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Plenarprotokoll 17/103

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

103. Sitzung

Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- nen in Antipersonenminen und Streu-


neten Johannes Pflug . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11805 A munition gesetzlich verbieten und die
steuerliche Förderung beenden
Begrüßung der Botschafterin der Ukraine, (Drucksache 17/4697) . . . . . . . . . . . . . . . 11805 D
Frau Natalia Zarudna . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11829 C
e) Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak,
Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Tagesordnungspunkt 26: NIS 90/DIE GRÜNEN: Aufnahme In-
diens in die Nuclear Suppliers Group
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
verhindern – Keine weitere Erosion des
Bericht der Bundesregierung zum
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
Stand der Bemühungen um Rüstungs-
(Drucksache 17/5374) . . . . . . . . . . . . . . . 11805 D
kontrolle, Abrüstung und Nichtverbrei-
tung sowie über die Entwicklung der f) Beschlussempfehlung und Bericht des
Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungs- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
bericht 2010) der Abgeordneten Agnes Malczak, Omid
(Drucksache 17/4620) . . . . . . . . . . . . . . . . 11805 B Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
GRÜNEN: Deutschland atomwaffenfrei –
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
Bei der Abrüstung der Atomwaffen vo-
der Abgeordneten Jan van Aken, Christine
rangehen
Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-
(Drucksachen 17/122, 17/2213) . . . . . . . . 11806 A
geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Atomwaffen unverzüglich aus Deutsch-
land abziehen in Verbindung mit
(Drucksachen 17/116, 17/2214) . . . . . . . . 11805 B
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Zusatztagesordnungspunkt 8:
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Antrag der Fraktion der SPD: Deutschland
Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Ab- im VN-Sicherheitsrat – Impulse für Frieden
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: und Abrüstung
Überprüfungskonferenz des Atomwaf- (Drucksache 17/4863) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11806 A
fensperrvertrages durch atomare Ab-
rüstung stärken Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
(Drucksachen 17/886, 17/2215) . . . . . . . . 11805 C AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11806 B

d) Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11807 C


Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11808 D
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Investitio- Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11809 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11809 D Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11838 A


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11811 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11839 B
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11841 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11814 B
Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11816 B
Tagesordnungspunkt 28:
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11817 D
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11819 B desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 11820 D 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts-
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11821 D und Verwaltungsvorschriften betreffend be-
stimmte Organismen für gemeinsame Anla-
Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11823 A gen in Wertpapieren (OGAW-IV-Umset-
zungsgesetz – OGAW-IV-UmsG)
(Drucksachen 17/4510, 17/4811, 17/5403,
Tagesordnungspunkt 27: 17/5417) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11842 C
a) Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11842 D
Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weite- Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11844 A
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Nie wieder Tscher- Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11845 C
nobyl – Atomzeitalter beenden Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11846 C
(Drucksache 17/5375) . . . . . . . . . . . . . . . . 11824 C
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
b) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11847 C
Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11848 D
LINKE: 25 Jahre Reaktorkatastrophe
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 11850 C
von Tschernobyl – Atomkraftwerke ab-
schalten
(Drucksache 17/5379) . . . . . . . . . . . . . . . . 11824 D
Tagesordnungspunkt 29:

in Verbindung mit Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-


schusses für Gesundheit zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel
Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und
Zusatztagesordnungspunkt 9: der Fraktion der SPD: Für ein modernes Pa-
tientenrechtegesetz
Antrag der Fraktion der SPD: Tschernobyl
(Drucksachen 17/907, 17/5227) . . . . . . . . . . . 11851 D
mahnt – Für eine zukunftssichere Energie-
versorgung ohne Atomkraft und eine le- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 11852 A
bendige europäische Erinnerungskultur
(Drucksache 17/5366) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11824 D Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11853 B

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11854 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11824 D Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11856 A
Marie-Luise Dött (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11826 B Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/
Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11828 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11857 B

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11829 D Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11858 C

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 11830 D Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11859 D

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11831 D


Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 11832 B Tagesordnungspunkt 30:

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von den Abgeordneten
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11832 D Wolfgang Nešković, Harald Koch, Jan Korte,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11834 C LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Bekämpfung der Abgeordnetenbe-
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11836 A
stechung
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 11837 A (Drucksache 17/1412) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11860 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 III

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11860 D Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11871 A
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11861 D
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . 11863 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11872 C
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11864 A
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11865 D Anlage 1
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11873 A
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11867 A
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11868 C Anlage 2
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11869 D Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11874 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11805

(A) (C)

Redetext

103. Sitzung

Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Berichterstattung:


Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Edelgard Bulmahn
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Dr. Rainer Stinner
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung. Jan van Aken
Dr. Frithjof Schmidt
Heute feiert der Kollege Johannes Pflug seinen
65. Geburtstag. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(Beifall – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Er feiert!) richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van
– Genau. Der donnernde Beifall des Plenums wird ihn Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei-
hoffentlich übers Fernsehen beim Frühstück erreichen. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr begleiten
(B) ihn. Überprüfungskonferenz des Atomwaffen- (D)
sperrvertrages durch atomare Abrüstung
Es gibt keine Ankündigungen, sodass wir sofort in stärken
unsere Tagesordnung eintreten können. Ich rufe zu-
nächst die Tagesordnungspunkte 26 a bis f sowie den – Drucksachen 17/886, 17/2215 –
Zusatzpunkt 8 auf:
Berichterstattung:
26 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Abgeordnete Roderich Kiesewetter
gierung Edelgard Bulmahn
Dr. Rainer Stinner
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Jan van Aken
Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüs- Kerstin Müller (Köln)
tung und Nichtverbreitung sowie über die Ent-
wicklung der Streitkräftepotenziale d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
(Jahresabrüstungsbericht 2010) Malczak, Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
– Drucksache 17/4620 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) Investitionen in Antipersonenminen und
Verteidigungsausschuss Streumunition gesetzlich verbieten und die
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
steuerliche Förderung beenden
Entwicklung
– Drucksache 17/4697 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag:
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Auswärtiger Ausschuss (f)
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Finanzausschuss
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, wei- Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen unverzüglich aus Deutschland e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
abziehen Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
– Drucksachen 17/116, 17/2214 – DIE GRÜNEN
11806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Start in ein Jahrzehnt der Abrüstung, für das wir alle ge- (C)
Group verhindern – Keine weitere Erosion des meinsam arbeiten wollen.
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
Natürlich sind diese Erfolge kein Anlass, sich auszu-
– Drucksache 17/5374 – ruhen, sondern sie sind ein Ansporn, mit ganzer Kraft
Überweisungsvorschlag: weiterzumachen. Die Bundesregierung hat im vergange-
Auswärtiger Ausschuss (f) nen Jahr zur Wiederbelebung der internationalen Abrüs-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tungspolitik beigetragen. Diese neue Dynamik werden
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wir auch für die vor uns liegenden weiteren Aufgaben
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung nutzen.
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- der CDU/CSU)
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Es war richtig, dass wir die Diskussion über die sub-
Malczak, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer strategischen Nuklearwaffen innerhalb der NATO ange-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ stoßen haben. Wir setzen dabei auf eine enge Abstim-
DIE GRÜNEN mung im Bündnis, aber gleichzeitig wollen wir diese
Deutschland atomwaffenfrei – Bei der Abrüs- Debatten anführen.
tung der Atomwaffen vorangehen Unsere Initiative für die Reduzierung der substrategi-
– Drucksachen 17/122, 17/2213 – schen Nuklearwaffen zeigt Wirkung. Bei der Münchner
Sicherheitskonferenz in diesem Jahr hat die amerikani-
Berichterstattung: sche Außenministerin Hillary Clinton Gespräche mit
Abgeordnete Roderich Kiesewetter Russland auch über die substrategischen Atomwaffen
Edelgard Bulmahn angekündigt. Russland ist nämlich – das muss uns allen
Dr. Rainer Stinner klar sein – ausdrücklich auch in der Pflicht. Das wird
Jan van Aken klar, wenn wir allein an die zahlenmäßige Überlegenheit
Dr. Frithjof Schmidt in diesem Segment denken.
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutschland im VN-Sicherheitsrat – Impulse Nächste Woche werden wir hier in Berlin beim Au-
für Frieden und Abrüstung ßenministertreffen der NATO-Staaten mit Russland über
(B) – Drucksache 17/4863 – alle Bereiche der Abrüstung sprechen, auch über die (D)
Überweisungsvorschlag:
konventionelle Rüstung; denn eines ist klar: Nukleare
Auswärtiger Ausschuss (f) Abrüstung darf konventionelle Kriege nicht leichter
Verteidigungsausschuss führbar machen.
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wir haben mit Japan und Australien im September
Entwicklung des letzten Jahres in New York die Freundesgruppe für
Haushaltsausschuss Abrüstung und Nichtverbreitung gegründet. Ende April
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für treffen sich die Außenminister aus fünf Kontinenten hier
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Das ist offen- in Berlin. Die Tatsache, dass sich sowohl die Außen-
kundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. minister der NATO zu informellen Beratungen als auch
die Freundesgruppe für Abrüstung und Nichtverbreitung
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- in diesem Monat in Berlin treffen, ist nicht nur eine Aus-
nächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido zeichnung für unser Land, sondern es zeigt auch, dass
Westerwelle. wir mitten in den Gesprächen und Verhandlungen sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutschland spielt beim Thema Abrüstung eine wichtige
Rolle. Darüber freuen wir uns. Ich denke, darauf kann
die Bundesregierung mit Stolz verweisen.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wichtigstes Ziel ist es, die Produktion von waffenfä-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Jahr war ein higem Spaltmaterial vollständig zu verbieten und auch
gutes Jahr für die Abrüstung. Auf der Konferenz zur nu- das zu vernichten, was schon produziert wurde. Wenn
klearen Nichtverbreitung in New York fand anders als die Genfer Abrüstungskonferenz keine Fortschritte ma-
vor fünf Jahren eine Einigung statt. Das Abkommen chen kann, dann wollen wir das Thema in New York in
über das Verbot von Streumunition ist in Kraft getreten. die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein-
Die NATO hat das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt bringen.
zum Teil ihrer neuen Strategie gemacht. Der START-
Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen In dieser Überlebensfrage für die Menschheit können
zwischen den USA und Russland wurde ratifiziert. Man wir keine weitere Blockade zulassen. Wir dürfen nicht
kann es zusammenfassen: Nach einem Jahrzehnt des zulassen, dass nukleares Spaltmaterial in die Hände von
Stillstands bei der Abrüstung ist das ein guter und solider Tyrannen oder von Terroristen fällt. Das zu verhindern,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11807
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) ist eine außerordentlich bedeutsame Aufgabe, die wir in- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (C)
ternational verfolgen müssen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deswegen gehört zur Debatte über diesen Abrüs-
tungsbericht auch die Debatte über das iranische Atom- Präsident Dr. Norbert Lammert:
programm. Es ist für uns völlig klar, dass dieses Thema Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek
zu den Herausforderungen auch dieses Jahres zählt. Im für die SPD-Fraktion.
Januar war der Iran beim Treffen mit den E3+3-Staaten
in Istanbul nicht bereit, über die zentralen Fragen zu ver-
handeln. Der Iran hat auch die letzten Wochen und Mo- Michael Groschek (SPD):
nate nicht genutzt. Ich warne davor, das Bemühen der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Weltgemeinschaft mit Schwäche zu verwechseln. Die ren! Das war ein denkwürdig kurzer und knapper Auf-
Europäische Union ist bei Sanktionen sogar weiter- tritt. Herr Außenminister, wir hätten erwartet, dass Sie
gegangen als der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1929. nicht nur aus Ihrer Sicht darauf verweisen, dass das ein
gutes Jahr für die Abrüstung war, worüber man – was
Unsere Hand bleibt ausgestreckt. Die Führung in den Anteil der Bundesregierung angeht – streiten kann.
Teheran muss aber wissen, dass endlich Verhandlungen
ohne Vorbedingungen aufgenommen werden müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die nukleare Kontrolle ist natürlich ein Thema, das aus- Wir hätten erwartet, dass Sie auch einen Hinweis darauf
drücklich auch für Nordkorea gilt. Darauf wird in Anbe- geben, wie dieses Jahr ein besseres Jahr für die deutsche
tracht der Debatten, die in unserer unmittelbaren Nach- Außen- und Sicherheitspolitik werden könnte. Wir hät-
barschaft stattfinden, nicht unbedingt genug geachtet. ten deshalb natürlich erwartet, dass Sie auch auf Libyen
Ich denke aber, dass wir uns darüber einig sind, dass die Bezug nehmen, was Sie leider nicht getan haben, Herr
internationale Staatengemeinschaft auch hierauf beson- Dr. Westerwelle.
ders achten muss.
(Beifall bei der SPD)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Abrüstung
gelingt mit einem starken Völkerrecht. Wir werben für Ich finde es schon bemerkenswert, dass Ihr erster
den Beitritt zum Atomteststoppabkommen und zum Auftritt nach der beabsichtigten Degradierung im Kabi-
Atomwaffensperrvertrag. Wir wollen auch Staaten wie nett und der Enthauptung in Ihrer eigenen Partei so spur-
Indien in die internationalen Kontrollsysteme einbinden, los an allen politischen Entwicklungen vorbeigeht, die
auch wenn der Weg dahin lang und beschwerlich sein damit verbunden sind.
wird. (Beifall bei der SPD – Philipp Mißfelder [CDU/
(B) CSU]: Was hat das damit zu tun?) (D)
In den Vereinten Nationen setzen wir uns für ein ro-
bustes Waffenhandelsabkommen ein, damit Regime, die Ich finde es schon bemerkenswert – um noch einmal
Menschenrechte mit Füßen treten, und Länder, in denen darüber zu reden –, dass die „Kehrtwende Marsch“ zum
Bürgerkrieg herrscht, nicht mehr legal mit Waffen belie- Ungütesiegel Ihrer eigenen Politik geworden ist. Dabei
fert werden können. Ich denke, die Bedeutung des The- hatten Sie uns doch eine Politik der langen Linie ver-
mas Abrüstung ist uns über die Parteigrenzen hinweg sprochen. Frau Dr. Merkel hat gesagt: Wir stehen für ein
klar. Abrüstung hat überhaupt nichts Naives. Abrüstung Durchregieren, damit mehr Kohärenz und mehr Konse-
gefährdet nicht unsere Sicherheit, sondern sie vergrößert quenz in die Politik kommt. – Was erleben wir aber? Ein
unsere Sicherheit. Sie sorgt dafür, dass die Sicherheit in Durchlavieren auf allen wichtigen Feldern der Politik,
der Welt erhöht wird und dass der Frieden in der Welt leider auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das
stabiler wird. Die Angelegenheit ist ohnehin fragil ge- will ich an ein paar Punkten deutlich machen. Der Zu-
nug. sammenhang zu unserem heutigen Thema besteht darin,
dass glaubwürdige Politik auch Voraussetzung für
Auch wenn die Debatte über den Jahresabrüstungsbe- Glaubwürdigkeit in der Abrüstungspolitik ist.
richt hier nicht von einer großen Anzahl von Kollegin-
nen und Kollegen verfolgt wird, so möchte ich doch aus- (Beifall bei der SPD)
drücklich sagen: Ich glaube, dass Abrüstung keine
In der Libyen-Frage zum Beispiel haben Sie sich völ-
geringere Aufgabe für die Menschheit ist als beispiels-
lig gegenteilig verhalten. Ihre Nein implizierende Ent-
weise das Thema Klimaschutz. Man mag sich nicht aus-
haltung in New York wurde am nächsten Tag durch den
malen, was passieren könnte, wenn Terroristen oder
Hinweis gekrönt: Es wird keine Beteiligung von deut-
autokratische Regime durch nukleare Verbreitung Atom-
schen Soldaten an militärischen Einsätzen in Libyen ge-
waffen in die Hände bekommen. Das ist das Problem.
ben.
Wir müssen verhindern, dass die Griffnähe zu nuklearen
Waffen kleiner wird. Das ist das zentrale Anliegen. (Zuruf des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])
Auch wenn es am frühen Morgen vielleicht nicht den Das war am 18. März. Dann kam die denkwürdige Em-
Anschein hat, so gehe ich davon aus, dass die Bemühun- bargo-Entscheidung. Sie haben gesagt: Nein danke, un-
gen um die Abrüstung und um die nukleare Nichtver- sere Marine macht beim Embargo nicht mit. Sie haben
breitung von einer großen Anzahl von Abgeordneten die Marineeinheiten abziehen lassen. Dann wurden die
hier im Bundestag nicht nur getragen, sondern auch mit Marineeinheiten der NATO unterstellt, und uns wurde
Interesse verfolgt werden. gesagt: Es gibt zwar einen NATO-Befehl, aber es wird
11808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Michael Groschek
(A) hierbei eine räumliche Trennung vorgenommen. Sie sind es, wie ich finde, diesem Parlament auch (C)
Schließlich haben wir jetzt im Grunde genommen aus schuldig, noch einmal deutlich zu machen, warum Sie
der Zeitung erfahren, dass es drei Tage nach Ihrem Nein glauben, in der Außen- und Sicherheitspolitik im Kabi-
zum Einsatz deutscher Soldaten nett noch am richtigen Platz zu sein.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Was hat das mit (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Zum
Abrüstung zu tun?) Thema!)

– ja, ich komme dazu – Die Urteile, die Ihre eigenen Parteifreunde über Sie ge-
troffen haben, stammen eben nicht nur von Herrn
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Kubicki und Herrn Hahn, sondern auch Herr Martin
Lindner und Herr Chatzimarkakis äußern eine ganz be-
offensichtlich auf einmal ein Ja zum Einsatz der 990 Sol- stimmte Wertschätzung.
daten der Battle Group EUFOR gab, deren Gros
Deutschland stellt. Damit liegt genau das vor, was in un- (Gisela Piltz [FDP]: Es sind gar keine Wahlen
seren Augen Durchlavieren und nicht Durchregieren in Nordrhein-Westfalen! Was reden Sie hier ei-
darstellt. gentlich? – Weiterer Zuruf des Abg. Hartwig
Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])
Der Kollege Stinner hat nun erklärt: Wir sind offen
für militärische Absicherung humanitärer Einsätze. Der Und uns wundert schon, dass Sie als Außenminister zu
Kollege Rösler hat erklärt: militärisch nein, humanitär dieser Zurdispositionstellung Ihrer jetzigen Position in
ja. Der Kollege Mißfelder hat gesagt: Wir haben die mo- der Bundesregierung kein Wort verlieren.
ralische Pflicht, zu folgen. Die Kanzlerin und der Vertei- (Beifall bei der SPD – Philipp Mißfelder [CDU/
digungsminister schweigen. Letztendlich hat das Außen- CSU]: Peinlich, Herr Groschek!)
ministerium nur verlautbaren lassen, man könne sich
eine robuste Sicherheitskomponente vorstellen. Herr Außenminister, es hätte ein gutes Jahr werden
können. Sie haben allerdings viele Chancen versäumt,
Wenn man, werter Herr Außenminister, Ihr Verhalten deutsche Abrüstungs- und Außenpolitik prominent zu
beim Embargo nur auf die Stichworte Abrüstung und vertreten. Wo waren Ihre Initiativen beispielsweise im
Rüstungskontrolle überträgt, dann stellt sich natürlich Nahen Osten zur Vorbereitung der Konferenz 2012?
die Frage, welche Position denn die deutsche Regierung
beispielsweise im Hinblick auf die in Libyen stattgefun- (Beifall bei der SPD)
dene Aufrüstung einnimmt. Bis vor wenigen Monaten Wo waren Ihre Initiativen zur nachhaltigen zivilen Kri-
waren es doch unsere italienischen und französischen senprävention und -nachsorge in Nordafrika? Wo sind (D)
(B) Verbündeten, die ein ganz enges Verhältnis, das auch
Ihre konkreten Initiativen hinsichtlich des Dialogs mit
Aufrüstung beinhaltete, zu Herrn Gaddafi pflegten. Wir den Verbündeten als Reaktion auf das Nein zu einem
würden deshalb von Ihnen gerne erfahren, wo Sie mit atomwaffenfreien Deutschland?
Abrüstung und Rüstungskontrolle ganz konkret ansetzen
wollen. Chatzimarkakis und Martin Lindner haben als Ant-
wort darauf, warum Sie, Herr Außenminister, im Amt
Zugleich möchten wir Ihnen auch den Hinweis geben, bleiben sollten, gesagt, keiner hat so viel über Men-
dass wir es sehr gerne sähen, wenn künftig Rüstungs- schenrechte geredet wie unser Außenminister. Ja, gere-
kontrollberichte und Rüstungsexportberichte zeitnäher det haben Sie viel, aber umgesetzt haben Sie wenig und
vorgelegt würden. Das ist unser Appell an Sie; denn noch weniger haben Sie Kurs gehalten.
dann könnte man auch besser überprüfen, ob die von Ih-
nen verkündeten eigenen Maßstäbe eingehalten wurden. Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Ihres Ministeriums für diesen Bericht. Aber von Ihnen
(Beifall bei der SPD) erwarten wir zumindest eine Erklärung für die erneute
Kehrtwende und eine Antwort auf die Frage, warum Sie
Wir müssen auch noch einmal hinterfragen, auf wel- glauben, noch einmal durchstarten und der Außen- und
cher Mandatsgrundlage hier im Bundestag diskutiert Sicherheitspolitik neues Profil geben zu können.
werden soll. Gibt es schon eine UN-Anforderung? Was
heißt denn: Schützen ja, kämpfen nein? Wie verhält sich (Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]:
denn der Schutz von Zivilisten gegenüber dem Ziel, In der Schule wäre das „Thema verfehlt –
Gaddafi aus der Verantwortung zu nehmen? Was bedeu- Note 6“!)
tet Ihr Hinweis „Wir stehen für humanitäre Hilfe bereit“
angesichts Ihrer Aussage, keine deutschen Soldaten dort Präsident Dr. Norbert Lammert:
hinzuschicken? Wir sind offen, über diese Punkte zu dis- Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Stinner
kutieren. Wir werden Ihnen aber keinen Freibrief ertei- das Wort.
len. Wir werden auch nicht akzeptieren, dass quasi über
die Zeitungen ein Vorratsbeschluss gefasst wird. Wir
wollen die Diskussion hier und heute und sind ent- Dr. Rainer Stinner (FDP):
täuscht, dass Sie mit keinem Wort auf diese neuerliche Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
Kehrtwende Ihrer Politik eingehen. und Kollegen von der SPD, Sie haben in Ihren Reihen
mehrere Kolleginnen und Kollegen, die sich seit vielen
(Beifall bei der SPD) Jahren sehr ernsthaft mit dem Thema Abrüstung be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11809
Dr. Rainer Stinner
(A) schäftigen. Frau Zapf und Herr Mützenich werden von (Zuruf von der FDP: Das stimmt doch gar (C)
uns sehr ernst genommen, und wir stehen mit ihnen sehr nicht!)
gerne im Dialog, weil sie sehr profund an diesem Thema
Das ist das Problem, das Ihr Außenminister und Ihre
arbeiten. Herr Steinmeier, trotzdem schickt Ihre Fraktion
Partei haben. Aber der Offenbarungseid der Freien De-
heute diesen Redner in diese wichtige Debatte. Das ist
mokratischen Partei darf nicht zum Offenbarungseid
unsäglich
deutscher Außenpolitik werden. Diese Befürchtung ha-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ben wir allerdings.
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ja, Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Stinner, das tut weh!) DIE GRÜNEN)
und zeigt uns, dass Ihre Fraktion, Herr Steinmeier, hier Sie kennen Herrn Genscher wahrscheinlich besser als
und heute an dem Thema Abrüstung offensichtlich nicht ich.
das geringste Interesse hat.
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ganz offen-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) sichtlich!)
Sie schickten stattdessen den nordrhein-westfälischen Christian Lindner berichtete in den Gremien der FDP,
Generalsekretär Ihrer Partei ins Feld, der hier mit allge- dass Herr Genscher die Implosion der FDP vor Augen
meinen Äußerungen das Parlament sozusagen aufge- hat und der Meinung ist, es sei die schwierigste Situation
mischt hat. der FDP seit der Nachkriegszeit und man müsse Rösler
Sehr geehrter Herr Kollege Groschek, Sie haben ver- Zeit geben, den personellen Wechsel zu vollziehen. Was
sucht, sich an der Situation der FDP abzuarbeiten, die in heißt das denn? Das heißt doch, dass die Fraktionsvorsit-
der Tat nicht besonders gut ist; das will ich gerne einge- zende, der Wirtschaftsminister und der Außenminister
stehen. Wenn Sie schon über Parteien sprechen, dann ihre Ämter nur noch auf Abruf bekleiden. Das besorgt
hätte ich erwartet, dass Sie über den Verlust von uns; denn das ist nicht allein Privatsache der Freien De-
10 Prozentpunkten Ihrer Partei in Rheinland-Pfalz ge- mokratischen Partei, sondern auch Sache der Bundes-
sprochen hätten und erklärt hätten, wie es dazu gekom- politik, weil die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung
men ist. und des Parlamentes berührt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – (Gisela Piltz [FDP]: Sie müssen sich um uns
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wie war keine Sorgen machen!)
denn Ihr Ergebnis?) Sie können gerne solche Ablenkungsmanöver starten.
(B) Wir erwarten von Ihnen allerdings, dass Sie nicht nur (D)
Das Thema Abrüstung liegt uns allen am Herzen.
Ankündigungen machen, sondern Rede und Antwort ste-
Frau Zapf, ich weiß, dass das auch für Sie und für den
hen, wenn es um Ihre außenpolitische Bilanz und um
Kollegen Mützenich gilt. Wir wissen, wie sorgfältig Sie
Ihre gescheiterten Ansätze in der Außenpolitik geht.
dieses Thema behandeln. Die SPD kann zwar machen,
was sie will. Aber dass sie angesichts der schwierigen (Beifall bei der SPD – Dr. Rainer Stinner
internationalen Situation einen Vertreter in die Debatte [FDP]: Peinlich! Peinlich! – Gisela Piltz
schickt, der eine solche Rede hält, ist erbärmlich ange- [FDP]: Das war unterirdisch!)
sichts der außenpolitischen und abrüstungspolitischen
Kompetenz Ihrer Partei. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herzlichen Dank. Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Jetzt erhält zur Erwiderung der Kollege Groschek
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
noch einmal das Wort. Dann wäre es ganz schön, wenn
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für ernst-
wir wieder über Abrüstungsfragen reden könnten.
hafte Abrüstungspolitiker schon erstaunlich und in Tei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) len nicht nachvollziehbar, dass ein so wichtiges Thema
wie der Jahresabrüstungsbericht als Forum für Opposi-
Michael Groschek (SPD): tionspolitik benutzt wird.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Stinner, ich greife Ih- Selbst der Fraktionsvorsitzende der SPD hat die Ent-
ren Hinweis zu Rheinland-Pfalz gerne auf; denn Büchel haltung der Bundesrepublik Deutschland bei den Verein-
liegt in Rheinland-Pfalz. Es waren der jetzige Außen- ten Nationen den Medien gegenüber und auch in den ei-
minister und die FDP, die immer vollmundig erklärt ha- genen Reihen für gut geheißen. Ich möchte aber von
ben: Wir werden das atomwaffenfreie Deutschland diesem Thema weg; denn es geht um etwas ganz ande-
schaffen. – Dann folgte aber die Kehrtwende. Wir wer- res. Es geht um die Frage, wie sich unser Land in der
fen Ihnen vor, dass Sie erst vollmundig Ankündigungen Abrüstung positioniert. Ich hätte mich sehr gefreut, Herr
machen, sich aber dann zwergenhaft verhalten, wenn es Kollege Groschek, wenn Sie heute ein ganz wesentliches
um die Umsetzung geht. Datum genannt hätten. Genau heute vor einem Jahr, am
11810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Roderich Kiesewetter
(A) 8. April 2010, wurde der START-Vertrag von Obama wirksamere Krisennachsorge und natürlich eine glaub- (C)
und Medwedew unterzeichnet. Am 6. Februar dieses würdige militärische Rückversicherung. Das müssen wir
Jahres wurden die Ratifizierungsurkunden in Deutsch- auch bei der Bundeswehrreform im Blick haben. Rüs-
land, nämlich bei der Münchner Sicherheitskonferenz, tungskontrolle und Nichtverbreitung sind die Geschwis-
ausgetauscht. ter von Abrüstung. Das sind Drillinge einer sicherheits-
politischen Familie.
Wir haben im letzten Jahr auch erhebliche Bewegung
beim Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gehabt. Erst- Ferner gilt es – ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
mals nach fünf Jahren haben sich alle Unterzeichnerstaa- Punkt –, die Mittel, die durch Abrüstung und Konversion
ten auf ein Kommuniqué geeinigt. Für uns ist es, glaube frei werden, möglichst in Bildungs-, Energieversor-
ich, auch wichtig, dass der KSE-Vertrag, der Vertrag gungs- und Ernährungsprojekte zu investieren. Gerade
über konventionelle Streitkräfte in Europa, von 1990 wir als Union haben uns in einer Anhörung sehr stark
endlich eine Wiederbelebung erfährt. Wir feiern in die- dafür eingesetzt. Es geht uns darum, Konfliktpotenziale
sem Monat auch das 20-jährige Bestehen des Verifika- abzubauen, zivile Krisenprävention zu stärken. Wir se-
tionszentrums der Bundeswehr in Geilenkirchen. – So hen in Nordafrika, wie wichtig es ist, auch die Zivilge-
weit zu den wirklichen Bollwerken und Bausteinen der sellschaft zu fördern. Das ist aber nur glaubwürdig,
Abrüstungspolitik. wenn wir die Fakten kennen und die Wirklichkeit so ak-
zeptieren, wie sie ist. Anerkennung der Wirklichkeit und
Damit wird eindeutig klar: Deutschland hat sich mit ein realpolitischer Umgang mit den Fakten, das ist un-
aller Kraft und erfolgreich für Abrüstung eingesetzt. Zu- sere Position; denn Abrüstung ist harte Arbeit. Abrüs-
letzt – Herr Außenminister Westerwelle hat es angespro- tung ist ein wechselseitiger, auf Vertrauen basierender
chen – ist es uns gelungen, zu erreichen, dass Abrüstung Prozess, und dieses Vertrauen muss mühsam erarbeitet
im NATO-strategischen Konzept ganz fest verankert ist, werden.
und zwar sowohl im nuklearen Bereich als auch im kon-
ventionellen Bereich. Abrüstung gehört zum Fahrplan Abrüstung ist für die CDU/CSU kein Selbstzweck.
der NATO. Das ist ein Novum nach über elf Jahren mit Das bedeutet für uns, Abrüstung nicht nur realpolitisch
dem alten Konzept. und wertegebunden zu sehen, sondern auch die Interes-
sen unserer Außenpolitik deutlich anzusprechen. Für uns
Hinzu kommt, dass wir im NATO-Hauptquartier – ich heißt das: eine enge Abstimmung im Bündnis. Eine enge
möchte das bewusst sachlich ansprechen – jetzt einen
Abstimmung bei Abrüstungsfragen ist ein sicherheits-
Rüstungskontrollausschuss eingerichtet haben. Dieser politisches Markenzeichen. Unser Land kann seine Ziele
Rüstungskontrollausschuss ist Verdienst deutscher Au- nicht allein erreichen. Bündnissolidarität erleichtert un-
ßenpolitik. Dafür sind wir Ihnen, Herr Außenminister,
(B) dankbar. sere außenpolitische Handlungsfähigkeit und gestaltet (D)
unsere Politik wirksamer.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uta Zapf
Bündnissolidarität ist der Schlüssel zum Erfolg. Das
[SPD]: Der Kollege Steinmeier war das!)
schließt aber nicht aus, dass wir auch eigene deutsche In-
Ich denke, damit haben wir beste Voraussetzungen, teressen verfolgen. Ich sage ganz bewusst: Das zeigt
um unsere Abrüstungsbemühungen mit Russland noch auch das Beispiel Libyen. Wir wollten die Bombardie-
intensiver fortzusetzen. Bei Russland kommt es darauf rungen nicht. Jetzt sehen wir die Auswirkungen, nicht
an, dass gerade im Bereich der Anpassung der konven- nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Zivilge-
tionellen Abrüstung Einvernehmen mit den Konfliktpar- sellschaft. Was wir aber wollen, ist, humanitäre Hilfe zu
teien im Südkaukasus und auch in Transnistrien herge- leisten und zu unterstützen. Deswegen stehen wir auch
stellt wird. Wir als CDU/CSU fordern alle Parteien auf, dazu, dass EU-Battlegroups humanitäre Hilfe leisten.
sich gemeinsam an die internationalen Verhandlungsre-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gime zu halten. Dann erzielen wir auch die notwendigen
Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Fortschritte in der konventionellen Abrüstung, und das
NEN]: Das hätte sich doch der Minister vorher
ist überfällig.
überlegen können!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Darum stehen wir bei allen notwendigen abrüstungs-
Es ist keine Binse, dass Deutschland an der Spitze in- politischen Schritten für eine enge Abstimmung in
ternationaler ernsthafter Abrüstungsbemühungen steht. NATO und EU. So haben wir uns bei der Ausarbeitung
Aber gerade deshalb möchte ich einige grundsätzliche des strategischen Konzepts und im konventionellen Be-
Positionen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Ab- reich bei der Wiederbelebung des KSE-Vertrages erfolg-
rüstungspolitik erläutern. reich eingebracht. Deshalb wollen wir noch viel stärker
Abrüstung als Instrument vorsorglicher Krisenpräven-
Abrüstungspolitik ist für uns ein Teil kluger und vor- tion und aufmerksamer Krisennachsorge implementie-
sorgender Sicherheitspolitik. Verantwortungsbewusste ren.
Abrüstungspolitik hat das Ziel einer friedlicheren Welt
im Blick. Das geht nur mit einer effektiven Rüstungs- Auf unsere Anregung hin wird es deshalb im Septem-
kontrolle. Abrüstung allein reicht nicht; die Abrüstung ber eine gemeinsame Anhörung der beiden Unter-
muss auch kontrolliert werden. Aber was heißt „friedli- ausschüsse – dem für Abrüstung und dem für zivile
cher“? Friedlicher heißt: weniger militärische Konflikte, Krisenprävention – geben, und zwar mit dem Ziel der
eine stärkere Abstützung auf zivile Krisenprävention, Verifikation, das heißt, eine Form der Rüstungskontrolle
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11811
Roderich Kiesewetter
(A) als Mittel der Krisenprävention zu untersuchen. Wir schritte bei der Genfer Abrüstungskonferenz, insbeson- (C)
wollen verklammerte Sicherheit, ganzheitliche Sicher- dere beim Verbot der Produktion von spaltbarem Mate-
heit. Deshalb ist es für uns wichtig, dass sich Abrüstung rial für Waffenzwecke. Wir werden das im Gespräch mit
auch bewerten lassen muss. Wir wollen ein Mehr an unseren pakistanischen Freunden verdeutlichen. Auf ei-
Transparenz, ein Mehr an Vertrauen und Sicherheit. Nur ner Delegationsreise im Januar dieses Jahres haben wir
so schaffen wir auch ein Mehr an internationaler Stabili- das Thema bereits intensiv angesprochen.
tät.
Bei den Parlamentariern in Pakistan stoßen wir auf
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil Sicher- offene Ohren. Sie sind für uns der Schlüssel für mehr
heit unteilbar bleibt, betone ich mit Nachdruck: Abrüs- Transparenz in diesem Bereich. Deshalb unterstützen
tungspolitische Euphorie und blinder Aktionismus füh- wir auch mit Nachdruck alle Bemühungen der Bundesre-
ren uns nicht zum Ziel. Es braucht geeignete Foren und gierung, sämtliche Hebel und Kanäle auf der diplomati-
Verträge. Das hat im vergangenen Jahr die Nichtverbrei- schen Ebene zu nutzen, um Iran, Nordkorea und Pakis-
tungskonferenz in New York ebenso gezeigt wie die Ra- tan zu angemessenem Verhalten zu bringen. Über Indien
tifizierung des START-Vertrages. werden wir nachher noch sprechen.
Für uns ist deshalb ein klarer Fahrplan wichtig. Wo- Der Abrüstungsbericht ist nicht nur umfangreich, er
hin führt uns die weitere Reise? Für die weitere Ab- ist ein hervorragendes Kompendium der sicherheitspoli-
rüstung im nuklearen Bereich gilt es bei uns die soge- tischen Abrüstungsbemühungen weltweit und des Enga-
nannten substrategischen Atomwaffen in den Fokus zu gements unseres Landes. Es ist absolut erfreulich, dass
nehmen. Diese Waffen werden gegenwärtig weder poli- sich der Bericht auch mit neuen Herausforderungen be-
tisch noch militärisch benötigt. Da sind wir uns einig. schäftigt, zum Beispiel mit der Frage der Sicherheit der
Sie sind durch verantwortungsvolle, bewusste Sicher- Informationstechnik, Stichwort „Cyber“. Hier mahnt die
heitspolitik, aber nicht durch rhetorische Erklärungen Bundesregierung vertrauens- und sicherheitsbildende
überflüssig geworden. Das ist ein Ergebnis jahrzehnte- Maßnahmen an. Gerade der Bereich der IT-Sicherheit
langer parteiübergreifender Sicherheitspolitik. wird uns in den nächsten Jahren erheblich stärker be-
schäftigen, als wir das heute erahnen.
Allerdings stelle ich für meine Fraktion sehr deutlich
fest – und da bleiben wir auch fest –: Der Abzug dieser Wir können einen Beitrag leisten, indem wir im Be-
Waffen, den wir in unserem fraktionsübergreifenden An- reich der Abrüstung intensiv mitwirken und bei der Bun-
trag im letzten Jahr gefordert haben, muss abgestimmt deswehrreform dafür sorgen, dass die Bundeswehr über
im Bündnis vorgenommen werden. glaubwürdige militärische Fähigkeiten verfügt. Das ist
die andere Seite der Medaille.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
neten der FDP) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Wie wollen wir das machen? Das Ganze sollte mit einem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dialog mit den Bündnispartnern vorbereitet werden.
Nächste Woche ist die Außenministerkonferenz hier in Präsident Dr. Norbert Lammert:
Berlin. Wir müssen mehr Transparenz und Vertrauens- Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für
bildung mit Russland schaffen. „New START“ war ohne die Fraktion Die Linke.
diesen Ansatz gar nicht denkbar. Diese Aufgabe ist lös- (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin
bar. Ich denke, mit den weiteren Verhandlungen und mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Musst du
dem Rüstungskontrollausschuss sind wir dort auf dem jetzt für Oskar reden, oder wie?)
richtigen Weg.
Wesentlich wichtigere und schwierigere Herausforde- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
rungen gibt es im weiteren Umfeld Europas. Der Iran Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh-
verletzt weiterhin UN-Resolutionen mit der fortgesetz- ren heute eine Abrüstungsdebatte und keine Debatte
ten Arbeit an seinem Nuklearprogramm und verweigert über das Personal der FDP. Deshalb werde ich mich an
sich der Zusammenarbeit mit der Internationalen Atom- letzterer auch nicht beteiligen.
energiebehörde. Deshalb setzen wir uns für eine mög-
lichst gemeinsam mit Russland entwickelte Raketenab- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wehr ein, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. NEN]: Auch nicht zur Linken? Sag mal was zu
Oskar! Wann kommt der denn?)
Nordkorea und Pakistan sind gleichfalls Staaten, de-
ren Sicherheitspolitik wir nicht teilen. Es fehlt die völ- Der Tenor des Jahresabrüstungsberichts 2010 liest
lige Bereitschaft dieser Staaten, an internationalen sich wie der der vorangegangenen Jahresberichte: Da-
Vertragswerken mitzuwirken. Sie sind weder bei Nicht- nach hat die Bundesregierung eigentlich alles richtig ge-
verbreitung noch bei Teststopps konstruktiv. Nordkorea macht, und Abrüstung wird im Grunde nur von Staaten
muss die Bedingungen für die Wiederaufnahme des außerhalb der NATO gefordert. Das ist so was von ein-
Sechs-Parteien-Gesprächs erfüllen. seitig, und das ist auch nicht akzeptabel.
Wenn man weltweit Abrüstung will, muss man selbst
Ich möchte auch etwas zu Pakistan sagen, zumal
vorbildlich vorangehen.
nächste Woche ein Besuch der deutsch-pakistanischen
Freundschaftsgruppe ansteht. Pakistan verweigert Fort- (Beifall bei der LINKEN)
11812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) Stattdessen wird aus der Bundeswehr, die im Grundge- chen Kriegen eingesetzt werden, aus Deutschland sind (C)
setz als Landesverteidigungsarmee konstruiert ist, oder nicht? Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, das
Schritt für Schritt eine Armee zur weltweiten Interven- durchzusetzen.
tion gemacht. Sie machen aus einer Verteidigungsarmee
eine Kriegsarmee. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wie Sie wissen, wurde ein Verbot von Streumunition
angestrebt. Auch Deutschland hat sich für Ausnahmere-
Das Problem ist, dass sich diesbezüglich Union, SPD, geln für eigene Munitionstypen eingesetzt. Abgesehen
FDP und Grüne einig sind. Die Einzigen, die dagegen- davon setzen Sie das Lagerverbot nicht durch. Denn die
stehen, ist die Fraktion der Linken. US-Streitkräfte in Deutschland besitzen nach wie vor
(Beifall bei der LINKEN) Streumunition. Warum sagen Sie Herrn Obama oder
Frau Clinton nicht: „Das geht nicht. Es ist nicht hin-
Das, was Sie machen, ist nicht Abrüstung, sondern das nehmbar. Es ist aus Deutschland abzuziehen.“?
Gegenteil davon.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Sprechen wir ganz kurz über Libyen. Im Unterschied Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
zu den Grünen und anderen fanden wir es richtig, dass
sich die Bundesregierung zumindest enthalten hat; man Kommen wir zu den Atomwaffen. Der Atomwaffen-
hätte im Sicherheitsrat auch mit Nein stimmen können. sperrvertrag sieht auch die Abrüstung der damaligen
Auf jeden Fall haben Sie gesagt: Deutsche Soldaten wer- fünf Atommächte vor. Da das so gut wie gar nicht ge-
den an diesem Krieg nicht beteiligt. – Aber nun schicken schehen ist, haben wir jetzt acht Atommächte; denn ne-
Sie deutsche Soldaten nach Libyen, und zwar bewaff- ben den USA, Russland, China, Großbritannien und
nete deutsche Soldaten. Das ist ein Widerspruch in sich Frankreich sind Israel, Indien und Pakistan hinzugekom-
und nicht akzeptabel. men. Jetzt ruft Obama zur Abrüstung auf. Das ist okay.
Aber reale Schritte gibt es, siehe START-Abkommen, ei-
(Beifall bei der LINKEN) gentlich nur zwischen den USA und Russland, und das
Ich weiß, Herr Trittin, Sie lachen da nur arrogant, auch nur begrenzt. Die haben noch so viele überflüssige
weil Sie schon immer für Kriege waren, auch in Bezug Atomwaffen, dass sie diesbezüglich weitermachen könn-
auf Jugoslawien. ten. Die anderen Länder unternehmen in dieser Frage
keine Schritte.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ich kann gar nicht arrogant lachen!) Obwohl auch Sie gesagt haben, Herr Bundesaußen-
(B) Ich sage Ihnen eines: Frieden mag schwieriger sein, aber minister, dass Sie dagegen sind, dass US-Atomwaffen in (D)
Deutschland lagern, gibt es 20 Jahre nach Herstellung
das ist ein viel besserer Weg, als Krieg zum Mittel der
der deutschen Einheit immer noch US-Atomwaffen in
Politik zu machen.
Deutschland. Sorgen Sie doch einmal dafür, dass diese
(Beifall bei der LINKEN) abgezogen werden! Wir brauchen keine einzige davon.
Man kann über Rüstung und Abrüstung nicht ernst- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
haft diskutieren, wenn man nicht gleichzeitig über Waf- Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
fenexporte diskutiert. Ich finde, Deutschland hätte aus
dem Zweiten Weltkrieg diese Lehre ziehen müssen: Wir Ich hatte vor vielen Jahren ein Erlebnis, das mich be-
machen nie wieder Geschäfte mit dem Krieg! Wir wol- eindruckt hat. Zu der Zeit, als Krieg gegen Jugoslawien
len nie wieder am Verkauf von Waffen verdienen! – Lei- geführt wurde, war ich in Indien und habe mit dem da-
der ist das Gegenteil realisiert worden: Deutschland ist maligen Außenminister Singh gesprochen. Pflichtgemäß
jetzt der drittgrößte Waffenexporteur der Erde. Ich bitte habe ich ihm natürlich gesagt, dass ich mir Sorgen ma-
Sie! Nur die USA und Russland verkaufen mehr Waffen che, dass auch Indien jetzt Atomwaffen hat. – Daraufhin
als Deutschland. Deutschland steht in der Rangliste vor fragte er mich: Sagen Sie mal, waren Sie für oder gegen
Großbritannien, vor Frankreich und vor China. Das ist den Jugoslawien-Krieg? – Da habe ich gesagt: Ich war
doch ein Skandal, mit dem man sich auseinandersetzen dagegen. – Darauf fragte er: Hatte Jugoslawien Atom-
muss! waffen? – Darauf antwortete ich: Nein. – Dann fragte er:
Glauben Sie im Ernst, Belgrad wäre bombardiert wor-
(Beifall bei der LINKEN) den, wenn Jugoslawien Atomwaffen gehabt hätte? Das
Ein großes Ziel war auch die Eindämmung des Ex- ist meine Antwort. – Er sagte mir also: Man macht sich
ports von Kleinwaffen. Fehlanzeige! Kleinwaffen aus durch den Besitz von Atomwaffen unangreifbar. – Des-
Deutschland werden in alle Regionen der Welt verkauft. halb gibt es nur eine Lösung: Die Atomwaffen weltweit
Es wurde sogar der Bau einer Produktionsanlage für Ge- müssen vernichtet werden. Nur dann sind wir berechtigt,
wehre vom Typ G 36 in Saudi-Arabien genehmigt. Herr weltweit zu verhindern, dass jemand eine Atomwaffe
Bundesaußenminister, international fordert die Bundes- herstellt.
regierung die Markierung des Herkunftslandes auf allen (Beifall bei der LINKEN)
Waffen und auf jeder Munition. Das ist richtig. Aber wa-
rum werden Kleinwaffen und Munition in Deutschland Ansonsten werden wir das Problem mit Iran und mit
trotzdem nicht markiert? Warum dürfen wir nicht wis- Nordkorea nicht los; denn es ist immer die gleiche Lo-
sen, ob die Waffen und die Munition, die in irgendwel- gik, die dort herrscht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11813
Dr. Gregor Gysi
(A) Lassen Sie mich etwas zur Nuclear Suppliers Group Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Waffenexporte (C)
sagen. Dieser gehören die Staaten, die Atomhandel be- an Diktaturen und in Spannungsgebiete zwischen 2006
treiben, an. Der Atomwaffensperrvertrag verbietet und 2009 nennen. Libyen – eine Diktatur – bekam Waf-
Atomhandel mit Ländern, die diesem Vertrag nicht bei- fenexporte in Höhe von 83 Millionen Euro. Israel – es ist
getreten sind. Es muss – wie auch immer – die erste Aus- selbstverständlich keine Diktatur, aber liegt in einem
nahme bei Israel gegeben haben, worüber so gut wie nie Spannungsgebiet – bekam Waffenexporte im Umfang
diskutiert wurde. Jetzt hat es eine weitere Ausnahme bei von 106 Millionen Euro.
Indien gegeben; denn es gibt ein Abkommen zwischen Andere Länder bekamen noch viel mehr Waffen-
den USA und Indien über den Atomhandel. Das verletzt exporte: Ägypten – eine Diktatur – im Werte von 144 Mil-
den Atomwaffensperrvertrag. Nun hat auch China mit lionen Euro, Bahrain – eine Diktatur – im Werte von
Pakistan ein entsprechendes Abkommen geschlossen. 184 Millionen Euro, Saudi-Arabien – eine feudal struk-
Dieses ist kritisiert worden, woraufhin China gesagt hat: turierte Diktatur – im Werte von 441 Millionen Euro, die
Aber wenn die USA das mit Indien dürfen, dann dürfen Vereinigten Arabischen Emirate – eine Diktatur – im
wir das mit Pakistan. – So zieht ein Schritt der Verlet- Werte von 846 Millionen Euro. So werden Geschäfte ge-
zung eines Vertrages den nächsten nach sich. macht. Sogar die Diktatur Syrien bekam Waffenexporte,
wenn auch nur im Werte von 550 000 Euro. Ich glaube,
Nun soll Indien Mitglied der Nuclear Suppliers Group
schon 1 Euro ist zu viel.
werden. Auch das ist vertragswidrig, weil ein Beitritt
von Ländern, die dem Atomwaffensperrvertrag nicht (Beifall bei der LINKEN)
beigetreten sind – die Ausnahme bilden die ursprüngli-
Waffen werden auch geliefert an Indien, an Indone-
chen fünf Staaten –, ausgeschlossen ist, und Indien ist ja
sien, an Malaysia, an Pakistan – das sind doch Span-
nicht beigetreten. Wenn wir hier die erste Ausnahme ma-
nungsgebiete, oder nicht? – und an Südkorea. Südkorea
chen, werden weitere Ausnahmen folgen. Die ganze ist nun wirklich ein Spannungsgebiet. Im Jahre 2008
Richtung ist falsch. Das ist kein Weg zur Abrüstung, wurden Waffenlieferungen an Südkorea im Wert von
sondern eine Animierung zur Rüstung. Auf diesem Weg 1,9 Milliarden Euro genehmigt. Das war der höchste Be-
müssen wir umkehren. trag von allen.
(Beifall bei der LINKEN) Was könnte die Bundesregierung tun? Wofür sollten
wir streiten?
Zu den Rüstungsexportgenehmigungen; diese liegen
im Milliardenbereich. Hören Sie einmal gut zu. Im Jahre Ich sage erstens: Wir müssen sehr grundsätzlich da-
1998 genehmigten Union und FDP in der Kohl-Regie- rüber nachdenken, ob aus unserer Geschichte nicht die
(B) rung Rüstungsexporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro. Verpflichtung resultiert, zu sagen: Wir beteiligen uns (D)
Unter der Regierung aus SPD und Grünen waren die überhaupt nicht mehr an Waffenexporten. Wir verbieten
Zahlen erst einmal rückläufig. Aber schon im Jahre 2001 sie in Deutschland.
genehmigte die Regierung Rüstungsexporte im Wert von (Beifall bei der LINKEN)
7,5 Milliarden Euro. Von 2003 bis 2005 hat Rot-Grün,
genau wie die Kohl-Regierung, jährlich Rüstungs- Wenn Sie das nicht wollen, wenn Sie also sagen, Waf-
exporte im Wert von 6,2 Milliarden Euro genehmigt. fenlieferungen innerhalb der NATO, an Kanada, Austra-
Was war in dieser Frage der Unterschied zwischen den lien etc. seien notwendig, dann versuchen Sie doch
beiden Regierungen? Es gab keinen. Danach regierten wenigstens, in Verträgen zu vereinbaren, dass ein Wei-
Union und SPD. Sie haben zum Beispiel in einem Jahr terverkauf dieser Waffen ausgeschlossen wird. Das wäre
Rüstungsexporte im Wert von 8,7 Milliarden Euro er- doch das Mindeste, was man hinbekommen müsste.
laubt. Verbieten Sie wenigstens Waffenexporte an Drittstaa-
ten, zumindest an Staaten in Spannungsgebieten – diese
Der größte Anteil der Waffenexporte erfolgt in die müssten dann definiert werden, und zwar ganz eng – und
NATO oder an Länder wie Australien und Kanada; aber an Diktaturen! Nichts dergleichen geschieht. Wir benöti-
niemals ist vereinbart worden, dass diese die Waffen gen endlich ein Ende der Waffenexporte in den Nahen
nicht weiterverkaufen dürfen. Wir wissen überhaupt Osten. Das ist doch wohl das Mindeste, worauf man sich
nicht, wo die Waffen letztlich landen. Darüber hinaus hat hier verständigen könnte, wenn Sie unsere weitergehen-
der Anteil der sogenannten Drittstaaten, in die Rüstungs- den Forderungen schon nicht erfüllen.
exporte stattfinden, ständig zugenommen. Nehmen wir
nur das Jahr 2009. In diesem Jahr wurden Waffenexporte (Beifall bei der LINKEN)
in Drittstaaten, davon zwei Drittel in den Nahen Osten, Zweitens: atomare Abrüstung. Wir brauchen den Ab-
im Umfang von 2,5 Milliarden Euro genehmigt. Aber zug der Atomwaffen aus Deutschland, wir brauchen eine
Waffenexporte in Spannungsgebiete und an Diktaturen Initiative für eine kernwaffenfreie Zone in ganz Europa,
sind doch verboten. Wieso werden ständig Waffen an und wir müssen eine Initiative für eine kernwaffenfreie
Diktaturen und vor allen Dingen auch in Spannungsge- Zone im Nahen Osten unterstützen. Das betrifft nicht nur
biete verkauft? Der ganze Nahe Osten ist ein Spannungs- Israel, sondern verhindert vor allem auch eine atomare
gebiet. Aufrüstung im Iran.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Drittens. Nicht mehr benötigte Waffensysteme der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundeswehr müssen vernichtet und dürfen nicht weiter-
11814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) gegeben und verkauft werden. Sie müssen endlich ver- Dann sagten Sie, dass Sie sich auch nicht am Waffenem- (C)
nichtet werden. bargo beteiligen und die deutschen Schiffe abziehen.
Jetzt sagen Sie: Bei EUFOR Libya sind wir mit dabei. –
(Beifall bei der LINKEN) Man hat das Gefühl, Ihnen fehlt der Kompass und Sie
Viertens. Die Lagerung von Streumunition in werfen eine Münze, wenn es darum geht, zu entschei-
Deutschland ist nicht zu dulden. den, an welchem Einsatz man sich beteiligt und an wel-
chem nicht. Es gibt kein Wertefundament, keine Begrün-
Fünftens. Endlich muss der Vertrag über konventio- dungen und keine einheitliche Linie.
nelle Abrüstung in Europa hier ratifiziert werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sechstens. Wir brauchen keinen Ausbau der militäri- sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von
schen Kapazitäten in der EU. Mein Gott, Sie haben doch der CDU/CSU: Ja, ja! Die Grünen sind sich in
die NATO! Warum reicht Ihnen das nicht? Warum muss der Frage ja sehr einig!)
jetzt auch noch die EU militarisiert werden? Das ist
überhaupt nicht nachzuvollziehen. Abrüstungspolitik funktioniert nur dann, wenn sie
umfassend, konsequent und ehrlich ist. Ihre Abrüstungs-
(Beifall bei der LINKEN) politik ist in zentralen Punkten reduziert, inkonsequent
Siebtens. Ich sage Ihnen, dass der Aufbau einer Rake- und halbherzig. Gegenüber grundlegenden Zusammen-
tenabwehr durch die USA in Tschechien und Polen hängen scheinen Sie oftmals blind zu sein. Sie denken
Russland völlig verunsichert. Auch hier wäre es erfor- nicht zusammen, was zusammengehört. Das hat schwer-
derlich, dass die Bundesregierung ihre Stimme erhebt wiegende Folgen, wie ich Ihnen mit Blick auf mehrere
und deutlich macht, dass dies kein Weg zur Abrüstung Bereiche aufzeigen möchte.
ist. Bei der Umsetzung von internationalen Abrüstungs-
Lassen Sie uns umkehren! Schluss mit den Geschäf- verträgen ist es geboten, umfassende Maßnahmen zu
ten mit Waffen, Schluss mit Kriegen! Lassen Sie treffen, um geächtete Waffen effektiv aus dem Verkehr
Deutschland einen anderen Weg gehen! zu ziehen. Mit dem Inkrafttreten des Abkommens zum
Verbot von Antipersonenminen und des Übereinkom-
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN) mens über Streumunition wurden für die weltweite Äch-
tung dieser barbarischen Waffen wichtige Fortschritte
Präsident Dr. Norbert Lammert: erzielt.
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin Trotz dieser großen Erfolge werden diese Waffen je-
(B) für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. doch weiter in vielen Ländern produziert und eingesetzt. (D)
Sie töten und verstümmeln Menschen auf grausame
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weise und treffen vor allem die Zivilbevölkerung. Viele
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüs- Unterzeichnerstaaten haben diese Verträge leider noch
tungspolitik muss ein Grundpfeiler deutscher Außen- nicht ratifiziert, Deutschland zum Glück schon.
politik sein. Aber mit Halbherzigkeit ist ein umfassendes Verbot
(Christoph Schnurr [FDP]: Ist sie!) von Landminen und Streumunition nicht zu verwirkli-
chen. Und um effektiv und konsequent den Einsatz, die
Denn weniger Rüstung und mehr vertrauensbildende Lagerung, die Herstellung, die Entwicklung und den
Rüstungskontrolle bedeuten mehr Frieden und Sicher- Handel dieser Waffen zu verhindern, muss in allen rele-
heit für alle. vanten Bereichen dafür Sorge getragen werden, dass das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbot dieser Waffen nicht untergraben wird.
sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul Zu einem universellen und wirksamen Verbot gehört
[SPD]) deshalb zwingend auch das Verbot von Investitionen in
Herr Minister Westerwelle, Sie betonen hier im Bun- Unternehmen, die diese grausamen Waffen herstellen.
destag immer wieder, wie wichtig Ihnen Abrüstung ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das klingt gut. Sie hätten uns Grüne und wahrscheinlich sowie bei Abgeordneten der SPD)
das ganze Parlament an Ihrer Seite, wenn Sie Ihre Ver-
sprechen wahrmachen würden. Sie ziehen aber immer Doch in Deutschland darf weiterhin munter in die Pro-
mit großen Worten davon und kommen dann mit leeren duktion dieser barbarischen Waffen investiert werden.
Händen wieder. Wer zum Beispiel in Deutschland eine Riester-Rente hat,
muss damit rechnen, dass das angelegte Geld in Streu-
Ihre Außenpolitik lässt eine klare Linie vermissen. Ihr munition investiert wird. Denn die Produkte der staatlich
Zickzackkurs in Bezug auf Libyen ist dafür wieder ein- geförderten privaten Altersvorsorge werden überhaupt
mal bezeichnend. nicht daraufhin überprüft, ob ethische Mindeststandards
Zuerst sagten Sie generell Nein zu einem militäri- eingehalten werden. Die Bundesregierung scheint es gar
schen Einsatz in Libyen. nicht zu interessieren, ob mit Steuergeldern Unterneh-
men unterstützt werden, die diese geächteten Waffen
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Was sagen herstellen und entwickeln. Dadurch wird das Verbot von
Sie denn?) Antipersonenminen und Streumunition zugunsten der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11815
Agnes Malczak
(A) wirtschaftlichen Interessen der Rüstungsindustrie und Wirkliche Fortschritte werden wir außerdem nur (C)
des Finanzsektors ausgehöhlt. schaffen, wenn wir atomare Abrüstung und den Atom-
ausstieg zusammendenken. Denn es gibt einen höchst
Herr Minister, hier ist kein Herz für Banken und In-
problematischen Zusammenhang zwischen atomarer
vestmentfonds gefragt, sondern ein beherztes Eintreten
Aufrüstung und der zunehmenden Ausbreitung der zivi-
für ein Investitionsverbot in Unternehmen, die völker-
len Nutzung von Atomenergie. Wer davor die Augen
rechtswidrige Waffen entwickeln und herstellen.
verschließt, denkt eben nicht zu Ende und nicht an das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ganze. Durch die zivile Nutzung erwerben immer mehr
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Staaten die Fähigkeit zum Aufbau militärischer Nuklear-
KEN) programme. Wir alle wissen: Die Nutzung der Atom-
kraft ist mit unverantwortlichen ökologischen und si-
Deutschland sollte dem Beispiel Belgiens, Luxemburgs, cherheitspolitischen Risiken verbunden. Die furchtbare
Norwegens oder Neuseelands folgen und diese Investi- Katastrophe in Fukushima fordert auch international ein
tionen generell gesetzlich untersagen. Denn zu einem fundamentales Umdenken.
Verbot des Einsatzes und der Produktion gehört unwei-
gerlich auch ein Verbot, damit Profit zu machen. Beides Allerdings unterliegen noch immer viele Entwick-
muss zusammengedacht werden. lungsländer und aufstrebende Staaten dem Irrglauben,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Atomenergie sei das Wundermittel für eine sichere Ener-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- gieversorgung. Dafür sind auch die Atommächte verant-
KEN) wortlich, die jahrelang, statt ihren Abrüstungsverpflich-
tungen nachzukommen, allen Nichtkernwaffenstaaten
Deshalb legen wir Grüne heute einen Antrag für ein die zivile Nutzung schmackhaft gemacht haben. Dieser
umfassendes Investitionsverbot in Streumunition und Trend muss dringend aufgehalten werden.
Landminen vor. Wir laden heute auch alle Fraktionen zur
Zusammenarbeit ein, um endlich Investitionen in diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Waffen gesetzlich zu verbieten und die steuerliche För- Deutschland muss nicht nur schnellstmöglich aus der
derung zu beenden. Atomenergie aussteigen, sondern auch weltweit dafür
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Alle?) werben. Schwarz-Gelb stellt sich hier blind und hält an
der fahrlässigen Förderung deutscher Atomexporte fest.
– Ja, alle. Mit Blick auf Indien, das wie kaum ein anderes Land
Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr stand Atomkraftwerke aus dem Boden stampfen will und als
die nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung an obers- Absatzmarkt für die deutsche Industrie lockt, scheinen
(B)
ter Stelle auf der abrüstungspolitischen Agenda. Im Ko- Sie sogar bereit, alle sicherheitspolitischen Bedenken (D)
alitionsvertrag wurde vollmundig versprochen, dass sich über Bord zu werfen. Die Brückentechnologie-Kanzlerin
die Bundesregierung für den Abzug der in Deutschland selbst befürwortet den nukleartechnologischen Brücken-
stationierten amerikanischen Atomwaffen einsetzt. Die schlag zum Atomwaffenstaat Indien. Dabei erlaubt das
breite Mehrheit dieses Hauses hat bei der Debatte zum nukleare Nichtverbreitungsregime den Handel von
Jahresabrüstungsbericht im vergangenen Jahr mit einem Nukleartechnologie und Nuklearmaterial nur unter sehr
historischen Antrag, der von CDU/CSU, SPD, FDP und strengen Auflagen.
uns Grünen gemeinsam erarbeitet wurde, die Bundesre- Deutschland ist Mitglied der Gruppe der nuklearen
gierung dazu aufgefordert, dieses Versprechen auch ein- Lieferstaaten, der sogenannten Nuclear Suppliers Group,
zulösen. und hat hier, wie jedes andere Mitglied, ein Vetorecht.
Herr Minister, ich darf Sie daran erinnern: Dieser Be- Schon im September 2008 haben die Lieferstaaten unter
schluss des Bundestages ist keine unverbindliche Hand- deutschem Vorsitz die fatale Entscheidung getroffen, für
lungsempfehlung. Wir sind in dieser Frage aber leider den Nuklearhandel mit Indien eine Ausnahme zu ma-
keinen Schritt weitergekommen. Innerhalb der NATO chen. Das haben damals nicht nur wir Grüne, sondern
konnte die Bundesregierung keine nennenswerten abrüs- auch die FDP zu Recht sehr scharf kritisiert.
tungspolitischen Erfolge erzielen. Sie sind daran ge-
scheitert, die Reduzierung der US-Atomwaffen in Eu- Heute ist sogar im Gespräch, Indien in die Nuclear
ropa im neuen strategischen Konzept der Allianz zu Suppliers Group aufzunehmen und damit den nuklearen
verankern. Dammbruch endgültig zu besiegeln. Auf unsere Frage
hin, wie man zur Aufnahme Indiens in die Nuclear Sup-
Stattdessen weitet die Bundesregierung ihre Verzöge- pliers Group steht, windet sich die Bundesregierung he-
rungstaktik aus und koppelt die Frage des Abzugs der raus. Ich fordere Sie auf, hier endlich Farbe zu beken-
US-Atomwaffen aus Deutschland an Zugeständnisse nen!
Russlands im substrategischen Bereich. Damit verschie-
ben Sie den Abzug der US-Atomwaffen absichtlich auf Wenn Sie mit einem Veto nicht Nein zur Aufnahme
den Sankt-Nimmerleins-Tag. Diese kurzsichtige Politik von Indien sagen, dann sagen Sie Ja zu einem verstärk-
lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ten Handel von Nukleartechnologie mit einem Staat, der
nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrages ist und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dessen Atomanlagen nicht unter dauerhafter Aussicht
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- der Internationalen Atomenergie-Organisation stehen.
KEN) Wenn Sie nicht Nein zur Aufnahme Indiens in die Nu-
11816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Agnes Malczak
(A) clear Suppliers Group sagen, dann bleibt auch all Ihre Zweitens. Sie haben zu Libyen gesprochen. Lieber (C)
Freude über den Erfolg der Überprüfungskonferenz zum Herr Kollege Groschek, ich glaube, über Libyen wurde
Atomwaffensperrvertrag im letzten Jahr letztendlich ein- oft und ausreichend diskutiert.
fach nur scheinheilig. Die Bundesregierung ist dann
auch verantwortlich dafür, dass der Atomwaffensperr- (Michael Groschek [SPD]: Immer anders!)
vertrag komplett ausgehebelt wird. Das wird die Außen- und Sicherheitspolitik natürlich
Mit unserem zweiten grünen Antrag, den wir heute weiter begleiten, und wir werden in diesem Hohen
hier vorlegen, erteilen wir deshalb dem Nuklearhandel Hause auch weiter über diese Entscheidung und über
mit Indien eine entschiedene Absage und stellen uns ge- weitere Entscheidungen diskutieren.
gen diese auf kurzsichtigen Profit ausgerichtete Politik. Mich würde aber interessieren, was eigentlich die
Angesichts der enormen ökologischen und sicherheits- Position der SPD-Fraktion ist.
politischen Risiken gibt es für uns nur eine Lösung: den
Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland schnellst- (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau!)
möglich zu vollziehen und international voranzutreiben.
Als eines der technologisch fortschrittlichsten Länder Als wir in der letzten Diskussion über Libyen gespro-
kann Deutschland bei dieser Überzeugungsarbeit eine chen und hier im Hohen Hause über das Mandat abge-
sehr wichtige Rolle spielen, wenn es selbst zügig und stimmt haben, wurde auch auf mehrfache Nachfrage der
konsequent aus der Atomenergie aussteigt. FDP-Fraktion hin nicht deutlich, welche Position die
SPD vertritt. Vielleicht können Sie das nachher noch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufklären.
sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul
[SPD]) Der dritte Punkt ist: Guido Westerwelle spricht nicht
als Parteivorsitzender, sondern als Außenminister.
Ein grundsätzliches Umdenken hinsichtlich der weltwei-
ten Energieversorgung anzustoßen und andere Länder (Michael Groschek [SPD]: Wenn er es nur
durch alternative und ökologische Energiegewinnung in wäre!)
ihrem Streben nach Energiesicherheit zu unterstützen – Das sollte auch Ihnen bekannt sein. Von daher ist es rich-
das könnte der wertvollste Beitrag Deutschlands zu einer tig, dass er diese Rede gehalten hat.
atomwaffenfreien Welt sein.
Frau Malczak, Sie haben gesagt, dass die Außenpoli-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tik der Regierung in der Libyen-Frage keine klare Linie
sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat. Ich frage mich, ob die Politik und die Äußerungen
[SPD]) der Grünen zu Libyen und Afghanistan eine klare Linie
(B)
Zusammendenken, was zusammengehört! Ich emp- haben, wenn Ihre Fraktion teilweise zustimmt, sich ent- (D)
fehle Ihnen, sowohl in der Energiepolitik als auch in der hält oder mit Nein stimmt.
Abrüstungspolitik die Denkblockaden zu durchbrechen. Ich glaube, dass wir solche wichtigen Themen durch-
Falls Sie dazu Denkanstöße brauchen: In beiden Fällen aus diskutieren können, aber heute steht ein anderer
sind Sie bei uns, wie immer, gut beraten. wichtiger Punkt auf der Tagesordnung, nämlich der Jah-
Vielen Dank. resabrüstungsbericht. In den vergangenen Jahren gab es
in diesem Zusammenhang nicht immer nur Positives zu
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN berichten. Vor allem der Nichtverbreitungsvertrag, der
sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul wichtigste internationale Vertrag über die nukleare Ab-
[SPD] und Josip Juratovic [SPD]) rüstung, war unter Druck. Dazu beigetragen haben die
Tatsache, dass Proliferationsfälle bekannt wurden, die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Atomtests Nordkoreas und auch die gescheiterte Über-
Das Wort erhält nur der Kollege Christoph Schnurr prüfungskonferenz 2005.
für die FDP-Fraktion. Heute können wir sagen: Der schleichende Erosions-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) prozess des NVV ist vorerst gestoppt. Schon deshalb
war das Jahr 2010 ein gutes Jahr für die Abrüstung. Zwei
Entwicklungen haben dazu maßgeblich beigetragen: der
Christoph Schnurr (FDP): Abschluss und die Ratifizierung des New-START-Ab-
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- kommens und der Erfolg der Überprüfungskonferenz.
gen! Herr Groschek, zu Beginn meiner Rede möchte ich
auf Sie eingehen. Vor einem Jahr hat Außenminister Westerwelle an
dieser Stelle zur Überprüfungskonferenz gesagt: Wir
Erstens. Sie haben gesagt, der Auftritt des Bundes- wollen einen konkreten Aktionsplan. – Genauso ist es
ministers sei knapp gewesen. Der Bundesaußenminister gekommen. Ich denke, wir können sehr zufrieden damit
Westerwelle hat sieben Minuten gesprochen. Sechs Mi- sein, was die Bundesregierung und unser Außenminister
nuten stehen mir zu. Wir in der FDP-Fraktion lassen Westerwelle geleistet haben. Ein positives Signal ist
eben nicht nur die Minister sprechen, sondern halten es auch, dass die Gründung der Gruppe der „Freunde des
auch für notwendig, dass die Abgeordneten an dieser NVV“ erfolgt ist und wir uns aktiv beteiligen.
sehr wichtigen Diskussion teilnehmen. Deswegen kam
es bei uns zu einer Splittung der Redezeit. Sie machen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
das in der SPD-Fraktion vielleicht anders. der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11817
Christoph Schnurr
(A) Der NVV wird auch durch den New-START-Vertrag New-START-Folgeprozess offensichtlich. Russland hat (C)
gestärkt. Er ist ein deutliches Signal dafür, dass die Staa- deutlich gemacht, dass der gerade geschlossene Vertrag
ten, die über 90 Prozent aller Kernwaffen besitzen, ihren und erst recht ein weiteres Abkommen eng mit dem
Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag nach- Aufbau einer amerikanischen bzw. transatlantischen Ra-
kommen. ketenabwehr verknüpft ist. Auch die Einbeziehung von
substrategischen Nuklearwaffen in einen START-Folge-
Auch die NATO kann und sollte Verantwortung über- prozess wird wohl nur möglich sein, wenn man auch die
nehmen. Vor dem Gipfel in Lissabon gab es unterschied- konventionellen Kräfte einbezieht.
liche Stimmen, die den Standpunkt vertreten haben, die
NATO sei kein Abrüstungsgremium; deshalb solle man Eine weitere wichtige Wegmarke des letzten Jahres
keine Abrüstungsthemen in der NATO diskutieren. Ich war das Inkrafttreten des Übereinkommens über Streu-
denke, die NATO ist ein Instrument der transatlantischen munition und die erste Vertragsstaatenkonferenz dazu in
kooperativen Sicherheit. Abrüstung und Rüstungskon- Laos. Die Bundesrepublik hat bei der Aushandlung des
trolle tragen wesentlich zu mehr Sicherheit bei. Deshalb Abkommens in Oslo eine wichtige Rolle gespielt. Auch
sollte auch in der NATO Raum für dieses Thema sein. deshalb kommt Deutschland eine besondere Verantwor-
Die ersten Schritte sind schon getan, und die Bundesre- tung zu, wenn es darum geht, die großen Streumuni-
gierung hat einen maßgeblichen Anteil daran. Vielen tionsbesitzer an das Übereinkommen heranzuführen.
Dank!
Bei allen Dingen, die den Bundestag teilweise schon
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten seit Jahrzehnten beschäftigen, sollten wir neue Entwick-
der CDU/CSU) lungen nicht vernachlässigen. Als Beispiel will ich die
Gefahren durch Cyberangriffe nennen. 2010 hat uns
Die NATO hat sich in ihrem neuen Strategischen Stuxnet aus dem informationstechnischen Dornröschen-
Konzept verpflichtet, die Voraussetzungen für eine Welt schlaf gerissen. Alle Experten sind sich einig, dass die
ohne Atomwaffen zu schaffen. Außerdem soll sich ein herkömmlichen Methoden der Rüstungskontrolle hier
Kontrollausschuss mit abrüstungs- und rüstungskontroll- nicht greifen. Deshalb brauchen wir neue Ideen. Einige
politischen Themen beschäftigen. Die Einrichtung die- Vorschläge liegen auf dem Tisch, zum Beispiel zu ver-
ses Ausschusses ist ein wichtiger und richtiger Schritt in trauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen. Die
die Zukunft. Bundeskanzlerin hat angekündigt, dass die Bundesregie-
Es muss aber auch in anderen Fragen weitergehen. Es rung eine internationale Konvention zum Verhalten im
geht zum Beispiel um den Abzug der substrategischen Cyberspace anstrebt. Das könnte ein erster Schritt sein.
Nuklearwaffen aus Europa. Dazu gab es auch einen In jedem Fall sollten wir versuchen, eine Aufrüstungs-
(B) Antrag. Wir haben das nicht nur im Koalitionsvertrag spirale in diesem Bereich zu verhindern. (D)
festgeschrieben, sondern wir stehen auch dazu und dis- In jedem Fall lässt sich eines sagen: Wir sind unter-
kutieren darüber. Die Koalition verfolgt dieses Ziel kon- wegs in die richtige Richtung. In diesem Jahr muss es
sequent. unsere Aufgabe sein, das Rad am Laufen zu halten, das
Es ist erstaunlich, dass Sie heute so tun, als ob Rot- der amerikanische Präsident mit seiner Prager Rede in
Grün nie in der Regierungsverantwortung gewesen Schwung gebracht hat.
wäre. Elf Jahre waren es bei der SPD, sieben Jahre bei Vielen Dank.
den Grünen. Sie haben es nicht geschafft. Das mache ich
Ihnen nicht zum Vorwurf. Wichtig ist nur, dass wir ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
meinsam an diesem Ziel weiterarbeiten. Umso mehr
freut es mich persönlich, wenn eine große Mehrheit in Präsident Dr. Norbert Lammert:
diesem Haus die Bundesregierung in diesem konkreten Die Kollegin Uta Zapf hat nun das Wort für die SPD-
Punkt unterstützt. Fraktion.
Es geht auch um die Rolle der Atomwaffen in der Mi- (Beifall bei der SPD)
litärdoktrin. Hier muss sich die NATO mindestens am
Nuclear Posture Review der US-Regierung aus dem letz-
ten Jahr orientieren. Uta Zapf (SPD):
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es
Eine Gefahr für unsere kollektive Sicherheit geht aber ist guter Brauch, dass wir uns in einer Debatte über den
nicht nur von der reinen Zahl der Kernwaffen aus. Eine Jahresabrüstungsbericht zuerst für die gute Zusammen-
große, vielleicht sogar noch größere Gefahr geht von der arbeit mit dem Auswärtigen Amt in diesem Bereich be-
Proliferation von Kernwaffen aus. danken,
Große Sorge sollte uns auch der latente Konflikt zwi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
schen Pakistan und Indien machen. Die Geschwindigkeit CDU/CSU)
der nuklearen Aufrüstung in dieser Region ist jedenfalls
beängstigend. aber auch für die gute Zusammenarbeit, die wir im zu-
ständigen Fachausschuss miteinander pflegen. Wir dan-
Das vergangene Jahr hat uns gezeigt: Wer Fortschritte ken auch für den Jahresabrüstungsbericht, der ein wert-
bei der nuklearen Abrüstung will, muss auch die kon- volles Kompendium für alle ist, die sich in Bezug auf
ventionelle Abrüstung vorantreiben. Das wird beim Abrüstung und Rüstungskontrolle orientieren wollen.
11818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Uta Zapf
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der klearwaffen sind ja von der nuklearen Integration der (C)
CDU/CSU) NATO überhaupt nicht betroffen. Ich denke also, dass
man hier offensiver vorgehen kann, und wünsche mir,
Es wurde bereits mehrfach gefragt: Ist 2010 ein gutes dass die Bundesregierung das in der Folge auch tut. Ich
Jahr gewesen? Ich habe mir hier ein Fragezeichen no- glaube nicht, dass es notwendig ist, zu sagen: Wir brau-
tiert. 2010 war sowohl ein gutes Jahr als auch ein Jahr, chen diese Waffen in Europa als Unterpfand, wenn wir
das sehr viele Fragen aufgeworfen hat. Ich möchte das in Verhandlungen mit den Russen über deren taktische
an der Nuklearfrage deutlich machen. Wir hatten 2008 Nuklearwaffen eintreten. – Die Russen haben ganz deut-
und in der Folgezeit große Hoffnungen, als sich Obama lich zur Bedingung gemacht, dass die Waffen der USA
insbesondere in seiner Prager Rede für eine Welt ohne von fremder Erde abgezogen werden. Wir haben also in
Kernwaffen eingesetzt hat. Dies hat große Zustimmung den Folgeverhandlungen, die die Amerikaner schon an-
gefunden, auch bei denen, die früher in der Verantwor- gekündigt haben und die diese taktischen Waffen thema-
tung waren. Entsprechende Artikel wurden veröffent- tisch beinhalten werden, die Möglichkeit, auf den Abzug
licht. Es haben sich Initiativen gebildet. Wir hatten die zu dringen. Ich denke, das sollte unbedingt erfolgen.
große Hoffnung, dass dies der NATO einen Schub geben
würde. Das Ganze steht natürlich auch im Zusammenhang
mit der angekündigten Defence and Deterrence Posture
Wir haben mit New START einen ersten positiven Er- Review der NATO. Wir sollen also innerhalb der NATO
folg erzielt; darüber freue ich mich sehr. Da gibt es analysieren, wie wir uns in Bezug auf Abschreckung und
nichts zu meckern. Aber die Tatsache, dass wir beim Verteidigung aufstellen. Das ist eine umfangreiche Auf-
NATO-Konzept unserem Ziel, eine Welt ohne Atomwaf- gabe. Leider sehe ich nicht, dass diese Bundesregierung
fen zu schaffen, kein Stück nähergekommen sind, berei- eine Vorstellung davon hat, wie das aussehen soll. Mei-
tet mir große Sorgen, lieber Herr Außenminister. Ich bin nes Erachtens sollte das Konzept ohne Nuklearwaffen
enttäuscht darüber, dass die Bundesregierung mit auskommen. Meines Erachtens könnte, wie Kollege
Hinweis auf die Solidarität einen Rückzieher bei den Kiesewetter gesagt hat, eine zivile Komponente, die ja
substrategischen Waffen gemacht hat; darauf komme ich auch Bestandteil der Strategie ist, enthalten sein, um mi-
gleich noch einmal zu sprechen. Zudem wird aus meiner litärische Mittel eben erst als letzte Möglichkeit einset-
Sicht die Bedeutung der Nuklearwaffen im NATO-Kon- zen zu müssen.
zept nicht verringert. Es gibt weiterhin einen Mix aus
konventionellen und nuklearen Elementen. Die nukleare Es gibt einen Arbeitsplan dafür. Danach sollen bis
Abschreckung besteht fort. Ich sehe keine Verringerung September 2011 die Terms of Reference aufgestellt wer-
der Bedeutung der Nuklearwaffen. Wir konstatieren ge- den, die darstellen, worüber wir in dieser Posture
nauso wie die Amerikaner in der Nuclear Posture Review, bei der Aufstellung der NATO überhaupt reden.
(B) (D)
Review: Solange es Nuklearwaffen auf der Welt gibt, Ich denke, das sollte in einer transparenten Art und
brauchen wir eine starke Abschreckung. – Ich glaube, Weise geschehen, wie dies auch zu Beginn bei der For-
dass die NATO nicht auf Nuklearwaffen zur Abschre- mulierung der NATO-Strategie der Fall war. Ich sehe das
ckung angewiesen ist. Vielmehr gibt es andere Hebel aber bisher nicht und fordere die Regierung daher auf,
und Möglichkeiten. Wir müssen zuerst einmal feststel- uns mitzuteilen, wie sie diese Entwicklung sieht.
len, welche Aufgaben wir innerhalb der NATO eigent-
Das Zweite ist – das ist etwas sehr Positives –, dass
lich haben, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
jetzt der Ausschuss für Rüstungskontrolle und Abrüs-
überhaupt noch eine nukleare Abschreckung nötig ma-
tung eingesetzt worden ist. Das geschah im Übrigen auf
chen. Also: Büchel bleibt. Ich glaube, das ist eine Auf-
eine Initiative von Frank-Walter Steinmeier als Außen-
gabe, die noch einmal angegangen werden muss.
minister. Es hat lange gedauert, bis das in der NATO über-
Frau Malczak hat schon darauf hingewiesen: Wir ha- haupt angekommen ist. Der Vorgänger von Rasmussen
ben im März 2010 in diesem Haus einen gemeinsamen hat ja noch gesagt, das Thema Abrüstung habe mit der
Antrag – weitestgehend auf der Grundlage eines SPD- NATO überhaupt nichts zu tun. Ich finde deshalb, die
Entwurfs – beschlossen. Mit diesem Antrag haben wir Einsetzung dieses Ausschusses ist schon sehr erfreulich.
der Bundesregierung gemeinsam umfangreiche Aufträge Das muss aber mit Leben erfüllt werden. Was soll dieser
gegeben. Herr Präsident, Sie betonen ja immer die wich- Ausschuss überhaupt machen? Wer sitzt in diesem Aus-
tige Rolle der Parlamente. Ich bin enttäuscht, dass diese schuss? Welches Programm haben sie? Wie wird das
Regierung einen Teil der darin ausgesprochenen Auf- kommuniziert? Werden die Russen einbezogen? Das
träge an die Bundesregierung nicht erfüllt hat. wäre ja ein ganz wichtiger Bestandteil der Agenda für
diese Arbeitsgruppe. Davon sind wir aber noch weit ent-
(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/
fernt.
DIE GRÜNEN])
Ich begrüße es, dass wir auf der Review-Konferenz
Zum einen geht es um die substrategischen Waffen,
einen breiten Konsens gefunden haben, wozu sicherlich
die, denke ich, als Nächste an der Reihe sind. In einer
auch beigetragen hat, dass die amerikanische Regierung
Untersuchung von Pax Christi in den Niederlanden
eine völlig andere Position eingenommen hat.
wurde der Frage nachgegangen, wie die 27 NATO-Staa-
ten zu diesen Nuklearwaffen im Rahmen der NATO ste- Wir haben uns in unserem gemeinsamen Antrag dafür
hen. Es erweist sich, dass gerade einmal drei Staaten an ausgesprochen, dass sich diese Regierung proaktiv an
diesen Waffen festhalten wollen. Nicht überraschend ist, der Diskussion über Ansätze für eine Welt ohne Nu-
dass einer der Staaten Frankreich ist. Aber dessen Nu- klearwaffen beteiligt und sich für eine Konvention zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11819
Uta Zapf
(A) Ächtung der Atomwaffen einsetzt. Der Entwurf einer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
solchen Konvention liegt auf dem Tisch. Darüber wird in der FDP – Zuruf von der LINKEN: Irgendje-
der VN-Generalversammlung in regelmäßigen Abstän- mand muss ja die Wahrheit sagen!)
den abgestimmt. Die deutsche Regierung hat immer da-
Hier handelt es sich tatsächlich um eine Baustelle, an
gegen gestimmt. Auch diesmal, nach der gemeinsamen
der man hart, konsequent und dauerhaft arbeiten muss.
Entschließung dieses Parlaments, hat sie dagegen ge-
Wirkliche Fortschritte werden weder durch ein deut-
stimmt. Ich halte das nicht für richtig, Herr Außenminis-
sches Gesetz noch durch einen Willensakt aus dem
ter.
Deutschen Bundestag oder der deutschen Bundesregie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung erzielt, sondern nur durch konsequente Arbeit.
DIE GRÜNEN) Liest man diesen Abrüstungsbericht, stellt man fest:
Herr Steinmeier als Außenminister hätte sich gefreut,
Das Parlament hat beschlossen, dass das ein vernünftiger wenn er so etwas in einen solchen Bericht hätte schrei-
Weg ist. Deshalb hätten Sie zustimmen müssen. Noch ben können.
viel besser wäre es, sich dem anzuschließen, was Ban
Ki-moon erbittet: dass dafür gesorgt wird, dass eine (Christoph Schnurr [FDP]: Das ist genau der
Gruppe die Rahmenbedingungen beraten kann. Punkt! – Zuruf von der LINKEN: Luftbla-
sen!)
Herr Außenminister, Sie haben im Zusammenhang
mit CTBT, also mit dem Vertrag über ein Verbot der Er- – Nein, keine Luftblasen. – Im Unterschied zu früher
probung von Nuklearwaffen, von Indien gesprochen. Sie enthält dieser Bericht keine Regierungsprosa mehr, son-
haben gesagt, Sie wollen Indien an den Nichtverbrei- dern beschreibt konkrete Fortschritte, konkrete Maßnah-
tungsvertrag heranführen. Das ist zwar ein sehr begrü- men. Er zeigt, dass weitergearbeitet wird und dass man
ßenswertes Unternehmen; nur das allein genügt nicht. vorankommt.
Wir müssen Pakistan und auch Israel ins Boot holen.
Nehmen wir die Umsetzung des Ottawa-Abkommens.
Ohne Israel wird es nicht gelingen – auch Sie engagieren
Auch wenn sie mit Verzögerungen und anderen Schwie-
sich dafür, jedenfalls nach Ihrer Aussage –, eine nuklear-
rigkeiten einhergeht, zeigt sich, dass konkret etwas pas-
waffenfreie Zone im Nahen Osten zu schaffen. Wo bleibt
siert. Ich sehe keinen Grund, dem ehemaligen Außen-
das EU-Expertenseminar zu einer solchen nuklearwaf-
minister Vorwürfe zu machen. Die Umsetzung dieses
fenfreien Zone, das 2011 eingerichtet werden soll? Ich
Abkommens braucht seine Zeit; denn es bedarf be-
glaube, dass es trotz der veränderten Rahmenbedingun-
stimmter Konstellationen. Nur in einer bestimmten his-
gen in Nordafrika wichtig ist, dieses Ziel nicht aus den
torischen internationalen Situation, kann man weiter-
Augen zu verlieren.
kommen.
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Halten Sie die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Waffenlieferungen an Gaddafi nicht für
falsch?)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Zapf! – Ja. Aber auch in dieser Hinsicht ändern sich Situatio-
nen und gibt es neue Ansatzpunkte und Überlegungen.
Uta Zapf (SPD): Ich finde es ausgesprochen bedauerlich und in der Sa-
Ich komme zum Schluss. – Wenn nichts passiert, dann che nicht förderlich, wenn es mit Blick auf die Errei-
wird die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaf- chung politischer Ziele, über deren Richtigkeit sich die
fensperrvertrag genauso ein Desaster wie die Überprü- Republik im Prinzip einig ist – was die Instrumente an-
fungskonferenz im Jahre 2005 sein. Wir und auch Sie, geht, sind die Auffassungen logischerweise kontrovers –,
Herr Außenminister, sind in der Pflicht, das zu verhin- nicht möglich ist, einmal eine Debatte ohne populisti-
dern. sche Ausfälle wie die zu führen, die sich Herr Groschek
hier heute leider geleistet hat. Willy Brandt hätte sich,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn er hier gesessen hätte, für Ihre Rede heute Morgen
DIE GRÜNEN) geschämt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Erich Fritz für die Warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, sich
CDU/CSU-Fraktion. gemeinsam darüber zu freuen, dass wir an konsensfähi-
gen Zielen gemeinsam arbeiten? Warum sollte es nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- möglich sein, im Deutschen Bundestag an bestimmten
neten der FDP) Stellen – ich glaube, Abrüstung ist eine solche Stelle –
die Außenwahrnehmung Deutschlands in die innenpoli-
Erich G. Fritz (CDU/CSU): tische Debatte zu übertragen? Fragen Sie doch die Kolle-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen gen aus unseren europäischen Partnerländern oder aus
und Kollegen! Herr Gysi, Sie haben hier wieder rhetori- der NATO, wie sie Deutschland in dieser Rolle sehen.
sche Plakate aufgehängt. Am Beitrag der Kollegin Zapf Ihre Sicht hat mit dem, was Sie, Herr Gysi, sagen, nichts
konnten Sie sehen, wie man mit diesem Thema ange- zu tun; denn da sind wir diejenigen, die beim Thema Ab-
messen umgeht. rüstung vorangehen. Wir sind diejenigen, die auf diesem
11820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Erich G. Fritz
(A) Gebiet fordern, Konzepte haben und Überlegungen ein- wir ihn etwas früher haben wollen; das haben wir bei je- (C)
bringen. Sie werden die Partner nicht zwingen können, der Debatte hier angemahnt, egal unter welcher Regie-
auch nicht durch noch so viele rhetorische Plakate dazu; rung –, dass sowohl bei den einzelnen Ausfuhrgenehmi-
das wird nur durch kontinuierliche Arbeit gelingen. gungen wie bei den Sammelausfuhrgenehmigungen die
Zahlen zurückgegangen sind. Auch die tatsächliche Aus-
Ich glaube, wir spielen hier eine sehr positive Rolle,
fuhr ist zurückgegangen.
und das hat Tradition. „Der Friede der Welt kann nicht
gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die Wir engagieren uns im Rahmen einer internationalen
der Größe der Bedrohung entsprechen“, heißt es im Initiative wirkungsvoll im Bereich der Kleinwaffen. Ich
Schuman-Plan. Dieser Gedanke stand ganz am Anfang glaube, dass das ein ähnlicher Erfolg werden kann wie
der europäischen Entwicklung. Er ist doch durchgängige bei den Antipersonenminen. Aber auch das wird nicht
Politik, und zwar über alle Regierungswechsel hinweg. von selbst und von heute auf morgen gehen, sondern es
Abrüstung und Rüstungskontrolle bilden Bausteine für wird der Anstrengung vieler bedürfen.
eine globale Sicherheitsarchitektur der Zukunft, heißt es
Dem Antrag der Grünen kann man in dieser Absolut-
im Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode. Was
heit nicht zustimmen, aber man sollte darüber reden.
der Außenminister vorgetragen hat, zeigt, dass das nicht
Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, ihn in anderer
nur in einer Vereinbarung steht, sondern dass daran kon-
Form wieder einzubringen.
kret mit den Kräften gearbeitet wird, die Deutschland
mobilisieren kann. „In einem vereinten Europa dem Die Commerzbank bietet Fonds an, bei denen Anle-
Frieden der Welt zu dienen“, heißt es in der Präambel gern garantiert wird, dass keine Investitionen im Rüs-
des Grundgesetzes. Meinen Sie denn wirklich, dass wir tungsbereich finanziert werden.
alle in diesem Haus diesen Auftrag nicht ernst nehmen?
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Andere
Dass der eine populistisch geschickter ist und die ande-
Banken auch!)
ren mehr die Arbeit verrichten, ist vielleicht eine gerade
noch tolerable Arbeitsteilung im Parlament. Es wird aber Warum sollte man anderen nicht vorschlagen, das als
der Aufgabe und dem Auftrag, den wir aufgrund unserer Beispiel zu nehmen, und so diejenigen, die vorangehen,
Verfassung haben, nicht gerecht. sozusagen belohnen?
Ich glaube, es versteht sich von selbst, dass – auch im (Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/
Sicherheitsrat – Fragen der Nichtverbreitung und der CSU])
Abrüstung als Kernanliegen der deutschen Außenpolitik
Meine Damen und Herren, es ist noch Gelegenheit,
eine wesentliche Rolle spielen. Der Antrag der SPD,
über Libyen zu reden. Wer in dieser Woche die Debatten
wenn man ihn genau liest, dokumentiert eigentlich das
(B) Einverständnis mit der Praxis der Bundesregierung. In- bei der WEU verfolgt hat, in denen das eine Rolle ge- (D)
spielt hat, der konnte feststellen, dass die Begeisterung
sofern ist er vielleicht nicht unbedingt nötig.
über das, was man da unternimmt, bei manchen unserer
(Uta Zapf [SPD]: Was?) Freunde schon stark gelitten hat – die Überzeugung da-
von ebenso – und dass plötzlich Nüchternheit eingekehrt
Der Rüstungsexportbericht, Herr Kollege Gysi, zeigt
ist, was die Ziele, die Mittel und das angeht, was man
im Übrigen, dass es nicht je nach Regierung beliebige
tatsächlich machen kann. Von daher tun wir gut daran,
Wechsel gibt, sondern dass es Richtlinien gibt, an die
zu sagen: Ja, wir haben das richtig entschieden. – Das
man sich hält, und dass es Kriterien gibt, die allerdings
heißt aber nicht, dass wir nicht auch bereit sein müssen,
nicht einfach abzuwägen sind. Auch Sie müssten, wenn
humanitäre Einsätze zu sichern; denn man kann in be-
Sie in der Rolle wären, zu entscheiden,
stimmten Situationen Hilfe nicht ohne einen solchen
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Sie liefern Schutz leisten.
Waffen an Saudi-Arabien! Was soll das?)
Danke schön.
bei jeder einzelnen Entscheidung die unterschiedlichsten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Aspekte abwägen. Das ist etwas, was man nicht pauschal
sagen kann. Deshalb muss man der Bundesregierung
bzw. den Bundesregierungen attestieren, dass sie bei ih- Präsident Dr. Norbert Lammert:
rer restriktiven Rüstungsexportpolitik verantwortlich ge- Das Wort erhält nun die Kollegin Heidemarie
handelt haben. Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.
Im Nachhinein sieht man immer auch Fehler. Aber (Beifall bei der SPD)
Sie müssen sich einmal mit der Zusammensetzung des-
sen, was aus Deutschland exportiert wird, beschäftigen, Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
und Sie dürfen im Übrigen nicht – wie in Ihrer Rede Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur
dauernd geschehen, Herr Gysi – Rüstungsgüter, Waffen heutigen Debatte liegt auch der Antrag der SPD-Bundes-
und Ähnliches durcheinanderwerfen, wenn Sie in die tagsfraktion „Deutschland im VN-Sicherheitsrat – Im-
Einzelheiten gehen. pulse für Frieden und Abrüstung“ vor. Die Wahl Deutsch-
lands in den UN-Sicherheitsrat für zwei Jahre war ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zeichen der international hohen Anerkennung, die sich
Wir sehen im Hinblick auf den vorliegenden Rüs- Deutschland im vergangenen Jahrzehnt und davor erarbei-
tungsexportbericht – wir sind uns übrigens einig, dass tet hatte. Bereits nach drei Monaten steht die Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11821
Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) rung und mit ihr Außenminister Westerwelle vor einem Zweitens zu den sogenannten Kleinwaffen. Auch hier (C)
Scherbenhaufen ihrer internationalen Politik – isoliert muss man sich noch einmal den Umfang vergegenwärti-
von wichtigen Verbündeten, belächelt und verspottet. gen. Der globale Handel mit Schusswaffen übersteigt
– Schätzungen zufolge – jährlich 6 Milliarden US-Dollar,
(Beifall bei der SPD) und es sind noch einmal rund 4,3 Milliarden US-Dollar
Für das Ziel – erklärtermaßen ein ständiger Sitz im UN- für Munition. Der illegale Handel ist dabei naturgemäß
Sicherheitsrat für Deutschland – ist das eine absolute nicht eingerechnet. Im Jahr 2012 findet die Überprü-
Katastrophe. fungskonferenz des UN-Aktionsprogramms gegen den
Transfer von kleinen und sogenannten leichten Waffen
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung statt. Das ist eine konkrete Aufgabe, vor der die Bundes-
auf, insbesondere politische Schwerpunkte bei den an- regierung steht; denn diese Konferenz muss endlich ein
stehenden Abrüstungsfragen in den Vereinten Nationen Erfolg werden. Sie hat dieses Mal bessere Chancen, weil
zu setzen. Ich will drei Punkte nennen: die USA in diesen Fragen kooperativer sind. Die Chan-
Erstens, Streumunition. Das Übereinkommen – die cen sind also gestiegen.
Kollegin Malczak hat das vorhin angesprochen – ist am Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie die
1. August letzten Jahres in Kraft getreten. 108 Staaten Themen „Kindersoldaten“ und „Kinder in bewaffneten
haben das Übereinkommen unterzeichnet; 46 haben es Konflikten“ in der UN besonders voranbringen will. Es
bereits in nationales Recht umgesetzt. Darin verpflichten gibt keine wichtigere Voraussetzung dafür, als den Strom
sich die Vertragsstaaten, keine Streumunition herzustel- der Kleinwaffen zu verhindern. Deshalb erheben wir
len oder einzusetzen, sie auch nicht zu unterstützen. diese konkrete Forderung.
Wir alle wissen, dass Streumunition deshalb beson- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ders gefährlich ist, weil sie durch Blindgänger noch nach DIE GRÜNEN)
Jahrzehnten Menschen tötet. In vollem Umfang trifft das
Zivilisten und besonders Kinder. Die Zahlen besagen, Der dritte und letzte Punkt aus einer Fülle von Punk-
dass weltweit rund 85 000 Menschen Opfer von Streu- ten: Deutschland muss sich aktiver um die Umsetzung
bomben und Blindgängern werden. Dennoch sind einige der UN-Sicherheitsratsresolution 1325 bemühen, die vor
Länder – Sie haben es angesprochen – diesem Überein- rund zehn Jahren verabschiedet worden ist. In dieser völ-
kommen bisher nicht beigetreten. Wir fordern die Bun- kerrechtlich verbindlichen Resolution wird unter ande-
desregierung auf, das Übereinkommen zum Verbot von rem auf allen Ebenen die verstärkte Einbeziehung von
Streumunition umzusetzen und vor allen Dingen Haus- Frauen in Friedensprozesse gefordert. Im Oktober 2010
haltsmittel bereitzustellen, um die Opferfürsorge zu fi- hatten erst 23 Staaten einen notwendigen Aktionsplan
(B) nanzieren. verabschiedet. Der Deutsche Bundestag hat gefordert, (D)
dass es einen gemeinsamen deutschen Aktionsplan ge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben muss. Angesichts des Elends und der Gewalt in der
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Welt, die gerade in Kriegen und Bürgerkriegen gegen
LINKEN) Frauen ausgeübt wird, ist dies eine wichtige gemeinsame
Das ist bisher nicht geschehen. Aufgabe, zu der ich uns gemeinsam aufrufe.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auch für Ich danke Ihnen.
ein vollständiges Verbot von Streumunition einzusetzen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und dafür zu sorgen, dass die Länder Russland, USA, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich
China, Indien und Pakistan diesem Übereinkommen bei- [DIE LINKE])
treten. Zu den Verhandlungen in Genf liegt ein Protokoll
vor. Dieses Protokoll fällt hinter die Oslo-Bestimmun- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gen zurück. Deshalb fordern wir die Bundesregierung Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl
auf, dafür zu sorgen, dass das Oslo-Abkommen nicht von der CDU/CSU-Fraktion.
ausgehöhlt wird und dass Streubomben nicht wieder le-
gitimiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das ist ein aktueller Konflikt, der ansteht. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):
Ich unterstütze nachdrücklich die Forderung, Investi- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
tionen in Hersteller von Streumunition zu verbieten. Re- Die Umsetzung der Vision einer Welt ohne nukleare und
cherchen von Nichtregierungsorganisationen zeigen in andere Arten von Massenvernichtungswaffen ist ein Ge-
der Tat, dass Banken und Versicherungen in diesen Be- nerationenprojekt. Es ist kein Thema wie andere The-
reichen Investments vornehmen. Wir fordern, dass jed- men, die man sich vielleicht für eine Legislaturperiode
wedes Investment in völkerrechtswidrige Waffen per vornimmt, um dann darauf hinzuarbeiten, innerhalb die-
Gesetz verboten wird. ser einen Periode einen Haken daran zu setzen. Nichts-
destotrotz stehen wir zu unserer Verantwortung, unsere
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aktive Zeit dafür zu nutzen, diesem Ziel Stück für Stück
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der näherzukommen. Das Ziel wird aber nie erreicht werden,
LINKEN) wenn man sich nur auf die Waffen selbst konzentriert. Es
11822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Reinhard Brandl


(A) muss in erster Linie darum gehen, in internationalen Deutschland bringt sich hier sehr konstruktiv in die (C)
Bündnissen Rahmenbedingungen zu schaffen und Ver- E3+3-Gespräche ein. Gesprächsbereitschaft auf der
trauen herzustellen, sodass diese Waffen irgendwann einen Seite, aber auch harte Sanktionen auf der anderen
einmal von selbst überflüssig werden. Seite, wenn das Angebot zum Dialog und zur Koopera-
tion nicht angenommen wird, sind weiterhin der richtige
So betrachtet, war das Jahr 2010 ein gutes Jahr. Der Weg.
Abschluss und die Ratifizierung des neuen START-Ver-
trags zwischen den USA und Russland markieren einen Meine Damen und Herren, zu den Risiken der Prolife-
weiteren Schritt der Annäherung und Kooperation zwi- ration kommt die Bedrohung durch den Nuklearterroris-
schen den beiden Ländern. Mit dem Vertrag wurden mus. Organisationen wie al-Qaida folgen nicht der
Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen beschlossen Logik der Abschreckung und hätten sicher keine Hem-
und neue Obergrenzen für die strategischen Arsenale mungen, Atomwaffen auch tatsächlich einzusetzen. Es
festgelegt. Der Vertrag ist aber auch ein Signal für die muss deswegen alles unternommen werden, damit sol-
Welt. Das sichtbare Bemühen um nukleare Abrüstung che Organisationen nicht in den Besitz von Atomwaffen
bei beiden Mächten des Kalten Krieges hebt die Bedeu- kommen.
tung des Themas auf der internationalen Bühne. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht ist es Aber selbst, wenn sie nicht in den Besitz eines Spreng-
aber mindestens genauso wichtig, dass jetzt in einem kopfes kommen, würde der Diebstahl von nuklearem
nächsten Schritt wieder Bewegung in die Verhandlungen Material zum Bau einer schmutzigen Bombe die Bedro-
mit Russland über die konventionellen Streitkräfte hung durch den internationalen Terrorismus auf eine
kommt. Die NATO hat im letzten Jahr ebenfalls ein Si- ganz neue Stufe heben.
gnal gesetzt: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nicht-
Der Gipfel zur nuklearen Sicherung im April letzten
verbreitung sind wesentliche Elemente des neuen strate- Jahres war deswegen richtig und wichtig. Deutschland
gischen Konzepts, das im November in Lissabon stellt beispielsweise bis 2012 für die Einrichtung einer
beschlossen wurde. Erstmalig in ihrer Geschichte hat Datenbank durch die IAEO für gering angereichertes
sich die NATO dem Ziel verschrieben, Voraussetzungen Material 10 Millionen Euro zur Verfügung. Aber gerade,
für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen. Das ist auch was die Etablierung internationaler Standards zur Absi-
ein großer Erfolg der diplomatischen Bemühungen der cherung von Nuklearanlagen und von Nuklearmaterial
Bundesregierung. angeht, müssen wir noch dringend nachlegen.
Frau Zapf, die Arbeit auf Ebene der NATO geht ja Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
nun weiter mit der Einrichtung des Abrüstungs- und auch nicht verschweigen, dass es jenseits der Fragen von
(B) Rüstungskontrollausschusses und der umfassenden nuklearer Abrüstung auch in anderen Bereichen der Rüs- (D)
Überprüfung des NATO-Abschreckungs- und Verteidi- tungskontrolle im Jahr 2010 wichtige Erfolge gab. Einen
gungsdispositivs. Ihr Vorwurf, dass da jetzt nichts mehr Erfolg möchte ich besonders herausstellen – er ist heute
passiert, trifft also nicht zu. schon mehrfach angesprochen worden–: Am 1. August
2010 ist das Übereinkommen über Streumunition in
Natürlich sind das alles kleine Schritte, genauso wie
Kraft getreten. Dies ist aus deutscher Sicht besonders er-
zum Beispiel der Dialog zwischen der NATO und Russ-
freulich, weil wir es – auch schon während Ihrer Regie-
land im NATO-Russland-Rat. Aber die Abrüstung inner-
rungszeit, verehrte Kollegen von der SPD – vorangetrie-
halb der NATO und innerhalb Russlands ist nur die eine
ben haben und weil wir eines der ersten Länder waren,
Seite. Daneben steht – das ist die weitaus konkretere Ge-
die diesen Vertrag unterzeichnet und im Parlament ratifi-
fahr – das Streben nach Atomwaffen vor allem in Län-
ziert haben. Das Übereinkommen beschreibt einen um-
dern wie Iran, Syrien oder Nordkorea. Nordkorea wei-
fassenden Verbotstatbestand für diese Art der Munition,
gerte sich auch 2010 konsequent, Transparenz über sein
die durch die hohen Raten von Blindgängern über Jahr-
Atomprogramm herzustellen. Im Gegenteil: Durch die
zehnte hinweg noch eine Gefahr für die Bevölkerung
Bekanntgabe einer bisher unbekannten Urananreiche-
darstellt. Es geht bei diesem Abkommen nicht nur um
rungsanlage und einen Angriff auf Südkorea hat sich die
die Munition selbst, sondern es geht in besonderem
Lage in der Region weiter zugespitzt.
Maße um Hilfe für die Opfer. Deutschland war wesent-
Es gibt weiter Unklarheiten darüber, was denn Israel lich am Erfolg des Abkommens und am Erfolg der ersten
2007 in Syrien überhaupt bombardiert hat. Die starke Vertragsstaatenkonferenz im letzten Jahr beteiligt.
Vermutung, dass es sich dabei um den Rohbau eines
Das ist aber nur ein Beispiel für die vielen deutschen
nicht bekanntgegebenen Reaktors handelt, wurde bisher
Anstrengungen, die der Jahresabrüstungsbericht 2010
nicht ausgeräumt.
aufzeigt. Ich möchte allen Vertretern der Bundesregie-
Weiterhin kritisch ist auch die Lage im Iran. Auch rung, aber auch allen Nichtregierungsorganisationen, die
2010 ist das Land nicht den Auflagen des UN-Sicher- sich im vergangenen Jahr dafür starkgemacht haben, von
heitsrates gefolgt. Es hat sein Atomprogramm fortge- dieser Stelle aus ganz herzlich danken. Sie alle leisten
setzt, die Urananreicherung ausgebaut und mit dem Bau kleine Beiträge, kleine Schritte, von denen aber jeder auf
des Schwerwasserreaktors in Arak fortgeführt. Durch dem Weg zu mehr Frieden und Sicherheit in der Welt
Presseveröffentlichungen im Herbst letzten Jahres haben wichtig ist.
wir erfahren, wie groß die Nervosität in der Region ist, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
wie groß die Angst vor der iranischen Atombombe ist
und welches Konfliktpotenzial damit verbunden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11823

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Obama – wir hörten es schon – bei der Unter- (C)
Der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSU- zeichnung des neuen START-Vertrages erklärt, taktische
Fraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs- Atomwaffen in zukünftige Verhandlungen mit Russland
punkt. unbedingt einbeziehen zu wollen. Ich denke, das ist ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und ich hoffe,
(Beifall bei der CDU/CSU) Russland wird diesen Weg eines Tages mitgehen. Dies
soll natürlich keinesfalls die Stellung des neuen START-
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Vertrages abschwächen, der eine immense politische Si-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gnalwirkung für weitere weltweite Bemühungen um die
Kollegen! Das Jahr 2010 war meiner Meinung nach, nukleare Abrüstung besitzt. Er gehört neben dem Ab-
auch wenn in Frau Zapfs Manuskript an dieser Stelle ein schlussdokument mit Sicherheit zu den abrüstungspoliti-
Fragezeichen steht, richtungsweisend, was Abrüstung schen Erfolgen der letzten Zeit.
und Rüstungskontrolle angeht. Ich möchte deshalb
gleich zu Beginn meiner Rede der Bundesregierung und Aber auch mit dem neuen Strategischen Konzept der
allen Beteiligten für ihr Engagement und ihr nachhalti- NATO – ich bin nicht ganz der Meinung, dass sich da
ges Handeln bei allen Bemühungen um dieses Thema nichts getan hätte – und der darin formulierten Verpflich-
und natürlich auch für das Verfassen dieses sehr ausführ- tung, Bedingungen für eine Welt frei von Atomwaffen
lichen Berichts herzlich danken. zu schaffen, konnte 2010 ein wahrer Meilenstein zum
Paradigmenwechsel bei der nuklearen Abrüstung ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaffen werden.
Dass für Deutschland die Themen Abrüstung und Gerade in diesen Tagen – wir hörten es – tritt hier in
Rüstungskontrolle von herausragender Bedeutung sind, Berlin im Rahmen des NATO-Außenministertreffens
zeigt dabei nicht allein der Umstand, dass bereits erstmalig der in Lissabon beschlossene Abrüstungsaus-
26 Tage nach Jahresende das Kabinett den Bericht be- schuss der NATO zusammen. Bemerkenswert ist dabei
schlossen hat, sondern vor allem auch die im Berichts- auch, dass dieses Gremium trotz der Vorbehalte einiger
zeitraum erzielten Ergebnisse. Sie sind nämlich auf ei- Partner – ich nenne da zum Beispiel Frankreich – ins Le-
nen wesentlichen Beitrag Deutschlands zurückzuführen, ben gerufen wurde. Ich meine, das ist ein kleiner, aber
und sie unterstützen maßgeblich den häufig genannten wichtiger Schritt zu mehr Abrüstung auch innerhalb der
und von Barak Obama eingeleiteten weltweiten Paradig- NATO.
menwechsel hin zu einer nuklearwaffenfreien Welt.
Darüber hinaus war es ein zentrales Anliegen der
Nicht zuletzt prägen die aktuellen Geschehnisse – ich Bundesregierung, die Krise um den KSE-Vertrag nach
(B) erinnere da an die Vorkommnisse in der arabischen der bekanntermaßen langen Ruhepause zu beenden. Er- (D)
Welt – auch die heutige Debatte. Durch sie wird einmal freulicherweise wurde dieses Gesprächsangebot von
mehr auf die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüs- Russland und den anderen nicht der NATO angehören-
tungskontrolle verwiesen. Dies waren und sind zentrale den KSE-Staaten grundsätzlich positiv aufgenommen.
Bestandteile deutscher Außen- und Sicherheitspolitik Ich hoffe, dass auch hier bald Bewegung in die Sache
und müssen es auch weiterhin sein. kommt. Das Ziel sollte auf jeden Fall sein – darin kann
Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund auf einige ich die Bundesregierung nur bestärken –, noch in diesem
wichtige Punkte eingehen, die speziell im deutschen Jahr den Einstieg in wirklich konkrete Verhandlungen, in
Fokus stehen und auch weiterhin stehen werden. Mit denen Maßnahmen der Transparenz dann auch festge-
Sicherheit kann dabei die Einigung auf ein Abschluss- zurrt werden, zu schaffen.
dokument der Staaten des Nuklearen Nichtverbreitungs-
vertrages als zentraler Erfolg gewertet werden. Nach, Aber es sind nicht nur die großen Ereignisse, die das
wie Sie wissen, zehnjährigem Stillstand konnte hier Jahr 2010 abrüstungspolitisch prägten. So leistete
nicht zuletzt aufgrund der Bemühungen Deutschlands Deutschland im Bereich der chemischen Waffen im
ein Konsens zu verpflichtenden Handlungsempfehlun- Zuge des G-8-Programms „Globale Partnerschaft“ fi-
gen zur nuklearen Abrüstung gefunden werden. nanzielle und technische Hilfe für entsprechende Ver-
nichtungsprogramme, zum Beispiel in Russland. Russi-
Deutschland hatte sich darüber hinaus intensiv dafür sche Atom-U-Boote konnten abgewrackt werden, und
eingesetzt, taktische Atomwaffen, also sogenannte sub- der Bau einer dritten Anlage zur Vernichtung chemischer
strategische Nuklearwaffen, die gegenwärtig leider noch Waffen, den Deutschland kofinanzierte, wurde abge-
keiner Rüstungskontrolle unterliegen, in den weiteren schlossen.
Abrüstungsprozess aufzunehmen. Diese Diskussion
steht nun auf der internationalen Agenda. Man kann mit (Uta Zapf [SPD]: Nur, jetzt gibt es kein Geld
Fug und Recht behaupten, dass dies zu einem nicht uner- mehr!)
heblichen Teil den Aktivitäten der Bundesregierung zu Und – man glaubt es kaum –: Auch bei uns wurden
verdanken ist. Auch dafür gilt mein herzlicher Dank. im Jahre 2010 die letzten Granaten des Lagerbestandes
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) an chemischen Waffen des Ersten Weltkrieges vernich-
tet. Man sieht also, wie lange Abrüstung dauern kann.
Aber auch mit Blick auf Amerika kann von einer
positiven Entwicklung, was die Abrüstung bei den tak- Das sind zwar kleine Schritte, aber handfeste und
tischen Atomwaffen angeht, gesprochen werden. So hat greifbare Abrüstungsschritte, die trotz der großen globa-
11824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Robert Hochbaum
(A) len nuklearen Herausforderungen nicht unter den Tisch trages durch atomare Abrüstung stärken“. Der (C)
fallen sollten. Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/2215, den gerade genannten Antrag
Nicht zuletzt darf bei all diesen Fragen unser En- der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/886 abzu-
gagement – es wurde mehrfach genannt – bei der Ver- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
nichtung von Streumunition nicht unerwähnt bleiben. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese
Seit der Unterzeichnung der Osloer Konvention hat sich Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit angenom-
Deutschland zu einer der führenden Kräfte unter diesen men.
Vertragsstaaten entwickelt und die Abrüstung im Be-
reich der Streumunition auch im letzten Jahr entschei- Unter dem Tagesordnungspunkt 26 f geht es um die
dend mit vorangetrieben. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
Meine Damen und Herren, abschließend kann man dem Titel „Deutschland atomwaffenfrei – Bei der Abrüs-
zum Jahresabrüstungsbericht festhalten – auch wenn ich tung der Atomwaffen vorangehen“. Auch hier empfiehlt
weiß, dass hier im Raum nicht alle derselben Meinung der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf der
sind –, dass alle Bemühungen der Bundesregierung in Drucksache 17/2213, diesen Antrag der Fraktion
die richtige Richtung gewiesen haben bzw. weisen. Na- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/122 abzuleh-
türlich ist Abrüstung ein schwieriger, oft auch von Rück- nen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer
schlägen begleiteter Prozess und natürlich sollte alles stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
viel, viel schneller gehen, umfassender sein und mit weit empfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
mehr Erfolgen verbunden sein. Aber seien wir nicht
blauäugig. Halten wir uns an die Realitäten und kämpfen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 27 a und b so-
wir um jeden kleinen Schritt. Alle Themen in dieser Hin- wie den Zusatzpunkt 9 auf.
sicht gilt es im internationalen Rahmen, im Verbund mit
27 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
der NATO, mit Russland, mit der EU und mit anderen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
internationalen Gremien zu vereinbaren. Dabei müssen
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Abrüstungspolitik und Rüstungskontrolle immer auf
NIS 90/DIE GRÜNEN
Vertrauen und gemeinsamer Verständigung basieren. Al-
leingänge nutzen da wenig. Das ist sicherlich nicht im- Nie wieder Tschernobyl – Atomzeitalter been-
mer der einfachste und leider nicht immer der schnellste den
Weg. Es ist aber sicherlich immer der nachhaltigste und
ein Weg, der entscheidend zu mehr Sicherheit und zu – Drucksache 17/5375 –
(B) mehr politischer Stabilität in unserer Welt führen wird. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (D)
Herzlichen Dank. Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE LINKE
25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl –
Präsident Dr. Norbert Lammert: Atomkraftwerke abschalten
Ich schließe die Aussprache.
– Drucksache 17/5379 –
Wir kommen zunächst zu den Überweisungen. Hier
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
geht es um die Tagesordnungspunkte 26 a, d, e und den
Zusatzpunkt 8. Interfraktionell wird die Überweisung Tschernobyl mahnt – Für eine zukunftssichere
der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4620, 17/4697, Energieversorgung ohne Atomkraft und eine
17/5374 und 17/4863 an die in der Tagesordnung aufge- lebendige europäische Erinnerungskultur
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind – Drucksache 17/5366 –
die Überweisungen so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Wir kommen nun zu der Beschlussempfehlung des die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die nen Widerspruch, also können wir so verfahren.
Linke mit dem Titel „Atomwaffen unverzüglich aus Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
Deutschland abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2214, den Die Grünen.
Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/116
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenom- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
men. 25 Jahren, am 26. April 1986, wurde im Block 4 des
Atomkraftwerks Tschernobyl ein Versuch durchgeführt.
Unter dem Tagesordnungspunkt 26 c stimmen wir ab Es sollte nachgewiesen werden, dass der Reaktor einen
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- Stromausfall bewältigen kann. Er konnte es nicht. Das
schusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti- Ergebnis war ein Super-GAU, ein Unfall, der über die
tel „Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrver- Auslegung der Anlage hinausging. Das Ergebnis war die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11825
Jürgen Trittin
(A) größte Katastrophe in der Geschichte der Atomenergie. Ja, seit Tschernobyl war klar, dass die Atomenergie (C)
Explosionen und ein Grafitbrand verbreiteten die Radio- ethisch neu bewertet werden muss. Aber betrachten wir
aktivität über ganz Europa. Noch am Tag darauf, am auch die Konsequenzen, die daraus hier in Deutschland
27. April, begannen über 1 800 Hubschrauberflüge, um gezogen worden sind. Nach 1986 wurde zwar kein Neu-
den geborstenen Reaktor mit Blei, Bor, Dolomit, Sand bau eines Atomkraftwerks begonnen – alle Projekte wur-
und Lehm zuzuschütten. Die Einwohner der Stadt Prip- den beendet –, die im Bau befindlichen Reaktoren gin-
jat, 48 000 Menschen, wurden evakuiert. gen aber samt und sonders ans Netz und erhielten
unbefristete Betriebserlaubnisse. Es war nicht Erwin
Ich selber weiß noch, wie ich am 1. Mai 1986 bei Teufel, der sich durchsetzte, sondern die Auffassung
strahlendem Sonnenschein mit vielen Kindern auf dem Helmut Kohls, der damals sagte:
Göttinger Markt ein Maifest feierte, und zwei Tage spä-
ter die Feuerwehr Göttingen den hilflosen Versuch … die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik
machte, Proben aus Pfützen zu ziehen, und zu erschre- Deutschland [gehören] mit zu den sichersten Anla-
ckenden Werten kam. Kurz darauf wurden Sandkästen gen in der Welt. … auf dieser Grundlage ist das
und Sportplätze gesperrt. Ich glaube, es gibt nur wenige theoretisch verbleibende Restrisiko vertretbar und
Ereignisse, die sich so in das Gedächtnis von Menschen die Nutzung der Kernenergie ethisch zu verantwor-
einprägen, dass sie später noch sagen können, was sie an ten.
diesem Tag, als sie die Nachricht erfahren haben, ge-
macht und gedacht haben. Tschernobyl gehört zu dieser Diese Auffassung stand schon damals in einem schar-
Art von Ereignissen. fen Kontrast zur Mehrheit der Bevölkerung. Es gibt seit
25 Jahren einen Konsens unter den Deutschen. Sie wol-
Wir müssen klar sagen: Nicht nur die damalige So- len raus aus der Atomenergie, schrittweise, aber raus.
wjetunion war auf einen solchen Störfall nicht vorberei- Zwei Drittel bis drei Viertel lehnen eine Technik ab, die
tet; auch Deutschland war nicht darauf vorbereitet. Die sich als nicht beherrschbar erwiesen hat. Dieser Konsens
damalige Bundesregierung spielte die Vorgänge herun- ist erst 15 Jahre nach Tschernobyl umgesetzt worden:
ter. Ein bayerischer Minister versuchte noch, im Selbst- mit der Begrenzung der Laufzeiten, mit dem Einstieg in
versuch klarzumachen, dass Molkepulver doch nicht so den Ausbau der erneuerbaren Energien, mit der rot-grü-
schädlich sei. Schließlich gelang es, zehn Tage später, nen Energiewende zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
am 6. Mai 1986, die Freisetzung radioaktiven Materials Parallel zu dem Ausbau der erneuerbaren Energien soll-
in Tschernobyl einzudämmen. Bei diesen Arbeiten, die ten bis um das Jahr 2020 herum schrittweise alle Reakto-
dann folgten, wurden über 800 000 Liquidatoren, wie sie ren vom Netz gehen. Diesen Konsens, das Risiko einer
genannt wurden, eingesetzt. Einer von denen, die damals Kernschmelze für Deutschland endgültig zu beenden,
(B) eingesetzt worden sind, wurde jetzt gefragt, wie denn hat die schwarz-gelbe Koalition im Herbst vergangenen (D)
das Leben nach Tschernobyl sei. Er hat geantwortet: Es Jahres verlassen. Gegen den Willen einer übergroßen
gab ein Leben vor Tschernobyl, aber es gibt kein Leben Mehrheit der Bevölkerung haben Sie den vier Betreibern
nach Tschernobyl. Es gibt nur noch ein Leben mit ein 100-Milliarden-Euro-Geschenk gemacht und die
Tschernobyl. – Das sollten wir uns 25 Jahre danach ver- Laufzeiten im „Herbst der Entscheidungen“ verlängert.
gegenwärtigen.
Meine Damen und Herren, das war eine historische
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Fehlentscheidung.
bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
„Mit Tschernobyl leben“ heißt: mit 4 000 Toten, bei der SPD und der LINKEN)
400 000 Evakuierten, 1,5 Millionen Hektar Land, die
nicht mehr genutzt werden können. Bis heute kostet Es war eine Fehlentscheidung gegen die Sicherheit der
diese Katastrophe die Ukraine 6 Prozent des Bruttoso- Bevölkerung. Es war eine Fehlentscheidung, weil Sie
zialprodukts. Gräben über eine Frage aufgerissen haben, in der in die-
ser Gesellschaft ein neuer Konsens entstanden war. Es
Wir müssen uns die Frage stellen: Was wurde eigent- war eine Fehlentscheidung – das will ich ausdrücklich
lich aus Tschernobyl gelernt? Der damalige Fraktions- sagen –, bevor in Fukushima die Kernschmelze in nicht
vorsitzende der baden-württembergischen CDU, Erwin einem, sondern in drei Reaktorblöcken einsetzte. Es war
Teufel, sagte am 18. Mai 1986 in einer Debatte im dorti- eine Fehlentscheidung, bevor erneut ein Stromausfall be-
gen Landtag: Tschernobyl mahnt uns, wir müssen die wies, dass solche Anlagen Stromausfälle eben nicht ver-
Kernenergie ethisch neu bewerten. – Schon damals hatte kraften können. Es war eine Fehlentscheidung, bevor in
Erwin Teufel recht. Wer gibt uns das Recht, die Gesund- einem Hightechland mit hohen Sicherheitsstandards die-
heit und das Leben von Menschen, die heute noch nicht ses passierte.
geboren sind, in einem solchen Ausmaß zu beeinträchti-
gen? Woher nehmen wir uns das Recht, mit unserer 25 Jahre nach Tschernobyl müssen wir nun lernen,
Erde, mit unserer Luft, mit unserem Wasser so umzuge- auch mit Fukushima zu leben, mit den Opfern, mit den
hen und uns, um es einmal mit diesen Worten zu sagen, Folgen und mit der radioaktiven Verseuchung des Pazi-
so an der Schöpfung zu versündigen? fiks. 25 Jahre nach Tschernobyl, im Jahr von Fukushima,
müssen wir aber endlich Konsequenzen ziehen. Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen raus aus der Atomenergie, und zwar so schnell
und bei der SPD) wie möglich.
11826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Jürgen Trittin
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, men, einmal mehr hier im Deutschen Bundestag eine (C)
bei der SPD und der LINKEN) Debatte über die Zukunft der Kernenergie zu führen.
Das ist begrüßenswert, weil es Gelegenheit gibt, uns an
Sie von der Koalition haben sich nun eine dreimona- die Geschehnisse der Nacht vom 25. zum 26. April des
tige Denkpause verordnet, um Ihre gut drei Monate alte Jahres 1986 zu erinnern. In der Nacht des 26. April 1986
Fehlentscheidung zu korrigieren. Ich würde mir am heu- ereignete sich im Kernkraftwerk Tschernobyl der welt-
tigen Tag wünschen, dass Sie in diesem Fall von Erwin weit schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kern-
Teufel lernen und nicht von Helmut Kohl. Ich würde mir energie. Es ist wichtig, dass wir uns erneut bewusst ma-
wünschen, lieber Herr Röttgen, dass Sie die Zeit nutzen, chen, dass über 350 000 Menschen – Herr Trittin sprach
um eine Brücke zurück zum Konsens in dieser Gesell- von 400 000 Menschen – aus den betroffenen Gebieten
schaft zu bauen. Dieser Konsens ist heute übrigens ein umgesiedelt werden mussten, und wichtig ist auch, dass
anderer als der vor zehn Jahren, für den ich mitverant- wir uns an die Tausende von Menschen erinnern, die als
wortlich war. 30 Prozent der Bevölkerung wollen sofort sogenannte Liquidatoren und unter Einsatz ihres Lebens
raus, 27 Prozent innerhalb von fünf Jahren und und ihrer Gesundheit in Tschernobyl eingesetzt waren,
20 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Man kann es so und ihnen für ihren Einsatz danken.
sagen: Drei Viertel sind der Ansicht, wir sollten deutlich
vor 2020 alle AKW stilllegen. Die heutige Debatte ist aber auch Anlass, auf die
enorme internationale Solidarität bei der Bewältigung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Folgen des Unglücks hinzuweisen. Deutschland hat
bei der SPD und der LINKEN) bereits erhebliche Unterstützung bei der Bewältigung
Wie könnte ein solcher neuer Konsens aussehen? der ökologischen, medizinischen, wirtschaftlichen und
Nehmen wir die sieben ältesten Atomkraftwerke und sozialen Folgen geleistet. Wir werden diese Hilfe auch
Krümmel endgültig und nicht nur vorübergehend vom künftig fortsetzen. Hierbei geht es nicht nur um die Fort-
Netz. Nehmen wir die Laufzeitverlängerung gemeinsam setzung der deutschen Beteiligung am internationalen
zurück. Koppeln wir künftig die verbleibenden Rest- Shelter Implementation Plan, also an der Errichtung ei-
strommengen an das Wachstum erneuerbarer Energien. nes neuen, haltbaren Sarkophags. Enorme Unterstützung
Beenden wir gemeinsam die bürokratischen Blockaden leisten auch die über 900 zivilgesellschaftlichen Initiati-
für den Ausbau der Windenergie auch in den südlichen ven, die sich insbesondere um Kinder aus den betroffe-
Bundesländern. nen Gebieten in Belarus und der Ukraine kümmern. Sie
ermöglichen bis zu 20 000 von ihnen jährlich, an einem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ferienaufenthalt in Deutschland teilzunehmen. Für die-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ses Engagement sage ich herzlichen Dank.
(B) LINKEN) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Bauen wir gemeinsam neue Netze für eine dezentralere bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Energieversorgung. Investieren wir mehr und nicht we- Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
niger in Wärmedämmung, weil wir das Gas, das dadurch
eingespart wird, an anderer Stelle brauchen. Sorgen wir Meine Damen und Herren, seit dem schweren Erdbe-
für mehr Pumpspeicher und für mehr Elektrospeicher in ben vom 11. März 2011 in Japan steht Tschernobyl nicht
Elektrofahrzeugen. Schaffen wir mehr Bioenergiedörfer. mehr allein als Synonym für die Gefahren der Kernener-
gie. Erneut hat es ein schweres Unglück bei der Nutzung
Dies alles hieße nicht nur, die Atomkraft ethisch neu der Kernenergie gegeben. Vieles, was in Tschernobyl
zu bewerten, es würde auch unzählige neue Arbeits- passiert ist, war bei unseren Kernkraftwerken technisch
plätze schaffen. Es würde den Industriestandort Deutsch- nicht möglich. Es handelte sich beim Reaktortyp in
land stärken. Es würde unsere Versorgungssicherheit er- Tschernobyl um ein sicherheitstechnisch veraltetes
höhen, und es würde das Klima schützen. Ein solcher Kraftwerk. Die Reaktoren dieses Typs in Greifswald ha-
neuer Konsens, das hieße, im Jahr von Fukushima aus ben wir unmittelbar nach der Wende abgeschaltet.
Tschernobyl zu lernen.
Jetzt aber ist in Japan ein Kernkraftwerk betroffen,
Vielen Dank. das in einem hochindustrialisierten Land steht. Dort sind
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE mit dem schweren Erdbeben vom 11. März 2011 – in der
GRÜNEN – Beifall bei der SPD) letzten Nacht fand dort wieder ein Erdbeben statt – und
dem dadurch ausgelösten Tsunami Ereignisse eingetre-
ten, die so nicht vorhergesehen wurden. Das sogenannte
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Restrisiko hat sich in Fukushima als reales Risiko erwie-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött sen. Die Sicherheitsannahmen und die Sicherheitsreser-
für die CDU/CSU-Fraktion. ven in Japan sind nicht ausreichend gewesen. Aus diesen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ereignissen müssen wir Konsequenzen ziehen. Das
neten der FDP) Restrisiko auch unserer Kraftwerke muss nach den Er-
eignissen in Japan neu bewertet werden. Wir müssen die
Sicherheit neu bewerten und mit ergänzten Maßstäben
Marie-Luise Dött (CDU/CSU):
prüfen. Genau das tun wir jetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Oppo-
sition hat den bevorstehenden 25. Jahrestag des schlim- Meine Damen und Herren, wir werden die Sicher-
men Reaktorunfalls in Tschernobyl zum Anlass genom- heitsmaßnahmen und vor allen Dingen die Sicherheits-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11827
Marie-Luise Dött
(A) annahmen zu Erdbebengefahren, zu den Auswirkungen Hier haben wir ein hervorragendes Kosten-Nutzen-Ver- (C)
von Hochwasserereignissen, zu möglichen Auswirkun- hältnis mit sehr geringen CO2-Vermeidungskosten. Wir
gen des Klimawandels oder zu terroristischen Angriffen, werden in den nächsten Wochen und Monaten die Wei-
zu Cyberattacken und zu möglichen Gefahren durch chen stellen und sehr konkrete Vorhaben für den Ausbau
Flugzeugabstürze genau prüfen. Wir werden insbeson- der erneuerbaren Energien und die Steigerung der Ener-
dere die Wirkungen eines möglichen Zusammentreffens gieeffizienz auf den Weg bringen.
verschiedener Schadensereignisse prüfen. Wir werden
Ein schnellerer Übergang in das Zeitalter der erneuer-
auch die technische Situation in den Kraftwerken genau baren Energien ist nicht umsonst zu haben. Gerade
analysieren, zum Beispiel wie die Strom- und Notstrom- deshalb muss stärker als bisher die Effizienz des Mittel-
versorgung und die externe Infrastruktur ausgelegt sind, einsatzes betrachtet werden. Wir müssen den Bürgern
und prüfen, wie robust sie bei Schadensereignissen sind. nachvollziehbar erklären, dass der Netzausbau, die
Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Han- Schaffung von Energiespeichern und die Errichtung von
deln, das ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die neuen Anlagen Geld kosten. Schließlich handelt es sich
Bürger verlassen. um das Geld der Bürger, das sie mit der Stromrechnung
bezahlen – und nicht nur die Bürger. Auch die Wirtschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – René
und hier insbesondere die energieintensiven Unterneh-
Röspel [SPD]: Das wäre das erste Mal!)
men, die ein wichtiges Element der Wertschöpfungskette
Der von der Reaktor-Sicherheitskommission in der in Deutschland sind, brauchen wettbewerbsfähige Ener-
vergangenen Woche vorgelegte Anforderungskatalog giepreise.
umfasst alle Themen der Anlagensicherheit. Er stellt ex- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
trem hohe Anforderungen an alle Anlagen und ist der der FDP)
Maßstab zur Beurteilung jedes einzelnen Kraftwerks.
Diese Anforderungen gehen weit über die Anforderun- Der Umbau der Energieversorgung darf nicht zur Ab-
gen eines kerntechnischen Regelwerks hinaus. Eine An- wanderung von Unternehmen und damit zum Verlust
lage, bei der die Sicherheit nicht vollständig gewährleis- von Arbeitsplätzen führen. Das betrifft übrigens nicht
tet ist, geht nicht wieder ans Netz. Ein Kraftwerk nur die Preiswürdigkeit der Energie, sondern auch die
neueren Typs, das die Anforderungen nicht erfüllt, muss Versorgungssicherheit. Klimaverträglich, sicher, preis-
nachgerüstet werden, oder es wird ebenfalls vom Netz würdig – das bleiben auch beim Übergang in das Zeital-
genommen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste ter der erneuerbaren Energien die Prämissen unserer
Priorität. Energiepolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Marco (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) (D)
Bülow [SPD]: Auch was Neues!) Wir wollen einen schnelleren Ausstieg aus der Kern-
energie; aber ein Umbau Hals über Kopf, nach dem
Wir führen eine sehr intensive Diskussion über die Motto: „Koste er, was er wolle“, ist mit uns nicht mach-
Zukunft der Energieversorgung in Deutschland. Wir bar.
wollen die Nutzung der Kernenergie möglichst schnell
beenden. Wir werden im Lichte der Ereignisse in Japan (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
prüfen, ob das schneller geht, als wir bisher angenom- neten der FDP)
men haben.
Meine Damen und Herren, ich hoffe sehr und bin zu-
(Marco Bülow [SPD]: Als Sie bisher ange- versichtlich, dass die von der Bundeskanzlerin einge-
nommen haben, nicht wir!) setzte Ethikkommission auch dieses Thema ausgiebig
diskutieren wird. Eine sichere, bezahlbare und klimaver-
Seit längerem sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass trägliche Energiepolitik ist eine gesellschaftspolitische
wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien möglichst Frage von höchster Relevanz, und damit eignet sie sich
schnell erreichen wollen. Der Umbau hat bereits begon- nicht für parteipolitische Taktik. Den in Anträgen der
nen. Wir werden ihn noch einmal beschleunigen. Die Opposition vorweggenommenen Forderungen nach kon-
Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die in die- kreten Jahreszahlen können wir heute – auch wenn es
sem Jahr ansteht, wird entsprechende Maßnahmen ent- sonst an mancher Stelle Übereinstimmungen gibt – nicht
halten. zustimmen. An einem Unterbietungswettlauf darum, wer
am schnellsten die Kernkraftwerke abschaltet, werden
Wir werden zum Beispiel dafür sorgen, dass der Aus- wir uns ebenfalls nicht beteiligen. Erst die gründliche
bau der Windenergieerzeugung beschleunigt wird. Hier Analyse, dann konsequentes Handeln – so ist unsere
haben wir derzeit das wirtschaftlichste Ausbaupotenzial. Reihenfolge.
Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze
und Speicherkapazitäten beschleunigen. Das bereits vor- Ich hoffe sehr, dass die Signale der Opposition für ei-
gelegte Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleuni- nen offenen, sachlichen und fairen Dialog ernst gemeint
gungsgesetz ist dafür die Grundlage. Wir werden gerade sind; denn die Energiepolitik in Deutschland braucht
eine langfristig stabile Perspektive. Wir sind sehr gern
bei der Erhöhung der Energieeffizienz für schnelle Fort-
bereit, darüber zu diskutieren.
schritte sorgen. Insbesondere die energetische Gebäude-
sanierung ist hier ein wichtiger Ansatz. Vielen Dank.
(Marco Bülow [SPD]: Das haben Sie gekürzt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
11828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: viele Atomtechniker habe ich kennen gelernt, die (C)
Das Wort hat nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion. gesagt haben, wir wussten alle um die Gefahren,
wir haben sie nur verdrängt. Das kann natürlich
(Beifall bei der SPD) keine Zukunftstechnologie sein, wenn sie auf Angst
aufbaut.
Marco Bülow (SPD):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu- Dieser Mensch hat dazugelernt; viele in dieser Republik
nächst einmal möchte ich mich bei den vielen Initiati- haben das leider nicht.
ven, Organisationen, Einzelpersonen und Abgeordneten,
In 25 Jahren ist trotzdem eine Menge Bewegung ent-
die sich seit 25 Jahren für die Opfer von Tschernobyl
standen. Es gab ähnliche Leute, ähnliche Politiker, Wis-
einsetzen und engagieren, für die Aufklärung, die es seit
senschaftler, die umgeschwenkt sind, die die Alternati-
Tschernobyl gegeben hat, bedanken. Beispielhaft will
ven untersucht haben und die sich von der Atomenergie
ich das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk in
abgewandt haben. Leider gilt das vor allen Dingen für
Dortmund und die Abgeordnete Uta Zapf nennen, die in
die CDU/CSU und die FDP nicht. Im Gegenteil: Vor we-
den letzten 25 Jahren sehr viel Engagement aufgebracht
nigen Monaten haben Sie einen Konsens, der in diesem
haben.
Land herrschte und der Frieden in dieser Politik gebracht
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem hat, aufgebrochen. 25 Jahre nach Tschernobyl haben Sie,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- obwohl wir die Alternativen längst kennen und aufge-
geordneten der CDU/CSU und der FDP) baut haben, ganz ohne Not eine Laufzeitverlängerung
beschlossen, und zwar ohne die Beteiligung der Länder,
Selbst nach 25 Jahren ist das wahre Ausmaß von
ohne eine angemessene Diskussion in diesem Parlament,
Tschernobyl immer noch nicht bekannt. Wir wissen un-
ohne die vielen internationalen und nationalen Organisa-
gefähr, wie viele 100 000 Quadratkilometer Landfläche
tionen mit einzubeziehen, die sich um dieses Thema
unbewohnbar geworden sind, wir wissen, dass Hundert-
schon lange verdient gemacht haben, aber natürlich nach
tausende ihre Heimat verloren haben, wir wissen, dass es
ausgiebigen Gesprächen mit den vier Atomkonzernen.
viele Opfer gegeben hat; aber genau beziffern wird man
es nicht können, und selbst nach 25 Jahren kommen im- Man darf hier auch nicht von einer Brücke sprechen;
mer noch neue Opfer hinzu. denn es war klar: Es war nur eine Krücke, um die Atom-
Jürgen Trittin hat es gerade schon gesagt: Viele wis- energie so lange am Tropf zu halten, wie es eben geht.
sen, was sie zu diesem Zeitpunkt vor 25 Jahren gemacht (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
haben. Ich war damals knapp 15 und erinnere mich ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg
(B) nau an diesen Tag. Ich erinnere mich auch deswegen da- Nüßlein [CDU/CSU]: Stimmt doch nicht!) (D)
ran, weil ich damals als Jugendlicher Fragen gestellt
habe. Ich habe gefragt, warum wir auf so eine Ener- Dann gab es die Katastrophe in Fukushima, die uns
gieform setzen und ob es keine Alternativen gibt. Ich er- noch heute in Atem hält und wahrscheinlich auch noch
innere mich daran, dass auch in Deutschland Ratlosig- die nächsten Wochen, Monate und vielleicht sogar Jahre
keit und Unwissenheit vorherrschte, dass Mütter nicht in Atem halten wird. Wir haben in der letzten Nacht er-
wussten, ob sie ihren kleinen Kindern Milch geben dür- fahren, dass es wieder ein starkes Nachbeben gab und
fen und ob sie bestimmte Nahrungsmittel essen können dass ein weiteres Atomkraftwerk ein Leck hat, und wir
oder nicht, dass viele große Angst hatten und sich große wissen nicht, wo die ganze Geschichte enden wird.
Sorgen gemacht haben und dass Antworten nur spärlich
gegeben wurden. Die Japaner bekommen jetzt auch langsam Angst. Die
Informationspolitik ist fatal, weil sie hauptsächlich von
So bin ich damals übrigens politisiert worden. Hätten einem Betreiber ausgeht. Ich finde, es ist ein Skandal,
Union und FDP damals umgeschwenkt, dann wäre Ihnen dass ein Unternehmen, das davon lebt, Atomenergie zu
meine Rede heute möglicherweise erspart geblieben, produzieren, fast eine Informationsallmacht hat, und das
weil ich dann vielleicht nicht zur Politik gekommen in einer entwickelten Demokratie. Ich halte das für ziem-
wäre. lich gefährlich.
(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte Ihnen gerne eine Aussage von Franz Alt
vorlesen: Aber auf einmal wandeln sich in Deutschland und
vielen anderen Ländern die Atomdinosaurier von Kriti-
Ich habe mich 25 Jahre zurückerinnert, an Tscher- kern zu Fans der Erneuerbaren und kündigen das baldige
nobyl, wo ich ganz ähnliche Bilder gesehen habe. Ende der Atomenergie an. Das sind zum Teil dieselben
Damals war ich als CDU-Mitglied noch ein Anhän- Personen, die uns noch vor ein paar Wochen oder Mona-
ger der Atomenergie. Ich war damals so bekloppt, ten als Ökospinner, Ideologen oder Panikmacher be-
den Fachleuten zu glauben, dass da nie etwas pas- schimpft haben. Jetzt können sie nicht schnell genug aus
sieren kann. Erst dann habe ich angefangen, gründ- der Atomenergie aussteigen.
lich zu recherchieren, und habe gemerkt, was uns
vor allem die Fachleute an Lügen erzählt haben. Sie haben gesagt, dass es keinen Wettlauf gibt, Frau
… sie hatten nur Angst, ihren Job zu verlieren. Wie Dött. Es gibt ihn aber gerade in der CDU/CSU.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11829
Marco Bülow
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die Großstrukturen fördern. Wir müssen Energie de- (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zentral einsetzen.
Viele Länderchefs versuchen, möglichst schnell von der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Atomenergie wegzukommen, schneller als Rot-Grün es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
jemals beschlossen hat.
Denn eines ist klar – das ist mein letzter Satz –: Ich
Ich bin aber froh über jeden, der dazulernt. Besser möchte nicht, dass einige wenige Konzerne darüber ent-
spät als nie, von mir aus auch erst jetzt nach Fukushima. scheiden, wie es mit der Energiepolitik läuft, und dass wir
Dabei sollten wir aber ein paar Fragen stellen dürfen: Profitdenken, das für die Konzerne notwendig ist – das
kreide ich ihnen nicht an –, im Zweifel über Sicherheit,
Warum musste es erst zu einer Katastrophe in Fuku-
Transparenz und volkswirtschaftlichen Nutzen stellen.
shima kommen? Es gab schon vorher andere Katastro-
phen neben Tschernobyl. Es gab ernstzunehmende Stör- Danke schön.
fälle wie 2006 in Forsmark in Schweden, einem
hochindustrialisierten Land, mit einer Technik, die auch (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
in Deutschland eingesetzt wird. Auch daraus wurden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
keine Lehren gezogen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Warum haben die Politiker von CDU/CSU und FDP
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
nicht den Mut, ähnliche Worte zu finden wie Franz Alt
möchte ich sehr herzlich die Botschafterin der Ukraine,
und sich für ihre Politik zu entschuldigen? Stattdessen
Frau Natalia Zarudna, sowie Vertreter verschiedener
tun sie so, als ob das, was sie noch vor zwei Monaten ge-
Tschernobyl-Initiativen begrüßen, für deren Arbeit ich
sagt haben, völlig richtig gewesen wäre.
im Namen des Hauses sehr herzlich danke.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
(Beifall)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Das Wort hat nun Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
Warum entmündigen Sie erneut das Parlament? Sie
setzen Ethikkommissionen ein, die vor 25 Jahren hätten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tagen müssen – unlegitimierte Kommissionen, die heute der CDU/CSU)
darüber bestimmen sollen, wie wir mit der Atomenergie
umgehen –, statt im Parlament eine lange, ausführliche Michael Kauch (FDP):
Debatte zu führen und Anhörungen durchzuführen, zu Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre (D)
(B)
denen man die Experten hätte einladen können. Denn nach Tschernobyl, das ist ein Anlass, sich zu fragen: Wie
das Thema gehört ins Parlament. Es sollte nicht etwa en war es damals bei mir? – Ich war 1986 in der Oberstufe
passant im Juni entschieden werden, wie wir es schon meines Gymnasiums, habe ehrenamtlich die Milchbar
einmal erlebt haben. gemanagt und irgendwann die Erfahrung gemacht, dass
Warum machen Sie das nicht? Das zeigt doch, dass ich meine Milch nicht mehr verkaufen durfte. Ich
der Lerneffekt sehr begrenzt ist. Sie beschränken sich glaube, so etwas prägt junge Menschen und bringt Er-
auf Lippenbekenntnisse, statt wirklich umzudenken. kenntnisse. Bei mir hat es Skepsis gegenüber dieser
Technologie bewirkt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Bei allen Abwägungen gegenüber Klimaschutz, Ver-
GRÜNEN) sorgungssicherheit und Bezahlbarkeit sind dies die Er-
fahrungen, durch die bei uns, meiner Generation, immer
Auch nach Fukushima gibt es den Konsens in der ein Rest von Skepsis geblieben ist, auch wenn es in den
Atomdebatte und in der Energiedebatte nicht, den Sie uns letzten 25 Jahren nicht zu einer Katastrophe gekommen
vorzuspielen versuchen. Das ist auch ein Hinweis an die ist.
Medien; denn es gibt immer noch große Unterschiede. Es
gibt viele Möglichkeiten, eine Energiewende, die jetzt an- (René Röspel [SPD]: Das haben Sie aber sehr
geblich alle wollen, zu verzögern. Es gibt unterschiedli- gut verborgen!)
che Ziele und Vorstellungen über die Zeitabläufe.
Wir haben 1986 als Folge von Tschernobyl die Grün-
Es geht nicht nur darum, sieben Pannenreaktoren ab- dung des Bundesumweltministeriums erlebt. Die FDP
zuschalten. Es geht nicht einmal darum, nur über die beschloss im Jahr 1988, dass die Kernkraft nur eine
Atomenergie insgesamt zu sprechen. Denn eine wahre Übergangsenergie sein kann. Seitdem wurden keine
Energiewende ist eine industrielle Revolution, die ein neuen Kernkraftwerke mehr in Deutschland gebaut.
neues Denken erfordert.
Ich denke, das waren die damals möglichen Konse-
Albert Einstein hat gesagt: „Probleme kann man nie- quenzen aus Tschernobyl; denn in der Zeit standen uns
mals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie ent- die technologischen Alternativen nicht in dem Umfang
standen sind.“ Deswegen müssen wir komplett umstei- zur Verfügung wie heute. Tschernobyl und die Folgen
gen. Wir müssen die Energie effizienter nutzen und auf mahnen uns, menschliche Katastrophen und Tragödien
die Erneuerbaren umsteigen. Aber nicht nur das: Wir ernst zu nehmen. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich,
brauchen ein völlig neues System. Wir dürfen nicht wie- dass sich der Antrag der SPD zum größten Teil mit der
11830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Michael Kauch
(A) menschlichen Tragödie befasst. Demgegenüber enthält zuheben, und schon wäre das Problem gelöst. Wir müs- (C)
der Forderungskatalog des Antrags der Grünen kein ein- sen umbauen, und zwar nicht nur das Energiesystem,
ziges Wort zum Verhältnis zur Ukraine und zu den Men- sondern die gesamte Infrastruktur dieser Republik. Das
schen, die immer noch unter den Folgen von Tscherno- ist eine riesige Herausforderung, die eine gemeinsame
byl leiden. Ich beglückwünsche die SPD und finde es nationale Kraftanstrengung und eine gemeinsame Ak-
schade, dass die Grünen an dieser Stelle hinter den Er- zeptanzoffensive erfordert. Daraus kann sich niemand
wartungen zurückbleiben. verabschieden. Da müssen wir alle gemeinsam Verant-
wortung tragen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Nach Fukushima stehen wir erneut vor einer Heraus-
forderung. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwi- Man sollte nicht blauäugig sein und glauben, dass
schen den Lehren aus Tschernobyl und Fukushima. diese Stromtrassen, selbst wenn wir die Genehmigungs-
Tschernobyl war das Ergebnis menschlicher Fahrlässig- verfahren beschleunigen, in ein bis zwei Jahren da sein
keit in Kombination mit einer nichtoptimalen Reaktor- werden. Wir werden – das ist die bittere Wahrheit – kurz-
technik. Fukushima zeigt: Selbst wenn ein Kernkraft- fristig Strom importieren, was wir schon tun, kurzfristig
werk im genehmigten Betrieb sicher betrieben werden die Kohlekraftwerke und die Gaskraftwerke hochfahren
kann, kann es äußere Einwirkungen auf den Reaktor ge- und mehr CO2 produzieren. Deswegen besteht die He-
ben, die zur Katastrophe führen. Deshalb müssen wir rausforderung vor allem darin, den Kernkraftausstieg mit
Lehren aus Fukushima ziehen. Auch wenn wir der Mei- Klimaschutz zu verbinden; denn die Herausforderungen
nung sind, dass die deutschen Kernkraftwerke im laufen- des Klimaschutzes sind durch Fukushima nicht kleiner
den Betrieb sicher sind und es auch immer waren, müs- geworden.
sen wir erkennen, dass die Sicherheitsreserven der Deshalb müssen wir über das Stromsystem hinaus-
Reaktoren offensichtlich kleiner sind, als wir uns das denken, wir müssen über das Thema Gebäudesanierung
vorgestellt haben. Es ist daher richtig, dass wir jetzt Leh- sprechen, durch die wir schneller und kostengünstig
ren ziehen und im Rahmen des Moratoriums von drei CO2-Emissionen und Erdgas einsparen können. Dafür
Monaten Sicherheitsüberprüfungen nicht nur der Kern- müssen auch Finanzierungsmittel bereitgestellt werden.
kraftwerke, sondern auch der Sicherheitsreserven und
der Sicherheitsregeln angeordnet haben. Meine Damen und Herren, wir stehen vor großen He-
rausforderungen, wenn wir ernsthaft darangehen wollen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit,
der CDU/CSU) auch für unsere Industrie, sicherzustellen.
(B) (D)
Politik muss eine weitere Lehre ziehen. Die Bürgerin- Vielen Dank.
nen und Bürger haben ein klares demokratisches Signal
gegeben. Sie wollen schneller raus aus der Kernkraft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Politik muss dies erkennen und entsprechend handeln.
Die FDP wird deswegen den Umbau hin zum Zeitalter der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
erneuerbaren Energien beschleunigen. Das Energiekon- Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
zept des letzten Jahres sieht für das Jahr 2050 80 Prozent tion Die Linke.
Strom aus erneuerbaren Energien und 0 Prozent Kern- (Beifall bei der LINKEN)
kraftstrom vor. Allerdings müssen wir jetzt möglicher-
weise einen anderen Pfad verfolgen. Wir müssen dieses
Energiekonzept nicht auf den Müll werfen. Vielmehr geht Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
es darum, den Umbauprozess, der bereits im Energiekon- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zept angelegt ist, schneller hinzubekommen. Wenn ich mir im Fernsehen die Bilder aus Japan an-
schaue, dann denke ich oft an Tschernobyl. Ich war 2006
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gemeinsam mit dem Umweltausschuss vor Ort. Vier
der CDU/CSU) Fraktionen waren dabei; die christliche konnte sich nicht
entschließen, mitzufahren. Ich denke an die verlassenen
Wie können wir ihn schneller hinbekommen? Das
Städte. Ich denke an das Riesenrad, bei dessen Anblick
Hauptproblem bei den erneuerbaren Energien ist nicht,
man sich vorstellen kann, dass dort Kinder gespielt ha-
dass wir nicht schnell genug Kapazitäten aufbauen kön-
ben. Ich denke an die Läden, die damals nach drei Tagen
nen. Das Hauptproblem, das wir heute haben, ist, den
verlassen wurden und die wir noch sehen konnten. Ich
Strom aus erneuerbaren Energien zum Verbraucher zu
habe das als sehr bedrückend empfunden.
bringen. Insbesondere in Norddeutschland, wo Techno-
logien zur Nutzung erneuerbarer Energien effizient an- Das sind Eindrücke, die man nie mehr vergisst. Wir
gewendet werden können, gibt es riesige Kapazitäten. haben dort gemeinsam einen Kranz niedergelegt und uns
Aber der Großteil der Verbraucher befindet sich im Sü- geschworen: So etwas darf nie wieder geschehen!
den und im Westen der Republik. Außerdem unterliegen
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen
diese Stromquellen Schwankungen. Deshalb sind Spei-
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
cherung und neue Stromtrassen die Schlüsselherausfor-
derungen für die erneuerbaren Energien. Niemand sollte Wir waren dann in einer Klinik für krebskranke Kinder.
so tun, als ginge es darum, ein paar Vergütungsstufen an- Diese Eindrücke wird man ebenfalls nie mehr vergessen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11831
Eva Bulling-Schröter
(A) Auch dort haben wir gesagt: Nie wieder! Diesen Men- Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass (C)
schen muss geholfen werden. das Verbot der Atomtechnologie im Grundgesetz veran-
kert wird. Wir wollen darüber hinaus, dass Atomtechno-
Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis auch bei uns ein logie nicht mehr exportiert und auch nicht mehr finan-
Umdenken spürbar wurde, wie es jetzt der Fall ist. ziert wird. Wir wollen, dass der Atomausstieg nicht
Wir hatten dann im Umweltausschuss eine Anhörung revidierbar ist.
zu einem Bericht der IAEO, der Internationalen Atom- Ich war Abgeordnete des Bundestages, als der rot-
energie-Organisation, mit dem Titel „Tschernobyl: Das grüne Atomkompromiss verabschiedet wurde. Meine
wahre Ausmaß des Unfalls“. In diesem Bericht stand – es Fraktion hat dagegengestimmt, aber nicht, weil wir ge-
gab aufgrund der Katastrophe 4 000 Tote, deshalb habe gen den Atomausstieg waren, sondern weil uns das
ich mich sehr darüber geärgert –: Die größere Bedrohung Ganze damals zu langsam ging. Durch die vereinbarten
als die Langzeitbestrahlung stellen in diesen Gebieten Ar- Restlaufzeiten werden die Atomkraftwerke zu einer Art
mut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Probleme Gelddruckmaschine. Hinzu kam, dass der damals be-
dar. – Das heißt, Sie haben schon damals versucht, zu re- schlossene Atomausstieg revidierbar war. Ich muss sa-
lativieren, vergessen zu machen. Wir haben darüber sehr gen: Leider haben wir mit unseren Befürchtungen recht
gestritten. Es ist genau diese IAEO, die jetzt wieder das behalten, und das, obwohl ich in diesem Punkt nicht
Sagen hat. recht haben wollte. Wir müssen den Atomausstieg un-
umkehrbar machen.
27 000 Quadratkilometer kontaminierter Boden sowie
9 Millionen Menschen in der Ukraine und in Belarus (Beifall bei der LINKEN)
wurden betroffen, und immer noch kommen Kinder auf Machen wir uns doch nichts vor: Die Atomkonzerne
die Welt, bei denen die Folgen spürbar sind. Das ist nicht stehen schon wieder in den Startlöchern. Ihre juristi-
nichts, und deswegen müssen wir umdenken. Es gibt schen Abteilungen überlegen doch bereits, wie sie es der
eine Linie: Harrisburg, Majak, Sellafield usw. Ich sage Politik schwermachen können, etwa indem sie Geld for-
Ihnen: Das muss endlich aufhören. dern. Aus diesem Grund brauchen wir ganz schnell neue
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Gesetze. Die acht vorübergehend stillgelegten AKWs
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE dürfen nicht wieder ans Netz gehen. Der Atomausstieg
GRÜNEN) muss schnell erfolgen.
Zum Schluss: Eine Technologie, die nicht beherrsch-
Jetzt haben wir eine Zäsur. Wir haben ein Moratorium
bar ist, darf nicht weiter angewandt werden. Derzeit nut-
für drei Monate. Dieses Moratorium ist auch ein Erfolg
zen wir zwei dieser Technologien: die Atomkraft und die
(B) der Anti-AKW-Bewegung, bei der ich mich hiermit be- Gentechnologie. Hinzukommen wird die CCS-Techno- (D)
danke. Ich sage ihr: Hört nicht auf, macht weiter so;
logie, die Verpressung von CO2 in Gesteinsformationen.
denn wir brauchen den Atomausstieg, und wir brauchen
ihn so schnell wie möglich! Diese Technologien dürfen zum Wohle der Menschen
auch dann nicht weiter angewandt oder eingeführt wer-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten den, wenn dies möglich ist. Wir, die Politikerinnen und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Politiker, sind gewählt, um Schaden vom Volk abzuhal-
ten. In diesem Sinne müssen wir in Zukunft entscheiden.
Das Moratorium war auch dem Wahlkampf geschul-
det. Viele Menschen haben das natürlich auch gespürt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Im November letzten Jahres gab es einen großen Streit
bezüglich der Verlängerung der Laufzeiten. Wir haben Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Anhörungen dazu durchgeführt. Alle Fakten lagen auf Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-
dem Tisch; sie wurden diskutiert, genau wie jetzt. Aber Fraktion.
die Koalition war beratungsresistent hoch drei. Sie wollte
es nicht hören. Es hieß nur: Das ist eine Brückentechno- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
logie, und die brauchen wir. – Es gab ein Wort, das hieß der FDP)
„alternativlos“. Ich denke, dieses Wort darf in der Politik
nie mehr eine Rolle spielen; denn es gibt immer bessere Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
und sichere Alternativen. Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren!
25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- gilt den Opfern unser Gedenken – vor jeder Debatte, vor
neten der SPD) jedem Parteienstreit. Die Anzahl der Opfer ist hoch. Die
Um es noch einmal zu sagen: Ein abgeschriebenes Zahlen machen uns sprachlos. Aber es macht keinen
AKW, das einen Tag länger läuft, bringt einen Profit in Sinn, über die Summen zu diskutieren. Unser Bedauern
Höhe von 1 Million Euro. Es geht also nicht um Peanuts gilt jedem einzelnen Menschen.
und um Brückentechnologien, sondern um die Profite (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Konzerne.
Dem Dank an und der Anerkennung für die vielen
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein privaten Hilfsinitiativen und ihren Spendern kann man
[CDU/CSU]: Das ist falsch!) sich nur anschließen. Bei dieser Gelegenheit muss es
11832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) auch darum gehen, zu unterstreichen, was der deutsche musste ich lernen –, sondern es ist die falsche Technolo- (C)
Staat und mithin der deutsche Steuerzahler in diesem gie.
Zusammenhang zu leisten haben: Das sind für den Sar-
kophag 62,5 Millionen Euro, davon sind 60,5 Millionen (Beifall bei der LINKEN)
Euro direkt für den Chernobyl Shelter Fund. Außerdem
zahlt Deutschland 23,5 Millionen Euro in den Nuclear Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Safety Account. Ich bedanke mich zunächst dafür, dass Sie meine Re-
dezeit verlängern. Ich wäre natürlich noch auf Fuku-
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Da sieht man, wie shima gekommen. Auch hätte ich betont, dass die dor-
teuer die Atomenergie uns kommt!) tige Informationspolitik nicht optimal ist. Natürlich tut
Im Übrigen werden wir uns mit geschätzten 10 Prozent man sich in einer so schwierigen Phase schwer, eine Re-
an der Deckung der noch bestehenden Finanzierungslü- gierung von außen zu kritisieren; aber die Informations-
cke von immerhin 740 Millionen Euro beteiligen, ganz politik, die dort betrieben wird, ist durchaus kritikwür-
zu schweigen von über 50 Millionen Euro, die wir antei- dig. Es ist kritikwürdig, wie – vermutlich kulturbedingt –
lig über die EU bezahlen. mit den Geschehnissen – ursprünglich mit einem hohen
Maß an Gelassenheit – umgegangen wurde. All das
Ich bitte Sie, es nicht als Populismus zu verstehen, muss man durchaus kritisieren.
wenn ich bei dieser Gelegenheit unterstreiche, dass in
diesem Zusammenhang insbesondere die ehemaligen (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das eine ist
Sowjetstaaten und ganz besonders das rohstoffreiche kulturbedingt, das andere kommunistisch! So
Russland gefordert sind, nach dem Verursacherprinzip ein Quatsch!)
hier ihren Anteil zu leisten. Liebe Kollegin, Sie werden aber doch wohl nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und leugnen, dass es in der Umweltpolitik einen Unterschied
der FDP) zwischen dem alten Sowjetregime und den westeuropäi-
schen Demokratien gab. Da können Sie mit dem Wald-
Da ich an diesem Punkt bin: Es wurden die sterben anfangen, das damals entlang der Zonengrenze
600 000 Liquidatoren angesprochen, die damals von der besonders spürbar war. Man konnte sehen, woher das
Sowjetunion ohne einen angemessenen Schutz vor der kam, nämlich von den Dreckschleudern, die in der DDR
Strahlung quasi ins Feuer geschickt wurden, ohne dass standen. Sie haben versucht, das zu einem globalen Pro-
sie die Strahlendosis, der sie ausgesetzt waren, gekannt blem hochzustilisieren. Das hing aber unmittelbar mit
hätten. Zum heutigen Tag gehört, deutlich zu sagen, dass der Tatsache zusammen, dass man in der DDR auf die
wir alle froh sein müssen, dass das linke Sowjetregime Umwelt keine Rücksicht genommen hat. – Da können (D)
(B) ein Ende hatte und dass auch die Wiedervereinigung da-
Sie jetzt den Kopf schütteln, aber das ist nun einmal so.
für Sorge getragen hat – da schütteln die Linken schon
den Kopf –, dass uns auf deutschem Boden Umwelt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
katastrophen solchen Umfangs erspart geblieben sind. derspruch bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Reaktoren, die es in Tschernobyl gab, wären
– das wissen Sie ganz genau – bei uns nicht genehmi-
gungsfähig gewesen. Das unterscheidet uns aber nicht
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nur von Sowjetrussland, sondern auch ganz deutlich von
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der der DDR. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefallen wird.
Kollegin Bulling-Schröter? Das verstehe ich auch; aber es ist nun einmal eine Tatsa-
che, die zu leugnen für Sie blamabel ist. – Da sieht man
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): wieder, wes Geistes Kind Sie nach wie vor sind.
Aber gern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Danke schön, Herr Nüßlein. – Ich möchte nicht in
Abrede stellen, dass in Tschernobyl viel zu viele Men- Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
schen gestorben sind. Aber ich möchte Sie fragen, ob frage des Kollegen Fell?
Ihnen bekannt ist, dass es bei uns eine Initiative „Atom-
opfer“ gibt. Die meisten Mitglieder der Initiative sind in- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
zwischen gestorben. In dieser Initiative haben sich Aber gern.
Atomopfer aus Ost und West zusammengeschlossen. Es
handelte sich dabei unter anderem um Leiharbeiter in (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Fragen Sie mal
den AKWs in Westdeutschland. Ist Ihnen bekannt, dass was zum Thema, Herr Fell!)
in Japan die meisten Liquidatoren, oder wie sie sich nen-
nen, Leiharbeiter sind? Das finde ich genauso schlimm. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie haben genauso wenig Schutz wie die anderen. Das Herr Kollege Nüßlein, Sie haben gerade das Bild ge-
ist ein systemübergreifendes Problem, dem wir uns wid- zeichnet, dass unter den konservativen Regierungen hier
men müssen; denn sozialistische Atomkraftwerke sind im Westen eine wesentlich bessere Umweltpolitik betrie-
nicht besser oder schlechter als kapitalistische – das ben worden wäre, ohne dass es ein Problem mit der Ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11833
Hans-Josef Fell
(A) sellschaft gegeben hätte. Nur im Osten hätte es Probleme Ich sage ganz selbstbewusst: So gradlinig, wie Sie es (C)
gegeben. gerne darstellen, meine lieben Kollegen von Rot-Grün,
ist Ihre Kernenergiepolitik nie gewesen. Wenn Sie 1986
Ist Ihnen bekannt, dass es nach der Katastrophe von tatsächlich die Lehren gezogen hätten, die Sie hier be-
Tschernobyl in Deutschland ein unglaubliches Unwissen schreiben, wären Sie spätestens, als Sie an die Regierung
und ein Informationsdesaster gab? Es gab unter anderem gekommen sind, sofort ausgestiegen. Das haben Sie
Beschwichtigungen und andere Dinge. Ich zitiere aus nicht getan. Sie hatten 2000 einen Hebel in der Hand,
einem Interview des damaligen Umweltministers haben aber den Betrieb der Atomkraftwerke für 20 wei-
Zimmermann von der CSU aus Bayern. Er sagte in die- tere Jahre in Kauf genommen, und zwar auf Basis einer
sem Interview im letzten Jahr: Sicherheitsbetrachtung, über die wir alle uns offenkun-
Nach Tschernobyl haben Kohl und Schäuble täglich dig einig waren. Das stimmt doch wohl. Sonst hätten Sie
bei mir angerufen und verlangt: herunterspielen, die es vermutlich nicht gemacht.
Leute sollen Gemüse essen. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist ja
Das Problem mit der Radioaktivität solle nicht so in der unerträglich!)
Öffentlichkeit dargestellt werden, wie es sei. Sie haben in dem sogenannten Ausstieg, in dem Kon-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sens, den Sie hier beschwören, ganz klar formuliert: Die
deutschen Kernkraftwerke laufen auf einem im interna-
tionalen Vergleich hohen Sicherheitsniveau. Sie sind so-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): gar noch einen Schritt weiter gegangen und haben ge-
Erstens glaube ich nicht, dass Sie, Herr Kollege Fell, sagt: Wir werden an diesem Sicherheitsstandard und an
für die Informationsdefizite, die es damals ursprünglich der zugrunde liegenden Sicherheitsphilosophie nichts
gab – sie waren in der Informationspolitik der Sowjet- ändern. Das war ein Versprechen an die Versorger.
union begründet –, jetzt einen CSU-Minister verantwort-
lich machen wollen. Das traue ich Ihnen nicht zu. (Ulrich Kelber [SPD]: Lüge!)
Zweitens bitte ich Sie – da Sie angeblich einer Um- – Sie schreien „Lüge“. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsich-
weltpartei angehören tig bei Dingen, die man schwarz auf weiß hat, die man
nachlesen kann und die in dieser Vereinbarung so deut-
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich stehen.
NEN]: Wieso angeblich?)
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott
und wir uns hier in einer demokratischen Vertretung des [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Nüßlein,
(B) deutschen Volkes befinden –, schon auch mit einem ge- es wird Ihnen nichts nützen! Die Leute wissen, (D)
wissen Stolz auf das zu schauen, was wir in West- dass Sie Blödsinn reden!)
deutschland und dann in Gesamtdeutschland geleistet
haben. Sie werden doch nicht in Abrede stellen wollen, – Hier geht es nicht darum, ob es mir nützt oder nicht.
dass das, was sich in den letzten Jahrzehnten hier um- Ich sehe das nicht parteipolitisch, nicht einfach schwarz-
weltpolitisch bewegt hat, um Klassen besser als das war, weiß, wie Sie das jetzt gern hätten. Sie werden sich noch
was irgendwo im Ostblock geschah. ganz schön wundern, wenn Sie sehen, in welchem Maße
wir bereit sind, die Energieversorgung dieses Landes
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- umzubauen.
NEN]: Ich habe Sie zu Herrn Zimmermann ge-
fragt!) Eine klare Lehre aus Tschernobyl muss heißen: Ra-
dioaktivität macht nicht an Grenzen halt. – Was mich am
Dazu leisten Sie, lieber Kollege, Ihren Beitrag als Abge- meisten umtreibt, bei aller Bereitschaft, hier im Lande
ordneter so wie ich. Wir sollten unser Licht nicht unter etwas zu ändern, ist die Tatsache, dass in den Ländern
den Scheffel stellen. um uns herum, wenn man einmal von Italien absieht,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wenig Bereitschaft vorhanden ist, andere Wege zu ge-
Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Er kocht gerade hen. Ich sage Ihnen auch ganz offen: Es trifft doch zu,
runter!) dass der Import von Kernkraftstrom aus Tschechien oder
Frankreich, wie er momentan stattfindet, maximal die
Lassen Sie mich nach diesem Nebenkriegsschauplatz, gefühlte Sicherheit, aber nicht die tatsächliche Sicherheit
den ich gar nicht in dieser umfassenden Form eröffnen erhöht.
wollte, auf das zu sprechen kommen, worauf es an-
kommt, nämlich: Wie geht es weiter? Was bedeutet Fu- Wir werden Konsequenzen technischer wie ökonomi-
kushima für uns? Wie bewerten wir das sogenannte scher Art ziehen. Wenn man das Moratorium ernst
Restrisiko neu? nimmt, kann man an dieser Stelle nicht vorgreifen. Aber
ich sage Ihnen: Es ist schwierig, den Ausstieg in Jahren
Ich bitte Sie: Hören Sie auf, von Wahlkampftaktik zu zu bemessen. Mir wäre wohler, wenn wir uns beim Aus-
sprechen! Diese Zeit ist vorbei. Sie müssen sich jetzt da- stieg in diesem Land an Vorgaben, an Umstellungen, an
mit auseinandersetzen, dass wir das Restrisiko neu be- Änderungen, an Strommengen orientieren würden. Es
werten und uns die Frage stellen, was passiert, wenn sich stellt sich nämlich die Frage: Was gelingt uns im Bereich
absolut unvorhersehbare Ereignisse duplizieren. Das der erneuerbaren Energien? Was gelingt uns beim Aus-
wird für unsere Politik natürlich Konsequenzen haben. bau von Stromnetzen?
11834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) Das ist mir deshalb wichtig, weil man da auch die Op- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
position in die Pflicht nehmen kann. Auch die Opposi- Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPD-
tion muss ihren Beitrag leisten, nicht nur bei Debatten Fraktion.
hier, sondern umfassend, wenn es wirklich um einen
(Beifall bei der SPD)
Konsens geht, wie ihn Herr Trittin heute angekündigt
hat.
Oliver Kaczmarek (SPD):
Was beispielsweise den Ausbau von Infrastruktur an- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
geht, werden wir meiner Auffassung nach über Themen möchte versuchen, auf das Ereignis zurückzukommen
wie die Abschaffung der Verbandsklage oder die Einfüh- und in der Debatte einen anderen Akzent zu setzen. Man
rung eines eigenen Klageweges reden müssen, um zu muss es wohl wirklich als tragischen Zufall bezeichnen,
einer Beschleunigung zu kommen. Wir werden die Op- dass die Reaktorkatastrophe von Fukushima beinahe
position immer wieder bitten müssen, sich nicht in Bür- zeitgleich auf den 25. Jahrestag des Unfalls in Tscherno-
gerinitiativen gegen Stromtrassen, Pumpspeicherkraft- byl fällt. Tatsächlich kann man Fukushima und Tscher-
werke oder Wasserkraftanlagen zu engagieren und das nobyl nicht gleichsetzen; das würde der Einzigartigkeit
auf allen politischen Ebenen auch durchzustehen. beider Ereignisse nicht gerecht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Allerdings gibt es auch heute viele – wie ich finde –
neten der FDP) nicht ganz unberechtigte Stimmen, die befürchten, dass
auch die Ereignisse in Japan bald zu einer Episode wer-
Wir müssen vom reinen Aufbau von Kapazitäten im den und dass es zu einer Verdrängung kommen kann,
Bereich der erneuerbaren Energien wegkommen hin wie dies nach Tschernobyl der Fall gewesen ist; ein Ver-
zum Aufbau einer Versorgung mit erneuerbaren Ener- drängungsprozess, der wirtschaftliche Interessen über
gien. Das ist nicht einfach. Wir brauchen intelligente Sicherheitsinteressen und einen gesellschaftlichen Kon-
Modelle zur Netzintegration. Das wird das Kernthema sens stellt. Ich denke, wir sollten auch in dieser Debatte
des EEG sein. Wir brauchen echte Innovationsförderung zum Ausdruck bringen, dass wir diesen Verdrängungs-
statt der Besitzstandwahrung, die wir an dieser Stelle er- prozess in unserem Land nicht geschehen lassen wollen.
leben. Statt der Förderung chinesischer PV-Module (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
brauchen wir etwas, was die Innovationen hier in diesem der LINKEN)
Land voranbringt. Ich halte das EEG für ein geeignetes
Instrument, um das zu tun, wenn man das eine oder an- Die Opfer der Katastrophe von Tschernobyl können
dere anders akzentuiert. Dazu sind wir bereit. es sich nicht erlauben, zu vergessen. Für sie ist Tscher-
(B) nobyl nicht die Erinnerung an ein Ereignis vor (D)
Das wird auch bedeuten, dass wir die eine oder andere 25 Jahren. Sie leben bis heute mit Tschernobyl und allen
konventionelle Ersatzkapazität brauchen. Dies geht in Folgen, wahrscheinlich noch über viele Generationen hi-
die Richtung effizienter Gaskraftwerke. Das muss uns naus. Deswegen darf es allein aus Respekt vor den Op-
klar sein. Es geht darum, Industriestrom zu produzieren, fern und denen, die sich dort engagieren, kein Vergessen
den sich die Industrie noch leisten kann. Wir werden in und Verdrängen geben, weder von Tschernobyl noch von
diesem Zusammenhang auch eine Entlastungsdebatte Fukushima in der Zukunft.
führen und die Frage beantworten müssen, wie wir ener-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gieintensive Betriebe, die physikalisch kein Potenzial
der LINKEN)
zur Effizienzsteigerung haben, entlasten. Das bedeutet in
der Konsequenz zusätzliche Belastungen von Verbrau- Tschernobyl ist auch der Ausgangspunkt einer bis
cherinnen und Verbrauchern. Das Ganze gibt es nicht heute einzigartigen Solidaritätsbewegung in Europa. In
zum Nulltarif; das muss uns klar sein. zahlreichen Ländern wurden nach der Katastrophe Ver-
eine und Verbände gegründet, die mit ihrer Arbeit bei-
Am meisten beschäftigt mich Ihre Behauptung – die spielhaft für bürgerschaftliches Engagement stehen.
ist populär –, dass wir die Laufzeitverlängerung verein- Ohne deren Engagement wären die Opfer der Katastro-
bart hätten, um die Gewinne der Versorger zu sichern. phe schlicht alleingelassen worden.
Wir haben das gemacht, weil wir einen Weg gesucht ha-
ben, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Es waren und sind die Nichtregierungsorganisationen,
Energieforschung zu finanzieren. Dieser Weg bricht jetzt die der Bevölkerung die meiste Hilfe zur Minderung der
weg. Da muss uns etwas einfallen. Das wird – auch das Katastrophenfolgen gewährten. Es wurden und werden
gehört zur politischen Wahrheit – teuer für die Stromver- heute noch zahlreiche Hilfstransporte organisiert. Kran-
braucher. kenhäuser wurden in großer Anzahl umgebaut und neu
ausgestattet. Ärztefortbildungen vor Ort haben den All-
(René Röspel [SPD]: Teuer, weil die Regie- tag in Krankenhäusern verändert, und aufgrund der bes-
rung falsch gehandelt hat!) seren medizinischen Versorgung konnten Leben gerettet
werden. Vor allem hat mithilfe dieser Organisationen
Das müssen wir uns alle merken. mittlerweile über 1 Million Kinder aus Osteuropa im
Ausland Erholungsaufenthalte gehabt.
In diesem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören.
Einige Vertreter dieser Organisationen haben heute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf der Tribüne Platz genommen. Diese Arbeit der Ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11835
Oliver Kaczmarek
(A) eine und Verbände, hinter denen unbezahlbares ehren- nen ehrenamtlichen Initiativen in Deutschland in Dialog (C)
amtliches Engagement steht, verdient deshalb höchste zu treten. Von diesen ist der Gedanke eines europäischen
Anerkennung. Das wollen wir auch durch diese Debatte Jugendwerkes entwickelt worden. Dieser Idee sollten
und durch unsere Anträge zum Ausdruck bringen. wir nachgehen und sie prüfen. Wenn wir nämlich weiter-
hin für die Ermöglichung dieses Austausches sorgen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten senden wir auch das nicht zu vernachlässigende Signal
der CDU/CSU und der LINKEN) an die junge Generation in Belarus und der Ukraine: Ihr
Doch 25 Jahre nach der Katastrophe sehen sich die seid willkommen in Europa. Ihr seid Teil von Europa. –
Tschernobyl-Initiativen mit wachsenden Problemen kon- Das ist eine wichtige Botschaft für die dort Lebenden.
frontiert: Mangelnder Nachwuchs und ein allgemein ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ringeres Spendenaufkommen sind nur die eine Seite. der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
Noch schwerwiegender sind für sie die Schwierigkeiten, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mit denen sie bei ihrer Arbeit durch die belarussische
Regierung konfrontiert werden. Sie behindert die zivil- Drittens. Die Staatsführung in Belarus muss die Ar-
gesellschaftlichen Organisationen oft durch die Errich- beit der zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstüt-
tung massiver bürokratischer Hürden. Deshalb mahnt zen; sie darf sie zumindest nicht weiter erschweren. Es
Tschernobyl tatsächlich und ganz konkret: Es mahnt uns, ist Aufgabe der Regierung und auch des Parlaments
unsere Verantwortung hier bei uns unter der großen – das erwarten wir –, Druck auf die belarussische Regie-
Überschrift der „europäischen Verantwortung für rung auszuüben, damit die Arbeit der zivilgesellschaftli-
Tschernobyl“ wahrzunehmen. chen Organisationen unterstützt wird, beispielsweise
durch eine transparente und unbürokratische Vergabe
Wir wollen die Menschen vor Ort nicht alleine lassen. von Visa.
Wir wollen an Tschernobyl erinnern und am Aufbau ei-
ner aktiven Erinnerungskultur mitwirken, gerade jetzt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wo es einen Generationswechsel in den Hilfsorganisatio- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nen gibt. Wir wollen diejenigen nach Kräften unterstüt-
zen, die es sich nicht nehmen lassen wollen, trotz diver- Viertens. Erinnerung und Zukunft brauchen Orte in
ser Schwierigkeiten weiter zu helfen, die sich nicht Belarus und in der Ukraine. Tschernobyl ist nicht in ers-
unterkriegen lassen. Wir als Bundestag können nämlich ter Linie eine Technikkatastrophe, sondern Tschernobyl
mehr tun, als nur Danke sagen. Wir können konkrete ist vor allem eine menschliche Katastrophe. Es ist die
Unterstützung leisten. Ich will vier Elemente nennen, Aufgabe, dauerhaft an diese Dimension zu erinnern so-
über die wir schon mit den Initiativen ins Gespräch ge- wie die Perspektive einer von Atomkraft unabhängigen
(B)
kommen sind und die diesen auch besonders wichtig Energieversorgung zu eröffnen. Wenn wir das schaffen, (D)
sind. können wir auch eine dauerhafte Perspektive zum Leben
mit Tschernobyl in den betroffenen Regionen ermögli-
Erstens. Das Förderprogramm Belarus, das im Haus- chen.
halt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung etatisiert ist, muss auch nach Meine Damen und Herren, wir können das natürlich
dem Auslaufen der fünften Förderphase über das Ende heute hier nur anreißen und andiskutieren. Mir sind auch
dieses Jahres hinaus verlängert werden. die innenpolitischen Umstände dieser Debatte völlig
bewusst. Ich weiß, dass zahlreiche Kolleginnen und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen aus allen Fraktionen in Tschernobyl-Initiati-
der CDU/CSU und der FDP) ven, -Vereinen und -Verbänden mitarbeiten bzw. Mit-
glied sind. Deswegen lautet mein Appell, diese Arbeit
Mit diesem Programm fördert das Ministerium 42 zivil- politisch zu unterstützen. Es wäre schön, wenn wir es ge-
gesellschaftliche Projekte, die jeweils von deutschen und meinsam schaffen, in den von mir genannten Punkten,
belarussischen Nichtregierungsorganisationen durchge- die auch die Initiativen betreffen, zu Lösungen zu kom-
führt werden. Das Programm ist zudem ein zentrales men. Das könnte eine echte Unterstützung für die Men-
Element, um den Aufbau der belarussischen Zivilgesell- schen darstellen, die auch in Zukunft noch über viele
schaft zu unterstützen. Gerade nach der Verunsicherung Generationen mit Tschernobyl leben müssen.
der Zivilgesellschaft infolge der Präsidentschaftswahlen
in Belarus – ich erspare mir, darauf im Detail einzugehen – Vielen Dank.
ist es umso wichtiger, dass wir die Aktivitäten weiter un-
terstützen und deutlich machen: Wir geben Belarus nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
auf. der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marie-
Luise Dött [CDU/CSU] und der Abg. Claudia
Bögel [FDP]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDP-
Zweitens. Wir müssen Wege finden, den Austausch Fraktion.
mit Kindern und Jugendlichen, die heute immer noch in
radioaktiv belasteten Regionen leben, dauerhaft zu si- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
chern. Dabei ist es durchaus sinnvoll, mit den vorhande- der CDU/CSU)
11836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

(A) Angelika Brunkhorst (FDP): In Kiew haben wir mit dem Energieminister gespro- (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 25 Jahre chen. Wenn Herr Fell und auch Frau Bulling-Schröter an
nach dem verheerenden Unglück von Tschernobyl ist es solchen Gesprächen teilnehmen, dann werden natürlich
notwendig und richtig, dass wir uns immer wieder daran die erneuerbaren Energien angepriesen, und es wird an-
erinnern und dass wir nachdenklich bleiben. geboten, entsprechende Anlagen zu liefern. Aber der
Energieminister hat uns doch eine deutliche Abfuhr er-
Ich habe in den drei Anträgen der Opposition unter teilt, indem er darauf hingewiesen hat, dass man ange-
anderem die Forderungen gefunden, dass wir unsere Un- sichts der Probleme bei den Gaslieferungen weiterhin
terstützung der zivilen Gruppen aufrechterhalten sollen auf die Kernenergie setzen will.
und dass wir uns weiterhin um die von der Katastrophe
betroffenen Menschen kümmern sollen. Dies findet un- Ich will in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen
sere Unterstützung. Die humanitäre Hilfe und die Zu- nennen; denn in den Anträgen klingt immer durch, wir
sammenarbeit müssen weitergeführt werden. könnten anderen Länder vorschreiben, mit der Kernener-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gie aufzuhören.
der CDU/CSU) (René Röspel [SPD]: Das steht in keinem
Trotz der vielen guten Ansätze, die in diesen Anträ- Antrag!)
gen zu finden sind, haben mich die ewig gleichen Fest- – Man kann es jedenfalls so interpretieren.
stellungen zur Kernkraft doch ein wenig ermüdet. In
letzter Konsequenz hätten die Anträge der Grünen und (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Es geht nicht um „vor-
der Linken die Überschrift haben können „Kraftwerke in schreiben“, sondern um gutes Beispiel!)
Deutschland abschalten“. Das hat mich ein bisschen ge-
nervt. Wir müssen folgende Tatsachen ins Auge fassen: In
der Ukraine gibt es vier Standorte mit insgesamt
Ich war 2006 ebenso wie Frau Bulling-Schröter, Herr 15 Blöcken. Acht Reaktorblöcke sind seit 1986 in Be-
Müller und Herr Fell in Tschernobyl; Herr Müller gehört trieb gegangen; zwei befinden sich derzeit im Bau.
heute dem Parlament nicht mehr an. Wir haben dort sehr 20 weitere Reaktorblöcke sind noch in der Planung. Das
interessante Gespräche geführt. Ich habe eine vielleicht muss man sich einmal vorstellen. Ich glaube nicht – Herr
etwas andere Erinnerung daran als Frau Bulling-Schröter Fell, vielleicht haben Sie andere Informationen –, dass
oder Herr Fell. bezüglich der erneuerbaren Energien eine aufgeschlosse-
An eine Sache kann ich mich besonders gut erinnern. nere Haltung zu erkennen ist.
Wir hatten ein gemeinsames Arbeitsessen mit einem In- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) genieur, der ehemals in Tschernobyl gearbeitet hatte und NEN]: Ein bisschen!) (D)
der dort in den ersten Tagen nach der Katastrophe tätig
war. Er selbst, ein Mann wie ein Schrank, war robust. – Das ist wenigstens etwas. Dann können wir ja „ein
Aber viele seiner Freunde sind an den Folgen des Un- bisschen“ beruhigter sein.
glücks gestorben. Wir haben uns über die damaligen
Vorkommnisse unterhalten. Er hat uns erklärt, dass ein Aber was ich noch sagen wollte, ist Folgendes: Auch
RBMK-Reaktor auf einer anderen Technik beruht als die Deutschland hat natürlich einiges getan. Wir haben sehr
anderen europäischen Reaktoren. In Tschernobyl wurde viel Geld in die Hand genommen. Es gibt ein internatio-
Grafit als Moderator benutzt, was hochgradig brennbar nales Forum, bestehend aus 24 Geberländern, das viel
ist. Die anderen europäischen Reaktoren arbeiten mit Geld bereitgestellt hat. Darunter sind auch sechs kleinere
Wasser als Moderator. Das kann zum Glück nicht bren- Geberländer. Japan hat zugesagt, seine Gelder trotz der
nen. Wir haben es also mit ganz unterschiedlichen Reak- Katastrophe weiterhin zur Verfügung zu stellen.
torfamilien zu tun. Wir haben versucht, die Mittel für die Stabilisierung
Dieser Ingenieur hat uns damals weiterhin erzählt: des zerstörten Reaktorgebäudes bereitzustellen. Es hat
Wir haben ein Experiment durchgeführt – es war also lange gedauert. Das Design war lange Zeit nicht be-
kein Test, sondern ein Experiment –, das wir nie hätten kannt. Wir erhalten auch wenig Informationen über den
wagen dürfen. Wir haben nämlich die Notkühlung aus- Fortgang des Bauvorhabens.
geschaltet und am Ende vergessen, diese wieder zu akti-
Ich nenne einmal ein paar Zahlen zu den Folgen eines
vieren. – Es hat sich also um einen menschlichen Fehler
solchen Unglücks, wobei ich hervorheben möchte, dass
gehandelt. Das sagt sehr viel aus über die unterschiedli-
die internationale Gemeinschaft den Betroffenen wirk-
che Sicherheitskultur.
lich beisteht: Bei den Kosten für einen Sarkophag, also
Natürlich wurden aus dem Reaktorunfall von Tscher- eine Hülle um den zerstörten Reaktor, ist man zunächst
nobyl Lehren gezogen, was dazu geführt hat, dass die Si- von 715 Millionen Euro ausgegangen. Mittlerweile geht
cherheitstechnik in den osteuropäischen Ländern im Be- die Kostenannahme sogar so weit, dass man wahrschein-
reich des Machbaren wesentlich verbessert worden ist. lich 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro wird aufwenden müssen.
Deutschland hat zu Beginn der 90er-Jahre mit dem Die Geberländer haben gesagt: Das wird schwer werden,
Transfer von Know-how sehr geholfen. Auch bei uns aber wir werden dieses Geld irgendwie auftreiben. Es ist
wurden aufgrund des Reaktorunfalls die Sicherheitsan- uns wichtig, dass dieses zerstörte Reaktorgebäude einen
forderungen für Reaktoren verschärft und die techni- ökologisch sicheren Abschluss bekommt und dass von
schen Sicherheitskonzepte verbessert. dort keine weitere Gefahr mehr ausgehen kann.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11837
Angelika Brunkhorst
(A) Ich weiß, dass die beschädigte Wand mittlerweile sta- Landverwüstung, Opferzahlen und andere katastro- (C)
bilisiert worden ist, dass diese Maßnahme vollendet ist. phale Auswirkungen auf die Umwelt haben eigentlich
Ich weiß auch, dass die Fundamente für die Kräne in An- längst das Ausmaß eines permanenten Kriegsschauplat-
griff genommen worden sind, die benötigt werden, um zes, der mit jedem Unfall größer wird. Mehr noch: Die
die Hallenbögen schaffen zu können, und dass man – op- Folgen der radioaktiven Dauerbelastung reichen weit in
timistisch gerechnet – im Jahre 2014 die Hülle über den kommende Jahrhunderte hinein. Ich erinnere nur an die
zerstörten Sarkophag wird schieben können. ungelöste Frage der Atommüllverwahrung. Von daher
finde ich den Satz sehr richtig und wichtig, den der ehe-
Warum erzähle ich das hier? Ich möchte darauf hin- malige Vizepräsident des Internationalen Gerichtshofs in
weisen, dass solche extremen Ereignisse, wie wir sie Den Haag nach den Ereignissen in Fukushima in einem
jetzt auch in Japan erlebt haben, die Hilfe der internatio- offenen Brief an die Umweltminister aller Staaten for-
nalen Gemeinschaft erfordern. Ich habe ein wenig be- mulierte. Er schrieb:
trübt feststellt – das haben viele andere auch getan –,
dass die Japaner sich zunächst nicht haben helfen lassen. Deshalb sind wir die zerstörerischste Generation
Ich hoffe, dass wir da jetzt ins Gespräch kommen und der Menschheitsgeschichte.
auch etwas tun können. Dazu rufe ich Sie alle – auch in Die Opfer von Katastrophen sind immer auch diejeni-
Anbetracht der Erinnerung an Tschernobyl – auf. gen, die nach dem Ereignis noch mit den Kosten behel-
Ich danke für die Aufmerksamkeit. ligt werden und diese selber tragen müssen. Atomkraft-
werke – das ist bereits angesprochen worden – sind nicht
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) versicherbar. Die immensen Kosten zahlt hinterher die
Bevölkerung, von der oftmals ein großer Anteil zugleich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die Geschädigten sind. Allein in Deutschland wurden als
Ausgleich für die durch Tschernobyl verursachten wirt-
Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion schaftlichen Schäden bis Juni 2010 rund 240 Millionen
Die Linke. Euro Entschädigungsleistungen aus Steuermitteln ge-
(Beifall bei der LINKEN) zahlt. So viel zu der Frage, ob Atomkraft billig ist. Den
Menschen, die von dem Unglück betroffen waren, wur-
den zunächst großmundige Versprechungen gemacht;
Dorothee Menzner (DIE LINKE): letztendlich aber stehen sie alleine da und müssen mit
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! den Folgen klarkommen.
Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben gehört,
Die Entscheidung für Hochrisikotechnologien wie die
(B) welche Folgen die Katastrophe in Tschernobyl 1986 Atomkraft ist nicht mit arroganten und nach Profit stre- (D)
hatte: 400 000 Menschen mussten umgesiedelt werden.
benden Konzernen zu treffen. Eine solche Frage muss
Rund 850 000 Menschen, sogenannte Liquidatoren, wa-
vielmehr in der Gesellschaft diskutiert und demokratisch
ren mit der Beseitigung der konkreten Folgen beschäf-
entschieden werden.
tigt. 280 000 Menschen müssen bis heute in den am
stärksten verstrahlten Gebieten leben. Man geht von (Beifall bei der LINKEN)
rund 100 000 Todesfällen aus, die mittelbar oder unmit-
telbar mit der Katastrophe zu tun haben. Die Folgekos- Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland hat dazu
ten werden auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar eine sehr klare Meinung. Jedes Zögern – sei es durch die
geschätzt. Industrie oder durch uns selbst verursacht –, das Atom-
kraftwerke unnötig weiter am Netz lässt, ist dazu geeig-
Aber Tschernobyl war nicht der einzige große Unfall; net, die Risiken zu mehren. Das ist ein Bruch mit dem
es gibt vielmehr eine ganze Latte. Ich möchte nur wenige Postulat des Grundgesetzes, dass der Wille der Mehrheit
aufzählen. Three Mile Island 1979: 200 000 Menschen der Bevölkerung umzusetzen ist und dass diese Umset-
mussten evakuiert werden. Als in Majak im September zung unsere Aufgabe ist.
1957 ein Tank mit radioaktiven Abfällen explodierte,
Die Respektlosigkeit, mit der zunächst gesagt wurde,
starben 1 000 Menschen; 10 000 wurden verstrahlt. Im
das mit dem Moratorium sei doch nur zur Beruhigung
selben Jahr, einen Monat später, kam es zu einem Unfall
gewesen, während hinterher gesagt wurde, es sei ein
in Sellafield, Großbritannien, der auch diverse Todesop-
Protokollfehler gewesen, empfinde ich – und ich glaube,
fer zur Folge hatte. Es gibt noch weitere Unfälle.
nicht nur ich – als eine Verhöhnung der Opfer von
Alle diese Unfälle und Störfälle haben eines gemein- Tschernobyl und Fukushima.
sam: Unter gravierenden Sicherheitsmängeln, oftmals (Beifall bei der LINKEN)
verursacht durch Schlamperei, Kosteneinsparungsdruck,
Profitsucht einzelner Manager in irgendwelchen Vor- Wir müssen in dieser Gesellschaft anders diskutieren.
standsetagen, müssen Tausende und Hunderttausende Wir müssen in der Breite diskutieren; viele Menschen
von Menschen leiden. Sie leiden nicht nur im Moment fordern das berechtigterweise ein. Die Menschen tun sel-
des Unglücks, sondern auch Jahre und Jahrzehnte später, ber etwas, indem sie zum Beispiel den Stromanbieter
oft über viele Generationen. Ihnen wird ihre Heimat, ihre wechseln. Sie machen Druck, sei es, indem sie woanders
Existenzgrundlage genommen. Agrarland kann nicht Kunden werden, oder, indem sie auf die Straße gehen.
mehr bewirtschaftet werden. All diese Folgen sehen wir Denn sie wissen: Erst wenn das letzte Atomkraftwerk
in Tschernobyl, und sie drohen in Japan jetzt auch. vom Netz genommen und in seine Einzelteile zerlegt
11838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dorothee Menzner
(A) wurde, wenn die Verwahrung des Atommülls zumindest erst recht keine Entschuldigung oder ein Dankeschön an (C)
ansatzweise sicher geregelt ist, erst dann sind Restrisi- den bundesdeutschen Steuerzahler. Das hindert die
ken minimiert. Erst dann werden wir den Opfern in Linke nicht, in ihrem Antrag die unverzügliche Stillle-
Tschernobyl, Fukushima und in all den anderen Orten gung aller Atomkraftwerke in Deutschland zu fordern.
gerecht und haben ihre Botschaft verstanden.
(Zuruf von der LINKEN: Das ist auch
(Beifall bei der LINKEN) sinnvoll!)
Dies gilt nicht nur für uns, sondern auch für die Genera- Wer wird sich, wenn es um die Weltrettung geht, schon
tionen, die uns folgen. mit der eigenen Vergangenheit aufhalten?
Ich danke Ihnen. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!)
(Beifall bei der LINKEN) Ganz so nassforsch ist der Antrag der Bündnisgrünen
nicht. Aber immerhin fordern sie, „auf nationaler Ebene
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den gesetzlichen und finanziellen Rahmen dafür zu
Das Wort hat nun Manfred Grund für die CDU/CSU- schaffen, die Atomkraftnutzung bis spätestens 2017 zu
Fraktion. beenden“. Die geltende Gesetzeslage sieht wie folgt aus,
festgehalten im Energiekonzept der Bundesregierung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vom Herbst letzten Jahres:
Beim Energiemix der Zukunft sollen die erneuerba-
Manfred Grund (CDU/CSU):
ren Energien den Hauptanteil übernehmen. Auf die-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war
sem Weg werden … die konventionellen Energie-
es wohl mit der Menschheitsbeglückung durch billigen
träger … durch erneuerbare Energien ersetzt.
Atomstrom. Erinnern wir uns: Zwischen 1969 und 1982
wurde in der alten Bundesrepublik Deutschland mit dem Auf dem Weg dorthin stellt die Kernenergie eine zeitli-
Bau von 19 Kernkraftwerken begonnen. 18 weitere wa- che und eine finanzielle Brücke dar. Nach Fukushima
ren in Planung. Regierungspartei war die SPD. trägt diese Brücke nicht mehr.
Auch die DDR hatte ihre Atomkraftwerke. Im Ju- Die Energieumstellung muss wesentlich schneller ge-
gendweihehandbuch Weltall Erde Mensch wurde den hen und wird wesentlich mehr kosten. Beides hat Konse-
staunenden Kindern erklärt, dass mit einer Uranmenge quenzen für die Verbraucher in der Industrie und in den
in der Größe einer Eisenbahnfahrkarte der Energiebedarf Haushalten, aber auch für die Politik. Einige Hausnum-
einer ganzen Stadt gedeckt werden könne. mern zu den Kosten: Wenn sich die „grüne“ Kraftwerks-
(B) leistung bis 2040 auf 120 Gigawatt verdreifachen soll, (D)
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war aber
sind dafür durch die Stromkunden 100 Milliarden Euro
kein DDR-Spezifikum!)
zusätzlich aufzubringen. Mit ebenfalls dreistelligen Mil-
In der Zeitung Fröhlich sein und singen gab es das Ato- liardenbeträgen wird der Umbau des Hochspannungsnet-
mino, um den Kindern die strahlende Zukunft zu erklä- zes zu Buche schlagen. Zurzeit beträgt die Durchschnitts-
ren. entfernung zwischen Kraftwerk und Großverbraucher
40 Kilometer. In Zukunft werden es 400 Kilometer und
Der Atomtraum war zuerst in der ausgehenden DDR
mehr sein. Nach einer Studie der dena werden insgesamt
ausgeträumt; die Anlagen wurden geschlossen und de-
knapp 4 000 Kilometer Hochspannungsleitungen neu zu
montiert. Die Transporte aus diesen Anlagen sorgen bis
bauen sein. Ähnliches gilt für Anlagen zur Energiespei-
heute für Ärger. Was Tschernobyl für die Ukraine und
cherung, zum Beispiel Pumpspeicherkraftwerke. Auch
Weißrussland brachte, das wäre als Ergebnis des Uran-
diese müssen neu gebaut werden.
bergbaus durch die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesell-
schaft Wismut über Ostthüringen und Westsachsen Die Internationale Energieagentur rechnet für die
gekommen: verseuchte und verstrahlte Tagebauland- Europäische Union für notwendige Investitionen in
schaften, eine verwüstete Umwelt, unbewohnbare Städte Kraftwerke und Netze bis 2020 mit Kosten von bis zu
und Dörfer. Die Beseitigung der Wismut-Altlasten hat 1 Billion Euro. Doch ist es mit Geld allein nicht getan. Es
bereits mehr als 7 Milliarden Euro gekostet, und sie kos- muss auch tatsächlich gebaut und investiert werden. Wer
tet immer noch viel Geld. schnell aus der Nutzung der Atomkraft heraus will und
ebenso die Kohleverstromung beenden will, der muss ge-
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
nauso schnell für beschleunigte Planungsverfahren sor-
Das ist aber gut angelegtes Geld. Aus der ehemaligen gen. Die beschleunigte Energieumstellung ist bei den jet-
Wismut-Region sind so blühende Landschaften entstan- zigen Zeiträumen für Planungsverfahren von 20 Jahren
den, ausweislich der Bundesgartenschau in Gera und und mehr nicht zu machen.
Ronneburg.
Die Bundesregierung bemüht sich auch in dieser Frage
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. um einen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Ich
Dr. Peter Röhlinger [FDP]) hoffe, dass sich die Bundestagsfraktionen der Grünen und
der Linken bei einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz
Der vereinten Linken, hervorgegangen aus der Regie-
nicht vom Acker machen oder in die grünen Büsche
rungspartei der DDR, fällt dazu nichts ein,
schlagen oder, wie in Thüringen, Demonstrationen gegen
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!) den Neubau von Hochspannungsleitungen anführen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11839
Manfred Grund
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und der FDP nicht angeführt werden. Das eine Argu- (C)
neten der FDP – Marie-Luise Dött [CDU/ ment, das immer wieder genannt wird, ist, dass die Not-
CSU]: Genau so ist es! Das sind genau diesel- wendigkeit des Atomausstieges in Deutschland durch
ben! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: den Bestand von Atomkraftwerken im Ausland relati-
Erdverkabelung!) viert wird. Ich hatte sehr gehofft, dass dieses Argument
nicht vorgebracht wird. Wir hatten gestern die Gelegen-
Das Pumpspeicherwerk Goldisthal in Thüringen kann
bei Volllastbetrieb acht Stunden lang Strom liefern, was heit, mit Zeitzeugen über dieses Thema zu sprechen. Ge-
bedeutet, dass man allein zur Vollversorgung des Bun- rade von Zeitzeugen aus Tschernobyl, von Menschen,
deslandes Thüringen drei Pumpspeicherwerke in dieser die die Katastrophe erlebt haben, wird von Deutschland
Größenordnung bräuchte. Selbst das Pumpspeicherwerk gefordert und erwartet, dass wir mit gutem Beispiel
Goldisthal ist nur über eine Stichleitung angeschlossen. vorangehen, dass wir die progressive Politik der vergan-
Ich sage das nicht, um zu problematisieren, sondern, um genen Jahre – das wurde wörtlich so gesagt, und damit
auf die Konsequenzen und die Handlungsnotwendigkeit ist nicht der Oktober 2010 gemeint –, dass wir das Um-
hinzuweisen. Ich möchte, dass am Ende des beschleu- steuern in Richtung Energiewende und den Ausstieg aus
nigten Energieumbaus Energie für den Privatkunden be- der Kernenergie vorantreiben und damit anderen Län-
zahlbar und verfügbar ist und dass energieintensive Ar- dern ein Beispiel geben und helfen.
beitsplätze, wie im Zementwerk in Deuna in meinem
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Wahlkreis, auch nach diesem Energieumbau noch in
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland vorhanden sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zweite Argument, das leider genannt wurde – es
war fast zu erwarten –, ist, dass man vieles nach Tscher-
Vermutlich muss auch bei anderen Strukturen weiter- nobyl noch nicht so genau wissen konnte, man habe erst
gedacht werden. Wir brauchen ein Energie- und Roh- die neue Katastrophe in Fukushima gebraucht, um dazu-
stoffministerium; denn die jetzige Kompetenzzersplitte- zulernen. Auch hier darf ich eine Zeitzeugin aus dem
rung führt zu strukturellen Reibungsverlusten. gestrigen Gespräch zitieren, die wörtlich gesagt hat:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – „Tschernobyl hat die Einstellung der Menschheit zur
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kernenergie grundlegend verändert.“ Ich denke, mehr
Das muss raus bei Brüderle! Da haben Sie muss man zu diesen Argumenten eigentlich nicht mehr
recht! Das muss zu Röttgen!) sagen.
Wir als Staat müssen uns überlegen, ob der Staat nicht Aber ich möchte noch einmal deutlich machen, dass
(B) besser wieder als Gestalter im Energiesektor tätig wird. man nach Tschernobyl eigentlich sehr genau wissen (D)
Das heißt, der Staat würde Netze zurückkaufen oder in konnte, auf welche Risiken wir uns als Menschheit ein-
eigener Regie neu bauen. Das heißt auch, dass die Rest- gelassen haben. Es gab – das ist schon angesprochen
laufzeiten der Kernkraftwerke noch stärker als bisher worden – etwa 100 000 Tote. Das sind geschätzte Zah-
kontrolliert würden und dass diese Anlagen nach dem len, weil man es leider nicht genau weiß. Mehrere Mil-
Ende ihrer Laufzeiten in staatlicher Regie zurückgebaut lionen Menschen haben damals in verstrahlten Gebieten
würden. gelebt und leben dort teilweise noch heute. Knapp
(René Röspel [SPD]: Sozialismusrufe hört die 2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche sind
FDP nicht! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke ausgefallen. Die Konsequenzen kann man auch sehen,
[FDP]: Ich höre die schon!) wenn man eine Greenpeace-Studie der letzten Tage liest.
Dort steht, dass Pilze aus dem Gebiet Schitomir in der
Nach Fukushima kann man Kernkraftwerksbetreibern Ukraine den ukrainischen Grenzwert für Cäsium um das
weltweit so weit trauen wie der Frosch dem Storch, näm- 115-Fache überschreiten. Was das für die Ernährung der
lich gar nicht. Menschen bedeutet, kann man erahnen.
(Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Wir hatten gestern in dem Gespräch die Gelegenheit,
DIE GRÜNEN]) mit einer Ärztin zu reden, die uns eindringlich vor Au-
Vielen Dank. gen geführt hat, wie viele Schilddrüsenkrebserkrankun-
gen es in diesen Gebieten Weißrusslands und der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ukraine gegeben hat und welche katastrophalen Auswir-
neten der FDP und der LINKEN) kungen und Folgen, selbstverständlich auch Todesfälle,
das in jedem einzelnen Fall, persönlich für jeden Betrof-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fenen, hat.
Das Wort hat nun Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.
Das alles konnte man wissen. Das alles musste man
(Beifall bei der SPD) wissen. Man musste wissen, dass 600 000 bis 800 000 Li-
quidatoren ihr Leben eingesetzt haben – viele von ihnen
Dr. Bärbel Kofler (SPD): haben ihr Leben verloren –, um die katastrophalen Aus-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wirkungen des Reaktorunglücks in Tschernobyl zu be-
Ich hatte gehofft, dass in dieser Debatte zwei bestimmte kämpfen, so gut es mit den damaligen Möglichkeiten
Argumente von Kolleginnen und Kollegen der Union ging.
11840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Bärbel Kofler


(A) Man konnte und musste wissen, dass 420 000 Men- Wir haben ein CO2-Gebäudesanierungsprogramm (C)
schen ihre Heimat, ihre Freunde, ihre Familie – alles, aufgelegt; die Mittel sind um 60 Prozent gekürzt wor-
was ihr bisheriges persönliches Leben ausgemacht hat – den. Es gibt auch ein entsprechendes Programm im Hin-
verloren haben. Man konnte und musste auch die volks- blick auf die Gebäudeeffizienz in der Ukraine. Der Be-
wirtschaftlichen Folgen kennen, nicht nur für die darf wäre riesig. Die Möglichkeiten der Umsetzung sind
Ukraine, sondern auch für die Weltgemeinschaft. Wenn sehr groß. Aber wir tun zu wenig, um in diesem Bereich
hier immer so getan wird, als sei Atomenergie sehr bil- mit gutem Beispiel voranzugehen und dort, wo es mög-
lig, muss ich sagen: Die volkswirtschaftlichen Kosten lich wäre, zu helfen, einen Energieumstieg, einen Um-
der Atomenergie kann man an dem Unfall, dem Un- stieg hin zu mehr Energieeffizienz und erneuerbaren
glück, der Katastrophe von Tschernobyl ablesen. Allein Energien, zu befördern. Dies ist unsere Aufgabe.
für Weißrussland wurden die Kosten auf 235 Milliarden
US-Dollar beziffert. Diese Zahlen kannte man. Diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Zahlen kennt man. DIE GRÜNEN)

Ich glaube, es kommt darauf an – es wäre darauf be- Im Hinblick auf internationale Verantwortung muss
reits direkt nach den Ereignissen in Tschernobyl ange- ich sagen: Es muss auch Schluss sein mit Hermesbürg-
kommen –, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Was schaften für die Nutzung von Atomenergie und Nuklear-
den im Jahre 2000 beschlossenen Atomausstieg angeht, energie in anderen Ländern.
wird häufig so getan, als sei das zu wenig gewesen. Wir
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
haben damals die unbefristete Laufzeit von Atomkraft-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
werken befristet und damit den Einstieg in das Ende des
Atomzeitalters beschlossen. Das war eine herausragende Es kann doch nicht allen Ernstes unser Anliegen als
Leistung. Deutsche sein – wenigstens dies könnte man aus den Er-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eignissen in Fukushima lernen –, durch Bürgschaften
DIE GRÜNEN) den Bau von Atomkraftwerken in erdbebengefährdeten
Gebieten dieser Erde zu unterstützen.
Es ist egal, ob eine Atomkatastrophe durch eine Na-
turkatastrophe, durch technisches oder menschliches (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Versagen oder durch ein systemisches Versagen in einem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Land ausgelöst werden kann. Man wusste, welche Fol- Wenn es um die richtigen Lehren aus den Ereignissen
gen die Atomenergie haben kann. Der Ausstieg aus der in Tschernobyl und Fukushima geht, dann ist ein zentra-
Atomenergie, aus dieser nicht beherrschbaren Technolo- ler Punkt, die Energiewende im eigenen Lande voranzu- (D)
(B) gie, ist damals die einzig richtige Antwort gewesen, und
bringen. Wir müssen raus aus der Atomenergie. Wir
sie ist es auch heute. müssen zeigen, was man hier tun kann. Wir müssen den
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Energieumstieg in anderen Ländern unterstützen. Wir
DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ dürfen keine Bürgschaften für die Nutzung von Nuklear-
CSU]: Und warum seid ihr nicht ausgestie- technologie zur Verfügung stellen. All dies ist notwen-
gen? – Gegenruf des Abg. Jürgen Trittin dig.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt machen An dem gestrigen Gespräch hat eine Zeitzeugin teil-
Sie doch nicht den guten Eindruck von Herrn genommen, die viel mit Schulklassen zu tun hat. Die
Grund wieder kaputt!) Schulklassen stellen ihr immer eine ganz einfache Frage:
Ich finde es ganz wichtig, dass wir im Hinblick auf in- Wie kann es die jetzige Generation verantworten, der
ternationale Verantwortung und internationale Politik nächsten Generation völlig unlösbare Probleme zu hin-
mit unserer Politik mit gutem Beispiel vorangehen. Von terlassen? – Wenn wir aus diesem Dilemma herauswol-
der Kollegin Brunkhorst ist angesprochen worden, dass len und der nächsten Generation eine Antwort oder zu-
viele Regierende in der Ukraine noch auf die Atomener- mindest den Ansatz einer Antwort geben wollen, müssen
gie setzen. Was man in der Ukraine aber auch feststellen wir raus aus der Atomenergie, rein in erneuerbare Ener-
kann, ist ein spannender Wandel im Bewusstsein der Be- gien, rein in Energieeffizienz – und das auch als Vorbild
völkerung. Es gibt zunehmend mehr Menschen in der mit unserem Handeln auf internationaler Ebene zum
Ukraine, denen auch die Risiken der dortigen Kraft- Ausdruck bringen.
werke und der Atomenergie generell bewusst sind. Es
Herzlichen Dank.
gibt zunehmend mehr Menschen, die auf einen schnellen
Umstieg auf erneuerbare Energien und insbesondere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
– wer die Länder kennt, weiß das – auf Energieeffizienz DIE GRÜNEN)
setzen. Dies erwarten sie auch von uns. Hier müssen wir
mit gutem Beispiel vorangehen und entsprechende Pro-
gramme auflegen. Zunächst einmal müssen wir aber bei Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
uns im Lande unter Beweis stellen, dass diese Pro- Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
gramme funktionieren. legen Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11841

(A) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): für das knappe Öl oder eben als Energiepflanze für die (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Da- Strom- und Gasgewinnung.
tum 26. April 1986 wird in unserer Erinnerung immer Eine Entscheidung darüber, ob die zeitweise Weiter-
mit dem Wort Tschernobyl verbunden sein. Die Reaktor- nutzung der Kernenergie verantwortbar ist, hängt des-
katastrophe führte uns damals – genauso wie heute das halb maßgeblich auch von den Alternativen ab. Denn ist
Unglück von Fukushima – vor Augen, welche Risiken es moralisch vorzugswürdig, dass weniger Nahrungsmit-
mit der Nutzung der Kernenergie verbunden sind. Ob tel angebaut werden, weil wir mehr Energiepflanzen be-
wir bereit sind, diese Risiken zu tragen, müssen wir in nötigen? Der Druck auf die Land-, Forst- und Wasser-
diesen Tagen neu entscheiden. In Tschernobyl hat die wirtschaft wird wachsen, alles zu nutzen, was Land,
Kombination von besonderem menschlichen Leichtsinn Wald und Flüsse hergeben. Aber wollen wir wirklich den
mit sicherheitstechnischen – oder ich sollte besser sagen: erreichten Stand an Arten- und Naturschutz gefährden?
die unsicherheitstechnischen – Besonderheiten des Ist es ethisch vorteilhaft, wenn wir für eine bestimmte
sowjetischen Reaktortyps RBMK das Unglück ausge- Zeit mehr CO2 in die Atmosphäre entlassen und dadurch
löst. Wie damals gibt es auch heute eine Welle der Hilfs-
das Klima bedrohen? Wollen wir höhere Preise für
bereitschaft in unserem Land, getragen auch gerade von
Strom akzeptieren? Akzeptieren wir diese höheren
vielen privaten Initiativen, um den von den Unglücken
Preise auch dann, wenn womöglich Tausende von Ar-
Betroffenen zu helfen. All denen, die sich bei dieser
beitsplätzen wegfallen, weil besonders die energieinten-
Hilfe engagieren, danke ich an dieser Stelle noch einmal
siven Unternehmen, aber auch viele mittelständische
ausdrücklich.
Firmen in Deutschland dann nicht mehr international
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wettbewerbsfähig sind? Ist es schließlich richtig, dass
wir in Deutschland stärker von einzelnen Energieliefer-
Wir sind uns seit einigen Jahren über alle Parteigren- ländern abhängig werden?
zen hinweg einig, dass die Kernenergie in Deutschland
ein Auslaufmodell ist. Neue Kernkraftwerke wird es Bei dieser Diskussion muss außerdem berücksichtigt
nicht geben. Dies wird zwar in der öffentlichen Diskus- werden, dass das Leben und die Gesundheit nicht nur
sion kaum wahrgenommen, aber die einzige – ich gebe durch die Risiken der Kernenergie bedroht werden. Viel-
zu, heftig umstrittene – Frage ist, wie lange die einzelnen mehr gibt es gerade in einem Industrieland wie Deutsch-
Reaktoren in Deutschland noch am Netz bleiben sollen. land vielfältige Risiken. Eine ehrliche Diskussion muss
daher alle zivilisatorischen Risiken in den Blick nehmen.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben noch im
vergangenen Jahr das neue Energiekonzept sehr intensiv (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diskutiert. Wir haben in diesem Zusammenhang eine Meine Damen und Herren, wir müssen auch klären,
(B) Laufzeitverlängerung beschlossen, weil wir sie für wie wir erneuerbare Energien schneller als bisher ge- (D)
ethisch-moralisch verantwortbar und für ökonomisch dacht aufbauen können. Aber auch hier sind die Fragen,
und ökologisch sinnvoll gehalten haben. Denn das Ri- die sich stellen, nicht einfach zu beantworten. Ich be-
siko eines Unfalls muss abgewogen werden gegen die schränke mich einmal auf fünf Fragen:
Vorteile einer CO2-freien und preisgünstigen Strom-
erzeugung dieser Brückentechnologie. Erstens. Wie können wir Strom aus Wind und Sonne
speichern, damit er auch dann zur Verfügung steht, wenn
Nach dem Unfall von Fukushima haben wir innege- die Sonne gerade nicht scheint und der Wind nicht weht?
halten, denn für unmöglich Gehaltenes wurde Realität. Immerhin ist das beim Wind zurzeit in über
Zwei Naturkatstrophen bisher nicht gekannten Ausma- 7 000 Stunden der 8 760 Stunden eines Jahres der Fall.
ßes haben zusammen dazu geführt, dass das Kernkraft- Bei der Sonne sind es sogar 7 910 Stunden des Jahres.
werk in Fukushima zerstört wurde. Bis heute ist in Japan Das gesamte Speichervermögen für Elektrizität aller
die Bedrohung für Menschen und Umwelt nicht abge- deutschen Pumpspeicherkraftwerke kann zurzeit gerade
wendet. Wir werden jetzt die drei Monate des Morato- einmal 2,5 Prozent des Tagesbedarfs an Strom decken.
riums nutzen, um sowohl die Technik unserer Kernkraft-
werke erneut auf den Prüfstand zu stellen als auch die Zweitens. Wie transportieren wir den Windstrom
Frage zu beantworten, ob wir bereit sind, das nukleare dorthin, wo er gebraucht wird? Die Studien der Deut-
Risiko für eine bestimmte Zeit zu tragen. schen Energie-Agentur – sie wurden schon angeführt –
sprechen von bis zu 4 450 Kilometer Hochspannungslei-
Die Beantwortung dieser Frage müssen wir sehr ernst- tungen, die wir allein bis 2020 gebaut haben müssen, das
haft angehen, schon allein aus der Verantwortung gegen- heißt in weniger als neun Jahren. In den letzten acht Jah-
über der Schöpfung. Aber – das möchte ich an dieser ren haben wir keine 100 Kilometer realisiert.
Stelle noch einmal betonen – keine einzige Energieform
ist nur vorteilhaft. Kernenergie enthält ein Restrisiko. (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])
Erdöl, Erdgas, Stein- und Braunkohle sind endliche Res- Drittens. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass
sourcen, und ihre Verbrennung schadet dem Klima. statt Strom aus deutschen Kernkraftwerken nunmehr
Sonne scheint nicht immer, Wind weht nicht immer. Der ausländischer Atomstrom bei uns verbraucht wird? Be-
Strom aus Wind und Sonne ist noch immer wesentlich reits jetzt, in den ersten Wochen des Moratoriums, im-
teurer als der aus anderen Energiequellen. Außerdem ist portieren wir Tag für Tag bis zu 50 Millionen Kilowatt-
auch die Produktion von Solarzellen nicht nur umwelt- stunden Strom aus Frankreich und aus Tschechien.
freundlich. Biomasse kann auf jedem Hektar nur einmal
angebaut werden: entweder für Nahrungsmittel oder als (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das brauchen
nachwachsender Rohstoff für unsere Industrie als Ersatz wir schon wegen der Netzstabilität! –
11842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Michael Paul


(A) Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wie viel wir expor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
tieren, sollten Sie vielleicht auch sagen!) Ich schließe die Aussprache.
Da dort der Strom insbesondere aus Kernkraftwerken Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
kommt, heißt das, dass jeden Tag umgerechnet Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5375
30 Millionen Kilowattstunden ausländischen Atom- mit dem Titel „Nie wieder Tschernobyl – Atomzeitalter
stroms im deutschen Netz sind. beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Viertens. Wie sichern wir die Stabilität des deutschen
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
Stromnetzes, wie verhindern wir also großflächige
von Linkspartei und Grünen bei Enthaltung der SPD ab-
Stromausfälle? Bisher leben wir, was das angeht, auf
gelehnt.
einer Insel der Seligen. Bis auf im Durchschnitt
18 Minuten stand zum Beispiel im Jahre 2008 der Strom Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
das ganze Jahr rund um die Uhr zur Verfügung. Diese Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5379 mit dem
Stabilität ist nicht nur für jeden Einzelnen von uns, son- Titel „25 Jahre Reaktorkatastrophe von Tschernobyl –
dern insbesondere auch für unsere Wirtschaft wichtig; Atomkraftwerke abschalten“. Wer stimmt für diesen An-
denn schon durch kurze Schwankungen oder Ausfälle trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
können hohe Schäden bei sensiblen Produktionsprozes- trag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
sen angerichtet werden. gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen abgelehnt.
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist
richtig!) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
SPD auf Drucksache 17/5366 mit dem Titel „Tscherno-
Die Stabilität muss deshalb auch in Zukunft gewährleis-
byl mahnt – Für eine zukunftssichere Energieversorgung
tet sein.
ohne Atomkraft und eine lebendige europäische Erinne-
Nach dem Abschalten von allein fünf Kernkraftwer- rungskultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
ken im Süden Deutschlands wird dort die Stabilität zur- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
zeit aber nur durch die geschilderten massiven Stromim- den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
porte sichergestellt – auch, weil es zu wenige Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der
Stromleitungen von Nord nach Süd gibt. Linken abgelehnt.
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau, Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 28 auf:
richtig!) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
(B) Fünftens. Wie hoch ist für uns der Sicherheitsgewinn, regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D)
wenn nach unserem möglichen Ausstieg allein in Europa zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur
noch über 130 Kernkraftwerke am Netz sind? Koordinierung der Rechts- und Verwaltungs-
vorschriften betreffend bestimmte Organis-
Alle diese Fragen müssen wir ehrlich beantworten. men für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
Dazu gehört auch, dass wir das Problem der sicheren (OGAW-IV-Umsetzungsgesetz – OGAW-IV-
Endlagerung radioaktiver Abfälle angehen müssen; UmsG)
(Frank Schwabe [SPD]: Wie lange dauert das – Drucksachen 17/4510, 17/4811 –
noch?)
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
denn die jahrzehntelange Zwischenlagerung auch der schusses (7. Ausschuss)
hochradioaktiven Abfälle ist sicherheitstechnisch be-
stimmt nicht vorteilhafter als die Endlagerung tief unter – Drucksachen 17/5403, 17/5417 –
dem Erdboden. Also müssen wir nun schnell Schritte in Berichterstattung:
Richtung einer dauerhaften Entsorgung zurücklegen. Es Abgeordnete Ralph Brinkhaus
ist hier sicherlich nicht verantwortungsvoll, die Erkun- Dr. Carsten Sieling
dung von Gorleben zu blockieren und die Altlasten da- Björn Sänger
mit künftigen Generationen aufzubürden. Harald Koch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Gerhard Schick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Mein letzter Satz ist eine Aufforderung: Bitte beteili-
gen Sie sich alle an der Diskussion, aber geben Sie auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Antworten auf diese drängenden Fragen.
Peter Aumer (CDU/CSU):
Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11843
Peter Aumer
(A) rade über einen wichtigen Punkt diskutiert, um Lehren für Vorortprüfungen und -ermittlungen der zuständigen (C)
aus der Vergangenheit zu ziehen. Die Umwelt und die Aufsichtsbehörden auf dem Gebiet eines anderen Mit-
Energieversorgung sind sicherlich wesentliche Bereiche, gliedstaates konkretisiert werden. Auch hier zeigt sich,
in denen wir einen Grundkonsens in unserer Gesellschaft dass man in Europa stärker zusammenarbeitet. Das ist
herbeiführen müssen. Dessen hat sich die christlich-libe- eine wichtige Lehre, die man aus der schweren Krise ge-
rale Koalition angenommen. zogen hat. Es gehören noch viele andere Maßnahmen
dazu. Die Anforderungen an Mikrofinanzinstitute wer-
Bei den Finanzmarktthemen ist es genauso: Auch hier den verringert und steuerliche Rahmenbedingungen an-
müssen wir die Lehren aus der Vergangenheit ziehen, ders gesetzt. Es wird zudem Regelungen betreffend
nämlich die Lehren aus der Finanz- und Wirtschafts- drohende Steuerausfälle im Bereich des Kapitalertrag-
krise, die auch Europa und unser Land erschüttert haben. steuerabzugsverfahrens geben. Auch hier hat die christ-
Deswegen diskutieren wir heute über ein zugegeben sehr lich-liberale Koalition auf die Sparbestrebungen im
technisches, aber auch wichtiges Thema: die Umsetzung Bundeshaushalt und die Konsolidierungsbemühungen
der OGAW-IV-Richtlinie in nationales Recht. Rücksicht genommen. Es werden außerdem Umstruktu-
In der Anhörung des Finanzausschusses zum Entwurf rierungsvergünstigungen von Unternehmen im Grunder-
dieses Gesetzes hat ein Sachverständiger die OGAW-IV- werbsteuerbereich angepasst. Darüber hinaus wurden
Richtlinie als Meilenstein bei der Verwirklichung des die Empfehlungen des Finanzausschusses in den Gesetz-
europäischen Binnenmarktes im Fondsbereich bezeich- entwurf eingearbeitet.
net. Er hat recht: Es ist eine wichtige Entscheidung in
Das Gesetz sieht konkret eine deutliche Verbesserung
diesem Bereich, über die wir heute reden. Insofern ist
des Anlegerschutzes im Bereich der Anlegerinformation
auch das Technische wichtig, um die einzelnen Punkte
vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig Kosten erhö-
für die Zukunft festzuzurren.
hen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll der Anleger
Die Abkürzung OGAW steht für Organismen für ge- direkt informiert werden, sofern es sich um wesentliche
meinsame Anlagen in Wertpapieren und ist die europäi- Änderungen handelt. Angesichts der Tatsache, dass Än-
sche Bezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds. Die derungen der Vertragsbedingungen aufgrund gesetzli-
Neuregelung dieser Wertpapier-Investmentfonds erfolgt cher Neuregelungen erfolgen oder oftmals rein techni-
durch neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die scher Natur sind, sollte man sich hier auf die Information
den größten Teil des heute zu beschließenden Gesetzent- über wesentliche Änderungen konzentrieren.
wurfs ausmachen.
Ein wichtiger Punkt zur Verbesserung der Effizienz
Der Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung grenz-
Stärkung der Qualität von Investmentfondsgeschäften, überschreitender Fondsverwaltungen sein. Damit können
(B) (D)
aber auch zur Verbesserung des Anlegerschutzes in unse- künftig auch ausländische Fondsverwaltungsgesellschaf-
rem Land. Im Großen und Ganzen wird die OGAW-IV- ten in Deutschland ohne inländische Tochtergesellschaf-
Richtlinie im Investmentgesetz und im Investmentsteu- ten deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls dürfen
ergesetz umgesetzt. zukünftig deutsche Kapitalgesellschaften Investment-
fonds im Nachbarland auflegen, ohne durch eine eigene
Mit der Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie sollen Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne dass dies mit Per-
die Bestimmungen des Europäischen Passes für Gesell- sonalverschiebungen einhergehen muss.
schaften auf grenzüberschreitende Verwaltungen von
Investmentfonds ausgeweitet werden. Fondsverschmel- Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim
zungen sollen grenzüberschreitend erleichtert und grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher
insgesamt erleichtert werden. Gleichzeitig sollen die In- musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem
formationen der Anleger erheblich verbessert sowie die Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen
Anforderungen und Verfahren zur Verschmelzung von Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren
Fonds erstmals EU-weit harmonisiert werden. – bis zu zwei Monate – über die Markteinführung aus-
einandersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr büro-
Weiter sollen doppelstöckige Fondsstrukturen in
kratische Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer ver-
Form von Master-Feeder-Konstruktionen im Bereich der einfacht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt
Publikumsfonds unter bestimmten Voraussetzungen und
werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzei-
mit einer umfassenden Anlegerinformation über die da-
gen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen
mit verbundenen Rechtsfolgen ermöglicht werden. Es werden innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt.
sollen außerdem wesentliche Anlegerinformationen in
Damit werden im Sinne des europäischen Binnenmark-
einem zwei-, maximal dreiseitigen Informationsdoku-
tes die Rahmenbedingungen für den grenzüberschreiten-
ment EU-weit vereinheitlicht werden und national auch
den Fondsverkauf ganz wesentlich verbessert, und es
für nicht richtlinienkonforme Fonds Anwendung finden.
wird ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau ge-
Außerdem sollen die bei grenzüberschreitendem Ver-
leistet.
trieb von Investmentfonds erforderlichen Anzeigever-
fahren, mit denen der Marktzugang für den gesamten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Binnenmarkt erreicht werden kann, erheblich beschleu- der CDU/CSU)
nigt werden.
Weiter sollen Fondsgesellschaften künftig bessere Mög-
Für eine Verbesserung der Zusammenarbeit der natio- lichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammen-
nalen Aufsichtsbehörden sollen unter anderem Verfahren zufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen
11844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Peter Aumer
(A) grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und soge- Das ist altes Denken, das ist die falsche Antwort an die- (C)
nannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht wer- ser Stelle.
den.
(Beifall bei der SPD)
Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und
Herren, zur Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie wird Wir müssen im Einzelnen feststellen, dass Sie mit
die christlich-liberale Koalition ihrer Verantwortung ge- diesem Gesetz über das, was die EU vorgibt – natürlich,
recht, zum einen einen wichtigen Beitrag für den Anle- wir bewegen uns hier in einem solchen Rahmen –,
gerschutz zu leisten und zum anderen die Wettbewerbs- hinaus eine Einbeziehung von Hochrisikoprodukten vor-
fähigkeit des deutschen Fondsstandortes sicherzustellen. nehmen und im Beratungsverfahren Informationspflich-
Deswegen bitten wir um Ihre Zustimmung. ten der Anlegerinnen und Anleger noch einmal einge-
schränkt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, das Die Richtlinie – darauf möchte ich jetzt kurz kommen –
geht nicht!) ist ja für die Sondervermögen wie Aktienfonds, Geld-
marktfonds und Rentenfonds geschaffen. Da kann es
jetzt zu Verschmelzungen kommen, sogenannten Mas-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ter-Feeder-Konstruktionen. Kollege Aumer hat das hier
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak- schon angesprochen.
tion.
Die Koalition ist jetzt ohne Not darangegangen, den
(Petra Ernstberger [SPD]: Er sagt jetzt, warum Anwendungsbereich auf nichtrichtlinienkonforme Fonds
nicht!) auszudehnen. Damit sind die hochgefährlichen Hedge-
fonds in diese neuen Freiheiten und neuen Regelungen
Dr. Carsten Sieling (SPD): einbezogen worden. Dazu will ich nur sagen: Hedge-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fonds können zukünftig in Deutschland fusionieren. Wir
Dieses Gesetz ist kein technisches Klein-Klein, als Sozialdemokraten haben das von Anfang an kriti-
siert. In der öffentlichen Anhörung wurde das von ver-
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: schiedenen Sachverständigen ebenfalls kritisiert. Die
Dafür ist die SPD zuständig!) Koalition allerdings blieb unbeeindruckt. Somit sage ich,
wie es vielleicht den Anschein haben mag, wenn man so ein Gesetz ist schädlich und inakzeptabel. Das kann
den Titel liest. Wenn man sich das Gesetz genau an- hier unsere Zustimmung nicht bekommen.
schaut, stellt man fest, dass da eine gewaltige Menge (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
(B) Musik drin ist. Das Problem ist allerdings: Sie haben die (D)
parlamentarischen Gesetzesberatungen genutzt, um eine Ich will auch sagen, dass zum Thema Aufsicht Neure-
Reihe von schiefen Tönen einzubauen. Das schwächt gelungen vorgesehen sind. Da sollen jetzt die Aufsichts-
das, was wir heute zu beschließen haben. behörden, auch unsere deutsche Aufsichtsbehörde
BaFin, stärker mit anderen europäischen Aufsichtsbe-
(Beifall bei der SPD) hörden kooperieren.
Ich will in diesem Zusammenhang zu dem Ausgangs- (Björn Sänger [FDP]: Was richtig ist!)
punkt und zu der Frage zurückkommen, um die es hier
eigentlich geht. Die Finanzkrise hat uns gezeigt, dass die – Das ist vom Grundsatz her richtig. – Schauen Sie sich
Steigerung von Markteffizienz, Maximierung von Ge- aber einmal an – wir sehen uns das ja dauernd an –, wie
winnen, Wettbewerb usw. keine Argumente mehr für den belastet die Aufsichtsbehörden schon jetzt sind und wie
Gesetzgeber sein dürfen. Die Zeit der Deregulierung viele Detailregelungen es für sie gibt. Mit Ihrer Erweite-
muss endgültig vorbei sein. Wir müssen dazu kommen, rung im nichtrichtlinienkonformen Bereich packen Sie
dass wir erstens eine Beschränkung riskanter und speku- weitere Dinge in den Rucksack der Aufsichtsbehörden.
lativer Geschäftsmodelle erreichen und dass wir zwei- Dann bleibt vernünftiger Aufsicht lediglich das Prinzip
tens vor allem eine Stärkung des Anlegerschutzes nach Hoffnung. Das geht so nicht, das ist in der Tat gefährlich –
vorn stellen. auch für die Stabilität der Finanzmärkte selber.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Auch als eine wichtige Lehre aus der Finanzkrise
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen wir uns in jedem Verfahren vornehmen, dass wir
insbesondere die Informationsasymmetrien auf den
Meine Damen und Herren, schauen wir uns jetzt ein- Finanzmärkten beheben. Das ist eine ganz zentrale Auf-
mal an, was Sie daraus gemacht haben. Vorgestern habe gabe. Das heißt aber, dass die Anlegerinnen und Anleger
ich eine wunderschöne Presseerklärung von den Kolle- mehr Informationen brauchen statt weniger Informatio-
gen Flosbach und Brinkhaus gelesen, nen, qualifiziert aufbereitete Informationen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Leute!) Im Beratungsverfahren im Ausschuss sind es die Ko-
die darin jubeln, dieses Gesetz werde die Effizienz des alitionsfraktionen gewesen, die Änderungen eingebracht
Investmentfondsgeschäfts erhöhen und attraktive Rah- haben, die dazu führen, dass zukünftig keine vernünftige
menbedingungen schaffen. und umfassende Pflicht mehr besteht, nachhaltig zu in-
formieren. Auch das ist gefährlich und kann so nicht
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) bleiben, weil ja insbesondere Ausgangspunkt war, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11845
Dr. Carsten Sieling
(A) nach Vorliegen des Gesetzentwurfs aus dem Bundes- fondslandschaft. Das ist gut, darf aber nie alleine stehen. (C)
finanzministerium die Branche aufgeheult und von Bü- Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
rokratiekosten gesprochen hat. Dann hat die Anhörung
deutlich gemacht – dafür sind öffentliche Anhörungen ja Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
da –, dass die Bürokratiekosten bei – hören Sie gut zu! – (Beifall bei der SPD)
1,21 Euro liegen. – Bei 1,21 Euro! Das ist also völlig lä-
cherlich.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Da wusste auch die Koalition nicht mehr weiter. Also Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.
sind Sie dazu gekommen und haben gewisse organisato-
rische Veränderungen vorgenommen, dass man zukünf- (Beifall bei der FDP)
tig nur auf Anforderung informiert wird, über E-Mail
und so weiter und so fort. Das reicht uns nicht. Björn Sänger (FDP):
Im Übrigen hat die BaFin selber in der Anhörung Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
deutlich gemacht, dass sie an uns, den Gesetzgeber – ich ren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist für die Branche
zitiere –, „appelliert“, es bei dem zu belassen, was vor- so etwas Ähnliches wie das Grundgesetz. In der Tat ist
gesehen ist. Sie von der Koalition haben darauf nicht ge- das, was hier vorliegt – Kollege Aumer hat es schon ge-
hört. Sie haben diese EU-Vorgabe verwässert und ma- sagt –, mit Sicherheit als ein großer Schritt zu bezeich-
chen die deutschen Finanzmärkte damit angreifbar und nen. Vielleicht ist es so etwas wie ein Meilenstein für
die Anlegerinnen und Anleger schwach. den Investmentfondsmarkt. Es wird nämlich ein weiterer
Schritt getan hin zur Schaffung eines einheitlichen euro-
Es gibt auch Licht, gar keine Frage. päischen Marktes, der einheitlichen Regeln unterliegt.
(Otto Fricke [FDP]: Sonst gäbe es ja keinen Das sorgt für ein Mehr an Effizienz. Es bringt Kosten-
Schatten!) vorteile, und das dient am Ende den Anlegerinnen und
Anlegern, die ihr Geld in Investmentfonds investieren.
Sie setzen, Gott sei Dank, pflichtgemäß eins zu eins die
Vorgabe um, dass ein Produktinformationsblatt, das so- Investmentfonds sind ein ideales Vehikel für die Al-
genannte Key Investor Document, dem Produkt beizufü- tersvorsorge. Sie dienen dem Vermögensaufbau. Deswe-
gen ist. Das ist richtig, und das ist gut. Aber kaum hat gen werden sie sehr gerne für vermögenswirksame Leis-
man Licht bei Ihnen entdeckt, stellt man fest: Es scheint tungen genutzt, und zwar von Arbeitnehmerinnen und
nicht mehr die Sonne, sondern es fängt gleich an, zu reg- Arbeitnehmern. Sie sollen ja einmal eine Klientel der
nen. Sie haben nämlich auch in anderen Bereichen Ver- Sozialdemokratischen Partei gewesen sein.
(B) änderungen vorgenommen, die für uns nicht akzeptabel (D)
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
sind, Stichwort „REITs“. Diese Abkürzung steht für:
ist schon lange her!)
Real Estate Investment –
Investmentfonds dienen als mittelfristiger Kapitalpuffer
(Otto Fricke [FDP]: Trusts!)
und zum Aufbau von Eigenkapital, beispielsweise wenn
– Trust. Vielen Dank für die liberale Hilfe. man sich ein Eigenheim zulegen möchte.
(Otto Fricke [FDP]: Wir helfen immer gerne!) Ein Investmentfonds ist im Prinzip eine Art moderner
VEB.
– Das ist wunderbar.
(Otto Fricke [FDP]: Jetzt versteht es auch die
Sie helfen auch deshalb gerne, weil Sie, Herr Kollege,
Linke!)
wahrscheinlich genau wissen, wie gefährlich dieses In-
strument ist. Sie sind für eine flächendeckende Einfüh- Nirgendwo anders haben breite Bevölkerungsschichten
rung. Dass es dazu in Deutschland nicht gekommen ist, die Möglichkeit, sich leichter am Produktivvermögen ei-
liegt daran, dass wir Sozialdemokraten verhindert haben, ner Volkswirtschaft zu beteiligen. Sie haben die Chance
dass dieses gefährliche Instrument flächendeckend zuge- auf ein diversifiziertes Portfolio. Sie haben ein profes-
lassen wird. Es gibt nur drei bis fünf Fonds dieser Art. sionelles Anlagemanagement. Sie haben eine Risiko-
Sie wollen deren Laufzeit jetzt verlängern. optimierung, und sie haben eine Anlagevielfalt. All das
bietet der Investmentfonds. Deswegen ist der vorlie-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ein
gende Gesetzentwurf so wertvoll.
SPD-Finanzminister hat die eingeführt! Uner-
hört! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ Umso wichtiger ist es, dass Vertrauen in dieses Vehi-
CSU]: Wer hat denn die REITs eingeführt? kel existiert. Genau dem wird der vorliegende Gesetz-
Das war Eichel!) entwurf gerecht, und zwar dadurch, dass die Aufsicht ge-
Ich sehe darin nichts anderes als die Verlängerung eines stärkt wird. Herr Kollege Sieling, ich kann Sie nicht so
Steuersparmodells für wenige. Auch das kann nicht Sinn richtig verstehen: Sie beklagen sich über die Ausweitung
unserer Gesetzgebung sein. auf die Hedgefonds, wodurch sie einer zusätzlichen Auf-
sicht unterliegen. Gleichzeitig sagen Sie, diese Aufsicht
Unterm Strich: Was Sie uns vorlegen, ist das Ergebnis könne das, was von ihr erwartet wird, gar nicht leisten.
von Klempnerei und kein effektiver Anlegerschutz. Es Sie müssten sich einmal in irgendeiner Art und Weise
bedeutet nur Steigerung der Effizienz der Investment- entscheiden, wofür Sie stehen.
11846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Björn Sänger
(A) (Beifall des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ Branche kann sich darauf einstellen: Pension Pooling (C)
CSU]) wird in Deutschland ermöglicht.
Wir sind der Auffassung, dass der Anlegerschutz Darüber hinaus haben wir steuerliche Missstände, bei
durch die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent- denen man unter Umständen einen Umgehungstatbe-
wurfs gestärkt wird. Entscheidend ist dabei das Key In- stand konstruieren kann, im System beseitigt. Auch des-
vestor Document, das dem Anleger in übersichtlicher halb ist das ein guter Tag für Deutschland.
Art und Weise Informationen über das Produkt ver- Als Fazit kann man sagen: Wir haben eine gelungene
schafft, in das er investieren möchte. Die Rückschlüsse Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht
aus diesen Informationen muss natürlich jeder Anleger vorgelegt.
für sich selbst ziehen. Das Anlagerisiko kann man nie-
mandem abnehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben nationale Akzente gesetzt, ohne Wettbe-
werbsnachteile für deutsche Anbieter zu generieren. Un-
Das ist eine Frage der Finanzbildung. Da gibt es mögli- term Strich kann man sagen: Das ist eine gelungene Vor-
cherweise an der einen oder anderen Stelle noch Defi- lage, der man getrost zustimmen kann.
zite. Aber auch hier ist die Branche mit einer Initiative
unterwegs. Herzlichen Dank.
Wir haben in die Informationsflut, die ursprünglich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
vorgesehen war, etwas Struktur hineingebracht. Der An-
leger soll nämlich übersichtlich über die wesentlichen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Änderungen – und zwar per Post – informiert werden. Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
Wir vermeiden damit eine Informationsüberflutung, be- Linke.
halten aber nach wie vor die Informationspflicht bei.
Die Frage ist doch: Was ist denn eine „wesentliche Harald Koch (DIE LINKE):
Änderung“? Eine wesentliche Änderung kann sein, Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als
wenn sich zum Beispiel die Anlagestrategie bei einem wir im Januar zur ersten Lesung hier zusammenkamen,
Fonds ändert. Wenn ich eine Anlage bei einem offenen warnte ich davor, das Wachstum des wuchernden
Immobilienfonds habe, der überwiegend in europäische Finanzsektors mit diesem Gesetz auch noch zu beschleu-
Gewerbeimmobilien investiert hat, plötzlich aber in asia- nigen und somit Riesenheuschrecken im Fondsmantel zu
tische Wohnimmobilien hineingeht, dann ist das sicher- züchten. Damals konnte ich mich tagesaktuell auf einen
(B) lich eine wesentliche Änderung der Anlagestrategie. Das renommierten Finanzjournalisten des Handelsblatts be- (D)
hat Auswirkungen auf das Anlagevermögen. Wir wol- rufen, der eindringlich vor dem Schattenbankensystem
len, dass der Anleger darüber informiert wird. Das gilt der Fondsbranche warnte.
genauso bei Fragen der Kostenänderung. Genützt hat es leider nichts. Im Gegenteil: In noch
Der Anleger weiß zukünftig, wenn er etwas von sei- größerem Umfang als schon im Kabinettsentwurf ge-
nem Fondsanbieter per Post bekommt, dass es sich um plant, sollen Investmentfonds wachsen können. Das
eine wesentliche Änderung handelt, die für ihn wichtig Wachstum wird angetrieben, indem die Fonds durch eine
ist und die er lesen muss. Bei allen anderen Änderungen, noch exzessivere Mikrokreditvergabe von der Armut in
die zum Beispiel allein aus Gründen der Änderung der Osteuropa und in den unterentwickelten Ländern dieser
Rechtslage entstehen, bekommt er beispielsweise auf Erde profitieren dürfen. Dass dies mit karitativem An-
dem Jahresdepotauszug einen Hinweis. Er kann sich spruch rein gar nichts zu tun hat, hat einer der führenden
dann, wenn ihn das interessiert, entsprechend informie- Mikrofinanzexperten Europas in der Sachverständigen-
ren. Die Entscheidung darüber, was wesentlich ist, haben anhörung ausführlich dargelegt. Er stieß damit bei der
wir bei der dafür richtigerweise zuständigen Stelle ange- Koalition leider auf taube Ohren. Wenn Sie den Armen
siedelt, nämlich bei der BaFin. in der Welt wirklich helfen wollen, dann kommen Sie
zuerst einmal den Verpflichtungen nach, die Deutsch-
Aus der Anhörung heraus haben wir ein weiteres land mit der Zusage einging, den Anteil der Entwick-
wichtiges Thema entwickelt, nämlich das Pension lungshilfe am Sozialprodukt, die sogenannte ODA-
Pooling. Auch das ist für Anlegerinnen und Anleger in Quote, spürbar zu erhöhen.
Bezug auf die betriebliche Altersvorsorge wichtig. Es ist
auch wichtig für den Finanzplatz Deutschland. Wir re- Die Regierungskoalition versucht, den Eindruck zu er-
den da über 250 Milliarden Euro, die in Deutschland an- wecken, sie hätte in der Finanzmarktregulierung ihre
gelegt werden können bzw. von Deutschland aus verwal- Hausaufgaben fast erledigt. Aber ich kann Ihnen heute ei-
tet werden können. Sie unterliegen damit natürlich auch nen weiteren Zeugen dafür anführen, dass bei der Regu-
der deutschen Aufsicht. lierung der Fondsbranche das Wichtigste noch zu tun ist.
In der Aprilausgabe des Monatsmagazins des Bankenver-
Auch dazu haben wir eine gute Nachricht, dass sich bandes die bank warnt der oberste Finanzaufseher des
nämlich die Koalition dieses Themas annehmen und Landes, Jochen Sanio, davor – Zitat –, „dass man sich nur
zeitnah einen entsprechenden Referentenentwurf vorle- mit Teilaspekten des nicht oder unterregulierten Finanz-
gen wird. Wir gehen davon aus, dass dies bis zum Ende sektors beschäftigt und wichtige Bereiche außer Acht
des Jahres 2011 der Fall sein wird. Das bedeutet, die lässt. Etwa die Hedge-Fonds, die Private-Equity-Unter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11847
Harald Koch
(A) nehmen und – nicht zu vergessen – die Rating-Agenturen, Ich komme zum Schluss. – Wie auch immer man die- (C)
die ‚Legitimierer‘ des ‚Schatten Banking‘“. Ähnlich wie sen Gesetzentwurf betrachtet – makroökonomisch, auf-
im Januar kann ich Ihnen nur wieder sagen: Würden Sie sichtsrechtlich, entwicklungs- und verbraucherpolitisch
doch wenigstens auf Ihre eigenen Beamten hören, anstatt oder unter steuerlichen Gesichtspunkten –: Der Finanz-
dem Begehren der Lobby ein ums andere Mal nachzuge- sektor darf ohne Rücksicht auf Verluste weiter frei wu-
ben! chern. Durchgreifende Regulierung? Fehlanzeige!
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Es ist aber nicht nur die Senkung regulatorischer Kollege Koch, Sie hatten angekündigt, dass Sie zum
Standards, mit der Sie die Finanzbranche mästen. Nein, Schluss kommen. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Sie werfen auch noch Steuergeschenke hinterher.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aha!) Harald Koch (DIE LINKE):
Der Gesetzentwurf vermag alles in allem in keiner
So sollen Unternehmen, die ihre Immobilien an eine bör- Hinsicht zu überzeugen. Er ist rückschrittlich und kon-
sennotierte Immobilien-AG veräußern, auf den Erlös traproduktiv.
weiterhin eine 50-prozentige Steuerbefreiung erhalten.
Diese Regelung wurde mit einer weiteren Frist verlän- Danke schön.
gert. Hat man Ihnen dafür wenigstens entsprechend
Spenden versprochen? Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
der CDU/CSU) lege Dr. Schick das Wort.

Selbst was den Anlegerschutz angeht, haben Sie mehr Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gesetzeskosmetik betrieben, als dass Sie substanziell et- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
was merklich verbessert hätten. Zwar ist das Wort „An- Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Änderungen in
leger“ häufiger im Gesetzestext zu lesen; dieser Anleger verschiedenen Bereichen; das ist schon deutlich gewor-
kann aber nach wie vor nicht darauf bauen, dass ihm die den. Ich will zunächst auf den Anlegerschutz eingehen.
Kosten seiner Anlageentscheidung wirklich transparent Es werden einige neue Informationspflichten gegenüber
gemacht werden. Die Linke fordert hier unter anderem dem Anleger eingeführt, und das ist richtig so. An dieser
die Angabe einer umfassenden Gesamtkostenquote. Stelle kann ich die Bundesregierung in der Finanzmarkt-
Nachfragen in den Berichterstattergesprächen, warum politik ausnahmsweise einmal loben.
(B) dies trotz Machbarkeit nicht geschehe, wurden damit be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des (D)
antwortet, dass dann eine erfolgreiche Ansiedlung der Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU])
Fonds in Deutschland gefährdet sei. Entschuldigung,
meine Damen und Herren von Union und FDP! Wer Sie gehen bei den Informationspflichten im Sinne des
nicht bereit ist, mit offenen Karten an den Markt zu ge- Anliegerschutzes über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der
hen, der sollte doch bitte schön dahin gehen, wo der Richtlinie hinaus. Das ist bisher an vielen Stellen abge-
Pfeffer wächst, anstatt dass ihm hierzulande auch noch lehnt worden und findet hier richtigerweise einmal statt.
alles nach seinem Geschmack gestaltet wird. Es bleibt trotzdem eine Reihe von gravierenden Defi-
(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding ziten. Es ist zum Beispiel unverständlich, dass die Be-
[Heidelberg] [SPD]: Die armen Inder haben weislast, ob er Dokumente erhalten hat oder nicht, auf
das gar nicht verdient! – Alexander Süßmair den Anleger übergeht. Es wird für ihn schwer sein, das
[DIE LINKE]: Die sollen dahin gehen, wo das leisten zu können.
Seegras wächst!) Was überhaupt nicht überzeugt, ist, dass Sie unseren
Was Sie der Öffentlichkeit verheimlichen: Sie betrei- Änderungsantrag in Bezug auf die sogenannte Best-Exe-
ben bewusst Etikettenschwindel, damit die Fusionierung cution-Regel abgelehnt haben. Diese Regel besagt, dass
von Fondsvermögen erleichtert wird. Dies haben die Be- man – grob gesprochen – bei einer Handelsorder immer
ratungen zu diesem Gesetzentwurf leider deutlich wer- den besten Handelsplatz im Sinne des Kunden aussu-
den lassen. Kollege Sieling hat schon darauf hingewie- chen soll. Es ist im Jahr 2007 bei der Umsetzung der Fi-
sen; ich will es noch deutlicher sagen. So sind deutsche nanzmarktrichtlinie versäumt worden, dies für Invest-
Kunden erfahrungsgemäß eher bereit, in einen Fonds zu mentfondsanteile einzuführen. Das gilt nur für Aktien
investieren, dessen Name den Eindruck erweckt, dass es und Ähnliches. Damals hieß es in der Begründung der
sich um ein Vehikel ihrer – deutschen – Hausbank han- Bundesregierung: Wegen des Prinzips der Eins-zu-eins-
Umsetzung lehnt die Bundesregierung die Anwendung
delt. Dieser Eindruck soll auch künftig bestehen bleiben.
der Regeln auf Investmentfondsanteile ab.
Allerdings wird es sich nicht auf den ersten Blick er-
schließen lassen, dass dieser Fonds sein gesamtes Ver- Wenn Sie dieses Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung
mögen in einen ausländischen Fonds einbringen kann. In nun zu Recht an anderer Stelle aufgeben, dann frage ich:
diesen ausländischen Fonds hätte der Anleger womög- warum nicht auch an dieser Stelle im Interesse von Kun-
lich nie direkt investiert. Ich versichere Ihnen: An die- dinnen und Kunden?
sem Bluff wird sich die Linke nicht beteiligen.
(Jörg van Essen [FDP]: Weil es der Koalitions-
(Beifall bei der LINKEN) vertrag so vorsieht!)
11848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Gerhard Schick


(A) Es ist bezeichnend, dass von den Koalitionsfraktionen zu korrigieren. Wenn man schon an das Stopfen von Steu- (C)
im Finanzausschuss an dieser Stelle kein einziges Argu- erschlupflöchern herangeht, dann muss man schauen,
ment gegen unseren Antrag genannt worden ist, was den dass man das möglichst konsequent und umfassend tut.
Anlegerschutz verbessern würde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Weil das die Bun- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
desregierung ausreichend begründet hat!) der SPD – Harald Koch [DIE LINKE]: So ist
es!)
Ein weiterer Kritikpunkt, den wir haben, betrifft die
Verschmelzung der Nicht-OGAW-Fonds. Das ist schon Sie sehen, es gibt in diesem Gesetzentwurf Licht und
angesprochen worden. Es besteht konkret die Gefahr: Schatten. Die Koalition liegt nicht überall daneben, sie
Wenn Sie in einem Fonds drin sind, dann müssen Sie so- schafft aber auch keine überzeugende Wende in Rich-
zusagen Anteile eines schlechteren Fonds mitnehmen, tung einer Finanzmarktpolitik zugunsten der Kunden.
weil im Rahmen der Verschmelzung das Interesse be- Wenn es mir abschließend noch erlaubt ist, dann möchte
steht, dem Anleger auch schlechte Portfolien aufzudrü- ich sagen: Beim Thema Geldwäsche muss man dieses
cken. Das hat die Bundesregierung in der Gegenäuße- gesetzgeberische Gewurstel als peinlich bezeichnen.
rung zum Bundesrat selbst eingeräumt. Es ist nicht Hier brauchen wir einen Gesamtansatz.
nachvollziehbar, warum hier nicht im Interesse des An-
legers gehandelt wird. Hier trifft der Vorwurf, den Herr Wir können den schlechten Teilen des Gesetzentwur-
Koch gemacht hat, zu. Sie setzen die Standortvorteile fes nicht zustimmen. Wir finden aber auch, dass wir die
der Fondsgesellschaften vor das Interesse von Kundin- guten nicht ablehnen können. Wir werden uns deswegen
nen und Kunden, und das lehnen wir ab. angesichts der Vielzahl von Regelungen enthalten. Wir
werden uns gegenüber den guten Punkten entsprechend
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, positionieren, aber zugleich auch die gravierenden Defi-
bei der SPD und der LINKEN) zite ansprechen, um in Zukunft für eine Korrektur zu
Es ist angesprochen worden, dass es auch ein Problem sorgen.
mit der Umsetzung gibt. Das ist in der Anhörung deut- Danke.
lich geworden. Es gibt eine Reihe von neuen Aufgaben
für die Aufsicht. Sie haben bisher nicht dargelegt, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Aufsicht in die Lage versetzt werden soll, diesen
nachzukommen. Ich habe große Sorge, dass die Aufsicht Vizepräsidentin Petra Pau:
mangels der entsprechenden Ressourcen nicht in der Der Kollege Brinkhaus hat für die Unionsfraktion
Lage sein wird, diese Regeln umzusetzen. jetzt das Wort.
(B) (D)
Ein weiterer Punkt ist richtig ärgerlich: Es gibt immer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
noch keine vollständige Kostentransparenz. Dieses Ge- der FDP)
setz wäre die Gelegenheit gewesen, national auch eine
Offenlegung der Transaktionskosten vorzuschreiben.
Das wollen Sie in der Koalition nicht, obwohl die Euro- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
päische Kommission empfiehlt, auch die Transaktions- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Womit
kosten auszuweisen. Dem Kunden wird also weiterhin beschäftigen wir uns zur Mittagszeit? Es geht in erster
suggeriert, dass die jetzt umbenannte Gesamtsumme der Linie darum, europäische Richtlinien für eine bestimmte
laufenden Kosten einen vollständigen Überblick über die Art von Fonds umzusetzen. Das tun wir hier. Da diese
Kosten eines Fonds liefert. Das bleibt aber weiterhin aber nur für eine bestimmte Art von Fonds gelten, haben
nicht der Fall, und das ist im Interesse der Kunden eben wir uns zugleich dazu entschlossen, entsprechende Re-
nicht die Transparenz, von der häufig gesprochen wird. gelungen auch für Fonds zu erlassen, die von den euro-
Wir wollen volle Kostentransparenz. päischen Richtlinien nicht erfasst werden, damit es zu
Transparenz kommt und gleiche Wettbewerbsbedingun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen herrschen. Ich glaube, das ist nicht zu kritisieren.
und bei der LINKEN)
Es ist ebenfalls nicht zu kritisieren, dass wir in einem
Ich will noch auf weitere Punkte eingehen, die im Ge- Kraftakt Steuerschlupflöcher schließen, die auf sehr
setzentwurf enthalten sind. Ein wichtiger Aspekt ist der komplizierte Weise genutzt werden konnten. Das ist mit
steuerliche Teil im Investmentsteuergesetz. Es ist richtig, einem wahnsinnigen Umbau des Steuererhebungsver-
dass an dieser Stelle versucht wird, ein wichtiges Steuer- fahrens verbunden.
schlupfloch bei der Kapitalertragsteuer zu schließen. Wir
sehen aber die Gefahr, dass eine kleine Lücke, die dabei Es ist wohl auch nicht zu kritisieren, dass wir dieses
noch bleibt, in der Zukunft größeren Schaden anrichtet. Gesetz außerdem nutzen, um einige andere Dinge mit
Konkret könnte es sein, dass ein in Deutschland be- auf den Weg zu bringen, wie zum Beispiel Regelungen
schränkt steuerpflichtiger ausländischer Investor, zum im Bereich der Geldwäsche und Nachbesserungen bei
Beispiel eine Gesellschaft, die auf den Cayman Islands dem eigentlich sehr guten Ansatz, mit dem wir Mikro-
sitzt, im Fonds Dividendenerträge erzielt, ohne dass die- finanzierung auf den Weg bringen wollten, was aber
ser Kapitalertragsteuer einbehalten muss, obwohl es sich nicht geklappt hat. Weiterhin gehören hierzu Regelungen
um ein Vermögen im Inland handelt. Es ist deshalb wenig zur Haftpflicht von Lohnsteuerhilfevereinen und noch
verständlich, dass Sie hier keine Bereitschaft hatten, das einige andere Sachen. Ich denke, all das ist richtig und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11849
Ralph Brinkhaus
(A) gut. Es ist ja auch in der einen oder anderen Bemerkung Verbraucher nicht ausreichend schützen und ihnen nicht (C)
vonseiten der Opposition angeklungen, dass dem so ist. genügend Informationen mit auf den Weg geben.
Werfen wir einmal einen Blick zurück auf das Gesetz- Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz ist im-
gebungsverfahren: Alle Berichterstatter dürften wohl mer eine Gratwanderung, eine Gratwanderung zwischen
festgestellt haben, dass sie hier an ihre Grenzen gestoßen Transparenz und Information auf der einen Seite und
sind, und zwar deswegen, weil das Investmentsteuerge- Bürokratie auf der anderen Seite. Er ist eine Gratwande-
setz wirklich nur etwas für Leute ist, die sich sehr, sehr rung zwischen Schutz auf der einen Seite und Bevor-
gerne mit Steuern beschäftigen, um das einmal vorsich- mundung auf der anderen Seite. Ich glaube, das verges-
tig auszudrücken. Diese Geschichte ist nämlich wahn- sen Sie hin und wieder. Ich möchte das auch an den
sinnig spezifisch. Beispielen erläutern, die Sie selbst gebracht haben.

An dieser Stelle sollte man der Öffentlichkeit einmal Herr Sieling, Sie haben gesagt, Anleger bekämen be-
folgenden Sachverhalt darstellen: Von uns als Parlamen- stimmte Informationen nicht, weil wir die entsprechen-
tariern wird erwartet, den Schiedsrichter zwischen den den Verpflichtungen im Gesetz abgeschwächt hätten. Ich
Vorlagen, die von der Regierung kommen, und den Inte- möchte einmal erläutern, um welche Informationen es
ressen, die vonseiten der Bevölkerung und den Verbän- geht – Kollege Sänger hat das eben ja auch schon ange-
den geäußert werden, zu spielen. Aber ganz ehrlich – ich sprochen –: Wenn Sie an einem Aktienfonds beteiligt
schaue jetzt einmal in die Augen der Coberichterstat- sind, werden Sie nach diesem Gesetz zeitnah darüber in-
ter –: Das Investmentsteuergesetz hat uns ein wenig über- formiert, wenn sich die Kostenstruktur ändert, wenn sich
fordert. Wenn wir weiterhin vernünftige parlamentari- die Anlagestrategie ändert oder wenn sich wesentliche
sche Arbeit machen wollen, ist wirklich zu hinterfragen, Vertragsbedingungen ändern wie zum Beispiel Kündi-
ob hierfür ein oder anderthalb Mitarbeiter ausreichen. gungsfristen, Rückgabemodalitäten und Ähnliches.
Auf der einen Seite steht das Finanzministerium mit meh- Auf der anderen Seite haben wir gesagt: Wenn jede
reren Tausend Mitarbeitern und auf der anderen Seite die kleine Änderung in den AGB dem Verbraucher per Brief
Finanzbranche mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Wir mitgeteilt werden würde, dann würde er es nicht mehr
aber sollen ein gutes Urteil fällen. Das fällt uns, ehrlich lesen. Es würde ein Informationsmüll auf ihm abgeladen
gesagt, hin und wieder recht schwer. An dieser Stelle ist werden, den er nicht mehr beherrschen kann. Insofern
es noch einmal gelungen. Wir sollten uns aber überlegen, wundere ich mich wirklich, dass Sie kritisieren, dass wir
ob das in Zukunft nicht anders vonstattengehen könnte. von der Unionsfraktion zusammen mit unserem liberalen
Partner versuchen, den Verbrauchern sinnvolle und ziel-
Nun zu der Kritik, die an diesem Gesetzentwurf geäu- gerichtete Informationen zukommen zu lassen, anstatt
ßert wurde. Fangen wir einmal mit der Kritik vonseiten sie mit Briefen zuzumüllen. Aus eigener Erfahrung wis- (D)
(B)
der Linken an. Lieber Kollege Koch, das, was Sie hier sen wir, dass wir solche Schreiben ungelesen in den Pa-
gebracht haben, stammte ja wohl eher aus dem Satzbau- pierkorb werfen.
kasten „Kapitalismusbeschimpfung für junge Pioniere“,
als dass es eine ernsthafte Kritik darstellte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Kollege Schick hat weiterhin kritisiert, dass wir
die Beweislast umgekehrt haben. Jetzt müsse der Ver-
Das hatte höchstens ein wenig Erheiterungswert. braucher beweisen, dass er den entsprechenden Brief
von der Kapitalanlagegesellschaft bekommen hat.
Ich möchte aber insbesondere auf ein Argument von
Ihnen eingehen, mit dem Sie, wie ich glaube, den Men- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
schen etwas Falsches suggerieren. Sie haben kritisiert, GRÜNEN]: Ja!)
dass es nicht gut sei, dass die OGAW-Richtlinie große Wie ist es denn vorher gewesen? Vorher hätte die Kapi-
Investmentfonds fördere und dass das zu zusätzlichen talanlagegesellschaft es beweisen müssen. Das hätte, zu
Risiken führe, und gesagt, dass das nicht Ihrem Bild ent- Ende gedacht, bedeutet, dass jeder Brief als Einwurfein-
spreche. Darüber kann man sich unterhalten. Das ist schreiben hätte aufgegeben werden müssen, weil sonst
überhaupt keine Frage. Sie sollten nur so ehrlich sein eine Beweisführung nicht möglich ist.
und den Menschen hier auf der Tribüne und an den Bild-
schirmen erzählen, dass wir diese Richtlinie umsetzen (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
müssen, ob wir sie gut finden oder nicht. Wenn Sie als GRÜNEN]: Wie soll es denn der Kunde be-
Linke hier so tun, als ob es die Freiheit gäbe, sie nicht weisen?)
umzusetzen, dann kann ich Ihnen den Vorwurf nicht er- Wir haben dann Folgendes gesagt: Wir machen es ge-
sparen, dass Sie sich hier unehrlich verhalten. Das sollte nauso wie das Finanzamt, das völlig unverdächtig ist,
nicht zum Stil in diesem Haus werden. irgendwelche falschen Regelungen anzuwenden. Das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Finanzamt schickt einen Brief ab, und es gibt eine Zu-
Koch [DIE LINKE]: Mindestlohn!) gangsfiktion, bei der davon ausgegangen wird, dass nach
drei Tagen der Brief des Finanzamts beim Bürger ange-
Bei dem, was außerdem an Kritik geäußert worden kommen ist. Wenn der Bürger sagt, der Brief sei nicht
ist, möchte ich mich auf einen Punkt konzentrieren, der bei ihm angekommen, dann schaut man beim Finanzamt
sowohl von der SPD als auch teilweise von den Grünen nach, ob alles korrekt verschickt worden ist. Wir machen
angesprochen wurde. Dabei geht es darum, dass wir die das jetzt analog: Die BaFin schaut bei der Kapitalanlage-
11850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Ralph Brinkhaus
(A) gesellschaft nach. Sie muss nachweisen, dass sie die or- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
ganisatorischen Voraussetzungen für diese Regelung ge-
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir sind die Partei
troffen hat. Das ist eine erhebliche Verbesserung. Herr
– da stehen wir eng an der Seite der Liberalen; das ver-
Schick und Herr Sieling, ich finde es schon ein bisschen
bindet uns –, die an den freien und mündigen Bürger
irritierend, dass Sie das kritisieren. Sie müssen den Men-
glaubt. Sie glauben nicht daran. Sie wollen die Men-
schen in diesem Land einmal erklären, warum diese Re-
schen gängeln und ihnen alles vorschreiben. Das ist Ihre
gelung für sie eine Verschlechterung darstellen soll.
Philosophie. Diese werden wir Ihnen nicht durchgehen
Selbst ein Gesetz zu OGAW – darauf will ich den lassen.
Rest meiner Redezeit verwenden – eignet sich dazu, ei-
Danke schön.
nige grundlegende Unterschiede zwischen dem Bild, das
Sie von unserer Gesellschaft haben, und dem Bild, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
wir von unserer Gesellschaft haben, herauszuarbeiten. ruf von der SPD: Holla!)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: In der Tat!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir haben immer noch das Bild vom mündigen Verbrau- Das Wort hat der Kollege Binding für die SPD-Frak-
cher vor Augen. Für uns zählen die Freiheit und die Frei- tion.
heit der Entscheidung.
(Beifall bei der SPD)
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Zur Sache!)
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Wir ermöglichen diese Freiheit. Dazu braucht es faire Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und transparente Märkte. Dafür schaffen wir gute Rah- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
menbedingungen. Brinkhaus hat schon recht: An dem Gesetzentwurf kann
man erkennen, welchen Staat wir wollen. Ich will an
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
eine Bemerkung von Herrn Aumer erinnern. Er hat, an-
Dr. Carsten Sieling [SPD]: Lobbyisten-
knüpfend an den vorherigen Tagesordnungspunkt, ge-
tum!)
sagt: Wir sollten die Lehren aus der Vergangenheit zie-
Das ist ein anderer Ansatz als der Ihrige. Sie wollen Ein- hen. – In der Vergangenheit hatten wir einen Atomstaat.
fluss darauf nehmen, wie sich die Menschen entschei- Jetzt haben Sie die Lehren daraus gezogen. Diese Lehre
den. hat Herr Aumer interessanterweise auf das OGAW über-
tragen und einen Vergleich mit der Finanzkrise herge-
(B) (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Quatsch! Wir stellt, die vielleicht einen Super-GAU mit Blick auf den (D)
wollen Informationen anbieten!) Finanzplatz darstellt. Wir wollten diesen schon immer
Denn Sie glauben, dass Sie es besser wissen als die Men- stärker regulieren als Sie. Interessanterweise haben Sie,
schen. Das ist Ihr Menschenbild. Sie wollen die Men- bezogen auf die Atomkraft, jetzt gelernt, dass es ganz
schen sozusagen zu Tode regulieren und schaffen an al- gut ist, wenn ein Staat hinreichend reguliert.
len Stellen neue Vorschriften und Gesetze. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN und der LINKEN)

Das kann man an dieser Diskussion sehen. Das Auch wir sind für Effizienz. Nur sind wir nicht für die
könnte ich auch an allen anderen Diskussionen festma- Effizienz des Marktes an sich; denn der Markt an sich
chen, die wir hier zum Verbraucherschutz geführt haben. hat gar keine Qualität.
Was von Rot und was von Grün kommt, ist Bürokratie, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Oh doch!)
das ist eine Vorschrift nach der anderen. Damit sollen die
Menschen in ihren Entscheidungen beeinflusst werden. Wir sind dafür, dass die Effizienz des Schutzes verbes-
Das ist nichts anderes als gesetzliche Gängelung. sert wird. Das ist ein wichtiger Punkt. Uns geht es dabei
um die Verbraucher. Das ist eine ganz wesentliche Sa-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf che, die vielleicht im Spannungsverhältnis der Erklärung
von der SPD: Quatsch! Blödsinn!) von Gerhard Schick liegt, der ausgeführt hat, warum sich
Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode ist, den die Grünen enthalten. Er sagte, sie werden sich enthal-
Menschen in diesem Land klarzumachen, was Sie für ei- ten, weil es im Gesetzentwurf gute und schlechte Teile
nen Staat wollen und was wir für einen Staat wollen. gibt. Ich glaube, wenn man einen Gesetzentwurf danach
beurteilt, müssten wir uns immer enthalten; denn es gibt
(Zurufe von der SPD: Oh!) kein Gesetz, das nur gut ist. Das ist so ähnlich wie mit
dem Orangensaft. Wenn drei Tropfen Arsen darin sind,
Vorgestern wurde in einem interessanten Artikel in einer beurteile ich ihn anders, als wenn sie fehlen. Das ist also
Zeitung festgestellt, dass Rot-Grün – man müsste eigent- eine komplizierte Sache.
lich Grün-Rot sagen – aus unserem Land einen Ponyhof
machen möchte. Ich sage dazu nur: Der Weg von einem Ich will aber auf die Gesamtschau abheben; denn wir
Ponyhof zu George Orwells Animal Farm ist nicht weit. ziehen ja die Lehren aus der Vergangenheit. Bei allem,
Das sollten wir beim Verbraucherschutz hin und wieder was wir im Moment tun, besteht die Gefahr, dass wir an-
beachten. gesichts unendlich vieler Einzelregelungen den Über-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11851
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) blick verlieren. Heute OGAW, gestern MiFID, morgen aus anderen Ländern, die uns sehr gefährlich werden (C)
Basel III, Solvency II, EMIR, REMI, MAD. Die Ener- können.
giehandelsunternehmen wollen auch schon wieder ihre
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das geht doch
Freiheiten und Ausnahmen haben. Wir sehen, wir reihen
gar nicht! Das steht doch gar nicht im Gesetz-
Ausnahme an Ausnahme und verlieren die Gesamt-
entwurf! Sie haben den Gesetzentwurf nicht
schau. Dadurch entsteht ein riesengroßes Problem. Übri-
verstanden!)
gens reicht das bis tief in die Anhörung. Da war ein
Mensch von der Deutschen Bank noch nicht einmal in Das bereitet den nächsten GAU vor. Deshalb sind wir
der Lage, seine eigenen Produkte zu erklären. Daran dagegen und lehnen den Gesetzentwurf ab.
sieht man, wie weit wir in diesem Markt gekommen
sind. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau:
GRÜNEN und der LINKEN) Ich schließe die Aussprache.
Das geht ja weiter. Wir haben einen Euro-Rettungs- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
fonds im Umfang von 700 Milliarden Euro geschaffen. desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
Was macht denn der Fonds? Es wird immer von Trans- zung der Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und
ferunion gesprochen. Da geht es nicht um Transferleis- Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organis-
tungen zwischen Staaten. Das ist ganz anders. Es geht men für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren. Der Fi-
um einen hochrisikoreichen Markt, nämlich den priva- nanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
ten. Wenn der versagt, infiziert er die Staaten, und die auf Drucksachen 15/5403 und 15/5417, den Gesetzent-
sollen dann zahlen. Diese Rechnung, denke ich, darf wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 15/4510
nicht aufgehen. und 15/4811 in der Ausschussfassung anzunehmen.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das hat auch Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
etwas mit Staatsverschuldung zu tun, Herr Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
Binding!) chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass die Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Leute, die private Risiken in exorbitanter Dimension Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
eingehen, hinterher auch dafür geradestehen. gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen angenommen. (D)
der LINKEN)
Dritte Beratung
Das ist derzeit nicht der Fall. Im Moment zahlt immer
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
der Staat, oder es zahlen die Staaten aus Europa. Wenn
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
wir da keinen Riegel vorschieben, haben wir ein riesen-
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
großes Problem.
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
Ich will zur Trennung von Verwaltungsgesellschaften FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und
und Investmentvermögen oder Depotbanken – bezogen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
auf grenzüberschreitende Niederlassungen und Ver- Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
schmelzungen ist schon etwas erwähnt worden – nur sa- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
gen: Wenn das immer zu den Bedingungen des Her-
kunftsstaates passiert, dann infizieren wir die Staaten mit Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
guten Verhältnissen mit den Verhältnissen der schlechten richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
Staaten, und das wollen wir nicht. Das ist ein systemati- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
scher Fehler in diesem Gesetz. Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sie glauben
nicht an Europa!) Für ein modernes Patientenrechtegesetz
Ganz aktuell vielleicht: Wenn man die Hedgefonds in – Drucksachen 17/907, 17/5227 –
der Weise europäisch mischt, dann verdirbt man eine ex- Berichterstattung:
zellente Regelung, die vor sieben oder acht Jahren ge- Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus
troffen wurde, mit der wir Hedgefonds erlaubt, diese
aber so reguliert haben, dass dadurch in Deutschland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
kein Verbraucher geschädigt wird. Deshalb gibt es auch Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
nur 14, und deshalb sind dort auch nur 2 Milliarden Euro höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
investiert und nicht 80 Milliarden, wie die Banker be-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
hauptet haben. Aber wenn man das in der Weise regu- gin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion.
liert, wie es der Entwurf des OGAW-IV-Umsetzungsge-
setzes vorsieht, dann infizieren wir praktisch den guten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
deutschen Hedgefondsmarkt mit Hedgefondsvorgängen der CDU/CSU)
11852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

(A) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Erstens. Bewilligungsverfahren von Sozialversiche- (C)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rungsträgern sollen verkürzt werden. Dies ist ein ganz
In unserer Koalitionsvereinbarung mit der Union haben zentraler Punkt im erlebten Alltag der Versicherten. Dem
wir uns verpflichtet, die Rechte von Patientinnen und Patienten ist es doch mehr oder weniger egal, an welcher
Patienten in einem eigenen Gesetz zu regeln. Denn Stelle im Gesetz genau steht, welche Rechte er hat.
Patientensouveränität und Patientenrechte sind uns ein Wichtig ist ihm aber, dass er die Leistungen, die ihm zu-
wichtiges Anliegen. Das habe ich an dieser Stelle schon stehen, schnellstmöglich erhält. Wir sorgen für kürzere
mehrfach betont. Bewilligungsverfahren, und zwar zum Wohle der Patien-
ten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Daran wird sich auch nichts ändern. Insoweit sind wir
Mechthild Rawert [SPD]: Wieder nur große
uns mit der SPD im Grunde einig.
Ankündigungspolitik!)
(Zuruf von der SPD: Das ist doch schön!)
Genau in diesem Sinne, im Sinne des konkreten Nutzens
Ihren Antrag werden wir dennoch ablehnen; denn an für die Versicherten, werden wir die Verfahrensrechte
vielen Stellen offenbaren Sie ein Menschenbild, das mit bei einem Behandlungsfehlerverdacht stärken, nämlich
dem unsrigen nicht übereinstimmt. mit einheitlichen Schlichtungsverfahren, Mediation und
spezialisierten Kammern bei den Landgerichten.
(Zuruf von der SPD: Das beruhigt uns!)
Sie leiten die berechtigten Interessen und Bedürfnisse Ganz wichtig ist uns auch die Förderung der Fehler-
der Patienten aus einer Opferrolle ab. Das wird den vermeidungskultur.
Menschen aber nicht gerecht. (Zuruf von der SPD: Ja, das brauchen Sie auch
(Beifall bei der FDP) bei der Politik!)

Für uns sind Patienten nicht per se die Opfer, die Ge- Behandlungsfehlern vorzubeugen, hat höchste Priorität.
schädigten oder die Getäuschten, deren schwache Posi- Ich denke, da sind wir uns einig. Risikomanagement und
tion man gegenüber den übermächtigen Ärzten stärken Fehlermeldesysteme in der stationären und ambulanten
muss. Nein, ich bleibe dabei: Patienten und Ärzte sind Versorgung werden gestärkt. Im Rahmen der Verpflich-
Partner. tung zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement
wird das Beschwerdemanagement in den Krankenhäu-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sern vorgeschrieben.
(B) der CDU/CSU) (D)
Da wir Behandler und Patienten als Partner begreifen
Wir wollen den souveränen, aufgeklärten Patienten, und nicht als Gegner, legen wir auf die Schaffung finan-
der seine Rechte kennt und nutzt. Deshalb haben wir die zieller Anreize großen Wert: zur Einführung eines Feh-
unabhängige Patientenberatung zu einem festen Be- lervermeidungssystems, zum Beispiel im Rahmen von
standteil des deutschen Gesundheitswesens gemacht. Qualitätszuschlägen – ambulant und stationär –, sowie
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten durch Transparenzvorgaben, insbesondere für den Quali-
der CDU/CSU) tätsbericht der Krankenhäuser.
Jetzt haben wir eine neutrale UPD, die ihrer Seismogra- Wir dürfen bei alledem nicht die Leistungserbringer
fenfunktion gerecht werden kann. In einem nächsten vergessen, die tagtäglich den Herausforderungen des
Schritt werden wir ein Patientenrechtegesetz vorlegen. Medizineralltags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Pa-
Mit diesem Gesetz verfolgen wir das Ziel, Transparenz tientenrechte darf deshalb nicht auf dem Prinzip des
über die heute bereits bestehenden umfangreichen Misstrauens aufgebaut werden. Zwei Dinge müssen uns
Rechte der Patienten herzustellen. Nur wer seine Rechte klar sein:
kennt, kann als mündiger Patient selbstbewusst gegen-
über Behandlern und Krankenkassen auftreten. Erstens. Ärzte dürfen nicht mit immer mehr unnöti-
gen Dokumentationspflichten überlastet werden.
Darüber hinaus wollen wir zum einen die tatsächliche
Durchsetzung dieser Rechte verbessern und zum ande- Zweitens. Durch weitere Beweiserleichterungen, die
ren insbesondere in Fällen von Behandlungsfehlern den über die Rechtsprechung hinausgehen, gerät man schnell
Patienten stärker unterstützen. Gleichzeitig sollen die in eine Situation der Defensivmedizin. Diese Defensiv-
Patienten im Sinne einer verbesserten Gesundheitsver- medizin kann bei einer überzogen vorsichtigen Haltung
sorgung geschützt werden. Daher freue ich mich sehr, schlimmstenfalls zur Behandlungsverweigerung führen.
dass unsere Minister Philipp Rösler und Sabine
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was unterstel-
Leutheusser-Schnarrenberger ein Papier vorgelegt ha-
len Sie denn hier den Ärzten?)
ben, das den im Koalitionsvertrag formulierten Ansprü-
chen mehr als gerecht wird. Es kann aber auch zu einer extremen Überversorgung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des Patienten kommen. Mit beidem ist den Patienten
nicht gedient. Ich verweise in diesem Zusammenhang
Ich möchte einzelne Punkte aufgreifen, weil sie mir nur auf die übermäßige Strahlenbelastung bei häufigem
besonders wichtig sind. Röntgen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11853
Christine Aschenberg-Dugnus
(A) Wir wollen keine Kultur des Misstrauens. Wir bauen (Beifall bei der SPD – Christine Aschenberg- (C)
auf das Prinzip von Vertrauen und Fairness. Dugnus [FDP]: Für uns auch!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das haben wir in der Regierungszeit von Rot-Grün
der CDU/CSU) bewiesen. Wir haben das Amt des Patientenbeauftragten
der Bundesregierung eingeführt; sonst könnte Herr
Deshalb gibt es weder eine allgemeine Beweislast-
Zöller dieses Amt heute nicht bekleiden. Wir haben die
umkehr bei Behandlungsfehlerverdacht noch über das
unabhängige Patientenberatung eingeführt. Das ist ein
Richterrecht hinausgehende weitere Beweiserleichterun-
Erfolgsmodell, das jetzt in die Regelversorgung über-
gen. Wir kodifizieren das Richterrecht. Die von der
führt worden ist.
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze und Instru-
mente zur Beweislastverteilung werden in das Bürgerli- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das
che Gesetzbuch eingefügt. Diese angemessene Beweis- haben aber wir gemacht!)
lastverteilung wird den Ansprüchen, Rechten und
Pflichten aller Beteiligten gerecht. Außerdem haben wir dafür gesorgt, dass Patientenvertre-
ter in dem Gremium sitzen, das entscheidet, welche
Wenn wir über das Arzthaftungsrecht sprechen, muss Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung
uns klar sein: Für eine Haftung des Arztes müssen drei übernommen werden.
Voraussetzungen erfüllt sein:
(Beifall bei der SPD)
Erstens. Es muss eine ärztliche Pflichtverletzung vor-
liegen, also eine Verletzung des geltenden medizinischen Deswegen ist es folgerichtig, dass wir einen Antrag
Standards. für ein Patientenrechtegesetz vorgelegt haben, den wir
heute beraten. Patienten haben Rechte, die sie häufig
Zweitens. Es muss ein Gesundheitsschaden eingetre- nicht kennen. Sie kennen diese Rechte nicht, weil diese
ten sein. Rechte verstreut in unterschiedlichen Gesetzen niederge-
Drittens. Es muss ein eindeutiger Ursachenzusam- legt sind, im Sozialgesetzbuch, im Bürgerlichen Gesetz-
menhang bestehen. Um genau diesen Ursachenzusam- buch, aber auch in Berufsordnungen. Von daher ist es
menhang geht es. Bei Fragen des beherrschbaren Risi- richtig und wichtig, dass wir das in einem Gesetz zusam-
kos, bei Befunderhebungsmängeln und bei groben menführen, und zwar in einem Patientenrechtegesetz.
Behandlungsfehlern gilt durch die Rechtsprechung be- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das
reits die Beweislastumkehr. Eine darüber hinausgehende machen wir ja auch!)
Beweislastumkehr zulasten der Ärzte wird es mit uns
Dabei geht es nicht nur darum, mehr Übersichtlich-
(B) nicht geben; keit für die Patienten zu schaffen, sondern auch für die (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ärztinnen und Ärzte; denn manchmal kennen auch
der CDU/CSU) meine Arztkollegen die Rechte von Patientinnen und Pa-
denn wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse. tienten nicht so ganz genau.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ja mal Wir können dabei gleichzeitig Lücken schließen.
was Neues!) Zum Beispiel muss gesetzlich verankert werden, dass
bei der Aufklärung von Patientinnen und Patienten auch
Wir wollen keine Defensivmedizin. Wir wollen keine über Alternativen zu einer diagnostischen Methode oder
Kultur des Misstrauens. Wir wollen bestmögliche Ver- zu einer bestimmten Therapie informiert wird.
sorgung auf der Basis von Vertrauen und Fairness zum
Wohle der Patientinnen und Patienten in Deutschland. Wir wollen viel mehr, als nur das jetzt schon geltende
Recht zu kodifizieren. Ein ganz wichtiger Punkt ist die
Danke. sichere Behandlung von Patientinnen und Patienten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Nun kann man sagen: Das ist doch eine Selbstverständ-
Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ lichkeit. – Ja, eigentlich schon, aber es ist leider Tatsa-
DIE GRÜNEN]: Was war denn jetzt mit dem che, dass in Deutschland mehr Menschen an den Folgen
SPD-Antrag?) von Behandlungsfehlern in Krankenhäusern sterben als
durch Verkehrsunfälle. Von daher können wir da nicht
ruhig bleiben, sondern müssen sagen: Wir wollen Feh-
Vizepräsidentin Petra Pau: lervermeidungssysteme in allen Krankenhäusern ver-
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin bindlich vorschreiben. – Es gibt Krankenhäuser, die das
Dr. Volkmer das Wort. schon jetzt auf freiwilliger Basis machen. Das ist richtig
(Beifall bei der SPD) und gut, aber das reicht uns nicht. In jedem Krankenhaus
muss das geschehen.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Natürlich werden überall dort, wo gearbeitet wird,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fehler gemacht. Das ist ganz normal. Aber es ist vor al-
Für die SPD ist die Selbstbestimmung der Menschen und len Dingen wichtig, dass Fehler und Beinahefehler er-
damit auch die Selbstbestimmung der Patientinnen und fasst werden, um daraus Rückschlüsse für zukünftiges
Patienten ein hohes Gut. Von daher haben für uns die Pa- Arbeiten und für die Sicherheit ziehen zu können. Des-
tientenrechte einen ganz hohen Stellenwert. wegen halten wir es für dringend erforderlich, dass Men-
11854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Dr. Marlies Volkmer


(A) schen, die einen eigenen oder einen fremden Fehler mel- tienten? Wir glauben nicht, dass Patienten unbedingt (C)
den, keine arbeitsrechtlichen Sanktionen befürchten schützenswert sind.
müssen.
(Jörg van Essen [FDP]: Wir aber schon!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber wir glauben, dass Patienten ganz klar über ihre
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Rechte Bescheid wissen müssen, damit sie fachgerecht
GRÜNEN)
entscheiden können, gemeinsam mit dem Arzt. Wir hal-
Ein Patientenrechtegesetz muss aber auch die Opfer ten eine Verbesserung ihrer Situation bei Behandlungs-
von Behandlungsfehlern stärken. Zum Beispiel wollen fehlern für notwendig. Hier ist der Patient tatsächlich in
wir gesetzlich vorschreiben, dass Nachbehandler bei einer sehr ungünstigen Position.
Verdacht auf einen groben Behandlungsfehler den Pa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tienten darauf aufmerksam machen müssen. Wir wollen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sowohl die gesetzlichen als auch die privaten Kranken-
kassen verpflichten, im Falle des Verdachtes eines Be-
handlungsfehlers die Versicherten zu unterstützen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die
Eine Schwierigkeit für die betroffenen Patientinnen Unionsfraktion.
und Patienten ist der Nachweis der Kausalität. Dabei
geht es um die Frage, ob der Gesundheitsschaden tat-
Erwin Rüddel (CDU/CSU):
sächlich aufgrund eines Behandlungsfehlers eingetreten
ist oder ohnehin aufgrund einer anderen Erkrankung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
oder der Erkrankung, wegen der der Betroffene behan- und Herren! Grundsätzlich stelle ich hier im Haus einen
delt wird, eingetreten wäre. Wir fordern bei groben Be- großen Konsens fest. Wir wollen die Rechte der Patien-
handlungsfehlern in bestimmten Fällen eine Beweislast- ten und Patientinnen stärken, und wir wollen das Ver-
umkehr, zum Beispiel dann, wenn Dokumentationen hältnis Arzt–Patient auf eine saubere Grundlage stellen
nicht vollständig sind oder wenn diese Dokumentationen und damit insgesamt transparenter machen. Wir kündi-
den Gerichten nur verzögert oder scheibchenweise zur gen nicht nur an, sondern wir werden in diesem Jahr den
Verfügung gestellt werden. Entwurf eines Patientenrechtegesetzes vorlegen!

(Beifall bei der SPD) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]:


Richtig!)
Um das noch einmal ganz klar zu sagen: Eine gene-
Das künftige Regelwerk wird zwei Bedingungen erfül-
relle Beweislastumkehr wollen wir nicht; denn da sehen
(B) auch wir Gefahren für den Patienten. Es könnte sein, len: Es wird Vorschriften bündeln und die Rechte der Pa- (D)
tienten in vielfältiger Weise stärken.
dass die Versicherungen dann sehr hohe Beiträge verlan-
gen und dass gefährliche Eingriffe bei Patientinnen und Die christlich-liberale Koalition hat die Absicht, mit
Patienten nicht durchgeführt werden. Es stimmt nicht, den konkreten Beratungen über ein Patientenrechtege-
dass wir eine generelle Beweislastumkehr fordern; mit setz zu beginnen, um die Rechte der Patienten im Um-
dieser Behauptung soll nur Stimmung gegen ein solches gang mit Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen
Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte gemacht wer- zu verbessern und die Versicherten vor Behandlungsfeh-
den. lern stärker zu schützen. Dabei ist uns ein zentrales An-
liegen, den Patientinnen und Patienten mehr Souveräni-
Sehr wichtig ist uns auch die Stärkung der kollektiven
tät im Umgang mit Ärzten zu verschaffen, sie zu
Rechte von Patientinnen und Patienten. Ich habe schon
Partnern auf Augenhöhe zu machen und gleichzeitig das
gesagt, dass wir die Beteiligung von Patientenvertretern
notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Pa-
im Gemeinsamen Bundesausschuss eingeführt haben.
tient nicht zu zerstören.
Jetzt geht es darum, ein Stimmrecht der Patientenvertre-
ter zumindest in Verfahrensfragen in dem Gemeinsamen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bundesausschuss auf den Weg zu bringen.
Wir wollen eine ausgewogene Balance der Interessen
Heute liegt Ihnen ein ziemlich umfassender Antrag und sehen keinen Sinn darin, einzelne Gruppen in unse-
vor, in dem wir beschreiben, wie wir uns die Ausgestal- rem Gesundheitssystem gegen andere Gruppen in Stel-
tung eines Patientenrechtegesetzes vorstellen. Das, was lung zu bringen.
bisher vonseiten der Koalition vorgelegt worden ist,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
würde ich nur als Ankündigung bezeichnen. Es besteht
der FDP)
nämlich nicht einmal Einigkeit darüber, welchen Status
Ihr Papier hat. Manche sagen, es sei ein Eckpunktepa- Deshalb haben wir den vorliegenden Antrag der SPD im
pier; manche sagen, es sei ein Positionspapier. Gesundheitsausschuss abgewiesen. Wir halten ihn für
nicht zielgenau und für überzogen. Ich nenne stellvertre-
Es besteht bei Ihnen noch nicht einmal Einigkeit da-
tend nur das Stichwort „Leichenschau“.
rüber, wie das Gesetz heißen soll. Herr Zöller, Sie spre-
chen immer von einem Patientenrechtegesetz; das finde Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass
ich sehr gut. Aber es gibt viele Kollegen, gerade in der sich selbst das in der vergangenen Legislaturperiode von
FDP, die von einem Patientenschutzgesetz sprechen. Da der SPD geführte Gesundheitsministerium seinerzeit ge-
frage ich Sie: Welchen Blick haben Sie denn auf die Pa- hütet hat, sich diese Vorstellungen der SPD-Fraktion zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11855
Erwin Rüddel
(A) eigen zu machen. Umso mehr begrüße ich das vom mentationspflichten sowie die Vereinheitlichung des au- (C)
Patientenbeauftragten der Bundesregierung jüngst vor- ßergerichtlichen Schlichtungsverfahrens bei den Ärzte-
gelegte Grundsatzpapier. kammern. Wir stärken die Rechte der Patienten auf
Akteneinsicht, wir fördern das Beschwerdemanagement
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
in den Krankenhäusern, und wir werden nachhaltig die
neten der FDP)
Fehlervermeidung vorantreiben, indem wir die Einfüh-
Namens der CDU/CSU-Fraktion danke ich unserem rung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen
Kollegen Wolfgang Zöller für seine Arbeit. forcieren. Ferner werden wir die Beteiligung der Patien-
ten – zum Beispiel im Gemeinsamen Bundesausschuss –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ausweiten und die künftigen Aufgaben des Patientenbe-
Er hat in zahllosen Gesprächen mit allen gesellschaftli- auftragten präzisieren.
chen Gruppen und allen Beteiligten in unserem Gesund-
Ein Schwerpunkt unserer Vorhaben betrifft Behand-
heitswesen einen breiten gesellschaftlichen Konsens für
lungsfehler. Hier wollen wir in einfachen Fällen – wie
dieses Grundlagenpapier hergestellt. Mein Dank gilt
bisher –, dass sich der Patient an die Schlichtungsstelle
ebenso dem Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler
der zuständigen Ärztekammer wendet. Bereits heute
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wo ist er denn?) werden rund 70 Prozent der Streitfälle auf diese Weise
außergerichtlich geklärt. Kommt es zu einem Haftungs-
und der Frau Bundesjustizministerin, die beide engagiert
prozess, gelten die von der Rechtsprechung entwickelten
und konstruktiv an diesem Papier mitgearbeitet haben.
Instrumente zur Beweislastverteilung, die in das BGB
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufgenommen werden; denn wir haben nicht die Ab-
sicht, Ärzte unter Generalverdacht zu stellen.
Die Vorschläge des Patientenbeauftragten sind von
der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundes- Allerdings werden wir bei groben Behandlungsfeh-
vereinigung und dem GKV-Spitzenverband positiv auf- lern verbindlich festschreiben, dass der Arzt nachweisen
genommen worden. muss, den Schaden nicht verursacht zu haben. Weiter
werden Länder und Ärztekammern angehalten, dafür zu
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Und von den
sorgen, dass Ärzte über eine entsprechende Berufshaft-
Patientinnen und Patienten?)
pflichtversicherung verfügen. Zudem werden die bislang
Die Bundesärztekammer würdigt das Papier als gutes in jedem Bundesland unterschiedlich geregelten Schlich-
Ergebnis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Die tungsverfahren bei ärztlichen Behandlungsfehlern ver-
Kassenärztliche Bundesvereinigung begrüßt, dass damit einheitlicht. Die Kranken- und Pflegekassen sollen ihren
die Rechte der Patienten gestärkt werden und ihre Betei- Versicherten künftig Hilfestellung bei der Durchsetzung
(B) (D)
ligung in der Selbstverwaltung ausgebaut wird. von Schadenersatzansprüchen geben, indem sie die Pa-
tienten – etwa durch medizinische Gutachten – unterstüt-
Der GKV-Spitzenverband beurteilt die Vorschläge zen und so dazu beitragen, oft jahrelang dauernde ge-
ausdrücklich als sehr positiv. Auch der Bundesverband richtliche Auseinandersetzungen zu beschleunigen.
der Verbraucherschützer bewertet die Eckpunkte als
Schritt in die richtige Richtung. Die Kassen können schon heute ihre Versicherten bei
der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen unterstüt-
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Schrittchen!)
zen; ich denke aber, wir sollten aus dieser Kann-Rege-
Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, lung eine verbindlichere Lösung für die Versicherten
das Jahr 2011 zum Jahr der Patienten zu machen, und entwickeln.
wir halten Wort.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Punkt, den ich für besonders wichtig halte. Es geht um
die Einführung einer Frist, innerhalb derer die Kranken-
Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetzlich
kassen über Reha- und Hilfsmittelanträge entscheiden
verankert. Wir haben den Gesetzentwurf zur durchgrei-
müssen. Der Patientenbeauftragte schlägt vor, Anträge
fenden Verbesserung der Krankenhaushygiene einge-
nach Ablauf einer Frist als genehmigt gelten zu lassen.
bracht. Gestern haben wir über das 5,5-Milliarden-Euro-
Das ist eine bedeutende Verbesserung für die Patientin-
Programm zur Erforschung der Volkskrankheiten debat-
nen und Patienten in Deutschland. Ebenfalls in diesen
tiert. Wir haben heute die Eckpunkte für ein umfassen-
Zusammenhang gehört die Prüfung der Frist, nach der
des Versorgungsgesetz vorgelegt – Stichworte hierzu:
Patienten bei den Sozialgerichten gegen ausstehende
flächendeckende Bedarfsplanung und Versorgungsge-
Entscheidungen der Sozialversicherung klagen können;
rechtigkeit für den ländlichen Raum. Wir werden mit
hier denken wir daran, diese Frist von sechs auf zwei
dem Patientenrechtegesetz die Kräfte im Gesundheits-
Monate zu verkürzen.
wesen so ausbalancieren, dass die Patienten gestärkt
werden, ohne das unabdingbare Vertrauensverhältnis Alle diese Maßnahmen entsprechen dem Leitbild ei-
zwischen Arzt und Patient zu beschädigen. nes souveränen und mündigen Patienten, der seine
Rechte kennt – und genau darum geht es. Der Patienten-
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
beauftragte der Bundesregierung hat es so ausgedrückt:
Zu den Kernpunkten unseres Vorhabens gehören die Die Patientinnen und Patienten sollen ihr Gesundheits-
Verankerung des Behandlungsvertrags im BGB, die system als gerecht empfinden. – Das bedeutet: Patienten
gesetzliche Klarstellung der Aufklärungs- und Doku- dürfen nicht das Gefühl haben, Bittsteller zu sein. Sie
11856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Erwin Rüddel
(A) dürfen sich gegenüber Leistungsträgern und Leistungs- Worüber reden wir jetzt eigentlich? Dazu will ich Ih- (C)
erbringern nicht ohnmächtig fühlen. nen einmal eine Geschichte aus meiner Heimat erzählen,
die sich etwa vor einer Woche zugetragen hat. Es wäre
Es geht uns in diesem Jahr der Patienten darum, den ganz gut, wenn Sie zuhören würden, weil das nicht er-
Menschen, der krank ist, mit Nachdruck in den Mittel- freulich ist:
punkt unseres Gesundheitssystems zu stellen; denn das
ist der Platz, der ihm zusteht und auf den er Anspruch (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir
hat. Es geht uns gleichzeitig aber auch um einen ver- hören immer zu!)
nünftigen Ausgleich der Interessen von Patienten und
Ein 83-jähriger blinder Mann kommt zu einer Untersu-
Leistungserbringern.
chung ins Krankenhaus. Dort erleidet er einen Kreislauf-
Nur gemeinsam mit Ärzten und Krankenkassen kön- zusammenbruch und wird stationär aufgenommen. Nach
nen wir ein Patientenrechtegesetz machen, das seinen einigen Untersuchungen wird er entlassen und mit ei-
Namen verdient. Wir wollen keine Grabenkämpfe, son- nem Krankenwagen nach Hause gebracht: allein, im
dern ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis auf OP-Hemd und noch mit der Infusionsnadel im Arm.
Augenhöhe. Dieses Ereignis ist einfach mehr als ein Fehler, den
Es bleibt dabei: Alle Fraktionen dieses Hauses sind Menschen nun einmal machen. Für mich ist das Aus-
eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten. druck eines Gesundheitswesens, das immer mehr von
der Ökonomie beherrscht wird, in dem der Patient nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr ein leidender Mensch ist, dem zu helfen ist, son-
dern so etwas wie ein Werkstück, das im Fließbandtakt
Vizepräsidentin Petra Pau: die Fabrik durchläuft, und in dem die Pflegenden und
Das Wort hat die Kollegin Vogler für die Fraktion Die Behandelnden immer mehr zu selenloser und entwürdi-
Linke. gender Fließbandarbeit gezwungen werden.
Die Linke setzt sich deswegen für ein Gesundheits-
(Beifall bei der LINKEN)
wesen ein, das allen Menschen barrierefrei und unabhän-
gig von ihrem Einkommen eine gute medizinische Ver-
Kathrin Vogler (DIE LINKE): sorgung garantiert. Ich finde es ganz wichtig, dass die
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Wahrung ihrer Würde und Selbstbestimmung dabei stär-
und Kollegen! Herr Rüddel, ich hatte es bisher immer so ker als bisher in den Mittelpunkt gerückt wird.
verstanden, dass der Herr Minister Rösler dieses Jahr
(Beifall bei der LINKEN)
(B) zum Jahr der Pflege erklärt hat. Sie haben es jetzt zum (D)
Jahr der Patienten gemacht. Die derzeitigen Rechte für Patientinnen und Patienten
– ich glaube, darin sind wir alle uns einig – finden sich in
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das gehört doch zu- vielen Einzelgesetzen wieder, und vieles ist gar nicht ge-
sammen!) setzlich geregelt, sondern ergibt sich nur aus der Recht-
Vielleicht einigen Sie sich da koalitionsintern, damit wir sprechung.
wissen, was jetzt eigentlich angesagt ist. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]:
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Multi- „Nur“?)
tasking!) Ich glaube, die Patientinnen und Patienten haben den
Ich habe einmal das Wort „Patientenrechte“ gegoogelt Gerichten in Deutschland in den letzten Jahren tatsäch-
und 143 000 Einträge gefunden. Bei demselben Begriff lich mehr zu verdanken als der Politik.
auf Englisch oder Spanisch erhalte ich jeweils 17 Millio- Der Antrag mit dem Titel „Für ein modernes Patien-
nen Einträge, und wenn ich den französischen Begriff tenrechtegesetz“, den die SPD hier vorgelegt hat, hat ja
eingebe, sind es sogar 19 Millionen Einträge. schon vor einem Monat seinen ersten Geburtstag gefei-
(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Sie haben eine ert.
neue Zählmaschine! Das war gestern auch (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Darum
schon so!) diskutieren wir das ja hier auch!)
Wenn ich ihn auf Niederländisch eingebe, sind es im- Er kann also schon fast laufen. Er enthält einige rich-
merhin noch 219 000 Einträge. Zumindest hinsichtlich tige und wichtige Gedanken – das möchte ich auch un-
der öffentlichen Wahrnehmung scheint es mit den Pa- terstützen –, wie den Entschädigungsfonds und die Re-
tientenrechten in Deutschland und im deutschsprachigen gulierung der sogenannten IGeL. Man merkt ihm aber
Raum nicht ganz so weit her zu sein, wie uns das hier doch noch ein bisschen seine Entstehungsgeschichte an.
immer dargestellt wird.
Gleich zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie ihn
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das eilig aus dem zusammengezimmert, was Sie in der ge-
machen wir jetzt an Google-Einträgen fest? – meinsamen Regierungsarbeit mit der CDU/CSU liegen-
Heinz Lanfermann [FDP]: Geben Sie einmal lassen mussten. Die Linke – auch ich – kann sicher mit
„Kommunismus“ ein, und schauen Sie, was Ihnen mitgehen, wenn Sie fordern, die Rechte der Patien-
dabei herauskommt!) tinnen und Patienten zusammenzufassen und zu stärken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11857
Kathrin Vogler
(A) Ich kann es mir aber nicht verkneifen, Sie daran zu erin- über einen SPD-Antrag, der es unserer Meinung nach (C)
nern, dass Sie bis 2009 die Verantwortung für das Justiz- verdient hat, gewürdigt zu werden.
und das Gesundheitsministerium hatten. Insofern stellt
(Beifall bei der SPD)
sich die Frage, warum Sie damals nicht eine der Maßnah-
men durchgesetzt haben, die Sie jetzt von Schwarz-Gelb Herr Rüddel, wenn Sie anbieten, gemeinsam Positio-
fordern. nen zu entwickeln, dann hätte es Ihnen auch gut ange-
standen, das zu tun. Denn in diesem Hause gibt es eine
(Jörg van Essen [FDP]: Bei Ulla Schmidt stellt
relativ breite Übereinstimmung darin, auf ein modernes
sich die Frage nicht!)
partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patien-
Meiner Ansicht nach hätten Sie die 13 Monate Liege- ten zu setzen, statt einen Konflikt zwischen ihnen he-
zeit dafür nutzen können, den Antrag nachzubessern und raufzubeschwören. Zum einen stellt sich die Frage, wel-
konkreter zu machen; denn bei der Anhörung im Ge- che Rahmenbedingungen wir brauchen. Zum anderen
sundheitsausschuss sind seitens der Patientinnen- und müssen wir in den Fällen, in denen die Patienten
Patientenorganisationen einige gute Impulse gekommen. schwach sind und sich nicht durchsetzen können, unsere
Das haben Sie leider versäumt. Deswegen und wegen Schutzfunktion als Gesetzgeber wahrnehmen. Diese
des völlig überzogenen Eigenlobs in der Einleitung muss Punkte gehören eng zusammen.
sich die Linksfraktion leider in der Abstimmung enthal- Ich glaube – das kann man auch als politischer Wett-
ten.
bewerber sagen –, der SPD-Antrag wird in großen Teilen
Es gibt aber erhebliche Schnittmengen zwischen un- beiden Punkten gerecht.
seren Auffassungen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dann, wenn die Regierungsfraktionen ihren schon lange und bei der SPD)
angekündigten Gesetzentwurf vorlegen, gemeinsam un-
sere Alternativvorschläge formulieren. – Genau. Das können Sie gerne bestätigen. – Denn in
dem Antrag werden verschiedene Aspekte angespro-
Die von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte chen, zum Beispiel die Frage, was an Information nötig
zum Patientenrechtegesetz lassen befürchten, dass der ist, welche Unterstützung im Verlauf der Leistungser-
lang und breit angekündigte Entwurf nicht die nötige bringung gegeben sein muss und was an Fehlervermei-
Weite haben wird und nicht mehr als ein kleiner Hopser dungskultur und Qualitätssicherungssystemen erforder-
wird: kein Satz zum Entschädigungsfonds, kein Ge- lich ist. Er geht darauf ein, was nötig ist, um die
danke an Beweiserleichterung. Lediglich den Kranken- Behandlungssituation insgesamt sicherer zu machen,
kassen wollen Union und FDP neue Lasten auferlegen. und welche Unterstützung diejenigen brauchen, die Op-
(B) Ich fand es schon symptomatisch, dass Sie in der An- fer eines Behandlungsfehlers geworden sind, aus wel- (D)
hörung die anwesenden Patientenvertreter fast völlig ig- chen Gründen auch immer er gemacht worden ist.
noriert haben. Was sie zu sagen hatten, schien für Sie Von daher ist dem Antrag Respekt zu gewähren. Von
völlig uninteressant zu sein. unserer Seite heißt das nicht, dass wir alle Punkte ab-
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kol- schließend behandelt finden. Es gibt etliche Positionen,
legen von der Koalition, machen Sie es sich bitte nicht die wir gerne genauer gefasst hätten, und Etliches ist
so einfach. Wenn man etwas im Sinne der Menschen er- durch den Lauf der Ereignisse längst erledigt. Die unab-
reichen will, muss man sich eben auch manchmal mit hängigen Beratungsstellen müssten aus unserer Sicht
Lobbygruppen anlegen. viel stärker ausgebaut werden, wenn wir dem Anspruch
gerecht werden wollten, tatsächlich für Information und
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Damit Unterstützung von Patienten auf gleicher Augenhöhe zu
haben Sie Erfahrung!) sorgen.
Wenn Ihnen dazu der Mut fehlt, dann überlassen Sie das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Regieren bitte anderen. Denn Regieren ist nichts für der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])
Feiglinge.
So viel zum Antrag.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
[Berlin] [FDP]: Selbst das haben Sie vom Blatt Jetzt komme ich zu dem, wofür Sie von der Koalition
abgelesen!) den heutigen Tag auch genutzt haben, nämlich das ge-
meinsam vereinbarte Grundlagenpapier für ein Patien-
tenrechtegesetz vorzustellen und auch ein bisschen zu
Vizepräsidentin Petra Pau: feiern. In der Tat gebührt dem Patientenbeauftragten der
Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die Bundesregierung insofern ein Lob,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE als dass er es geschafft hat, ein Stück weit über Ihre
GRÜNEN): Koalitionsvereinbarung hinauszugehen. In Ihrem Koali-
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge- tionsvertrag steht nur, dass Sie die geltenden Rechte
ehrte Präsidentin! Ich will jetzt etwas tun, was vor mir bündeln wollen. Herr Zöller hat aufgrund des Kontaktes
gar nicht so viele getan haben, nämlich tatsächlich auf und der Auseinandersetzung mit Patientenorganisatio-
den vorliegenden Antrag eingehen. Wir reden ja heute nen dafür gesorgt, dass auch Bereiche, die ursprünglich
11858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Maria Anna Klein-Schmeink


(A) nicht Bestandteil Ihres Papieres waren, einbezogen wer- Dietrich Monstadt (CDU/CSU): (C)
den, Bereiche, die auch im SPD-Antrag berücksichtigt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
werden. Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kollegin Klein-
Schmeink, es ist erstaunlich, dass Sie uns handwerkliche
Gleichwohl will ich an dieser Stelle auf einen beson-
Fehler vorwerfen, ohne ein Gesetz gesehen zu haben.
deren Unterschied hinweisen. Sie sprechen in Ihrem
Wie das gehen soll, kann ich nicht beurteilen. Wir disku-
Koalitionsvertrag nicht von einem Patientenrechte-
tieren jedenfalls über ein Grundlagenpapier.
gesetz, sondern von einem Patientenschutzgesetz. Dieser
eigentlich sehr engen Auffassung werden Sie aber mit Seit etwa 15 Jahren gibt es die Diskussion über ein
dem Grundlagenpapier in keiner Weise gerecht; das Patientenrechtegesetz. Jetzt hat diese Diskussion die
finde ich schon erstaunlich. Zielgerade erreicht. Es wird eine gesetzliche Regelung
geben.
Schauen wir uns an, welche Vorschläge Sie für eine
Fehlervermeidungskultur machen. Sie setzen im Bereich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Patientensicherheit auf freiwillige Anreize, die heute neten der FDP)
in 900 Krankenhäusern schon bestehen. Aber es geht
jetzt darum, das Recht des Patienten auf eine sichere und Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung,
gute Versorgung so festzuschreiben, dass in allen Kran- Wolfgang Zöller, hat nach gründlicher Vorarbeit und
kenhäusern und Praxen bestimmte qualitätsgesicherte nach umfangreicher Abstimmung mit allen Betroffenen
und risikogeprüfte Verfahren eingehalten werden. die Grundlagen dieser gesetzlichen Regelung am
22. März vorgestellt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Keiner von uns steigt in ein Flugzeug, ohne darauf zu Dem Patientenbeauftragten der Bundesregierung ge-
vertrauen, dass zuvor ein Sicherheitscheck durchgeführt bührt Dank, dass er das Projekt in die Hand genommen,
wurde. Auch Patienten haben Anspruch auf einen sol- es engagiert koordiniert und mit über 300 Verbänden be-
chen Check. Das muss rechtsverbindlich geregelt wer- sprochen hat. Es war im Übrigen richtig, zuerst mit den
den. Verbänden, mit allen potenziell Betroffenen zu sprechen
und eben nicht ein wohlklingendes Papier an den Anfang
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu stellen.
Wenn es darum geht, Patienten zu ihrem Recht zu Anlass unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der
verhelfen, wenn sie Opfer von Behandlungsfehlern ge- SPD. Es ist nicht alles falsch, was darin steht. Aber be-
(B) worden sind, bleiben Sie weit hinter dem zurück, was ei- zogen auf diesen Antrag ist manches differenzierter zu (D)
gentlich notwendig wäre. Sie versuchen zwar, die Recht- betrachten und manches überholt. Überholt ist etwa die
sprechung ein Stück weit in Recht zu fassen, machen das Forderung, die Modellvorhaben der Unabhängigen Pa-
aber handwerklich so schlecht, dass die Patienten letzt- tientenberatung, UPD, auf Dauer abzusichern; denn das,
endlich schlechter gestellt werden. Da müssen Sie drin- Frau Kollegin, haben wir bereits im letzten Jahr mit dem
gend nachlegen und korrigieren. Wir werden den Ge- AMNOG getan. Die UPD gehört jetzt zur gesetzlichen
setzgebungsprozess und den Diskussionsprozess nutzen, Regelversorgung.
um auf diese Mängel hinzuweisen.
Wir wissen, dass Patientenrechte heute an vielen un-
terschiedlichen Orten geregelt sind: in Gesetzen, Richtli-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
nien, Berufsordnungen und in Bundesmantelverträgen
Frau Kollegin! der Selbstverwaltung. Viele Details sind durch die
Rechtsprechung ausgestaltet worden. Wir sind uns einig
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE in der Bewertung, dass im Interesse von Patientinnen
GRÜNEN): und Patienten mehr Transparenz hergestellt werden
Ich nehme gerne das von Ihnen unterbreitete Angebot muss. Wer wie ich als Rechtsanwalt in der Praxis Man-
an, Herr Rüddel, gemeinschaftlich an einer Verbesserung danten in medizinrechtlichen Haftungsauseinanderset-
zu arbeiten. Sowohl der vorliegende SPD-Antrag als zungen betreut hat, kennt die Situation, dass der Laie die
auch der Antrag, den wir in Kürze einbringen werden Verfahrensabläufe in der Regel nicht mehr überblicken
und der weitere qualifizierte Vorschläge beinhalten wird, kann bzw. dass er sie überwiegend nicht versteht. Diese
und auch Ihr Grundlagenpapier werden Grundlage wei- Situation wollen wir verbessern.
terer Diskussionen sein. Heute haben wir sicherlich nicht
Grundlage jeder ärztlichen Behandlung ist der Be-
das letzte Mal darüber diskutiert.
handlungsvertrag, der bisher nicht ausdrücklich gesetz-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich geregelt ist. Heute kommt ein Behandlungsvertrag
sowie bei Abgeordneten der SPD) meist mündlich oder auch konkludent zustande, indem
sich der Patient in die Behandlung begibt. Ein Vertrag in
Präsident Dr. Norbert Lammert: Schriftform ist nur in besonderen Fällen vorgeschrieben.
Die Pflichten des Arztes ergeben sich in diesem Zusam-
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt
menhang aus seiner Berufsordnung, dem Bundesmantel-
für die CDU/CSU-Fraktion.
vertrag Ärzte, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) SGB V sowie gegebenenfalls aus der Gebührenordnung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11859
Dietrich Monstadt
(A) oder auch aus Hausarztverträgen. Künftig wird der Be- Wir wollen, dass Auseinandersetzungen über Behand- (C)
handlungsvertrag ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetz- lungsfehler deutlich verkürzt werden. Wir befürworten
buch stehen, und es wird den Behandlungsvertrag nicht bundesweit einheitliche Schlichtungsverfahren zur au-
nur im Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten geben, ßergerichtlichen Streitbeilegung und spezialisierte Kam-
sondern auch im Verhältnis zwischen Patienten und an- mern bei den Landgerichten. Auch die am 4. Februar
deren Heilberufen wie Physiotherapeuten, Heilprakti- 2011 auf den Weg gebrachte Änderung des § 522 Abs. 2
kern, Hebammen usw. ZPO, also die Nichtzulassungsbeschwerde in Berufungs-
sachen mit einer Beschwer über 20 000 Euro, schafft in
Patienten sind verständlich und umfassend zu infor- diesem Zusammenhang mehr Rechtssicherheit für alle
mieren. Sie müssen auch auf Kosten für solche Heilbe- Beteiligten.
handlungen hingewiesen werden, die von den Leistungs-
trägern nicht übernommen werden. Für betroffene Patienten ist es von entscheidender Be-
deutung, dass ihre Schadenersatzansprüche tatsächlich
Wirksamkeit erlangt ein solcher Vertrag nur dann, erfüllt werden. Deshalb müssen Ärzte über eine durch-
wenn über die zur Erstellung der Diagnose erforderli- gängige Berufshaftpflichtversicherung mit ausreichen-
chen Maßnahmen, über die Diagnose selbst und über die den Deckungssummen verfügen und diese auch belegen.
Therapie aufgeklärt wurde. Nur dann gilt die Einwilli- Dies durch geeignete Mechanismen sicherzustellen, liegt
gung des Patienten in die Behandlungsmaßnahme als er- zunächst bei Ländern und Ärztekammern.
teilt; ansonsten ist sie unwirksam.
Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf zu Patienten-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rechten debattieren. In der Zielrichtung sind wir uns
neten der FDP) weitgehend einig: Wir wollen Rechtsklarheit und Trans-
parenz deutlich verbessern und Vollzugsdefizite ab-
Im Streitfall muss der Behandelnde die ordnungsgemäße bauen. Wir wollen dies auch durch gesetzliche Regelun-
Aufklärung des Patienten beweisen. Die im Wesentli- gen erreichen. Ich freue mich auf eine konstruktive
chen richterrechtlich geprägte Aufklärungspflicht und Debatte auf der Basis des kommenden Gesetzentwurfes.
die Dokumentationspflicht werden wir gesetzlich kon- Den über ein Jahr alten Antrag der SPD müssen wir
kretisieren. heute leider ablehnen.
Krankenakten sind vollständig und sorgfältig zu füh- Herzlichen Dank.
ren. Dies kann unter Beachtung des Datenschutzes und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Datensicherheit auch elektronisch erfolgen. Ver-
säumt die behandelnde Person ihre gesetzliche Doku-
(B) mentationspflicht, dann wird zu ihren Lasten vermutet, Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
dass die nicht dokumentierte Maßnahme auch nicht statt- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
gefunden hat. die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion.

Schließlich wird das Recht auf Akteneinsicht durch (Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]:
die Patienten gesetzlich abgesichert. Patienten steht das Coesfeld nach vorn!)
Recht zu, Einblick in die Patientenakte zu nehmen und
diese – auf eigene Kosten – zu kopieren. Wir wollen Pa- Mechthild Rawert (SPD):
tienten besonders schützen, wenn die Akte nicht heraus- Genau, Coesfeld nach vorn – und vor allen Dingen
gegeben wird. Damit wollen wir keine Belastung oder Berlin.
Gängelung zum Beispiel der Ärzte einführen, sondern
(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
klare Vorgaben setzen, die das Vertrauen zwischen Arzt
CSU])
oder in anderen Heilberufen Tätigen und Patient ent-
scheidend stärken können und sollen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer genau
zugehört hat, hat festgestellt, dass im Jahr des Vertrauens
In Haftungsprozessen geht der Streit häufig darum, ob noch nicht einmal die Koalitionspartner und -partnerin-
ein Behandlungsfehler ursächlich für einen Schaden ist. nen untereinander einig sind.
Hier werden wir im Interesse der Patienten mehr Rechts-
sicherheit herstellen. (Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD] –
Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Doch,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das sind wir schon!)
neten der FDP)
Egal ob man von einem Positionspapier oder von einem
Wir werden eine differenzierte Regelung in das BGB Eckpunktepapier ausgeht – Herr Monstadt hat uns vor-
aufnehmen und damit die von der Rechtsprechung ent- getragen, was man alles will –: Entschieden ist noch
wickelten Ansätze zur Beweislast aufgreifen. Im Falle nichts.
eines groben Behandlungsfehlers, der generell geeignet
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Inhalt-
ist, den Schaden herbeizuführen, wird vermutet, dass der
lich sind wir uns einig!)
Fehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war. Es
tritt eine Beweislastumkehr ein: Der Behandelnde kann Wer genauer hingeschaut hat, hat gesehen: Zwischen-
dann den Beweis führen, dass sein Fehler nicht kausal durch gab es Kopfschütteln. Wir werden sehen, was die
für den Eintritt des Schadens war. Koalition tatsächlich auf den Weg bringt.
11860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Mechthild Rawert
(A) (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ich (Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Wir haben es ver- (C)
glaube, Sie brauchen eine Brille!) bessert! – Dietrich Monstadt [CDU/CSU]: Sie
haben noch die Kurve gekriegt!)
Es ist gut, dass wir ein anderes Menschenbild haben
als Sie, Frau Aschenberg-Dugnus. Wer Patienten aus- Wer bestreitet, dass es geschlechtsspezifische Wirkun-
schließlich als Opfer beschreibt, greift zu kurz. gen gibt, dem sage ich eindeutig, dass er sich insbeson-
dere an der individuellen Gesundheit von Frauen versün-
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Richtig, da digt.
sind wir uns einig, Frau Rawert!)
(Beifall bei der SPD)
Wir wollen starke und mündige Patienten.
Infolgedessen würde ich mich an Ihrer Stelle nicht da-
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das rüber lustig machen, sondern zügig an die Arbeit gehen,
habe ich in meiner Rede auch betont!) damit der Aspekt „Gender-Medizin und geschlechterge-
rechte Gesundheitsförderung“ endlich Wirklichkeit für
Nichtsdestotrotz ist es so: Wenn jemand ein Opfer von alle in Deutschland wird.
Behandlungsfehlern geworden ist, dann gilt über den
Opferschutz hinaus, dass dieser Mensch krank ist und Herzlichen Dank.
unseres besonderen Schutzes bedarf. Daher ist es kein
Widerspruch, hier von Opfern zu reden. (Beifall bei der SPD – Holger Krestel [FDP]:
Wer bezahlt denn das alles? Das Geld kommt
Ich möchte einen anderen Aspekt aufgreifen, der im vom Staat!)
Jahr des Vertrauens heute hier noch kaum eine Rolle ge-
spielt hat; gleichwohl ist er Teil unseres Antrages. Wir Präsident Dr. Norbert Lammert:
haben Sie, die Regierung, aufgefordert, zur Stärkung der
Patientenrechte gegenüber Sozialleistungsträgern und Ich schließe die Aussprache.
Leistungserbringern etwas dazu beizutragen, dass der Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
Griff ins Portemonnaie der Patientinnen und Patienten schusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktion
aufhört. mit dem Titel „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“.
(Beifall bei der SPD) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 17/5227, den Antrag der SPD-Frak-
Wir beobachten einen sprunghaften Anstieg der soge- tion auf Drucksache 17/907 abzulehnen. Wer stimmt die-
nannten IGeL-Leistungen, also eine ständige Auswei- ser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –
(B) tung der individuellen Gesundheitsleistungen. Wir reden Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung (D)
hier von einem Markt, dessen Volumen mittlerweile von mit Mehrheit angenommen.
1 Milliarde Euro auf 1,5 Milliarden Euro angewachsen
ist. Der allergrößte Teil dieser Leistungen ist nicht not- Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
wendig. Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Nešković, Harald Koch, Jan Korte,
Hier ist heute schon viel davon die Rede gewesen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
wie wichtig Vertrauen ist, und zwar insbesondere im
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten. Ich sage
zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung
Ihnen ganz klar: Die Ausweitung der sogenannten indi-
viduellen Gesundheitsleistungen zerstört das für die me- – Drucksache 17/1412 –
dizinische Behandlung so wichtige Vertrauensverhältnis.
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
(Beifall bei der SPD) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Der Glaube an die Leistungsfähigkeit und an die Zuver- Innenausschuss
lässigkeit unseres Gesundheitswesens wird erschüttert. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
erscheint minderwertig oder nicht ausreichend. Ich bin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
auch ganz sicher, dass sich hiermit das ärztliche Berufs- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Das ist
bild ändert. Wir haben Sie aufgefordert, hierzu einen Be- offenkundig unstreitig. Dann können wir so verfahren.
richt abzuliefern. Sie sind bis dato leider Gottes untätig Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
gewesen. Zuzahlungen, IGeL-Leistungen – die Bundes- Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke
regierung lässt den Griff in die Portemonnaies der Versi- das Wort.
cherten geschehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Etwas anderes sei an dieser Stelle aus Zeitgründen nur
erwähnt. Sie haben vorhin wieder die Qualität des
AMNOG herausgestellt. Wo aber beweisen Sie, dass mit Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
dem AMNOG eine Verbesserung der Arzneimittelver- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
sorgung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Wirkungen ren! Wir reden über Bestechung und Bestechlichkeit in
erzielt wird? der Politik. In unserem Grundgesetz heißt es:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11861
Halina Wawzyniak
(A) Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen fühlen und an der Politik insgesamt das Interesse verlie- (C)
Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ren.
und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das wollen wir nicht. Wir wollen Politik für die, aber
So weit das geschriebene Wort. Doch wie sieht die Re- vor allen Dingen mit den Menschen gestalten.
alität aus? Ganz genau kann dies vermutlich niemand sa-
(Beifall bei der LINKEN)
gen. Denn das, worüber wir heute reden, geschieht zu-
meist im Dunkeln und eben nicht im Licht der Wir wollen, dass Entscheidungen und Entscheidungs-
Öffentlichkeit. prozesse transparent sind.
Offiziell bekannt ist ein Fall, den das Landgericht (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wir auch!)
Neuruppin zu entscheiden hatte. Eine Investitionsgesell-
Wir wollen, dass Entscheidungen des Parlaments im Par-
schaft hatte einem Mitglied des Neuruppiner Stadtrates
lament
ein persönliches Darlehen von 100 000 Euro angeboten,
um von der Stadt eine Ausfallbürgschaft von 13,7 Mil- (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wir auch!)
lionen Euro zu bekommen. Das Gericht sah darin einen
Stimmenkauf. Der Kauf von Stimmen bei Abstimmun- und nicht im Vorzimmer, im Hinterzimmer oder im Ka-
minzimmer der Kanzlerin getroffen werden.
gen und Wahlen ist also strafbar. Das ist gut so; aber es
reicht nicht aus. Denn auch in anderen Fragen gibt es ge- (Beifall bei der LINKEN)
nug Motive und leider auch genug Gelegenheiten, Politi-
kerinnen und Politiker mit Geld- und anderen Leistungen Wir wollen Lobbyismus aufzeigen, und wir wollen Lob-
dazu zu bringen, bestimmte Entscheidungen zu treffen byismus begrenzen. Wir wollen – das ist der Kern dieses
Gesetzentwurfs – unsichtbare Korruption öffentlich ma-
oder eben nicht zu treffen.
chen und unter Strafe stellen.
Auch wenn wir Linken sonst eher skeptisch sind, was
Die Linke steht damit nicht allein. Auch Transparency
die Erweiterungen des Straftatenkatalogs angeht, fordern
International hat sich für eine grundlegende Neufassung
wir an dieser Stelle genau dies. Wir wollen es in Bezug
der Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung ausge-
auf die Abgeordnetenbestechung nicht bei symbolischer
sprochen. Die Experten der Staatengruppe gegen Korrup-
Politik belassen. Es kann nicht sein, dass allein der Kauf tion des Europarates haben ebenfalls gefordert, die Miss-
von Stimmen bei Abstimmungen und Wahlen strafbar stände bis Mai 2011 zu beseitigen.
ist, ansonsten aber jede Politikerin und jeder Politiker
sich kaufen lassen kann. Wir reden hier tatsächlich über Korruption. Die UN-
Konvention gegen Korruption vom 31. Oktober 2003
(Beifall bei der LINKEN) verlangt eine Gleichbehandlung von Mitgliedern der Ge- (D)
(B)
Der Ruf von Politikerinnen und Politikern ist nicht setzgebungsorgane oder kommunalen Volksvertretern
der beste. Wir alle müssen uns fragen, welchen Beitrag mit Amtsträgern. Diese Konvention hat Deutschland
wir dazu leisten, dass der Ruf nicht besser, sondern eher noch nicht ratifiziert. Warum eigentlich nicht?
schlechter wird. Die Menschen haben das Vertrauen in Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU,
Parteipolitik verloren, nicht in Politik an sich. Wenn wir FDP, SPD und auch von den Grünen, wir haben heute
nicht aktiv daran arbeiten, Vertrauen in politische Pro- die Chance, ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen, dass der
zesse wiederherzustellen, und wenn wir es versäumen, Kampf gegen Korruption kein Lippenbekenntnis ist, ein
die Menschen daran zu beteiligen und mehr Transparenz Zeichen, dass die Interessen der Einwohnerinnen und
herzustellen, dann gefährden wir die Demokratie. Einwohner im Mittelpunkt politischer Entscheidungen
Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck: stehen und nicht die Interessen derjenigen, die über die
Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man lau- meisten finanziellen Mittel verfügen, ein Zeichen, dass
fen. Diesen Eindruck können wir nicht mit guten Worten gilt, was in unserer Verfassung steht: dass die Abgeord-
neten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge an Wei-
entkräften. Hier sind Taten gefordert.
sungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unter-
(Beifall bei der LINKEN) worfen sind. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. (Beifall bei der LINKEN)
Wenn Abgeordnete dem Anspruch gerecht werden wol-
len, den das Grundgesetz zu Recht aufstellt, dann dürfen Präsident Dr. Norbert Lammert:
sie nicht korrumpierbar sein. Wenn sie sich doch kor- Das Wort erhält nun der Kollege Ansgar Heveling für
rumpieren lassen, dann muss das Folgen haben. Wir alle die CDU/CSU-Fraktion.
haben unser Mandat nur auf Zeit; aber in dieser Zeit sind
wir – so sagt es die Verfassung – Vertreterinnen und Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
treter des ganzen Volkes. Deswegen haben alle Men-
schen, ob sie uns gewählt haben oder nicht, ein Anrecht Ansgar Heveling (CDU/CSU):
darauf, dass wir uns um einen gerechten Interessenaus- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gleich bemühen und nicht die Interessen derjenigen ver-
treten, die uns dafür Geld oder andere Annehmlichkeiten Denn die einen sind im Dunkeln
versprechen. Wenn wir das nämlich zulassen und als ge- und die andern sind im Licht
geben hinnehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn und man siehet die im Lichte
die anderen – also die große Mehrheit – sich ohnmächtig die im Dunkeln sieht man nicht.
11862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Ansgar Heveling
(A) So lautet eine allseits bekannte Strophe aus der „Moritat bereits über vielfältige Möglichkeiten der Ahndung ver- (C)
von Mackie Messer“ von Bertolt Brecht. fügen.
Mit ihrem Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Abge- (Beifall bei der CDU/CSU)
ordnetenbestechung, im Übrigen im Großen und Ganzen Ich meine, wir brauchen uns als Bundesrepublik kei-
ein Aufguss aus der vorangegangenen Legislaturperiode, neswegs zu verstecken.
meint die Fraktion Die Linke wohl, Licht in ein ver-
meintliches Dunkel zu bringen oder bringen zu müssen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vielleicht ist es dort aber doch viel heller, als die Kolle- NEN]: Leider doch!)
ginnen und Kollegen links von mir meinen. Denn hier Es mag den Linken gefallen, nachdem ihre geistigen
im Deutschen Bundestag und in den anderen deutschen Vorväter einst schon dafür gesorgt haben, dass in der
Parlamenten steht man doch schon gleichsam im Lichte. Vergangenheit so manches Gespenst hier und in Europa
Wir, die Abgeordneten, stehen mit unserem Tun und umgegangen ist, nun auch den Teufel an die Wand zu
Lassen im Lichte der Öffentlichkeit. malen. Aber lassen Sie uns auf dem Teppich bleiben.
Nach Art. 38 des Grundgesetzes sind wir grundsätzlich (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
frei und nur unserem Gewissen unterworfen. Aber seien Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)
wir ehrlich: Wir haben uns dabei stets auch eine – wenn
auch nicht verfassungsrechtlich definierte – Schranke zu – Ich bin sehr erstaunt darüber, dass gerade die SPD so
vergegenwärtigen: die Öffentlichkeit. In unserer Repu- darauf reagiert.
blik haben wir ein fein differenziertes und stark ausge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
prägtes System öffentlicher Kontrolle der Politik. Sie be- Das wundert mich allerdings auch!)
ginnt in diesem Hause im parlamentarischen Widerstreit
von Regierungsfraktionen und Opposition, also auch eine Der Gesetzentwurf konstruiert nun vor allem eines:
Form der gegenseitigen Kontrolle. Sie setzt sich fort eine vermeintliche Lücke, weil Abgeordnete und Amts-
durch Partizipation und Willensbildung in den Parteien träger nicht gleich behandelt werden. Sie sind aber auch
und der Bevölkerung. Nicht zuletzt haben Presse und Me- nicht gleich. Schon an meinen Eingangsbemerkungen
dien eine machtvolle Kontrollfunktion inne. lässt sich ein entscheidender Unterschied zwischen
Amtsträgern der Exekutive und Abgeordneten festma-
Alles das ist schlichtweg konstitutiv für unsere offene chen: Während die Ersteren einen klar umrissenen Pflich-
Gesellschaft. Missstände können, ohne dass Repression ten- und Aufgabenkreis haben, den sie weithin unbemerkt
befürchtet werden muss, benannt werden, und je nach von der Öffentlichkeit im Wege von Einzelentscheidun-
(B) Schwere haben sie auch außerhalb von Wahlen und ge- gen, also einzelnen Diensthandlungen, vollziehen, treffen (D)
richtlichen Verfahren unmittelbare Konsequenzen für Letztere allgemeine Entscheidungen abstrakt-genereller
denjenigen, der Fehlverhalten an den Tag legt. Beispiele Natur für eine Vielzahl von Sachverhalten, und sie tun
dafür gibt es genug. dies öffentlich.
Das unterscheidet im Übrigen unsere Gesellschaft Natürlich vertreten Abgeordnete dabei Interessen. Das
und ihre Verfassung auch deutlich von korruptionsanfäl- müssen sie sogar. Aus diesen Interessen formt sich dann
ligen politischen Systemen und Regimen, Systemen, die im demokratisch-parlamentarischen Prozess das allge-
es auf deutschem Boden schon hinlänglich gegeben hat, meingültige Recht. Interessengeleitetes Handeln und Öf-
Systemen, die es andernorts auch heute noch gibt. fentlichkeit sind dabei zwei einander bedingende und
sich gegenseitig korrektiv ausbalancierende Elemente
Was waren und sind deren Charakteristika? Einerseits politischen Handelns. Das ist mithin ein Spannungsfeld,
setzen sie oft auf Scheinlegalität. Formal waren und sind keine Frage; aber es ist eben auch ein Unterschied zum
solche Systeme oft sogar geradezu Weltmeister in der Amtsträger.
Umsetzung entsprechender Regeln und Konventionen.
Ja, sie brauchen die formale Fassade geradezu, um sich Das alles ist bei jenen nämlich gerade nicht der Fall.
den Anschein der Lauterkeit zu geben. Doch hinter die- Sie vertreten keine Interessen. Sie müssen unparteiisch
ser Fassade herrschen Intransparenz und mangelnde öf- handeln, allein orientiert an Recht und Gesetz. Sie müs-
fentliche Kontrolle. Das zeigt vor allem eines: Es reicht sen das von anderen gesetzte Recht anwenden, unbeein-
nicht aus, wenn ein Staat formal über Rechtsvorschriften flusst durch Versprechungen und Verlockungen. Schon
zur Bekämpfung von Korruption verfügt. Es bedarf einer allein deshalb lassen sich die Regelungen von Amtsträ-
aktiven Zivilgesellschaft, die – wie eingangs beschrie- gern nicht einfach auf Abgeordnete übertragen. Es
ben – über vielfältige Kontroll- und Einflussmöglichkei- würde schlichtweg hinten und vorn nicht passen.
ten verfügt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich bin froh, dass wir in einer solchen Gesellschaft
und in einem solchen Staat leben. Ich bin froh, dass wir Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben sollte
bei unseren Rechtsvorschriften bereits über einen hohen – und einen solchen müsste man sehr sorgfältig identifi-
Standard verfügen. Ich bin froh, dass unsere Gesellschaft zieren –, dann ist es mit einem gesetzgeberischen Schnell-
ausreichend über unabhängige und öffentliche Institutio- schuss, bei dem im Übrigen auch fraglich ist, ob er über-
nen und Instanzen verfügt, die auf Fehlverhalten auf- haupt den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots Genüge tut,
merksam machen und auch in strafrechtlicher Hinsicht sicherlich nicht getan. Das ist der Sache auch nicht ange-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11863
Ansgar Heveling
(A) messen, und der Schaden wäre hinterher weitaus größer zeugt davon, dass es Einflussnahmen und Kumpanei (C)
als der Nutzen. Den Gesetzentwurf der Linken lehnen wir gibt, die ungesund und falsch sind und abgestellt werden
daher ab. müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Ist
das strafbar? Soll das strafbar werden?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur Umset-
Präsident Dr. Norbert Lammert: zung der genannten UN-Richtlinie können wir zunächst
Für die SPD erhält der Kollege Michael Hartmann einmal festhalten: Es gibt seit dem Jahr 1994 eine ge-
das Wort. setzliche Vorschrift, nämlich § 108 e des Strafgesetzbu-
ches, die den Stimmenkauf verbietet. Das ist eine klare
(Beifall bei der SPD) strafrechtliche Norm.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): GRÜNEN]: Noch nie angewandt!)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir leben in einer Zeit, in der in der öffentlichen Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind
Wahrnehmung des politischen Betriebs auch hier in Ber- aber der Meinung, dass diese Norm ausgeweitet und ver-
lin immer die Regierung im Vordergrund steht. Tatsäch- schärft werden muss, meinethalben in Form eines
lich – gelegentlich muss man an diese vermeintliche § 108 f, der zumindest drei Kriterien umfassen muss:
Selbstverständlichkeit erinnern – befinden wir uns aber
Erstens. Es muss erkennbar geworden sein, dass ein
in einem parlamentarischen Regierungssystem. Deshalb
Abgeordneter sich bereit erklärt hat, entsprechend zu
ist es schon wichtig, dass wir unsere Selbstachtung als
agieren. Es muss also ein objektiver Beweis erbracht
Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit dem nötigen
werden.
Selbstbewusstsein nach außen zeigen und unsere Kon-
trollfunktion gegenüber der Bundesregierung in ausrei- Zweitens. Es muss eine Unrechtsvereinbarung vorlie-
chendem Maße wahrnehmen. Deshalb sollten wir uns, gen, das heißt, eine Bindung gegenüber dem Vorteilsge-
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, nicht klein- ber muss festzustellen sein.
machen. Wir sollten nicht selbst dem jeweils anderen un-
terstellen, dass er der Gemeinte ist, wenn es um den Vor- Drittens. Es darf – das meine ich, wenn ich von
wurf der Korruption oder der Bestechlichkeit geht. Selbstbewusstsein und Selbstheilungskräften des Parla-
Vielmehr sollten wir auf Selbstheilungskräfte setzen und ments rede – eine Verfolgung nur mit Ermächtigung
durch die jeweilige Volksvertretung, also in unserem
(B) für eine Selbsthygiene sorgen. Dazu bedarf es in der Tat (D)
klarer Regeln. Falle durch den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung, erfolgen.
Deshalb kann ich nicht verstehen, wieso Sie von den
Koalitionsfraktionen bei dem, worüber wir hier heute (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
debattieren, von einem Schnellschuss sprechen. Wir re- GRÜNEN]: Ja, die machen das ja immer!)
den ja in Wirklichkeit über eine Konvention zum Kampf Der Antrag der Linken geht uns zu weit. Wir sind
gegen Korruption, die von der UN beschlossen und von aber durchaus bereit, Gespräche über die Grundstoßrich-
der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003 unter- tung zu führen; denn Abgeordnete sind parteiisch, sie
zeichnet worden ist, die wir aber bis zum heutigen Tage müssen es sein.
nicht ratifiziert haben. Es wird höchste Zeit, dass wir
hier etwas tun, meine Damen und Herren! (Zuruf von der FDP: Richtig! Genau!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Demokratie funktioniert nämlich nur im Widerstreit ver-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schiedener Interessen, die am Schluss über Mehrheitsbe-
schlüsse zusammengeführt werden. Das heißt, parteiisch
Ich sage Ihnen auch, warum: Es geht nämlich nicht an müssen wir sein, käuflich dürfen wir aber nicht sein.
– dabei will sich die SPD die Antworten gar nicht leicht Deshalb müssen wir Regeln einführen.
machen –, dass wir Abgeordnete immer wieder in den
Geruch der Vorteilsnahme, des überbordenden Lobbyis- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
mus oder des Durchstechens oder gar der Korruption ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
raten.
Es gibt nun einmal nicht den über dem Wasser schwe-
Es gibt aber leider immer wieder aktuelle Anlässe, benden Abgeordneten. Wir sollten durch entsprechende
diese Themen zu diskutieren. Ich verstehe vor diesem Diskussionen und Debatten auch nicht jenen Affen Zu-
Hintergrund nicht, wie diese Woche von der Kanzlerin cker geben, die so gerne das Bild vom unpolitischen
entgegen § 3 des Normenkontrollratgesetzes eine Rich- Politiker zeichnen, der in ihrer Vorstellung das einzig
terin des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes und ein Wahre und Gute verkörpert. Wir dürfen auch nicht durch
Herr, der Ihnen persönlich bekannt ist, sehr geehrter eigene Stellungnahmen und eigene Aussagen jenes Bild
Herr von Klaeden – das scheint auch seine einzige Qua- vom verkommenen Abgeordneten bzw. Volksvertreter
lifikation zu sein –, nämlich der Vorsitzende der JU Nie- verfestigen und vertiefen, der in verrauchten Hinterzim-
dersachsen, für den Normenkontrollrat benannt werden mern Geldbündel entgegennimmt und dementsprechend
konnten. Das verstößt eklatant gegen das Gesetz und handelt. Diesen gibt es nicht, allenfalls in schlechten Fil-
11864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Michael Hartmann (Wackernheim)


(A) men und vielleicht da und dort in den Köpfen mancher Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete hat (C)
überengagierter Staatsanwälte. eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten bekom-
men, als es jede strafrechtliche Verurteilung sein könnte.
(Jörg van Essen [FDP]: Das sollte man denen Er musste sein Mandat aufgeben und ist gesellschaftlich
nicht unterstellen!) geächtet. Das ist, finde ich, eine Strafe, die durch keinen
Bei all dem sollten wir nicht vergessen, das Vertrauen Strafrichter höher ausgesprochen werden könnte.
in politische Lösungen darf durch ein entsprechendes (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Vorgehen, das sicherlich unabweisbar notwendig ist, GRÜNEN]: Das war beim Abgeordneten Kohl
nicht noch mehr erschüttert werden. nicht der Fall!)
Ich füge noch etwas anderes hinzu: Wo Korruption Es ist richtig, was hier gesagt worden ist: Wir stehen
beginnt und wo sie endet, ist letztendlich nicht immer ju- hier unter schärfster öffentlicher Beobachtung, insbeson-
dizierbar. Da sollten wir uns nichts vormachen. Denn dere was die Entgegennahme von gewissen Gefälligkei-
letztlich geht es dabei auch um Charakterfragen. Des- ten anbelangt. Ich weiß, wie streng Journalisten sind; sie
halb ist eine kritische Öffentlichkeit genauso wichtig wie selbst unternehmen eine von einer Firma gesponserte
eine Verschärfung der entsprechenden Strafvorschriften. Reise in den Süden, aber regen sich hier auf, wenn ein
Es gilt nach wie vor: Die oberste Instanz für Abgeord- Politiker mit dem Schiff eines Prominenten, beispiels-
nete sind nicht die Gerichte, sondern die Wählerinnen weise eines Industriellen, von einem zum anderen Ufer
und Wähler. Lassen Sie uns auf diesem mittleren Weg eines Sees gefahren wird. Wie gesagt: Kontrolle muss
weitergehen und eine gemeinsame Lösung finden! funktionieren. Ich habe ganz klar das Gefühl, dass das
der Fall ist.
(Beifall bei der SPD)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ich aber nicht!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Jörg van Essen hat nun das Wort für die Ich war schon Anfang der 90er-Jahre Berichterstatter,
FDP-Fraktion. als wir damals den § 108 e in das Strafgesetzbuch einge-
führt haben. Es ist interessant: All diejenigen, die jetzt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Neufassungen fordern, gehören Fraktionen an, die da-
der CDU/CSU) mals zum gleichen Ergebnis gekommen sind wie wir,
nämlich dass es eine wirklich vernünftige und fassbare
Jörg van Essen (FDP): Strafvorschrift über das hinaus, was wir in § 108 e StGB
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es unter Strafe gestellt haben, nicht gibt. (D)
war auffällig, dass die Kollegin der Linken in ihrem Bei-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
trag kaum rechtliche Ausführungen gemacht hat. Sie hat
NEN]: Aber es hat sich seit 1994 etwas verän-
zwar Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit gegen Abgeord-
dert!)
nete erhoben werden, vorgetragen. Aber sie ist nicht auf
die Fragen, mit denen wir uns schon seit ganz langer Zeit All die Argumente, die bisher vorgetragen worden sind,
befassen – beispielsweise: Welche Möglichkeiten haben haben mich überhaupt nicht überzeugt.
wir, das Ganze in einen Straftatbestand zu fassen? –, und
auch nicht auf die Voraussetzungen für einen Straftatbe- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
stand, wie die Klarheit der Norm, eingegangen. GRÜNEN]: Die ganze Welt ist anders gewor-
den!)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Machen
wir im Rechtsausschuss! – Wolfgang Wieland – Herr Kollege Ströbele, das Stichwort „die ganze Welt“
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollte es habe ich erwartet. Im Gesetzentwurf der Linkspartei ist
Ihnen überlassen! Sie sind der Fachmann!) das Beispiel China aufgeführt. Das chinesische Parla-
ment hat, wie jeder von uns weiß, keinerlei Gestaltungs-
Sie hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vor- möglichkeiten. Die heben die Hand für das, was die Re-
gang, der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parla- gierung ihnen vorschlägt.
ment abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich habe die Bil-
der gesehen, die zeigten, wie ein Abgeordneter aus (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Jetzt
Österreich die Verhandlungen führte und sich für be- ziehen Sie keine falschen Parallelen!)
stimmte Dinge bezahlen lassen wollte. Deshalb gibt es im chinesischen Parlament auch keiner-
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: lei Anlass, irgendjemanden zu irgendeinem Zweck zu
Eine Schande für die Zunft!) bestechen, weil man schon vorher weiß, dass er die Hand
heben wird. Deshalb ist es sehr „beeindruckend“, dass
– Das sehe ich genauso wie Sie, Herr Hartmann. Das ist Sie das Beispiel China anführen.
eine Schande.
Mich hat gewundert, dass Italien nicht erwähnt wor-
Auf der anderen Seite hat sich gezeigt: Kontrolle den ist; denn Italien wurde in der Vergangenheit immer
funktioniert. als Beispiel genannt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN]: Und wie häufig nicht?) NEN]: Immer noch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11865
Jörg van Essen
(A) Jeder, der sich einmal die Rechtswirklichkeit in Italien die Formulierung, die wir in den entsprechenden Straf- (C)
anschaut, weiß: Jedes Mal dann, wenn es für Regierende vorschriften haben. Das zeigt, dass das Ganze eben nicht
und für Abgeordnete aus dem Regierungslager schwierig abzugrenzen ist.
wird, wird ein neues Immunitätsgesetz verabschiedet.
Genau das war das Ergebnis unserer Beratungen, die
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: wir Anfang der 90er-Jahre hatten, und zwar in Überein-
Auch bei Bunga-Bunga!) stimmung mit den Grünen und in Übereinstimmung mit
der SPD. Deshalb haben wir damals so agiert.
Das macht deutlich: Wir sollten uns nicht an anderen
orientieren, sondern wir sollten schauen, dass wir das Ich habe hier keinerlei neue Argumente gehört. Ich
machen, was nach deutschem Recht und gemäß unseren habe hier keinerlei neue Formulierungen gehört.
Anforderungen umsetzbar ist.
Das Letzte, was ich sagen wollte und was mir auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ganz wichtig ist, ist Folgendes: Andere Länder sind zum
Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Teil auch deshalb so großzügig, beispielsweise mit der
Sehr richtig!) Unterzeichnung der Konvention der UN, weil dort ganz
Ganz wichtig ist mir – das ist bisher nur am Rande andere Immunitätsregeln gelten als bei uns. Ich finde es
gestreift worden; der Kollege Heveling hat allerdings gut, dass Abgeordnete bei uns wie jeder Bürger behan-
einige Ausführungen dazu gemacht –, dass das, was uns delt werden. Wenn wir im Immunitätsausschuss etwas
aufgegeben wird, beispielsweise von den Vereinten Na- vorgelegt bekommen, dann winken wir das durch, damit
tionen, aber auch vom Europarat, keinen Unterschied Strafverfolgung stattfinden kann, damit Ermittlungen
zwischen Amtsträgern und Abgeordneten macht, und stattfinden können.
das ist falsch. Das ist sogar beweisbar falsch, lieber Herr (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kollege Ströbele; NEN]: Wir werden eben nicht gleichbehan-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: delt!)
Wir müssen es ja nicht gleich machen!) Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen,
denn der Bundesgerichtshof hat kürzlich noch einmal (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
festgestellt, dass Abgeordnete keine Amtsträger sind, NEN]: Ja, eben!)
und er hat gut begründet, dass das so ist. Ich kann es
wiederholen: Das Abgeordnetenmandat ist ein freies in denen wir das Gefühl haben, dass es beispielsweise
Mandat. politische Gründe gibt, oder in denen es uns rechtlich
nicht überzeugt, halten wir es an. Aber es gibt ja Länder,
(B) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in denen es überhaupt keine Strafverfolgung gibt, so- (D)
NEN]: Aber nicht frei zur Bestechung!) lange man im Parlament ist. Im Europaparlament ist das
Der Amtsträger ist ganz klar an das Recht gebunden, und beispielsweise so. Deshalb gibt es da auch keinerlei Ver-
er ist verpflichtet, das völlig unparteilich anzuwenden. suchung, jemanden mit entsprechenden Vorwürfen in
Jeder von uns ist aber Interessenvertreter. Es ist auch gut eine Ecke zu stellen. Auch das ist für mich ein sehr
so, dass er das ist, wichtiger Gesichtspunkt dafür, dass wir ganz streng da-
rauf achten müssen, dass das, was gegebenenfalls ge-
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: setzlich kodifiziert ist, auch den Ansprüchen des Straf-
Ohne Frage!) rechts genügt. Wenn man diesen Ansprüchen folgt, muss
und zwar unabhängig davon, wo man politisch steht. Wir man sagen: Das, was die Linkspartei hier vorgelegt hat,
sind zum Beispiel die Vertreter der Interessen unserer tut das ganz offenkundig nicht, beispielsweise indem sie
Wahlkreise. Ich habe beispielsweise einmal die Interes- nicht gemerkt hat, dass zwischen Gemeindevertretern
sen meines Wahlkreises vertreten, als ich wusste, dass und Abgeordneten ein Unterschied besteht. – Das sollte
meine Argumente für meinen Wahlkreis schlechter wa- meine letzte Bemerkung sein.
ren als die des Kollegen aus dem Nachbarwahlkreis, Vielen Dank.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
NEN]: Aber Sie haben dafür nicht die Hand
aufgehalten!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
der eine bestimmte Institution in seinen Wahlkreis brin- Jerzy Montag hat nun das Wort für die Fraktion
gen wollte. Bündnis 90/Die Grünen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das tue ich auch, aber ich kriege Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kein Geld dafür!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De-
batte darüber, ob eine Regelung über die Strafbarkeit der
Das zeigt, wie schwierig es ist, gegeneinander abzugren-
Abgeordnetenbestechung eingeführt werden sollte oder
zen, was hinnehmbar ist und was nicht hinnehmbar ist.
nicht, wird in diesem Haus seit Jahren, über mehrere Le-
Ich habe es auch schon erlebt, dass mir jemand gesagt gislaturperioden hinweg geführt. Ich empfinde sie als
hat: Sie bekommen meine Stimme, wenn Sie das durch- unwahrhaftig und in einem wirklichen Wortsinn auch als
setzen. – Da wird mir etwas versprochen. Das ist genau erbärmlich. Ich will diese harten Vorwürfe untermauern
11866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Jerzy Montag
(A) und deren Richtigkeit unter Beweis stellen, indem ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
noch einmal die Geschichte der Entscheidungen von in- bei der SPD und der LINKEN)
ternationalen Organisationen und der Stellungnahme
Der nächste Punkt. Im Dezember 2000 beschließt die
Deutschlands dazu aus den letzten Jahren rezitiere.
Generalversammlung der Vereinten Nationen, an einem
Ich fange mit der OECD, der Organisation für wirt- Rechtsinstrument gegen Korruption zu arbeiten. Dieses
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, an. Die Instrument wird am 9. Dezember 2003 in Mexiko verab-
OECD hat am 21. November 1997 ein Übereinkommen schiedet. Wer ist dabei? Am 9. Dezember 2003, am ers-
über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer ten Tag, unterzeichnet die Bundesrepublik Deutschland
Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr verab- dieses UNO-Übereinkommen. Auch dort heißt es, dass
schiedet. Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses die Korruption keine begrenzte Angelegenheit ist, son-
Abkommen am 21. November 1997, am Tag der Verab- dern eine Erscheinung, die alle Gesellschaften – Herr
schiedung, unterzeichnet. Bereits ein Jahr später, am Heveling, „alle Gesellschaften“, das haben wir unter-
10. September 1998, hat dieser Bundestag – da hat schrieben –, also auch unsere Gesellschaft, betrifft und
Schwarz-Gelb regiert – ein Gesetz verabschiedet. Darin die bekämpft werden muss. Wozu haben wir uns da ver-
heißt es: pflichtet? Zitat:

Wer in der Absicht, … einem Mitglied eines Ge- Jeder Vertragsstaat stellt das unmittelbare oder mit-
setzgebungsorgans eines ausländischen Staates … telbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines
einen Vorteil … als Gegenleistung dafür anbietet, ungerechtfertigten Vorteils an Personen, die durch
verspricht oder gewährt, dass es eine mit seinem Wahl ein Amt in der Gesetzgebung innehaben,
Mandat oder seinen Aufgaben zusammenhängende – also keine Amtsträger, sondern Mandatsträger –
Handlung oder Unterlassung künftig vornimmt,
wird … bestraft. unter Strafe.
Wie viele Staaten dieser Welt haben dieses Überein-
Herr Heveling, Herr van Essen, da hatten Sie keine Be-
kommen ratifiziert? 151. Nicht ratifiziert haben: Syrien,
denken mit der Klarheit der Norm. Da war alles ganz
Saudi-Arabien, der Sudan, Myanmar und Deutschland.
klar. Innerhalb von neun Monaten hatten Sie eine Straf-
Meine Damen und Herren, das ist oberpeinlich.
vorschrift, ohne jegliche Bedenken; denn es ging nur um
die ausländischen Abgeordneten und nicht um uns sel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ber. bei der SPD und der LINKEN)
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Es ist peinlich, dass wir – und zwar nicht die Bundes-
(B) [CDU/CSU]: Herr Heveling war noch nicht regierung, sondern wir als Parlament – uns Jahr um Jahr (D)
da!) in die Reihe dieser Staaten stellen.

Der nächste Punkt. Europarat in Straßburg, 21. Januar (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
1999: Das Strafrechtübereinkommen über Korruption Richtig!)
wird verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland ist Wir halten Sonntagsreden – verzeihen Sie, wenn ich
dabei. Am gleichen Tag, am 21. Januar 1999, unter- das so sage – wie die, die Sie heute gehalten haben, über
schreibt die Bundesrepublik Deutschland dieses Straf- den Stand der Gesellschaft und unseres Landes. Sie ha-
rechtübereinkommen. ben das ja richtig beschrieben. Wenn es dann aber darum
geht, das Ganze mit Fleisch zu füllen, dann kneifen Sie.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das ist eine peinliche Situation, in die Sie die Bundesre-
GRÜNEN]: Rot-Grün!) publik Deutschland im internationalen Rahmen bringen.
In diesem Übereinkommen wird dargelegt, welche exis- Wir sind von der OECD aufgefordert, ja sogar gerügt
tenzielle Bedeutung die Korruption für demokratische worden, bis zum 30. Juni 2011, also in wenigen Mona-
Rechtsstaaten hat: eine Bedrohung der Rechtsstaatlich- ten, endlich eine Verschärfung des Straftatbestandes der
keit, der Demokratie, eine Bedrohung der Menschen- Abgeordnetenbestechung vorzulegen.
rechte. Wortwörtlich heißt es in diesem Übereinkommen
als Aufforderung: Zum Schluss sage ich: Wir haben in der letzten Legis-
laturperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieses Vor-
Jede Vertragspartei … stellt das unmittelbare oder haben ist unter anderem an den Sozialdemokraten ge-
mittelbare Versprechen, Anbieten oder Gewähren scheitert. Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie
eines ungerechtfertigten Vorteils an … ein Mitglied jetzt eine andere Position dazu einnehmen.
einer Vertretungskörperschaft, die Gesetzgebungs-
oder Verwaltungsbefugnisse ausübt, … unter Präsident Dr. Norbert Lammert:
Strafe. Herr Kollege.
Das haben wir unterschrieben. Inzwischen ist dieses
Übereinkommen von 43 Staaten der OECD ratifiziert. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir tragen die rote Laterne und gehören heute noch zu Wir werden mit allen diskutieren. Wir werden unse-
den letzten sieben Staaten, die es immer noch nicht rati- ren Gesetzentwurf wieder vorlegen. Wir warten auf bes-
fiziert haben. Das finde ich peinlich, oberpeinlich sogar. sere Vorschläge. Wir werden uns über die Formulierun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11867
Jerzy Montag
(A) gen noch einmal unterhalten. Ich möchte, dass alle (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Mein Kommu- (C)
Fraktionen gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Ei- nalabgeordneter findet das gut!)
nes ist aber nicht akzeptabel: dass wir weiterhin nichts
In Ihrem Gesetzentwurf ist auch der Vertreter im Ge-
machen.
meinderat einbezogen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)
Sie differenzieren nicht einmal zwischen einem Parla-
Präsident Dr. Norbert Lammert: mentarier und einem Gemeinderatsmitglied. Überlegen
Nun hat der Kollege Siegfried Kauder das Wort für Sie sich genau, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf errei-
die CDU/CSU-Fraktion. chen wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen nicht, dass der Staatsanwalt hier im Parla-
ment auftaucht, wo dann das passiert, was vielen Ärzten
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ in Deutschland widerfahren ist. Man hat sie ins Messer
CSU): laufen lassen. Es gab den Vorwurf der Korruption, ob-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! wohl sie nur pflichtgemäß Drittmittel eingeworben ha-
Die folgende Situation kommt in diesem Haus schon ben. Statt ein Dankeschön zu bekommen, kam der
einmal vor: Jemand, der im Jahr 2008 den Petitionsaus- Staatsanwalt, und es wurden Freiheitsstrafen verhängt.
schuss angeschrieben hat, weil ihm etwas nicht passte, Das musste der Bundesgerichtshof richten. Dort gab es
bekam eine Antwort. Im Jahr 2011 kommt er mit dem Freisprüche. Als Gesetzgeber haben wir uns nicht bemü-
gleichen Anliegen aber noch einmal. Dann schreiben ßigt gefühlt, zu helfen. Wir wären gut beraten, auf die-
wir: Sie haben vor vielen Jahren auf diese Frage eine sem Gebiet einmal etwas zu tun.
Antwort bekommen. Eine nochmalige Antwort werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie von uns nicht bekommen. Wir bitten um Verständnis.
Wir wollen nicht wie Amtsträger behandelt werden,
Fairerweise muss ich sagen, dass die Kollegin und wir dürfen auch nicht so behandelt werden.
Wawzyniak im Jahr 2008, als wir in diesem Hohen Haus
über das Thema „Abgeordnetenbestechung“ diskutiert (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
haben, noch nicht im Deutschen Bundestag war. Deswe- Richtig!)
gen gehe ich auf das Thema noch einmal ein. Das ist der Webfehler dieser UN-Konvention. Schon der
Meine Damen und Herren, wir sind Abgeordnete, frei Ansatz stimmt nicht. Wer sagt: „Der Parlamentarier
(B) gewählte Abgeordnete, dem ganzen Volk verpflichtet muss behandelt werden wie ein Amtsträger“, der schei- (D)
und nur unserem Gewissen verantwortlich. tert schon im Ansatz.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
GRÜNEN]: Eben!) Christine Lambrecht [SPD]: Das sagt doch
auch keiner!)
Wir sind keine Beamten. Wir sind keine Amtsträger;
denn der Amtsträger ist an Vorschriften gebunden, und Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden das Anliegen so
er ist auch ersetzbar. Wenn er krank ist, vertritt ihn ein nicht weiterverfolgen.
anderer. Den Kollegen van Essen kann niemand vertre- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
ten, wenn er nicht da ist. GRÜNEN]: Wir brauchen eine neue Mehr-
(Christine Lambrecht [SPD]: Nein!) heit!)
Als Abgeordneter kann nur er in Person handeln. Wir dürfen nicht rein formaljuristisch argumentieren und
sagen: Bloß weil andere Staaten ins Messer gelaufen
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da sind, tun wir das auch.
zweifelt mancher! – Jerzy Montag [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist nicht der ein- (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
zige! – Iris Gleicke [SPD]: Vorsicht! Wir sind BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy
alle ersetzbar!) Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also,
das ist wirklich unglaublich, Herr Kollege
– Sie wissen genau, warum ich den Kollegen besonders
Kauder! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]:
gerne erwähne. – Deswegen ist ein Bundestagabgeord-
Wo ist denn die internationale Verantwor-
neter anders zu beurteilen als das Mitglied eines Ge-
tung?)
meinderates.
Schauen Sie nach Österreich. Die Österreicher haben
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
versucht, dieses Dilemma zu lösen. Sie behandeln den
Ohne Frage!)
Abgeordneten wie einen Amtsträger und führen dann
Frau Kollegin Wawzyniak, gehen Sie nach Hause und dazu aus: Aber wie ein Amtsträger ist er nur dann zu be-
erzählen Sie den in Ihrem Wahlkreis in Gemeinderäten handeln, wenn er abstimmt im Parlament, wenn es um
und Kreistagen ehrenamtlich politisch Tätigen, dass Sie Dinge geht, die die Geschäftsordnung im Parlament be-
ihnen in Zukunft zur Kontrolle den Staatsanwalt auf die treffen. – Man hat also einen Umweg versucht, um die-
Pelle schicken wollen. Das kommt gut an. sem UN-Abkommen formaljuristisch beitreten zu kön-
11868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)


(A) nen, dessen Ziel aber nicht herbeiführen zu müssen. Sie Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
sehen daran, dass das so nicht funktioniert. Daher sind Darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage
wir lieber ehrlich und sagen, dass wir dieser Konvention stellen?
nicht beitreten. Wir werden sie nicht unterschreiben.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
GRÜNEN]: Wir sind schon beigetreten! Das CSU):
ist schon unterschrieben!) Bitte schön.
– Es ist unterschrieben, aber nicht ratifiziert.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Danke schön, Herr Präsident. – Herr Kollege Kauder,
GRÜNEN]: Ja, leider!) würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Europa-
Sie merken selbst, dass Ihr Gesetzentwurf so, wie Sie ratsübereinkommen und auch die UNO-Vereinbarung,
ihn konstruiert haben, nicht funktionieren kann, Frau die ich zitiert habe und die die Bundesregierung für
Kollegin. Deutschland unterschrieben hat, nicht von Vorteilen
sprechen, sondern von ungerechtfertigten Vorteilen? In
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Sprache der UNO und des Europarates ist das kein
GRÜNEN]: Unserer ist besser! – Jörg van Straftatbestand, sondern ein ungerechtfertigter Vorteil.
Essen [FDP]: Nein, er ist nicht besser!)
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Noch dehn-
Sie versuchen nämlich, den Sachverhalt mit der Ver- barer!)
werflichkeitsklausel, die Sie § 240 StGB, Nötigung, ent-
Deswegen besteht sehr wohl die Möglichkeit – das wäre
nommen haben, einzufangen. Das ist sehr wohl zu er-
dann sozusagen der Schweiß der fleißigen Juristen
kennen.
wert –,
Parlamentarismus lebt von den Kontakten mit Lobby-
(Jörg van Essen [FDP]: Normenklarheit und
isten und Interessenverbänden.
Normenwahrheit!)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
dass wir gemeinsam daran arbeiten, das in die Sprache
Unbedingt!)
des Strafrechts zu übersetzen, um die Vorteile, die Abge-
Wie wollen Sie das in den Griff bekommen? Was ist ordnete und Mandatsträger annehmen dürfen – das steht
noch sozial verträglich, was ist politisch gemünzt, und auch in unseren Richtlinien –, von denjenigen zu unter-
wo fängt der strafbare Sachverhalt an? scheiden, die tatsächlich verwerflich sind.
(B) (D)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Beantworten Sie doch meine schlichte Frage. Stellen
BDI ist verwerflich!) Sie sich vor, dass jemand zu Ihnen kommt und sagt:
Wenn Sie sich für mein Interesse in diesem Hause ein-
– Nein, lieber Kollege Hartmann. – Das haben hochran- setzen, in der Fraktion, in den Ausschüssen, wo auch im-
gige Juristen in der Großen Strafrechtskommission von mer, wenn Sie in meinem Interesse handeln, lieber Ab-
1957 bis 1960 in zahlreichen Sitzungen immer wieder geordneter Kauder, bekommen Sie 100 000 Euro.
versucht. Lesen Sie es nach. Nach drei Jahren kamen sie
zu dem Ergebnis, dass sich politische Sachverhalte nicht (Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Das ist doch
so einordnen lassen wie eine Amtshandlung eines Amts- strafbar!)
trägers.
– Nein, das ist nicht strafbar. – Was haben Sie dagegen,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dass diese klaren Sachverhalte unter Strafe gestellt wer-
GRÜNEN]: Ja, klar, das ist schwierig!) den?
Politik ist ein eigenes Geschäft. Kollege Montag, wer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
argumentiert, dass ein Politiker nicht die Hand aufhalten sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
darf, der verkürzt doch den Straftatbestand der Beste- KEN)
chung, der Bestechlichkeit.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
GRÜNEN]: Ja, wie Helmut Kohl zum Bei- CSU):
spiel!) Herr Kollege Montag, es geht doch um den Begriff
Vorteil mit einem Zusatz, der nicht definierbar ist. Genau
Das wissen Sie als Jurist genauso gut wie ich. Wenn wir das ist das Problem. Sie bekommen das juristisch nicht
diesen Straftatbestand, der vorgeschlagen wird, einfüh- in den Griff. Ein Straftatbestand muss bestimmt sein. Ist
ren, ist jeder Vorteil, den der Abgeordnete annimmt, er nicht bestimmt, ist er nicht gesetzeskonform. Herr
schädlich. Kollege Montag, ich werde auch der Kollegin
(Christine Lambrecht [SPD]: Nein!) Wawzyniak ein bisschen weiterhelfen, was die juristi-
schen Dinge anbelangt. Es gibt in einer wunderschönen
Es gäbe keine Erheblichkeitsschwelle, sondern nur diese Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahre 2008 Aus-
vorgesehene Klausel. Bei der Sozialadäquanz weiß kei- führungen von Frau Regina Michalke zu diesem Thema;
ner, wo es anfängt und wo es aufhört. diese umfassen 17 Seiten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11869
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)
(A) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die öffentliche Kontrolle, der öffentliche Druck ist viel (C)
NEN]: Schon gelesen!) mehr wert als ein Strafgesetz, das nicht funktioniert und
nicht funktionieren kann.
Wer diese gelesen hat, ist bestens informiert, warum es
so, wie die Linken es vorschlagen, nicht gehen kann. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann können wir das Strafgesetz
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Man ist hinter- ja ganz abschaffen! Auch für die anderen!)
her auch klüger!)
Ich sage zum Schluss: Ich möchte nicht, dass dieses
Der Sachverhalt ist strafrechtlich nicht in den Griff zu Thema in zwei Jahren wieder ansteht.
bekommen. Deshalb sollten wir dieses Vorhaben
schlichtweg sein lassen. (Christine Lambrecht [SPD]: Genau! Lassen
Sie es uns jetzt regeln!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deswegen von meiner Seite – ich glaube, die FDP trägt
GRÜNEN]: Alle Länder können es, nur wir das mit – eine ganz klare Ansage:
nicht!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Herr Kollege Ströbele, das ist doch das dümmste Ar- NEN]: Ein Zeichen für den Wechsel der Mehr-
gument, das Sie vortragen können. heiten!)

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir werden ein solches Gesetz nicht veranlassen und ei-
GRÜNEN]: Wieso das denn? – Jörg van Essen nem solchen Gesetz nicht zustimmen, weil es unsinnig
[FDP]: Dafür ist der Kollege bekannt!) ist, niemandem nützt und nur dem Parlamentarismus
schadet. Das machen wir nicht mit. Das können Sie von
Sie sagen: Alle machen es. – Wenn alle in den Brunnen uns nicht verlangen.
springen, springen wir dann hinterher?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Christine Lambrecht [SPD]: Ach! – Ansgar Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Heveling [CDU/CSU]: Na klar! Und Ströbele GRÜNEN]: Na ja! Warten Sie es ab!)
vorneweg! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Sie haben es unterschrieben!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Österreicher haben doch im Jahr 2009 erkannt, dass Die Kollegin Christine Lambrecht ist die letzte Red-
die Vorschrift, so wie sie sie ausgestaltet haben, nicht nerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
(B) funktioniert. (D)
(Beifall bei der SPD)
(Christine Lambrecht [SPD]: Dann haben sie
eben schlecht gearbeitet!) Christine Lambrecht (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie haben sie geändert, aber sie funktioniert noch immer Herr van Essen, Sie haben die Kollegin Wawzyniak vor-
nicht; das hat der Kollege Heveling schon gesagt. hin kritisiert, weil es von ihr keine ausführlichen rechtli-
In Deutschland ist der Druck viel größer als in allen chen Bewertungen und Ausführungen zu diesem Thema
anderen Ländern. gegeben habe. Ich glaube, an den Anfang dieser Debatte
muss man keine rechtlichen Ausführungen stellen. Sie
(Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) müssten im weiteren Verfahren folgen. Was hier im Par-
lament an erster Stelle stehen muss, ist die Aussage, dass
Wir brauchen keinen Straftatbestand. wir uns als deutsche Politiker gegen Bestechung und Be-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE stechlichkeit wehren und dies auch strafrechtlich veran-
GRÜNEN]: Sondern?) kern wollen.

Bei einem Politiker genügt schon der Verdacht, der An- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
schein, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marco
Wanderwitz [CDU/CSU]: Das ist doch Kon-
(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Und schon wird die sens!)
Sanktion verhängt!)
Ich will Ihnen eines sagen: Auf der Zuschauertribüne
und schon ist das Amt, das er hat, beschädigt. sitzen junge Leute, die uns zuhören. Ich glaube, wenn sie
unsere bisherige Debatte verfolgt haben, dann können
(Christine Lambrecht [SPD]: Wie bei jedem sie die Welt nicht mehr verstehen. Natürlich ist es so,
anderen auch ein Anfangsverdacht!) dass Amtsträger und Politiker nicht vergleichbar sind.
– Auch bei anderen Personen gibt es den Anfangsver- Natürlich ist es so, dass Politiker interessengeleitet sind
dacht. Sie werden aber erst dann aus dem Amt gejagt, und Interessen zu vertreten haben. Natürlich ist es so,
wenn sie strafrechtlich belangt worden sind. dass man hier differenzieren kann. Man kann aber nicht
einfach sagen: Weil zwischen Amtsträgern und Politi-
(Christine Lambrecht [SPD]: Das gilt für uns kern zu unterscheiden ist, darf im Hinblick auf eine der
auch!) beiden Gruppen kein Tatbestand eingeführt werden, der
11870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Christine Lambrecht
(A) Bestechung unter Strafe stellt. – Das dürfen wir nicht zu- Wir werden ja wohl in der Lage sein, den Erfordernissen (C)
lassen; denn auch dies führt zu Politikverdrossenheit. entsprechend ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das
auch den Bestimmtheitsanforderungen genügt.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andrea Astrid
Jetzt will ich zu einigen Sachargumenten kommen. Voßhoff [CDU/CSU]: Warum haben Sie es
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Toll! denn nicht gemacht?)
Sachargumente!) Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das hinbekom-
Herr van Essen, Sie haben gesagt, seit dem Zeitpunkt, men werden. Dafür muss allerdings die Voraussetzung
als Sie den § 108 e StGB mit initiiert haben, habe es für erfüllt sein, dass man sagt: Jawohl, wir wollen gegen Be-
Sie keine neuen Erkenntnisse gegeben. stechung vorgehen. – Das ist die erste Voraussetzung. In
diesem Zusammenhang habe ich von Ihnen gerade die
(Jörg van Essen [FDP]: Keine neuen ganz klare Ansage gehört, dass CDU/CSU und FDP da-
Argumente!) ran kein Interesse haben.
Ich meine, wenn eine Staatengemeinschaft, bestehend (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
aus 151 Staaten, sich darauf verständigt, nicht nur eine GRÜNEN]: Genau! – Manfred Grund [CDU/
solche Erklärung abzugeben, sondern sie auch in den CSU]: Wenn ihr wieder regiert, macht ihr das,
jeweiligen Parlamenten im Rahmen entsprechender Ge- okay? Aber lasst uns damit bis dahin in Ruhe!)
setzgebungsverfahren zu verankern, dann ist das, wie ich Wir haben daran ein Interesse. Wir werden uns weiterhin
finde, durchaus ein Argument, das man nicht einfach mit diesem Thema befassen, damit Deutschland nicht
von der Hand weisen kann. Wo stehen wir denn? Wir länger im Aus steht.
werden mit Staaten in eine Reihe gestellt, mit denen wir
in anderen Zusammenhängen beim besten Willen nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
in einer Reihe stehen wollen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt noch zwei, drei Anmerkungen. Herr Montag, Sie
haben gesagt, die SPD habe sich verweigert bzw. nicht
Herr Kauder, wenn Sie sagen, all diese Staaten seien mitgemacht. Ich war in der 15. Wahlperiode schon dabei.
ins Messer gelaufen, muss ich Ihnen entgegnen: Ich
weiß nicht, wo Sie in den letzten Jahren gelebt haben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(B) GRÜNEN]: Ich auch!) (D)
(Jörg van Essen [FDP]: Weil die ein anderes
Immunitätsrecht haben, Frau Kollegin!) Ich war in diesen Arbeitskreisen, in denen Herr Ströbele,
Herr Beck und auch Herr Montag saßen. Wir waren ganz
Ich habe nicht mitbekommen, dass die Staaten, die ent- kurz davor, etwas umzusetzen.
sprechende Regelungen umgesetzt haben, in große Kri-
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach ja!)
sen gestürzt sind.
Damals ist eine verkürzte Wahlperiode dazwischenge-
(Jörg van Essen [FDP]: Noch einmal: Die ha- kommen. Das mag man beklagen, und man kann sich
ben ein anderes Immunitätsrecht!) überlegen, wer dafür der Verursacher war. Nichtsdesto-
– Herr van Essen, wir waren jahrelang Mitglieder des trotz haben wir damals sehr konstruktiv daran gearbeitet,
1. Ausschusses. Es ist doch nicht so, dass in anderen ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen.
Ländern, in anderen europäischen Ländern ein völlig an- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
deres Immunitätsrecht gilt. GRÜNEN]: Das stimmt! – Manfred Grund
(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Natürlich! – [CDU/CSU]: Legt es euch auf Wiedervorlage
Manfred Grund [CDU/CSU]: Natürlich! Ge- für das nächste Mal!)
hen Sie mal in die Ukraine! – Gegenruf des Sie haben da keine Verweigerungshaltung der SPD er-
Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lebt.
NEN]: Verschärfen wir das Immunitätsrecht
doch dort! Was meinen Sie?) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie können das dem Herrn Stünker vor-
Natürlich bestehen Unterschiede; aber es gibt auch Län- halten!)
der, die ein Immunitätsrecht haben, das mit dem deut-
schen vergleichbar ist. – Ich glaube, wir sollten das niemandem vorhalten, weil
es nicht der Fall war, weil es in der SPD keine Verweige-
Es kann doch nicht wahr sein, dass wir nicht in der rungshaltung gab.
Lage sind, ein solches Gesetz zu formulieren. Hier sitzen
hervorragende Juristen; ich schaue jetzt bewusst in Rich- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tung der Koalitionsfraktionen. Ich habe die Zitate dabei! Vorsicht!)
Es gibt auch keine Verweigerungshaltung.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die verweigern sich aber!) (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11871
Christine Lambrecht
(A) Deswegen werden wir uns in den nächsten Wochen Danach kam die Große Koalition. In dieser Großen (C)
und Monaten selbstverständlich konstruktiv einbringen, Koalition gab es auf Betreiben der CDU/CSU-Fraktion
um ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das auf der einen die ganz klare Ansage, an dieses Thema nicht heranzu-
Seite diesen Straftatbestand klar definiert, auf der ande- gehen.
ren Seite aber auch dafür sorgt, dass wir als Parlamenta-
rier arbeiten können. Ich sage das ganz bewusst. Ich war (Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!)
im Immunitätsausschuss. Ich habe da Fälle kennenge- Das war der Hintergrund, warum zwischen 2005 und
lernt, wo Strafverfolgung stattgefunden hat, was zum 2009 an dieser Fragestellung innerhalb der Großen
Teil wirklich Fragen aufgeworfen hat. Aber da waren die Koalition nicht gearbeitet wurde.
Gesetze klar definiert. Nichtsdestotrotz gab es eine
Strafverfolgung, nichtsdestotrotz haben Staatsanwälte (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So
einen Anfangsverdacht ausgemacht. Deswegen kann war das!)
man nicht argumentieren, so ein Gesetz bekämen wir Momentan – wie Sie vielleicht mitbekommen haben,
hier nicht hin. vielleicht bekommen Sie es aber auch nicht mit – sind
wir nicht in Regierungsverantwortung. Aber selbstver-
Präsident Dr. Norbert Lammert: ständlich werden wir einen entsprechenden Gesetzent-
Frau Kollegin Lambrecht, darf Ihnen der Kollege wurf vorlegen. Dann bin ich gespannt, ob Sie sich zu-
Kauder kurz vor Schluss dieser Debatte noch eine Zwi- mindest auf konstruktive Beratungen einlassen.
schenfrage stellen? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Christine Lambrecht (SPD):
Ich will nur deutlich machen: Ich glaube, es steht uns
Die Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen. nicht gut zu Gesicht, wenn wir als Juristen sagen, dass
(Zuruf des Abg. Marco Buschmann [FDP]) wir es zwar in vielen anderen Bereichen hinbekommen,
Gesetze und Straftatbestände genau zu definieren, dass
– Das kann man so interpretieren, Herr Buschmann. das aber nicht gilt, wenn es uns betreffen könnte.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
CSU):
Frau Kollegin Lambrecht, wenn Sie fragen, ob es Dann strecken wir lieber gleich alle Waffen und sagen,
(B) nicht blamabel sei, dass so viele gute Juristen ein solches dass wir es nicht hinbekommen. Lassen Sie uns deshalb (D)
Gesetz nicht hinbekommen, darf ich die Gegenfrage mit dieser Diskussion aufhören. Machen Sie mit, und
stellen: Meinen Sie nicht, dass es blamabel wirkt, wenn verweigern Sie sich nicht von vornherein. Lassen Sie
Sie hier vor der Bevölkerung auftreten und sagen, Sie uns schauen, ob wir etwas Praktikables, etwas Umsetz-
hätten es jahrelang versucht, aber nicht hinbekommen? bares auf den Weg bringen. Ich bin mir da ziemlich si-
cher, denn ich kenne den Sachverstand der Kolleginnen
und Kollegen.
Christine Lambrecht (SPD):
Nein, nein. Vielen Dank.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN]: Herr Schröder kam uns dazwi- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
schen!) GRÜNEN)

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Präsident Dr. Norbert Lammert:


CSU): Ich schließe die Aussprache.
Sie haben es nicht hinbekommen, weil Sie es unterm Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
Strich genauso wenig für vertretbar halten wie wir. wurfs auf der Drucksache 17/1412 an die in der Tages-
(Jörg van Essen [FDP]: Richtig, das waren ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – An-
dere Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist das so
nämlich die gleichen Gründe!)
beschlossen.

Christine Lambrecht (SPD): Ich habe zum Schluss einen Hinweis und eine Bitte.
2003 gab es die UN-Konvention, und wir haben es Der Hinweis lautet wie folgt: Es kommt im parlamenta-
tatsächlich nicht geschafft, bis Mai 2005 eine entspre- rischen Alltag nicht selten vor, dass ein Gesetzesvor-
chende Regelung auf den Weg zu bringen. Das war näm- schlag aus beachtenswerten Gründen für die angestrebte
lich genau die Zeitspanne, die wir hatten. Problemlösung nicht für geeignet gehalten wird und man
sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es
(Jörg van Essen [FDP]: Damals haben auch zu dem Problem Klärungs- und vielleicht auch Hand-
die SPD und die Grünen dem Staatssekretär lungsbedarf gibt. Ich empfehle auch bei diesem Punkt,
gesagt, er soll nicht unterzeichnen!) diese Differenzierung im Auge zu behalten.
11872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Jede weitere Bemerkung verkneife ich mir, weil wir (C)
Vielen Dank!) die gute Tradition haben, dass sich amtierende Präsiden-
ten nicht in Debatten einzumischen haben.
Nun zu der Bitte. Das Thema ist ganz offenkundig
entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
aussieht. Das haben Sie auch nicht getan!)
– Herr Kollege Hartmann, ich bedanke mich für den
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Zwischenruf.
GRÜNEN]: Das stimmt!)
(Iris Gleicke [SPD]: Das war nur ein Arbeits-
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die auftrag!)
neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differen- Deswegen habe ich das sorgfältigst vermieden.
zierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Weil hier Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
zweifellos ein Zusammenhang mit dem Immunitätsrecht
besteht, könnte die Betrachtung dieses Zusammenhangs Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
ein Bestandteil der gemeinsamen Bemühungen in die- destages auf Mittwoch, den 13. April 2011, 13 Uhr, ein.
sem Themenumfeld sein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes und hoffentlich geruhsames Wochenende.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!) (Schluss: 15.10 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011 11873

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 08.04.2011 Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN
Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN
Brinkmann (Hildesheim), SPD 08.04.2011
Bernhard Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 08.04.2011
Karl A.
Crone, Petra SPD 08.04.2011
Lange, Ulrich CDU/CSU 08.04.2011
Dr. Danckert, Peter SPD 08.04.2011
Lange (Backnang), SPD 08.04.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 08.04.2011 Christian
Friedrich, Peter SPD 08.04.2011 Laurischk, Sibylle FDP 08.04.2011
Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 08.04.2011 Lenkert, Ralph DIE LINKE 08.04.2011
Gädechens, Ingo CDU/CSU 08.04.2011 Leutheusser- FDP 08.04.2011
Schnarrenberger,
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 08.04.2011
Sabine
Gruß, Miriam FDP 08.04.2011
Lindner, Christian FDP 08.04.2011
(B) Günther (Plauen), FDP 08.04.2011 (D)
Lips, Patricia CDU/CSU 08.04.2011
Joachim
Ludwig, Daniela CDU/CSU 08.04.2011
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 08.04.2011
Möller, Kornelia DIE LINKE 08.04.2011
Haustein, Heinz-Peter FDP 08.04.2011
Petermann, Jens DIE LINKE 08.04.2011
Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN Pflug, Johannes SPD 08.04.2011
Hinz (Essen), Petra SPD 08.04.2011 Pieper, Cornelia FDP 08.04.2011
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 08.04.2011 Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 08.04.2011
DIE GRÜNEN
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 08.04.2011
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN Schlecht, Michael DIE LINKE 08.04.2011
Hörster, Joachim CDU/CSU 08.04.2011 Schmidt (Eisleben), SPD 08.04.2011
Silvia
Jasper, Dieter CDU/CSU 08.04.2011
Steinke, Kersten DIE LINKE 08.04.2011
Jung (Konstanz), CDU/CSU 08.04.2011
Andreas Tempel, Frank DIE LINKE 08.04.2011
Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 08.04.2011 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN
Kramme, Anette SPD 08.04.2011 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 08.04.2011
Kressl, Nicolette SPD 08.04.2011 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 08.04.2011
DIE GRÜNEN
11874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 8. April 2011

(A) Anlage 2 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben (C)


mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden
Amtliche Mitteilungen Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben ner Beratung abgesehen hat.
mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3
Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung Auswärtiger Ausschuss
zu den nachstehenden Vorlagen absieht:
Drucksache 17/4768 Nr. A.l
Ratsdokument 16689/10

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 17/4509 Nr. A.7
Ratsdokument 15894/1/10 REV 1
Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- Drucksache 17/4768 Nr. A.2
und Bildungspolitik 2009/2010 Ratsdokument 16271/1/10 REV 1
– Drucksachen 17/4413, 17/4742 Nr. 4 –
Haushaltsausschuss
Drucksache 17/4768 Nr. A.7
Finanzausschuss Ratsdokument 5330/11
Drucksache 17/4768 Nr. A.8
– Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Ratsdokument 5331/11
Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über
die Steuerermäßigung für haushaltsnahe Dienstleistun- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gen und Handwerkerleistungen nach § 35a des Einkom-
mensteuergesetzes Drucksache 17/4768 Nr. A.10
EuB-BReg 135/2011
– Drucksachen 17/4641, 17/4917 Nr. 1.2 – Drucksache 17/4927 Nr. A.l5
Ratsdokument 2115
Drucksache 17/4927 Nr. A.l6
Ratsdokument 5559/11
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Arbeit und Soziales


Raumfahrtstrategie der Bundesregierung – Für eine zu- Drucksache 17/4768 Nr. A.l3
(B) kunftsfähige deutsche Raumfahrt Ratsdokument 5064/11 (D)
Drucksache 17/4768 Nr. A.l4
– Drucksachen 17/4140, 17/4499 Nr. 1.4 – Ratsdokument 5068/11
Drucksache 17/4768 Nr. A.l5
Ratsdokument 5520/11
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Drucksache 17/4927 Nr. A.25
Tätigkeitsberichte 2008 und 2009 der Bundesnetzagen- Ratsdokument 5541/11
tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und
Eisenbahnen für den Bereich Eisenbahnen gemäß § 14b
des Allgemeinen Eisenbahngesetzes Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
und Reaktorsicherheit
Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 17/3791 Nr. A.15
– Drucksachen 17/4630, 17/4917 Nr. 1 – Ratsdokument 14868/10
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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