzuwägen; nicht ein-
– Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zu- mal Leben, das wir dem Tod geweiht glauben, darf
lassung der Präimplantationsdiagnostik (Prä- geopfert werden, um anderes menschliches Leben
implantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) zu retten.
– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Nun geht es aber bei der PID um eine Abwägung Le-
Präimplantationsdiagnostik (Präimplanta- ben gegen Leben Es geht eben nicht um Paare, die ihren
tionsdiagnostikgesetz – PräimpG) Kindern das Leid durch eine von ihnen vererbte Krank-
heit ersparen. PID ist keine Diagnose, die eine Behand-
(Tagesordnungspunkt 3 a bis c) lung zum Ziel hat. Sie wendet nicht Leid von Eltern oder
ihrem Kind ab, sondern wendet das Kind selbst ab.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Angesichts der anspruchsvollen Debatte will ich nur Es geht um den Wunsch eines Paares oder einer Frau,
kurz mit einigen Bemerkungen begründen, warum ich ein Kind zu bekommen, das bestimmte genetische Anla-
ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik ethisch und gen nicht aufweist. Es geht um den Wunsch und nicht
verfassungsrechtlich für geboten halte. das Recht auf ein Kind. Dieser Wunsch verdient unseren
Respekt, und die Situation der Betroffenen hat unser al-
In der Debatte wurden gewichtige Gesichtspunkte ler Mitgefühl. Dieser Wunsch darf aber nicht um jeden
vorgetragen, wie zuvörderst der Wunsch der Eltern nach Preis realisiert werden, nicht um den Preis, dass mensch-
einem gesunden Kind oder die Gefahr eines Rutsch- liches Leben zur Disposition gestellt wird und Men-
bahneffektes, wenn wir die PID bei bestimmten Erb- schen, die Abgeordneten, die Ärzte oder Mitglieder von
12114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Ethikkommissionen darüber entscheiden, welches men- lisch-ethisch Unmögliche nur deshalb möglich machen, (C)
schliche Leben noch gelebt werden kann und welches weil es inzwischen medizinisch möglich geworden ist.
nicht. Menschen dürfen sich nicht zum Richter über das
Lebensrecht anderer aufschwingen. Wir dürfen nicht Dabei geht es nicht nur um den Druck auf die Frauen,
eine Debatte über lebenswertes und weniger lebenswer- sich vor einem möglicherweise behinderten Kind durch
tes Leben bekommen. Deshalb bin ich dafür, die PID ge- dessen Selektion zu schützen – übrigens oftmals unter
nerell nicht zuzulassen. sanften oder auch massiven Druck gesetzt aus dem eige-
nen Umfeld oder auch vom Partner. Das gilt auch für den
Ich verkenne nicht, dass es im Antrag von Priska Hinz Rechtfertigungsdruck nach der Geburt eines behinderten
und René Röspel unter anderem um einen anderen An- Kindes.
satz geht. Man hat dort versucht, die PID auf nicht le-
bensfähiges Leben zu beschränken. Gesetzgeberisch ist Es geht auch um die Frage, ob wir unsere Kinderwün-
der Vorschlag meines Erachtens in dieser Hinsicht aber sche über alles stellen und dabei noch die Kinder nach
nicht ganz gelungen, und es erscheint mir auch nicht ge- gewünschten Eigenschaften auswählen. Niemand ver-
klärt, ob diese Unterscheidung medizinisch so überhaupt kennt das Leid von Eltern. Unser Respekt, unsere Zunei-
möglich ist. gung geht aber auch zu den Eltern, die sich ihrer Kinder
so annehmen, wie diese Kinder sind, die sie im echten
Sinne bedingungslos, das heißt ohne Anspruch auf Voll-
Michael Brand (CDU/CSU): Weil wir heute eine kommenheit lieben. Wir dürfen aus behinderten Kindern
Debatte über eine sehr zentrale Grundsatzfrage mit gro- nie ein solches Problem machen, dass gar die Selektion
ßem Engagement führen, muss es um Klarheit auch bei dieser Kinder in Kauf genommen wird.
den Grundsätzen gehen. Die Argumente werden nach
bestem Wissen und Gewissen vorgetragen. Es bleibt unverrückbar, dass mit einer weiteren Zulas-
sung der Selektion und der damit unvermeidlich, ich
Dies tue ich heute in großer Klarheit und mit großem wiederhole: unvermeidlich verbundenen Tötung des
Engagement, weil wir doch alle um uns herum sehen, nicht zum Überleben ausgewählten menschlichen Le-
was sich aus einer sogenannten begrenzten Ausnahmere- bens eine Büchse der Pandora nicht mehr geschlossen
gelung entwickeln kann. Wer sich heute mit Hinweis auf wird. Wir haben als Parlamentarier, als Christen, als
die derzeit noch nicht flächendeckenden Risiken in Eu- Menschen die Möglichkeit, diese Büchse der Pandora
ropa optimistisch zeigt, der muss nur einen Blick in die wieder zu schließen. Wir sollten diese Kraft aufbringen.
Prospekte von Reproduktionskliniken mit der Darstel-
lung von Wunschmerkmalen der gewünschten Kinder Jeder hier hat sicher Kontakt mit behinderten Mit-
werfen. Dort erhält man einen Blick in die Zukunft, und menschen, mehr oder weniger. Ich selbst habe diesen
(B) es ist ein sehr skeptischer Blick. (D)
Kontakt regelmäßig. Haben Sie sich vor diese Menschen
schon mal hingestellt und ihnen gesagt, dass sie eventu-
Es ist zweifelsfrei eine große Belastung, einen Kin-
ell in einer nicht allzu fernen Zukunft zu einer kleiner
derwunsch nicht gefahrlos erfüllt zu bekommen. Es ist
werdenden Minderheit zählen werden, weil es immer
aber eine weit größere Belastung, ein Menschenleben
mehr Menschen geben wird, deren Leben vor der Geburt
abzutöten, weil es Risiken in sich birgt, und zwar solche,
beendet werden wird, weil ihre Nachteile unerwünscht
die entweder in dessen Lebenszyklus geheilt werden
sind?
können oder teils gar nicht eintreten, während dieses Le-
ben eben auch mit diesen Merkmalen ein ebenso wert- Es gibt die Warnungen der Ethiker, der Kirchen, von
volles ist wie das eines jeden Einzelnen von uns. Ärzten, Wissenschaftlern, Verbänden wie Lebenshilfe,
Wir sprechen bei der PID über jährlich 200 bis VdK, von Betroffenen selbst, in der Tat viele warnende
300 Fälle bei einer Bevölkerung von über 80 Millionen. Stellungnahmen – und es gibt die normalen, menschli-
chen Reaktionen. Zu den zutiefst menschlichen Eigen-
Wollen wir einen Grundpfeiler des Schutzes für schaften und Reflexen gehört, menschliches Leben
menschliches Leben für Millionen von ungeborenen schützen zu wollen, retten zu wollen. Dieser zutiefst
Kindern aufweichen, hier sozusagen als Einfallstor für menschliche Reflex würde durch die Aufweichung die-
die Selektion menschlichen Lebens, mit dem Risiko, ser Schutzfunktion für das menschliche Leben bedroht,
dass dies schwere Folgen hinsichtlich einer weiteren und wir brauchen diesen Reflex und diesen Schutz.
Verschlechterung des Schutzes von menschlichem Le-
ben bedeuten kann? Finden wir keine anderen Optionen, Ob dies, wie bei mir, auch aus christlichem Funda-
zum Beispiel die Erleichterung von Adoptionen, Hilfe ment oder von anderen Quellen her gespeist wird, das ist
für Menschen mit Behinderung, psychologische Hilfe nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass wir die
und weitere Ansätze, um diesem Personenkreis zu hel- Achtung vor uns Menschen nicht verlieren. Das ge-
fen, eben ohne die Büchse der Pandora zu öffnen, mit al- schieht nicht mit einem lauten Knall, es geschieht meist
len großen Risiken? Stück für Stück. Die Relativierung ist bereits unterwegs,
und wir müssen uns ihr mit Kraft entgegenstemmen, um
Es wird hier immer wieder verlangt, das medizinisch die Achtung vor dem menschlichen Leben und seinen
Mögliche zu unternehmen. Ja, es stimmt, und das gehört Schutz aktiv zu bewahren. Nicht nur wir Christen wis-
zu einer modernen und menschlichen Gesellschaft: Wir sen: Der Mensch wird nicht, er ist es von Anfang an. Er
wollen, wir sollten das medizinisch Mögliche ermögli- hat uneingeschränkte Würde von Anfang bis zum Ende,
chen. Aber nie, ich wiederhole: nie dürfen wir das mora- ohne jede Einschränkung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12115

(A) Die Diagnostik soll helfen, um zu heilen, nicht um zu Lebens, ist nicht zu halten. Das wird an der Situation der (C)
töten. In meiner Heimat treffe ich vielfach Menschen mit Leihmutter deutlich. Sie gilt nach unserer Rechtsord-
Behinderung, die mit all ihrer Verschiedenheit uns alle nung nicht als Mutter des Kindes. Mutter bleibt die Frau,
sehr bereichern. Wir beschließen die UN-Konvention für die das Ei „spendet“. Ebenso bleibt Vater, der den Samen
Inklusion, um Behinderte nicht aus unserem Alltag aus- „spendet“. Allein von diesen beiden kommt die gene-
zuschließen. tische Bestimmung des neuen menschlichen Lebens. Die
Gene sind es, die den einzelnen Mensch von jedem an-
Wer hier bei PID mit Kriterien eingrenzt, der grenzt deren unterscheiden und ihn sein Leben lang bestimmen.
auf der anderen Seite natürlich auch aus. Diese Verant- Dass viele weitere Schritte dazukommen müssen, damit
wortung kann man nicht wegdrücken auf Kommissio- der Mensch heranwachsen kann, steht außer Frage. Für
nen; das ist unsere Verantwortung hier im Parlament, den Embryo sind diese ersten Schritte die Implantation
dies zu entscheiden und das Leben zu schützen. Wir ha- und die Einnistung. Diese sind aber nicht der Ursprung
ben mit dem Embryonenschutzgesetz bewusst eine be- des Lebens.
sonders hohe Hürde gesetzt; die dürfen wir nicht reißen.
Denn es muss auch hier deutlich gesagt werden: Die Öff- Wir alle haben als Embryo begonnen. Wären wir in
nung würde nicht beim ersten Schritt stehen bleiben, es diesem Stadium getötet worden, wären wir heute nicht
würde – wie immer bisher – ausgeweitet. Wir müssen da. Uns gäbe es nicht.
das Ende bedenken, bevor wir den Beginn der Einfüh-
Das hat zur Folge, dass dieses menschliche Leben,
rung der PID beschließen können.
das in einer besonderen Weise schutzbedürftig ist, auch
Ich will, dass wir mit allen Menschen zusammenle- geschützt werden muss.
ben. Ich will, dass auch behinderte Menschen in ihrem
In der Tat steht der Mensch von Anfang an, ab der
menschlichen Reichtum, ihrer Passion und ihrem unver-
Vereinigung von Ei- und Samenzelle, unter dem Schutz
äußerlichen Recht von uns allen als Gesellschaft ange-
der Verfassung. Im ersten Urteil zum Abtreibungsrecht
nommen werden. Ich verkenne das Leid des Personen-
vom 25. Februar 1975 stellt das Bundesverfassungsge-
kreises von 200 bis 300 Personen nicht. Aber ich kann
richt klar, dass der Schutz der Verfassung dort gilt, „wo
und ich will lieber diese um Verzicht bitten, als die Se-
menschliches Leben existiert“. Von Anfang an, so stellt
lektion behinderter Menschen zuzulassen.
das Verfassungsgericht fest, kommt dem Menschen
Der Gesetzgeber würde mit der Zulassung der PID Würde zu. Dies, weil er Mensch ist, unabhängig davon,
den fatalen Weg nach unten, zu immer weniger Schutz ob er sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst auch
des menschlichen Lebens weiter fortsetzen. Der frühere wahren kann. Die Wahrung der Würde des Menschen
Bundespräsident Johannes Rau hat 2001 zu Recht ge- heißt, dass der Mensch im innersten Kern seines Wesens
(B) sagt: „Wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensun- unantastbar und unverfügbar ist. Der Mensch kann nicht (D)
wert zu unterscheiden, ist in Wirklichkeit auf einer Bahn als Sache behandelt werden.
ohne Halt.“ Weil der Embryo Mensch ist, hat er das Recht auf Le-
Gerade in den großen Grundfragen müssen wir es uns ben und körperliche Unversehrtheit. Nach Art. 2 Abs. 2
zu Recht sehr schwer machen. Das habe ich getan. Und Grundgesetz hat jeder Mensch, auch der ungeborene
eine schwere, eine schwerwiegende Entscheidung ge- Mensch und der Embryo im Reagenzglas dieses Recht.
troffen habe ich auch: Die Würde des Menschen ist un- Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem
antastbar, auch von großem Leid anderer unantastbar. Urteil vom 25. Februar 1975 klargestellt, dass nämlich
der Staat unabhängig vom Status des Menschen ver-
Schützen wir die Würde von uns Menschen, lassen pflichtet ist, dieses Leben zu schützen, vom Anfang bis
wir hier keine Ausnahmen zu! In voller Kenntnis und zum Ende.
Anerkenntnis des Dilemmas schützen wir die elementa-
ren Rechte von uns Menschen. Und wir sollten uns auch Auch der Schutz vor Diskriminierung gemäß Art. 3
hier nicht zum Richter über Leben und Tod aufschwin- Abs. 3 Grundgesetz gilt nicht nur für jeden Erwachse-
gen. Denn wir sollten nicht und dürfen nicht Gott spie- nen, sondern auch für den Embryo. Die Tötung des Em-
len. bryos verstößt also auch unter diesem Gesichtspunkt ge-
gen die Verfassung.
Norbert Geis (CDU/CSU): Das menschliche Leben Weil der Staat verpflichtet ist, die Grundrechte zu
beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzel- wahren, hat er mit dem Embryonenschutzgesetz Rege-
len, unabhängig davon, ob sich die Verschmelzung in der lungen getroffen, die das Leben und die Integrität des
natürlichen Begegnung von Mann und Frau ereignet Embryos schützen sollen.
oder ob sie im Reagenzglas künstlich herbeigeführt
Die PID verstößt gegen die Regelungen des Embryo-
wird. Die Technizität des Vorganges ändert nichts am Er-
nenschutzgesetzes. Mit der PID wird danach geforscht,
gebnis: Beide Male beginnt das Leben des Menschen mit
welche der im Reagenzglas befruchteten Eizellen gene-
der Vereinigung von Ei- und Samenzellen.
tisch belastet sind. Es geht dabei allein darum, die mit
Es gibt den Einwand, der Embryo im Reagenzglas be- genetischen Fehlern behafteten Embryonen auszusortie-
ginne sein menschliches Leben erst dann, wenn die Im- ren und sie nicht in den Uterus der Frau zu übertragen,
plantation und die Einnistung erfolgt sei. Diese Behaup- sondern sie zu vernichten oder sonst wie dem Untergang
tung, die Einnistung sei neben der Vereinigung von Ei- anheimzugeben. Zu keinem anderen Zweck wird die
und Samenzellen gleichrangig kausal für den Beginn des PID eingesetzt. Sie ist, wenn sie Erbkrankheiten fest-
12116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) stellt, das Todesurteil für den Embryo. Deshalb galt die Die Tötung eines unschuldigen Kindes durch Abtrei- (C)
PID in Deutschland gemäß dem Embryonenschutzgesetz bung kann nicht in irgendeiner Weise als ein „Wert“ an-
als verboten. gesehen werden, zu dem der Schutz des Embryos im
Reagenzglas im Wertungswiderspruch stehen kann. Die
Der Bundesgerichtshof hat jedoch mit seinem Urteil Tötung eines unschuldigen Menschen und der Schutz
vom 6. Juli 2010 entschieden, dass die PID nicht gegen des Lebens sind unüberbrückbare Gegensätze, die sich
das Embryonenschutzgesetz verstößt. Die PID sei viel- in ihrem „Wert“ nicht widersprechen können, weil die
mehr darauf gerichtet, eine Schwangerschaft herbeizu- Tötung eines Unschuldigen unter keinem Aspekt ein
führen. Dies ist jedoch eine völlige Verkennung der Ab- Wert ist. Dies wäre sonst ein Widerspruch zu unserer ge-
sicht, mit der die PID durchgeführt wird. Sie hat keinen samten Rechtsordnung.
anderen Sinn und Zweck, als die „schlechten Embryo-
nen“ von den „guten“ zu trennen und sie dann zu ver-
nichten. Es ist völlig unerklärlich, wie die Richter zu ei- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Paare wün-
ner solchen Verkennung der Logik der PID kommen schen sich eigene gesunde Kinder. Wir sollten respektie-
können. Ein falsches Urteil! ren, dass dies auch für Paare gilt, bei denen ein Partner
Überträger einer schweren Erbkrankheit ist. Die Prä-
Ebenso ist der Hinweis des Gerichtes, dass es, weil es implantationsdiagnostik (PID) kann für diese Paare eine
nach dem Embryonenschutzgesetz auch erlaubt sei, Sa- Hilfe darstellen, gesunde Kindern zu bekommen. Sie ist
menzellen auszusondern, wenn Erbkrankheiten festge- gleichwohl keine Garantie dafür, denn niemand kann ge-
stellt wurden, deshalb auch erlaubt sein müsse, Embryo- sunde Kinder garantieren.
nen mit Erbfehlern auszusondern, nicht nachvollziehbar.
Der Bundesgerichtshof hat im Sommer des vergange-
Die Samenzelle ist kein Embryo. Zu dieser Unterschei-
nen Jahres entschieden, dass in Deutschland nach dem
dung müsste der BGH eigentlich fähig sein.
bis jetzt noch geltenden Recht die Präimplantations-
Das Urteil des BGH zwingt aber dazu, gesetzlich diagnostik zulässig ist. Gleichzeitig hat der Gerichtshof
klarzustellen, dass die PID in Deutschland verboten ist. den Bundestag aufgefordert, eine eigenständige recht-
Dabei kann aus Achtung vor dem Leben des Embryos im liche Regelung zu verabschieden. Das Gericht hatte auf-
Reagenzglas nur ein striktes Verbot der PID infrage grund der Selbstanzeige eines Berliner Arztes entschie-
kommen. Durch die PID wird das Tor zu einer Qualitäts- den. Dieser hatte in 2005 bei drei Paaren, die mit dem
kontrolle eröffnet. Am Ende geht es dann nicht mehr nur Wunsch nach einem gesunden Kind zu ihm gekommen
um die Aussonderung von erbkranken Embryonen, son- waren, eine Präimplantationsdiagnostik durchgeführt.
dern der Weg führt dann hin zur Geschlechtskontrolle Einem Paar konnte er helfen.
(B) oder zur Frage, welches Baby mit welchem Design es Die Selbstanzeige des Berliner Arztes war ein Hilfe- (D)
denn sein darf. ruf im Namen von Paaren, bei denen ein Partner Über-
Sicherlich will keiner der vorgelegten Gesetzentwürfe träger einer schweren Erbkrankheit ist. Ich bin froh, dass
eine solch abartige Entwicklung gestatten. Man sollte je- der Deutsche Bundestag jetzt auf dem Weg ist, über den
doch den Anfängen wehren. zukünftigen Umgang mit der PID zu entscheiden. Ich
setze mich dafür ein, dass klare rechtliche Regelungen
Das gilt auch für den Gesetzentwurf, der für eine eng zur Zulassung der PID in begründeten Einzelfällen for-
begrenzte Zulassung der PID plädiert, wie von dem Gut- muliert werden. Die seit der Verabschiedung des Em-
achten der Leopoldina vom 18. Januar 2011 vorgeschla- bryonenschutzgesetzes erfolgten Entwicklungen der Re-
gen wird. Wer die Tötung zulässt, auch nur im begrenz- produktionsmedizin müssen im Gesetz berücksichtigt
ten Umfang, öffnet das Tor, wie dies die Erfahrung aus werden.
der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch lehrt.
Im Jahr 2009 wurden in Deutschland etwa 650 000
Dann ist kein Halten mehr. Was heißt schon „eng be-
Kinder geboren und 110 000 Schwangerschaftsabbrüche
grenzte“ Zulassung der PID! Wo ist die Zulassung be-
vorgenommen, darunter einige Hundert Spätabtreibun-
grenzt, und wo geht sie zu weit? Aber selbst wenn die
gen als Folge der Ergebnisse der genetischen Pränatal-
Fälle der möglichen Zulassung gesetzlich genau festge-
diagnostik. Schon 1999 hat die Bioethik-Kommission
schrieben werden könnten, bliebe doch die Tatsache,
von Rheinland-Pfalz ausgeführt:
dass ein unschuldiges menschliches Leben getötet wird.
Niemandem aber darf das Leben genommen werden, nur Es wäre ein Wertungswiderspruch, den Paaren, bei
weil er behindert ist. denen das Risiko der Übertragung eines Gendefekts
festgestellt wurde, die PID aus Rechtsgründen zu
Das Argument wird immer wieder bemüht, zwischen verwehren und dann diesen Paaren gleichwohl die
dem Verbot der PID und dem Abtreibungsstrafrecht be- Durchführung der Pränataldiagnostik zu erlauben,
stehe ein „Wertungswiderspruch“. Der Embryo im Re- die im Fall einer festgestellten Indikationslage zum
agenzglas werde besser geschützt als das Kind im Mut- Schwangerschaftsabbruch führen kann.
terleib. Diese Argumentation ist falsch. Nach dem
Abtreibungsrecht existiert, wie bei dem Verbot der PID Eine humangenetische Beratung von Paaren hat es
auch, keine Erlaubnis, ein Kind, nur weil es behindert schon gegeben, als noch niemand an Untersuchungsme-
ist, abzutreiben. Außerdem ist es sehr fraglich, ob die thoden, die auf der Analyse des Genoms beruhen, über-
sehr problematische Abtreibungsregelung als Maßstab haupt gedacht hat. Mit der Methode der Stammbaum-
herangezogen werden darf. untersuchung ist schon vor mehreren Jahrzehnten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12117

(A) festgestellt worden, dass bestimmte Krankheiten vererbt von jeher auch mit Fragen der Optimierung von Schwan- (C)
werden und welcher Erbgang ihnen zugrunde liegt. gerschaft und Geburt befasst. Diesem Streben verdanken
Menschen aus Familien, in denen eine solche Disposi- wir grundsätzlich auch heute noch unseren gewohnten
tion gegeben ist, wissen in aller Regel darüber Bescheid. sehr hohen Standard in all diesen Fragen.
Deshalb meine ich, dass es keinen grundsätzlichen Un-
terschied gibt zwischen der Entscheidung eines Paares, Doch der Mensch will immer mehr. Ich bin fest davon
nach einer Pränataldiagnostik aufgrund einer festgestell- überzeugt, dass die Entscheidung für oder gegen PID ein
ten Erbkrankheit einen Schwangerschaftsabbruch durch- Meilenstein für das Leben von uns Menschen hier auf
zuführen, und seiner Entscheidung, zur Vermeidung ei- dieser Erde sein wird.
nes erbkranken Kindes eine PID durchzuführen. Das Ringen um die bestmögliche Lösung wird strittig
Die befruchtete Eizelle, die Zygote, kann sich nur geführt. Das ist gut so. Es geht letztlich darum, ob eine
dann zu einem Menschen entwickeln, wenn sie sich er- Gesellschaft, in der der Staat darüber entscheidet oder
folgreich in der Gebärmutter einnistet. Menschliches Le- andere, letztlich Fachleute, darüber entscheiden lässt,
ben entsteht nur in enger Beziehung mit seiner Mutter. welches Leben gelebt werden darf und welches nicht,
Die Zygote allein ist nicht lebensfähig, sie ist nicht auto- ihre Menschlichkeit verliert. Deshalb steht auch die
nom. Nur etwa 30 Prozent der menschlichen Zygoten Frage dahinter, ob medizinischem Optimierungsbestre-
überleben unter natürlichen Bedingungen, die übrigen ben Grenzen gesetzt werden müssen oder nicht.
sterben ab. Eine Zygote, die sich noch nicht in der Ge- 4 bis 5 Prozent aller Kinder, die geboren werden,
bärmutter eingenistet hat, ganz unabhängig davon, ob sie kommen mit einer chronischen Erkrankung oder Behin-
unter natürlichen Bedingungen oder in der Petrischale derung zur Welt. Deren Existenzberechtigung verhan-
entstanden ist, kann daher nicht mit der Würde des deln wir hier. Diese Kinder würden bei einer einge-
Grundgesetzes ausgestattet sein. schränkten Zulassung der PID keine Chance haben, das
Licht der Welt zu erblicken. Ich kann mir gut vorstellen,
In Großbritannien, Frankreich, Belgien und Polen ist
dass Menschen, die mit einer Behinderung zur Welt ge-
die PID erlaubt. Dortige Erfahrungen zeigen, dass die
kommen sind und vielleicht heute unsere Debatte verfol-
Furcht vor dem Designerbaby unbegründet ist. Ich kann
gen, unsere Argumente nicht nachvollziehen können.
nicht erkennen, warum dies in Deutschland anders sein
Denn sie müssen sich die Frage stellen, ob sie selbst un-
sollte.
ter diesen Umständen überhaupt auf dieser Welt wären
Menschen mit Behinderung sind in unserer Gesell- und nicht vorher aussortiert worden wären. Diese Frage
schaft willkommen und sollen auch in Zukunft willkom- ist nicht nur schmerzhaft, sondern schlichtweg diskrimi-
men sein. Daran hat die Nutzung der Pränataldiagnostik nierend.
(B) nichts geändert und wird auch der Einsatz der Prä- (D)
Ich bin für die Positionierung des Deutschen Behinder-
implantationsdiagnostik nichts ändern.
tenrates dankbar, denn wir wissen, dass auch unter den
Ich sehe keinen Grund, warum wir die PID verbieten Menschen mit Behinderung eine sehr ernste und differen-
sollten. Ich meine, wir sollten die PID auch in Deutsch- zierte Diskussion geführt wird. Es darf keine Einteilung
land unter bestimmten Bedingungen zulassen. Ange- in lebenswertes und lebensunwertes Leben geben. Leben
sichts der emotionalen Not von Paaren mit einer erb- mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen ist
lichen Belastung, die sich eigene Kinder wünschen, eine selbstverständliche Lebenswirklichkeit. Behinderung
sollten wir für die Anwendung der PID einen rechtlichen ist kein persönliches Problem. Deshalb darf es keine
Rahmen schaffen. Die Eingrenzung der Zulassung der Schuldzuschreibungen und Diskriminierungen von Men-
PID ist schwierig, aber diese Schwierigkeit kann keine schen mit Behinderung geben, auch nicht gegenüber den
Begründung für ein vollständiges Verbot sein. Ich bin Eltern.
vielmehr dafür, mit dieser inzwischen entwickelten me-
Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von
dizinischen Möglichkeit Paaren einen Weg zu öffnen,
Menschen mit Behinderung in unserer Gemeinschaft
auf dem sie gesunde Kinder bekommen können, auch
muss Selbstverständlichkeit werden und geht uns alle an.
wenn sie Überträger schwerer Erbkrankheiten sind. Ich
Familien mit behinderten Kindern, behinderte, chronisch
meine, wir können Vertrauen in den verantwortungsvol-
kranke und alte Menschen müssen selbstverständlich
len Umgang von Eltern und Ärzten mit der PID haben.
ihre selbstbestimmte Lebensführung haben und dabei
Deshalb gehöre ich zu den Mitunterzeichnern des Ge-
unterstützt werden. Ihr Leben muss deutlich einfacher
setzentwurfs zur Regelung der Präimplantationsdiagnos-
werden. Notwendige Hilfen müssen individuell, passge-
tik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG).
nau und vor allem ohne bürokratischen Aufwand erfol-
gen. Auf diese Themen müssen wir uns noch viel mehr
Maria Michalk (CDU/CSU): Die Präimplantations- konzentrieren.
diagnostik ist ein Verfahren zur technischen Optimie-
rung der künstlichen Befruchtung. Medizinisch gesehen Eine offene, tolerante Gesellschaft, die Menschen mit
würde die PID nach meinem Verständnis zu einem In- Behinderung von Anfang an in alle Lebensbereiche ein-
strument der Qualitätskontrolle für Embryonen werden bezieht – und das ist in Deutschland durchaus Realität –,
und zur Selektion führen – gewollt oder ungewollt. muss am Ende dieser Debatte die Frage, ob und wie die
Geburt von Kindern mit einer möglichen Behinderung
Gesunde Kinder zu haben, ist ein uralter Mensch- frühzeitig verhindert wird, nach meiner festen Auffas-
heitswunsch. Deshalb hat sich medizinischer Fortschritt sung mit einem eindeutigen Nein beantworten.
12118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Für mich persönlich steht das Nein zur PID fest. Ich dende Leben zu schützen. Wer die PID mit den (C)
lasse mich davon leiten, dass Leben mit der Verschmel- Abtreibungsregeln des Strafgesetzbuches rechtfertigen
zung von Ei- und Samenzelle beginnt. Deshalb sind Ex- will, begründet ein vermeidbares ethisches Desaster mit
perimente ab diesem Stadium nach meiner christlichen einer ganz anderen, unvermeidbaren ethischen Konflikt-
Überzeugung unzulässig. Trotzdem bleibt für die Wis- lage. Ethik funktioniert anders. Sie strebt nach einer
senschaft und Medizin ein großes Feld für mögliche Er- Stärkung des ethischen Verhaltens, nicht nach der Recht-
kenntnisse zum Wohl des Menschen. fertigung von mehr „Unethik“.
Befürworter der PID argumentieren schließlich, die
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Der Mann ist rechtlichen Grenzen des Verfahrens seien in ihrem Ent-
schwerstkrank. Die Krankheit ALS zerfrisst sein Ner- wurf klar abgesteckt. Die PID sei nur zulässig bei einer
vensystem. Die Gliedmaßen sind wie nutzlose Gewichte. „hohen Wahrscheinlichkeit“ einer „schweren Erbkrank-
Ein Luftröhrenschnitt nahm ihm die Stimme. Mimik und heit“ oder im Falle der Verhinderung einer Tot- oder
Gestik sind erlahmt. Professor Stephen Hawking ist der Fehlgeburt. Doch offene Rechtsbegriffe sind die natür-
bekannteste Astrophysiker der Welt. Sein gefesselter lichen Feinde klarer ethischer Grenzen. Was ist eine
Leib ist ein schwerer Pflegefall. Aber sein Geist kann „schwere“ Erbkrankheit? Wann ist eine Wahrscheinlich-
mühelos fliegen. Viele Millionen Menschen verehren keit „hoch“? Rechtsbegriffe, die man nur begreift, wenn
ihn weltweit. man über ihren Inhalt streitet, führen nicht selten zu
Mediziner vermuten hinter ALS eine Erbkrankheit. Dammbrüchen. Ist die PID einmal legal, wird sich „ge-
Sie nehmen an, dass mehrere defekte Genabschnitte für ringe Wahrscheinlichkeit“ zu „ausreichender Wahr-
das Leiden verantwortlich zeichnen. Hawking wurde im scheinlichkeit“ aufschwingen. Was heute keine
Jahre 1942 geboren. Zu jener Zeit war die Weitergabe „schwere“ Erbkrankheit ist, wird morgen noch eine wer-
von Erbinformationen noch nicht ausreichend begriffen. den. Aus dem „Wunschkind“ wird schrittweise das „er-
Niemand konnte wissen, dass Hawking einmal ALS be- wünschte Kind“. Mit der Pipette gestaltet der Mensch
kommen würde. Keiner wollte das verhindern. Zum die Evolution.
Glück. Was wüssten wir heute über das Weltall, wenn Alle Eltern wünschen sich starke, kluge, gutausse-
man Hawkings Erbanlagen aus einer Petrischale in den hende und intelligente Kinder. Wir alle meinen zu wissen,
Müll geworfen hätte? was wir damit meinen. Dabei sind unsere Vorstellungen
Genau das geschieht bei der Präimplantationsdiag- von „unseren“ Kindern kulturell geprägt. Kultur ist dem
nostik (PID), über deren Zulässigkeit derzeit der Deut- Wandel unterworfen. Viele Jahrhunderte dominierte die
sche Bundestag berät. Fraktionsübergreifend hat dies manuelle Arbeit. Folglich wünschten sich Eltern starken
(B) derzeit zu zwei Gruppenanträgen geführt. Der eine wirbt und männlichen Nachwuchs. Heute schätzen wir weibli- (D)
für eine beschränkte Zulassung. Der zweite, den auch chen und männlichen Nachwuchs gleichermaßen mit ho-
der Verfasser unterstützt, strebt ein Verbot der PID an. her Intelligenz und Einfühlungsvermögen. Ein Jahrhun-
dert zuvor wäre Hawking vermutlich verhungert. Heute
Viele Paare sehnen die Legalisierung des PID-Verfah- nutzt er modernste Technik, um der Welt von seinen Ideen
rens herbei. Manche von ihnen haben bereits ein krankes zu berichten.
oder behindertes Kind. Die PID kann ihnen den Wunsch
nach gesundem Nachwuchs erfüllen. Bei dem Verfahren Dazu kommt: Unser Wissen von den Erbanlagen ist
werden mehrere Eizellen der Mutter künstlich mit den bestenfalls lückenhaft. Gene tragen in ihren Kombinatio-
Spermien des Vaters befruchtet und dann nach drei Ta- nen immer viele verschiedene Informationen. Jeder
gen untersucht. Nur die gesunden „Wunscheizellen“ Mangel kann eine Stärke zur Kehrseite haben. Mitunter
werden dann der Mutter zur Austragung verpflanzt. Al- mendeln sich diese Stärken erst in vielen Folgegenera-
les andere landet im Abfall. Befürworter des Verfahrens tionen heraus – es sei denn, wir bewirken, dass schon
finden dafür Argumente: Der Embryo sei in seiner Ur- ihre ersten Träger nie das Licht der Welt erblicken.
form nicht mehr als ein Zellhäuflein. Doch das war Pro-
Der Maler und Dichter Khalil Gibran schrieb: „Deine
fessor Hawking im Jahre 1941 auch. Jeder Mensch ist
Kinder sind nicht Deine Kinder. Sie sind die Söhne und
schon am Anfang ein unersetzbares Unikat. Könnte er
Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie
sich schon wehren, würde er sich Urteile über seinen
kommen durch Dich, aber nicht von Dir, und obwohl sie
Wert und Unwert gefälligst verbitten.
bei Dir sind, gehören sie Dir nicht. (…) Du bist [nur] der
Ein weiteres Argument lautet: Die PID sei gegenüber Bogen, von dem Deine Kinder als lebende Pfeile ausge-
einer späteren Abtreibung der wesentlich schonerende schickt werden.“
Weg. Die Mutter erhalte eine ziemliche Gewissheit auf
Jeder Embryo, der eine PID-Untersuchung nicht über-
ein gesundes Kind und müsse später nicht ein krankes
abtreiben. Das Argument ist kraftvoll, aber unlogisch. steht, ist wie ein zerbrochener Pfeil.
Dass Abtreibungen rechtlich möglich sein müssen, liegt
an der notwendigen Abwägung zwischen dem seelischen Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): In der heutigen
Leid der schwangeren Mutter und der staatlichen ersten Lesung wird das Gesetz zur Präimplantationsdia-
Schutzpflicht gegenüber dem Embryo. Doch bei einer gnostik beraten. Nachdem der BGH am 6. Juli 2010 ent-
Vorfelduntersuchung liegt noch gar keine Schwanger- schieden hat, dass die gesetzliche Regelung im Embryo-
schaft vor, die eine Frau belasten könnte. In der Petri- nenschutzgesetz nicht hinreichend konkret ist, um eine
schale herrscht damit allein das ethische Gebot, das wer- strafrechtliche Verurteilung herbeizuführen – über ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12119

(A) generelles Verbot der Präimplantationsdiagnostik konnte 1995 verboten worden, um eine solche Diskriminierung (C)
der BGH gar nicht entscheiden –, hat der Gesetzgeber zu verhindern. Der Gesetzgeber hat auch im Stammzell-
nun die Verpflichtung, eine hinreichend konkrete Rege- gesetz festgelegt, dass es untersagt ist, embryonale
lung zu schaffen. Bis zu dem Urteil des BGH war die Stammzellen einzuführen und zu verwenden, wenn der
herrschende Meinung der Rechtswissenschaft, aber auch Verdacht einer genetischen Auswahl besteht und diese
der Medizin und der Politik davon ausgegangen, dass die Embryonen verworfen werden.
Präimplantationsdiagnostik in Deutschland verboten ist.
Die Spirale, die „Pille danach“ und Schwanger-
Wenn dies nun nicht mehr klar ist, kann nach meiner
schaftsabbrüche generell werden häufig mit der Präim-
Meinung eine Klärung dieser Situation nur durch ein
plantationsdiagnostik verglichen. Dabei gibt es einen
Verbot der Präimplantationsdiagnostik im Embryonen-
eindeutigen Unterschied: Die Spirale, die „Pille danach“
schutzgesetz erfolgen, denn die Präimplantationsdia-
und der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf
gnostik ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar.
Wochen selektieren nicht. Sie beenden eine Schwanger-
Das Recht auf Leben beginnt schon vor der Geburt, schaft nicht aufgrund der möglichen Behinderung des
nämlich mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle. Kindes. Eine Gleichsetzung dieser unterschiedlichen Le-
Ein Embryo ist selbstverständlich als Mensch anzuse- benssachverhalte ist einfach falsch, genauso wie ein sol-
hen, ob im Mutterleib oder vor der Einschwemmung. ches „Erst-recht-Argument“ insgesamt falsch ist. Es
Wer dies bezweifelt, zettelt eine Diskussion an, die würde schließlich bedeuten, wenn schon Abtreibungen
ethisch und moralisch nach meiner Meinung unhaltbar möglich sein sollen, dann ist es auch egal, dass Embryo-
ist, da sie in Bezug auf den Wert von Menschenleben nen erzeugt werden, um einen erheblichen Teil von ih-
differenziert. Für mich darf es keine Abstufung zwi- nen zu töten. Statistische Erhebungen haben nämlich
schen dem Wert menschlichen Lebens geben. gezeigt, dass bei Anwendung der Präimplantationsdia-
gnostik 33,7 Embryonen selektiert und verworfen wer-
Art. 1 Abs. 1 GG verbietet, einen Menschen wie eine
den und nur ein Embryo tatsächlich geboren wird.
Sache zu behandeln. Der Artikel gilt auch für ungebore-
nes Leben. Damit gilt die Menschenwürdegarantie Genauso bei Spätabbrüchen. Diese dürfen nicht auf-
ebenso für Embryonen. Durch die Bevorzugung von grund der Behinderung des Kindes durchgeführt werden,
Embryonen mit passenderen Eigenschaften werden diese sondern werden nur noch in akuten Notsituationen
als bloßes Objekt behandelt, was mit der Menschenwür- durchgeführt. Besteht zum Beispiel akute körperliche
degarantie nicht vereinbar ist. Erst recht werden die Em- und seelische Gefahr für die Mutter, so ist ein Spätab-
bryonen zur Sache gemacht, die nicht genutzt wird, son- bruch der Schwangerschaft erlaubt. Diese Konfliktsitua-
dern – wie es dann heißt – verworfen wird. Gemeint ist, tion – Mutter oder Kind – ist im Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
sie wird vernichtet. in den Vordergrund gerückt. Das ist keineswegs ver-
(B) (D)
gleichbar mit der Unterscheidung, wie sie bei der Prä-
Weiterhin wird nicht nur gegen das Recht auf Leben
implantationsdiagnostik durchgeführt wird.
und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG verstoßen, sondern auch gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der Wenn wir die Präimplantationsdiagnostik verbieten,
das Diskriminierungsverbot von Behinderten festlegt: dann werden die Forscher und Mediziner andere Wege
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt finden, um Familien die Geburt eines gesunden Kindes
werden. Dabei dient die Präimplantationsdiagnostik dem zu ermöglichen, etwa über die Polkörperchendiagnostik,
Zweck, Embryos, bei denen eine Krankheit oder Behin- bei der nicht Embryos, sondern Eizellen untersucht und
derung festgestellt wurde, zu verwerfen und ihnen das selektiert werden.
Recht auf Leben zu verwehren. Lebenswertes und ver-
meintlich lebensunwertes Leben werden bewusst un- Das ist ein Unterschied, denn dann würde kein Em-
gleich behandelt. Diese offenkundige Ungleichbehand- bryo – und damit ein Mensch im frühen Stadium – ver-
lung von gesunden und behinderten Menschen sowie die worfen, also zerstört. Ich sehe hier eine vergleichbare
Diskriminierung von Behinderten ist nicht mit unserem Entwicklung wie bei der embryonalen Stammzellfor-
Grundgesetz vereinbar. schung, die nun auch keiner in der Wissenschaft mehr
zwingend fordert.
Somit bleibt für die Beantwortung der Frage, ob Prä-
implantationsdiagnostik verboten werden soll oder nicht, Ich werbe aus all diesen Gründen nachdrücklich für
aus verfassungsrechtlicher Sicht kein Spielraum. Denn ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik. Unterstützen
letztlich treffen die Eltern und die verantwortlichen Me- Sie daher bitte mit mir den entsprechenden Antrag.
diziner eine unumkehrbare Entscheidung über das Leben
oder den Tod eines Kindes. Wenn wir der Präimplanta- Jens Spahn (CDU/CSU): Ich weiß, dass es – wie
tionsdiagnostik die Tür auch nur einen Spalt öffnen, se- gerade deutlich geworden ist – in diesem Hause ganz un-
lektieren wir Leben nach seiner Qualität und werden ein terschiedliche Auffassungen zum Thema Präimplanta-
Ausdehnen der Selektion auch in zukünftigen Diskussio- tionsdiagnostik gibt. Daher bin ich dankbar dafür, dass
nen nicht mehr verhindern können. wir uns dafür mit der nötigen Zeit darüber austauschen
können und diese Debatte auch mit der nötigen Ernsthaf-
Wenn die Präimplantationsdiagnostik zugelassen
tigkeit führen.
wird, bedeutet dies ein Legalisieren der Unterscheidung
menschlichen Lebens aufgrund einer Behinderung. Ein Wer mit Paaren, mit Frauen und Männern, die eine
Schwangerschaftsabbruch allein aufgrund einer Behin- genetische Veranlagung zu schwersten Erkrankungen
derung ist nach der Reform des § 218 a StGB im Jahre haben, über ihren Kinderwunsch, ihr Schicksal, ihre Ver-
12120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) zweiflung gesprochen hat, der kann und der darf sich wir beim Schwangerschaftsabbruch haben, die ja auch (C)
eine solche Entscheidung heute nicht leicht machen. Er einmal mit strengsten und striktesten Kriterien begonnen
wird, er muss fast mit dieser Entscheidung hadern. Er hat, muss nicht diese Praxis, wie wir sie heute beim
weiß aber auch, dass er um diese Entscheidung nicht he- Schwangerschaftsabbruch zum Teil haben, weniger
rumkommt, dass er diese Entscheidung treffen muss. leuchtendes Beispiel als vielmehr Mahnmal dafür sein,
was passiert, wenn man einmal bei der Entscheidung, die
Aus meiner Sicht muss der über allem stehende
wir heute treffen, die Tür geöffnet hat?
Grundsatz dabei sein, dass im Zweifel für das Leben ent-
schieden wird und bei Unsicherheit größtmögliche Si- Deswegen: In dubio pro vita, im Zweifel für das Le-
cherheit für das Leben gesucht wird. ben. Ich möchte Sie bitten, heute für ein Verbot der PID
Hier gibt es viele Zweifel. Einige sind schon ange- zu stimmen.
sprochen worden, Ich habe zum einen Zweifel, dass es
bei dem einmal definierten Ausnahmekatalog bleibt. Es Stephan Thomae (FDP): In der ethisch heiklen
ist ja schon gefragt worden: Wer soll ihn definieren? Der Frage der Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, treffen
Bundestag? Oder soll dieser die Entscheidung auslagern in diesem Hohen Hause gegensätzliche Auffassungen
und an andere delegieren? Sich für bestimmte Kriterien aufeinander. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom
zu entscheiden, heißt, andere auszuschließen. Ich unter- 5. Juli 2010 macht deutlich, dass die PID nicht notwen-
stelle niemandem – ich glaube, darum geht es auch digerweise gegen das Embryonenschutzgesetz verstößt.
nicht –, dass es ihm um Designbabys, um die Frage der Ich möchte ausdrücklich den Antrag unterstützen, den
Augenfarbe oder ähnliche Dinge geht. Ich habe aber maßgeblich meine Fraktionskollegin Ulrike Flach auf
schon die Sorge, dass eine positive Entscheidung zwar den Weg gebracht hat, und der insbesondere von den
nicht zu einem Dammbruch, aber doch zu einem lang- Kolleginnen Dr. Carola Reimann (SPD), Dr. Petra Sitte
sam anschwellenden Fluss führt, sodass wir, wenn wir (Linke) und den Kollegen Staatssekretär Peter Hintze
heute einmal das Tor geöffnet haben, die Dinge am Ende (CDU) und Jerzy Montag (Bündnis 90/Grüne) mitgetra-
nicht mehr werden aufhalten können. gen wird. Bei allem Respekt vor anderen Standpunkten
Ich habe zum Zweiten Zweifel – das ist auch schon sprechen viele Gründe für diese Position:
angeklungen – weil auch die PID keine hundertprozen- Ziel der PID ist, was das Embryonenschutzgesetz for-
tige Sicherheit bringt. Trotz PID besteht das Risiko, dass dert, nämlich eine Schwangerschaft herbeizuführen. In-
das Kind später krank ist. Ist der Druck, ist das Leid in sofern fördert die Zulassung der PID den Entschluss von
einem solchen Fall nicht noch viel größer und noch viel Eltern, die sich ohne eine solche Untersuchungsmethode
stärker? gegen ein Kind oder – weil sie vielleicht bereits ein Kind
(B)
Ich habe auch Zweifel, weil für eine PID bis zu mit einer ererbten Krankheit oder Behinderung haben (D)
40 Embryonen gebraucht werden. Was passiert mit den oder aufgrund dessen bereits ein Kind verloren haben –
anderen, die nicht eingepflanzt werden? Wer wollte da- gegen ein weiteres Kind entscheiden würden. Viele
rüber entscheiden? Paare, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, aber auf-
grund erblicher Vorbelastung Angst vor einer Tot- oder
Ich bin der Überzeugung: Was manchmal als Zell- Fehlgeburt oder vor der Geburt eines todkranken Kindes
klumpen bezeichnet wird, das hat das Potenzial, ja, das haben, sehen in der PID eine Chance. Bislang konnten
ist aus meiner Sicht menschliches Leben, und wer wollte solche Paare allenfalls auf dem Wege der Pränataldia-
über die Chance, die Wertigkeit dieses Lebens entschei- gnostik, kurz PND, feststellen, ob der Embryo im Mut-
den? Ich jedenfalls – egal, was andere Länder da ent- terleib an einem genetischen Defekt leidet. In solchen
schieden haben – will das nicht, und ich denke, es ist ei- Fällen waren die Eltern vor die Wahl gestellt, die
nem anderen, Höheren vorbehalten, das zu entscheiden. Schwangerschaft abzubrechen oder nicht. Ein Schwan-
Im Übrigen denke ich auch, dass gerade der Embryo gerschaftsabbruch aufgrund einer PND-Diagnose ist ins-
in der Petrischale, weil sein Potenzial, sein Leben-Sein besondere für die Schwangere jedoch mit wesentlich
eben nicht augenfällig ist, vielleicht nicht auf den ersten schwereren psychischen und physischen Belastungen
Blick zu erkennen ist, einen noch höheren Schutz verbunden als die Verwerfung einer Blastozyste in der
braucht, ein noch größeres Maß an Sicherheit und Zu- Petrischale. Bislang bot sich allenfalls für solche Paare,
rückhaltung in der Frage, was wir regeln. Gerade deswe- die es sich leisten können, die Möglichkeit zur PID im
gen sollten wir an die PID mit größter Bedachtheit he- Ausland. Die Zulassung der PID beseitigt deshalb auch
rangehen. den Widerspruch, dass zwar Präimplantationsdiagnose
einer Blastozyste in der Petrischale verboten, aber der
Auch sehe ich da keinen Wertungswiderspruch zur Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Schwanger-
Abtreibung, wie er hier schon mehrfach angesprochen schaftswoche und unter bestimmten Voraussetzungen
worden ist. Bei der PID geht es voll und ganz und unmit- sogar die Spätabtreibung nach einer Pränataldiagnose
telbar um den Schutz des Embryos in der Petrischale, zulässig ist. Dieser Widerspruch kann weder moralisch
dessen Leben-Sein – ich habe es schon gesagt – nicht au- noch juristisch aufgelöst werden.
genfällig ist. Beim Schwangerschaftsabbruch geht es im
Kern um die konflikthafte Situation, um die schwierige Auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes ungebo-
Lebenslage der Mutter, wo der Embryo natürlich mittel- renen Lebens ist es nicht die PID, die einem Lebenskeim
bar auch eine Rolle spielt; aber es ist eine andere Aus- das Lebensrecht entzieht oder zu einer Verschlechterung
gangslage. Muss nicht eigentlich die Entwicklung, die des Embryonenschutzes führt. Die Blastozyste ist außer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12121

(A) halb des Mutterleibes nicht in der Lage, sich zu einem ist kein Platz, und dementsprechend miserabel ist auch (C)
Embryo weiterzuentwickeln. Schon heute aber steht es die Fürsorge und Hilfe für Behinderte und deren Eltern.
der Mutter auch ohne PID frei, zu entscheiden, ob sie
sich die Blastozyste einpflanzen lässt oder den Keim Insofern geht die PID von der völlig falschen Seite an
verwirft. die Problematik heran. Ja, für Eltern, die sich gegen PID
entscheiden und für ein eventuell behindertes oder kran-
Genauso wenig kann Bedenken gefolgt werden, die kes Kind, wird das Leben noch schwerer werden. Zu den
PID gefährde die Bereitschaft der Gesellschaft, Kinder ohnehin zu erwartenden Einschränkungen wird starker
mit Behinderungen zu akzeptieren. Weder ist eine solche sozialer Druck hinzukommen: Man hätte das Leben die-
Entwicklung in Ländern zu beobachten, welche die PID ses Kindes ja schon in der Petrischale beenden können.
kennen, noch hat in Deutschland die Zulassung des Die Folge wird sein: noch weniger Mittel und Hilfen,
Schwangerschaftsabbruchs nach einer PND eine solche noch größere Ausgrenzung für Kinder und deren Eltern.
Wirkung hervorgerufen. Die Integration und Inklusion
von Menschen mit Behinderungen war – trotz PID und Andere negative Aspekte der PID will ich hier nur
PND – nie so groß wie heute. kurz erwähnen. Die Beteuerung der Befürworter, PID
nur in Ausnahmefällen zulassen zu wollen, ist längst von
Erlauben Sie mir abschließend eine höchstpersönliche der Realität überholt worden. In der Praxis werden ganz
Schlussbemerkung: Neben diesen eher vernunftgeleite- andere Bedürfnisse als die ursprünglich behaupteten ge-
ten Überlegungen wurde ich selbst nicht zuletzt beim schürt. In Fachzeitschriften wie Human Reproduction ist
Besuch eines Kinderhospizes in meiner eigenen All- nachzulesen (Nr. 1 von 2002), dass PID zum Beispiel
gäuer Heimat in meinem Entschluss bestärkt. Das Kin- sehr häufig allein der Geschlechtsbestimmung dient,
derhospiz begleitet Kinder und deren Familien ab dem ohne dass ein erhöhtes Risiko zur Übertragung einer
Zeitpunkt der Todesdiagnose eines Kindes oder Jugend- vererbbaren Krankheit vorlag. Man nennt das „social
lichen bis zu dessen Tod. In einigen Fällen müssen El- sexing“. Die Begehrlichkeiten der Industrie zeigen sich
tern schon das zweite, in einigen wenigen Fällen sogar jetzt schon in den weiterentwickelten Verfahren von
gleichzeitig zwei todgeweihte Kinder dort auf ihrem PID, wenn untersuchte Zellen mit „entkernten“ Maus-
letzten, manchmal langen Weg begleiten. Ich bin der tie- eizellen geklont werden. Es fehlt nur noch die Herstel-
fen Überzeugung, dass das Recht Paaren mit erblicher lung von Embryonen als „Ersatzteillager“. Selbst wenn
Belastung zumindest die Möglichkeit einräumen muss, Forscher nur die Gesundheit des Kindes im Auge haben,
Ja oder erneut Ja zu einem Kind zu sagen, ohne ihnen dann vergessen sie zu leicht, dass die PID und die Wei-
dieses Leid und diesen Schmerz zuzumuten oder ein terentwicklung des „therapeutischen Klonens“ den Men-
weiteres Mal zuzumuten. schen aufs Gröbste instrumentalisiert. Selbst wenn das
(B) Ziel ethisch zu rechtfertigen wäre, der Weg ist es auf kei- (D)
Bei allem Respekt vor jeder anderen Überzeugung nen Fall.
habe ich mich aus diesen rechtlichen und ethischen
Überlegungen entschieden, für den Entwurf eines Geset- Wir müssen völlig neu bedenken, welchen Irrweg wir
zes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik nach mit dieser Bevorzugung des perfekten Menschen be-
dem Entwurf meiner Fraktionskollegin Ulrike Flach zu schreiten, und dann auch mehr Hilfe bereitstellen für die,
stimmen. die Hilfe brauchen; denn jeder Mensch, der in die
menschliche Gesellschaft hineingeboren wird, hat An-
Johanna Voß (DIE LINKE): Meine grundsätzliche
recht auf ihren Schutz und auf ihre Hilfe.
Überzeugung besteht darin, dass jedes Leben, auch das Die PID scheint mir nur ein weiterer Schritt zu sein
„behinderte“, ein Recht darauf hat, beschützt zu werden. auf dem Weg, sich aus der besonderen Verantwortung
Bei der PID geht es aber nicht um das Recht auf Le- für den Menschen, nicht nur für den behinderten, zu ver-
ben. Vor allem geht es auch nicht um die Abwägung ver- abschieden.
schiedener Rechtsgüter, wie zum Beispiel den Schutz
der Mutter, so wie das bei einem Schwangerschafts- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): In der Frage über den
abbruch der Fall wäre. Und selbst beim Schwanger- künftigen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik,
schaftsabbruch dürfen mit Recht eventuelle Behinderun- PID, geht es um eine politische Grundsatzentscheidung.
gen des Kindes nicht die entscheidende alleinige Rolle Es geht vor allem um die Frage, ob wir ein elementares
spielen. Da geht es nur um die Abwägung der Rechte der Menschenrecht, das Recht auf Leben auch für ungebo-
Mutter gegenüber dem Kind. rene Kinder, zur Disposition stellen – aber auch darum,
dass wir den staatlichen Schutzauftrag gegen die Diskri-
Die Präimplantationsdiagnostik ist die extremste minierung von Menschen mit Behinderung infrage stel-
Form der Selektion, da möglichst viele Embryonen er- len. Mit einer Zulassung der PID würde dies meiner
zeugt werden, um wenigstens einige transplantierbare Meinung nach geschehen. Es würde unser Wertgefüge
auslesen zu können. Der einzige Zweck der PID ist aber, nachhaltig beschädigen. Nicht alles technisch Machbare
Leben zu eliminieren, das weniger wert zu sein scheint; dient letztendlich einer menschlichen Gesellschaft.
wir hatten in der deutschen Geschichte dafür schon ein-
mal den Begriff des „unwerten Lebens“. Die PID spie- Ich setze mich seit vielen Jahren für den Schutz des
gelt wider, wie Leben heute in der Gesellschaft bewertet ungeborenen Lebens ein. Denn für mich ist das sich ent-
wird: Den vollen Wert hat da nur der Mensch, der im wickelnde Leben von Anfang an schützenswert. Und
Vollbesitz aller nutzbaren Kräfte ist. Für Behinderungen nach meiner Auffassung hat niemand das Recht, über die
12122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Existenz eines ungeborenen Kindes zu entscheiden, auch Meine Einstellung wurde untermauert in Gesprächen (C)
nicht wenn eine genetische Erkrankung droht. mit Eltern von Kindern mit Behinderungen, Ärzten,
Geistlichen und Fachkräften aus der Schwangerschafts-
Jeder Abgeordnete steht in der Tat vor einer Gewis- beratung. Seit einigen Jahrzehnten beschäftigt mich als
sensentscheidung. Als zweifacher Familienvater und Familienvater und Sozialarbeiter, Politiker und Christ
dreifacher Großvater verstehe ich den verständlichen die Frage der Verschiebung von Werten beim Schutz des
Wunsch betroffener Paare nach einem eigenen gesunden ungeborenen Lebens. Diese Verschiebung von Werten,
Kind nur zu gut. Für mich hat jedoch das uneinge- die Verschiebung von gesetzlichen Schutzvorschriften
schränkte Lebensrecht eines jeden Menschen, ob gebo- ist ein bedeutendes Thema, vor allem, wenn ein Teil der
ren oder ungeboren, ganz klar Vorrang. Betroffenen seine Position nicht darstellen kann. Wie
Wer die PID zulässt – und sei es auch nur begrenzt –, Menschen mit Behinderungen zu den Änderungsvorstel-
der eröffnet zwangsläufig damit eine Diskussion über le- lungen stehen, die auf Grundlage einer Reduzierung von
benswertes und nicht lebenswertes Leben. Für mich gibt Schutzvorschriften für ungeborenes Leben, wie es nun
es jedoch kein lebensunwertes Leben – egal ob vor der zur Beratung steht, nicht das Licht der Welt erblickt hät-
Geburt, ob als behinderter, ob als alter oder schwerkran- ten, bleibt weitgehend unberücksichtigt.
ker Mensch. Wir stehen in der Pflicht, das ungeborene Leben vor
Eine Öffnung der PID für bestimmte Diagnosen ist der Verringerung seiner Rechte zu schützen. Die Selek-
keine Lösung. Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen tion von menschlichem Leben ist für mich völlig inak-
die dann einsetzende Ausweitung der Anwendungsberei- zeptabel, weder in einem frühen Stadium noch in einem
che der PID. späteren. Daher stimme ich für ein umfassendes gesetzli-
ches Verbot der Präimplantationsdiagnostik.
Eine solche Bewertung würde sich erheblich auf das
gesamte gesellschaftliche Zusammenleben und auf die Dabei bin ich mir des Leidensdrucks von Paaren mit
Einstellung anderer Menschen auswirken. Es wird der individuellen Erfahrung einer eigenen Erkrankung
höchste Zeit, dass wir uns wieder mehr auf christliche oder von Tot- oder Fehlgeburten bewusst. Aber eine Le-
Grundwerte besinnen und auch danach handeln. galisierung der PID ermöglicht eine gesetzlich legiti-
mierte Selektion bereits vor Beginn der Schwanger-
Die durch Legalisierung der PID gesetzlich legiti- schaft. Unsere Gesellschaft verliert ihre Menschlichkeit,
mierte Selektion vor Beginn der Schwangerschaft wäre wenn sie einen Paradigmenwechsel zulässt, der darüber
ein Paradigmenwechsel. Die Akzeptanz für das Verfah- entscheidet, welches Leben gelebt werden darf und wel-
ren, auf Probe erzeugte Embryos mit einer bestimmten ches nicht.
(B) Erkrankung oder Behinderung aussortieren zu können, Das medizinisch Machbare zur Gesundung von kran- (D)
stellt damit einen Angriff auf die Würde eines jeden
Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen dar. ken und behinderten Mitmenschen ist das eine, das me-
dizinisch Mögliche als Grundlage für die Auswahl von
Eine Zulassung der PID würde auf potenzielle Eltern lebenswerten und nicht lebenswerten Embryonen das an-
großen sozialen Druck ausüben, diese Möglichkeit in dere. Und genau dort liegt für mich die Grenze. Eine
Anspruch zu nehmen. Ansonsten müssten sie sich ja zu- Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen.
nehmend rechtfertigen, wenn sie die PID zunächst ab-
Lassen Sie uns mit der gebotenen Ruhe und Sachlich-
lehnen und dann ihr Kind mit Beeinträchtigungen zur
keit das Für und Wider bedenken. Es mag sein, dass die
Welt kommt. Bereits jetzt berichten Eltern von schwer
PID für manch einen nur ein kleiner Schritt bei der wei-
kranken oder behinderten Kindern von Diskriminierun-
teren Nutzung medizinischer Möglichkeiten zu sein
gen, mit denen sie konfrontiert sind.
scheint. Für mich wäre eine Zulassung der PID, auch un-
Krankheiten sowie körperliche und geistige Beein- ter engen Beschränkungen, ein überaus großer Verstoß
trächtigungen sind jedoch ein Bestandteil des Lebens gegen den Wert und die Unversehrtheit menschlichen
und werden dies auch künftig sein. Der Staat hat die Lebens. Ich wiederhole, es wäre der Schritt über eine
Pflicht, vor Diskriminierung zu schützen und das Le- Grenze, die bislang von Staat und Gesellschaft bis zum
bensrecht zu verteidigen. Sommer letzten Jahres anerkannt wurde. Ist diese
Grenze einmal überschritten, wird dies weitere Wünsche
Aus all diesen Gründen werde ich für ein striktes und Ansprüche zur Beseitigung von Lebensschutz zur
PID-Verbot stimmen. Folge haben.
Meine Position möchte ich abschließend mit einem
Willi Zylajew (CDU/CSU): Jede und jeder in diesem Zitat meines Kreisdechanten Achim Brennecke aus dem
Hohen Haus ist sich der Tragweite unserer heutigen De- Rhein-Erft-Kreis zusammenfassen:
batte und der anstehenden Abstimmung in einigen Wo-
chen bewusst. Einleitend möchte ich sagen, dass ich in Bereits seit meiner Schulzeit in den 60er Jahren hat
der Sache eine klare Position habe, die ich vor meinem sich mir der erste Satz unseres Grundgesetzes tief
Gewissen, vor Gott und den Menschen, dem geborenen eingeprägt: „Die Würde des Menschen ist unantast-
und ungeborenen Leben verantworten kann. Diese feste bar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
Position in einer bedeutenden Entscheidung schmälert aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 GG) Diese Würde
aber nicht meinen Respekt vor den Mitmenschen, die des Menschen beginnt nicht irgendwann, sondern
sich in der Sache anders entscheiden. besteht bei allen Menschen seit Beginn des Lebens,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12123

(A) wenn Ei und Samenzelle verschmelzen und zu ei- Und leider finden sich im Antrag auch einige Forde- (C)
nem Menschen werden. Diese Würde behält der rungen, die linker Ideologie geschuldet sind, aber mit der
Mensch auch bis zum Ende seines Lebens. Deshalb Realität in Afghanistan nichts zu tun haben. Im Gegen-
gilt es für Kirchen, Gesellschaft und Staat, diese teil: Sie sind für die Betroffenen vor Ort brandgefährlich!
Würde von Anfang bis Ende zu schützen. Eine Prä- So heißt es im Antrag: „Eine erzwungene Vermischung
implantationsdiagnostik macht den Menschen zum von humanitärer Hilfe und militärischem Einsatz lehnen
Objekt und öffnet einer Selektion, gewollt oder un- wir ab.“ Oder an anderer Stelle: „Kontraproduktiv für die
gewollt, Tor und Tür, was die Würde des Menschen Entwicklungszusammenarbeit [ist es]…, zivile Aufbau-
mehr als antastet. Es wäre ein Dammbruch, dessen arbeit und Militär stärker zu verknüpfen“.
Auswirkungen nicht abzusehen sind. Aus christli-
chem Verständnis des Menschen als Ebenbild Got- Solche Vorwürfe sind polemisch, und Bundesminister
tes lehne ich die zur Verhandlung stehende PID ab Niebel weist sie zurecht als „Desinformation“ zurück.
und setze mich für die Verteidigung der Würde des Wer so etwas fordert, will damit in der Öffentlichkeit nur
Menschen ein. billig punkten, hat aber nicht begriffen, worum es in Af-
ghanistan eigentlich geht: Es geht darum, dass wir es
schaffen müssen, dass Hilfsorganisationen schneller dort
vor Ort sind, wo militärische Operationen zur Sicherung
Anlage 4 von Gebieten stattgefunden haben. Nur so spüren die
Zu Protokoll gegebene Reden Menschen in den geschützten Regionen eine Friedens-
dividende, die ihnen hilft, mittel- und langfristig zu sta-
zur Beratung: bilen und gesicherten Lebensverhältnissen zu kommen.
Das gelingt nur, wenn die NGOs auch über die entspre-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Stärkung
chenden Operationen frühzeitig informiert werden, da-
der humanitären Lage in Afghanistan und
mit sie ihre Programme darauf ausrichten und in den ge-
der partnerschaftlichen Kooperation mit
sicherten Gebiete arbeiten können.
Nichtregierungsorganisationen
Dieses Konzept wird von den NGOs nicht nur mitge-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Für ei- tragen, sondern auch angenommen und umgesetzt. Das
nen nachhaltigen Ausbau des Bildungs- und wird allein schon daran deutlich, dass die 10 Millionen
Hochschulsystems in Afghanistan Euro, die für private Träger im Rahmen des vernetzten
(Tagesordnungspunkt 13 a und b) Ansatzes ausgeschrieben waren, schnell ausgeschöpft
wurden. Daher werden für dieses Jahr weitere 10 Millio-
(B) nen Euro zur Verfügung gestellt, um diesen erfolgver- (D)
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Am 26. Februar 2010 sprechenden Ansatz weiter zu unterstützen. Das sind wir
hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit ein nicht nur den Afghanen schuldig, sondern auch den Ent-
neues Mandat für den Afghanistan-Einsatz erteilt. Mit wicklungshelfern selbst. Sie brauchen für eine erfolgrei-
diesem Mandat war ein Strategiewechsel verbunden, der che Arbeit ein sicheres Umfeld. Daher ist die Entkoppe-
die zivilen Anstrengungen in Afghanistan besser einbettet lung von zivilem Aufbau und militärischem Engagement
und aufwertet. Dies ging einher mit einer Quasiverdoppe- ein denkbar schlechter Ansatz, um eine nachhaltige Ent-
lung der Gelder, die wir für den zivilen Aufbau Afghani- wicklung in Afghanistan zu unterstützen.
stans im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung stellen. Dadurch wird sehr deutlich, wir Noch mehr: Ich wüsste nicht, ob unser Land mit gutem
meinen es ernst. Gewissen das Engagement von Aufbauhelfern in Afgha-
nistan weiter in Anspruch nehmen könnte, ohne die ohne-
Dies alles ist eingebettet in die Vereinbarungen der hin schon riskanten Arbeitsbedingungen unnötig zu ver-
Londoner Afghanistan-Konferenz vom Januar 2010, auf schärfen. Wie prekär diese sind, zeigt allein der Anschlag
der sich die internationale Gemeinschaft zu einem besser auf das UN-Hauptquartier im nordafghanischen Mazar-i-
abgestimmten und stärkeren Engagement beim langfris- Scharif, dem am vorletzten Freitag elf Menschen zum
tigen zivilen Aufbau Afghanistans verständigt hat. Opfer gefallen sind.
Für diesen Strategiewechsel gab es gute Gründe. Af- Daher sollten wir alles tun, was erforderlich ist, um
ghanistans Entwicklung leidet unter den schwachen Or- die Sicherheit unserer Entwicklungsfachkräfte sicherzu-
ganisationsstrukturen, ausufernder Korruption, mangeln- stellen. Realitätsferne und ideologiebeladene Debatten
den Monitoringinstrumenten und schwach ausgeprägtem über das Verhältnis unserer Soldaten und Entwicklungs-
Verantwortungsbewusstsein einiger Spitzen der Adminis- experten in Afghanistan bringen uns nicht weiter – im
tration. Vieles von dem hatte ich bereits in meiner Rede Gegenteil: Wir tragen als Parlamentarier auch für die Si-
zur Regierungserklärung zum Fortschrittsbericht zur cherheit unserer Fachkräfte vor Ort Verantwortung –,
Lage in Afghanistan am 21. Januar 2011 bemängelt; all und mit solchen Debatten werden wir ihr nicht gerecht.
das wird auch im vorliegenden Antrag von der SPD be-
mängelt, und dem stimmen wir natürlich zu.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Wie ich an die-
Darüber hinaus finden sich im Antrag viele Allgemein- ser Stelle bereits mehrfach ausgeführt habe, ist die enge
plätze und Forderungen, die von der Bundesregierung oh- Verzahnung ziviler und militärischer Mittel der Schlüs-
nehin schon umgesetzt werden, wie beispielsweise zum sel zum Erfolg in Afghanistan. Beide sind zwei Seiten
Provincial Development Fund. einer Medaille, die ohne einander nicht denkbar sind.
12124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Wenn wir die Voraussetzung dafür schaffen wollen, die hat zu diesen Erfolgen in entscheidendem Maße beige- (C)
Verantwortung nach und nach in afghanische Hände zu tragen.
legen, müssen wir den zivilen Aufbau weiterhin unter-
stützen. Wir können unser militärisches Engagement nur Die Bundesregierung engagiert sich unter anderem im
dann zurückfahren, wenn wir unser ziviles Engagement Schulsektor, bei der Lehrerausbildung, bei der Förde-
verstärken. Darauf kommt es zunehmend an. rung von Deutsch als Fremdsprache und bei der Alpha-
betisierung und Erwachsenenbildung. Es gibt zahlreiche
Der heute unter TOP 13 zur Debatte stehende Antrag Partnerschaften zwischen deutschen und afghanischen
der SPD-Fraktion zur „Stärkung der humanitären Lage Universitäten. Der Deutsche Akademische Austausch-
in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation dienst, DAAD, hat seit 2002 etwa 950 Stipendien verge-
mit Nichtregierungsorganisationen“ und der Antrag der ben.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Für einen nachhalti-
gen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Af- Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass
ghanistan“ behandeln beide die zivile Seite des Wieder- wir unser Engagement in Afghanistan als eine Aufgabe
aufbaus. Da Kollegin Pfeiffer auf den Antrag der SPD- von besonderem nationalem Interesse verstehen. Dies
Fraktion eingeht, beschränke ich mich hier auf den An- gilt auch für unser Engagement im Bildungsbereich, das
trag von Bündnis 90/Die Grünen. wir uns bereits heute einiges kosten lassen. Ich verdeutli-
che Ihnen dies anhand folgender Zahlen:
Ihr Antrag verlangt eine erhebliche Verstärkung des
deutschen Engagements in der Bildungsförderung. Sie Das BMZ hat von 2002 bis 2010 insgesamt rund
bemängeln, das deutsche Engagement bleibe in seinem 70,5 Millionen Euro in die Grundbildung und rund
Umfang hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück. Des- 29,5 Millionen Euro in die berufliche Bildung in Afgha-
halb fordern Sie eine Fülle von umfangreichen und kos- nistan investiert. Das AA hat seit 2002 über 30 Schulen
tenintensiven Einzelmaßnahmen zum Ausbau des Bil- aus Mitteln des Stabilitätspakts neu gebaut und Hunderte
dungs- und Hochschulsystems. von Schulen mit Ausstattungsmaterial, Zelten sowie klei-
nen Baumaßnahmen unterstützt. Allein im Jahr 2010
Lassen Sie mich dazu kurz festhalten: Ich stimme ab- konnte durch die Erhöhung der Mittel im Bildungsbe-
solut mit Ihnen überein, dass Bildung der Schlüssel für reich der Bau von über 20 Schulen begonnen werden.
Prosperität, Wachstum, Versöhnung und Stabilität in Af- 2009 wurden dafür rund 1,15 Millionen Euro für die Aus-
ghanistan ist. Darüber sind wir uns alle einig. bildung afghanischer Lehrer bereitgestellt, zwischen
2002 und 2009 insgesamt 12,4 Millionen Euro. Das BMZ
Ihr Versuch, mit dem Antrag Defizite deutscher Poli- hat im Zeitraum 2009 bis 2010 einen signifikanten Bei-
tik herbeizureden, geht jedoch an der Realität vorbei. Ich trag zum nationalen Bildungsprogramm der afghanischen
(B) teile überhaupt nicht Ihre Ansicht, dass unser Engage- Regierung in Höhe von 20 Millionen Euro geleistet. Der (D)
ment im Bildungsbereich defizitär ist. Hochschulbereich wurde zwischen 2002 und 2009 mit
Wir sollten uns noch einmal vor Augen führen, dass rund 17 Millionen Euro aus dem Stabilitätspakt des AA
das afghanische Bildungswesen in den Jahren des Bür- unterstützt. 2010 sind es annähernd 4 Millionen Euro.
gerkriegs und unter den bildungsfeindlichen Taliban Das sind keine Peanuts, sondern substanzielle Summen.
weitgehend kollabiert war. Zahlreiche Schulen wurden So wie Heidegger sagte, Sprache ist das Gehäuse des
zerstört. Mädchen und Frauen waren fast vollständig Menschen, gestaltet Bildung dieses Gehäuse aus. Gerade
vom Zugang zu Bildungseinrichtungen ausgeschlossen. wir Deutschen mit unserer großen bildungspolitischen
Dies hat sich grundlegend geändert. Seit dem Ende der Kompetenz sind in der Verantwortung, an die jahrzehn-
Talibanherrschaft zeigen sich insbesondere im Bereich telang andauernde deutsch-afghanische Bildungspartner-
der Grundbildung beachtenswerte Erfolge. schaft anzuknüpfen. Genau das machen wir aber bereits
Erlauben Sie mir den Verweis auf den Fortschrittsbe- durch unser Engagement. Wir folgen deshalb der Be-
richt der Bundesregierung zu Afghanistan: Die Einschu- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses und
lungsrate hat zwischen 2005 und 2007/08 von 37 Prozent lehnen Ihren Antrag ab.
auf 52 Prozent zugenommen, die Alphabetisierungsrate
bei den 15- bis 24-Jährigen von 31 Prozent auf 39 Pro- Burkhard Lischka (SPD): Wir befassen uns heute
zent. Neben der Versiebenfachung der Anzahl der afgha- mit einem Antrag, den wir als SPD-Bundestagsfraktion
nischen Schülerinnen und Schüler von rund 1 Million im bereits vor zehn Monaten in den Deutschen Bundestag
Jahr 2001 auf rund 7 Millionen 2010 stieg der Anteil der eingebracht haben. Der zivile Aufbau Afghanistans, Ge-
Schülerinnen in Grundschulen von 0 Prozent im Jahr sundheit, Bildung, Beschäftigung, Lebensperspektiven,
2001 auf 38 Prozent 2008. Der Frauenanteil der an allge- Menschen- und Frauenrechte, all das thematisiert dieser
meinbildenden Schulen unterrichtenden Lehrkräfte liegt Antrag. Und wir wissen: All das sind Schlüsselbegriffe,
mittlerweile bei 29 Prozent. Sie finden heute Frauen in wenn es um die Zukunft Afghanistans geht. Es waren
afghanischen Universitäten, im Parlament und im Kabi- Schlüsselbegriffe vor knapp einem Jahr, als wir diesen
nett. Antrag gestellt haben, und sie sind es bis heute geblie-
ben.
Natürlich gibt es immer noch erhebliche Defizite.
Dennoch sind die bislang erreichten Erfolge viel besser Ja, es gibt Fortschritte in Afghanistan: bei der Infra-
als erwartet und umfassendem internationalen Engage- struktur, in der Bildung, bei der Gesundheitsversorgung.
ment zu verdanken. Gerade unser deutsches Engagement Aber wir treten eben auch in vielen Bereichen seit Jahren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12125

(A) auf der Stelle. Und – wer wollte das leugnen? – es gibt heranrücken und würden nur dann unterstützt, wenn sie (C)
auch Rückschritte. mit dem Militär zusammenarbeiten. Wissen Sie, Herr
Niebel, ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn eine Or-
Herr Niebel, als Sie vor einigen Wochen hier im
ganisation aus freien Stücken für sich die Entscheidung
Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zu Af- trifft, mit dem Militär zu kooperieren. Ich habe aber etwas
ghanistan abgegeben haben, da sagten Sie: „Wer heute dagegen, wenn Sie auch alle anderen Organisationen in
an den Hindukusch kommt, der sieht: Die Kinder lassen
dieses Korsett zwingen wollen, selbst dann, wenn diese
wieder Drachen steigen.“ Die Lebensfreude fasse wieder sagen: Das gefährdet unsere Projekte. Das gefährdet un-
Fuß in Afghanistan, meinten Sie. sere Mitarbeitet. Das gefährdet diejenigen Afghanen, die
Ich weiß nicht, Herr Niebel, was Sie gedacht haben, bei uns Hilfe suchen. – Und wenn Sie dann Hilfsorgani-
als vor wenigen Tagen sieben UN-Mitarbeiter in Mazar- sationen, die ihre Sorge öffentlich machen, auch noch
i-Scharif gelyncht wurden, als ein deutscher Entwick- Desinformation vorwerfen, dann ist das ein starkes Stück.
lungshelfer Ende des vergangenen Jahres bei seiner Ar-
beit getötet wurde. Ich weiß nicht, was Sie empfunden Desinformation, Herr Niebel, ist es, wenn Sie dieser
haben, als wir vor einigen Wochen erfahren mussten, Tage im Tagesspiegel behaupten, Hilfsorganisationen,
dass im vergangenen Jahr fast 3 000 Zivilisten – mehr die frühzeitig über militärische Operationen informiert
als je zuvor – in Afghanistan ums Leben gekommen seien, könnten ihre Planungen darauf einstellen und
sind. Mit „einer Fuß fassenden Lebensfreude“ hat all das dann schneller in Gebieten tätig werden, in denen vorher
sicherlich nichts zu tun. Kampfhandlungen stattgefunden haben. So aber funktio-
niert Entwicklungshilfe nicht, Herr Niebel, weil die
Herr Niebel, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie auch Hilfsorganisationen gerade dann als Partei eines Bürger-
auf die Fortschritte, die wir in Afghanistan haben, ver- krieges wahrgenommen werden und nicht als neutrale,
weisen. Nochmals: Ja, die gibt es. Ich verlange aber von unabhängige Helfer. Ihr Vorhaben, die Hilfsorganisatio-
Ihnen als verantwortlicher Minister, dass Sie schonungs- nen unter ein sicherheitspolitisches Primat zu stellen, ist
los und offen auch die Probleme und die Rückschritte falsch, Herr Niebel. Deshalb geben Sie es auf!
benennen, mit denen wir es auch in Afghanistan zu tun
haben, und dass Sie Strategien und Konzepte entwickeln Wenn ein Antrag wie dieser fast ein Jahr durch die
und hier im Deutschen Bundestag vorlegen, wie wir Gremien des Deutschen Bundestags unterwegs ist, dann
diese Probleme überwinden können. Das ist Ihre Auf- kann zweierlei passieren:
gabe als zuständiger Minister, Herr Niebel. Und da sind Erste Möglichkeit: Der Antrag setzt Staub an. Oder,
Sie in der Vergangenheit leider vieles, vieles schuldig zweite Möglichkeit: Er kann – quasi unfreiwillig – sehr
geblieben. Wo ist Ihre zukunftsfeste Strategie, Herr deutlich machen, wie lange eine Sache schon im Argen
(B) Niebel? Ich sehe sie nicht. liegt. So wie hier, wo Sie seit einem Jahr versuchen, un- (D)
Zehn Jahre nach Beginn des Einsatzes wissen wir: abhängige Hilfsorganisationen in eine politische und mi-
Viele Hoffnungen, die weite Teile der afghanischen Be- litärische Gesamtstrategie einzubinden. Nur, Herr Niebel:
völkerung mit dem Beginn des Einsatzes verknüpft hat- Das ist gefährlich. Denn die Hilfsorganisationen werden
ten, wurden enttäuscht. Die anfängliche Begeisterung ist auch dann noch auf Jahre und Jahrzehnte in Afghanistan
viel zu oft inzwischen umgeschlagen in Frustration, Ab- arbeiten, wenn sich die Militärs längst zurückgezogen ha-
lehnung, teilweise sogar offene Feindschaft. Woran liegt ben. Aber sie sind dann darauf angewiesen, dass ihre Ar-
das? Was für Fehler haben wir in der Vergangenheit ge- beit in puncto Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit
macht? Wie können wir aus diesen Fehlern für die Zu- nicht vorher diskreditiert wurde.
kunft lernen? Welche Maßnahmen und Projekte haben
Deshalb: Hören Sie auf mit dieser Politik! Sie be-
sich demgegenüber als erfolgreich herausgestellt? Wie
schwert und behindert den Aufbau Afghanistans über
können wir diese Ansätze verstärken und ausbauen?
2014 hinaus, also in einer Zeit, wo Sie keine Verantwor-
Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend, tung mehr tragen.
wenn wir mithelfen wollen, dass die Menschen in Af-
ghanistan wieder Perspektiven für sich und ihre Kinder Harald Leibrecht (FDP): Die Bundesregierung hat
sehen sollen, wenn sie wieder Hoffnung schöpfen sollen, mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen eine Neujus-
wenn sie an ihre Zukunft denken. tierung des deutschen Afghanistan-Engagements vorge-
Deshalb brauchen wir eine unabhängige und fachkun- nommen. Wir haben einen Wechsel hin zu einem stärke-
dige Analyse und Evaluation unseres bisherigen Engage- ren zivilen Wiederaufbau vollzogen und haben uns auch
ments. Das aber verweigern Sie bis zum heutigen Tag. auf internationaler Ebene mit dem Ansatz durchgesetzt,
Das werden Sie auch heute Abend wieder verweigern, dass der Afghanistan-Einsatz nicht rein militärisch zu
wenn Sie unseren Antrag ablehnen, der genau dies ein- gewinnen ist. Unser militärisches Engagement wird nur
fordert. Angesichts der Rückschläge und der Probleme, nachhaltig erfolgreich sein, wenn wir es mit größeren
die wir in Afghanistan haben, ist das unverständlich. Anstrengungen zur Entwicklung des Landes verbinden.
Und ich sage deutlich: Es ist auch politisch verantwor-
Afghanistan ist ein Land, das jahrzehntelang von
tungslos.
Kriegen gebeutelt wurde, in dem staatliche Strukturen
Politisch verantwortungslos ist es auch, Herr Niebel, nur schwach ausgeprägt sind und das durch die Wirren
wenn Sie jetzt immer noch einfordern, die in Afghanistan des Krieges in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen
tätigen Hilfsorganisationen müssten näher an das Militär wurde. Afghanistan belegt im aktuellen Index zur
12126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen, dem Schluss, dass sich Sicherheit und Entwicklung ge- (C)
HDI, den vorletzten Platz von 182 Ländern. Ein Großteil genseitig bedingen.
der Bevölkerung lebt in Armut. Deshalb kann ich Ihnen
nur zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Nichtregierungsorganisationen leisten einen wichti-
SPD, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf aufmerksam ma- gen Beitrag zum Aufbau des Landes. Ihre Arbeit ist da-
chen, dass die Herausforderungen in Afghanistan enorm bei mit großen Risiken behaftet. Die Bundesregierung
sind. fördert deren Tätigkeiten deshalb vorrangig dort, wo der
Schwerpunkt des deutschen Engagements liegt, also im
Deutschland stellt sich seiner Verantwortung für Af- Norden. Dabei geht es nicht um eine Unterordnung zivi-
ghanistan und die internationale Sicherheit. Wir haben ler Kompetenzen unter militärische Prämissen, sondern
die Mittel für das zivile Engagement in Afghanistan auf um eine bessere Zusammenarbeit und Abstimmung von
insgesamt 430 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt und zivilem und militärischem Engagement. Es gibt Organi-
damit im Vergleich zum Jahr 2008 verdoppelt. Wir sollten sationen, die dieses Potenzial erkannt haben, wie zum
die Herausforderungen und Probleme in Afghanistan Beispiel die Stuttgarter Initiative Kinderberg Internatio-
nicht kleinreden, aber wir sollten auch die Fortschritte nal.
nicht ausblenden, die für viele Menschen spürbare Ver-
Die Bundesregierung hat die Unterstützung von Nicht-
besserungen in ihrem Alltag mit sich bringen. Die Kin-
regierungsorganisationen im Jahr 2010 deutlich gestärkt.
dersterblichkeit ist signifikant gesunken, und wir müssen
Mit dem NRO-Fazilitätsfonds wurden im Jahr 2010
uns weiter engagieren, damit sie weiter sinkt. Die Anzahl
10 Millionen Euro für die Förderung von Projekten pri-
der Kinderheiraten (unter 15 Jahre) ist von 11 Prozent auf
vater deutscher Träger zur Verfügung gestellt. Im letzten
3 Prozent zurückgegangen. 7 Millionen Mädchen und
Jahr wurden die bereitgestellten Mittel vollständig abge-
Jungen wurden eingeschult, darunter ein Drittel Mäd-
rufen. Ich denke, dies zeigt, dass wir der Kooperation mit
chen. In den nordafghanischen Provinzen, wo die deut-
Nichtregierungsorganisationen eine hohe Bedeutung zu-
sche Entwicklungszusammenarbeit schwerpunktmäßig
messen. Auch 2011 stellen wir erneut 10 Millionen Euro
tätig ist, haben wir die höchsten Einschulungsraten in
für die NRO-Fazilität zur Verfügung.
ganz Afghanistan. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen
hat sich seit Beginn des internationalen Einsatzes von Um in Afghanistan nachhaltige Erfolge zu bewirken,
rund 175 auf circa 460 US-Dollar erhöht. Um diese Er- müssen alle beteiligten Akteure koordiniert und ziel-
folge nicht zu gefährden, wird die deutsche Entwick- orientiert zusammenarbeiten. Dies gilt für die staatliche
lungszusammenarbeit selbstverständlich auch nach Ab- Entwicklungszusammenarbeit, für die Bundeswehr und
zug der Bundeswehr weiter in Afghanistan aktiv sein. für nichtstaatliche Akteure gleichermaßen. Wenn alle an
einem Strang ziehen, können wir in Afghanistan konkrete
(B) Die Bundesregierung hat ihr Engagement in Afgha- Fortschritte erzielen, die den Menschen vor Ort zugute (D)
nistan spürbar verstärkt, aber sie stellt auch Anforderun- kommen.
gen an die afghanische Regierung, was beispielsweise
die Bekämpfung von Korruption und gute Regierungs-
führung angeht. Der Bundesminister für wirtschaftliche Heike Hänsel (DIE LINKE): Im Parlament und in
Zusammenarbeit und Entwicklung Dirk Niebel hat bei der Öffentlichkeit werden die Demokratiebewegungen
seinem Besuch in Afghanistan vor knapp zwei Wochen in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern
zunächst nur Zusagen über die erste Hälfte der für 2011 mit viel Sympathie begleitet. Kaum jemand aber spricht
im BMZ-Haushalt vorgesehen Mittel in Höhe von über die politische Situation in Afghanistan. Es wird in
240 Millionen Euro gemacht. Die Auszahlung der zwei- der Öffentlichkeit und den Medien übersehen und auch
ten Tranche hat Dirk Niebel an messbare Fortschritte bei gezielt ignoriert, dass es auch in Afghanistan demokrati-
der Regierungsführung geknüpft. Der Bundesentwick- sche und soziale zivilgesellschaftliche Kräfte gibt, die
lungsminister hat die ausdrückliche Unterstützung mei- sich gegen das Karzai-Regime und die NATO-Besatzung
ner Fraktion. Denn wir dürfen im Sinne der hilfebedürf- wenden und dafür auch in immer größerer Zahl auf die
tigen Menschen in Afghanistan und der deutschen Straße gehen. So zum Beispiel Ende Februar, als in der
Steuerzahler Misswirtschaft und Korruption nicht dul- Provinz Kunar durch eine NATO-Bombardierung
den. 63 Menschen getötet wurden, darunter 50 Zivilisten. Sie
sind davon überzeugt, dass diese Befreiung nur von den
Der hier vorliegende Antrag der SPD-Fraktion ist in Afghaninnen und Afghanen selbst kommen kann und
einigen Punkten bereits überholt. So haben wir mit dem nicht durch Bomben. Diese zivilgesellschaftlichen
Provincial Development Fund mittlerweile ein Instru- Kräfte sind keine bezahlten NGOs, sondern größtenteils
ment, das sich dem Thema ländliche Entwicklung wid- ehrenamtliche Organisationen, Frauenrechtsbewegun-
met und gleichzeitig lokale demokratische Entschei- gen, Studentengruppen, Menschenrechtsgruppen und
dungsverfahren fördert. Opfervertreter und -vertreterinnen.
Ein weiterer Grund, weshalb die FDP-Fraktion dem Im Januar dieses Jahres hatte die Fraktion Die Linke
Antrag nicht zustimmen kann, ist, dass er sich grundsätz- zehn Afghaninnen und Afghanen in Berlin zu Gast, um
lich gegen das Konzept der vernetzten Sicherheit aus- auf der Konferenz „Das andere Afghanistan“ Perspekti-
spricht. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ven für eine friedliche und demokratische Entwicklung
unterstützen dieses Konzept, weil die Entwicklungser- zu diskutieren. Sie kritisierten, dass die westlichen Regie-
folge nachweislich dort am größten sind, wo die Sicher- rungen seit 2001 einseitig prowestliche fundamentalisti-
heitslage stabil ist. Die SPD-Fraktion kommt ja selbst zu sche Kräfte in ihrem Land gestärkt haben, die nach mili-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12127

(A) tärischen und geostrategischen Interessen ausgesucht Vermischung zwischen Zivilem und Militärischem bei. (C)
wurden. Bei der Petersberger Konferenz 2001 und der Nach Angaben von NGOs sind zivile Projekte und Schu-
Kabuler Konferenz 2010 waren maßgeblich Kriegsver- len nämlich durch die Nähe des Militärs eher gefährdet
brecher, Warlords und andere Personen eingeladen, die denn geschützt.
Blut an den Händen haben; kritische zivilgesellschaftli-
che Kräfte aber waren nicht beteiligt. Sie erfahren auch Die SPD-Fraktion kommt in ihrem Antrag zu der fa-
keinen Schutz und keine Unterstützung, sondern sind Op- talen Fehleinschätzung, dass der ISAF-Einsatz dazu bei-
fer von Anschlägen, müssen oft im Geheimen agieren trage, in Afghanistan ein sicheres Umfeld für den zivilen
und bleiben bei wichtigen politischen Verhandlungen au- Aufbau und Entwicklung zu schaffen. Das Gegenteil ist
ßen vor. Dies ist ein Skandal! richtig: Der Militäreinsatz muss beendet werden, damit
sich überhaupt erst eine Perspektive für eine friedliche
Deshalb werden wir gemeinsam mit Friedensgruppen und soziale Entwicklung eröffnen kann. Mit dem ISAF-
im Herbst anlässlich der zweiten Petersberger Konferenz Einsatz sind Wiederaufbau, Demokratie und Sicherheit
diese kriegskritischen Stimmen aus Afghanistan sichtbar in weite Ferne gerückt. Wir teilen allerdings die Forde-
machen. rung des SPD-Antrags, die humanitäre Hilfe stärker auf
ländliche Räume auszurichten und nicht nur auf die Re-
Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, Mil- gionen mit militärischer Bedeutung für die NATO-Trup-
liarden von Euro fließen in diesen Krieg. Nach Berech- pen zu konzentrieren. Seit langem fordern wir: Entwick-
nungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lungshilfe muss dort stattfinden, wo Bedarf für die
von 2010 kostet die Fortsetzung des Bundeswehreinsat- Bevölkerung besteht, nicht für die Bundeswehr! Es freut
zes in Afghanistan Deutschland rund 3 Milliarden Euro uns, dass mittlerweile auch die SPD-Fraktion zu dieser
pro Jahr. Insgesamt dürfte dem DIW zufolge die deut- Erkenntnis gekommen ist.
sche Beteiligung am Afghanistan-Krieg etwa 36 Milliar-
den Euro kosten. Die NATO ist ein Unsicherheitsfaktor in Afghanistan.
Der Bombenangriff bei Kunduz im Jahr 2009 hat dies in
Währenddessen ist die humanitäre Lage in Afghanistan aller Deutlichkeit gezeigt. Die Linke fordert deshalb den
gleichbleibend schlecht. Afghanistan liegt auf Platz 181 sofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
und damit auf dem vorletzten Platz des Human Develop- Nur wenn die Waffen schweigen und die afghanischen
ment Index (HDI). Rund 80 Prozent der Frauen und Konfliktparteien in einen politischen Friedens- und Aus-
60 Prozent der Männer sind Analphabeten, weniger als söhnungsprozess eingebunden werden, kann der Wieder-
19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizini- aufbau erfolgreich sein.
scher Versorgung und sauberem Wasser. Laut Weltbank
liegt die Säuglingssterblichkeit bei 199 Kinder pro 1 000 Wir fordern dazu auf, die friedlichen zivilgesell-
(B) Geburten. Sie ist damit 50-mal so hoch wie in Deutsch- schaftlichen Kräfte endlich wahrzunehmen und ihre For- (D)
land. Die Armut wächst, Hunger bedroht mehr als ein derungen zu unterstützen. Die Bundesregierung samt ih-
Drittel der afghanischen Bevölkerung. rer Vorgängerregierungen hat jahrelang zahlreiche
diktatorische Regime im arabischen Raum unterstützt
Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit werden
und militärisch aufgerüstet. Jetzt werden sie aufgrund
durch den Krieg konterkariert. Die Zahl der zivilen Op-
des starken Drucks aus der Bevölkerung nach und nach
fer steigt seit 2006 dramatisch an. Auch die Zahl der
fallengelassen. Doch gleichzeitig geht die Unterstützung
Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen, steigt
für das korrupte Karzai-Regime und zahlreiche krimi-
weiter an. Im Human Development Index heißt es, dass
nelle Kriegsfürsten in Afghanistan weiter. Diese Politik
sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen – das ist
ist in höchstem Masse unglaubwürdig.
jeder zehnte Einwohner – auf der Flucht befinden, oft
ohne ausreichende humanitäre und gesundheitliche Ver- Wer also eine wirkliche Verbesserung der humanitä-
sorgung. Auch ein Bericht der International Crisis Group ren Lage in Afghanistan erreichen will und die Interes-
bemängelt, dass der Krieg den Zugang der afghanischen sen der Bevölkerung ernst nimmt, muss diesen Krieg be-
Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung, Bildung und enden und die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen,
anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt nicht erst 2014 sondern sofort.
hat. Angriffe auf Schulen, zum Beispiel das Abbrennen
oder erzwungene Schließen von Schulen, die Verwen-
dung von Schulen für militärische Zwecke sowie Dro- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie
hungen gegen das Lehrerpersonal und Schülerinnen und können sich vorstellen, wie mich der Angriff auf die UN
Schüler nehmen zu. am vergangenen 1. April getroffen hat. Als ich dort gear-
beitet habe, war es mein schlimmster Alptraum, dass ge-
In ihrem Antrag fordern die Grünen, dass der Aufbau nau das passieren könnte, was jetzt in Mazar-i-Scharif
des afghanischen Bildungssystems unterstützt werden passiert ist. Ich trauere um meine ermordeten Kollegin-
soll und Mittel für Bildungsprojekte verdoppelt werden nen und Kollegen, die zivilen UN-Mitarbeiter und ihre
sollen. tapferen nepalesischen Guards. Mein Beileid gilt ihren
Familien und Freunden, mein Respekt allen Kollegen
Unsere Fraktion lehnt diesen Antrag ab. Der Bil- der UNAMA-Mission, die sich trotz allem weiter in Af-
dungsansatz entspricht eher einer Elitenbildung und ist ghanistan für Menschenrechte und Frieden einsetzen.
damit weit entfernt von dem Grundsatz „Bildung für
alle“. Zudem wird der militärische Schutz von Bildungs- Ich habe in Afghanistan und anderen UN-Missionen
einrichtungen erwogen und trägt so zur gefährlichen viele Reformen begleitet: Polizeiaufbau, Verwaltungs-
12128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) aufbau, Justizreformen. Es gab auch viele Erfolge, aber angemessen finanziert, ist einfach empörend. Sie sind (C)
die Erfolge, die nachhaltig Wirkung erzielt hatten, waren Leuchttürme, die das Elend der deutschen Hochschulför-
alle Bildungserfolge. Das gilt auch in Afghanistan: Fast derung beleuchten. Sie zeigen, was alles möglich wäre,
alles, was die Sowjets in ihren 20 Jahren Einfluss und wenn der politische Wille vorhanden wäre.
zehn Jahren Besetzung errichtet haben, ist zertrümmert.
Aber wenn man heute in Kabul einen Kinderarzt trifft, Jedes Mal, wenn ich in Afghanistan bin, fragt man
dann ist er in aller Regel unter den Sowjets ausgebildet mich, worauf wir eigentlich warten. Nicht nur die
worden. Von den vielen Modernisierungsprojekten der NGOs, die Studentinnen und Studenten, die Lehrenden,
Sowjets ist nur das geblieben. sondern auch das Ministerium wünscht sich mehr Enga-
gement Deutschlands. Wir gelten dort als Vorbild für das
Es ist nicht alles schlecht in Afghanistan. Wir haben akademische System, von uns will man lernen, wie man
immer betont, was gut ist. Wer von den guten Dingen in Universitäten organisiert. Es geht dabei nicht nur um
Afghanistan spricht, der spricht von den Schulen. Das ist Geld. Die Afghanen wollen vor allem Beratung und Ex-
ein Ansatz, der gerade in der Grundbildung gelungen ist, pertise. Warum sträuben wir uns? Seit zehn Jahren wol-
der wichtig ist, der von uns erwartet wird und bei dem len wir in Afghanistan einen Staat, in dem die Menschen
wir Expertise bieten können. Ich kann nicht verstehen, mehr Zeit in Schulen und Universitäten verbringen als in
dass wir diesem Ansatz nicht stärker und konsequenter Kasernen. Dieses Ziel sollte auch darin deutlich werden,
verfolgen. Warum haben wir ein großes schönes wie wir unsere Förderungen gewichten. Der Erfolg der
EU-POL-Headquarter gebaut, aber in der Schule gegen- Afghanistan-Mission hängt nicht so sehr davon ab, ob
über ist seit Jahren das Dach undicht? Wie kann es sein, genug und ausreichend qualifiziertes Personal für Armee
dass zwei von fünf Schülerinnen im Freien unterrichtet und Polizei vorhanden ist. Wichtiger ist, dass die Afgha-
werden müssen? nen Tag für Tag friedlich und gerecht miteinander umge-
hen – auch dann, wenn kein Polizist in der Nähe ist. Bil-
Wie erklären wir, dass wir für die Förderung der af- dung ist hierfür eine entscheidende Voraussetzung.
ghanischen Sekundarschulen von 2002 bis 2009 ebenso
viel Geld ausgegeben haben, wie wir im Monat für den Aus drei Gründen sind wir in Afghanistan aktiv: Wir
Erhalt des Wehrmaterials? Warum lassen wir zu, dass wollen dort Frieden und Demokratie. Wir wollen verhin-
das Goethe-Institut und die Amani-Oberrealschule in dern, dass Terror wächst. Und wir wollen die Beziehun-
Kabul verfallen? In dieser Schule saßen seit 1924 die gen zu unseren Bündnispartnern pflegen. Für alle drei
Kinder der Elite Afghanistans – und nicht nur die wirt- Ziele ist Bildung ein sehr gutes Mittel. Wenn wir da wei-
schaftliche, auch die intellektuelle Elite – auf der Schul- ter zaudern und knausern, bleibt nach 2014, dem Abzug
bank; jetzt verfällt das Gebäude. Andere Staaten reno- unserer Kampftruppen, vom deutschen Engagement in
(B) vieren und vergrößern ihre Bildungsinstitutionen in Afghanistan so wenig wie von den großen Staudamm- (D)
Afghanistan, wir machen nichts. Warum ist das Büro des projekten der 1930er- und 1960er-Jahre – nämlich
Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Kabul nichts.
seit Monaten unbesetzt? Warum wird es jetzt offenbar
ganz geschlossen?
Anlage 5
Warum kürzen wir die wenigen Stipendien- und Aus-
tauschprogramme zwischen deutschen und afghanischen Zu Protokoll gegebene Reden
Universitäten? Warum geben wir 430 Millionen Euro für
zivile Hilfe in Afghanistan aus, aber nur 2,3 Millionen zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes gegen
für die Hochschulförderung? Allein die University of den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz
Massachusetts erhält von den USA 6,8 Millionen Euro (Holzhandels-Sicherungs-Gesetz – HolzSiG) (Ta-
für die Austauschprogramme mit Afghanistan – also das gesordnungspunkt 12)
Dreifache von dem, was wir für die gesamte Universi-
tätskooperation ausgeben. Gerade bei den Universitäten Alois Gerig (CDU/CSU): Die weltweite Zerstörung
ist die deutsche Zurückhaltung unbegreiflich. Dort, an der Wälder nimmt dramatische Ausmaße an: Jährlich ge-
den Universitäten, wird die Bildungs- und Verwaltungs- hen auf unserer Erde rund 13 Millionen Hektar Wald
elite Afghanistans ausgebildet. Von dort kommen die verloren; das entspricht mehr als der gesamten Waldflä-
Menschen, die bald den Staat lenken und die Gesell- che Deutschlands. Durch Waldzerstörungen verschwin-
schaft prägen werden. Doch auch zehn Jahre nach dem den nicht nur wertvolle Lebensräume für Tiere und
Fall der Taliban sind die Universitäten in einem erbärm- Pflanzen; auch die für den Klimaschutz notwenige Koh-
lichen Zustand. Laut dem zuständigem Ministerium sind lenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich abge-
nur 134 der 2 572 Lehrenden promoviert. Warum haben senkt. Waldzerstörungen tragen mit rund 20 Prozent zu
wir denen nicht schon längst Stipendien angeboten? An- den globalen Emissionen von Treibhausgasen bei.
dere Staaten sind da aktiver, der Iran allen voran.
Eine wichtige Ursache für die weltweiten Waldzerstö-
Es gibt einzelne gute deutsche Projekte: zum Beispiel rungen ist der illegale Holzeinschlag insbesondere in den
die Ausbildungsprogramme von Professor Wilhelm Tropen. In Deutschland und anderen Ländern Europas
Löwenstein, die Kooperationen zur Curriculum-Reform ist der illegale Holzeinschlag in der Regel kein ausge-
oder die IT-Projekte von Dr. Peroz. Warum man solche prägtes Problem. Wahr ist aber auch, dass Europa ein
Ansätze nicht vervielfältigt hat, das will ich nicht verste- wichtiger Markt für Holz aus anderen Teilen Welt ist –
hen. Dass man aber selbst diese Erfolgsprojekte nicht auch für Holz aus illegalem Einschlag. Das Johann-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12129

(A) Heinrich-von-Thünen-Institut hat ermittelt, dass 10 bis schen beitragen kann, die im und vom Wald leben. Für (C)
18 Prozent des Holzes, das zwischen der EU und Dritt- Handel, Holzverarbeiter und Endverbraucher in Europa
ländern gehandelt wird, aus illegalem Einschlag stammt. bringt die Einführung der FLEGT-Genehmigung mehr
Für Deutschland wird davon ausgegangen, dass 3 bis Sicherheit, dass Holz aus den Partnerländern legal ge-
6 Prozent aller Holzeinfuhren illegaler Herkunft sind. schlagen wurde.
Damit unsere Nachfrage nach Holz nicht zu Waldzer- Damit möglichst viele Holzeinfuhren in die EU unter
störungen anderswo beiträgt, müssen wir dem Handel die FLEGT-Genehmigung fallen, ist es wünschenswert,
mit illegal geschlagenem Holz einen Riegel vorschieben. dass mit mehr Holzlieferländern Partnerschaftsabkom-
Aufgrund der überragenden Bedeutung der Wälder für men geschlossen werden. Die Partnerschaftsabkommen
die Biodiversität und den Klimaschutz muss der Wald- mit Ghana, Kamerun, Kongo und der Zentralafrikani-
zerstörung Einhalt geboten werden. Die Europäische schen Republik können nur ein Anfang sein. Sicher ist
Union hat sich dieser Aufgabe angenommen: Mit dem nicht zu erwarten, dass mit allen Holzlieferländern Part-
Aktionsplan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und nerschaftsabkommen vereinbart werden können. Aus
Handel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement, Go- diesem Grund ist es äußerst wichtig, die bereits ange-
vernance and Trade – FLEGT, will die EU Holzimporte sprochene EU-Holzhandelsverordnung auch umzuset-
besser kontrollieren und den illegalen Holzeinschlag be- zen. Um den illegalen Holzeinschlag einzudämmen,
kämpfen. schreibt diese Verordnung den Marktteilnehmern in der
Zentrale Bausteine des FLEGT-Aktionsplans sind EU bestimmte Sorgfaltspflichten vor, und zwar unab-
zwei Verordnungen: Im vergangenen Jahr wurde vom hängig vom Herkunftsland des Holzes.
Europäischen Parlament und vom Rat die EU-Holzhan- Neben der Hilfe zum Aufbau einer legalen und nach-
delsverordnung beschlossen, die das Inverkehrbringen haltigen Waldbewirtschaftung bieten die Partnerschafts-
von illegal geschlagenem Holz verbietet. Zudem werden abkommen auch den Vorteil, dass durch die FLEGT-Ge-
den Marktteilnehmern bestimmte Sorgfaltspflichten vor- nehmigung bestimmte Nachweispflichten aus der EU-
geschrieben. Holzhandelsverordnung entfallen. Es ist bereits jetzt er-
Bereits aus dem Jahr 2005 stammt eine weitere Ver- kennbar, dass dies weitere Holzlieferländer motiviert,
ordnung, die Holzeinfuhren aus den Partnerländern der auch Partnerschaftsabkommen mit der EU anzustreben.
EU regelt. Um die letztgenannte Verordnung in Deutsch- Es ist erfreulicherweise damit zu rechnen, dass die EU
land umzusetzen, hat die Bundesregierung das Holzhan- bald mit fünf weiteren Holzlieferländern Partnerschafts-
dels-Sicherungs-Gesetz vorgelegt, das wir heute ab- abkommen abschließen wird.
schließend beraten. Im Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist vorgesehen,
(B)
Mit dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wollen wir dass bei der Einfuhr von Holz aus Partnerländern nach (D)
die erforderlichen Regelungen schaffen, damit deutsche Deutschland die Überprüfung der FLEGT-Genehmigun-
Behörden Holzlieferungen aus den Partnerländern der gen durch das BLE sowie durch die Zollbehörden er-
EU kontrollieren können. Partnerländer sind derzeit folgt. Um einen reibungslosen Datenaustausch zwischen
Ghana, Kamerun, Kongo und die Zentralafrikanische den Behörden zu ermöglichen, ist die Anschaffung eines
Republik. Im Rahmen von freiwilligen Partnerschaftsab- neuen IT-Systems geplant. Die Investitionskosten in
kommen hilft die EU den Partnerländern dabei, dass nur Höhe von 500 000 Euro erscheinen auf den ersten Blick
legal geschlagenes Holz auf den Markt gelangen kann als viel Geld. Wenn man aber bedenkt, dass in absehba-
und die Forstwirtschaft an den Prinzipien der Nachhal- rer Zeit weitere Länder hinzukommen werden und eine
tigkeit ausgerichtet wird. Im Gegenzug können die Part- steigende Anzahl von Holzeinfuhren aus diesen Ländern
nerländer nur noch Holz in die EU einführen, das legal zu überprüfen sein wird, so wird die Verhältnismäßigkeit
geschlagen wurde. Die Legalität wird durch eine soge- der eingesetzten Finanzmittel schnell gegeben sein.
nannte FLEGT-Genehmigung nachgewiesen, die bei der
BLE und Zollbehörden müssen effektiv zusammenar-
Einfuhr in die EU von den zuständigen Behörden der
beiten, um Verstöße gegen das FLEGT-Genehmigungs-
Mitgliedstaaten kontrolliert wird. Das Holzhandels-Si-
system aufzuspüren und illegal geschlagenes Holz vom
cherungs-Gesetz sieht vor, dass die Kontrollen in
Markt zu nehmen. Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz
Deutschland vom Bundesamt für Landwirtschaft und Er-
verleiht dem BLE die dafür erforderlichen Befugnisse: So
nährung, BLE, und von den Zollbehörden durchgeführt
werden. können beispielsweise verdächtige Holzlieferungen si-
chergestellt und untersucht werden. Entsprechen Liefe-
Aus meiner Sicht sind die freiwilligen Partnerschafts- rungen nicht den Anforderungen des FLEGT-Genehmi-
abkommen und die Einführung des FLEGT-Genehmi- gungssystems, so kann die Behörde diese Lieferung
gungssystems der richtige Ansatz: Europa stellt nicht völlig aus dem Verkehr ziehen. Zur Ahndung von Verstö-
einseitige Gebote auf, sondern leistet Hilfestellung, um ßen gegen das FLEGT-Genehmigungssystem sind zudem
vor Ort eine legale und nachhaltige Waldbewirtschaf- Strafen und Bußgelder vorgesehen. Das Holzhandels-Si-
tung aufzubauen. Dies ist eine wichtige Maßnahme ge- cherungs-Gesetz macht deutlich, dass für uns in Deutsch-
gen den Raubbau am Wald. Nur wenn sich eine legale land der Handel mit illegal geschlagenem Holz kein Ka-
und nachhaltige Waldnutzung wirtschaftlich lohnt, be- valiersdelikt ist. Illegaler Holzeinschlag trägt nicht nur
stehen auch Anreize, die Wälder auf Dauer zu erhalten. zur weltweiten Zerstörung der Wälder bei, er verzerrt
Ziel muss es sein, dass die Holzwirtschaft in den Part- auch erheblich den Wettbewerb auf dem Holzmarkt. Holz
nerländern langfristig zur Existenzsicherung der Men- aus illegalem Einschlag muss so gut es geht vom Markt
12130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) genommen werden, damit die Marktteilnehmer, die legal Am Ende soll, vor allem für die Verbraucherinnen und (C)
und nachhaltig erzeugtes Holz anbieten, nicht benachtei- Verbraucher, die Gewissheit stehen: Alle Hölzer und
ligt sind. Holzprodukte aus dem Partnerland sind legalen Ur-
sprungs. Hierzu wird die Fracht mit einer FLEGT-Ge-
Das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz ist ein wichtiger nehmigung versehen. Fehlt diese Genehmigung, ist die
Schritt, um den Handel mit illegal geschlagenem Holz Einfuhr von Holzprodukten aus dem Partnerland verbo-
zu bekämpfen. Weitere Schritte müssen unbedingt fol- ten.
gen. Ich denke besonders an die Umsetzung der EU-
Holzhandelsverordnung. Mit dem Holzhandels-Siche- Als erstes Partnerland hat Ghana Ende 2009 ein Ab-
rungs-Gesetz setzen wir im Internationalen Jahr der kommen mit der EU unterzeichnet. Die Republiken
Wälder ein wichtiges Signal, dass Deutschland entschie- Kongo und Kamerun werden folgen, später auch die
den gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz Zentralafrikanische Republik. Die Ratifizierungen müs-
vorgeht und einen Beitrag zum weltweiten Schutz der sen abgewartet warten. Weitere Verhandlungen sind im
Wälder leistet. Gange. Ich hoffe auf viele belastbare Abschlüsse, beson-
ders mit Malaysia und Indonesien. Im Herkunftsland
Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetz zuzustimmen.
selbst wird ein Rückverfolgungssystem für Holz einge-
richtet. Dieses soll die definierte Legalität gewährleisten.
Petra Crone (SPD): Leider muss ich auch im Inter- Der erste und der wichtigste Kontrollpunkt ist unseres
nationalen Jahr der Wälder meine Rede mit dem Satz be- Erachtens schon die Baumfällung. Die Vertragsparteien
ginnen: Die illegale Abholzung ist in vielen waldreichen verpflichten sich zudem, eventuelle negative Auswir-
Ländern der Welt immer noch gängige Praxis. Der ge- kungen des Abkommens auf die Existenzgrundlagen der
samte Verlust an Wald auf der Erde beläuft sich laut Be- lokalen Gemeinschaften zu verhindern. Es werden bei-
rechnungen der Welternährungsorganisation FAO auf spielsweise Einkommensalternativen für Holzfäller ge-
jährlich etwa 13 Millionen Hektar. Wir verlieren hier schaffen.
überwiegend Flächen des tropischen Regenwaldes, und
wir verlieren Herzstücke der Biodiversität. Ein Verlust Es darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass
von 13 Millionen Kubikmeter hieße: Wir würden kom- der Erfolg der Partnerschaftsabkommen im Wesent-
plett unsere deutsche Waldfläche innerhalb eines Jahres lichen von der politischen Situation in den Ländern ab-
verlieren. hängen wird. Bestehen stabile rechtsstaatliche Struktu-
ren und eine Verwaltung, die die Einhaltung der
Illegaler Holzeinschlag ist ein Problem, das in seinen Legalität sichert? Oder besteht erhöhtes Risiko, dass
Ausmaßen nicht verheerend genug beschrieben werden eine illegale Regelung durch einen Federstrich legal
kann – vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zu den wird? Die Unterstützung von guter Regierungsführung (D)
(B) nachteiligen sozialen Folgen für die dortige Bevölke-
auch im Rahmen der FLEGT-Maßnahmen bleibt daher
rung. Waldrodung ist zudem für rund 20 Prozent der von zentraler Bedeutung.
Treibhausgasemissionen verantwortlich. Was nach dem
globalen Raub an der Natur zurückbleibt, ist ein zerstör- Wie gestaltet sich nun die Kontrolle in Deutschland?
ter Wald. Er ist kein Lebensraum mehr – weder für Men- Das wird durch das vorliegende Gesetz geregelt. Vorab
schen noch für Tiere und Pflanzen. will ich anmerken: Ein Gesetz kann immer nur so gut
sein, wie dessen Umsetzung gelingt. Als zuständige Be-
Ein starker Motor für die Zerstörung der Wälder ist hörde ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er-
die internationale und die europäische Nachfrage nach nährung vorgesehen. Sie wird alle FLEGT-Zertifikate
billigem Holz. Die Einfuhr illegalen Holzes nach überprüfen. Bei Zweifeln am FLEGT-Genehmigungs-
Deutschland liegt schätzungsweise bei 3 bis 6 Prozent. schein dürfen Proben auf Kosten des Importeurs durch-
Würden wir uns nur die Tropenholzimporte anschauen, geführt werden. Zur Untersuchung des Holzes müssen
läge der Anteil wohl um einiges höher. Es ist fast un- unserer Auffassung nach neben dem genetischen Finger-
möglich, belastbare Zahlen über den Raubholzhandel zu abdruck-Verfahren alle wissenschaftlich anerkannten
bekommen. Der Anteil an illegalem oder verdächtigem Methoden angewendet werden, vor allem die Stabile-
Holz wird bei Lieferungen aus Afrika oder Südostasien Isotopen-Analytik. Jeder Ort der Welt besitzt durch die
auf fast 50 Prozent geschätzt. Eigenheiten von Geografie und Klima ein charakteristi-
Es herrscht also dringendster Handlungsbedarf. Im sches Isotopenmuster. Dank dieses einmaligen Musters
Jahr 2003 wurde auf europäischer Ebene der Aktions- kann überprüft werden, ob eine behauptete Herkunftsan-
plan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel gabe auch stimmt. Was sich schon im Lebensmittelbe-
im Forstsektor“, kurz FLEGT, ins Leben gerufen. Ein reich bewährt hat, sollte ebenso für Holz Anwendung
Eckstein dieser Politik sind die freiwilligen Partner- finden.
schaftsabkommen zwischen der EU und holzausführen-
Darüber hinaus erscheinen der SPD-Bundestagsfrak-
den Ländern. Sie bezwecken eine aktive Einbeziehung
tion 16 Stichproben beim Zoll, also bei nur 1 Prozent der
waldreicher Länder, in denen sich der illegale Holzein-
Lieferungen, zu gering. Wir nehmen aber die Bundesre-
schlag jeden Tag vollzieht.
gierung beim Wort: Bei begründetem Verdacht werde die
Das uns vorliegende Holzhandels-Sicherungs-Gesetz Anzahl der Stichproben ausgeweitet. Der Zoll wird laut
setzt nun die europäische Verordnung zur Einrichtung ei- Auskunft des BMELV in der letzten Ausschusssitzung
nes FLEGT-Genehmigungssystems für Holzeinfuhren in Lieferungen aus kritischen Regionen vermehrt unter die
die Europäische Gemeinschaft in nationales Recht um. Lupe nehmen. Die gelieferten Daten und Erkenntnisse
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12131

(A) sollten in der Folge einem europaweiten Datenaustausch halb haben wir eine besondere Verantwortung, dass von (C)
zugeführt werden. Er muss gegenseitig und unverzüglich uns genutztes Holz nur aus legaler und selbstverständ-
stattfinden können. Der Handel mit illegalem Holz kennt lich auch nachhaltiger Bewirtschaftung von Wäldern
schließlich auch keine Grenzen. Die Gefahr der Re-Im- stammt. Wir sind uns einig, dass der Handel mit illegal
porte über Transitländer in unsere Märkte bleibt weiterhin geschlagenem Holz und dessen Import in die EU unter-
bestehen. Ein Manko werden auch die im FLEGT-Ab- bunden werden muss. Die FDP unterstützt ausdrücklich
kommen nicht erfassten Holzproduktgruppen bleiben: den Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag und den
Möbel, Papier, Holzkohle und Brennholz werden nicht Handel mit solchem Holz.
berücksichtigt.
Ein wichtiger Baustein ist die im Jahr 2005 auf
Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem vorliegenden EU-Ebene beschlossene FLEGT-Verordnung (EG) 2173/
Gesetzentwurf dennoch zustimmen. Der weitaus umfang- 2005; dabei steht FLEGT für Forest Law Enforcement,
reichere Part erwartet uns bei der erforderlichen nationa- Government and Trade. Ziel der europäischen Initiative
len Umsetzung des europäischen Holzhandelsgesetzes ist es, mithilfe von freiwilligen Partnerschaftsabkommen,
Mitte bis Ende 2012. Mithilfe des FLEGT-Genehmi- von Voluntary Partnership Agreements oder VPAs, die
gungssystems für Holzeinfuhren in die Europäische Ge- wichtigen Herkunftsländer von Tropenholz zu einer bes-
meinschaft kann die legale Nutzung der Wälder im seren Überwachung und nachhaltigen Waldwirtschaft zu
FLEGT-Partnerland zumindest garantiert werden. Ich be- führen. Dazu müssen Einfuhrbeschränkungen in Kraft
tone: Es geht um die Legalität. Zukünftig wird es aber da- treten, sodass nur noch Hölzer mit gültiger FLEGT-Ge-
rauf ankommen, dass wir der Legalität die Nachhaltigkeit nehmigung in die EU importiert werden dürfen. Wir un-
an die Seite stellen. Gerade in der beginnenden Garten- terstützen die Bemühungen der Kommission, mit einer
möbelsaison möchte ich auf die legale, ökologisch und möglichst großen Zahl von Herkunftsländern Partner-
sozial verantwortliche Waldbewirtschaftung verweisen, schaftsabkommen auszuhandeln. Allerdings müssen wir
die beispielsweise das FSC-Siegel garantiert. Ohne nach- feststellen, dass derzeit VPA lediglich mit Kamerun, der
haltige Waldnutzung wird es nicht gehen – das gilt im Üb- Demokratischen Republik Kongo, Ghana und Kongo-
rigen auch für unseren deutschen Wald. Brazzaville abgeschlossen wurden. Somit ist bisher ledig-
lich ein kleiner Teil der Holzimporte erfasst. Es ist aus
unserer Sicht entscheidend, vorrangig die größten Expor-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir wollen in- teure von Tropenholz wie Indonesien in das FLEGT-Sys-
takte Primärwälder erhalten. Naturnahe Wälder sind die tem einzubinden. Nur so können die am stärksten bedroh-
wichtigsten und größten Schatzkammern der Artenviel- ten Wälder auch effektiv geschützt werden.
falt. Sie sorgen für eine bessere Luftqualität und produ-
Die Regelungen im Holzhandels-Sicherungs-Gesetz
(B) zieren Sauerstoff. Für die Menschen vor Ort stellen in- (D)
takte Urwälder die Lebensgrundlage dar, sie schützen den bedeuten für die betroffenen Holzhandelsunternehmen
Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle die Erhöhung ihres wirtschaftlichen Risikos. Die Verant-
nachwachsende Rohstoffe. Sie sind zudem entscheidend wortung für fehlerhaft ausgestellte Zertifikate liegt allein
an der Speicherung von atmosphärischem Kohlenstoffdi- bei den Importeuren. Zudem erzeugen die FLEGT-Ver-
oxid beteiligt. Laut IPCC, dem Intergovernmental Panel ordnung, die Ende 2010 verabschiedete EU-Holzhan-
on Climate Change, stammen bis zu 30 Prozent der zu- delsverordnung (EU) 995/2010 und das vorliegende Ge-
sätzlichen Belastungen der Atmosphäre mit Kohlenstoff- setz einen deutlichen bürokratischen Mehraufwand. Dies
dioxid aus der Zerstörung von Wäldern. betrifft die Wirtschaft wie die zuständige Bundesanstalt
für Landwirtschaft und Ernährung, die BLE, gleicherma-
Nach Angaben der FAO gingen in den letzten zehn ßen. Auch wenn die genannten Maßnahmen zur Rettung
Jahren jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälder der Tropenwälder ein sinnvoller Beitrag sein werden,
verloren. Das ist mehr als die gesamte Waldfläche sollte angesichts des bisher sehr geringen Liefervolu-
Deutschlands. Insbesondere die Rodung von Wäldern mens aus Partnerländern insofern mit Bedacht vorgegan-
für den Anbau von Soja, die Weidehaltung und die An- gen werden. Allein die Investitionen in ein Datenaus-
lage von Palmölplantagen, aber auch der illegale Holz- tauschsystem zwischen der BLE und den Zollbehörden
einschlag bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der soll laut Begründung des Gesetzes etwa eine halbe Mil-
Raubbau ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südost- lion Euro kosten. Um diese erheblichen Investitionen zu
asiens und Südamerikas erheblich und die Satellitenbil- rechtfertigen, müssen zügig mit weiteren Ländern VPAs
der machen es deutlich. An diesen Verlusten hat der ille- abgeschlossen werden. Es muss kritisch die Höhe der In-
gale Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. Die Zahlen vestitionen überprüft werden.
aus dem „Global Forest Resources Assessment 2010“
der FAO zeigen eindeutig: Außerhalb Europas wird nur Auf nationaler Ebene sind die zuständigen Behörden
ein Bruchteil der Wälder nach den Kriterien der Nach- dazu angehalten, für eine zügige Umsetzung des Holz-
haltigkeit bewirtschaftet. handels-Sicherungs-Gesetzes zu sorgen. Die Kontrollen
durch die Zollbehörden müssen risikoorientiert und in
Deutschland gehört wie China, die USA und Japan zu Abstimmung mit den betroffenen Wirtschaftsbereichen
den großen Importländern von Holz und Holzprodukten. erfolgen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Initiativen
Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft
Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holz- und Verbraucherschutz, schnellere, zuverlässigere und
handels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres praktikablere Methoden zur Kontrolle zu entwickeln. Aus
Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Des- liberaler Sicht können neue wissenschaftliche Methoden
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(A) helfen, Verdachtsfälle eindeutig aufzuklären und die portländern. Trotzdem muss natürlich auch dieses Holz (C)
Kontrollen wesentlich zu vereinfachen und zu beschleu- kontrolliert werden.
nigen. Beispiele sind das genetische Fingerprinting, das
am Institut für Forstgenetik des von-Thünen-Institutes in Was bringt das Gesetz? Erstens. Verbraucherinnen
Großhansdorf entwickelt wird, oder die Isotopenanalyse. und Verbraucher können ihren Beitrag gegen den Raub-
Angesichts der erschwerten Beweisführung bei Ver- bau an Wäldern leisten. Dazu ein Beispiel: Ein deutscher
dachtsfällen und angesichts des wirtschaftlichen Risikos Bauhandel hat Gartenmöbel bei einem Möbelhersteller
für die Holzimporteure, die oft dem Mittelstand angehö- bestellt. Der baut diese aus Holzimporten aus Ghana.
ren, sind wir auf moderne und effiziente Kontrollmetho- Bisher konnte man nicht sicher sein, dass der Stuhl aus
den angewiesen. legalem Holz gebaut wurde. Jetzt erhöht sich die Chance
der Legalität, denn Baumärkte können und werden da-
Die FDP-Fraktion unterstützt die Bemühungen der rauf achten, nur noch Gartenmöbel von einem Hersteller
Bundesregierung beim Kampf gegen den illegalen Holz- zu kaufen, der keine krummen Geschäfte macht. Wer
einschlag, und wir freuen uns, dass im Ausschuss für Er- will schon Ärger mit dem Zoll – und damit die Kunden
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz alle verschrecken? Der Hersteller muss die entsprechenden
Fraktionen für den Gesetzentwurf gestimmt haben. Wir Zertifikate des Partnerlandes besitzen. Stammt das Holz
stimmen dem Holzhandels-Sicherungs-Gesetz im Bun- aus einer illegalen Quelle – wurde also zum Beispiel in ei-
destag zu und setzen uns ausdrücklich dafür ein, weitere nem Naturschutzgebiet ohne Genehmigung geschlagen –,
Länder in das FLEGT-System mit einzubeziehen. dann wird es aus dem Verkehr gezogen. Es droht eine
saftige Strafe: ein Jahr Gefängnis oder 50 000 Euro.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Illegaler Zweitens. Durch die Nachfrage nach legalem Holz
Holzeinschlag bedroht weltweit die Wälder. „Bei der und durch die Kampfansage an illegales Holz wird die
Ernte, Transport, Einkauf oder Verkauf des Holzes wird Biodiversität geschützt. Denn die forstlich nicht oder
gegen nationale oder internationale Gesetze verstoßen“, nicht mehr genutzten Waldbereiche dieser Erde sind für
schreibt der WWF. Das ist inakzeptabel. Auch bis zu Tiere und Pflanzen von großer Bedeutung. Sie stellen ei-
6 Prozent der Holzeinfuhren nach Deutschland sind ille- nen Rückzugsraum für bedrohte Arten dar, sie geben
gal. Diese Zahl bezieht sich auf alle Hölzer, also auch Raum für natürliche Entwicklungsprozesse und sind das
EU-Holz. Bezogen auf Holz aus Drittländern dürfte der genetische Sparkonto für die Zukunft. Denn nur wenn
Prozentsatz illegalen Holzes noch deutlich höher sein. genetische Vielfalt vorhanden ist, können sich Arten an
Beispielsweise sollen 80 Prozent des Amazonasholzes veränderte Umweltbedingungen anpassen. Darum tritt
aus Raubbau stammen. Das ist ein lukrativer krimineller die Linke für 5 Prozent ungenutzte Waldflächen ein, üb-
(B) Markt, der dringend geschlossen werden muss. rigens nicht nur international, sondern auch in Deutsch- (D)
land. Drittens. Die EU gibt ein deutliches Zeichen an die
Zuletzt debattierte der Bundestag im Frühjahr 2010 Partnerländer: Sie definiert, was legale Forstwirtschaft
über das Thema, als eine EU-Verordnung über Holz und ist, und erarbeitet ein Kontrollsystem, damit die kom-
Holzerzeugnisse erarbeitet wurde. Bei allen Meinungs- plette Kette vom Baumarkt bis zum Herkunftsland zu-
verschiedenheiten in Detailfragen wurde dennoch klar: rückverfolgt werden kann.
Europa kämpft gemeinsam gegen Holz aus Raubbau.
Bereits 2003 verabschiedete die EU einen FLEGT-Ak- Mit all dem geht der vorliegende Gesetzentwurf in die
tionsplan. Mit diesem soll der illegale Holzhandel ver- richtige Richtung. Neben Licht gibt es allerdings auch
hindert und freiwillige Partnerschaftsabkommen mit Schatten zu erwähnen. Zum Beispiel soll nur 1 Prozent
Drittstaaten gestärkt werden, die sich an überprüfbare der Lieferungen stichprobenartig kontrolliert werden.
Forstgesetze halten. Die Linke begrüßt das ausdrücklich. Das betrifft nach Kalkulation des BMELV in den kom-
Wir treten für eine nachhaltige, also soziale, ökologische menden Jahren nur circa 16 jährliche Stichproben. Das
und wirtschaftliche, Forstwirtschaft ein. Dazu gehört, ist viel zu wenig. Die Kontrollen sollten sich an den
dass Holzabbau selbstverständlich nur in Gebieten erfol- Risiken der Produktkategorien und Herkünfte bemessen.
gen darf, die für Holznutzung ausgewiesen sind. Natio- Sobald ein begründeter Verdacht besteht, muss einge-
nalparke und andere Juwelen der Artenvielfalt müssen griffen und kontrolliert werden. Insofern ist der Zoll in
tabu sein. der Pflicht, begründeten kritischen Hinweisen auf mögli-
che illegale Holzlieferungen nachzugehen.
Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf
dient zunächst nur der Einrichtung eines nationalen Ge- Bedauerlich ist auch, dass nicht gleichzeitig die Holz-
nehmigungssystems für Holzeinfuhren aus Ländern, mit handels-Verordnung aus dem Jahr 2010 in nationales
denen ein Partnerschaftsabkommen geschlossen wurde. Recht übernommen wird. Anscheinend soll noch auf die
Damit wird eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2005 in Durchführungsbestimmungen gewartet werden, sodass
deutsches Recht umgesetzt. Es geht dabei um Holz aus wir das Holzhandels-Sicherungs-Gesetz wohl erst 2013
Partnerländern wie zum Beispiel Ghana, Kamerun oder wieder im Bundestag debattieren werden. Man kann nur
der Republik Kongo. Diese Länder haben sich gegen- hoffen, dass dann wenigstens das Ergebnis den langen
über der EU verpflichtet, dem illegalen Raubbau den Beratungszeitraum rechtfertigt. Denn eigentlich dürfen
Kampf anzusagen. Sie haben eigene Forstgesetze erlas- wir keine Zeit mehr verlieren im konsequenten Kampf
sen und ein Prüf- und Kontrollsystem entwickelt. Damit gegen den Raubbau am Wald. Dabei dürfen wir aber
wird das Holz aus diesen Ländern schon deutlich stärker durchaus auch vor der eigenen Tür kehren, denn die
unter die Lupe genommen als das Holz aus anderen Im- Waldstrategie 2020 der Bundesregierung lässt ja leider
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12133

(A) weiter auf sich warten. Trotzdem stimmt die Linke dem Deshalb werden wir Grüne auf einen schnellen Ab- (C)
heute vorliegenden Gesetzentwurf zu. schluss weiterer FLEGT-Partnerschaftsabkommen drän-
gen und natürlich auf eine rechtzeitige und zügige Umset-
zung der FLEGT-Holzhandelsverordnung in nationales
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bünd- Recht, damit illegales Holz auf dem europäischen Holz-
nis 90/Die Grünen begrüßen, dass die Bundesregierung es markt keine Chance mehr hat. Das wäre dann ein weiterer
im Internationalen Jahr der Wälder endlich geschafft hat, Erfolg für den Schutz der Wälder dieser Welt.
diesen Gesetzentwurf vorzulegen, und stimmen ihm zu.
Denn er ist die überfällige Umsetzung der FLEGT-Verord-
nung, die die EU zur Bekämpfung des Handels mit illega-
Anlage 6
lem Holz bereits im Dezember 2005 beschlossen hat –
übrigens seinerzeit noch unter Mitwirkung des Interims- Zu Protokoll gegebene Reden
Agrarministers Jürgen Trittin.
zur Beratung des Antrags: Hochschulzulassung
Man fragt sich, warum sich die Bundesregierung mit bundesgesetzlich regeln – Sozialen Zugang und
der Umsetzung so viel Zeit gelassen hat, wenn es vor al- Durchlässigkeit in Masterstudiengängen si-
lem darum ging, die für die Kontrolle von FLEGT-Holz- chern (Tagesordnungspunkt 15)
importen zuständigen Behörden zu benennen. Die Um-
setzung hätte schon längst erfolgen können. Andererseits Monika Grütters (CDU/CSU): Nun reden wir heute
sind die Folgen dieser Trödelei begrenzt, weil es bis vor zum wiederholten Male über das neue Hochschulzulas-
kurzem gar keine Partnerschaftsabkommen auf Grund- sungsverfahren, das wir alle deshalb einführen wollten,
lage der FLEGT-Verordnung gegeben hat. Dementspre- weil wir den vielen Studierenden in Deutschland ein bes-
chend waren auch keine FLEGT-Importe zu kontrollie- seres Verfahren bieten wollen, als es derzeit vorhanden
ren. ist.
Nun darf man sich jedoch trotz des vielversprechen- Wir wollten das europaweit modernste Hochschulzu-
den Namens keine Illusionen über die Reichweite des lassungsverfahren für Deutschland an den Start bringen.
Gesetzes hingeben: Das „Gesetz gegen den Handel mit Aus Verantwortung für die Studierenden hat sich der
illegal eingeschlagenem Holz“ wird vorerst nur für Im- Bund deshalb zu einer einmaligen Investition von sage
porte aus Ländern gelten, mit denen die EU tatsächlich und schreibe 15 Millionen Euro bereit erklärt, mit der
ein FLEGT-Partnerschaftsabkommen abgeschlossen hat. eine neue Software entwickelt worden ist, die es den
Das sind laut gestriger Auskunft der Bundesregierung Studierenden ermöglicht, bis zu neun Studienwünsche
(B) erst vier Länder: Ghana, Kongo-Brazzaville, Kamerun an den verschiedenen Hochschulen gleichzeitig zu plat- (D)
und demnächst auch die Zentralafrikanische Republik. zieren. Im Idealfall hätte man also für die Studierenden
wirklich die Lebenssituation entscheidend verbessert:
Nach Lage der Dinge wird es noch Jahre dauern, bis Nicht mehr zwischen zwei nacheinander zu entscheiden-
alle wichtigen Holzhandelsländer, in denen es illegalen den Studienwünschen hätten sie ihre Zukunft planen
Holzeinschlag gibt, ein Abkommen unterschrieben ha- können, sondern gleich neun Varianten könnten ihnen
ben werden. Bisher wird nur mit einem Teil der fragli- relativ kurzfristig die Entscheidung über ihren Studien-
chen Länder verhandelt, immerhin aber mittlerweile mit ort – und das heißt: über ihren weiteren Lebensweg – er-
den großen Urwaldländern Indonesien und Brasilien. leichtern.
Die Zeit drängt, denn jedes Jahr gehen 13 Millionen
Hektar Urwald verloren. Wir alle gemeinsam, quer über alle Parteigrenzen hin-
weg, sind enttäuscht, frustriert, aber auch verärgert da-
Daran erkennt man, wie falsch es von den Gegnern ei- rüber, dass allen Aussagen der Verantwortlichen zum
nes Importverbotes für illegales Holz all die Jahre lang Trotz jetzt, Mitte April 2011, erkannt werden muss, dass
gewesen ist, zu sagen: Wir brauchen kein Importverbot der ehrgeizige Zeitplan zum Start dieses so wichtigen
für illegales Holz, weil wir FLEGT haben. – Wir haben Projektes vom Wintersemester 2011/12 auf zunächst un-
uns hier im Bundestag jahrelang darüber gestritten, ob es bestimmte Zeit verschoben werden muss. Es ist nicht
möglich ist, ein nationales Importverbot für illegales nachvollziehbar, dass die verantwortlichen Projektent-
Holz zu erlassen. Und wir haben uns darüber gestritten, wickler, Vertreter der Länder und der Hochschulen, uns
ob die Bundesregierung ein EU-weites Importverbot für noch Mitte März im Ausschuss einen pünktlichen Start
illegales Holz fordern sollte. Diese unsere Forderungen des Zulassungsverfahrens in Aussicht gestellt haben und
haben Union und SPD in der letzten Legislaturperiode jetzt, gerade einmal drei Wochen später, zugeben, dass
hier im Bundestag allesamt abgelehnt. die großen Probleme bei der Softwareumstellung offen-
bar kurzfristig überhaupt nicht in den Griff zu bekom-
Nun hat die EU auch ohne Druck durch die Bundesre- men sind.
gierung mit der FLEGT-Holzhandelsverordnung vom
20. Oktober 2010 ein faktisches Verbot für illegal einge- Wir alle fragen uns und natürlich auch diejenigen, die
schlagenes Holz beschlossen. Ein Verbot, das für alle darüber Auskunft hätten geben können, wie eine solche
Länder gilt. Auf dieses EU-weite Importverbot für ille- Fehleinschätzung zustande kommen konnte. Aber mit
gales Holz haben wir Bündnisgrüne jahrelang gedrängt. der Fragestellung ist ja jetzt nichts erreicht. Wir sind ver-
Der Wermutstropfen ist, dass es erst im März 2013 in antwortlich dafür, dass sich die Situation der Hochschu-
Kraft tritt. len und natürlich vor allem der Studierenden in absehba-
12134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) rer Zeit verbessert wird. Nach wie vor ist es die Ich darf an dieser Stelle sicher auch noch einmal daran (C)
Überzeugung der CDU, dass ein zentrales Zulassungs- erinnern, dass das Dialogorientierte Serviceverfahren
verfahren, das den Studierenden viele Wahlmöglichkei- auch von der SPD befürwortet worden ist, mit der wir
ten anbietet, die beste Lösung ist – besser jedenfalls als gemeinsam die Anschubfinanzierung in der vergangenen
das bisherige Verfahren, in dem dezentral alle Hoch- Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben.
schulen und Länder unterschiedliche Wege gehen. Das
Gebot der Stunde ist deshalb tatsächlich ein zentrales Nun ist es angesichts der derzeitigen Situation letzt-
Verfahren, so wie es jetzt geplant ist. Wir sind auch zu- lich natürlich richtig, die Einführung zu verschieben,
versichtlich, dass die Software zukünftig sehr attraktiv weil auch insofern für alle gilt: Sicherheit geht vor
sein wird. Deshalb ist es jetzt zuallererst nötig, die be- Schnelligkeit. Wir hatten ja schon in der Anhörung her-
rühmte „Schnittstellenproblematik“ mit der Vielzahl ver- aushören können, dass die Stiftung schweren Herzens
schiedenartiger Zulassungssysteme zu lösen. diesen Weg im Zweifelsfall gehen würde, weil die Be-
denken in Bezug auf die berühmten Schnittstellen zwi-
Wir müssen mit allem Nachdruck der Gefahr begeg- schen der neuen Software und den verschiedenen älteren
nen, dass jetzt einige ohnehin zögerliche Hochschulen Systemen schon lange vorhanden waren. Wir vertrauen
sich aus dem künftigen gemeinsamen Verfahren wieder auch weiter auf die hohe Professionalität der ausgewie-
abmelden oder gar nicht erst mitmachen wollen. Was die senen Experten vom Fraunhofer-Institut für Rechnerar-
Situation aber sicher nicht verbessern würde, wäre der chitektur und Softwaretechnik und auch darauf, dass sie
im Antrag der Linken skizzierte Weg eines Bundesgeset- diejenigen sind, die im Kontakt mit den Softwareverant-
zes, so wie es auch der ehemalige Präsident der Hoch- wortlichen an den einzelnen Hochschulen künftig diese
schulrektorenkonferenz Landfried in seiner gewohnt Schnittstellenprobleme überwinden können.
markigen Art in der Presse vorgeschlagen hat.
Eine Bundesgesetzgebung, wie der Antrag der Linken
Wir setzen nach wie vor auf die Autonomie der Hoch- sie vorschlägt, hätte den Prozess der Softwareentwick-
schulen. Das ist ein sehr hohes Gut in der Wissenschaft. lung sicher nicht beschleunigen können. Und jetzt, wie
Nicht der Bund, sondern vielmehr das Hochschulinfor- Landfried es vorschlägt, innerhalb von sechs Wochen
mationssystem, HIS, und die Stiftung für Hochschulzu- mal schnell ein Bundesgesetz für einheitliche Zulas-
lassung sind jetzt in der Pflicht, eine schonungslose Feh- sungsregeln zu erlassen, ist völlig naiv. Da kann man
leranalyse vorzunehmen, ihren selbst so genannten sich über einen Profi wie Landfried, der die Hochschul-
„Aktionsplan“ zu konkretisieren und vor allem einen se- landschaft aus seiner Amtszeit noch kennt, nur wundern.
riösen Zeitplan dafür vorzulegen. Das sind sie nicht nur Denn nur durch eine bundesgesetzliche Zuständigkeit
dem Bund als Hauptgeldgeber für die neue Software würden Schnittstellen auch nicht kompatibler.
(B) schuldig, sondern vielmehr den Hochschulen und noch (D)
mehr den Studierenden. Was ist die Konsequenz aus der derzeitigen Situation?
Zunächst einmal ist es ja schon bizarr, dass wir heute alle
In der Bewertung des gesamten Vorgangs sind wir uns
gemeinsam hier diese Debatte führen müssen – hatten
sicher fraktionsübergreifend einig. Fürs Erste haben sich
wir doch vor drei Wochen den Eindruck, Zeugen eines
die Projektentwickler mit ihren kurzfristig gegebenen
zufriedenstellend funktionierenden künftigen Zulas-
Zusagen für einen Start zum Wintersemester 2011 und
sungssystems werden zu können. Jetzt gilt: Wir müssen
ihrem jetzigen Eingeständnis, dass das auf absehbare
uns als Parlament offensichtlich noch häufiger und eng-
Zeit verschoben wird, blamiert. Die CDU bleibt jedoch
maschiger von den Verantwortlichen in den Hochschu-
bei ihrer Überzeugung: Das Dialogorientierte Service-
len, in den Ländern und bei der Stiftung für Hochschul-
verfahren zu entwickeln, war und ist noch immer richtig.
zulassung wie auch bei HIS darüber informieren lassen,
Es bietet gegenüber der derzeitigen Situation Vorteile für
wie der tatsächliche Stand des Projektes ist. Denn das
alle Beteiligten – für Studienanfänger wie für die Hoch-
sind wir alleine als Geldgeber – 15 Millionen Euro – den
schulen. Erstens bietet es die Möglichkeit, ein zentrales
Studierenden und den Hochschulen als potenziellen
Vergabeverfahren zu organisieren, ohne die Hochschu-
Zielgruppen und Nutznießern des Verfahrens schuldig.
len ihrer Autonomie zu berauben. Darüber hinaus be-
Außerdem sollten wir bei der Betreuung der nächsten
schleunigt es die Studienplatzvergabe und räumt den
Schritte beachten, dass es auch um die neuerdings aufge-
Studierenden mehr Möglichkeiten bei der Wahl ihres
worfenen Fragen des Datenschutzes geht, dass auch
Studienortes ein. Zweitens kann das neue Verfahren die
Lehramtsstudiengänge künftig in diesem Verfahren er-
Studienplatzvergabe schneller, effizienter und transpa-
fasst werden und dass die Hochschulen in Deutschland
renter organisieren, wenn es denn einmal funktioniert.
möglichst flächendeckend teilnehmen und nicht einige
Deshalb halten wir es nach wie vor für richtig, dass wir
Hochschulen jetzt die Chance nutzen, sich langfristig der
als Parlament an dieser Stelle – trotz aller derzeitigen
Teilnahme zu entziehen. Auch müssen wir darauf ach-
Probleme – auch noch einmal unsere grundsätzliche Un-
ten, dass die Länder ihren Folgefinanzierungspflichten
terstützung für dieses Projekt dokumentieren.
nachkommen. Die 15 Millionen sind ja jetzt nur für die
Der unmittelbar ersichtliche Nutzen eines solch ver- Softwareentwicklung verausgabt worden, die Länder
besserten Verfahrens für alle daran Beteiligten war und sind also künftig in der Finanzierungspflicht. Es war
bleibt ja auch der Grund, der den Bund zu einer An- ausgerechnet worden, dass bei ungefähr 20 Euro pro
schubfinanzierung von 15 Millionen Euro veranlasst Studienplatz im Rahmen dieses Verfahrens für jedes
hatte, obwohl diese Aufgabe – wie alle anderen auch – Bundesland Kosten in Höhe von 80 000 Euro bis
eigentlich in die Zuständigkeit der Länder gefallen wäre. 300 000 Euro entstehen werden – eine Summe also, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12135

(A) meines Erachtens sehr wohl von den Ländern im Inte- tieren. Lobenswert ist, dass auch die Linken erkennen, (C)
resse ihrer Studierenden erbracht werden kann. Passen dass ein funktionierendes Verfahren zur Hochschulzulas-
wir also auf, dass jetzt hier nicht neue Fragezeichen an sung notwendig ist und dass die Stiftung für Hochschul-
das Gesamtprojekt gemacht werden. zulassung das richtige Instrument ist.
Zum Antrag der Linken abschließend noch ein paar Bereits in der gestrigen Ausschusssitzung zeigte sich
Worte: Es ist natürlich ihr gutes Recht und der klassische über die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit dahin ge-
Trick, anhand eines konkreten Vorgangs ideologische hend, dass das dialogorientierte Serviceverfahren ein
Grundsatzfragen aufzuwerfen. Auch ein Zulassungsver- richtiger und wichtiger Schritt ist, um die Vergabe von
fahren wird generelle bildungspolitische Sachverhalte Studienplätzen transparenter zu machen und um es an
nicht umfassend lösen können. Dass die Schere zwi- die Bedürfnisse der Studierenden, aber auch an die der
schen bildungsfernen und bildungsnahen Schichten sich Hochschulen anzupassen. Darüber hinaus sind wir uns
vergrößert, ist schlicht falsch: Sie wird substanziell klei- einig, dass wir jetzt in engem Dialog mit den Verant-
ner; immer mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten wortlichen eine Fehleranalyse vornehmen müssen, bei
studieren. Das wissen auch Sie von den Linken; ich der aufgeklärt wird, wo noch technische Probleme beste-
weise nur auf die HIS-Studie „Studienberechtigte 2008“ hen – viel wird ja in diesen Tagen über die Schnittstellen
hin. Sie möchten, dass die Studierendenquote in und die Kompatibilitäten zwischen teilweise veralteter
Deutschland erhöht wird. Auch das ist bereits seit Jahren Hochschulsoftware und der von T-Systems entwickelten
der Fall. Inzwischen ist es so, dass 46 Prozent eines Jahr- Software geredet. Hier brauchen wir Klarheit, um dann
gangs auf die Hochschulen gehen. Die Studierenden- vernünftige Lösungsansätze und einen realistischen Zeit-
quote in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren rahmen für die Einführung des Systems entwickeln zu
also bereits massiv erhöht, und das ist vor allem der Er- können.
folg des Hochschulpakts und seiner Architektinnen und
Die aufgetretenen technischen Probleme sind jedoch
Architekten.
keine rechtlichen. Dies verkennen die Linken, wenn sie
Sie sollten auch in Bezug auf ihr Stichwort „Master- nunmehr als Allheilmittel ein „Bundeshochschulzulas-
studium“ zur Kenntnis nehmen, dass Bachelorabsolven- sungsgesetz“ fordern. In Ihrem Antrag betonten Sie, dass
ten auf dem Arbeitsmarkt nicht länger brauchen, um ei- der Bund die ihm seit der Föderalismusreform 2006 zu-
nen Arbeitsplatz zu finden als ihre Kommilitonen mit stehende Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des
anderen akademischen Abschlüssen. Auch sie benötigen Hochschulzuganges bislang noch nicht wahrgenommen
im Durchschnitt drei Monate, um sich nach dem Ab- habe. Damit sagen Sie zwar nichts grundsätzlich Fal-
schluss einen ersten Arbeitsplatz zu suchen. Einen sches. Sie erwecken aber fälschlicherweise den Ein-
(B) Rechtsanspruch auf den Master kann es nicht geben, druck, dass es explizites Ziel der Föderalismusreform (D)
weil es in der Logik konsekutiver Studiengänge einfach gewesen sei, die Hochschulzulassung zukünftig durch
nicht vorgesehen ist. Sie können von mir aus die altbe- den Bundesgesetzgeber regeln zu wollen. Damit offen-
kannte Kritik hier immer wiederholen; leider bleibt sie baren Sie ein völliges Missverständnis in Bezug auf die
substanzlos. Wenn Sie die Hochschulzulassung nur als Systematik dieser Reform. Zum einen ist nämlich mit
Alibi für ihre Fundamentalkritik benutzen, dann schaden dem Wegfall der bundesgesetzlichen Rahmenkompetenz
Sie den Studierenden und tragen nicht zu einer konstruk- im Hochschulrecht eine Kompetenzveränderung vorge-
tiven Auseinandersetzung bei. nommen worden, aus der sich nun wirklich kein Impera-
tiv für eine verstärkte hochschulrechtliche Gesetzge-
In der gegenwärtigen bedauerlichen Situation geht es bungstätigkeit des Bundes herauslesen lässt.
weniger um große ideologische Rundumschläge, son-
dern darum, dass wir gemeinsam und sehr pragmatisch Beim Bund verbleiben Kompetenzen im Bereich der
dafür Sorge tragen, dass sich die Zulassungssituation in Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse.
den überfüllten Studiengängen in Deutschland ent- Beide Kompetenzen stehen aber im Katalog der konkur-
schärft. Wir sind einem echten Service- und Dienstleis- rierenden Gesetzgebung und fallen unter die Regelung
tungsgedanken gegenüber den Studierenden verpflichtet. des Art. 72 Abs. 3 Grundgesetz; da geht es um die soge-
Deshalb haben wir mit 15 Millionen Euro an Bundesmit- nannte Abweichkompetenz der Länder. Diese Vorschrift
teln ein Projekt auf den Weg gebracht, dass den Studie- gibt den Ländern die Möglichkeit, auf eine bundesrecht-
renden und den Hochschulen ihr Leben erheblich er- liche Regelung wiederum mit abweichendem Landes-
leichtern könnte. Jetzt müssen die Projektentwickler ihre recht zu reagieren. Ihr Ansinnen, die Länder durch ein
Pflicht tun – seriöser als bisher und ohne falsche Zeitvor- Bundesgesetz vor vollendete Tatsachen zu stellen, ist so-
stellungen, aber doch mit dem Ziel vor Augen, die Miss- mit mehr als fragwürdig, denn es läuft Gefahr, ein Rege-
stände zu beseitigen. In absehbarer und vertretbarer Zeit lungschaos zwischen Bund und Ländern hervorzurufen.
muss den Studierenden das Angebot zur Verfügung ge- Unser Ziel sollte es sein, im Dialog mit den Ländern zu
stellt werden, das man nach einer Investition von 15 Mil- einer sinnvollen und zielorientierten Lösung zu kom-
lionen Euro an Bundesgeldern auch erwarten kann. men. Das ist jedoch nicht der einzige Irrtum in Ihrer
rechtlichen Argumentation.
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Die Linken nut- Mit Interesse habe ich gelesen, dass Sie Ihren Antrag
zen die öffentlich gewordenen technischen Probleme bei mit Zitaten aus dem zweiten Urteil des Bundesverfas-
der Stiftung für Hochschulzulassung, um ihre bildungs- sungsgerichts zum Numerus clausus aus dem Jahre 1977
politische Ideologie wieder einmal im Plenum zu disku- verziert haben. Ich will mich an dieser Stelle aber gar
12136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) nicht darüber streiten, wie sinnvoll oder vielmehr wie teuerlichen Forderungen, Studienanfängern schon mit (C)
sinnlos es ist, einzelne Zitate aus dem Gesamtzusam- der Zulassung zum Bachelorstudiengang die Zulassung
menhang höchstrichterlicher Rechtsprechung zu reißen. zu einem darauf aufbauenden Masterstudiengang an der
Ich kann Ihnen aber versichern, dass Sie gut daran getan gleichen Hochschule zu gewährleisten. Dazu sage ich
hätten, nicht nur dieses Urteil, sondern auch das wesent- Ihnen: Ein Master für alle, am besten ohne jegliche Leis-
lich grundlegendere Urteil des Bundesverfassungsge- tungsanforderungen, ist mit uns nicht zu machen.
richts aus dem Jahre 1972 zu dieser Thematik vollstän-
Wir treten dafür ein, dass bei der Auswahl der Mas-
dig zu lesen. Beide Urteile stammen aus einer Zeit, in
terstudierenden der Leistungsgedanke eine tragende
der sich die Universitäten der Gesellschaft gegenüber in
Rolle spielt. Hier geht es nicht um Mangelverwaltung,
massivem Umfang geöffnet haben. Das Bundesverfas-
sondern darum, den Hochschulen die Möglichkeit zu ge-
sungsgericht stellte bereits 1972 selber fest, dass der
ben, besonders bei stark nachgefragten Studiengängen
Hochschulausbau mit der Verdoppelung der Zahl der
die leistungsfähigsten Studierenden auszuwählen. Wie
Studienanfänger – Referenzzeit waren die Jahre 1952 bis
sie das tun – ob durch Auswahlgespräche, Motivations-
1967 – nicht Schritt halten konnte. Diese Ressourcen-
schreiben, die Nachweise von Praktika –, wissen die
knappheit infolge des stärksten Umbruchs unserer Uni-
Hochschulen selbst am besten, und deshalb sollte die
versitätslandschaft ist wohl kaum mit der heutigen Situa-
Auswahlentscheidung ihnen überlassen bleiben.
tion zu vergleichen. Der angesprochenen Verdoppelung
der Zahl der Studienanfänger steht im aktuellen Refe- Für uns ist und bleibt der Bachelor der erste berufs-
renzzeitraum der letzten 15 Jahre ein Anstieg der Studie- qualifizierende Abschluss und kein Abschluss „zweiter
rendenzahl um lediglich 13 Prozent gegenüber. Das Ur- Klasse“ – zu dem Sie ihn gern degradieren würden.
teil entstammt also einer Zeit mit vollkommen Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Bache-
unterschiedlichen bildungspolitischen Herausforderun- lor in der Wirtschaft auf breite Akzeptanz stößt. Absol-
gen. venten eines Bachelorstudienganges finden auf dem Ar-
beitsmarkt genauso schnell eine Stelle, wie dies Kom-
Dennoch stellt das Bundesverfassungsgericht in die- militonen mit Magister- oder Diplomabschluss tun, und
sen Urteilen natürlich auch Grundlegendes fest, so etwa die Rate der Arbeitslosigkeit liegt mit rund 3 Prozent für
auch, dass eine Auswahl zwischen hochschulzugangsbe- Bachelorabsolventen nicht höher als für Absolventen mit
rechtigten Bewerbern prinzipiell eine Ungleichbehand- anderen Hochschulabschlüssen. Allerdings besteht auf-
lung prinzipiell Gleichberechtigter darstellt. Es betont grund fehlender Erfahrungen hinsichtlich der Qualität
daher richtigerweise auch den Grundsatz, dass Auswahl- der Bachelorabschlüsse in einigen Unternehmen noch
regelungen jedem Zulassungsberechtigten eine Chance Unsicherheit darüber, wie Bachelorabsolventen im Hin-
lassen müssen. Daraus ein generelles Recht auf die freie blick auf ihre Kompetenzen und Potenziale fachlich und (D)
(B) Wahl des Faches wie des Studienortes zu konstruieren,
hierarchisch einzustufen sind. Deshalb werben wir dafür,
wie Sie es in Ihrem Antrag tun, ist aber doch verblüf- dass die Akzeptanz in den Unternehmen weiter steigt.
fend. Das Bundesverfassungsgericht selbst stellt in dem
von Ihnen bemühten Urteil nämlich fest, ich zitiere: „In Ihr Antrag enthält weitere Vorurteile, die es auszuräu-
harten Numerus-clausus-Fächern […] konnte [der men gilt. Die Linke unterstellt, dass durch die derzeiti-
Grundsatz, jedem Zulassungsberechtigten eine Chance gen Vergabeverfahren eine soziale Selektion zulasten
zu lassen,] aber von Anfang an nicht so verstanden wer- von Studierenden aus Arbeiterfamilien oder Familien
den, als müsse eine Zulassung zum Studium garantiert mit niedrigerem Einkommen stattfindet. Allein den Be-
werden. Schon begrifflich schließt die Einräumung von leg für ihre Behauptung bleiben Sie uns schuldig. Bereits
Chancen das Risiko des Fehlschlages ein.“ in der Antwort – das ist Drucksache 17/373 – auf eine
Kleine Anfrage Ihrer Partei auf Drucksache 17/183 hat
In unserer Bundesrepublik geht es um Chancen- die Bundesregierung festgestellt: „Der Bundesregierung
gleichheit und nicht um Gleichmacherei, wie Sie dies liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass das erwei-
aus Ihrer sozialistischen Doktrin kennen. Davon zeugen terte Selbstauswahlrecht der Hochschulen nachteilige
auch noch andere Passagen Ihres Antrags. Mit einer ge- Veränderungen bei der sozialen Zusammensetzung der
wissen Überraschung durfte ich in Ihrem Antrag lesen, Studierenden bewirkt hätte.“ Durch verschiedene Maß-
dass die Hochschulzugangsberechtigung in Form des nahmen – wie BAföG-Novelle, Stipendiengesetz und
Abiturs „die logische Konsequenz aus der ständischen Aufstiegsstipendien – versuchen wir, die Chancenge-
Gliederung des bundesdeutschen Schulsystems“ sei. Es rechtigkeit zu erhöhen und Menschen aus allen gesell-
ist schon sehr bezeichnend, dass Sie unser gegliedertes schaftlichen Schichten ein Studium zu ermöglichen
Schulsystem, das den individuellen Begabungen des
Einzelnen gerecht zu werden sucht, mit Begriffen der Als Partei der Utopien haben Sie natürlich auch noch
mittelalterlichen Feudalgesellschaft belegen. Solche weitere unrealistische Forderungen in Ihrem Antrag un-
Formulierungen zeugen wohl eher von rhetorischer Ein- tergebracht: 500 000 zusätzliche Studienplätzen für alle.
fallslosigkeit als von bildungspolitischem Verantwor- Ich darf Sie an dieser Stelle auf den Boden der Tatsachen
tungsbewusstsein. zurückholen. Bereits in der ersten Programmphase des
Hochschulpaktes wurde das ursprünglich verabredete
Ihre bildungspolitische Verantwortungslosigkeit zeigt Ziel, 91 370 zusätzliche Studienplätze zu schaffen, mit
sich zudem in Ihrer populistischen Forderung „Master- insgesamt 182 193 zusätzlichen Studienanfängern deut-
studium für alle“. Die Forderung nach ausreichenden lich übertroffen. Für die zweite Programmphase wurde
Masterstudienplätzen ist legitim, aber nicht Ihre aben- eine Aufstockung um weitere 275 000 Plätze vereinbart.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12137

(A) Der Bund engagiert sich also hier bereits in überdurch- ein Schaden für die Menschen und für die Gesellschaft! (C)
schnittlichem Maße. Utopische Forderungen zu stellen, Das neue, Dialogorientierte Serviceverfahren sollte Ab-
ohne einen Vorschlag zu machen, woher die dafür not- hilfe schaffen, aber – wir haben das ja gestern bereits im
wendigen Mittel kommen sollen, ist unredlich, in Ihrer Ausschuss debattiert – die Verantwortlichen haben es
Partei aber durchaus nichts Neues. nicht hinbekommen.
Zusammenfassend ist Ihnen für zukünftige Anträge Mich erzürnt das Schwarze-Peter-Spiel, das jetzt be-
mit auf den Weg zu geben: Nehmen Sie endlich Tatsa- gonnen hat. Jeder weiß ganz genau, dass er nicht verant-
chen und Erfolge unserer Bildungsrepublik Deutschland wortlich ist. Wir fordern eine schonungslose Fehlerana-
zur Kenntnis. Erkennen Sie, dass wir in einer Leistungs- lyse – und Offenheit für die richtigen Konsequenzen. Es
gesellschaft leben, und verführen Sie unsere Jugend kann doch nicht sein, dass die Bundesministerin Schavan
nicht mit Ideologie und Utopien. sich zurücklehnt und „Mein Name ist Hase, ich weiß von
nichts!“ flötet. Die Bundesregierung ist genauso im Boot
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der Antrag der Frak- der Verantwortlichen wie die Länder, die Hochschulen,
tion Die Linke klingt zunächst sympathisch. Abgesehen der Stiftungsrat und die Softwareentwickler. Da stellt sich
von ein paar Ungereimtheiten enthält er eine ganze Reihe dann schon die Frage, woran es genau gelegen hat. Wir
von weitgehenden Forderungen und Zielstellungen, da- werden das im Ausschuss näher erörtern. Sind es techni-
runter den Wegfall aller Zulassungs- und Zugangshürden sche Probleme? Hat es mit der Finanzierung zu tun? Sind
für das Studium und die Sicherstellung des Rechts auf ei- es zu viele Akteure, auf deren Kooperation das System
nen Masterstudienplatz im Wunschfach am Wunschort. angewiesen ist? Ist es überhaupt machbar, den Hochschu-
len weitgehende Autonomie einzuräumen und gleichzei-
Allein: Das ist nicht nur ambitioniert, sondern ein tig ein bundesweites Verfahren zu organisieren? Wo set-
Wünsch-dir-was-Katalog, der schlichtweg nicht reali- zen wir dann unsere Prioritäten?
sierbar ist. Und darum sagt die Linke in ihrem Antrag si-
cherheitshalber auch nichts über Kosten und zur Fragen, Die Linke fordert die bundesgesetzliche Regelung des
woher das Geld dafür denn kommen soll. So sehr wir Hochschulzuganges. Das ist eine starke Forderung, für
Zielstellungen wie die Ausweitung des Studienplatzan- die es gute Argumente gibt. Wir bekennen uns dazu, dass
gebotes – auch beim Master –, die Verbesserung der das durchaus eine der Möglichkeiten ist, die am Ende
Lehre oder die soziale Mobilität teilen und unterstützen, des Abwägungsprozesses stehen kann. Doch wir wollen
so sehr gehört zu verantwortungsvoller Politik auch, nicht so schnell mit scheinbaren Gewissheiten auftrump-
dass gesagt wird, was in welchem Zeitraum geht und fen, sondern uns gemeinsam mit allen Beteiligten ein
was nicht. Bild machen und das weitere Vorgehen erörtern. Jedoch
(B) ist klar, dass umgehend ein „Plan B“ organisiert werden (D)
Tatsächlich muss der Hochschulpakt verbessert wer- muss, der so lange greift, bis wir ein neues System ha-
den. Die weiterhin bestehende Deckelung der Finanzie- ben. Dieser Plan B sollte tunlichst nicht in der Variante
rung von Studienanfängerplätzen muss weg. In der Tat „Weiter so wie bisher!“ bestehen. Auch das werden wir
gibt es ein immer stärker werdendes Problem mit dem Zu- gemeinsam – aber schnell – beraten müssen.
gang zum Master. Auch das muss im Hochschulpakt
künftig berücksichtigt werden. Die heute veröffentlichte
Studie über Bachelorstudierende zeigt, dass die deutliche Klaus Hagemann (SPD): Die deutschen Hochschu-
Mehrheit ein Masterstudium anhängen will. Es reicht len erwarten in diesem Jahr einen bisher noch nicht gese-
eben nicht, Studienanfänger zu finanzieren, es muss ihnen henen Ansturm junger Studienanfänger und -anfängerin-
auch eine ordentliche Perspektive gegeben werden. Und nen. Mit großen Worten hatte die Bundesregierung ein
es muss auch die Qualität der Lehre und die Betreuung der neues, zentralisiertes Vergabeverfahren für Studienplätze
Studierenden verbessert werden – der Qualitätspakt der angekündigt, das nach jahrelangen Versäumnissen end-
Bundesregierung reicht da nicht aus. lich die chaotischen Zustände beim Semesterstart be-
seitigen sollte. Viel zu spät wurden die nötigen Impulse
Alleine die Aufstockung des Hochschulpaktes für Stu- gesetzt, um dem ineffizienten und langwierigen Zulas-
dienanfänger um 200 000 Plätze bis 2015 würde Bund sungsverfahren an deutschen Universitäten zu begegnen.
und Länder 5,2 Milliarden Euro kosten – nach bisheriger Der Stiftung für Hochschulzulassung blieb am vergange-
Berechnung. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Damit nen Dienstag nichts anderes übrig, als wenige Wochen
wäre aber bei weitem noch nicht die Forderung nach vor dem geplanten Start des Dialogorientierten Service-
Wegfall aller Beschränkungen realisiert und auch nicht verfahrens die Reißleine zu ziehen und das neue Verfah-
die Aufstockung des Finanzierungsbetrages. Insofern also ren abzusagen.
haben wir durchaus ähnliche Zielstellungen. Doch wäh-
rend die Linke nach den Sternen greift, erstellen wir Kon- So, wie es sich heute darstellt, hatten wir es uns nicht
zepte, die realisierbar sind. vorgestellt, als wir zu Zeiten der Großen Koalition, nach
langer Diskussion im Haushaltsausschuss, gemeinsam
Der Antrag behandelt eine weitere wichtige Fragestel- Bundesmittel in Höhe von 15 Millionen Euro als „Start-
lung, nämlich die Regelung der Vergabe von Hochschul- kapital“ bewilligt haben – und dies, obwohl die Verant-
plätzen. Wir erleben ja gerade ein Desaster, weil nun er- wortung eigentlich bei den Bundesländern liegt. Die
neut ein Anlauf für ein vernünftiges, organisiertes Freigabe der Gelder wurde damals – auch auf Verlangen
Vergabeverfahren geplatzt ist. 17 000 Studienplätze blie- der SPD-Fraktion – an so wichtige Bedingungen wie die
ben zuletzt unbesetzt – was für ein Jammer und was für garantierte Gebührenfreiheit für die Studienbewerber
12138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) und -bewerberinnen geknüpft. Es ist schon ein ungeheu- nicht technischen Widrigkeiten geschuldet, sondern (C)
erlicher Vorgang, dass der Bund in die Bresche springen mangelnder politischer Koordination.
musste, nachdem der frühere „Innovations“-Minister aus
NRW, Andreas Pinkwart, seinerzeit das System der ZVS Die Betroffenen sind die Studienanfänger und -anfän-
kurzerhand zerrissen hat, ohne eine angemessene Alter- gerinnen, denen auch dieses Jahr der Start ins Studium
native hervorzubringen. Dieses Vorgehen war angesichts verhagelt wird. Sie müssen sich an Dutzenden Universi-
der steigenden Zahl an Studienanfängern und der Tatsa- täten parallel bewerben und bleiben auf den Kosten und
che, dass die Bundesländer eine Finanzierung bestenfalls zeitlichen Folgen des ineffizienten Systems sitzen. Für
mittelfristig auf die Beine gestellt hätten, geradezu fahr- all jene, die auch über eines der langwierigen Nachrück-
lässig. verfahren keinen Platz erhalten haben, bleibt erneut nur
die Studienplatzbörse übrig – eher eine Notlösung als ein
Frau Bundesministerin Schavan, ich habe den Ein- geordneter Übergang ins neue System. Die Effizienzlü-
druck, Ihr Haus und die anderen Beteiligten waren durch cken dieser akademischen „Resterampe“ zeigten sich
die Planung des neuen Systems völlig überfordert. Es ist schon bei einer Erhebung im Wintersemester 2009/2010,
zwar rührend, dass Sie nun in einer Pressemitteilung das nach der mindestens 18 000 der begehrten Studienplätze
Scheitern des Serviceverfahrens bedauern. Sie können mit örtlichem Numerus clausus unbesetzt geblieben wa-
aber nicht behaupten, seitens des Bundes wären alle Vo- ren. Die damalige Argumentation der Unionsfraktion,
raussetzungen geschaffen worden, während Sie gleich- ein Großteil dieser Plätze sei im Semesterverlauf noch
zeitig versuchen, die Verantwortung auf die Stiftung für besetzt worden, wird durch die Zahlen zum Winterse-
Hochschulzulassung und die Gesellschaft Hochschul- mester 2010/2011 eindeutig widerlegt. Nachdem auf
Informations-System abzuwälzen. massives Drängen der SPD-Fraktion im Haushaltsaus-
schuss das Erhebungsinstrument verbessert wurde, zeigt
Die Überforderung der Hochschulen durch geburten- sich jetzt, dass erneut fast 17 000 Studienplätze frei ge-
starke Jahrgänge und doppelte Abiturjahrgänge war seit blieben sind. Das sind 6,9 Prozent aller Studienplätze
langem absehbar. Erst haben Sie eine Lösung jahrelang mit lokaler Zulassungsbeschränkung! Mit den rund
verbummelt, dann musste plötzlich alles ganz schnell 60 000 Studieninteressierten, die durch die Aussetzung
gehen. Nachdem sich dann noch die Auftragsvergabe der Wehrpflicht zusätzlich an die Universitäten drängen
um drei Monate verzögert hatte, sollte schließlich in nur werden, werden wir dieses Jahr wohl einen neuen „Re-
rund einem Jahr ein System gezimmert werden, das kord“ erreichen.
Hunderte unterschiedlicher und teils veralteter Hoch-
schulverwaltungssysteme zu einer modernen Web-Platt- Eine solche Verschwendung von Kapazitäten ist be-
form koordinieren sollte. Die negativen Erfahrungen, die sonders pikant im Hinblick auf die Finanzmittel in Höhe
(B)
bei der Einführung der Autobahnmaut gemacht wurden, von 4,7 Milliarden Euro, die der Bundestag für die (D)
hätten hier zur Lehre gereichen können. Seit damals Schaffung von neuen Studienplätzen im Rahmen des
wissen wir, wie langwierig und kostenintensiv solche Hochschulpaktes für die Jahre 2011 bis 2015 zur Verfü-
Schwierigkeiten in komplexen Softwaresystemen wer- gung stellt. Das Bemühen, junge Menschen für ein Stu-
den können. Vor diesem Hintergrund war das Verspre- dium zu begeistern und mehr Studienplätze zu schaffen,
chen, im April 2011 mit dem neuen System an den Start wird durch die bestehenden Mängel konterkariert. Die
zu gehen, nichts als Augenwischerei. Die enge Terminie- guten Voraussetzungen, die die Große Koalition mit dem
rung hätte letztlich auch bedeutet, dass mit der Inbetrieb- Hochschulpakt geschaffen hat, laufen ins Leere, weil
nahme des Systems der erste ernsthafte Test des Verfah- Sie, Frau Ministerin, den Schuss nicht gehört haben. Es
rens auf den bis dato größten Ansturm an die Universitäten braucht jetzt ein entschlossenes Vorgehen, um das Dia-
geprallt wäre. Auch der knappe Zuschnitt des Systems, der logorientierte Serviceverfahren schnellstmöglich an den
etwa Lehramtsstudiengänge und Bachelor mit mehr als ei- Start zu bringen und den Schaden zu begrenzen. Frau
nem Fach ausklammert, hätte dann zu neuen Problemen Ministerin Schavan, machen Sie das Thema endlich zur
geführt. Chefsache, nutzen Sie die Kompetenzen des Bundes bei
der Hochschulzulassung! Die Koordinierung des Zulas-
Auch die Hochschulrektorenkonferenz hätte während sungsverfahrens muss unverzüglich und offensiv ange-
der Vorbereitung mehr Geschlossenheit zeigen müssen. packt werden. Handeln Sie jetzt!
Die millionenschwere Anschubfinanzierung des Bundes
war offenbar nicht Anreiz genug, um die Kooperation Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die FDP-
der Hochschulen untereinander und an der Schnittstelle Bundestagsfraktion lehnt sowohl eine bundesgesetzliche
zur neuen Plattform herzustellen. Auch haben sich viele Regelung der Hochschulzulassung als auch des Zugangs
Universitäten noch bis kurz vor dem geplanten Start be- zu Masterstudiengängen ab. Für beide Maßnahmen gibt
deckt gehalten, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Die es keinerlei sinnvolle Begründung und nachweislich
Haltung vieler Hochschulen war nicht so optimistisch, auch keinen Regelungsbedarf. Daher werden wir den
wie es zunächst die Zustimmung der Hochschulrektoren- vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke ablehnen.
konferenz suggeriert hat. Es wäre aber vor allem Ihre
Aufgabe gewesen, Frau Bundesministerin, die richtigen Wieder einmal zeichnen die Antragsteller ein Bild
Rahmenbedingungen zu setzen. Das Dialogorientierte vom deutschen Hochschulsystem und von der Umset-
Serviceverfahren wird nur dann zum Erfolg, wenn Sie zung des Bologna-Reformprozesses, das mit der Wirk-
alle Universitäten ins Boot holen. Die Verzögerung ist lichkeit nicht ansatzweise übereinstimmt. Zahlreiche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12139

(A) Studien belegen, dass die Umsetzung von Bologna in Masterstudium ermittelt. Die Behauptungen der Antrag- (C)
Deutschland auf einem guten Weg ist. Natürlich ist noch steller sind damit zum heutigen Zeitpunkt empirisch
nicht alles optimal, aber es handelt sich um die größte nicht belegt. Gleichwohl ist nicht absehbar, wie sich die
Reform der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Und Übertrittsquoten vom Bachelor- zum Masterstudium
„trotz mancher Kinderkrankheiten gibt es bereits viele künftig angesichts der zu erwartenden steigenden Zahl
gute Effekte“, wie es Uwe Schlicht jüngst in seinem Ar- von Bachelorabsolventen entwickeln werden. Doch
tikel „Der Bachelor kann’s“ treffend konstatierte (ver- – und das ist meine volle Überzeugung – ein kompletter
gleiche Der Tagesspiegel vom 11. März 2011). Viele der Übergang von Bachelorabsolventenjahrgängen zum
reform-auslösenden Mängel, wie beispielsweise ein im Masterstudium ist gar nicht erstrebenswert. Eine solche
internationalen Vergleich später Berufseintritt durch eine Widerspiegelung der ehemaligen Studienstruktur unter
lange Studiendauer, eine hohe Abbrecherquote oder eine neuem Namen wäre weder im Interesse der Studierenden
geringe Praxisorientierung der Studiengänge, sind be- noch der Hochschulen oder des Arbeitsmarktes.
reits behoben oder zumindest abgeschwächt worden. Es
herrscht trotz aller Unkenrufe eine hohe Zufriedenheit Die Bildungsrepublik Deutschland kann auch dank
der Absolventen mit ihrer Ausbildung, und auch die Ak- der großen Anstrengungen seitens der christlich-libera-
zeptanz seitens der Arbeitgeber ist beachtlich hoch: len Koalition – wir stellen allein in der laufenden Legis-
72 Prozent der Bachelorabsolventen hatten – so das Er- laturperiode zusätzlich 12 Milliarden Euro für Bildung
gebnis einer Studie des Internationalen Zentrums für und Forschung im Bundeshaushalt bereit – auf beachtli-
Hochschulforschung in Kassel – drei Monate, nachdem che Erfolge im Hochschulbereich verweisen: mit einer
sie die Urkunde in den Händen hielten, einen Arbeits- Rekordstudienanfängerquote von 46 Prozent im Studien-
platz. jahr 2010, mit der Bereitstellung von etwa 2 Milliarden
Die Fraktion Die Linke behauptet zum wiederholten Euro bis zum Jahr 2020 für den Qualitätspakt Lehre, mit
Male, dass in Deutschland zu wenige Masterstudien- einem endlich Bologna-tauglichen Bundesausbildungs-
plätze zur Verfügung stehen. Zu diesem Ergebnis ge- förderungsgesetz, welches Fördermöglichkeiten für
langt man, weil man im Lager der Linken die Unter- Masterstudenten bis zum 35. Lebensjahr bietet, mit einer
scheidung zu dem Vorgängermodell „Diplom“ nicht erfolgreichen Umsetzung des Hochschulpaktes, mit des-
nachvollziehen will oder kann. Der Bachelorstudiengang sen Hilfe nicht nur die angestrebten 91 370, sondern so-
wird dem Grundstudium gleichgesetzt. Deswegen gar 182 193 zusätzliche Studienplätze in der ersten Pro-
kommt man zu dem Trugschluss, dass alle Absolventen grammphase geschaffen wurden, und der Zusicherung
eines grundständigen Studienganges auch ein Masterstu- seitens der Bundesregierung, im Rahmen des Hoch-
dium anstreben müssten. Während die erstgenannte Be- schulpakts II eine Aufstockung für darüber hinaus in-
(B)
hauptung einer empirischen Grundlage entbehrt, ver- folge der Aussetzung der Wehrpflicht und der doppelten (D)
deutlicht die zweitgenannte Annahme, wie wenig man Abiturjahrgänge benötigte Studienplätze mitzufinanzie-
sich mit der Zielsetzung der Bologna-Beschlüsse befasst ren. Mit dem in diesem Jahr startenden Deutschland-Sti-
hat. pendium, welches künftig einen wichtigen Beitrag dazu
leisten wird, dass das Jobben neben dem Bachelorstu-
Die Kultusministerkonferenz, KMK, gelangt im die- dium zunehmend überflüssig werden kann, sorgen wir
ser Tage bekannt gewordenen Bericht des Hochschul- auch dafür, dass die Rahmenbedingungen für eine opti-
ausschusses zur „Situation im Masterbereich“ zu der male Umsetzung der Bologna-Reform weiter verbessert
Einschätzung, dass es gegenwärtig keinen Mangel an werden.
Masterstudienplätzen in Deutschland gibt (vergleiche
dpa-Meldung „KMK: Derzeit kein Mangel an Master- Die Antragsteller beklagen die jahrzehntelange Un-
studienplätzen“ vom 6. April 2011). Vielmehr sei die terfinanzierung des deutschen Hochschulsystems.
Zahl der angebotenen Masterstudienplätze ausreichend, Gleichzeitig bieten sie aber keinerlei konstruktive Vor-
wenngleich die Aufnahme eines Masterstudiums auch schläge an, wie sich dieser Mangel beheben lassen
mit einem erforderlichen Ortswechsel verbunden sein könnte. Auch wenn sich über die Hälfte der Deutschen
könne. Interessant ist dabei, dass im Bachelorabschluss- für Studienbeiträge als ein probates Mittel zur Finanzie-
jahrgang 2009 unter den Befragten, die ein Masterstu- rung der Hochschulen aussprechen – die Linke will es
dium aufgenommen haben, 90 Prozent angegeben ha- nicht wahrhaben. Sie scheut es, darüber nachzudenken,
ben, dass sie sowohl ihr Wunschfach als auch ihre welche positiven Effekte Studienbeiträge für die Hoch-
Wunschhochschule bekommen hätten. schullehre hat, angefangen bei verbesserten Betreuungs-
Und auch das sagt die Erhebung der KMK: Etwas relationen über bessere Hochschulinfrastruktur bis hin
mehr als drei Viertel aller Masterstudiengänge haben kei- zum persönlichen Anspruch des Einzelnen gegenüber
nen örtlichen Numerus clausus. Und selbst bei den seiner Hochschule. Leider mussten wir immer wieder
deutschlandweit 32 135 zulassungsbeschränkten Studien- feststellen, dass sich die Oppositionsfraktionen gegen-
plätzen sind ganze 6 258 nach dem Ende des Nachrück- über Argumenten versperren, empirische Daten negieren
verfahrens unbesetzt geblieben. Der Andrang war also und Fakten infrage stellen. Wenn Wahrheiten nicht ins
geringer als erwartet, und es herrscht nachweislich keine Weltbild passen, werden sie passend gemacht. Mit die-
Knappheit im Angebot von Masterstudienplätzen. Bei sem Anspruch lässt sich Politik betreiben; für das Wis-
den Bachelorprüfungsjahrgängen 2005 bis 2007 wurde senschaftssystem ist eine solche Haltung bekannterma-
zudem lediglich eine Übertrittsquote von 33 Prozent ins ßen aber Gift.
12140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Ein – wie von den Antragstellern gefordertes – Bun- verstehe ich das Recht auf freie Berufswahl und das (C)
deshochschulzulassungsgesetz stellt einen Angriff auf Menschenrecht auf Bildung –, oder wollen wir, dass sich
die Autonomie der Hochschulen dar und wird seitens der die Hochschulen ihre Studierenden aussuchen – dann
FDP-Bundestagsfraktion mit aller Vehemenz abgelehnt. nimmt man zwangsläufig in Kauf, dass Bewerberinnen
Damit wäre nicht nur der Bologna-Reformprozess ad ab- und Bewerber abgewiesen werden?
surdum geführt. Man vergisst auch zu gerne, dass der
Bund sich nur im Rahmen der konkurrierenden Gesetz- Manche halten es für utopisch, dass jeder den Stu-
gebung einbringen kann. Sobald ein Land ausschert, dienplatz bekommt, den er will. Sehr lange war es aber
bricht das wackelige Gefüge zusammen. Da ist es doch politischer Konsens, dass jeder Studienberechtigte das
besser, die Organisation dezentral zu verorten und auf Recht dazu hat. Das Bundesverfassungsgericht stellte
das dialogorientierte Zulassungsverfahren „hochschul- 1972 in seinem Urteil zum Numerus clausus fest: Das
start.de“ der Stiftung für Hochschulzulassung zu warten. Recht auf die freie Wahl der Ausbildungsstätte wäre – Zi-
Ja, es hat Verzögerungen gegeben, und diese müssen tat – „ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in An-
schnellstmöglich behoben werden. Wer aber so tut, als spruch nehmen zu können, wertlos“.
würden bundesgesetzliche Regelungen schneller greifen Und heute heißt es beim Thema Masterstudienplätze,
können, der handelt unredlich. Es gibt Software-Schnitt- dass es vielleicht genügend gibt, aber nicht an jeder
stellenprobleme. Diese sind der Grund für das Verschie- Hochschule und schon gar nicht in jedem Studiengang.
ben. Aber das neue System wird kommen – wir lassen Damit wird dem Recht auf Selbstbestimmung der Stu-
uns nicht auf eine Rolle rückwärts in die 70er-Jahre des dierenden faktisch eine Absage erteilt.
vergangenen Jahrhunderts ein. Die Studentenlandver-
schickung per ZVS ist endgültig passé; das werden auch Wir fordern stattdessen das Recht auf einen Master-
SPD, Grüne und die Linke begreifen müssen. studienplatz. Wir schlagen vor, dass die Studierenden
mit der Zulassung zum Bachelor auch das Recht bekom-
Als Fazit bleibt – wie so oft bei den Anträgen der men, nach dem Bachelorabschluss ein Masterstudium an
Fraktion Die Linke – festzuhalten: Hier wird mit untaug- der gleichen Hochschule anzuschließen.
lichen Mitteln die Beseitigung von nicht existierenden
Problemen gefordert. Der Antrag ist also nicht nur nicht Ein Einwand liegt freilich auf der Hand. Viele Hoch-
gut gemacht, sondern auch nicht gut gemeint und gehört schulen sind heute schon überlastet. Die entscheidende
daher abgelehnt. Frage ist: Was folgt daraus? Soll man sich jetzt damit
politisch abfinden, dass jedes Jahr Tausende Studienbe-
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Seit Jahren erhalten rechtigte von den Hochschulen abgewiesen werden?
(B) jedes Semester viele Tausend junge Menschen, die stu- Man darf sich nicht damit abfinden! Wir brauchen mehr (D)
dieren wollen und dafür die nötigen Voraussetzungen Studienplätze, damit massenhafte Ablehnungen nicht
mitbringen, von den Hochschulen eine Absage. Das vorprogrammiert sind. Der Hochschulpakt verfolgt die-
heißt, sie erwerben sich durch das Abitur oder andere ses Ziel bislang nicht. Er ist darauf angelegt, sich durch-
Studienberechtigungen zwar einen formalen, aber keinen zuwursteln, und nicht darauf, Zulassungshürden zu be-
tatsächlichen Hochschulzugang. Mittlerweile ist das seitigen.
nicht mehr nur beim Studienbeginn so, sondern nun auch Für die Linke gehört die Finanzierung mit zum Kern
beim Übertritt in den Master. Und damit nicht genug: eines guten Hochschulzulassungsgesetzes. Es geht nicht
Die Zulassungsverfahren sind chaotisch, das dialog- darum, den Mangel zu verwalten, sondern darum, ihn
orientierte Zulassungsverfahren der Bundesregierung ist durch entschlossenen Hochschulausbau zu beseitigen.
faktisch gescheitert, am Ende bleiben auch dieses Jahr Sonst steht das Recht auf einen Studienplatz weiter nur
wahrscheinlich wieder Tausende Studienplätze unbe- auf dem Papier.
setzt. Dieser Zustand ist unerträglich!
Verhelfen Sie der Studienberechtigung wieder zu ih-
Seit 2006 fällt die Hochschulzulassung – unter Mitwir- rem eigentlichen Sinn! Machen Sie aus der Berechtigung
kung der Länder – in den Kompetenzbereich des Bundes. endlich – wie es im Wort selbst schon steckt – ein Recht,
Aber die Bundesregierung macht keine Anstalten, die und stimmen Sie dem Antrag der Linken zu!
chaotischen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern. Mit
unserem Antrag wollen wir das ändern. Deshalb fordert
die Linke ein Bundeshochschulzulassungsgesetz: Jede Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer in
und jeder Studienberechtigte soll tatsächlich studieren diesen Tagen über den Hochschulzugang spricht, kann
können, und zwar im gewünschten Fach und am ge- zur blamablen Verschiebung des Dialogorientierten Ser-
wünschten Ort. viceverfahrens auf unbestimmte Zeit und zu den fatalen
Folgen für die Studienberechtigten der Jahre 2011 und
Seit der Regierung Schröder wird das sogenannte danach nicht schweigen. Angesichts des Studierenden-
„Selbstauswahlrecht der Hochschulen“ gestärkt: Im hochs, doppelter Abiturjahrgänge, der Aussetzung von
Sinne der sogenannten „Profilbildung und des Wettbe- Wehrdienst und Zivildienst wäre – gerade nach jahrelan-
werbs zwischen den Hochschulen“ sollen sich die Hoch- gem Einschreibe-, Zulassungs- und Nachrückchaos – ein
schulen „ihre Studierenden“ aussuchen dürfen. Ich funktionierendes Hochschulzulassungssystems zum
glaube aber, man muss sich an dieser Stelle entscheiden: Wintersemester 2011/2012 zwingend erforderlich und
Wollen wir, dass die Studierenden wählen dürfen – so längst überfällig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12141

(A) Das aktuelle Scheitern ist aber nur die Spitze des Eis- sen zu kommen und nicht wieder 18 000 Studienplätze (C)
bergs, denn es geht um eine Serie bildungspolitischer ungenutzt bleiben, und dass die Zeit bis zur endgültigen
Skandale: Es ist beschämend, dass ein Erreichen der Inbetriebnahme genutzt wird, für die volle Funktionsfä-
Hochschulzugangsberechtigung hierzulande extrem eng higkeit des Systems auch für kombinierte Studiengänge
mit dem Bildungsgrad der Herkunftsfamilie verknüpft und für das Lehramt zu sorgen sowie verbindliche Teil-
ist. Die allgemeine Hochschulreife ist zudem keine nahme aller Hochschulen sicherzustellen.
Hochschulzugangsberechtigung mehr, sondern eher eine
Bewerbungsberechtigung, die zur Teilnahme an einer Vor allem die Studierenden brauchen Klarheit: Es ist
Studienplatzlotterie berechtigt. keine Panikmache, vor der realen Gefahr eines Zulas-
sungsdesasters bis in den Herbst 2013 hinein zu warnen.
Nachdem die ZVS in alter Form abgewickelt wurde, Würde sich das deutsche Hochschulsystem als unfähig
klemmt nun das lange angekündigte dialogorientierte erweisen, seinen Mangel an gut ausgestatteten Studien-
Serviceverfahren unter anderem wegen technischer Soft- plätzen wenigstens effizient zu verwalten, so werden wir
wareprobleme. Ausgerechnet im Jahr mit den meisten in wenigen Jahren über einen Fachkräftemangel unge-
Studieninteressierten aller Zeiten wird so vielen der Weg ahnten Ausmaßes diskutieren. Solange das neue Verfah-
zur Hochschule verbaut. Im letzten Wintersemester blie- ren nicht funktioniert, bleibt es beim unbefriedigenden
ben rund 18 000 Studienplätze unbesetzt, da ihre Ver- Zustand aus lokalen Zulassungsverfahren in komplizier-
gabe am Durcheinander gescheitert ist. Die Bundesre- ten Nachrückrunden mit anschließender Studienplatz-
gierung hat zwar die verfassungsrechtliche Möglichkeit, tombola. Dieser Zustand muss schnellstmöglich über-
die Verfahren des Hochschulzugangs bundeseinheitlich wunden werden.
zu regeln und transparent zu gestalten, nutzt diese aber
fahrlässigerweise nicht. Die Studienberechtigten und Die Länder müssen zudem endlich das Kapazitäts-
Hochschulen warten seit Jahren auf eine Lösung der Zu- recht sinnvoll überarbeiten: Es muss einfacher werden,
lassungsproblematik. Weitere Verzögerungen und anhal- darf aber dem gesamtstaatlichen Ziel des Studienplatz-
tendes Chaos sind unzumutbar. Da das neue Zulassungs- kapazitätsausbaus keinen Bärendienst erweisen. Die
verfahren aber nicht funktioniert, ist eine erneute Bundesforschungsministerin sei daran erinnert, dass ihre
Verschiebung leider unumgänglich. Hightech-Strategie die Informations- und Kommunika-
tionstechnologien als Innovationsmotor Nr. 1 nennt. Vor
So richtig es ist, Studienberechtigte nicht zu Ver-
diesem Anspruch bekommt das Verschieben von „Hoch-
suchskaninchen eines instabilen IT-Programms zu ma-
schulstart.de“ und das Zulassungsdesaster eine andere
chen, so klar bleibt das Ziel: Sie haben ein Recht auf ein
(B) funktionierendes Zulassungsverfahren, um ein Studium Dimension. (D)
aufzunehmen. Dieses Recht ist jetzt akut gefährdet. Mit Blick auf den Antrag der Linksfraktion sehe ich
Hochschulen und Studienberechtigten muss ein Desaster in einzelnen Punkten Übereinstimmung, in anderen
wie bei der Einführung der Lkw-Maut erspart bleiben. muss ich widersprechen. Erstens. Es ist nicht Aufgabe
Ministerin Schavan muss daher unverzüglich eingreifen des Bundes, „dafür zu sorgen, dass ein ausreichendes
und das Zulassungschaos beheben, anstatt auf der Zu- Angebot an Studienplätzen zur Verfügung steht.“ Das ist
schauertribüne zu verweilen. Wer wie der Bund 15 Mil- und bleibt Aufgabe der Länder. Der Bund kann allenfalls
lionen Euro in das neue System investiert, muss mehr als unterstützend wirken. Fakt ist, dass der Hochschulpakt
ein Zaungast sein; er muss politisch steuern. Schavans nachzuverhandeln ist und dass Bund und Länder mehr
Politikverweigerung in den letzten Jahren hat das Zulas- Geld für mehr Bachelor- und Masterstudienplätze zur
sungschaos verschärft. Nun sieht es so aus, als wolle sie Verfügung stellen müssen. Zweitens. Dank der Abwei-
tatenlos zusehen, wie zwischen Stiftung, IT-Entwicklern, chungsregel im Grundgesetz bliebe das von Ihnen einge-
Ländern und Hochschulrektorenkonferenz Schuldzuwei- forderte Bundeszulassungsgesetz ein zahnloser Tiger,
sungen hin- und hergeschoben werden, anstatt Verant-
weil jedes Bundesland davon abweichen kann. Deswe-
wortung fürs Gelingen zu übernehmen, die Probleme zü-
gen setzen wir auf einen nachhaltig ausverhandelten
gig zu beseitigen und einen verlässlichen Zeitplan
Bund-Länder-Staatsvertrag zur Hochschulzulassung.
aufzustellen. Leidtragende sind Studienberechtigte, die
Dieser wäre ein effektiveres und wirkungsmächtigeres
im besten Fall erst in aufwendigen und langwierigen
Instrument. Drittens. Dass Studienberechtigung „das
Nachrückverfahren einen Studienplatz erhalten. Im
Recht, ein Studium im Fach und an der Hochschule sei-
schlechtesten Fall bewerben sie sich vergebens und ver-
ner Wahl aufzunehmen“, bedeute, ist realitätsfern und
lieren ein halbes oder gar ganzes Lebensjahr.
ließe sich nur durch Bildungszentralismus statt Bil-
Studierende wie Hochschulen brauchen jetzt Verfah- dungsföderalismus umsetzen. Viertens. Es macht wenig
rens- und Planungssicherheit. Ministerin Schavan und Sinn, Hochschulen die Aufstellung jedweder Zugangs-
ihre Länderkollegen und -kolleginnen müssen sicherstel- voraussetzungen zu untersagen. Weiterbildungsmaster-
len, dass das alte Verfahren sofort anwendbar ist, damit studiengänge, die Berufserfahrung voraussetzen, sollten
nicht noch mehr Studienberechtigte vor dem deutschen möglich bleiben. Insgesamt sind wir der Linksfraktion
Zulassungschaos Reißaus nehmen und später als akade- dankbar, diese wichtige Debatte aufgesetzt zu haben.
mische Fachkräfte fehlen, dass alle Mittel genutzt wer- Mehreren Vorschlägen können wir aber nicht zustim-
den, um mit dem alten Verfahren zu besseren Ergebnis- men.
12142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Anlage 7 genheit leider notwendig, als die Ausbildungsnachfrage (C)


das betriebliche Angebot deutlich überstieg. Heute fehlen
Zu Protokoll gegebene Reden Lehrlinge, keine Ausbildungsplätze. Unsere traditionelle
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des überbetriebliche Ausbildung, bei der die betriebliche
Berichts zu den Anträgen: Ausbildung in überbetrieblichen Lehrgängen inhaltlich
ergänzt und vertieft wird und die aufgrund ihrer guten
– Fachkräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit Qualität in den Betrieben als notwendig akzeptiert ist, hat
schaffen, bessere Bildung ermöglichen, vor- sich bewährt. Daran werden wir festhalten.
handene Qualifikationen anerkennen
Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um ausrei-
– Strategie statt Streit – Fachkräftemangel be- chend Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu si-
seitigen chern. Da reicht eine Maßnahme, eine Aktion nicht aus,
(Tagesordnungspunkt 17) wir müssen an mehreren Bereichen ansetzen und unsere
Aktivitäten bündeln.
Ulrich Lange (CDU/CSU): Die wirtschaftliche Situa- Das Fachkräfteangebot kann gesteigert werden, in-
tion in Deutschland ist gut. Die Konjunktur ist nach der dem die Anzahl der Fachkräfte, die dem Arbeitsmarkt
Finanz- und Wirtschaftskrise angesprungen. Deutsch- zur Verfügung stehen, erhöht wird und indem die von
land, zu Zeiten von Rot-Grün das Schlusslicht in der EU, den Erwerbspersonen erwirtschaftete Wertschöpfung ge-
hat sich in der christlich-liberalen Koalition zur Konjunk- steigert wird. In vielen Bereichen müssen gleichzeitig
turlokomotive entwickelt. Erfreulich ist auch, dass die Schritte zur Verbesserung der derzeitigen Situation ein-
Anzahl der Erwerbstätigen stark gestiegen, die Arbeitslo- geleitet werden. Ich möchte einige Schwerpunkte auflis-
senquote gesunken ist. Trotz dieser grundsätzlich positi- ten:
ven Wirtschaftsdaten stehen wir einem Problem gegen-
über: der Fachkräftesicherung. Derzeit aber gibt es noch Bildungsinitiative: Bildungspolitik ist Standortpolitik.
keinen echten Mangel, aber starke regionale Unter- Im Vordergrund steht die Aufgabe, den Anteil der Schul-
schiede. abgänger ohne Hauptschulabschluss zu reduzieren.
Wenn es gelingen würde, die Anzahl der Schulabgänger
Wir sind uns darüber im Klaren, dass der wirtschaftli- zu halbieren, würden bis 2025 circa 300 000 Fachkräfte
che Aufschwung nur dann weitergehen wird, wenn wir zusätzlich zur Verfügung stehen. Arbeitgeberverbände,
dafür die nötigen Fachkräfte zur Verfügung haben. Die Kammerorganisationen, Gewerkschaften, die Kultus-
künftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unterneh- ministerkonferenz, der Bund und die Länder engagieren
men wird deshalb entscheidend davon abhängen, ob es sich derzeit schon in diesem Bereich. Seitens der Bun- (D)
(B) gelingt, die notwendigen Fachkräfte zu gewinnen. Ein
desregierung wird eine zweite Chance für Schulverwei-
ungedeckter Fachkräftebedarf verschenkt unnötigerweise gerer in einem extra Programm angeboten. Die Kultus-
vorhandene Wachstums- und Innovationspotenziale. ministerkonferenz fördert gezielt Benachteiligte und
Wie in der Anhörung dargelegt, hatten Mitte 2010 laut richtet vermehrt praxisorientierten Unterricht aus. Mit
Umfrage der DIHK bereits 70 Prozent der Unternehmen gezielter, rechtzeitiger Förderung lassen sich Schwächen
Probleme bei der Besetzung offener Stellen. Im Dezem- in Mathematik und Deutsch, den beiden Grundfächern,
ber 2010 lag die sogenannte MINT-Lücke, also die Be- beseitigen. Eine bessere Förderung müssen auch Jugend-
rufe: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und liche mit einem Migrationshintergrund erhalten. Eine
Technik, bei 98 600; davon umfasst die Ingenieurlücke verstärkte Einbindung der Eltern wird sich positiv aus-
knapp 50 000 Stellen. Die IHK Bayern geht davon aus, wirken.
dass in 2014 allein in Bayern rund 420 000 Fachkräfte,
davon 25 000 Akademiker fehlen. Trotzdem sieht die Die Schulen sollten verstärkt mit Wirtschaft und
Linke keinen Fachkräftemangel. Allein die genannten Er- Hochschulen zusammenarbeiten, um bei den Schülern
hebungen widerlegen das „wirtschaftliche“ Fachwissen das Interesse für MINT-Bereiche zu erhöhen und mehr
der Linken, zeigen, dass die Linken auch von Wirtschaft MINT-Absolventen auf den Hochschulen zu erhalten.
nichts, aber auch gar nichts verstehen. Sie sehen bei die- Berufseintrittsalter senken: Durch die Herabsetzung
sen Fakten keinen gravierenden Engpass von Fachkräf- des Einschulungsalters, die Flexibilisierung des Grund-
ten, sondern eine Intrige des Kapitalismus. Ihr Erfolgsre- schuleinstiegs, die sogenannte G 8, die Aussetzung des
zept: Mehr gute Arbeit! Ja wie naiv sind Sie denn, eine Wehrdienstes und die Einführung einer zweistufigen
solch undifferenzierte Forderung zu stellen! Von Fach- Studienstruktur treten die Jüngeren künftig früher ins Er-
wissen sind Sie wirklich völlig unbeleckt. werbsleben ein. Die ältesten Berufseinsteiger kommen
Anders sieht die Analyse der Grünen aus, die einen nicht mehr aus Deutschland.
wachsenden Fachkräftemangel diagnostizieren. Leider
sind Ihre Schlussfolgerungen nicht immer Erfolg ver- Berufsausbildung unterstützen: Leider wird in Deutsch-
sprechend. Insbesondere Ihre Forderung nach Ihrem land noch jeder fünfte Ausbildungsvertrag frühzeitig auf-
„DualPlus“ als weiterentwickeltem Berufsausbildungs- gelöst. Die Hälfte dieser Jugendlichen, circa 70 000,
system geht einfach in die falsche Richtung. beginnen keine neue Lehre. Hier muss weiter gegenge-
steuert werden. Vertiefte Berufsorientierung bietet den
„DualPlus“ ist nichts anderes als eine Variante der au- Jugendlichen eine sicherere Wahl des Berufes und ein hö-
ßerbetrieblichen Ausbildung. Diese war in der Vergan- here Zufriedenheit bei der Ausbildung. Erfolgreich ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12143

(A) auch die Berufseinstiegsbegleitung an bundesweit 1 000 wichtig – die Anerkennung und Wertschätzung der erfah- (C)
Schulen. renen Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht.
Aber auch die Betriebe sind gefordert. Die erfolgrei- Das Ziel, die Arbeitsfähigkeit älterer Arbeitnehmerin-
che betriebliche Ausbildung muss weiterentwickelt wer- nen und Arbeitnehmer zu erhalten und zu verbessern,
den. Durch die parallele Doppelqualifikation aus Berufs- wird auch mit der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“
abschluss und FH-/Uni-Abschluss kann die Gewinnung (INQA) verfolgt. Die Bundesregierung fördert mit INQA
und Bindung von Fachkräften deutlich gefördert werden. die Schaffung gesundheits- und leistungsfördernder Ar-
Den Jugendlichen muss immer wieder verdeutlicht wer- beitsbedingungen. Darüber hinaus werden Unternehmen
den, dass unser Bildungssystem sehr durchlässig ist. Ent- bei der Umsetzung einer nachhaltigen Personalpolitik un-
scheidend ist ein guter Abschluss und Leistungsbereit- terstützt und zu einer lebenslangen Qualifikation ihrer
schaft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motiviert. Das Projekt
„Perspektive 50 plus“ ist ein Programm des Bundesar-
Senkung der Hochschulstudiumabbrüche: Leider liegt beitsministeriums zur Verbesserung der Beschäftigungschan-
bei uns der Anteil der Studienabbrecher zwischen 20 und cen älterer Langzeitarbeitsloser.
30 Prozent. Wichtige Präventivmaßnahme sollte eine
verbesserte und individuellere Beratung von Abiturien- Frauenerwerbsquote steigern: In Deutschland sind
ten und Studierenden sein, die an einen Abbruch denken, circa 70 Prozent der Frauen berufstätig, davon circa
um ihnen die langfristigen Konsequenzen deutlich zu 45 Prozent in Teilzeit. Viele Frauen wollen ganztags ar-
machen. Zudem sollten verstärkt Anstrengungen unter- beiten, haben jedoch Probleme, Beruf und Familie zu
nommen werden, die Situation in den Hochschulen zu vereinbaren. Mit der Einführung eines Rechtsanspruchs
verbessern und den jungen Menschen auch gute Bedin- auf einen Platz in einer Kindertagesstätte und dem Aus-
gungen für ihr Studium zu gewähren. bau der frühkindlichen Betreuungsangebote geben wir
Müttern und Vätern die Möglichkeit, Erwerbstätigkeit
Mit den Bundesländern haben wir einen Hochschul- und Familie zu vereinbaren.
pakt geschlossen, um die Leistungsfähigkeit unserer Dennoch ist eine größere Flexibilität notwendig. Die
Hochschulen zu sichern und für eine größere Zahl von Arbeitgeber müssen noch flexiblere Arbeitszeiten oder
Studenten offenzuhalten. Die stark steigende Zahl von Teilzeitregelungen anbieten, die öffentliche Hand muss
Studienbewerbern und der sich abzeichnende Bedarf in aber auch den Ausbau der Kinderbetreuung vorantrei-
bestimmten Branchen machen in besonderem Maße ei- ben. Wichtig ist zudem, dass die entsprechenden Ein-
nen gezielten Ausbau der Studienkapazitäten in Deutsch- richtungen mit flexiblen und großzügigen Regelungen
land erforderlich. Im Vordergrund muss hierbei die Aus- auf die Bedürfnisse der berufstätigen Eltern eingehen
(B) bildung für den inländischen Bedarf stehen. müssen. (D)
Verlängerter Einsatz erfahrener Fachkräfte: In Deutsch- Aber auch die Betreuung von Schulkindern muss aus-
land sind nur 56 Prozent der Facharbeiter zwischen gebaut werden, damit berufstätige Eltern ohne Sorge ihrer
55 und 64 tätig. Auch wenn dieser Wert über dem euro- Tätigkeit nachgehen können. Ein Ausbau von Ganztags-
päischen Durchschnitt liegt, sollte eine Steigerung mög- schulen, Nachmittags- und Ferienbetreuung ist dringend
lich sein. Viele ältere Fachkräfte wollen länger im Er- notwendig.
werbsleben stehen und werden oft gegen ihren Willen in
die Rente geschickt. Im Rahmen des Aktionsprogramms „Perspektive
Wiedereinstieg“ werden Frauen nach einer familienbe-
Die Fortsetzung der staatlich geförderten Altersteil- dingten Erwerbsunterbrechung bei der Rückkehr in den
zeit haben wir verhindert und die gesetzliche Lebensar- Beruf unterstützt.
beitszeit verlängert. Mit beiden Entschlüssen haben wir
deutlich gemacht, dass nicht der vorzeitige Ausstieg aus Mit dem nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-
dem Erwerbsleben, sondern die Verlängerung der Er- Berufen soll bei jungen Mädchen frühzeitig das Interesse
werbsbiografien gefördert werden muss. Die Situation an technischen Berufen geweckt werden.
von älteren Menschen am Arbeitsmarkt hat sich seither Weiterqualifizierung stärken: Die Grundausbildung
kontinuierlich verbessert. Der Anteil der älteren Be- der Deutschen ist im Europavergleich recht gut. Das sieht
schäftigten an den sozialversicherungspflichtigen Be- jedoch bei der Weiterbildung wesentlich schlechter aus,
schäftigungsverhältnissen ist stetig gestiegen. insbesondere für Frauen und Ältere. Hier stehen auch die
deutschen Unternehmen in der Pflicht, vermehrt Fortbil-
Unsere Unternehmen wissen immer mehr die Poten- dungsangebote zu schaffen und ihre eigenen Mitarbeiter
ziale älterer Arbeitskräfte zu schätzen, weil ihr Wissen, ihr Leben lang weiterzubilden. Dies bedeutet auch, dass
ihre Erfahrung und ihre Leistungsfähigkeit in den Betrie- die derzeit bei uns bestehende Fortbildungslandschaft auf
ben gebraucht und genutzt wird. Die deutschen Unterneh- die zukünftigen Berufe und den kommenden Bedarf aus-
men, unterstützt durch zukunftsorientierte, arbeitsmarkt- gerichtet werden muss. Vor allem eine Ausweitung der
politisch sinnvolle Maßnahmen der Bundesregierung, Angebote im technischen Bereich ist unerlässlich.
haben ihren Fokus bei der Gewinnung von Arbeitskräften
auch auf Ältere gelegt und als Anreiz geeignete Maßnah- In den Unternehmen muss aber auch eine Kultur ent-
men realisiert, wie die Einführung eines Gesundheitsma- stehen, dass Mitarbeiter eigenverantwortlich ihre Weiter-
nagements, eine altersgerechte Gestaltung der Arbeits- bildung betreiben, um langfristig für den Arbeitsmarkt
plätze und auch – dies halte ich persönlich für sehr von Interesse zu sein.
12144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Die Bundesanstalt für Arbeit, BA, hat verschiedene forschern zu erleichtern und im Wettbewerb mit auslän- (C)
Programme zur Weiterbildung. So fördert zum Beispiel dischen Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft
die BA die berufliche Weiterbildung Geringqualifizierter konkurrenzfähige Angebote zu machen.
durch den Erwerb anerkannter Berufsabschlüsse oder
Die erfolgreiche Bekämpfung des sich abzeichnenden
Teilqualifikationen.
Fachkräftemangels gelingt nicht mit punktuellen Lösun-
Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund: gen. Sie gelingt nur durch einen umfassenden und länger-
In Deutschland haben Menschen mit Migrationshinter- fristig angelegten Ansatz. Vor allem muss die Zielsetzung
grund durchschnittlich eine schlechtere Bildung und sind sein, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszu-
dadurch auch häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. schöpfen. Hier wollen wir mit einer besseren Schul- und
Deshalb müssen diese besser gefördert werden. Hochschulbildung sowie zusätzlichen Anstrengungen in
der Aus- und Weiterbildungsförderung den Schwerpunkt
Dringend ist auch die schnelle und unbürokratische zur Sicherung und Verbesserung des Fachkräfteangebo-
Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikatio- tes in Deutschland setzen.
nen, damit die Migranten auf unserem Fachkräftemarkt
eingesetzt werden können. Bei diesem Verfahren kann Ein weiteres zentrales Anliegen ist, die Abwanderung
die wirkliche Qualifikation des Migranten erkannt und von Hochqualifizierten und Fachkräften zu stoppen.
seine Chancen auf unserem Arbeitsmarkt können ermit- Schließlich gilt es, durch die Entwicklung einer Willkom-
telt werden. Lücken in der Qualifikation müssen mit menskultur die Attraktivität Deutschlands für qualifi-
Hilfe von Fortbildungsmaßnahmen geschlossen werden. zierte ausländische Fachkräfte zu erhöhen und gezielt die
qualifizierten Fachkräfte zu werben, für die ein Mangel
Mit dem Nationalen Integrationsplan haben wir zahl- besteht.
reiche integrationspolitische Maßnahmen auf den Weg
gebracht, um das Potenzial der Bevölkerung mit Migra- Ich fordere die Opposition auf, sich unseren Aktionen
tionshintergrund besser auszuschöpfen. zur Sicherung der Fachkräfte für unseren deutschen Ar-
beitsmarkt anzuschließen.
Abwanderung verhindern: Ein zentrales Problem für
den Arbeitsmarkt in Deutschland und damit für den
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Haben wir ihn
Wirtschaftsstandort Deutschland ist die starke Abwande-
rung von in- und ausländischen Absolventen deutscher oder haben wir ihn nicht, den Fachkräftemangel in
Universitäten und anderen Fachkräften nach Erwerb ih- Deutschland? Die Wahrheit liegt zwischen Ja und Nein,
rer Qualifizierung. Dieser Abwanderung von besonders also in einem Gelände, in dem wir uns als Politiker so oft
gut ausgebildeten jungen Menschen, die bereits hervor- bewegen und feststellen, dass einfache Antworten nicht
weiterhelfen. Die vorliegenden Anträge sind für die SPD
(B) ragende Deutschkenntnisse besitzen, steht keine in glei- willkommener Anlass, dieses Thema in der gebotenen (D)
cher Weise qualifizierte Zuwanderung entgegen. Ein
Hauptaugenmerk der deutschen Wirtschaft muss es also Tiefe zu beleuchten.
sein, die besonders gut ausgebildeten Absolventen mit Betrachten wir die aktuelle Situation am Arbeits-
attraktiven Lohn- und Arbeitsbedingungen im Land zu markt, stellen wir ungedeckte Bedarfe im Bereich der
halten oder nach erfolgtem Auslandsstudium für den Gesundheitswirtschaft, hier besonders in der Alten-
deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Auch ins Ausland pflege, fest. Im Streit um die Frage, wie die Altenpflege-
abgewanderte nichtakademische Fachkräfte sollen ge- ausbildung finanziert wird, in niedrigen Löhnen – der
zielt für die deutsche Wirtschaft zurückgewonnen wer- Mindestlohn in der Pflege ist noch taufrisch – und in be-
den. lastenden Arbeitsbedingungen, liegen ein Bündel von
Gründen für diesen Mangel. Die Verweildauer im Beruf
Qualifizierte Zuwanderung ermöglichen: Da der welt-
ist kurz, die Aufstiegsmöglichkeiten sind gering und die
weite Wettbewerb um Fachkräfte vor langer Zeit begon-
Aussicht auf Besserung ist schlecht.
nen hat, müssen auch wir um qualifizierte Fachkräfte aus
dem Ausland werben. Derzeit verliert Deutschland jedes Fachkräftemangel herrscht aktuell auch bei Erziehe-
Jahr Tausende von Facharbeitern, die ins Ausland wan- rinnen und Erziehern. Dem Aufbau von Betreuungsange-
dern. Wir müssen versuchen, diesen Trend umzudrehen. boten hat keine adäquate Ausweitung des Ausbildungs-
Einmal müssen wir unseren Fachkräften ihre Chancen angebotes gegenübergestanden. Die Entgeltsituation ist
und Möglichkeiten in Deutschland aufzeigen, auf der an- angesichts langer Ausbildungszeit schlecht. Auch hier
deren Seite müssen wir uns um ausländische Fachkräfte gibt es so gut wie keine Karrierechance, und die Per-
bemühen. Dabei müssen wir politisch und gesellschaft- spektive, bis zum Renteneintrittsalter in der Kita zu ar-
lich verdeutlichen, dass ausländische Fachkräfte bei uns beiten, ist ebenfalls nicht prickelnd.
willkommen sind und gute Perspektiven haben.
Ebenso zutreffend ist, dass Bundesländer sich wech-
Insbesondere die Forschungseinrichtungen sind im in- selseitig Lehrkräfte abwerben. Aber schon hier stellen
ternationalen Wettbewerb darauf angewiesen, hochquali- wir gleichzeitig fest, dass Berufseinsteiger und Berufs-
fiziertes Personal zu gewinnen und halten zu können. Um einsteigerinnen nur befristete Verträge bekommen. Be-
den Bedarf an akademischen Spitzenkräften decken zu sonders hörbar melden sich die Fachverbände zu Wort,
können, führen wir die Wissenschaftsfreiheitsinitiative die über einen Ingenieursmangel klagen. Bis zu 45 000
im Wissenschaftsfreiheitsgesetz weiter. Damit werden Stellen seien unbesetzt, der Mangel in den sogenannten
die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen, um MINT-Berufen – also Mathematik, Informatik, Natur-
Wissenschaftsorganisationen die Akquise von Spitzen- wissenschaft, Technik – sei besonders dramatisch. Ar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12145

(A) beitsmarktexperten bezweifeln diese Zahl – käme sie und Arbeitnehmerinnen, deren Erwerbsfähigkeit es zu er- (C)
doch zustande, weil durch gute Entwicklung möglicher- halten gilt. Hier lautet das Stichwort: altersgerechte Arbeit.
weise entstehende Stellen hier mit eingerechnet worden
seien. Unsere Arbeitsmärkte sind nicht mehr regional, auch
nicht national, sondern mindestens europäisch. Mit dem
Fest steht: Branchen- und regionsbezogene Stellenbe- 1. Mai 2011 haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeit
setzungsprobleme sind vorhanden. Gleichzeitig wird der in der EU. Es wäre gut gewesen, mit einem gesetzlichen
Arbeitsmarkt enger, die Zahl der offenen Stellen größer Mindestlohn dem zu erwartenden Lohndumping gerade
und die Zahl der Arbeitsuchenden kleiner. Denn der bei Facharbeit entgegenzutreten. Aber Tatsache ist auch,
deutsche Arbeitsmarkt hat sich trotz Finanzmarkt- und dass sich Fachkräfte nun europaweit die besten Arbeits-
Wirtschaftskrise gut entwickelt. Nicht zuletzt dank um- bedingungen aussuchen können. Deutsche Arbeits-
fassender Hilfen durch Kurzarbeit konnten viele Unter- marktpolitik muss dies im Blick haben.
nehmen ihr Fachpersonal über eine schwierige Phase
hinweg halten. Das war gelungene Beschäftigungssiche- Muten wir uns noch eine unbequeme Wahrheit zu:
rung, auf der sich die Politik nicht ausruhen darf. Von ei- Ohne kontinuierliche Weiterbildung bleiben auch Fach-
nem aktuellen generellen Fachkräftemangel in Deutsch- kräfte keine Fachkräfte. Zunehmend mehr Unternehmen
land zu sprechen, wäre jedoch falsch. Das zeigt sich erkennen das und investieren in Weiterbildung. Doch lei-
ganz besonders in der alarmierenden Nachricht, die der trifft auch zu, dass weniger investiert wird bei Leih-
arbeitern und Leiharbeiterinnen und dass weniger bis gar
Leiharbeitsbranche leide unter Fachkräftemangel. Aus
nicht investiert wird bei der großen Zahl atypisch Be-
sozialdemokratischer Sicht liegt hier die Lösung doch
schäftigter.
eher darin, dass Unternehmen, die Fachkräftebedarfe
nicht decken können, überprüfen sollten, wieweit sie Be- Es ist also erkennbar, dass lineare Lösungen nicht aus-
schäftigte durch Festeinstellung und/oder bessere Bedin- reichen. Wir schlagen deshalb eine Allianz für Fachkräfte
gungen für ihr Unternehmen gewinnen können. vor. Wirtschaft, Gewerkschaften, Agentur für Arbeit,
Aber zurück zur Politik. Drei Herausforderungen Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände sollten
muss gute Arbeitsmarktpolitik bewältigen. Erstens. Das gemeinsam ein Konzept entwickeln, das Lösungsansätze
Arbeitskraftpotenzial der knapp 3 Millionen Arbeit- aufeinander abstimmt. Dann können Fachkräfteoffensi-
suchenden muss entwickelt werden. Einen gespaltenen- ven erfolgreich, Unternehmen gut unterstützt und unsere
Arbeitsmarkt, der Langzeitarbeitslosen und Geringquali- Fachkräfte von morgen gut ausgebildet werden. Dazu
fizierten keine Chancen eröffnet und gleichzeitig einen werden wir konkrete Vorschläge unterbreiten.
wachsenden Arbeitskräftebedarf nicht decken kann, neh- Viele der Probleme nehmen die Anträge von Grünen
men wir nicht hin. und Linken auf. Das findet unsere Zustimmung. Gleich- (D)
(B)
Zweitens. Wir machen uns seitens der SPD-Bundes- wohl stimmen wir nicht in allen Punkten überein. So
tagsfraktion große Sorgen angesichts der radikalen Kür- zum Beispiel bei der Forderung der Linken nach einem
zungen im Etat des BMAS. Zwei Stichworte dazu: Das Regelsatz von 500 Euro und bei der Frage des Punkte-
deutsche Bildungssystem entlässt Jahr für Jahr mehr als systems für Einwanderung. Wir werden daher den An-
60 000 junge Männer und Frauen ohne Abschluss. Zu trag der Linken ablehnen und uns beim Antrag der Grü-
viele junge Menschen bleiben ohne Ausbildung und nen enthalten.
damit ohne Perspektive. Deshalb muss eine bildungspo-
litische Initiative starten. Wie kommentiert Bundeswirt- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Im Gegen-
schaftsminister Brüderle das? „Gut ausgebildete Arbeit- satz zu einigen anderen Oppositionsanträgen, die wir
nehmer und Arbeitnehmerinnen sind der Grundstein für heute schon debattiert haben, teile ich hier Ihre Auffas-
Wettbewerbsfähigkeit. Dies gilt für den Hightechstand- sung, dass es einen konkreten Anlass für die Debatte
ort Deutschland in besonderem Maße.“ Recht hat er – gibt. Das Thema Fachkräftemangel können wir uns gar
aber da muss bildungs- und ausbildungsmäßig noch viel nicht oft genug vornehmen, weil es ein ganz entschei-
passieren. Und: Viele Menschen mit Migrationshinter- dendes ist. Wenn wir ein offenes Land sein wollen, wenn
grund sind hochqualifiziert; ihre Abschlüsse aber wer- wir weiterhin durch unseren Wohlstand beeindrucken
den nach wie vor nicht anerkannt. Hier ist die Bundesre- wollen und wenn wir uns unseren Herausforderungen
gierung endlich tätig. Ob zielführend, wird sich erst noch stellen wollen, dann müssen wir den Fachkräftemangel
herausstellen müssen. in den Griff kriegen.
Drittens. Demografisch bedingt sinkt das Erwerbstäti- Uns werden bis 2025 5 Millionen Erwerbstätige feh-
genpotenzial in den kommenden Jahren dramatisch. len. Aktuell haben wir schon in den mathematisch-tech-
Deshalb ist die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung ein nischen und naturwissenschaftlichen Berufen, im soge-
wesentlicher Schlüssel zur Deckung des zukünftigen nannten MINT-Bereich, echten Mangel. Dies schadet
Fachkräftebedarfs. Hier geht es um die Vereinbarkeit unserer Volkswirtschaft und verursacht erhebliche Wert-
von Familie und Beruf, was eine deutlich bessere Be- schöpfungsverluste. An diesen demografisch bedingten
treuungsinfrastruktur voraussetzt. Die Frage der Versor- Realitäten kommt niemand vorbei, der sich ernsthaft mit
gung pflegebedürftiger Angehöriger ist zurzeit ebenfalls dem Problem beschäftigt.
ungelöst. Ich nenne das Beispiel der „Schattenfrauen“:
5,6 Millionen Frauen sind derzeit nicht erwerbstätig, Nicht demografisch bedingt ist hingegen die negative
90 Prozent von ihnen wären aber gern berufstätig. Wir Wanderungsbilanz, die unser Land aufweist. Uns gelingt
werden sie brauchen – ebenso wie ältere Arbeitnehmer es nicht nur nicht gut genug, ausländische Fachkräfte
12146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) nach Deutschland zu locken, sondern wir haben auch tem. Hier schneiden wir im internationalen Vergleich (C)
noch Schwierigkeiten damit, dass uns Fachkräfte verlas- einfach noch zu schlecht ab. Dem müssen wir mit – ich
sen. Schließlich lassen wir erhebliches Potenzial brach- habe das schon einmal an anderer Stelle gesagt – drei Ws
liegen. Wir haben immer noch viele Menschen, die bis- begegnen: Wir müssen den Wettbewerb aufnehmen, wir
her nicht gut oder gar nicht in den Arbeitsmarkt müssen Werbung für uns machen, und wir müssen eine
integriert sind, und zwar insbesondere unter den Migran- Willkommenskultur schaffen. Bisher wandern die klu-
ten, die sich für ein Leben in Deutschland entschlossen gen Köpfe weltweit an Deutschland vorbei und zum Bei-
haben. spiel nach Kanada oder Australien. Klar, die genannten
Länder haben einen Sprachvorteil; aber das ist es dann
Zu Recht bringen wir daher jetzt ein zeitgemäßes An- auch, das können wir nicht als Ausrede benutzen. Wir
erkennungsgesetz auf den Weg. Denn viele derjenigen, müssen begreifen, dass wir hier in einem internationalen
die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, leiden da- Wettbewerb stehen, in dem einem nichts geschenkt wird.
runter, dass sie ihre vorhandenen Qualifikationen nicht Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir attraktiv wir-
vernünftig anerkannt bekommen. Alleine hier haben wir ken können, wenn wir es nur besser im Ausland erklä-
ein Potenzial von circa 285 000 Personen, die qualifi- ren. Dazu muss die Bundesrepublik die Werbetrommel
ziert sind, deren Qualifikation ihnen und allen anderen rühren. Wir müssen uns nicht verstecken, bei uns gibt es
aber nichts bringt, weil sie nicht angemessen anerkannt eine Menge guter Jobs. Wenn es uns gelingt, diese Bot-
wird. schaft im Ausland rüberzubringen, dann werden wir
Hier bügelt die schwarz-gelbe Koalition etwas aus, auch wieder mehr Fachkräfte zu uns bringen können.
was bisher alle anderen Bundesregierungen versäumt ha-
Zuletzt geht es aber auch darum – und damit bin ich
ben. Es wird einen Rechtsanspruch auf das Anerken-
beim dritten W –, eine Willkommenskultur zu schaffen.
nungsverfahren geben, einheitliche Kriterien, ein ein-
In den Betrieben, in den Behörden und auch einfach auf
heitliches Verfahren, und zwar unabhängig von der
der Straße oder im Supermarkt müssen wir denjenigen,
jeweiligen Staatsangehörigkeit. Entscheidend wird al-
die zu uns gekommen sind, die Hand reichen. Das wäre,
leine die Berufsqualifikation sein. Außerdem werden wir
glaube ich, letztlich auch die beste Werbung, die man für
es auch ermöglichen, bereits aus dem Ausland einen An-
sich machen kann.
trag auf das Anerkennungsverfahren zu stellen. Damit
gehen wir einen großen und wichtigen Schritt zur Be- Wir haben den Fachkräftemangel erkannt und küm-
kämpfung des Fachkräftemangels. mern uns darum. Manche Ihrer Vorschläge teile ich ja.
Wir werden aber insgesamt drei Schritte gehen müs- Insgesamt reicht es bei Ihnen aber nicht, und die Sache
sen, und das werden wir auch tun. Denn neben der Aner- ist bei uns in guten Händen. Deshalb lehnen wir Ihre An-
(B) kennung ausländischer Qualifikationen müssen wir un- träge ab. (D)
ser inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausreizen.
Und das heißt nichts anderes, als dass wir den Men- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Es ist schon er-
schen, die es bisher schwer auf dem Arbeitsmarkt hatten, staunlich, welche Blüten die Diskussion um die Frage
besser helfen müssen. Der zweite Schritt muss also sein, des Fachkräftemangels treibt. Kürzlich konnte man le-
die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu reformieren. sen, die Leiharbeitsbranche beklage einen Arbeitskräfte-
mangel. Das ist natürlich mehr als abstrus. Denn wie
Hier sind wir auf einem guten Weg. Das Bundes-
sieht die Realität aus? Nehmen wir einen Fall aus der
ministerium für Arbeit und Soziales hat einen guten Ge-
Region Esslingen, also dem Bundesland Baden-
setzentwurf vorgelegt. An der einen oder anderen Stelle
Württemberg, in dem die Industrie bekanntlich wieder
müssen wir noch etwas drehen, aber die Richtung
boomt. Kürzlich schrieb hier die örtliche IG Metall Bun-
stimmt schon mal.
desarbeitsministerin von der Leyen einen Brief. In einer
Wir werden die Zahl der arbeitsmarktpolitischen In- Drehmaschinenfabrik wurden über hundert Beschäftigte
strumente reduzieren und damit eine Forderung verwirk- gekündigt, die Auszubildenden nicht übernommen. Die
lichen, die Experten schon seit langem an die Politik he- Betroffenen erhielten von der Arbeitsagentur Stellenan-
rangetragen haben. Es war auch niemandem mehr zu gebote, aber fast ausschließlich von den Leiharbeitsfir-
vermitteln, warum es zum Beispiel für ein und denselben men. Ein Kollege erhielt 17 Stellenangebote, 15 davon
Zweck mehr als fünf unterschiedliche Instrumente geben bei Leiharbeitsfirmen. Zu Recht schreibt die IG Metall
musste. Das hat weder den Arbeitsuchenden geholfen daher in ihrem Brief: Die „Diskussion um Fachkräfte-
noch hat es die Arbeit der Vermittler leichter gemacht. mangel bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn aus-
Gerade hierum geht es aber auch: Wir brauchen nicht gebildeten Mechatronikern eine Stelle bei einer Döner-
nur einen gut aufgeräumten Instrumentenkasten, sondern bude oder einer Lidl-Filiale angeboten wird“. Ich bitte
auch einen fitten Experten, der sich auskennt und die die Bundesregierung, diese Realität zur Kenntnis zu neh-
passende Maßnahme in Kooperation mit dem Arbeitsu- men, bevor sie die Klagen der Arbeitgeber über einen
chenden aussucht. Nicht nur für Arbeitsuchende heißt es, angeblichen Fachkräftemangel nachbetet.
auf Qualifikation zu achten, sondern eben auch bei unse-
ren Vermittlern in der Bundesagentur für Arbeit. Ohne Frage: Es gibt in einzelnen Branchen einen stei-
genden Fachkräftebedarf. Das ist in Zeiten des Auf-
Schließlich muss es aber noch einen dritten Schritt schwungs nichts Ungewöhnliches. Aber deshalb von ei-
geben. Damit meine ich, dass wir mehr gesteuerte Zu- nem flächendeckenden Fachkräftemangel zu sprechen,
wanderung brauchen, und zwar mit einem Punktesys- ist völlig haltlos. Das belegen auch seriöse wissenschaft-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12147

(A) liche Studien. Zu nennen ist hier die Gemeinschaftsstu- ker ausgeprägt als bei den Männern. Entgegen dem all- (C)
die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gemeinen Trend steigt die Arbeitslosigkeit von schwer-
und des Bundesinstituts für Berufsbildung, die in ihren behinderten Menschen. Ein weiteres Problem ist die
Prognosen bis 2025 auch die demografische Entwick- hohe Zahl von Langzeiterwerbslosen; ihre Zahl liegt bei
lung berücksichtigen, das heißt die durch Alterungspro- etwa 900 000. Ferner werden Hunderttausende Migran-
zesse kleiner werdende Zahl von Erwerbstätigen. Dort tinnen und Migranten in Deutschland vom Erwerbssys-
findet sich kein Wort über einen flächendeckenden Fach- tem ausgegrenzt – etwa durch die Nichtanerkennung von
kräftemangel. Selbst für den technischen Bereich hat im Ausland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüs-
eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor- sen.
schung jüngst nachgewiesen: Auch dort gibt es keinen
Fachkräftemangel, sonst hätten Arbeitgeber für diese Was ist also notwendig? Statt einen Fachkräftemangel
Fachkräfte deutlich die Löhne erhöhen müssen. Aber das zu beklagen, gilt es, die Hindernisse abzubauen, die
ist nicht geschehen. heute Millionen Menschen einen freien Zugang zum Ar-
beitsmarkt verwehren. Frauen ist eine gleichberechtigte
Was steckt also hinter den Klagen der Arbeitgeber Teilhabe am Erwerbsleben zu ermöglichen, indem mehr
über einen angeblichen Fachkräftemangel? In Wirklich- reguläre Arbeitsplätze statt ungesicherter Mini- und Teil-
keit, so wird immer deutlicher, sind das Klagen über an- zeitjobs geschaffen werden. Die Entgeltgleichheit muss
geblich zu teure, zu wenig flexible Arbeitskräfte. In mei- durchgesetzt und die geschlechtsspezifische Arbeitstei-
nen Bundesland Sachsen haben kürzlich die Industrie- lung aufgebrochen werden. Für ältere Menschen sind die
und Handwerkskammern ihre Mitgliedsunternehmen Beschäftigungsbedingungen zu verbessern. Spezifische
zum Thema Fachkräfte befragt – unter anderem dazu, Qualifizierungsprogramme sind auszubauen, denn Äl-
woran die Einstellung eines neuen Mitarbeiters scheitert. tere werden seltener qualifiziert und weitergebildet. Der
Die Antwort: Die Bewerber hätten zu wenig Berufser- Kündigungsschutz ist insbesondere für diese Gruppe zu
fahrung und Spezialqualifikation, sie würden zum Teil verbessern. Gleiches gilt für den Arbeits- und Gesund-
überzogene Lohnforderungen stellen, seien manchmal heitsschutz, um es Älteren zu ermöglichen, länger ohne
zu alt und teilweise wegen familiärer Verpflichtungen zu besondere Belastungen am Erwerbsleben teilzuhaben.
wenig flexibel. Ja, ich weiß, viele Arbeitgeber haben Um Langzeiterwerbslosen mit einer aktiven Beschäfti-
ihre Vorstellung vom idealen Mitarbeiter. Er soll jung, gungspolitik Chancen zu erschließen, ist das sogenannte
ledig und flexibel sein, mehrjährige Berufserfahrung und Sparpaket zurückzunehmen.
Spezialqualifikation besitzen und zu einem niedrigen
Lohn arbeiten wollen. Nur ist das natürlich etwas ande- Verglichen mit dem Vorjahr werden derzeit nur noch
res als Fachkräftemangel. Es ist die alte Leier: Der alte halb so viele Weiterbildungsmaßnahmen genehmigt. Das
(B) Ruf nach billigen, immer frei verfügbaren Arbeitskräften ist nicht hinnehmbar. Arbeitsmarktpolitik muss nachhal- (D)
taucht nun im neuen Gewand auf. Mehr als deutlich wird tig finanziert werden. Für Menschen mit Behinderungen
das bei den Pflegeberufen. Erst vor einigen Tagen hat ist wichtig, dass in den Unternehmen endlich die gesetz-
der Arbeitgeberverband Pflege über einen massiven lich festgeschriebene Beschäftigungsquote erfüllt wird.
Mangel an Pflegefachkräften geklagt. Hier ist es nun of- Barrierefreie Arbeitsstätten sind stärker zu fördern. Mig-
fensichtlich, dass niedrige Löhne und enorme Arbeitsbe- rantinnen und Migranten müssen einen gleichberechtig-
lastungen in dieser Branche dafür verantwortlich sind, ten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, unabhängig
dass viele nach wenigen Jahren aus diesem Job ausschei- von der „ökonomischen Nützlichkeit“. Notwendig ist
den oder ihn erst gar nicht wählen. dafür, dass die im Ausland erworbenen Qualifikationen
leichter anerkannt werden können. Es muss einen
Wenn sich die Bundesregierung, in Teilen auch die Rechtsanspruch auf die Anerkennung von Berufs- und
Grünen, vor diesen Karren der Arbeitgeber spannen Schulabschlüssen geben. Der von der Bundesregierung
lässt, ist dies ein Armutszeugnis. Denn dabei gerät vorgelegte Gesetzentwurf sieht jedoch keinen Rechtsan-
schnell das eigentliche Problem aus den Augen: der spruch auf Anerkennung vor. Zudem sollten Migrantin-
Mangel an ausreichenden und zudem guten Arbeitsplät- nen und Migranten vor und während des Anerkennungs-
zen. Die Arbeitsmarktstatistik gibt uns recht. Die Zahl verfahrens begleitet und beraten werden. Sie bleiben im
der prekären Arbeitsplätze – Leiharbeit, Minijobs und Regen stehen, wenn sie einen Beruf erlernt haben, der
Befristungen – nimmt immer mehr zu; dieser Entwick- nicht bundeseinheitlich geregelt ist. Dann müssen sie
lung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Noch im- sich mit 120 Landesgesetzen auseinandersetzen.
mer wird Millionen Menschen ein gleichberechtigter Zu-
gang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Hier liegt viel Die Bundesregierung tut nichts, um die drängenden
Potenzial brach, das wegen einer falschen Arbeitsmarkt- Fragen des Arbeitsmarktes anzugehen. Schlimmer: Sie
und Beschäftigungspolitik ungenutzt bleibt. Das betrifft sorgt mit ihrem Sparkurs in der Arbeitsmarktpolitik da-
insbesondere Ältere, Frauen, Menschen mit Behinde- für, dass Menschen Chancen für eine gute Beschäftigung
rung und Migrantinnen und Migranten. verbaut werden. Das können und werden wir nicht hin-
nehmen.
In der Gruppe der über 55- bis 65-Jährigen zählt die
Arbeitsmarktstatistik fast eine halbe Million Arbeitslose.
Unter den circa 9 Millionen Menschen, die sich laut dem Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Statistischen Bundesamt in Deutschland Arbeit oder Anfang April hat Bundesarbeitsministerin von der Leyen
mehr Arbeit wünschen, sind überproportional viele den Arbeitsmarktfachleuten der Koalitionsfraktionen die
Frauen. Bei ihnen ist der Wunsch nach Mehrarbeit stär- wichtigsten Handlungsschwerpunkte ihres Ministeriums
12148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) für das laufende Jahr vorgestellt. An erster Stelle steht durchschlagen müssen, weil ihre im Ausland erworbenen (C)
dabei das Thema Fachkräftesicherung. Und das über- Abschlüsse hier nicht anerkannt werden.
rascht doch sehr, denn es ist weit und breit nichts davon
zu merken, dass der wachsende Fachkräftebedarf bei den Aber selbst wenn es gelänge, bei der Ausbildung, der
Aktivitäten der Bundesregierung irgendeine Rolle spielt. Qualifizierung und bei der Anerkennung von Berufsab-
Im Gegenteil, still ruht der See. schlüssen deutliche Fortschritte zu erzielen – selbst dann
würde das nicht genügen, um den wachsenden Fachkräf-
Sie verlassen sich darauf, dass die anziehende Kon- tebedarf zu decken.
junktur die Sache schon regelt, und streichen rigoros bei Hierzu – und das haben uns die Expertinnen und Ex-
der Arbeitsförderung. Und damit begehen Sie einen ka- perten der zum Thema durchgeführten Anhörung bestä-
pitalen Fehler, der sich schwer rächen wird. tigt – können wir auf Zuwanderung nicht verzichten.
Alle Experten schreiben es Ihnen ins Stammbuch: Aber auch bei dieser Frage ist die Bundesregierung in ei-
Jetzt ist die Zeit, um in Qualifizierung zu investieren, da- nen Totstellreflex verfallen. Sie hat das Thema „Schaf-
mit auch Langzeitarbeitslose von der wirtschaftlichen fung eines transparenten Zuwanderungssystems“ im
Erholung profitieren. Nur so kann die positive Entwick- Koalitionsausschuss versenkt und macht gar keine An-
lung am Arbeitsmarkt anhalten. Bleiben Sie aber bei Ih- stalten, es wieder auf die Tagesordnung zu hieven. Das
rem Spardiktat, dann provozieren Sie die Gefahr eines ist hasenfüßig.
Fachkräftemangels bei gleichzeitig hoher Arbeitslosig- Die Bevölkerung hingegen ist – mal wieder – viel
keit. Das darf auf keinen Fall geschehen. weiter als die Koalition. 60 Prozent der Bürgerinnen und
Darum appelliere ich an die Bundesregierung und die Bürger befürworten die stärkere Zuwanderung von
Regierungsfraktionen: Nehmen Sie die Kürzungen bei Fachkräften; das hat eine repräsentative Umfrage des
der Arbeitsförderung zurück! Dasselbe gilt für Ihre Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migra-
Pläne für die Bundesagentur. Auch wenn Sie es stur tion und Integration gezeigt.
leugnen: Sie treiben die Bundesagentur in die Schulden- Wir Grünen haben Ihnen einen Antrag mit einer um-
falle. Auch das wird auf die aktive Arbeitsmarktpolitik fassenden Strategie zur Bewältigung des wachsenden
zurückschlagen und die Chancen derer verringern, die Fachkräftebedarfs vorgelegt. Es reicht nicht – und auch
wir eigentlich stärken müssten: Geringqualifizierte, Mi- das bestätigten die Fachleute –, punktuell anzusetzen.
grantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderun- Einheimische und Einwanderer dürfen nicht gegeneinan-
gen, Ältere und Frauen. Ihre Potenziale werden im Mo- der ausgespielt werden, wir brauchen sie alle. Bildung
ment nicht genutzt. Wir werden sie aber brauchen, wenn und Chancen für Kinder und junge Erwachsene, Weiter-
(B) der Bedarf an Fachkräften demografisch bedingt weiter bildung für Zukunftsberufe, Erhöhung der Erwerbsbetei- (D)
und weiter steigen wird. ligung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen und
ein transparentes Zuwanderungssystem – das sind die
Wenn Sie meine Argumente schon nicht überzeugen, fünf Handlungsstränge, die erst zusammen eine gute und
dann vielleicht Zahlen: Schon heute entgehen dem Mit- Erfolg versprechende Strategie ergeben. Nehmen Sie sie
telstand durch den Fachkräftemangel Umsätze von gemeinsam mit uns in Angriff und stimmen Sie unserem
30 Milliarden Euro im Jahr, Tendenz steigend. Die Antrag zu.
Alarmglocken müssten bei dieser Regierung aber auch
läuten, wenn sie präsentiert bekommt, dass in Deutsch-
land im vergangenen Jahr 320 000 junge Menschen in
Anlage 8
unsinnigen Warteschleifen gelandet sind statt in einer
betrieblichen Berufsausbildung. Diese jungen Leute Zu Protokoll gegebene Reden
werden uns später als Fachkräfte fehlen. Das ist fahrläs-
sig, teuer und erfordert ein Umsteuern, damit kein Kind zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
mehr die Schule ohne Abschluss verlässt und wirklich Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
alle in eine Ausbildung münden. Doch auch hier ist (Tagesordnungspunkt 18)
keine Anstrengung bei der Bundesregierung zu erken-
nen. Dieter Jasper (CDU/CSU): Mit dem heutigen Ge-
setzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition eine
Nur im Schneckentempo geht es auch bei der besseren normative Voraussetzung, damit aus europäischer Sicht
Anerkennung von Abschlüssen voran, die im Ausland er- in Deutschland ein subventionierter Steinkohlenbergbau
worben wurden. Nach Jahren der Ankündigung liegt nun bis ins Jahr 2018 ermöglicht wird und sichergestellt wer-
endlich ein Gesetzentwurf vor. Aber das Ziel des Geset- den kann. Inhaltlich bedeutet dieser Gesetzentwurf, dass
zes, die Chancen von Menschen mit ausländischen Qua- die sogenannte Revisionsklausel ersatzlos gestrichen
lifikationen auf Integration in den deutschen Arbeits- wird.
markt zu verbessern, ist nicht ausreichend unterlegt. Es
fällt damit hinter die Eckpunkte der Bundesregierung von Zum Hintergrund: Im Jahr 2007 wurde eine kohle-
2009 zurück. Ob auf dieser Grundlage materielle Verbes- politische Verständigung getroffen, in der die Bundesre-
serungen für die erreicht werden, die bisher am deutschen gierung, das Land NRW, das Saarland, die RAG und die
Bewilligungsdschungel gescheitert sind, muss bezweifelt IG BCE den sozialverträglichen und geordneten Aus-
werden. Zu befürchten ist, dass sich auch weiterhin Ärz- stieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau bis
tinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Pizzafahrer zum Jahr 2018 regelten. Diese Vereinbarung beinhaltete
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12149

(A) auch die sogenannte Revisionsklausel, die festlegte, dass Signal setzen, dass die Zukunftschancen der Steinkohle (C)
dieser Beschluss im Jahr 2012 noch einmal überprüft nicht nur jetzt, sondern auch nach 2018 erkannt und ge-
werden sollte. Völlig überraschend forderte die Europäi- nutzt werden müssen. Dazu müssen wir die weitere Ent-
sche Kommission im letzten Jahr einen früheren Aus- wicklung im Fokus haben.
stieg aus der Kohleförderung bis zum Jahr 2014. Dies
hätte für Deutschland und gerade auch für meine Hei- Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die heimi-
matregion dramatische wirtschaftliche und soziale Kon- sche Steinkohle weiterhin als nationale Energiereserve
sequenzen gehabt. benötigen und somit den Zugang zu den Lagerstätten er-
halten sollten. In einem zukunftsorientierten Energiemix
In Ibbenbüren im Tecklenburger Land liegt eine der brauchen wir neben den regenerativen Energien auch
letzten Steinkohlezechen in Deutschland. Hier wird hochmoderne und effiziente Kohlekraftwerke, in denen
schon seit langer Zeit hochwertige Anthrazitkohle geför- dann auch die heimische Steinkohle verstromt werden
dert. Diese wird zu einem großen Teil im direkt anlie- kann. Gerade jetzt, wo alle möglichen Energieformen
genden hocheffizienten Kohlekraftwerk verfeuert und auf dem Prüfstand stehen und wir uns fragen müssen,
zum anderen Teil für den regionalen Wärmemarkt ver- wie eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für
wendet. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung des unser Land zukünftig gestaltet werden kann, dürfen wir
Bergbaus für die Stadt Ibbenbüren und die umliegenden uns diese Möglichkeit eines heimischen Energieträgers
Bergbaugemeinden Mettingen, Recke, Hopsten, Hörstel nicht verbauen.
und Westerkappeln ist enorm. In der Bevölkerung und
über alle gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg Grundsätzlich ist es richtig, die jetzt gefundene euro-
herrscht eine hohe Akzeptanz. Im Bergbau sind derzeit päische Vereinbarung endgültig zu ratifizieren. Aber wir
direkt über 2 300 Menschen beschäftigt, im Bereich der dürfen die weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht aus
Zulieferbetriebe sind im Laufe der Zeit mehrere tausend den Augen verlieren und müssen uns bewusst sein, dass
Arbeitsplätze entstanden. Auch im Bereich der Ausbil- wir in unserem rohstoffarmen Land mit der Steinkohle
dung leistet die Zeche ganz hervorragende und unver- einen der ganz wenigen grundlastfähigen Energieträger
zichtbare Arbeit. verfügbar haben. Diesen sollten wir nicht vorschnell auf-
geben.
Als der Vorschlag der EU-Kommission bekannt
wurde, führte dies natürlich zu großer Unruhe und Irrita- Thomas Bareiß (CDU/CSU): Das Gesetz, über das
tion in unserer Region. Ein Ausstieg aus dem Steinkoh- wir heute abstimmen, zeigt deutlich, wie erfolgreich die
lenbergbau bereits im Jahr 2014 hätte dazu geführt, dass Bundesregierung die Interessen der deutschen Steinkoh-
es zu betriebsbedingten Kündigungen gekommen wäre lenregionen, der Beschäftigten und damit auch unsere
und auch sonst massive wirtschaftliche und soziale Pro- wirtschaftspolitischen Interessen in Brüssel vertritt. (D)
(B)
bleme entstanden wären. In dieser Situation habe ich Trotz aller Kritik an der Streichung der Revisionsklausel
mich unmittelbar an unsere Bundeskanzlerin gewendet begrüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung in
und um Hilfe und Unterstützung gebeten. Unter Einsatz Brüssel durchgesetzt hat, dass wie geplant bis 2018
aller Kräfte und durch tatkräftige Unterstützung des Par- Steinkohle subventioniert werden kann. Auch wenn der
lamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze konnte er- Preis dafür die Aufgabe der Revisionsklausel ist, ist die-
reicht werden, dass der Beschluss der EU revidiert ser Preis geringer als ein vorzeitiger Ausstieg aus der
wurde. Die Unterstützung der heimischen Steinkohlen- Kohlensubvention im Jahre 2014, der auf Kosten der
förderung bis ins Jahr 2018 wurde unter bestimmten Be- vielen Tausenden Kohlenarbeiter und deren Familie ge-
dingungen auf europäischer Ebene akzeptiert. Eine die- gangen wäre.
ser Bedingungen für die notwendige europäische
Regelung war, dass die Revisionsklausel aus dem natio- Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinan-
nalen Gesetz gestrichen und der Ausstieg somit unum- zierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition
kehrbar gemacht wird. Dieser Forderung wird mit dem darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der Stein-
heutigen Gesetzentwurf Genüge getan. Aus europäischer kohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Dieser Aus-
Sicht darf es nach 2018 keinen subventionierten Stein- stiegsplan ist sozial ausgereift und zeigt die Verlässlich-
kohlenbergbau in Deutschland mehr geben, so dass es keit unserer Regierungsarbeit. Bereits im Jahr 2007, als
auch keiner weiteren Prüfung im Jahr 2012 bedarf. Hier das Steinkohlefinanzierungsgesetz von der Großen Ko-
handelt die christlich-liberale Regierungskoalition kon- alition auf den Weg gebracht wurde, war allerdings allen
sequent und richtig, da es an vorderster Stelle darum Beteiligten klar, dass für den Zeitraum 2011 bis 2018
geht, die auf europäischer Ebene gefundene Einigung keine beihilferechtliche Genehmigung der EU vorlag.
nicht zu gefährden, die nur unter größten Mühen gefun- Mit einer Entscheidung der EU zum Ende des Jahres
den werden konnte. 2010 musste daher gerechnet werden. Diese sah nun in
Form des aktuellen EU-Kommissionsvorschlags ein
Für mich persönlich stellt sich die Situation aber et- Auslaufen der deutschen Subventionierung von Stein-
was komplexer dar: Die Revisionsklausel ist juristisch kohle bereits im Jahr 2014 vor.
überflüssig geworden und ihre Streichung dient dem
Zweck der Bestandssicherung auch des Steinkohlen- Die Bundesregierung setzte sich daraufhin massiv in
bergbaus bei uns im Tecklenburger Land. Politisch ge- Brüssel für eine Befristung der Subventionierung von
hört sie aber meines Erachtens auf die Tagesordnung der Steinkohle bis 2018 ein. Trotz aller Widerstände in Brüs-
zukünftigen Energiepolitik, und deshalb kann ich einer sel konnte dies durchgesetzt werden. An dieser Stelle
Streichung nicht zustimmen. Ich möchte ein deutliches möchte ich nochmal ausdrücklich Bundeskanzlerin
12150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) Angela Merkel und Wirtschaftminister Rainer Brüderle ist, sondern dass die Förderung unter der Prämisse der (C)
für ihren starken Einsatz auf europäischer Ebene danken. Wirtschaftlichkeit stehen muss – was übrigens für alle
Ein vorzeitiger Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen Energieträger gilt.
und betriebsbedingte Kündigungen von mehreren Tau-
send Bergleuten zur Folge. Hinzu kommen weitere Fak- Die Streichung der Revisionsklausel, die wir jetzt be-
toren, wie praktische und technische Probleme, die schließen wollen, ist eine europapolitische Notwendig-
Bergwerke früher zu schließen. keit, um den Schutz der Arbeitnehmer in dieser Branche
zu gewährleisten. Schließlich ist eine der wichtigsten
Uns war es wichtig, dass Entscheidungen erst getrof- Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile Rahmenbe-
fen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. dingungen zu schaffen, auf die sich Unternehmen, Mit-
Die Bundesregierung konnte auf europäischer Ebene arbeiter und Bürger verlassen können. Es wurde seiner-
klarmachen, dass ein für 2014 vorgesehener Ausstieg zeit eine gute Regelung getroffen, auf die sich die
aus den staatlichen Subventionen für den Steinkohlen- Region und die Menschen dort verlassen. Vertrauens-
bergbau nicht wirklich günstiger sei als ein geordneter schutz und Planungssicherheit konnten in den harten
Ausstieg aus den Beihilfen im Jahre 2018. Der Preis da- Verhandlungen mit Brüssel sichergestellt werden. Im
für war lediglich das Streichen der Revisionsklausel aus Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik wurde an ei-
dem Gesetz von 2007. ner Förderung bis 2018 festgehalten, was ich persönlich
für richtig halte.
Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema
Steinkohlenförderung im Plenum. Schließlich ist es auch Wegen der genannten Gründe halte ich es für sinnvoll
ein sehr emotionales Thema. Dies hat verschiedene und lobenswert, dass die Bundesregierung den im Jahr
Gründe, die auch dazu geführt haben, dass wir uns so 2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohlenförde-
stark wie nur möglich für das Ende der Steinkohlensub- rung bis 2018 in Brüssel durchgesetzt hat. Auch wenn
ventionen 2018 auf europäischer Ebene eingesetzt ha- der politische Preis dafür die Streichung der Revisions-
ben. Die große Bedeutung von Kohle ist zum einen dem klausel ist, haben wir unterm Strich einen wichtigen Er-
hohen Anteil am derzeitigen Energiemix und zum ande- folg für unsere heimische Kohlenwirtschaft errungen.
ren der langjährigen Tradition in Deutschland und ihrer Denn angesichts der Größe der Branche braucht es die
Bedeutung als langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor von uns gezeigte Verlässlichkeit, wenn man den betrof-
für das Ruhrgebiet geschuldet. Immerhin liegt Deutsch- fenen Menschen eine vernünftige Perspektive bieten
land bei der Steinkohlenförderung hinter Polen auf will, die nicht zulasten einer traditionsreichen Branche
Platz zwei in Europa. In unserem deutschen Energiemix und ihrer Arbeiter geht. Deshalb plädiere ich für die Zu-
hat die Steinkohle einen Anteil von rund 19 Prozent an stimmung zum Gesetz über die Änderung des Stein-
(B) der Bruttostromerzeugung in Deutschland. Gemeinsam kohlefinanzierungsgesetzes. (D)
mit der Braunkohle beträgt der Anteil über 40 Prozent.
Insbesondere die Menschen in der Region haben eine Rolf Hempelmann (SPD): Das Steinkohlefinanzie-
besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem rungsgesetz, das mit dem vorliegenden Gesetz geändert
historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeu- werden soll, geht auf den Steinkohlenkompromiss aus
tendsten deutschen und europäischen Industrieregionen. dem Jahre 2007 zurück, der sorgsam austariert eine so-
Diese Entwicklung wäre ohne den Steinkohlenabbau nie zialverträgliche und geordnete Beendigung des subven-
möglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über tionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschland bis 2018
Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes regelte. Damals war bekannt, dass die Steinkohlensub-
und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen. ventionen unter dem Vorbehalt der beihilferechtlichen
Das Gesetz von 2007 war somit eine Zäsur. Mit dem Ge- Genehmigung durch die EU stehen, die nach 2010 einer
setz wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatz- Anschlussregelung bedurfte. Offenbar ging die Bundes-
entscheidung getroffen und der größte Subventionsab- regierung davon aus, dass die deutsche Regelung für den
bau seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Strukturwandel die Unterstützung der EU bekommen und
Deutschland ist damit das einzige Land, das ein schlüssi- eine entsprechende Genehmigung quasi automatisch er-
ges, sozialverträgliches und wirtschaftliches Gesamt- teilt werden würde.
konzept zur Beendigung der heimischen Steinkohlenför-
derung hat. Nun haben wir im vergangenen Jahr erlebt, wie diese
Erwartungen enttäuscht wurden. Nach dem Vorschlag der
Der deutsche Steinkohlenbergbau ist seit vielen Jah- Europäischen Kommission sollte der subventionierte
ren aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedin- Steinkohlenbergbau 2014 beendet werden. Das wäre ein
gungen international nicht mehr wettbewerbsfähig. Mil- harter Schlag für die betroffenen Regionen gewesen. Alle
liardenschwere Subventionen – fast 2 Milliarden Euro Prämissen für einen geordneten Strukturwandel wären
pro Jahr in den letzten Jahren – waren bisher notwendig, über den Haufen geworfen worden. Beim Kommissions-
damit der deutsche Steinkohlenbergbau wettbewerbsfä- vorschlag blieb außen vor, dass Tausenden Bergleuten be-
hig bleibt. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaft triebsbedingt gekündigt worden wäre. Außerdem wäre es
aber überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit zu massiven Arbeitsplatzverlusten in vom Bergbau ab-
aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies wurde hängigen Bereichen gekommen. Auch der Finanzie-
auch im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 aufge- rungsfahrplan der RAG-Stiftung für die Ewigkeitslasten
griffen. Das soll nicht heißen, dass die Förderung von wäre gefährdet gewesen. Schließlich spielte offensicht-
Steinkohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt lich die in einer Studie festgestellte Klimaneutralität der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12151

(A) Steinkohlenförderung keine Rolle. Mit Beendigung der der derzeitigen Energiedebatte müssen wir uns darüber (C)
Steinkohlenförderung in Deutschland wird nicht automa- im Klaren sein, dass wir über kurz oder lang auf den fos-
tisch die fossile Stromerzeugung reduziert. Vielmehr silen Energieträger Kohle nicht verzichten können, um
wird die deutsche Steinkohle dann durch Importkohle aus unter anderem Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Drittländern ersetzt werden. Hinzu kommt dann die fortbestehende rohstoffliche Be-
deutung insbesondere für die Stahlindustrie und weitere
Nach massiven Protesten unter anderem des Europäi- industrielle Spezialbedarfe.
schen Parlaments ist mit dem Ratsbeschluss vom 10. De-
zember 2010 die weitere Subventionierung des Steinkoh- Betrachtet man dies alles, ist es besonders leichtsin-
lenbergbaus bis 2018 genehmigt worden. Festzuhalten ist nig, dass nach der derzeitigen Rechtslage Steinkohlen-
jedoch: Im gesamten Verfahren auf europäischer Ebene bergwerke, die Stilllegungsbeihilfen nach Art. 3 des
hat die Bundesregierung widersprüchliche Signale nach Ratsbeschlusses seit Beginn 2011 erhalten, diese Beihil-
Brüssel gesandt. Die Bundeskanzlerin war mehr als ein fen komplett zurückzahlen müssen, wenn sie nach 2018
Jahr untätig. Wirtschaftsminister Brüderle hatte offenbar subventionsfrei betrieben werden. Diese Rückzahlungs-
sogar mit einer verkürzten Perspektive für die deutsche verpflichtung behindert jegliche Option auf subven-
Kohle geliebäugelt und war anscheinend auch bereit, die tionsfreie Weiterführung von Bergwerken. Der europäi-
damit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen billi- schen Ebene ging es bei ihrer Entscheidung um ein kla-
gend in Kauf zu nehmen. Wie anders ist es zu interpretie- res Enddatum für den subventionierten Steinkohlenberg-
ren, dass er lediglich einen Prüfvorbehalt einlegte, wäh- bau, ein subventionsfreier Bergbau sollte dabei aber nie
rend die Wirtschaftsminister der ebenfalls betroffenen ausgeschlossen werden. Hier hätte die Bundesregierung
Bergbauländer Spanien und Rumänien gegen die Verkür- im Europäischen Rat besser aufpassen müssen. Jetzt
zungspläne der Kommission Widerspruch einlegten? geht es darum, den von Brüderle & Co. angerichteten
Schaden nachträglich zu reparieren. Dazu haben wir im
Jetzt kann der Steinkohlenbergbau bis 2018 weiter Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mit unserem
subventioniert werden, jedoch ist dafür die Revisions- Entschließungsantrag einen Vorschlag gemacht.
klausel geopfert worden, die Klausel, nach der die Bun-
desregierung dem Deutschen Bundestag bis Mitte 2012 Die Bundesregierung muss mit der Europäischen
einen Bericht vorlegen sollte. Auf Grundlage dieses Be- Kommission und mit dem Europäischen Rat Gespräche
richts sollte dann der Deutsche Bundestag entscheiden, führen, um Wege zu finden, einen subventionsfreien
ob weiterhin eine Förderung der Steinkohle erfolgen Steinkohlenbergbau nach 2018 zu ermöglichen. Außer-
soll. Dabei sollten drei Gesichtspunkte eine Rolle spie- dem muss geprüft werden, wie das Regime der Steinkoh-
len: Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Energieversor- lensubventionierung bis 2018 ausgestaltet werden kann,
um eine subventionsfreie Weiterführung von Steinkoh- (D)
(B) gung und andere energiepolitische Ziele. Jetzt – und
nicht 2012 – und ohne Bericht der Bundesregierung ent- lenbergwerken nicht nur nicht zu behindern, sondern zu
scheiden wir. Dabei erörtern wir nicht die sich fortlau- unterstützen. Das muss zeitnah erfolgen, denn andernfalls
fend verändernde Situation auf dem Weltenergiemarkt könnte der Zugang zu den Lagerstätten nicht offen gehal-
und die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir ten werden.
nehmen uns die Möglichkeit einer umfassenden Bewer-
tung des Steinkohlenweltmarktes. Vor dem Hintergrund Klaus Breil (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetz-
der aktuellen Preisentwicklung auf dem Weltmarkt und entwurf endet ein Jahrzehnte andauerndes Kapitel deut-
der Verknappung, der Verteuerung und dem aufkom- scher Industriegeschichte: Im Jahr 2018 wird der sub-
menden Protektionismus einzelner Länder bei immer ventionierte Steinkohlenbergbau in Deutschland nun
mehr energetischen und nichtenergetischen Rohstoffen verbindlich und mit Zustimmung der EU auslaufen.
ist das leichtsinnig.
Bis zu diesem Zeitpunkt werden die deutschen Steu-
Wie die parlamentarische Anhörung ergeben hat, erzahler jedoch über 140 Milliarden Euro Subventionen
kann insbesondere für die in Deutschland abgebaute für die Steinkohlenförderung aufgebracht haben. Seit
Kokskohle nach 2018 eine Perspektive für einen subven- mehr als 20 Jahren hat sich die FDP im Deutschen Bun-
tionsfreien Abbau nicht von vornherein ausgeschlossen destag deshalb für einen geordneten und sozialverträg-
werden. Der Marktpreis für Kokskohle bewegt sich nicht lichen Ausstieg aus dieser Subventionspolitik eingesetzt.
erst seit der Hochwasserkatastrophe in Queensland auf Die Weichen hierfür stellte der Ende 2007 in Verhand-
hohem Niveau. In diesem Marktsegment ist es vorstell- lungen zwischen dem Bund, den betroffenen Ländern
bar, dass die Wettbewerbsfähigkeit erreicht wird und Nordrhein-Westfalen und Saarland, der IG BCE sowie
Kokskohle dauerhaft konkurrenzfähig angeboten werden der RAG AG errungene Kompromiss im Steinkohle-
könnte. finanzierungsgesetz.
Es geht in dieser Diskussion aber auch um hochquali- Da staatliche Beihilfen für den Steinkohlenbergbau
fizierte Arbeitsplätze im Maschinen- und Anlagenbau. unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die Euro-
Der Bergbau ist ein Erprobungsfeld für weltweit ge- päische Kommission stehen, waren mit dem Ablauf der
fragte Technologien. Der deutsche Maschinen- und An- bisherigen Regelungen zum 31. Dezember 2010 erneut
lagenbau hat hier eine Spitzenstellung in der Welt. Um Gespräche auf europäischer Ebene erforderlich. Vor al-
diese Spitzenstellung zu erhalten und langfristig diese lem dem beharrlichen Einsatz der Bundesregierung – und
Arbeitsplätze in Deutschland zu halten, muss jetzt über das möchte ich an dieser Stelle besonders betonen – für
Perspektiven nachgedacht werden. Vor dem Hintergrund den 2007 gefundenen Konsens ist es zu verdanken, dass
12152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) der erfolgreich begonnene Veränderungsprozess in den und mittelfristig Kraftwerkskohle wettbewerbsfähig an- (C)
Bergbauregionen fortgeführt werden kann und dass ein zubieten.“ Das beschreibt, wie auch das vorhin Gesagte,
verlässlicher Fahrplan den betroffenen Menschen auch eigentlich alles zu der Idee, subventionsfrei weiter Stein-
weiterhin die dafür erforderliche Orientierung bietet. kohle abbauen zu wollen.
Nun mag mancher kritisieren, dass eine Annäherung Was den vorliegenden Gesetzentwurf betrifft, möchte
der Positionen in den Verhandlungen mit der Europäi- ich gleichwohl um Ihre Zustimmung werben. Nur wenn
schen Union nur unter Verzicht auf die bisher im Gesetz wir es gemeinsam schaffen, uns von einer Politik der
enthaltene Revisionsklausel möglich war. Hier stellt sich Subventionsverteilung zu lösen, werden wir die finan-
jedoch die grundsätzliche Frage, ob eine Förderung von ziellen Spielräume für die Beantwortung drängender Zu-
Steinkohle in unseren Regionen jemals zu wettbewerbs- kunftsfragen gewinnen – sei es für die Konsolidierung
fähigen Bedingungen möglich wäre. Auch wenn zuletzt der öffentlichen Haushalte oder für die Beschleunigung
durch Verknappungen des Angebots – unter anderem der Energiewende in unserem Landes. Wir haben durch
durch die Flutkatastrophe in Australien – die Weltmarkt- eine verlässliche Positionierung gegenüber der EU er-
preise für Kraftwerkskohle deutlich bis in den Bereich reicht, dass die Steinkohlensubventionen bis 2018 ge-
von 100 Euro je Tonne gestiegen sind, liegt dieses Preis- ordnet abgebaut werden können. Ein ständiges Rum-
niveau noch weitaus niedriger als die Förderkosten für schrauben an den Modalitäten wird niemandem helfen –
deutsche Steinkohle. Rund 90 Prozent der in Deutsch- schon gar nicht den betroffenen Mitarbeitern.
land im vergangenen Jahr geförderten Steinkohlen-
menge von circa 13 Millionen Tonnen entfielen auf
Kraftwerkskohle. Daher ist deren Preisentwicklung für Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit der heutigen Abstim-
die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit maßgebend, mung soll der Steinkohlenbergbau in Deutschland defi-
nicht der isolierte Blick auf den zeitweilig stärkeren nitiv zu Grabe getragen werden. Wir stehen aufgrund der
Preisanstieg bei Kokskohle. Sollte es zudem am Welt- Fehler der Bundesregierung jetzt vor dem Dilemma,
markt zu einem dauerhaft hohen Preisniveau bei der dass wir diese Gesetzesänderung nicht ablehnen können,
Steinkohle kommen – was bei weiter zunehmender weil sonst die Förderung der heimischen Steinkohle
Nachfrage insbesondere aus Asien möglich ist –, wird schon 2014 beendet werden würde. Die große Koalition
dies einen deutlichen Anstieg der Fördermengen in an- hatte es versäumt, den „Kohlekompromiss“ von 2006
deren Regionen der Erde nach sich ziehen. Die wach- auf der europäischen Ebene bestandsfest zu machen.
sende Rentabilität der Förderung führt zwangsweise zu Prompt hatte die EU-Kommission die Beihilferegelung
einer Anpassung auf der Angebotsseite. Deutschland im letzten Jahr gänzlich infrage gestellt. Nur den Protes-
könnte angesichts seines geringen Anteils von unter ten der Bergleute und der Gewerkschaften ist es zu ver-
(B) 3 Prozent der globalen Vorkommen und angesichts der danken, dass der Bergbau jetzt wenigstens bis 2018 wei- (D)
bestehenden erheblichen geologischen Nachteile mit terlaufen kann. Doch die Genehmigung der Beihilfen
dieser Entwicklung nicht Schritt halten. wurde mit dem Deal erkauft, dass die Revisionsklausel
aus dem deutschen Gesetz gestrichen werden soll.
Hinzu kommt, dass auch die Kosten für den Rückbau
und die Beseitigung unvermeidlich auftretender Schäden So weit, so schlecht. Doch sieht man genau hin, geht
erwirtschaftet werden müssen. Auch insofern haben die der Eingriff mit der heutigen Gesetzesänderung noch
deutschen Lagerstätten in dicht besiedeltem Gebiet er- wesentlich weiter. In der Anhörung des Wirtschaftsaus-
hebliche Nachteile gegenüber dem internationalen Wett- schusses in dieser Woche wurde sehr deutlich, dass Ziel
bewerb. Weder in Bezug auf die Versorgungssicherheit der EU-Kommission definitiv die endgültige Stilllegung
noch auf die Entwicklung der Weltmarktpreise wird so- aller Zechen in Deutschland und in anderen Mitglied-
mit der Steinkohlenbergbau in unserem Land jemals ei- staaten ist. Selbst wenn eine Zeche im Jahre 2018 in der
nen relevanten Einfluss nehmen können. Daher stellt für Lage wäre, ohne weitere Subventionen Steinkohle zu
uns die Streichung der Revisionsklausel eine tragfähige fördern, wird ihr der Garaus gemacht. Dann nämlich, so
Lösung dar. die EU-Verordnung und die Änderung des Steinkohle-
Auf einen weiteren Punkt möchte ich kurz eingehen. finanzierungsgesetzes, muss die Zeche alle Subventio-
Nicht erst in jüngster Zeit ist der Ruf nach dem nen, die sie ab 2011 erhalten haben wird, wieder zurück-
dauerhaften Erhalt eines Referenzbergbaus zu verneh- zahlen. Das ist wirtschaftlich auf keinen Fall zu
men. Begründet wird dieser häufig mit dadurch verbes- schaffen. Das heißt, die Zechen müssen dann so oder so
serten Absatzchancen der heimischen Maschinen- und schließen, ob sie 2018 rentabel sind oder nicht. Das ist
Anlagenbauer. Hierauf kann es nur eine Antwort geben: ökonomischer und arbeitsmarktpolitischer Unsinn.
Die beste Referenz ist der Beweis des leistungsfähigen
und störungsfreien Betriebs deutscher Qualitätsprodukte Selbst wenn nach 2018 kein Bergwerk ohne staatliche
in den weltweit bedeutendsten Fördergebieten. Nur diese Unterstützung weiterlaufen könnte, halten wir es für das
Argumente erhöhen die Marktchancen für „Made in Mindeste, über Technologieförderung wenigstens eine
Germany“ nachhaltig. Grube für die Sicherung des technologischen Know-
hows offen zu halten. Die Folgen der Zechenschließun-
Zum Antrag der SPD möchte ich die Stellungnahme gen betreffen nicht nur die Beschäftigten in den Berg-
des Gesamtverbandes Steinkohle e. V. zur öffentlichen werken. An der Kohleförderung hängt ein moderner Ma-
Anhörung am 11. April 2011 zitieren: „Die deutsche schinen- und Anlagenbau. Allein die Technologiesparte
Steinkohle ist aus heutiger Sicht nicht in der Lage, kurz- der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Men-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12153

(A) schen in NRW. Nur mit dem Erhalt eines Referenzberg- wegen, Steinkohlensubventionen bis 2018 statt bis 2014 (C)
werks können diese Arbeitsplätze in Deutschland erhal- zuzulassen. Deutschland musste aber zusichern, die Re-
ten werden. Mittelfristig kann die Kohle auch ein visionsklausel im deutschen Steinkohlefinanzierungsge-
wichtiger Ersatzrohstoff für das zur Neige gehende setz zu streichen, damit der subventionierte Bergbau bis
Erdöl als Grundstoff der petrochemischen Industrie wer- 2018 definitiv beendet wird. Denn bisher heißt es in § 1
den. Je nach der Entwicklung auf den Rohstoffmärkten Abs. 2 des Steinkohlefinanzierungsgesetzes, dass die
werden wir eines Tages vielleicht noch heilfroh sein, Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis spätes-
wenn wir heute die heimischen technologischen Kompe- tens 30. Juni 2012 einen Bericht zuleitet, auf dessen
tenzen im Bergbau nicht völlig vernichten. Grundlage der Deutsche Bundestag unter Beachtung der
Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, der Sicherung der
Eine Beendigung der heimischen Steinkohlenförde- Energieversorgung und der übrigen energiepolitischen
rung ist kein Beitrag zum Klimaschutz, solange nicht Ziele prüft, ob der Steinkohlenbergbau weiter gefördert
gänzlich aus der Kohleverstromung ausgestiegen wird. wird.
Sie verlagert nur die Umweltkosten und Arbeitsplätze
ins Ausland. Verstehen Sie uns nicht falsch – wir teilen Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf
das Nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke. Kohle- und sieht eine Streichung genau dieses Absatzes vor. Dies ist
Atomkraftwerke blockieren den dringend notwendigen ein richtiges, vernünftiges und auch absolut notwendiges
Umstieg auf erneuerbare Energien. Aber mit der Be- Zeichen an Europa. Denn die Revisionsklausel war von
endigung der heimischen Steinkohlenförderung wird Anfang an überflüssig und unsinnig. Sie hat verhindert,
kein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nur die hei- dass alle Beteiligten Planungssicherheit haben und sich
mische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Entschei- langfristig auf das unvermeidliche Ende des Steinkoh-
dung an diesem Punkt heißt deshalb nicht „Kohle? Ja lenbergbaus einstellen konnten. Wir Grüne haben im
oder Nein“, sondern „aktive Industriepolitik oder Wirt- letzten Jahr schon lange vor der Diskussion auf EU-
schaftsliberalismus?“. Wir treten für eine aktive Indus- Ebene hier im Bundestag entsprechende Anträge ge-
triepolitik und für den Erhalt von Industriearbeitsplätzen stellt. Die Bundesregierung muss sich jedoch vorwerfen
durch einen sozial-ökologischen Umbau ein, nicht aber lassen, hier lange Zeit untätig gewesen zu sein. Schon
für eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Vernich- viel früher hätte sie durch konkrete Gesetzesinitiativen
tung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie. Planungssicherheit für alle Beteiligten schaffen und zu-
sätzliche, neue Bergschäden, Altlasten und Ewigkeits-
kosten vermeiden können.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nach den Beratungen in den Ausschüssen und der Anhö- Doch die Bundesregierung brauchte anscheinend erst
(B) rung zur Streichung der Revisionsklausel und der damit den Druck aus Brüssel, um durch den heute zur Abstim- (D)
verbundenen Änderung des Steinkohlefinanzierungsge- mung vorliegenden Gesetzentwurf den europäischen
setzes im Wirtschaftausschuss beraten wir heute über Partnern ernsthaft zu versichern, dass 2018 endlich
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Streichen Schluss ist. Ansonsten hätten Sie bereits im vergangenen
der Revisionsklausel im Steinkohlefinanzierungsgesetz Jahr unseren Anträgen „Steinkohlesubventionen jetzt
in zweiter und dritter Lesung. überprüfen“ und „Subventionierten Steinkohlebergbau
sozialverträglich beenden“ im Bundestag zugestimmt.
Grund dafür ist, dass sich im Jahr 2007 die damalige
Große Koalition im Bund, die Länder, die RAG und die Dass die Streichung der Revisionsklausel ein richtiges
IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten und glaubhaftes Instrument für das Ende des nicht-wett-
Steinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt hatten – bewerbsfähigen Bergbaus in Deutschland ist, hat auch
mit der Vorgabe, dies aufgrund einer Revisionsklausel die Anhörung an diesem Montag im Wirtschaftsaus-
im Jahr 2012 noch einmal zu überprüfen. Dabei wurde schuss des Deutschen Bundestages ergeben. Bis auf die
es jedoch von der damaligen Großen Koalition im Bund Interessenvertreter des Steinkohlenbergbaus waren sich
und der damaligen schwarz-gelben Landesregierung in alle Fachleute und Wissenschaftler einig: Eine Überprü-
Nordrhein-Westfalen versäumt, das deutsche Steinkohle- fung der Steinkohlensubventionen durch die sogenannte
finanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich ab- Revisionsklausel im Jahr 2012 ist überflüssig und nicht
zusichern. Denn es gab vonseiten der EU-Kommission mit den EU-Vorgaben vereinbar. Es ist daher nur ver-
nur eine Zustimmung für ein Fortführen der Subventio- nünftig, den Empfehlungen der Experten zu folgen und
nen bis 2011. Rückblickend muss man sagen, dass dies durch das Streichen der Revisionsklausel den anderen
eine arrogante Haltung der damaligen Bundes- und Lan- EU-Staaten ernsthaft zu belegen, dass Deutschland 2018
desregierungen war, die sich im Juli 2010 gerächt hat. endgültig seine Beihilfen für den Steinkohlenbergbau
Denn zu diesem Zeitpunkt machte die EU-Kommission beenden wird.
einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates, die
Steinkohlenbeihilfen bereits im Oktober 2014 einzustel- Die Forderung der SPD und der Linken nach einer
len. Fortführung der nichtwettbewerbsfähigen Steinkohlen-
förderung in Deutschland scheint momentan jedoch in
Nur durch erheblichen politischen Druck und wahr- eine ähnliche energiepolitische Sackgasse zu laufen, wie
scheinlich auch durch viele sachfremde Zugeständnisse das bei Union und FDP vor wenigen Monaten in der
in anderen Politikfeldern konnte Deutschland die Kom- Atomfrage der Fall war. Rot-Rot scheint auch insofern
mission und die anderen Mitgliedstaaten doch noch be- an alten Strukturen festhalten zu wollen, statt die Ener-
12154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) giewende zu beschleunigen. Dies hat nicht zuletzt auch Anlage 9 (C)
der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion im Wirt-
schaftsausschuss gezeigt. Darin wird offen gefordert, mit Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
der EU-Kommission und dem EU-Rat Gespräche zu – Antrag: Deutschland im UN-Sicherheitsrat –
führen, um den Steinkohlenabbau auch weiterhin in Nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution
Deutschland zu ermöglichen. Angesichts der bereits jetzt 1325 jetzt erstellen
gezahlten Milliardensummen und angesichts der entstan-
denen Bergschäden und Ewigkeitskosten frage ich mich – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
ernsthaft, ob dies gerade in der jetzigen energie- Anträgen:
politischen Diskussion der richtige Weg ist. Wollen Sie, – 10 Jahre UN-Resolution 1325 „Frauen,
liebe Sozialdemokraten, nach der Debatte im letzten Jahr Frieden und Sicherheit“
gegen die EU-Kommission und die große Mehrheit der
anderen Mitgliedstaaten – wo wir doch fast schon bei ei- – Verpflichtung zur UN-Resolution 1325
nem Aus 2014 gelandet wären –, das Fass noch mal auf- „Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhal-
machen? Das können Sie nicht ernst meinen. Kommen ten – Auf Gewalt in internationalen Kon-
Sie endlich im 21. Jahrhundert an! Der Steinkohlenberg- flikten verzichten
bau hat in Deutschland aus vielen Gründen keine Zu-
– 10 Jahre UN-Resolution 1325 – Frauen,
kunft mehr. Frieden, Sicherheit – Nationaler Aktions-
Statt viele Milliarden Euro in schwarzen Löchern zu plan für eine gezielte Umsetzung
versenken, brauchen wir das Geld viel dringender für (Tagesordnungspunkt 20 a und b)
den Strukturwandel in den betroffenen Regionen, um
den Umbau der Energieversorgung weg von den fossilen
Energieträgern hin zu den erneuerbaren Energien zu be- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Ich mache nun seit vie-
werkstelligen. Dabei steht die Sozialverträglichkeit der len Jahren Entwicklungspolitik. Und in all den Jahren
Beendigung des Steinkohlenbergbaus nicht infrage. Bis habe ich immer Gewalt gegen Frauen angeprangert. Ich
allerspätestens 2018 ist nun Zeit, alles sauber zu beenden habe immer die Bedeutung von Frauen in Konflikten
und in der Zeit bis dahin, wo immer möglich, das Entste- und die Prävention betont. Und ich habe immer darauf
hen neuer Ewigkeitslasten zu vermeiden. gepocht, die gesellschaftliche Stellung von Frauen in
den Entwicklungsländern zu verbessern. Das war und ist
Ohne Zweifel, mit der heutigen Entscheidung geht für mich nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern
eine lange Bergbautradition an Saar und Ruhr zu Ende, auch ein Herzensanliegen.
(B) die ganze Generationen und das Gesicht der Regionen (D)
Daher begrüße ich ausdrücklich die Sicherheitsratsre-
geprägt und eine ganz entscheidende Rolle bei der In-
solution 1325, die die überaus wichtige Rolle von
dustrialisierung und dem Wiederaufbau Deutschlands
Frauen in Konflikten, deren Prävention und bei der ge-
nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Dass vielen
sellschaftlichen Aufarbeitung von Konflikten aner-
Menschen der Abschied von Steinkohlenbergau auch
kennt.
aus emotionalen Gründen schwer fällt, kann ich gut ver-
stehen. Man muss aber auch sehen: Der Bergbau hat Für mich als Entwicklungspolitikerin verbindet sich
auch zu beträchtlichen Altlasten und Ewigkeitskosten damit die Aufgabe, noch mehr die zentrale Rolle von
geführt. Auf ewig werden unsere Nachkommen an diese Frauen für Sicherheit und Entwicklung in unseren Part-
Zeit erinnert werden, denn sie werden ewig – solange nerländern zu betonen. Sie müssen sowohl in ihren
Menschen im Ruhrgebiert und am Niederrhein leben Rechten als auch in ihrer sozialen Stellung gestärkt wer-
werden – pumpen müssen, um durch den Bergbau abge- den; denn nur so bekommen sie in Konfliktländern die
senkte Flächen zu entwässern. Hinzu kommt die Unter- gesellschaftliche Rolle, die ihnen zusteht. Daher begrüße
haltung von Deichen, die Sanierung Tausender alter ich ausdrücklich die diversen Strategien des BMZ, sei es
Schächte und vieles mehr. Auch Gebäudeschäden, Infra- der entwicklungspolitische Gender-Aktionsplan, der den
strukturschäden und Umweltschäden werden uns und die Rahmen für unser entwicklungspolitisches Handeln vor-
nachfolgenden Generationen dauerhaft begleiten. Ob gibt, oder sei es das Grundlagenpapier „Stärkung der
und wie viel unsere Nachkommen dafür zahlen müssen, Teilhabe von Frauen in der Entwicklungszusammenar-
ist ungeklärt. Denn ob die Einnahmen der RAG-Stiftung beit“, das Wege beschreibt, wie Frauen in ihrer Teilhabe
aus dem Verkauf der Evonik für alle Ewigkeitskosten gestärkt werden können. Wenn uns das Empowerment
ausreichen, ist längst nicht sicher. von Frauen – also ihre Befähigung, ihr Leben selbstbe-
stimmt in die eigenen Hände zu nehmen – noch besser
Vor diesen Hintergründen und in Anbetracht der Si- gelingt als bisher, wäre dies ein großer Beitrag der Ent-
tuation des Bundeshaushaltes unterstützen wir Grünen wicklungspolitik zur Erfüllung der Resolution 1325.
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Streichung
der Revisionsklausel im deutschen Steinkohlefinan- Denn Frauen tragen bis heute in Konflikten, aber auch
zierungsgesetz. Wir hätten uns einen Ausstieg aus den beim Wiederaufbau oftmals die Hauptlast, ohne dass sie
Subventionen auch einige Jahre eher vorstellen können, über entsprechenden politischen Einfluss verfügen. Da-
wollen heute jedoch konstruktiv dazu beitragen, dass her ist diese Resolution für mich ein Meilenstein, denn
nun durch eine breite Mehrheit das Ende der Steinkohlen- sie erkennt unmissverständlich an, dass Frauen ein Teil
subventionen 2018 endgültig besiegelt ist. von Friedensprozessen sein müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12155

(A) Frauen in den Konfliktgebieten der Welt können sich Daher kann ich beim besten Willen keinen Mehrwert (C)
auf diese Resolution berufen. Jetzt ist es an den Natio- durch einen eigenen nationalen Aktionsplan erkennen.
nalstaaten, diese Resolution mit Leben zu füllen, und wir Zu beiden Zielen eines solchen nationalen Aktionsplans
alle wissen, dass es daran mitunter noch gewaltig hapert. – der Umsetzung der Resolution und der Überprüfbar-
keit der Ergebnisse – würde ein Aktionsplan keinen
Anlässlich der Verabschiedung der Sicherheitsratsre- Mehrwert erbringen. Somit wäre ein unter den Bundes-
solution 1325 vor zehn Jahren liegen heute einige An- ressorts abgestimmter Aktionsplan allenfalls von symbo-
träge auf dem Tisch. Im SPD-Antrag finden sich viele lischem Wert. Doch die Wirkung einer solchen Symbo-
wichtige und richtige Feststellungen, die ich ausdrück- lik ist sehr begrenzt. Ich bin der Meinung, dass die
lich unterstütze. Auch die Fakten sind klar und eindeu- erheblichen Ressourcen, die ein solches Dokument in
tig, soweit der Antrag mangelnde Fortschritte bei der unseren Ministerien binden würde, besser genutzt wer-
Umsetzung – wohlgemerkt, weltweit – beklagt. In den können. Denn: Symbolik beendet nicht die Massen-
51 Ländern ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen doku- vergewaltigungen im Kongo, im Tschad oder Sudan,
mentiert. Hier gibt es nichts zu beschönigen oder zu rela- Symbolik beendet nicht die Straflosigkeit nach
tivieren. schlimmsten Verbrechen wie Mehrfachvergewaltigun-
gen an Kindern, Frauen oder Greisen, wie sie in einigen
Aber der Antrag fordert auch einen „nationalen Ak-
Konflikten in Form von sexualisierter Gewalt vorge-
tionsplan“ zur Umsetzung der Resolution. Nun haben
kommen sind, und Symbolik in Form eines deutschen,
wir uns in der Fraktion mit diesem Thema lange und in-
nationalen Aktionsplans wird Menschenrechtsverbre-
tensiv beschäftigt und die Argumente gegeneinander ab-
cher nicht davon abhalten, die Zerstörung von Frauen in
gewogen. Im Ergebnis haben wir uns nach heutigem
einigen Konflikten als Kriegsziel anzusehen.
Kenntnisstand gegen einen Aktionsplan ausgesprochen.
Denn ein solcher nationaler Aktionsplan würde gegen- Wir sollten daher unsere politische Arbeit nicht auf
über dem bestehenden deutschen Engagement keinen eine Debatte über einen in meinen Augen überflüssigen
entscheidenden Mehrwert erzeugen. Bis heute konnte deutschen Aktionsplan konzentrieren. Vielmehr sollten
mich niemand überzeugen, worin der politische Mehr- wir versuchen, die Ursachen für solch schreckliche Kon-
wert eines solchen Aktionsplans liegen könnte. Daher flikte und Verbrechen an Frauen zu beseitigen. Damit
war diese Forderung auch nicht in unserem umfassenden wäre dem Geist der Resolution 1325 wesentlich besser
Antrag vom 3. März 2010 „Internationaler Frauentag – geholfen. Darum lautet das Votum zu den Oppositions-
Gleichstellung national und international durchsetzen“ anträgen Ablehnung.
(Bundestagsdrucksache 17/901) enthalten. Ein Aktions-
plan soll ja die Regierungen dazu anhalten, die Resolu-
(B) tion umzusetzen und das Engagement nachprüfbar zu Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Heldin (D)
machen, insbesondere für das Parlament. Ich kann mir Lysistrata des griechischen Dichters Aristophanes und
vorstellen, dass solche Aktionspläne in vielen Ländern ihre Initiative, durch die sexuelle Verweigerung der
dringend notwendig wären, in denen es gravierende De- Frauen die Männer zum Frieden zu zwingen, ist allge-
fizite hinsichtlich der Umsetzung der Resolution 1325 mein bekannt. In Liberia hat es vor einigen Jahren Nach-
gibt. Zumindest fallen mir mehr Länder ein als die bis- ahmerinnen – wenn auch mit anderen Mitteln – gefun-
lang rund zwei Dutzend, die einen nationalen Aktions- den:
plan verabschiedet haben.
Während des schrecklichen Krieges – der bis 2003
Doch Sie stimmen mir sicherlich zu, dass die Bundes- rund 250 000 Menschenleben forderte und in dem etwa
regierung die Ziele und Verpflichtungen aus der Resolu- drei Viertel aller Frauen und Mädchen vergewaltigt wur-
tion 1325 sehr ernst nimmt: den – entstand ein ganzes Netzwerk von Frauenorganisa-
tionen, das sich für die Schaffung von Frieden einsetzte.
Deutschland gehört der „Freundesgruppe der Resolu- Christinnen und Musliminnen beteten und demonstrier-
tion 1325“ an, Deutschland nimmt an den jährlichen of- ten zu Tausenden gemeinsam und sammelten sich vor
fenen Debatten im Sicherheitsrat teil, und Deutschland dem Präsidentenpalast in Monrovia. Sie haben in weißen
setzt sich für die Berücksichtigung der in der Resolution T-Shirts gegen die Kriegsgewalt angeschwiegen. Die li-
enthaltenen Forderungen in allen VN-Gremien ein. Die berianischen Frauen haben sich außerdem mit Frauen
nationale Umsetzung der Resolution erfolgt durch die aus Sierra Leone und Guinea zusammengeschlossen und
verschiedenen beteiligten Ressorts. Dazu wurde eigens die Verantwortlichen durch ihre Demonstrationen an den
eine Ressortarbeitsgruppe 1325 eingerichtet. Und seit Verhandlungstisch gebracht. Während der Verhandlun-
2004 berichtet die Bundesregierung dem Bundestag über gen 2003 haben sie unter der Anführung von Leymah
die Umsetzung der Resolution 1325. Gbowee das Haus umzingelt und den Männern gedroht,
sie vor dem Abschluss eines Friedensabkommens nicht
Aber auch im europäischen Kontext engagiert sich die herauszulassen. Der Krieg fand ein Ende.
Bundesregierung: Die EU wendet die Resolution 1325 im
Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi- Die Frauen haben sich ihr Mitspracherecht genom-
gungspolitik an, zum Beispiel in Form von Richtlinien men und sich religions- und grenzübergreifend zusam-
für die Umsetzung der Resolution in europäischen Frie- mengeschlossen, während die Männer sich abgeschlach-
denseinsätzen oder durch Ratsschlussfolgerungen zur tet und die Frauen der jeweiligen Gegner vergewaltigt
Berücksichtigung von Gleichstellungsaspekten im Kri- haben. Bei den konkreten Friedensverhandlungen wur-
senmanagement. den die Frauen dann übrigens wieder ausgeschlossen,
12156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) aber: Frauenorganisationen haben anschließend bei der Das macht deutlich: Was wir brauchen, ist ein natio- (C)
Entwaffnung und Demobilisierung der Rebellengruppen naler Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325.
geholfen und sich für eine Frauenquote von 30 Prozent Kofi Annan hat die Zeichnerstaaten bereits 2005 dazu
im Parlament eingesetzt. Für Letzteres erhielt Etweda aufgefordert. 15 europäische Staaten – zuletzt Frank-
Cooper einen 1325-Award. Seit 2005 hat Liberia eine reich und Estland – sind seiner Forderung in der Zwi-
weibliche Präsidentin, die erste in Afrika, welche nicht schenzeit gefolgt, das Europäische Parlament rät dazu.
nur Vergewaltigung unter Strafe gestellt hat, sondern Deutschland sollte sich dem als Mitglied im UN-Sicher-
derzeit auch eine weibliche Polizeitruppe in Monrovia heitsrat nicht länger verweigern – wobei ich mir auch
aufbaut. wünschen würde, dass mit dem eigenen Aktionsplan im
Hintergrund die Bundesregierung auch die UN-Gremien
Das Beispiel aus Liberia macht deutlich, was der Hin- glaubwürdig an ihre Pflicht zur Umsetzung erinnern
tergrund der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden, Si- würde: Immerhin nahmen nach Informationen der GTZ
cherheit“ ist, an deren 10-jähriges Bestehen wir uns im an UN-Friedensmissionen neben 78 407 Männern nur
Oktober 2010 erinnern konnten. Wir haben diese Reso- 1 794 Frauen teil.
lution als „historischen Meilenstein“ bezeichnet, weil sie
neben der Verurteilung von sexualisierter Gewalt an Alle Oppositionsparteien fordern heute diesen deut-
Frauen die Frauen aus der einseitigen Opferrolle heraus- schen nationalen Aktionsplan in ihren Anträgen. Des-
holt und fordert, Frauen zu Akteurinnen in der Friedens- halb ist es gut und richtig, dass wir alle Oppositionspar-
schaffung und Konfliktbeilegung zu machen. teien zusammen – und das ist ein Novum in diesem
Parlament – einen Entschließungsantrag vorlegen, der
In der damaligen Debatte im Plenum hatte ich bedau- diese gemeinsame Forderung unterstreicht.
ert, dass CDU/CSU und FDP keinen eigenen Antrag
vorgelegt haben, um ihre Vorstellungen zur Umsetzung Wir fordern, dass ein nationaler Aktionsplan in enger
der Resolution zur Diskussion zu stellen. Nun haben wir Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Experten er-
April, und Sie haben sich immer noch nicht positioniert. arbeitet wird. Dieser soll die volle Umsetzung der Reso-
Und die Zustimmung der Koalitionäre im Unteraus- lution 1325 und der damit verbundenen drei weiteren
schuss „Zivile Krisenprävention“ zum SPD-Antrag Resolutionen sicherstellen und über eine Berichtspflicht
scheint ja wohl eher ein Versehen gewesen zu sein und die regelmäßige Evaluierung der Maßnahmen transpa-
wurde deshalb im Auswärtigen Ausschuss durch eine rent machen. Dieser Aktionsplan muss angemessen bud-
Ablehnung „geheilt“. Ich finde, Sie könnten Ihrer Regie- getiert werden.
rung gegenüber ein bisschen mutiger sein, wenn es um
die Rolle von Frauen in Konflikten geht. Lassen Sie mich – auch im Nachgang zum Interna-
tionalen Frauentag – zum Schluss zu dem Geist von
(B) Ihr Verhalten kann ich umso weniger verstehen, als Lysistrata und den Frauen in Liberia zurückkommen: (D)
wir in der Großen Koalition doch einen gemeinsamen Sie haben es geschafft, Kriege zu beenden – gemeinsam.
Antrag (Drucksache 16/3501) eingebracht haben. Ich Bei den friedlichen Revolutionen in Ägypten und Tune-
darf Ihnen den Inhalt diesen Antrages vielleicht kurz in sien haben viele Frauen in der vordersten Reihe gestan-
Erinnerung rufen. Wir erkannten darin unter anderem an, den. Sie haben der Revolution ihr Gesicht gegeben und
dass die Fortschritte zur Umsetzung der UN-Resolution das Bild des Islam korrigiert, das viele zu Unrecht ha-
1325 mehr als bescheiden sind, weil sich vor allem in ben. Dafür sollten wir ihnen danken.
der Lebenswirklichkeit der Frauen nicht viel verändert
hat. Deshalb forderten wir die Bundesregierung auf, für Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Zehn Jahre ist sie nun
die konsequente und zeitgerechte Umsetzung des UN- her: die einstimmige Verabschiedung der UN-Reso-
Aktionsplanes einzutreten. lution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ auf der Sit-
Und was haben Sie seit dem Regierungswechsel zu zung des UN-Sicherheitsrats. Wir sehen diese Resolu-
Schwarz-Gelb von unseren Einsichten umgesetzt? Lei- tion als Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses, der
der nicht sehr viel. Nicht einmal, wenn Sie direkt die schon weit vor der Pekinger Weltfrauenkonferenz be-
Möglichkeit hatten, ein gleichstellungspolitisches Auge gann. Wir sehen diese Resolution aber nicht als Ab-
auf die Besetzung von Vorständen, wie bei der Deut- schluss und Deckel des Prozesses. So gibt dieses Jubilä-
schen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, umsjahr, das am 31. Oktober 2010 begann, Anlass für
GIZ, zu haben. Obwohl GTZ, Inwent und DED ausrei- Würdigungen, aber manchmal auch kritische Analysen
chend Top-Frauen aus dem Executive und Upper Ma- der Resolution 1325 und ihrer Nachfolger.
nagement zu bieten hatten, beruft ihr Entwicklungsminis- Ich begrüße die Diskussion dieses oft an den Rand ge-
ter Niebel ausschließlich sieben (!) Männer – und scheut drängten Themas hier im Deutschen Bundestag sehr. Si-
nicht davor zurück, auch seinen alten (Partei-)Kumpel cherheit und Frieden sind die definierten Hauptaufgaben
Tom Pätz, der zuletzt lokale Talkshows in Bonn mode- des UN-Sicherheitsrats. Sicherheit und Frieden sind aber
rierte, dort „hineinwählen“ zu lassen. Selbst der sonst so auch zwei Aspekte, welche die Umsetzung dieser Reso-
vorsichtige Personalrat des BMZ warf Niebel bereits lution bestimmen.
letztes Jahr vor, er missachte den „Grundsatz der Beset-
zung öffentlicher Ämter nach Leistung, Befähigung und Die Resolution und die folgenden Resolutionen wei-
Eignung“ (Spiegel, 1. März 2010). Ich füge auch hinzu: sen auf vielfältige Bedrohungen durch die mangelnde Si-
Herr Niebel, Sie haben auch diese wichtige UN-Resolu- cherheit der Zivilbevölkerung hin und fordern verstärkte
tion missachtet! Sicherheitsmaßnahmen. Dabei bildet die starke Bedro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12157

(A) hung und Unsicherheit von Frauen und Kindern die Aus- verkneifen. Ihr Antrag ist ideologisch geprägt und for- (C)
gangslage dieser Resolution. dert eine Vielzahl von Maßnahmen, die teuer sind und
deren Zweckmäßigkeit zweifelhaft ist. In Ihrer sechsten
Allerdings wird nicht nur auf deren besondere
Forderung unterstellen Sie der Bundesregierung, sie un-
Schutzbedürftigkeit und die mangelnde Sicherheit hin- terstütze Regime, die Kindersoldaten einsetzen und
gewiesen, sondern es wird auch ihre herausragende sonstige Rechtsverstöße begehen.
Rolle für das Gelingen von Friedensprozessen betont.
Ich kann Ihnen eins sagen: Das ist nicht der Fall.
Seit der Beschlussfassung der Resolution 1325 vor
Ganz im Gegenteil werden solche Regime sanktioniert,
über zehn Jahren gibt es einen vielfältigen Prozess der
und die Bundesregierung setzt sich überall weltweit ein,
Umsetzung. Und es gibt Länder, die den Verpflichtungen
dass sie in ihrer Haltung von anderen Staaten ebenso un-
der Resolution durch die Umsetzung eines nationalen
terstützt wird. Mit solchen Regimen arbeitet die deut-
Aktionsplanes nachkommen. Es gibt Länder, die halten
sche Bundesregierung definitiv nicht zusammen.
dies für den richtigen Weg der Umsetzung. Das wird hier
in diesem Haus auch in einigen Anträgen der Opposition Wir haben mit der Entwicklung des vernetzten Ansat-
gefordert. Deren politische Stoßrichtung – so wie sie in zes ziviler und militärischer Mittel in Konfliktsituatio-
den Anträgen dargestellt wird – teilen wir allerdings nen einen großen Schritt nach vorne gemacht. Das
nicht. Thema hat in der jüngsten Vergangenheit eine größere
Bedeutung erlangt. Krisen und Konflikte sind komplexer
Die Bundesregierung berücksichtigt die völkerrechts-
geworden in den vergangenen Jahren. So müssen wir ne-
verbindliche Resolution der Vereinten Nationen, sowohl
ben dem klassisch-militärischen Bereich auch die öko-
in ihren nationalen als auch in ihren internationalen Poli-
nomische, entwicklungspolitische, soziale und kulturelle
tikstrategien. Die Bundesregierung hat mit dem Aktions-
Komponente vor Augen haben. Prävention, Bewältigung
plan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Frie-
und Nachsorge von Konflikten kann unter den Bedin-
denskonsolidierung“ bereits ein sehr umfassendes
gungen unseres Jahrhunderts nur funktionieren, wenn
Instrument geschaffen. Das ist meiner Meinung nach
unterschiedliche Maßnahmen in einem umfassenden
völlig ausreichend, um eine zielorientierte Umsetzung
Konzept miteinander vernetzt werden.
der UN-Resolution 1325 zu erreichen. Daher halte ich
die Konstruktion eines weiteren nationalen Aktionsplans Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Umsetzung
an dieser Stelle nicht für hilfreich. Deshalb können wir der UN-Resolution 1325 ist auch zehn Jahre nach ihrer
die Hauptforderung Ihrer Anträge nicht unterstützen. Verabschiedung auf einem guten Wege. Die Bundesre-
Die Bundesregierung ist sich ihrer Pflicht bewusst und gierung weiß um ihre Pflicht und handelt. Daher sind die
handelt schon. hier vorliegenden Oppositionsanträge nicht notwendig.
(B) (D)
Der Förderung von Frauen, Frieden und Sicherheit
auf internationaler Ebene kommt die Bundesregierung Christine Buchholz (DIE LINKE): Vor zehn Jahren
nach – gerade auch in ihrer neuen Funktion als Mitglied hat die UNO die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und
des UN-Sicherheitsrates. Sicherheit“ verabschiedet. Die Bundesregierungen der
letzten zehn Jahre haben es versäumt, einen Aktionsplan
Die UN-Resolutionen zeichnen sich durch relativ zur Umsetzung dieser Resolution zu erarbeiten. Deshalb
klare und entschiedene Formulierungen und Absichtser- sind wir uns mit SPD und Grünen einig: Die Regierung
klärungen aus. In der Realität herrscht immer noch ein muss einen Aktionsplan vorlegen.
etwas anderes Bild vor: Der Frauenanteil in militäri-
schen EU-Missionen zum Beispiel liegt bei circa Die entscheidende Frage ist allerdings, was der Inhalt
6 Prozent und in den zivilen Missionen bei 8 Prozent. eines Aktionsplanes ist. Die Linke ist hier gänzlich ande-
Vor diesem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache, rer Meinung als die Bundesregierung, aber auch als SPD
dass die Forderung, Frauen auf allen Ebenen einzubezie- und Grüne. Letztere rühmen sich, in ihrer Regierungszeit
hen, zunehmend energischer diskutiert wird. „die Geschlechterperspektive in UN-Mandate für Frie-
densmissionen“ wie Afghanistan 2001 aufgenommen zu
Weitere Resolutionen wurden verabschiedet mit der haben. Die vorliegende UN-Resolution und alle Fraktio-
Maßgabe, die Rolle der Frauen als friedenspolitische nen des Bundestags außer der Linken schließen Krieg in
Akteurinnen zu stärken und sie nicht primär oder gar ihre Politik mit ein. Für uns dagegen ist Krieg kein Mit-
ausschließlich als schutzbedürftig zu betrachten. Frauen tel der Politik und schon gar kein Mittel, um Frauen-
werden – nicht nur in der Friedens- und Sicherheitspoli- rechte durchzusetzen. Krieg bringt Krieg und keinen
tik – berücksichtigt und gefördert. Das ist auch wichtig; Frieden!
das steht außer Frage. Dass in diesem Zusammenhang
der Wunsch nach einer Quotierung besteht, ist nachvoll- In der Resolution wird ein Aktionsplan zur „Mitwir-
ziehbar, jedoch nicht zielführend. Bereits jetzt achtet die kung von Frauen in Entscheidungsfunktionen bei Kon-
Bundesregierung in der Arbeit in allen Ressorts auf das fliktbeilegungs- und Friedensprozessen“ gefordert. Das
sogenannte Gender-Mainstreaming. Auch dies ist schon Gegenteil ist der Fall. Frauen werden als Soldatinnen
eine gelungene Umsetzung der hier vorgelegten Wün- oder für Propagandazwecke instrumentalisiert, oder sie
sche und wesentlich produktiver als auf eine quantitative werden zum Opfer von Kriegen.
Quote zu setzen.
Die Bundesregierung hat den Anteil von Soldatinnen
Eine kurze Stellungnahme zum vorliegenden Antrag in der Bundeswehr seit dem Jahr 2001 verdreifacht. Die
der Kollegen von den Linken kann ich mir nicht gänzlich NATO betont, wie enorm wichtig Frauen für den Erfolg
12158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) des Krieges in Afghanistan seien; mehr Soldatinnen ver- UNO eine völkerrechtlich verbindliche Vorgabe zur Be- (C)
besserten den Schutz der eigenen Truppen. Für die Bun- teiligung von Frauen an der Bewältigung von gewalttäti-
desregierung und für die NATO sind Frauen Mittel zum gen Konflikten und beim Friedensaufbau.
Zweck, um den Krieg zu gewinnen. Das ist pervers!
Allerdings mussten wir anlässlich des zehnjährigen
Schicksale afghanischer Frauen werden benutzt, um Jubiläums im letzten Jahr auch feststellen, dass die Bi-
hierzulande den Krieg zu rechtfertigen. Ich zitiere ein lanz mehr als ernüchternd ist: In den meisten Konflikten
von WikiLeaks veröffentlichtes CIA-Dokument: „Af- sehen sich die Parteien nicht an die Resolution 1325 ge-
ghanische Frauen könnten als ideale Botschafterinnen bunden. Frauen werden eben meistens nicht am Frie-
dienen“. Ihre Medienauftritte sollen „helfen, die unter densaufbau beteiligt. So ergaben Stichproben von
westeuropäischen Frauen weitverbreitete Skepsis gegen- UNIFEM bei 24 UN-gestützten Friedensverhandlungen
über dem Afghanistan-Einsatz zu überwinden“. zwischen 1992 und 2008: Nur 7,6 Prozent der Verhan-
delnden, nur 3,2 Prozent der Vermittelnden und nur
Jedes Jahr wieder wird die Fortsetzung des Krieges in 2,5 Prozent der Unterzeichnenden waren weiblich. Ich
Afghanistan von Vertreterinnen und Vertretern aller Par- nenne ein aktuelles Beispiel, nämlich die Umbrüche in
teien von FDP bis SPD damit begründet, man könne die der arabischen Welt. Zwar haben die Frauen in Tunesien
Frauen jetzt nicht im Stich lassen. Die Bundesregierung und Ägypten maßgeblich dafür gesorgt, dass die Despo-
schrieb letztes Jahr auf ihrer Internetseite: „Mit der Mo- ten abtreten mussten, aber jetzt, nach der Revolution, bei
dernisierung des Landes wird sich auch die Lage der der Gestaltung der neuen Demokratien, sollen sie wieder
Frauen kontinuierlich verbessern. Daran wirken wir zurück an den Katzentisch. Das darf nicht sein. Lassen
mit.“ sie uns hier ganz klar die Frauen in Ägypten mit ihren
Aber was bedeutet der Krieg vor Ort? Ich selbst habe Forderungen unterstützen. Auch Frauen müssen in der
mich in der afghanischen Provinz Kunduz mit Frauen Verfassungskommission und in den Übergangsstruktu-
getroffen, deren Männer und Söhne am 4. September ren, die jetzt die Demokratie aufbauen, vertreten sein.
2009 auf Befehl der Bundeswehr getötet wurden. Sie ha- Auch Gewalt gegen Frauen wird in vielen Kriegen
ben nicht nur ihre Angehörigen, sondern meist damit weiter systematisch als Kriegswaffe eingesetzt, wie zum
auch ihre Existenz und Zukunft verloren. Denn auch Beispiel im Ostkongo. Dort finden seit Jahren massen-
zehn Jahre nach Beginn des Krieges hat die Mehrheit der hafte Vergewaltigungen statt, sogar vor den Augen der
Frauen in Afghanistan keine Chance auf einen eigen- Blauhelme. Allein im Juli und August 2010 waren es
ständigen Broterwerb. Deshalb ist es besonders bitter, brutale Vergewaltigungen an über 500 Frauen. Für die
dass die Familien der Kunduz-Opfer noch heute auf an- lokalen Kriegsherren, dramatischerweise aber oft auch
gemessene Entschädigung von der Bundesregierung für die UN vor Ort, scheinen die Verpflichtungen aus der (D)
(B) warten.
Resolution 1325 und der Folgeresolution 1820 offen-
Die ehemalige afghanische Abgeordnete Malalai Joya sichtlich keine Rolle zu spielen. Wenn wir wirklich wol-
sagte mir: „USA und NATO fielen in Afghanistan an- len, dass die Resolution 1325 mit Leben gefüllt wird und
geblich für die Rechte der Frauen ein, aber heute ist die zentraler Bestandteil der internationalen Politik wird,
Situation der Frauen genauso katastrophal wie unter der dann müssen sich endlich auch die Mitgliedstaaten der
Herrschaft der Taliban. Vergewaltigungen, Entführun- UNO konsequent an die Umsetzung machen. Sonst blei-
gen, Morde, Säureattentate und häusliche Gewalt steigen ben die Resolutionen nichts weiter als bedrucktes Papier.
rapide an.“ Auf die Frage, wie wir Frauen in Afghanistan Meine Damen und Herren von der Bundesregierung
unterstützen können, antwortete sie: „Erstens wird Krieg und den Koalitionsfraktionen, ich finde es wirklich un-
Frauen niemals helfen. Zweitens haben wir die Chance, haltbar, dass wir, als Mitglied im Sicherheitsrat, immer
dass sich afghanische Frauen selbst befreien und pro- noch nicht bereit sind, einen nationalen Aktionsplan auf
gressive Männer uns helfen werden.“ den Weg zu bringen. Schon 2005 hat Kofi Annan das ge-
Das zeigt: Krieg für die Rechte von Frauen ist ein fordert, doch erst 25 Staaten sind dem gefolgt. Es ist
Mythos. Ohne eine klare Absage an Krieg, der immer doch peinlich, dass Deutschland als angebliche Stütze
ein Krieg gegen Frauen und Kinder ist, ist jeder Aktions- des UN-Systems sich dieser Aufforderung immer noch
plan Makulatur. Deshalb fordert die Linke, die Resolu- verweigert. In der UNO-Agenda der Bundesregierung
tion 1325 weiterzuentwickeln und festzuschreiben, auf gibt es noch nicht mal einen Hinweis auf die Resolution
militärische Gewalt zu verzichten. Und genau deshalb 1325 – und das, obwohl auch Ban Ki-moon die Umset-
lehnt die Linke die Anträge von SPD und Grünen ab. zung der Resolution 1325 zu einem seiner wichtigsten
Themen gemacht hat: Es wurde mit UN-Women eine
neue einheitliche UN Organisation geschaffen und mit
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Margot Wallström eine Sonderbeauftragte gegen sexu-
NEN): Am 8. März dieses Jahres haben wir „100 Jahre elle Gewalt in Konflikten eingesetzt.
Internationaler Frauentag“ gefeiert. National und inter-
national gibt es neben vielen Problemen auch Fort- Auch die Anhörung des Unterausschusses „Zivile
schritte und Erfolge für die Frauen. Der Beschluss der Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ am 13. De-
Resolution 1325 vor zehn Jahren im UN-Sicherheitsrat zember 2010 hat ganz klar ergeben, dass die Frauenorga-
war ein solcher Erfolg. Er war ein Meilenstein auf dem nisationen wie medica mondiale, der Frauensicherheits-
Weg zu einer wirklich geschlechtersensiblen Friedens- rat oder UNIFEM einen solchen nationalen Aktionsplan
und Sicherheitspolitik. Erstmals beschloss damit die für unabdingbar halten. Da kann sich doch Deutschland
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12159

(A) nicht einfach ausklinken und alle diese Empfehlungen ordnetengesetzes – Einführung eines Ordnungs- (C)
ignorieren. Deshalb bin ich sehr froh, dass es uns gelun- geldes (Tagesordnungspunkt 19)
gen ist, zumindest zwischen den Fraktionen von SPD,
Linken und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Bernhard Kaster (CDU/CSU): Wir debattieren
Antrag zu vereinbaren. Das ist ein großer Erfolg, und ich heute über Änderungen des Abgeordnetengesetzes und
bin mir sicher: Das wird politisch wahrgenommen wer- der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Än-
den. derungen, die das Selbstverständnis unserer parlamenta-
rischen Arbeit betreffen.
Wir stellen damit klar: Mit anderen Mehrheitsverhält-
nissen im Deutschen Bundestag werden wir – SPD, Der Begriff der Geschäftsordnung wird im Übrigen
Grüne und Linke – einen solchen Aktionsplan gemein- der Bedeutung gerade dieser Geschäftsordnung nicht
sam auf den Weg bringen. Dadurch werden wir tatsäch- ganz gerecht; ist es doch letztlich die gemeinsame Ver-
lich die UNO unterstützen – und nicht nur, wie die Ko- ständigung über die Spielregeln unserer Demokratie in
alition, durch Sonntagsreden. Konkrete Vorschläge zu einem demokratisch gewählten Parlament.
einem solchen Aktionsplan, wie jetzt der des Frauensi-
Unsere Geschäftsordnung hat eine sehr lange Tradi-
cherheitsrates, liegen ja sogar auf dem Tisch. Meine Da-
tion. Sie finden in ihr wörtliche Formulierungen aus der
men und Herren von der Koalition, Sie müssen nur zu-
Geschäftsordnung des Deutschen Abgeordnetenhauses
greifen und lesen. Es geht dabei um die Umsetzung der
von 1848, des Norddeutschen Reichstages von 1868, der
4 Ps: der Prävention, der Protektion – also dem Schutz
Weimarer Republik und zu guter Letzt der ersten endgül-
von Frauen und Mädchen –, der Präparation – also der
tigen Geschäftsordnung des Bundestages aus dem Jahre
gendersensiblen Vorbereitung von zivilem oder militäri-
1951. Dennoch ist die Geschäftsordnung über die Jahr-
schen Personal, das wir in internationale Missionen oder
zehnte immer wieder aktualisiert worden. Sehr umfang-
Missionen der EU oder der OSZE entsenden – und der
reich geschah dies zuletzt infolge des Vertrages von Lis-
Partizipation. Besonders wichtig ist dabei das zuletzt sabon.
Genannte: Partizipation, also die Förderung der Beteili-
gung von Frauen als Akteurinnen des Wandels. Heute diskutieren wir über eine Änderung der Ge-
schäftsordnung, die sich unsere Fraktion sehr gerne er-
Klar ist: Wir wollen einen effektiven Plan. Dabei spart hätte. Es ist ungewöhnlich, ja beschämend, dass
müssen wir von anderen Ländern lernen. Dazu ist es wir uns als Bundestag mit der Ausweitung von Ord-
enorm wichtig, bei der Erstellung in einem transparenten nungsmaßnahmen befassen müssen. Dies ist sicherlich
Prozess die Zivilgesellschaft einzubeziehen, die Maß- keine Sternstunde des Parlamentes.
nahmen regelmäßig zu überwachen und vor allem zu
(B) evaluieren, ob die Zielvorgaben auch erreicht wurden. Anlass für die Einführung eines Ordnungsgeldes – und (D)
Es muss jährlich dem Bundestag berichtet werden, und dies muss hier klar zum Ausdruck gebracht werden – ist
der Aktionsplan muss mit entsprechenden finanziellen einzig und alleine das unparlamentarische Verhalten ei-
Mitteln ausgestattet werden, denn ohne Budget bleiben ner Fraktion. In dieser Legislaturperiode wie auch in der
viele Vorhaben blanke Theorie. vorangegangenen Legislaturperiode hat immer und im-
mer wieder die Nachfolgepartei der kommunistischen
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, SED die Regeln dieses Hauses und damit der Demokra-
ich habe in vielen Krisenregionen dieser Welt erlebt, wie tie vorsätzlich verletzt. Die Linksfraktion hat diese Stö-
wichtig und von welch konkreter Bedeutung für die rungen offensichtlich ganz gezielt und abgestimmt ins-
Frauen vor Ort die Umsetzung dieser Resolution ist, die zeniert, um sich ihrer Aktivitäten anschließend auch
für uns hier vielleicht so theoretisch erscheint: im noch im Internet zu rühmen.
Kongo, in Darfur, im Südsudan, in Afghanistan und jetzt Im Rahmen der Debatte um die Erweiterung des Af-
aktuell in der arabischen Welt. Diese Frauen haben große ghanistan-Mandats zeigten eine Vielzahl von Abgeord-
Erwartungen und Hoffnungen, auch die Hoffnung, dass neten der Linken im Plenum Spruchbänder. Die Partei-
wir die Umsetzung der Resolution ebenso ernst nehmen vorsitzende der Linken hat diese Entgleisung der
wie sie. Lassen sie uns diese Frauen nicht enttäuschen, Mitglieder ihrer Fraktion nicht etwa kritisiert, sondern
werfen Sie Ihr Herz über die Hürde und stimmen Sie, sogar noch mit den Worten gelobt „Ich danke auch per-
wie Ihre Kollegen und Kolleginnen im Unterausschuss sönlich meiner Fraktion sehr, wie würdevoll diese Ak-
„Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“, die tion vorbereitet und umgesetzt wurde.“
durch die Anhörung und durch die Debatte inzwischen
von der Sache offensichtlich überzeugt worden sind, ei- Es ist die Übereinkunft aller Demokraten, dass der
nem der Einzelanträge oder wenigstens unserem über- politische Wettstreit, die Kontrollfunktion des Parla-
fraktionellen Antrag zu! ments gegenüber der Regierung und die Auseinanderset-
zung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen
mit engagierten, durchaus auch hitzigen Debatten ausge-
Anlage 10 tragen werden. Dieses Haus ist aber kein Platz für De-
monstrationen, Transparente und jede Art von Klamauk.
Zu Protokoll gegebene Reden Wer wie die Linksfraktion das Bundestagsplenum als
Demonstrationsplattform nutzt, will damit in unredlicher
zur Beratung des Entwurfs eines Neunund- Weise die Wirkung und die Kraft der Argumente aus der
zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abge- öffentlichen Diskussion verdrängen. Er zeigt damit zu-
12160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) gleich, dass er von der Kraft der eigenen Argumente of- auch in der Bundesversammlung, für die unsere Ge- (C)
fensichtlich selbst nicht überzeugt ist, denn sonst be- schäftsordnung sinngemäß gilt. Es gibt also schlichtweg
dürfte es solcher Aktionen ja nicht. kein Argument für die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen, unseren Gesetzentwurf nunmehr ganz abzuleh-
Der Bundestagspräsident hat bereits im November nen.
2008 festgestellt, dass die Neigung zu Disziplinlosigkei-
ten deutlich größer geworden ist. Das ist alles mehr als Sie hatte im Übrigen Bedenken geäußert, beispiels-
bedauerlich. weise wegen einer möglichen strittigen „Kleiderord-
Wir sind inzwischen nicht mehr bereit, eine Verro- nung“. Auch da sind alle Fraktionen darauf eingegangen
hung der Sitten, wie sie in letzter Zeit im Plenum einge- und haben in der Begründung nochmals klargestellt,
rissen ist, weiter hinzunehmen. Es ist eine fühlbare dass es darum genau nicht geht.
Sanktion notwendig. Deshalb sprechen wir uns jetzt,
Lassen Sie mich abschließend noch einmal an die
wenn auch ungern, für die Einführung eines Ordnungs-
Verursacher dieser Regelung appellieren, die Fraktion
geldes aus. Dieses wird in sinnvoller Weise in § 44 a des
Die Linke: Sie sollten endlich die demokratischen Spiel-
Abgeordnetengesetzes und dann in einer klaren Einord-
regeln anerkennen und trotz Ihrer Vergangenheit endlich
nung in die §§ 36 bis 38 der Geschäftsordnung ein-
gefügt. Wir haben damit eine Regelung, die vom in der Demokratie ankommen.
Ordnungsruf über die Wortentziehung und das Ord-
nungsgeld bis hin zum gravierendsten Mittel, dem Sit- Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Noch vor
zungsausschluss, reicht. zwei Jahren habe ich mir nicht vorstellen können, dass
wir heute über eine Verschärfung der Ordnungsmaßnah-
Wir haben auch Wert darauf gelegt, eine klare Rege-
lung im Hinblick auf die Höhe des Ordnungsgeldes zu men gegen Abgeordnete beraten müssen. Eigentlich
treffen. Sie beträgt 1 000 Euro bzw. 2 000 Euro im Wie- sollte es unter Demokraten möglich sein, die Argumente
derholungsfall. Wir sehen nicht ein, den ganzen Unfug der politisch anders Denkenden zu ertragen, ohne zu
und Unsinn der Fraktion Die Linke auch noch im Rah- Mitteln der Störung und des Klamauks zu greifen und
men einer Spanne zu katalogisieren. damit nicht nur die Arbeit der anderen Abgeordneten zu
stören, sondern auch das Ansehen des Bundestages in
Bedauerlich ist aber auch, dass nicht alle demokrati- den Augen der Öffentlichkeit niederzumachen. Leider
schen Fraktionen diesen Gesetzentwurf mittragen. Die musste ich mich durch die verschiedenen massiven Ord-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat von Beginn an im- nungsstörungen in der jüngeren Vergangenheit, insbe-
mer wieder betont, dass sie sehr wohl bereit sei, ein Ord- sondere durch konzertierte Aktionen mehrerer Mitglie-
(B) nungsgeld einzuführen. Aber bei allen Beratungen hat der der Fraktion Die Linke, eines Besseren – oder besser (D)
sie bereits im Vorfeld immer wieder nach Gründen oder gesagt, eines Schlechteren – belehren lassen.
einem Vehikel gesucht, um letztlich dann doch wieder
aus dieser Regelung auszusteigen. In diesem Zusam- In geradezu unverantwortlicher Weise versuchen
menhang erinnere ich daran, dass bei der letzten Störung diese Kolleginnen und Kollegen immer wieder, den
durch die Fraktion Die Linke, die auch zum Sitzungsaus- Deutschen Bundestag – das höchste gesetzgebende Ver-
schluss von Abgeordneten geführt hat, dieses undemo- fassungsorgan unseres Landes – zu einer Bühne für bil-
kratische Verhalten die ausdrückliche Zustimmung des lige politische Polemik zu machen. Ich denke nur an die
Kollegen Ströbele von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Aktion in der letzten Wahlperiode, in der sie einen da-
nen gefunden hat. mals amtierenden Ministerpräsidenten durch verzer-
rende Masken verächtlich machten wollten. Aber auch
Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen wehrt sich
in dieser Wahlperiode musste der Bundestagspräsident
mit vorgeschobenen Argumenten dagegen, zukünftig
schon zweimal Mitglieder der Linksfraktion von der Sit-
auch Verstöße gegen die Würde des Bundestages mit ei-
ner Ordnungsmaßnahme zu sanktionieren. Sie hat damit zung des Bundestages wegen gröblicher Ordnungsver-
letztlich das Vehikel gefunden, um Teilen ihrer Fraktion letzungen ausschließen.
entgegenzukommen. Da nützt es auch gar nichts, dies Leider lassen diese Erfahrungen keinen anderen
mit allen möglichen juristischen Spitzfindigkeiten, Be- Schluss zu als den, die Effizienz der bestehenden Ord-
wertungen und Auslegungen zu begründen. Die Würde nungsmaßnahmen nach der Geschäftsordnung des Bun-
des Hauses, die Würde des Deutschen Bundestages, hat destages kritisch zu überprüfen. Dabei hat sich herausge-
bereits im § 7 der Geschäftsordnung ihren Niederschlag stellt, dass der Sach- und der Ordnungsruf für solche
gefunden. Viele andere Vergleiche, beispielsweise in der
massiven Störungen der Ordnung während einer Sitzung
Justiz, könnten ebenso angeführt werden. So kennt unser
nicht ausreichend sind. Ihr Sanktionscharakter ist eher
Gerichtsverfassungsgesetz den Begriff „Würde des Ge-
begrenzt und sie sind im Konfliktfall nicht geeignet, die
richts“, der in § 175 des Gerichtsverfassungsgesetzes ge-
Störung nachhaltig zu beseitigen. Der Sitzungsaus-
regelt ist.
schluss – nach unserer Geschäftsordnung immerhin für
Wenn die demokratischen Fraktionen CDU/CSU, bis zu 30 Sitzungstage möglich – ist demgegenüber das
SPD und FDP auch Verstöße gegen die Würde des Bun- schärfste Ordnungsmittel, das zur Verfügung steht, weil
destages als ahndungswürdig betrachten, ist dies absolut es in die Rede- und Abstimmungsrechte des betroffenen
nachvollziehbar. Damit wird die Entscheidungsgrund- Abgeordneten massiv eingreift. Es kann deshalb nur als
lage des amtierenden Präsidenten verbessert, im Übrigen Ultima Ratio in Betracht kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12161

(A) Genau in den Zwischenraum zwischen Sach- und mag, als ein Angriff auf die Würde des Bundestages ge- (C)
Ordnungsruf und dem Sitzungsausschluss soll nach wertet werden kann. Bloße Fragen der Kleiderordnung
übereinstimmender Auffassung der Koalitionsfraktionen zum Beispiel können nicht hierunterfallen.
und der SPD nun – quasi als neues Ordnungsmittel auf
mittlerer Ebene – ein Ordnungsgeld treten. Es hat den Die nähere Regelung des Ordnungsgeldes soll – wie
Vorteil, dass es einerseits eine spürbare Sanktion dar- auch bisher bei den Ordnungsmaßnahmen – durch un-
stellt, andererseits aber in die parlamentarischen Rechte sere Geschäftsordnung erfolgen. Auch insoweit hat sich
der Abgeordneten nicht eingreift und öffentlichkeits- der Geschäftsordnungsausschuss auf konkrete Vor-
wirksame Konfrontationen, wie zum Beispiel bei einer schläge schon verständigt, die dem Plenum alsbald zur
zwangsweisen Entfernung aus dem Plenarsaal, vermei- Entscheidung vorgelegt werden. Danach soll das Ord-
den kann. nungsgeld – wie bisher schon der Sitzungsausschluss –
auch später noch festgesetzt werden können, und es soll
In breiter Einmütigkeit mit Ausnahme der Fraktion in das bestehende Rechtsmittelsystem der Geschäftsord-
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen – Letztere hat al- nung eingebunden werden, wonach bei Einspruch der
lerdings auch die grundsätzliche Notwendigkeit der Ver- Bundestag insgesamt entscheidet und danach der Weg
schärfung der Ordnungsmittel gesehen – hat der Ge- zum Bundesverfassungsgericht im Wege der Organklage
schäftsordnungsausschuss in zahlreichen Sitzungen den offensteht.
Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurf der drei Fraktio-
nen zur Änderung des Abgeordnetengesetzes vorberei- Ich bin überzeugt, dass das Ordnungsgeld eine ange-
tet, der als Rechtsgrundlage für eine nachfolgende Ände- messene, aber leider auch notwendige Erweiterung des
rung der Geschäftsordnung dient. Er empfiehlt, das bestehenden Systems der Ordnungsmaßnahmen für un-
Ordnungsgeld in einer festen Höhe von 1 000 Euro, im ser Parlament ist. Ich bitte Sie daher um Ihre Unterstüt-
Wiederholungsfall von 2 000 Euro, vorzusehen. Es soll zung des vorliegenden Gesetzentwurfs.
vom jeweils sitzungsleitenden Präsidenten bei einer
„nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wir bera-
der Würde des Bundestages“ festgesetzt werden können. ten heute in erster Lesung über eine Änderung des Abge-
Wegen einer „gröblichen“ Verletzung der Ordnung oder ordnetengesetzes, die niemand von uns in Wahrheit mit
der Würde des Bundestages soll – wie bisher – der Sit- innerer Begeisterung betreibt. Denn als Parlamentarierin
zungsausschluss möglich sein. oder Parlamentarier sich selbst mit härteren Sanktionen
Die feste Höhe des Ordnungsgeldes von 1 000 Euro zu belegen macht keine Freude. Doch leider hat das Ver-
bzw. 2 000 Euro und der Verzicht auf einen entsprechen- halten gerade einer Fraktion hier im Hause dieses Vorge-
den Ermessensspielraum des amtierenden Präsidenten hen unumgänglich gemacht.
(B) (D)
bzw. der amtierenden Präsidentin sollen Streitigkeiten Bereits jetzt darf uns der Präsident zur Ordnung rufen
nur über die angemessene Höhe des verhängten Ord- oder sogar bis zu 30 Tage von den Beratungen ausschlie-
nungsgeldes vermeiden. Weitere gesetzliche Konkreti- ßen. Das erste Instrument beeindruckt einige hier wohl
sierungen der Frage, was denn konkret unter einer „nicht kaum, das andere Instrument aber ist eine sehr, sehr
nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der harte Maßnahme. Denn es bedeutet, dass Mitglieder die-
Würde des Bundestages“ zu verstehen ist, hat der Ge- ses Hohen Hauses in ihrem elementaren Recht, dem Re-
schäftsordnungsausschuss als nicht sinnvoll abgelehnt. derecht, massiv beschnitten werden. Der Ausschluss
Unterschiedliche Auffassungen hierzu wird man weder muss also immer das letzte Mittel sein.
durch gesetzliche Fallbeispiele noch durch weitere unbe-
stimmte Rechtsbegriffe im Gesetzestext befrieden kön- Das Parlament lebt vom Parlieren. Das gesprochene
nen. Letztlich ist es eine Entscheidung des amtierenden Wort ist unser Mittel der demokratischen Auseinander-
Präsidenten bzw. der amtierenden Präsidentin, die unter setzung. Deshalb ist es nicht hinnehmbar, dass eine
Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles zu Fraktion so agiert, als könne man sich beliebig darüber
treffen ist. hinwegsetzen. Vermeintlich im Besitz einer höheren
Moral und nach billiger Publicity heischend, hat die
Im Geschäftsordnungsausschuss wurde bis zuletzt die Fraktion der Linken immer wieder unsere Beratungen
Frage diskutiert, ob auch die „Würde des Bundestages“ hier desavouiert. Sie nimmt sich Sonderrechte heraus,
ausdrücklich in den Schutzbereich der Ordnungsmaß- begeht bewusst Regelverletzungen und entwertet damit
nahmen aufgenommen werden sollte. Hiergegen sprach sehenden Auges und bewusst jede Form der parlamenta-
sich insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen rischen Auseinandersetzung.
aus, anscheinend weil sie immer noch ein grundsätz-
liches Problem mit dem Schutz der Würde dieses Parla- Würde jede Fraktion kraft eigenen Rechts die ge-
ments hat. Die antragstellenden Fraktionen sahen dage- meinsamen Spielregeln so außer Kraft setzen, dann wäre
gen den ausdrücklichen Schutz der Würde des keinerlei geordnete Debatte mehr möglich. Gefährlich
Bundestages als notwendig an, damit klar gestellt wird, ist dies deshalb, weil jeder, der so agiert, den Eindruck
dass auch bei nichtverbalen Ordnungsstörungen, wie erweckt, als habe man kein anderes geeignetes Mittel,
zum Beispiel beim Hochhalten von Transparenten oder sich darzustellen, oder aber als habe man einen An-
sonstigem provokativem Verhalten, eindeutig die Mög- spruch auf Regelverletzung. Das ist ein Spiel mit dem
lichkeit einer angemessenen Reaktion hierauf besteht. Feuer. Nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede ha-
Klar ist für uns allerdings auch, dass nicht jede Verhal- ben wir alle hier weidlich die Möglichkeit, abgelehnte
tensweise, die dem einen oder anderen nicht gefallen Standpunkte zu entkräften und die eigene Position zu
12162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) stärken, öffentlich Rechenschaft abzulegen oder einzu- die Höhe den amtierenden Präsidenten davon abhalten (C)
fordern. Mehr und anderes darf und kann nicht sein, könnte, das Ordnungsgeld zu verhängen, obwohl es not-
sonst entwerten wir uns als Mitglieder des Parlaments. wendig wäre. Das wäre ein Ergebnis, das es zu verhin-
dern gilt.
Jeder Versuch, unter Kolleginnen und Kollegen ohne
weitere Sanktionen auszukommen, ist leider ignoriert Insgesamt erhoffe ich mir, dass es nur wenige Anlässe
worden: Zusagen wurden gebrochen, Wiederholungen geben wird, bei denen die amtierenden Präsidenten zu
gab es immer wieder. Deshalb ist es zur Wahrung der gu- diesem Mittel greifen müssen. Ein oberstes Verfassungs-
ten Formen leider zwingend notwendig, ein Ordnungs- organ sollte immer streng darauf achten, seiner Würde
geld einzuführen. Wer durch das Hochhalten von Pro- gerecht zu werden.
testschildern, entsprechender Bekleidung oder andere
Albernheiten den Komment verletzt, der muss zukünftig
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Vor weni-
mit 1 000 Euro oder sogar 2 000 Euro Ordnungsstrafe
gen Monaten wurde hier an dieser Stelle das Vorgehen
rechnen. Damit wird der Spuk hoffentlich ein Ende ha-
der Koalition bei der Laufzeitverlängerung als „Gesetz-
ben. Wir sind dem demokratischen Streit, nicht dem Kla-
gebung mit der Brechstange“ gebrandmarkt. In der De-
mauk verpflichtet. Wer nicht hören will, muss nun füh-
batte fielen Worte wie „Lügner“ oder „Affentheater“.
len – leider!
Journalisten berichteten später, in Richtung der Opposi-
tionsfraktionen seien sogar Worte wie „Faschisten“ ge-
Jörg van Essen (FDP): Die FDP-Bundestagsfrak- fallen, weil eine Fraktion in einheitlicher Protestklei-
tion hat von Anfang an die Initiative des SPD-Kollegen dung aufgetreten war. Rügen an Abgeordnete seitens der
Lange, dem ich für seine Anregung an dieser Stelle Sitzungsleitung, Ordnungsrufe oder gar Ausschlüsse von
nochmals besonders danken möchte, unterstützt. Wir der Sitzung sind nicht bekannt, auch keine Entschuldi-
freuen uns deshalb sehr, dass es gelungen ist, sich ge- gungen. Nur der Präsident des Bundestages erinnerte
meinsam mit CDU/CSU und SPD auf einen Gesetzent- daran, es sei guter parlamentarischer Brauch, auf persön-
wurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zu ver- lich herabsetzende Bemerkungen zu verzichten. Offen-
ständigen. kundig hat sich daran niemand wirklich gestört.
Die Notwendigkeit zu einer Regelung hat sich in dem Die Laufzeitverlängerung wurde dann mit der Mehr-
mehrfachen Fehlverhalten von Abgeordneten der Links- heit der Koalition durchgewunken – entgegen aller Ver-
fraktion im Plenum gezeigt. Das Hochhalten von Trans- nunft, wie wir heute nach den Ereignissen um Fuku-
parenten und andere Aktionen ähnlicher Art beeinträch- shima wissen. Diese Art Gesetzgebung nach politischer
tigen die Würde eines obersten Verfassungsorgans und Willkür verletzt die Würde der Demokratie und dieses
(B) sind nicht hinnehmbar. Ein Abgeordneter kann jederzeit Hauses. Dass Abgeordnete zu Abnickmaschinen degra- (D)
im Plenum das Wort ergreifen und seine Position ver- diert werden, erleben wir nicht zum ersten Mal. Ähnlich
deutlichen. Es bedarf eines solchen Verhaltens also wurden hier Gesundheitsreformen, Bankenrettungsfonds
nicht. von 480 Milliarden Euro oder – wie jüngst – Einsätze
Bei der notwendigen Reaktion auf dieses Fehlverhal- zusätzlicher Bundeswehrsoldaten in AWACS-Maschi-
ten hat sich gezeigt, dass ein Ordnungsruf eine zu ge- nen über Afghanistan beschlossen – oder besser gesagt:
ringe Sanktion ist, aber auch Bedenken bestehen, die be- durchs Parlament gepeitscht.
troffenen Abgeordneten von der Sitzung auszuschließen. Aber gegen diese anhaltende Missachtung parlamen-
Dies hat sich besonders deutlich bei einer anstehenden tarischer Spielregeln liegt seitens der Fraktionen von
Entscheidung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr CDU/CSU, SPD und FDP kein Gesetzentwurf vor. Statt-
gezeigt. Trotz des vom Präsidenten verhängten Aus- dessen legen Sie einen Gesetzentwurf vor, nach dem Ab-
schlusses sind alle Fraktionen übereinstimmend zu der geordnete künftig bei einer „nicht nur geringfügigen
Auffassung gekommen, dass den betroffenen Kollegen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundesta-
die Teilnahme an der Abstimmung ermöglicht werden ges“ mit einem Ordnungsgeld bestraft werden können.
sollte. In Fällen wie diesen wäre die Verhängung eines Sie tun so, als drohten hier im Bundestag Verhältnisse, in
Ordnungsgeldes die angemessenere Sanktion. Sie macht denen Abgeordnete mit Fäusten aufeinander losgehen.
deutlich, dass ein erhebliches Fehlverhalten nicht gedul- Davon kann, wie Sie genau wissen, nicht die Rede sein.
det wird, ermöglicht aber auf der anderen Seite uneinge-
schränkt die Ausübung des Abgeordnetenrechts. Ganz offen wird von Ihnen erklärt, das Ordnungsgeld
werde nur wegen angeblicher Störaktionen einer einzi-
Wir haben lange überlegt, welche Höhe dieses Ord- gen Fraktion eingeführt: der Linken. Eine Aktion der
nungsgeld haben sollte. Wir schlagen eines in Höhe von Linken, die Sie zum Beispiel als störend erachteten,
1000 Euro vor. Wie bei allen Ordnungsgeldern ist dies betraf das Gedenken an die Opfer von Kunduz – Opfer
ein einheitlicher Betrag. Auch in anderen Fällen eines eines Bombardements, befohlen von einem deutschen
Ordnungsgeldes findet keine Differenzierung etwa nach Offizier. Ein angemessenes Gedenken daran aber haben
Familienstand oder Anzahl von Kindern statt. Es ent- Sie abgelehnt. Das hat die Würde dieses Hauses verletzt,
spricht auch dem verfassungsrechtlichen Bild des Abge- nicht aber die von Linken hochgehaltenen Schilder mit
ordneten, wonach alle Abgeordneten gleich sind. In den Namen und Alter der Opfer.
anstehenden Beratungen sind wir offen dafür, über die-
sen Betrag noch einmal zu reden. In unseren fraktionsin- Ihr Gesetzentwurf ist im Kern eine Lex Linke. Auch
ternen Beratungen ist der Hinweis gegeben worden, dass das ist würdelos. Keine Frage: Das demonstrative Tra-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12163

(A) gen von Kleidung, zumal im Parlament vor der Öffent- Diese Neuerung hat in der Sache nichts – aber auch (C)
lichkeit, muss nicht jeder gut finden – so wie nicht jeder gar nichts – mit der Einführung des Ordnungsgelds zu
das Tragen einer Krawatte gut finden muss. Kleidungs- tun. Vielmehr sollen alle Sanktionsmechanismen, ange-
und Geschmacksfragen aber demonstrativ mit Ord- fangen vom Ordnungsruf bis hin zum Sitzungsaus-
nungsgeld zu bestrafen, ist eindeutig überzogen und zu- schluss, mit bei einer „Verletzung der Würde des Bun-
dem verfassungsrechtlich bedenklich. destags“ greifen. Auch das Abgeordnetengesetz, über
dessen Änderung wir heute beraten, soll nach dem Wil-
Wann und wie die Würde des Hauses verletzt sein len von Koalition und der SPD um die Sanktionierung
soll, weiß die Mehrheit dieses Hauses zudem so genau von Würdeverletzungen des Bundestags erweitert wer-
nicht. Die Entscheidung darüber überlassen Sie dem Prä- den. Dies lehnen wir ab, weil dies völlig entbehrlich und
sidenten des Bundestages. Das Ordnungsgeld wird so zu für die Freiheit der Abgeordneten sogar tendenziell ge-
einer politischen Willkürveranstaltung. fährlich ist.
Gegen das geplante Ordnungsgeld gibt es für die Ab-
Zuerst zur leidigen Krawattenfrage. Zwar heißt es in-
geordneten auch keinen effektiven Rechtsschutz. De
soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs, dass
facto müsste ein Abgeordneter, wenn sie oder er mit dem
„reine Fragen der Kleiderordnung … ausgenommen
verhängten Ordnungsgeld nicht einverstanden ist, beim
sind, soweit sie nicht allgemeine Regeln des Anstands“
Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen. Da-
– und ich füge hinzu: damit die Ordnung des Bundestags –
rüber hinaus hält die Fraktion Die Linke die von der
„verletzen“. Aber in Wirklichkeit wird schon heute die
Mehrheit des Hauses vorgesehene Einschränkung der
Krawattenlosigkeit bei Abgeordneten, wenn sie im Sit-
Rechte souveräner Abgeordneter für verfassungsrecht-
zungsvorstand tätig sind, als ein würdeverletzendes Ver-
lich bedenklich. Deshalb behält sich die Linke auch vor,
halten angesehen.
das Ordnungsgeld vom Bundesverfassungsgericht prü-
fen zu lassen. Ich darf aus dem Protokoll des Ältestenrates vom
Im Parlament soll es auf das Miteinander-Reden, auf 16. Dezember 2010 zitieren: „Der Präsident macht deut-
das Abwägen von Argumente ankommen. Darin sind lich, dass das Präsidium großen Wert darauf lege, dass
wir uns sicher einig. Ich hoffe sehr, dass sich die Fraktio- der Sitzungsvorstand der Würde eines obersten Verfas-
nen von Union, SPD und FDP bei den kommenden Aus- sungsorgans entsprechend gekleidet sei, wozu bei Män-
schussberatungen von vernünftigen Argumenten leiten nern grundsätzlich das Tragen von Krawatten gehöre.“
lassen und diesen Gesetzentwurf zurücknehmen. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass wir zukünftig
vielleicht wegen Krawattenlosigkeit als Würdeverletzer
des Bundestags mit Ordnungsmitteln belangt werden
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ei- könnten!
(B) (D)
nige Verhaltensweisen von Mitgliedern des Deutschen
Bundestags in der letzten Zeit waren der Auslöser für Die geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der
Gespräche über mögliche oder notwendige Änderungen Koalition und von der SPD waren bis heute nicht in der
in unserer Geschäftsordnung. Ziel dieser Gespräche im Lage zu erklären, was diesen neuen Tatbestand eigent-
Geschäftsordnungsausschuss war es, das Ordnungsgeld lich wirklich notwendig macht. Es ist bezeichnend, dass
einzuführen, um das bestehende System aus Sach- und er sozusagen klammheimlich, ohne ausdrückliche Nen-
Ordnungsruf sowie der Wortentziehung einerseits und nung im Namen des Gesetzentwurfs, eingeführt wird.
eines Sitzungsausschlusses andererseits sinnvoll zu er- Die Begründung dafür ist entlarvend. So gestehen die
gänzen. Eingeführt werden sollte ein Sanktionsmecha- Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD zu, dass bisher
nismus, der auf nicht nur geringfügige Ordnungsstörun- im Rahmen der Geschäftsordnung des Bundestags eine
gen angemessen reagieren kann, ohne gleich auf die – angebliche – Verletzung der Würde des Bundestags
Ultima Ratio des Sitzungsausschlusses zurückgreifen zu stets als eine Ordnungsverletzung im Sinne des § 38 GO-
müssen. Es sollte nicht mit Maßnahmen gegen Abgeord- BT angesehen wurde. Es gibt also offensichtlich keine
nete aufgesattelt werden, und es sollten auch keine Lücken, die es mit der neuen Regelung zu füllen gäbe.
neuen Gründe für solche Maßnahmen hinzukommen. Trotzdem sollen künftig das Hochhalten von Transpa-
Das Ordnungsgeld sollte dem Präsidenten ermöglichen, renten, das Tragen von Anstecknadeln – hierzu gibt es
situationsangemessen reagieren zu können, ohne zu den verräterischen Zusatz: „je nach Gegebenheit oder In-
schnell zum schärfsten Mittel, dem Ausschluss von der halt“ – oder „sonstiges provokatives Verhalten“ – auch
parlamentarischen Arbeit, greifen zu müssen. Dieses dies eine reine Leerformel – eine Verletzung der Würde
Ziel ist mit der Einführung des Ordnungsgeldes als mitt- des Bundestags, begangen durch Abgeordnete und zu
lerer Stufe des Eingreifens des Präsidenten erreicht. ahnden durch den Präsidenten, sein.
Bünd-nis 90/Die Grünen begrüßt dies.
Ich will dazu in aller Deutlichkeit sagen: Entweder
So weit, so gut. Leider haben die Fraktionen der sind solche Verhaltensweisen Störungen der Ordnung
CDU/CSU, der FDP und der SPD sich im Geschäftsord- des Bundestags und damit jetzt schon vom Präsidenten
nungsausschuss damit nicht begnügt. Vielmehr wurde zu sanktionieren, oder sie sind eben keine Ordnungsstö-
– ohne Not und ohne Sinn – die Gelegenheit genutzt, um rungen. Es soll so wohl ganz allgemein bestimmtes – un-
– sozusagen durch die Hintertür – auch noch einen völlig liebsames – Verhalten und bestimmte Äußerungen von
neuen Grund für ein Eingreifen des Präsidenten gegen Abgeordneten unterbunden werden können. Damit be-
einen Abgeordneten einzuführen: die „Verletzung der steht die Gefahr, dass Abgeordnete an der freien Aus-
Würde des Bundestags durch Abgeordnete“. übung ihres Mandats durch den Präsidenten gehindert
12164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) werden, dass sie dabei kontrolliert und einer Zensur un- eine Verkürzung der gesetzlich vorgesehenen Höchst- (C)
terworfen werden, ohne dass sie die Ordnung des Bun- haftdauer von 18 Monaten. Gefordert wird außerdem
destags stören. Eine solche Regelung wird die Zustim- eine Regelung, dass unbegleitete Minderjährige nicht in
mung der Grünen nicht finden – und ich wundere mich, Abschiebehaft genommen werden dürfen.
weshalb die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen
der CDU/CSU, FDP und SPD sie vorschlagen. Es kann Die Kritik überrascht nicht. So wurde bereits der
doch nicht ausschlaggebend sein, dass sich gerade die Richtlinienentwurf von einigen Flüchtlings-, Asyl- und
Kolleginnen und Kollegen der Linken in letzter Zeit mit Menschenrechtsorganisationen als „Richtlinie der
ihren Aktionen im Hohen Hause unbeliebt gemacht ha- Schande“ verteufelt. Die Kritiker der Richtlinie überse-
ben. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der Koali- hen dabei, dass eine wirkungsvolle Rückführungspolitik
tion und der SPD nur zurufen: Bedenken Sie, dass sich ein notwendiger Bestandteil einer durchdachten und
diese neue Regelung auch einmal gegen sie selbst rich- glaubwürdigen Migrationspolitik ist. Und sie ist – wie
ten kann! sollte es anders sein? – ein Kompromiss zwischen natio-
nalen Interessen und humanitären Gesichtspunkten. Sie
führt Mindeststandards in allen Mitgliedstaaten ein, vor
Anlage 11 allem bei der Unterbringung der Betroffenen und im
Verfahren sowie beim Rechtsbeistand. Überall dort, wo
Zu Protokoll gegebene Reden es vorher keine verbindlichen Vorschriften gab, führt die
Umsetzung dieser Richtlinie in vielen Bereichen zu einer
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur wirklichen Verbesserung. So gibt es in der EU momen-
Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien tan neun Länder, die gar keine zeitliche Begrenzung der
der Europäischen Union und zur Anpassung Abschiebehaft kennen; jetzt werden es sechs Monate
nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa- sein. Diese Haftzeit kann nur in Ausnahmefällen zwei-
kodex (Tagesordnungspunkt 21) mal um sechs Monate verlängert werden.

Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir beraten heute in Eine deutliche Verbesserung stellt die Beschränkung
erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes der Bundesre- des Wiedereinreiseverbots auf fünf Jahre dar. 14 Länder
gierung zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtli- sprechen derzeit längere Wiedereinreiseverbote aus,
nien der Europäischen Union und zur Anpassung natio- Deutschland sogar unbefristete. Das Wiedereinreisever-
naler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex. Der bot führt auch nicht – wie behauptet – die Flüchtlingspo-
Gesetzentwurf dient der Umsetzung der folgenden Richt- litik ad absurdum. Denn Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie
linien in das innerstaatliche Recht: erstens, der Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass das Recht, in den Mitglied-
(B) 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates staaten nach internationalem Schutz zu suchen, von ei- (D)
vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und nem Wiedereinreiseverbot unberührt bleibt. Übrigens
Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal gilt das Wiedereinreiseverbot künftig EU-weit. Bisher
aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom konnte ein Mitgliedstaat Einreiseverbote nur für das ei-
24. Dezember 2008, S. 98 – das ist die sogenannte Rück- gene Territorium aussprechen. Dies alles gilt ganz abge-
führungsrichtlinie –, und zweitens, der Richtlinie 2009/ sehen von der Möglichkeit, im Einzelfall einen Antrag
52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom auf nachträgliche Reduzierung der Befristung zu stellen.
18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und
Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehö- Eine Umsetzung über den Richtlinienentwurf hinaus
rige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, ABl. L lehnen wir ab, da unsere Abschiebungsregelungen richt-
168 vom 30. Juni 2009, S. 24 – das ist die sogenannte linienkonform sind und sich in der Praxis bewährt ha-
Sanktionsrichtlinie. Ferner dient der Gesetzentwurf der ben. Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen zur
Anpassung des innerstaatlichen Rechts an die Verord- Erforderlichkeit der Abschiebungsandrohung und zur
nung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments Abschiebehaft lehnen sich eng an die Formulierungen in
und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Rückführungsrichtlinie an und tragen darüber hinaus
der Gemeinschaft. auch Forderungen insbesondere der Kirchen, der Flücht-
lingsorganisationen und der Integrationsbeauftragten
Ich möchte zunächst auf die Umsetzung der soge- Rechnung.
nannten Rückführungsrichtlinie eingehen, die auf die
Festlegung eines für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Die Regelungen zur Abschiebehaft übernehmen die
rechtsstaatlichen Mindeststandards bei der Rückführung Vorgaben der Richtlinie zum Teil ausdrücklich; zum Bei-
ausreisepflichtiger Ausländer zielt und damit, entgegen spiel gibt es die Abschiebehaft nur als Ultima Ratio und
aller Kritik, ein erster und wichtiger Schritt in Richtung für Minderjährige sowie Familien mit Minderjährigen
einer gemeinschaftlichen Einwanderungspolitik ist. Ein nur in Ausnahmefällen, und die Berücksichtigung alters-
großer Teil der in der Richtlinie enthaltenen Vorgaben typischer Belange minderjähriger Abschiebungsgefan-
wird in Deutschland bereits durch das im geltenden Auf- gener ist gewährleistet. Auf weitere Vorgaben der Richt-
enthaltsgesetz vorgesehene Recht der Aufenthaltsbeen- linie wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich ver-
digung erfüllt. Von einigen Nichtregierungsorganisatio- wiesen, zum Beispiel darauf, dass Gelegenheit zu
nen wird der Gesetzentwurf allerdings zum Anlass für altersgerechtem Spielen zu geben ist und dass es Zugang
weitergehende Forderungen zur Reform des Abschie- zu Bildungsangeboten geben muss. Ich habe keine Zwei-
bungsrechts genommen. Gefordert wird beispielsweise fel daran, dass diese Umsetzung den europarechtlichen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12165

(A) Vorgaben genügt und die Interessen der Betroffenen hin- in allen europäischen Staaten – aber eben unter verschie- (C)
reichend wahrt. denen Voraussetzungen und Bedingungen. Es einfach
dabei zu belassen, wäre die denkbar schlechteste aller
Kritisiert wird ferner, dass keine ausdrückliche Um- Varianten gewesen – erst recht im Sinne der illegal ein-
setzung der in Art. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie gereisten Menschen.
enthaltenen Verpflichtung zur Schaffung eines Systems
zur Überwachung von Rückführungen – das ist das soge- Ich bin überzeugt, dass das Gesetzespaket, dass wir in
nannte Monitoring – erfolgt sei. Unter anderem haben Form der Umsetzung der diesem Gesetzentwurf zu-
die Kirchen vorgeschlagen, die Überwachungspflicht im grunde liegenden Richtlinien geschnürt haben, eine gute
Gesetz festzuschreiben und darüber hinaus in der Be- Grundlage für weitere legislative Schritte auf dem Weg
gründung zum Gesetz eine Bezugnahme auf das beste- zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik ist.
hende System der Abschiebungsbeobachtungsstellen
aufzunehmen. An den Flughäfen Frankfurt, Düsseldorf
und Hamburg bestehen bereits Abschiebungsbeobach- Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetz-
tungsstellen, die von den Kirchen und anderen Nichtre- entwurf sollen zwei Richtlinien der Europäischen Union
gierungsorganisationen getragen werden; sie beobachten umgesetzt werden: einmal die Richtlinie 2008/115/EG
aufgrund von Vereinbarungen mit den Bundespolizeiin- des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-
spektionen der Flughäfen die Durchführung von Rück- zember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren
führungen auf dem Luftweg. Bei der Unionsfraktion und in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhälti-
bei der Bundesregierung bestehen Vorbehalte gegen die ger Drittstaatsangehöriger – die sogenannte Rückfüh-
Schaffung einer Rechtsgrundlage und damit einer recht- rungsrichtlinie – und die Richtlinie 2009/52/EG des Eu-
lichen Absicherung der Rückführungsüberwachung. ropäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009
Eine solche Regelung widerspräche aus Sicht der Frak- über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen
tion dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass staatliche gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne recht-
Machtausübung durch die Gerichte, nicht aber durch mäßigen Aufenthalt beschäftigen – die sogenannte Sank-
Nichtregierungsorganisationen kontrolliert wird. Auf tionsrichtlinie. Die Umsetzungsfrist für die Rückfüh-
eine gesetzliche Regelung der Rückführungsüberwa- rungsrichtlinie ist am 24. Dezember 2010 abgelaufen;
chung wurde daher zu Recht verzichtet. Zudem sind die sie ist mithin jetzt geltendes innerstaatliches Recht. Da-
bestehenden verwaltungsinternen Vorkehrungen, auf de- für, sich an ihre „Umsetzung“ zu machen, ist es also al-
nen das System der Abschiebungsbeobachtung beruht, lerhöchste Zeit – wenn man die Regelungen der Richtli-
zur Umsetzung der Verpflichtung aus Art. 8 Abs. 6 der nie begrenzen will. Und das wollen die Regierungs-
Rückführungsrichtlinie ausreichend. fraktionen ganz offensichtlich, wie der vorgelegte Ge-
(B) setzentwurf aufzeigt. (D)
Lassen Sie mich nun noch einige Worte zur sogenann-
ten Sanktionsrichtlinie und zum Visakodex sagen. So- In Art. 11 Abs. 2 RL 2008/115/EG wird festgelegt,
wohl der EU-Visakodex, der das Verfahren zur Erteilung dass für abgeschobene Personen ein Wiedereinreisever-
von Schengen-Visa innerhalb der EU harmonisiert, als bot ergeht: „Die Dauer des Einreiseverbotes wird in An-
auch die Sanktionsrichtlinie verstehen sich als Teilaspekt betracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festge-
im Kampf gegen illegale Einwanderung. Diese Maßnah- setzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre“.
men sollen wiederum Teilgrundlage in einer umfassen- Die Formulierung „wird … festgesetzt“ macht dabei
den Einwanderungspolitik werden. Illegale Einwande- deutlich, dass die Befristung des Einreiseverbotes von
rung wird durch die Möglichkeit, ein illegales Amts wegen erfolgen muss und ein Antrag hierfür nicht
Beschäftigungsverhältnis in der EU eingehen zu können, erforderlich ist. Anders steht es jedoch in dem von der
begünstigt. Die illegale Beschäftigung illegaler Einwan- Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf. Dort wird
derer stellt damit einen wesentlichen „Pullfaktor“ dar. zwar auf den Einzelfall abgestellt und eine Befristung
Deshalb benötigen wir in allen EU-Mitgliedstaaten ver- der Wiedereinreisesperre von maximal fünf Jahren fest-
gleichbare Sanktionen für die Beschäftigung von illegal gelegt; allerdings erfolgt eine solche Befristung wie bis-
eingereisten Personen. Die Umsetzung der Richtlinie lang nach in Deutschland üblicher Praxis nur auf Antrag
dient diesem Erfordernis. des Betroffenen. Ohne einen Antrag gilt sie quasi ein Le-
ben lang. Das ist aber mit der Richtlinie 2008/115/EG
Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch ein paar nicht vereinbar.
Worte an die selbsternannten Menschenrechtler unter Ih-
nen richten: Ich verstehe, wenn sich Nichtregierungsor- Kapitel IV der RL 2008/115/EG gibt vor, wann eine
ganisationen und Kirchen über die teils strikten Regelun- Inhaftnahme zum Zwecke der Abschiebung zulässig ist
gen der Richtlinien und die Eins-zu-eins-Umsetzung und unter welchen Bedingungen diese erfolgen darf. Zu-
durch die Bundesregierung enttäuscht zeigen. Aber was nächst ist hier festzuhalten und noch einmal ganz deut-
ist die Alternative? Nicht jeder, der in Europa Zuflucht lich zu machen, dass die Abschiebehaft allein eine Ul-
sucht, ist auch tatsächlich schutzbedürftig. Dass eine il- tima-ratio-Regelung sein kann, die erst dann ergriffen
legale Zuwanderung schon allein aufgrund der nach- werden darf, wenn keine anderen gleich wirksamen
drängenden Massen nicht einfach akzeptiert werden Möglichkeiten gegeben sind. Und wenn man dann zum
kann, hat jeder Nationalstaat schon lange für sich ent- Mittel der Abschiebehaft greift, muss immer beachtet
schieden. Insbesondere aus Frankreich und Italien hören werden, dass die Abschiebehaft nur und ausschließlich
wir in regelmäßigen Abständen immer wieder Rufe nach die physische Anwesenheit garantieren soll und dass sie
restriktiveren Abschieberegelungen. Abgeschoben wird weder einen Straf- noch Abschreckungscharakter haben
12166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) darf; schließlich geht es bei der Inhaftnahme um einen eingesetzt werden darf. Weiter macht die Richtlinie in (C)
der schwersten Grundrechtseingriffe überhaupt: den Ent- Art. 17 Abs. 3 dann sehr konkrete Angaben darüber, wie
zug der Freiheit. die Ausgestaltung der Haft – wenn sie denn als Ulitma
ratio angewandt wird – aussehen muss. In der Richtlinie
Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie hat steht, dass die Jugendlichen „Gelegenheit zu Freizeitbe-
die Abschiebehaft grundsätzlich in speziellen Haftein- schäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und
richtungen zu erfolgen. Damit soll ausgeschlossen wer- Erholungsmöglichkeiten und … Zugang zu Bildung er-
den, dass Abschiebehäftlinge in regulären Strafvollzugs- halten“ müssen. Art. 17 Abs. 4 der Richtlinie fordert
anstalten festgehalten werden. Von dieser Voraussetzung weiter ebenfalls sehr konkret, dass unbegleitete Minder-
darf nach der RL 2008/115/EG eine Ausnahme gemacht jährige in Einrichtungen untergebracht werden müssen,
werden, wenn „in einem Mitgliedstaat solche speziellen die personell und materiell in der Lage sind, auf die spe-
Einrichtungen nicht vorhanden“ sind. In „Umsetzung“ ziellen altersgemäßen Bedürfnisse dieser Personen-
der Richtlinie normiert § 62 a Abs. 1 AufenthG-E in gruppe einzugehen. Insbesondere das Erfordernis der
Satz 1 zwar, dass „die Abschiebungshaft grundsätzlich personellen Kapazität verweist auf das Erfordernis, dass
in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen“ wird, in pädagogisch geschultes Personal institutionell vorhan-
Satz 2 steht dann allerdings, dass für den Fall, wenn den sein muss.
„spezielle Hafteinrichtungen im Land nicht vorhanden“
sind, die Abschiebungshaft „in diesem Land“ auch „in Zwar verweist der Gesetzentwurf in § 62 a Abs. 3 all-
sonstigen Haftanstalten vollzogen werden“ kann. gemein auf Art. 17 der Rückführungsrichtlinie. Es ist je-
doch unklar, ob hiermit Art. 17 Abs. 3 oder 4 umgesetzt
Die Rückführungsrichtlinie meint mit „Mitgliedstaat“ werden soll. In der Begründung findet sich dazu Folgen-
in unserem Fall Deutschland und nicht etwa das Bundes- des: „Um den spezifischen Bedürfnissen minderjähriger
land Hessen oder Berlin oder sonstiges. § 62 a Abs. 1 Ausländer nach § 62 a Abs. 3 Rechnung zu tragen, soll
Satz 2 AufenthG-E liest sich aber genau so, als würde es diesen zum Beispiel Gelegenheit zu altersgerechtem
darauf ankommen, ob in einem Bundesland spezielle Spielen und zur Erholung gegeben werden.“ Zum einen
Einrichtungen für Abschiebehäftlinge vorhanden sein ist dies jedoch gegenüber Art. 17 III RL 2008/115/EG
müssten, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Abschie- ebenfalls unvollständig, weil der Verweis auf den not-
behaft in diesem Bundesland auch in allgemeinen Straf- wendigen Bildungszugang fehlt. Zum anderen ist eine
vollzugsanstalten zulässig sei. Damit verkennt der Ge- Erläuterung in der Begründung keine ausreichende
setzentwurf der Bundesregierung die Intention der Richtlinienumsetzung. Diese muss im Gesetzestext vor-
Rückführungsrichtlinie und dehnt die Ausnahmereglung genommen werden.
des Art. 16 Abs. 1 in unzulässiger Weise aus.
(B) Über die personelle Ausgestaltung von Einrichtun- (D)
Im Ausnahmefall, in dem die Unterbringung nicht in gen, in denen unbegleitete Minderjährige inhaftiert wer-
speziellen Abschiebeeinrichtungen möglich ist, muss ge- den, findet sich in § 62 a AufenthG-E nichts.
mäß der Richtlinie die Unterbringung der „in Haft ge-
nommenen Drittstaatsangehörigen gesondert von den Alle Maßnahmen die Inhaftnahme von Minderjähri-
gewöhnlichen Strafgefangenen“ erfolgen. Sinn und gen betreffend sind an Art. 17 Abs. 5 Rückführungricht-
Zweck dieser Regelung kann allein sein, die auf ihre Ab- linie zu prüfen. Dieser besagt, dass „dem Wohl des Kin-
schiebung wartenden Drittstaatsangehörigen vor einer des … Vorrang“ einzuräumen ist. Ein Hinweis auf
Kriminalisierung und Stigmatisierung durch die Zusam- diesen wichtigen Maßstab fehlt ebenfalls in § 62 a
menlegung mit gewöhnlichen Strafgefangenen zu schüt- AufenthG-E.
zen. Dies ist nicht nur insbesondere für Minderjährige
und Familien von besonderer Bedeutung, sondern vor al- Neben der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie
lem auch für traumatisierte und psychisch schwer ge- soll der Gesetzentwurf die Sanktionsrichtlinie dem in-
schädigte Menschen von großer Wichtigkeit. Diese nerstaatlichen Recht anpassen. Bei der Umsetzung feh-
Menschen werden durch die eventuelle Zusammenle- len vor allem Regelungen für den Fall, dass ein illegaler
gung mit normalen Straftätern noch weiter traumatisiert Arbeitnehmer um seinen Lohn geprellt wird und diesen
und psychisch destabilisiert; nach einer langen Flucht einklagen möchte. Für diesen Fall sieht Art. 6 II RL vor,
muss ihnen die Inhaftierung in einem deutschen Strafge- dass die Mitgliedstaaten Verfahren einrichten müssen,
fängnis wie eine nicht mehr zu erklärende Endstation die es illegal aufhältigen Ausländern ermöglichen, An-
vorkommen. Den Bedürfnissen besonders schutzbedürf- sprüche auf ausstehenden Lohn und ausstehende Sozial-
tiger Personen muss jedoch gemäß Art. 16 Abs. 3 der RL versicherungsbeiträge gegen ihren Arbeitgeber geltend
2008/115/EG Rechnung getragen werden. Am sinnvolls- zu machen. Dies soll entweder dadurch geschehen, dass
ten wäre hier sicherlich eine vorherige psychologische der Arbeitnehmer selber seinen Lohn einklagt, oder aber
Untersuchung zur Feststellung, ob die oder der Dritt- dadurch, dass er sich an eine zuständige Behörde des be-
staatsangehörige überhaupt haftfähig ist. treffenden Mitgliedstaats wendet, um ein Verfahren mit
dem Ziel einzuleiten, die ausstehenden Vergütungen ein-
Schließlich normiert Art. 17 der Rückführungsrichtli- zuziehen, ohne selbst einen Anspruch geltend machen zu
nie besondere Regeln im Umgang mit der Inhaftierung müssen. Ein solches Verfahren ist im Gesetzentwurf der
von Minderjährigen und Familien. Hierzu betont die Bundesregierung nicht vorgesehen. Theoretisch ist es
Richtlinie in Abs. 1, dass bei diesen Personengruppen nach wie vor denkbar, dass ein Illegaler vor dem Ar-
das Mittel der Abschiebehaft „nur im äußersten Falle beitsgericht ein Verfahren einleitet. In der Praxis schei-
und nur für die kürzest mögliche angemessene Dauer“ tert die Geltendmachung eines solchen Anspruches aber
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12167

(A) zumeist daran, dass die Betroffenen aus Angst vor der Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gesetzentwurf in (C)
Aufdeckung ihres Status und der daraufhin zu befürch- dieser Form verbleiben muss. Sicherlich wird es dazu
tenden Abschiebung davon absehen, eine solche Klage eine Anhörung im Innenausschuss geben, die meiner
zu erheben; Denn der Arbeitsrichter ist gemäß § 87 II Ansicht nach so bald wie möglich stattfinden sollte, da-
AufenthG übermittlungspflichtig an die Ausländerbe- mit wir das Gesetzesvorhaben noch vor der Sommer-
hörden. pause abschließen können.
Mittlerweile sind die Übermittlungspflichten für den Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen, die aus
Bereich der Gesundheit zumindest in den Verwaltungs- Sicht der FDP-Bundestagsfraktion im Rahmen des Ge-
vorschriften eingeschränkt worden, sodass Illegale ohne setzentwurfes nochmals näher zu betrachten sind:
Angst vor der sofortigen Abschiebung den Gang zum
Das Kindeswohl muss Priorität haben. Der Gesetzent-
Arzt wagen können, bevor sie im schlimmsten Fall un-
wurf ist in Bezug auf die Abschiebungshaft bei Minder-
heilbar krank sind. Dass die Übermittlungspflichten für
jährigen sehr ausgewogen. Allerdings gibt es doch Stel-
Kindergärten, Schulen und sonstige Jugendfreizeitein-
len, an denen Kritik insbesondere von Kirchen erhoben
richtungen eingeschränkt werden müssen, so wie es in
wird. Hier wird zu klären sein, ob eventuell klarere For-
vielen Bundesländern Praxis ist, ist mittlerweile wohl
mulierungen hilfreich sein könnten, um auch das Anlie-
politischer Konsens quer durch alle Fraktionen.
gen der Regierungskoalition, das Kindeswohl prioritär
Für eine effektive Umsetzung von Art. 6 II RL wäre zur Geltung zu bringen, vollumfänglich zu gewährleis-
daher mindestens eine spezielle Ausnahme für Arbeits- ten.
gerichte in den hier relevanten Fällen von der Übermitt- Das Kindeswohl ist für die schwarz-gelbe Koalition
lungspflicht des § 87 II AufenthG geboten. Eine Lösung, zentral. Dies zeigt sich bereits in der Rücknahme des
die diese ebenso wie andere Fallkonstellationen auf- Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention. Keine Vorgän-
greift, hat die SPD-Bundestagsfraktion in Bundestags- gerkoalition hatte dies zustande gebracht. Mit der Rück-
drucksache 17/56 vorgeschlagen. Wir bitten aus diesen nahme des Vorbehalts kann selbstverständlich der Ein-
Gründen ausdrücklich um Ihre Unterstützung für unse- satz für das Kindeswohl noch nicht abgeschlossen sein.
ren Entwurf. Vielmehr muss der Gesetzgeber bei allen Rechtsakten
Den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung darauf achten, dass dieses entsprechend Maßstab ist.
empfehle ich jedoch aus den genannten Gründen abzu- Abschiebungen sind im Ausländerrecht notwendig;
lehnen. die Abschiebungshaft ist aus Sicht der FDP-Bundestags-
fraktion auch notwendiges Mittel zur Durchsetzung des
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Gesetzent- Ausländerrechts. Allerdings muss man bei einem derart
(B) wurf dient der Umsetzung einiger wichtiger Richtlinien (D)
sensiblen Bereich als Gesetzgeber und als Vollziehende
im Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrechts; insbe- möglichst alles unternehmen, um für eine angemessene
sondere die Rückführungs- und die Sanktionsrichtlinie Durchführung, Transparenz und Akzeptanz zu sorgen.
sind hier zu nennen.
Den Vorschlag insbesondere der Kirchen, die Ab-
Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Rückführungs- schiebebeobachtung als Möglichkeit ins Gesetz aufzu-
richtlinie begrüßt. Anders als zum Beispiel die Kollegen nehmen, halte ich aus diesem Grund durchaus für über-
von der Linken sehen wir hier einen großen Fortschritt: legenswert. Diese ist bereits erprobt und hat sich
Erstmals gibt es innerhalb Europas gleiche Mindeststan- bewährt. Wir müssen dabei zum einen an die Betroffe-
dards im Bereich der Rückführung. Reflexartig wird die nen denken, für die die Abschiebebeobachtung zur Beru-
Richtlinie verteufelt. Aber sie ist ein großer Fortschritt für higung beitragen kann, zum andern aber auch an diejeni-
die Betroffenen. Und das ist entscheidend – nicht die poli- gen, die die Abschiebung durchzuführen haben. Diese
tische Polemik der Linken. werden oftmals in der Öffentlichkeit vollkommen zu
Unrecht verunglimpft. Gerade denen kann die Abschie-
Die Rückführungs-RL hätte bereits zum Ende letzten bebeobachtung auch helfen.
Jahres umgesetzt werden müssen. Die sorgfältige Ab-
stimmung des Gesetzentwurfes innerhalb des BMI mit Dass nun explizit vorgesehen ist, dass Abschiebehäft-
den anderen Ressorts und insbesondere auch die inten- linge in separaten Einrichtungen untergebracht werden
sive Beteiligung der Verbände zeigt, dass die Bundesre- sollen, begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion ausdrück-
gierung große Sensibilität in diesem Themenbereich lich. Die Unterbringung in normalen Gefängnissen kann
zeigt. Dies ist auch richtig: Gerade die Abschiebungshaft grundsätzlich nicht hingenommen werden.
greift tief in Grundrechte ein und muss daher besonders
Die Umsetzung der Rückführungsrichtlinie ist für uns
austariert werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion war
auch Anlass, das Vorhaben im Koalitionsvertrag, die Ab-
immer wichtig, dass diese nur letztes Mittel sein kann
schiebehaftbedingungen zu evaluieren, anzugehen.
und sein darf. Nach unserer Überzeugung wurde bei dem
Gesetzentwurf dieser Haltung Rechnung getragen. Wir möchten auch die sozialrechtlichen Vorschriften,
die beim Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz nicht mehr
Die Koalitionsfraktionen haben sich entschieden, den
untergebracht werden konnten, nun einflechten.
Gesetzentwurf parallel einzubringen, da die Frist zur
Umsetzung bereits verstrichen ist. Ein Vertragsverlet- Uns liegt des Weiteren noch ein Vorhaben des Koali-
zungsverfahren wegen besonders sorgfältigen Abwägens tionsvertrages am Herzen. Dort ist Folgendes vereinbart:
sollte der Bundesregierung nicht aufgebürdet werden. „Wir werden die aufenthaltsgesetzlichen Übermittlungs-
12168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) pflichten öffentlicher Stellen dahin gehend ändern, dass kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort (C)
der Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird.“ Es ist „Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden sollen.
ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthalts-
rechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen
ändern, um den Schulbesuch von Kindern zu gewähr- muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden
leisten. Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Inte- Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen
gration und persönlichen Erfolg. muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich posi-
tiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung
Wir werden in den kommenden Wochen in der Koali- für diejenigen, die das geschafft haben. Wir halten inte-
tion über diese und weitere Änderungen verhandeln. Die grierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine große
Anhörungsergebnisse sollen ebenso Grundlage für die Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwün-
weiteren Überlegungen sein. Ich bin mir angesichts der schen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben.
erfolgreichen Verhandlungen innerhalb der Koalition un- Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind
ter anderem zum Zwangsheiratsbekämpfungsgesetz si- dankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland ent-
cher, dass wir auch hier wichtige Weichenstellungen er- schieden haben.
reichen werden.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir verhandeln hier heute
Um die illegale Beschäftigung von Ausländern zu
in erster Linie die Umsetzung zweier EU-Richtlinien in
verhindern bzw. zu sanktionieren, fordert die Sanktions-
das deutsche Aufenthaltsrecht. Die eine Richtlinie ist in-
richtlinie im Wesentlichen die Ausdehnung der Arbeit-
ternational als Abschieberichtlinie zu trauriger Berühmt-
geberhaftung auf Generalunternehmer und zwischenge-
heit gelangt. Des Weiteren soll die sogenannte Sank-
schaltete Unternehmer, erhöhte Nachweispflichten für
tionsrichtlinie umgesetzt werden. Damit werden Strafen
Arbeitgeber und die Einführung von zwei neuen Straftat-
gegen Arbeitgeber, die Menschen ohne Aufenthalts- und
beständen.
Arbeitserlaubnis beschäftigen, zur Pflicht. Zudem sollen
Darüber hinaus ist ein befristeter Aufenthaltstitel für die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, als Zeugen ge-
Opfer illegaler Beschäftigung einzuführen, um ihre Mit- gen ausbeuterische Arbeitgeber aufzutreten und ausste-
wirkung als Zeugen im Strafverfahren zu ermöglichen. henden Lohn einzuklagen.

Wegen einiger Regelungen des Visakodex (insbeson- Im Rahmen der Umsetzung der Sanktionsrichtlinie
dere zur Erforderlichkeit der Begründung von Visumver- geht es auch um das Aufenthaltsrecht für die Betroffenen
sagungen sowie zur Anfechtbarkeit der Visumversa- ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse ohne Aufenthaltssta-
gung) sind im Wesentlichen Anpassungen der Form- und tus. Hier gibt es dringenden Änderungsbedarf. Wie
(B) Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes notwen- schon bei den Opfern von Menschenhandel und Zwangs- (D)
dig. prostitution soll das Aufenthaltsrecht für diese Men-
schen begrenzt und davon abhängig gemacht werden, ob
Im Zusammenhang mit den genannten Anpassungen die Mitwirkung der Betroffenen in einem strafrechtli-
an europäische Rechtsakte werden zur Klarstellung und chen Verfahren erforderlich ist. Das ist eine strafrechtli-
zur Bereinigung von Unstimmigkeiten technische und che Instrumentalisierung von Menschen, die nicht selten
redaktionelle Anpassungen aufenthaltsrechtlicher Vor- Hilfe und Beistand benötigen. Noch schlimmer: Die Be-
schriften vorgenommen, die sich auf unterschiedliche troffenen können sich nicht einmal sicher sein, ob ihre
Regelungsbereiche des Aufenthaltsgesetzes, das AZR- Aussagebereitschaft auch zu einer Aufenthaltserlaubnis
Gesetz, die Aufenthaltsverordnung und die AZRG- führt, weil die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im
Durchführungsverordnung erstrecken. Ermessen der Ausländerbehörde steht. Den Opfern aus-
beuterischer Arbeitsverhältnisse wird klargemacht, dass
Deutschland verändert sich. Die neue Bundesregie- man sie so schnell wie möglich wieder loswerden will:
rung wird diese Veränderung gestalten – ohne Ideologie Sie können zur Ausreise verpflichtet werden, obwohl sie
und vorurteilsfrei. ausstehenden Lohn noch nicht erhalten haben. Wenn sie
bleiben dürfen, erhalten sie lediglich abgesenkte Sozial-
Migration und Integration stellen Deutschland vor
leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ob-
neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue
wohl sich strafrechtliche Prozesse wegen Menschenhan-
Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente
del und illegaler Beschäftigung über Jahre hinziehen
Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine
können. In dieser Zeit können die Betroffenen damit
aktive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen eine neue
auch kaum therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechun-
gen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen Die Linke fordert ein bedingungsloses Bleiberecht für
und Perspektiven eröffnet für die, die nicht nur „territo- diese Menschen und ihre Familien. Sie dürfen nicht ein
rial“ nach Deutschland kommen, sondern auch mit ihrer zweites Mal zu Opfern werden, indem man sie für Straf-
Kultur in unserem Land sowie unserer Gesellschaft mit prozesse instrumentalisiert.
ihren Grundwerten ankommen wollen.
Noch weitaus erschreckender ist die Umsetzung der
Wir halten es nicht wie die Grünen oder Linken für Abschieberichtlinie durch die Koalition. Zunächst will
unzumutbar, Deutsch zu lernen, wir halten Zuwanderer ich Folgendes vorausschicken: Die Linke lehnt die Ab-
nicht für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, de- schiebehaft weiterhin grundsätzlich ab. Sie dient aus-
nen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden schließlich der Durchsetzung einer Verwaltungsmaß-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011 12169

(A) nahme, der Ausreisepflicht. Eine Inhaftierung von bleibt Die Linke bei ihrer grundsätzlichen Kritik an der (C)
Menschen zu diesem Zweck ist aus unserer Sicht grund- Abschiebehaft als Instrument einer restriktiven Migra-
sätzlich unverhältnismäßig. Dass sich nach deutscher tions- und Flüchtlingspolitik.
Rechtslage der Freiheitsentzug über 18 Monate hinzie-
hen kann, ist inakzeptabel. Diese Höchstgrenze für
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Abschiebehaft von 18 Monaten aber hat die Bundesre-
Bundesregierung legt uns heute einen Gesetzentwurf zur
gierung auf EU-Ebene durchgesetzt, um an unverhältnis-
Umsetzung zweier EU-Richtlinien vor, der sehr ängst-
mäßig langen Haftzeiten auch in Deutschland festhalten
lich und zurückhaltend ist, wenn es um die rechtliche
zu können.
Besserstellung von Immigranten geht. Bei der Beseiti-
Allerdings enthält die Abschieberichtlinie auch vor- gung der Missstände taucht die Bundesregierung ab und
gaben, die zu wenigen menschenrechtlichen Verbesse- ist ideenlos.
rungen im Vollzug der Abschiebehaft in Deutschland
führen müssten. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt Der Gesetzentwurf betrifft zum einen die EU-Rück-
diese Vorgaben gar nicht oder ungenügend um. In Teilen führungsrichtlinie über gemeinsame Normen und Ver-
verletzt er andere menschenrechtliche Verpflichtungen fahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal
der Bundesrepublik. Darauf will ich im Folgenden ein- aufhältiger Drittstaatsangehöriger, zum anderen die EU-
gehen. Sanktionsrichtlinie über Mindeststandards für Sanktio-
nen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaats-
Der Schutz des Kindeswohls wird im vorliegenden angehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen.
Gesetzentwurf schlicht ignoriert. Nach der Rücknahme Die noch im Referentenentwurf enthaltene EU-Hoch-
des Vorbehalts gegen die UN-Kinderrechtskonvention qualifiziertenrichtlinie findet sich im Gesetzentwurf
darf die Bundesrepublik ausländische Kinder nicht mehr nicht mehr. Offenbar konnte die Bundesregierung sich
schlechter behandeln als inländische Kinder. Auch für nicht über die notwendigen Änderungen bei der Fach-
die ausländischen Kinder gilt, dass ihr Wohl im Handeln kräfteeinwanderung einigen. Das ist typisch für diese
der Behörden vorrangig beachtet werden muss. Die Bundesregierung: Vor lauter Streit ist sie nicht mehr fä-
Abschiebehaft bei Kindern und Jugendlichen ist ein ek- hig zu regieren. Die Rückführungsrichtlinie hätte bis
latanter Verstoß gegen diesen Grundsatz. Die UN-Kin- spätestens zum 24. Dezember 2010 in deutsches Recht
derrechtskonvention erlaubt eine Inhaftierung Minder- umgesetzt werden müssen. Die noch nicht einmal im
jähriger lediglich bei Straftaten und nur als letztes Gesetzgebungsverfahren befindliche EU-Hochqualifi-
Mittel. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat in ziertenrichtlinie muss bis Juni 2011 umgesetzt werden.
einem Gutachten klargestellt: Unbegleitete Minderjäh-
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind hinsichtlich der
(B) rige dürfen nicht in Abschiebehaft genommen werden. Rückführungsrichtlinie weiterhin Bestimmungen enthal- (D)
Auch für Minderjährige in Begleitung von Erwachsenen
gilt diese menschenrechtliche Grenze. Auch die in ten, die im Vorfeld von allen kirchlichen und gesell-
Deutschland übliche Inhaftierung eines Elternteils, um schaftlichen Institutionen – zum Beispiel auch dem
die Abschiebung der gesamten Familie zu sichern, ver- Deutschen Institut für Menschenrechte – einhellig kriti-
letzt die Verpflichtung zum Vorrang des Kindeswohls, so siert wurden: Sie betreffen die vorgesehenen Regelun-
das Gutachten. Das fehlende Verbot der Inhaftierung gen zur Abschiebehaft, insbesondere von Minderjähri-
Minderjähriger und ihrer Sorgeberechtigten im Gesetz- gen. Diese soll – wenn auch mit Einschränkungen –
entwurf ist ein menschenrechtlicher Skandal. Hier weiterhin zulässig sein. Aus unserer Sicht ist das höchst
besteht dringender Handlungsbedarf. Auch die Inhaf- problematisch. Auch das Deutsche Institut für Men-
tierung Kranker und insbesondere psychisch Traumati- schenrechte betont in einer jüngst erschienenen Studie,
sierter und anderer besonders schutzbedürftiger Perso- dass „es unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechts-
nen muss endlich eindeutig im Gesetzestext untersagt konvention (KRK) menschenrechtlich unzulässig ist,
werden. Abschiebehaft gegenüber unbegleiteten Minderjährigen
anzuordnen“.
Es gibt noch einigen weiteren Anpassungsbedarf, um
wenigstens dieser „Richtlinie der Schande“, wie sie ge- Problematisch ist auch die fehlerhafte Umsetzung der
nannt wurde, Genüge zu tun. Die Pflicht zur gesonderten Rückführungsrichtlinie zum Vollzug der Abschiebehaft.
Unterbringung außerhalb von Strafvollzug und Untersu- Die Richtlinie lässt nämlich die Unterbringung von Ab-
chungshaft muss wirksam und ausnahmslos umgesetzt schiebehäftlingen in gewöhnlichen Haftanstalten allen-
werden. Die Abschiebehäftlinge müssen kostenlos Zu- falls dann zu, wenn in einem Mitgliedstaat spezielle
gang zu Rechtsvertretung und -beratung haben. Die In- Hafteinrichtungen nicht vorhanden sind. In Deutschland
haftierung von Asylsuchenden, die üblicherweise kein gibt es diese jedoch in mehreren Bundesländern. Die
Visum erhalten und deshalb illegal einreisen müssen, Ausnahmeregelung bezieht sich auf EU-Mitgliedstaaten,
muss wirksam ausgeschlossen werden. Das ist auch eine in denen es keine speziellen Hafteinrichtungen gibt,
Anforderung aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der nicht auf deutsche Bundesländer, wie im Gesetzentwurf
die Bundesrepublik noch nicht nachgekommen ist. der Bundesregierung vorgesehen. Die weitere Unterbrin-
gung von Abschiebungshäftlingen in Strafhaftanstalten
Die Koalition muss im weiteren Gesetzgebungsver- ist demnach unzulässig. Auch die Schaffung gesonderter
fahren wenigstens den Anforderungen der Abschiebe- Trakte in Justizvollzugsanstalten reicht nicht aus. Denn
richtlinie und der menschenrechtlichen Verpflichtungen hinter der Regelung des Art. 16 Abs. 1 der Rückfüh-
der Bundesrepublik nachkommen. Ungeachtet dessen rungsrichtlinie steht die Erkenntnis, dass Abschiebungs-
12170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. April 2011

(A) häftlinge nicht wie Straftäter behandelt und dementspre- sen. Vom Ausland aus kann ein effektiver Rechtsschutz (C)
chend auch nicht den Strafvollzugsregelungen vor deutschen Verwaltungsgerichten nicht greifen. Ein
unterworfen werden dürfen. Die Regierung scheint ver- Rechtsbehelf ist nur dann wirksam, wenn irreparable
gessen zu haben, dass es sich bei der Abschiebehaft Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer ho-
nicht um Strafhaft zur Ahndung strafrechtlicher Delikte heitlichen Maßnahme vor deren gerichtlicher Überprü-
handelt. Zweck der Abschiebehaft ist einzig die Durch- fung eintreten können, soweit als möglich ausgeschlos-
führung der Abschiebung. Deswegen wäre es auch rich- sen werden können.
tig und wichtig gewesen, anlässlich der Umsetzung der
Rückführungsrichtlinie die Höchstdauer der Abschiebe- Weiterhin sind gesetzliche Anpassungen, die sich aus
haft von 18 Monaten deutlich zu verkürzen. Denn die der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechts-
Möglichkeit, einem Menschen für 18 Monate allein zur konvention ergeben, in den Gesetzentwurf zu integrie-
Durchführung der Abschiebung die Freiheit zu entzie- ren. Schließlich hat die Bundesregierung die Gelegen-
hen, wird dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbe- heit verpasst, die Übermittlungspflichten des § 87
schleunigung und dem Grundsatz der Verhältnismäßig- AufenthG einzuschränken, damit statuslose Kinder ihr
keit nicht gerecht. Recht auf Schulbildung auch tatsächlich ausüben kön-
nen. Ebenso hat die Bundesregierung es unterlassen, die
Bedauerlicherweise wird in dem vorgelegten Gesetz- Residenzpflicht für Geduldete und Asyl bewerber zu lo-
entwurf die Gelegenheit nicht wahrgenommen, auch ckern. Mit der Residenzpflicht gibt es in Deutschland ein
andere durch europäisches Recht notwendig gewordene bundesweites und in Europa einzigartiges System der
Änderungen bzw. Klarstellungen vorzunehmen. So er- Aufenthaltsbeschränkung. Diese räumliche Beschrän-
scheint es dringend geboten, gemäß Art. 13 der Rück- kung des Aufenthalts auf den Bezirk der zuständigen
führungsrichtlinie, der die Gewährung effektiven Ausländerbehörde hat diskriminierende Wirkung und
Rechtsschutzes fordert, endlich den einstweiligen führt dazu, dass das Recht dieser Personen auf Teil-
Rechtsschutz in Verfahren nach der Dublin-II-Verord- nahme an kulturellen, politischen und religiösen Veran-
nung zu ermöglichen. Ich verweise insofern auf die staltungen unzulässig eingeschränkt und der Zugang zu
Grundsatzentscheidung des EGMR vom 21. Januar 2011 einer erforderlichen ärztlichen oder psychologischen Be-
im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, handlung und zum Arbeitsmarkt wesentlich erschwert
Beschwerde Nr. 30696/09. Seit den mit dem 1. EU- werden.
Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Ände-
rungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einstwei- Ich erwarte, dass die Bundesregierung im weiteren
lige Rechtsschutz gegen Entscheidungen im Verfahren Gesetzgebungsverfahren die allseitige Kritik ernst
nach der Dublin-II-Verordnung generell ausgeschlos- nimmt und die notwendigen Änderungen vornimmt.
(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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