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Plenarprotokoll 17/114

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- in Verbindung mit


neten Ulla Jelpke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12955 A
Begrüßung der neuen Abgeordneten Till Zusatztagesordnungspunkt 2:
Seiler und Tobias Lindner . . . . . . . . . . . . . . 12955 B
Erste Beratung des von den Fraktionen der
Wahl des Abgeordneten Rainer Brüderle CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsamen eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts-
Ausschuss und zum stellvertretenden Mit- rahmens für die Förderung der Stromer-
glied im Vermittlungsausschuss . . . . . . . . . . 12955 B zeugung aus erneuerbaren Energien
Wahl der Abgeordneten Birgit Homburger (Drucksache 17/6071) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 C
als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsa-
men Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12955 B in Verbindung mit
Wahl des Herrn Dr. Jörg Bentmann als stell-
vertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Zusatztagesordnungspunkt 3:
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12955 B Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- eines Gesetzes zur Neuregelung energie-
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12955 C wirtschaftsrechtlicher Vorschriften
Absetzung der Tagesordnungspunkte 16, 28, (Drucksache 17/6072) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 D
34 o sowie 35 c und d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12957 D
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 12957 D in Verbindung mit
Begrüßung des Außenministers der Republik
Kosovo, Herrn Enver Hoxhaj, und des Bot- Zusatztagesordnungspunkt 4:
schafters der Republik Kosovo, Herrn Erste Beratung des von den Fraktionen der
Dr. Vilson Mirdita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13089 C CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über Maßnahmen zur Be-
Tagesordnungspunkt 3: schleunigung des Netzaubaus Elektrizitäts-
netze
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch (Drucksache 17/6073) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 D
die Bundeskanzlerin: Der Weg zur Ener-
gie der Zukunft
in Verbindung mit
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Zusatztagesordnungspunkt 5:
Änderung des Atomgesetzes
Erste Beratung des von den Fraktionen der
(Drucksache 17/6070) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 C CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung Zusatztagesordnungspunkt 9:


von energetischen Sanierungsmaßnahmen
an Wohngebäuden Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf
(Drucksache 17/6074) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 A Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion SPD: Die
Energiewende gelingt nur mit KWK
in Verbindung mit (Drucksache 17/6084) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 C

Zusatztagesordnungspunkt 6: in Verbindung mit

Erste Beratung des von den Fraktionen der


CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs Zusatztagesordnungspunkt 10:
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Errichtung eines Sondervermögens Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
„Energie- und Klimafonds“ (EKFG- Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge-
ÄndG) ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
(Drucksache 17/6075) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 A GRÜNEN: Rückstellungen der Atomwirt-
schaft in Ökowandel-Fonds überführen –
Sicherheit, Transparenz und ökologischen
in Verbindung mit Nutzen schaffen, statt an Wettbewerbsver-
zerrung und Ausfallrisiko festzuhalten
(Drucksache 17/6119) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 C
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Erste Beratung des von den Fraktionen der in Verbindung mit
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Stärkung der klimage-
rechten Entwicklung in den Städten und Zusatztagesordnungspunkt 11:
Gemeinden
(Drucksache 17/6076) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 A Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle,
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
in Verbindung mit
GRÜNEN: Versorgungssicherheit transpa-
rent machen – Keine Experimente mit ato-
Zusatztagesordnungspunkt 8: marer „Kaltreserve“
(Drucksache 17/6109) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 D
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs Dr. Angela Merkel,
eines Ersten Gesetzes zur Änderung schiff- Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12960 A
fahrtsrechtlicher Vorschriften
(Drucksache 17/6077) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 B Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 12964 B
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister
Tagesordnungspunkt 3: BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12967 A
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12969 A
Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia
Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12971 C
Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
NEN eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12973 C
setzes zur Änderung des Atomgesetzes
(Beendigung der Nutzung von Atom- Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12975 A
kraftwerken zur kommerziellen Ener- Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12976 D
gieerzeugung in Deutschland)
(Drucksache 17/5931) . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12978 D
d) Antrag der Abgeordneten Dorothee Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12978 D
Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12981 A
Fraktion DIE LINKE: Atomausstieg bis Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12981 D
2014 – Für eine erneuerbare und demo-
kratische Energieversorgung Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/6092) . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12982 C
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
in Verbindung mit BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12983 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 III

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ des Chemikaliengesetzes und anderer


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12984 D Gesetze im Hinblick auf den Vertrag
von Lissabon
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/6054) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12987 B
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12988 A
zes zu dem Abkommen vom 5. April
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . 12988 B 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Internationalen
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
Organisation für erneuerbare Energien
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12988 B
über den Sitz des IRENA-Innovations-
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12989 D und Technologiezentrums
(Drucksache 17/6039) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 C
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12991 B
d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Tagesordnungspunkt 4: zes zur Umsetzung der Meeresstrategie-
Rahmenrichtlinie und zur Änderung
Antrag der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling,
des Bundeswasserstraßengesetzes
Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-
(Drucksache 17/6055) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 C
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: Finanztransaktionsteuer e) Erste Beratung des von der Bundesregie-
in Europa einführen – Gesetzesinitiative rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
jetzt vorlegen zes zu dem Abkommen vom 9. März
(Drucksache 17/6086) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12993 A 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Östlich
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12993 A
des Uruguay zur Vermeidung der Dop-
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 12994 D pelbesteuerung und der Steuerverkür-
zung auf dem Gebiet der Steuern vom
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12996 A
Einkommen und vom Vermögen
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12996 D (Drucksache 17/6056) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 C
Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12997 D f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
zes zu dem Abkommen vom 4. Juni
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12999 C
2010 zwischen der Regierung der Bun-
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . 13000 A desrepublik Deutschland und der Re-
gierung der Turks- und Caicosinseln
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13001 D
über den steuerlichen Informationsaus-
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 13003 A tausch
(Drucksache 17/6057) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 D
Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13004 D
g) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13005 D
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13007 A zes zu dem Abkommen vom 21. Juni
2010 zwischen der Bundesrepublik
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . 13009 B
Deutschland und der Republik San Ma-
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13010 C rino über die Unterstützung in Steuer-
und Steuerstrafsachen durch Informa-
tionsaustausch
Tagesordnungspunkt 34: (Drucksache 17/6058) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 D
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- h) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umsetzung aufenthaltsrechtli- zes zu dem Abkommen vom 5. Oktober
cher Richtlinien der Europäischen 2010 zwischen der Regierung der Bun-
Union und zur Anpassung nationaler desrepublik Deutschland und der Re-
Rechtsvorschriften an den EU-Visa- gierung der Britischen Jungferninseln
kodex über die Unterstützung in Steuer- und
(Drucksache 17/6053) . . . . . . . . . . . . . . . . 13012 B Steuerstrafsachen durch Informations-
austausch
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksache 17/6059) . . . . . . . . . . . . . . . 13012 D
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Durchführung der Verordnung i) Erste Beratung des von der Bundes-
(EG) Nr. 1272/2008 und zur Anpassung regierung eingebrachten Entwurfs eines
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Gesetzes zu dem Abkommen vom b) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,


28. Februar 2011 zwischen der Bundes- Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
republik Deutschland und der Republik weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ungarn zur Vermeidung der Doppelbe- der SPD: Klare Regelungen für Inten-
steuerung und zur Verhinderung der sivtierhaltung
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der (Drucksache 17/6089) . . . . . . . . . . . . . . . 13013 D
Steuern vom Einkommen und vom Ver-
mögen c) Antrag der Abgeordneten Caren Marks,
(Drucksache 17/6060) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 A Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
j) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Auf die Einführung des Betreuungsgel-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Vierten, Fünften und Sechsten des verzichten
Änderung des Europäischen Überein- (Drucksache 17/6088) . . . . . . . . . . . . . . . 13013 D
kommens vom 1. Juli 1970 über die Ar- d) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
beit des im internationalen Straßenver- Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland,
kehr beschäftigten Fahrpersonals Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
(AETR)
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Drucksache 17/6061) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 A
NEN: DDR-Altübersiedler und -Flücht-
k) Erste Beratung des von der Bundesregie- linge vor Rentenminderungen schützen –
rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Gesetzliche Regelung im SGB VI veran-
ten Gesetzes zur Änderung des Über- kern
einkommens vom 4. August 1963 zur (Drucksache 17/6108) . . . . . . . . . . . . . . . 13014 A
Errichtung der Afrikanischen Entwick-
lungsbank e) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
(Drucksache 17/6062) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 A Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
l) Erste Beratung des von der Bundesregie- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht zum Ri-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
sikomanagement bei Lebensmittelkri-
zes zur Änderung des Übereinkommens
sen vorlegen
vom 29. November 1972 über die Er-
richtung des Afrikanischen Entwick- (Drucksache 17/6107) . . . . . . . . . . . . . . . 13014 A
lungsfonds
(Drucksache 17/6063) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 B
Tagesordnungspunkt 35:
m) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weite- a) Zweite und dritte Beratung des von der
rer Abgeordneter und der Fraktion Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Essen eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
spielt man nicht – Spekulation mit der Bundes-Tierärzteordnung
Agrarrohstoffen eindämmen (Drucksachen 17/5804, 17/6106) . . . . . . . 13013 B
(Drucksache 17/5934) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
n) Antrag der Abgeordneten Omid
Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
Nouripour, Hans-Christian Ströbele,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab- gie zu dem Antrag der Abgeordneten
geordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg,
NIS 90/DIE GRÜNEN: Aussagekräfti- Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und
gen Abschlussbericht zur beendeten Be- der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
teiligung deutscher Streitkräfte an der geordneten Torsten Staffeldt, Dr. Martin
Operation Enduring Freedom vorlegen Lindner (Berlin), Angelika Brunkhorst,
(Drucksache 17/6123) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP: Die Zukunftsfähigkeit der ma-
p) Zwischenbericht der Enquete-Kommis- ritimen Wirtschaft als nationale Auf-
sion Ethik und Recht der modernen Medi- gabe
zin: Organlebendspende (Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buch-
(Drucksache 15/5050) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 C stabe a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13014 C
e)–m)
Zusatztagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
a) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf schusses: Sammelübersichten 269, 270,
(Rosenheim), Kerstin Griese, Rüdiger 271, 272, 273, 274, 275, 276 und 277 zu
Veit, weiterer Abgeordneter und der Frak- Petitionen
tion der SPD: Die Integration der Sinti (Drucksachen 17/5919, 17/5920, 17/5921,
und Roma in Europa verbessern 17/5922, 17/5923, 17/5924, 17/5925,
(Drucksache 17/6090) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 C 17/5926, 17/5927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13014 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 V

Zusatztagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 6:


Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- a) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
geordneten Agnes Malczak, Sylvia Kotting- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: sonstigen Rüstungsgütern nach Ägyp-
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers ten endgültig stoppen
Group verhindern – Keine weitere Erosion (Drucksache 17/5935) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 B
des nuklearen Nichtverbreitungsregimes
(Drucksachen 17/5374, 17/6139) . . . . . . . . . . 13015 D b) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Zusatztagesordnungspunkt 14: LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
sonstigen Rüstungsgütern nach Libyen
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion endgültig stoppen
der SPD: Ergebnisse der Maritimen Konfe- (Drucksache 17/5936) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 B
renz und die Aufkündigung des Maritimen
Bündnisses durch die Bundesregierung c) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13016 A Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13017 A LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13018 A sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien
endgültig stoppen
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär (Drucksache 17/5937) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 C
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13019 C
d) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13020 D terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 13022 A LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
sonstigen Rüstungsgütern nach Tune-
Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 13023 A sien endgültig stoppen
Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13024 A (Drucksache 17/5938) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 C
Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13025 A e) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 13025 D
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 13027 A LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
sonstigen Rüstungsgütern nach Oman
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13028 D stoppen
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 13030 A (Drucksache 17/5939) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 C
f) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Tagesordnungspunkt 5: Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
– Zweite und dritte Beratung des von der LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs sonstigen Rüstungsgütern in den Jemen
eines Steuervereinfachungsgesetzes stoppen
2011 (Drucksache 17/5940) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 D
(Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105,
17/6146) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13031 B g) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
§ 96 der Geschäftsordnung LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
(Drucksache 17/6121) . . . . . . . . . . . . . . . . 13031 B sonstigen Rüstungsgütern in die Verei-
Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13031 C nigten Arabischen Emirate stoppen
(Drucksache 17/5941) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 D
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 13033 C
h) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13036 A
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13037 C terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
sonstigen Rüstungsgütern nach Saudi-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13039 A
Arabien stoppen
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 13040 C (Drucksache 17/5942) . . . . . . . . . . . . . . . 13043 A
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

i) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- van Aken, Christine Buchholz, weiterer
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und LINKE: Rüstungsexporte in Staaten des
sonstigen Rüstungsgütern nach Israel Nahen Ostens einstellen – Militärische
stoppen Zusammenarbeit beenden – Atomwaf-
(Drucksache 17/5943) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 A fenfreie Zone befördern
(Drucksachen 17/2481, 17/4508) . . . . . . . 13043 D
j) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- r) Beschlussempfehlung und Bericht des
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und gie
sonstigen Rüstungsgütern nach Ma-
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:
rokko stoppen
Mit Transparenz und parlamentari-
(Drucksache 17/5944) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 A
scher Beteiligung gegen die Auswei-
k) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, tung von Rüstungsexporten
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- – zu dem Antrag der Abgeordneten
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken,
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und Christine Buchholz, weiterer Abgeord-
sonstigen Rüstungsgütern in den Liba- neter und der Fraktion DIE LINKE:
non stoppen Alle Exporte von Kriegswaffen und
(Drucksache 17/5945) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 B sonstigen Rüstungsgütern stoppen
l) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, – zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Katja Keul, Hans-Christian Ströbele,
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Agnes Malczak, weiterer Abgeordne-
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
sonstigen Rüstungsgütern nach Kuwait DIE GRÜNEN: Genehmigung für
stoppen Waffenexporte bei Unzuverlässig-
(Drucksache 17/5946) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 B keit konsequent aussetzen
m) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, (Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- 17/5823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13044 A
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 13044 B
sonstigen Rüstungsgütern nach Jorda- Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13045 B
nien stoppen
(Drucksache 17/5947) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 C Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 13046 A
n) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 13047 D
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13049 A
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 13049 B
sonstigen Rüstungsgütern nach Bahrain
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 13050 A
stoppen
(Drucksache 17/5948) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13050 B
o) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 13050 C
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13051 D
sonstigen Rüstungsgütern nach Katar
stoppen
(Drucksache 17/5949) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 D Tagesordnungspunkt 7:

p) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,
Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Becker, weiterer Abgeordneter und der Frak-
LINKE: Exporte von Kriegswaffen und tion der CDU/CSU, der Abgeordneten
sonstigen Rüstungsgütern nach Alge- Marlene Rupprecht, Petra Crone, Christel
rien stoppen Humme, weiterer Abgeordneter und der Frak-
(Drucksache 17/5950) . . . . . . . . . . . . . . . . 13043 D tion der SPD, der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan
q) Beschlussempfehlung und Bericht des Thomae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag tion der FDP sowie der Abgeordneten Katja
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 VII

Dörner, Josef Philip Winkler, Volker Beck Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
(Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13066 C
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Opfern
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)
von Unrecht und Misshandlungen in der
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13067 C
Heimerziehung wirksam helfen
(Drucksache 17/6143) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13053 C Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13069 B
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
in Verbindung mit DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13070 D
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13071 B
Zusatztagesordnungspunkt 15: Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 13071 C
Antrag der Abgeordneten Heidrun Dittrich,
Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Tagesordnungspunkt 9:
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Unterstützung für Opfer der Heimerzie- – Beschlussempfehlung und Bericht des
hung – Angemessene Entschädigung für Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
ehemalige Heimkinder umsetzen der Bundesregierung: Fortsetzung der
(Drucksache 17/6093) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13053 D Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Inte-
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13054 A rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Grundlage der Resolution 1701 (2006)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13055 A vom 11. August 2006 und folgender Re-
solutionen, zuletzt 1937 (2010) vom
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13056 C 30. August 2010 des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13058 B (Drucksachen 17/5864, 17/6133) . . . . . . . 13072 C
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13058 C § 96 der Geschäftsordnung
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/6134) . . . . . . . . . . . . . . . 13072 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13059 C Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 13072 D
Elisabeth Winkelmeier-Becker Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 13073 D
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13060 C
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13075 A
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 13076 A
Tagesordnungspunkt 8:
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13076 D
Jerzy Montag, Ingrid Hönlinger, Memet
Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13077 C
Kilic, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Straf- Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 13078 D
rechtsänderungsgesetzes – Bestechung
und Bestechlichkeit von Abgeordneten
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13080 D
(Drucksache 17/5933) . . . . . . . . . . . . . . . . 13061 D
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Jerzy Montag, Tom Koenigs, Marieluise Tagesordnungspunkt 10:
Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten a) Antrag der Fraktion der SPD: Die UN-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Leitlinien für menschenrechtlich ver-
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines antwortliches unternehmerisches Han-
Gesetzes zum Übereinkommen der Ver- deln aktiv unterstützen
einten Nationen gegen Korruption (Drucksache 17/6087) . . . . . . . . . . . . . . . 13078 D
(Drucksache 17/5932) . . . . . . . . . . . . . . . . 13062 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13062 A manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13062 D der SPD: Die Chance zur Stärkung des
UN-Menschenrechtsrates nutzen
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13063 C (Drucksachen 17/5482, 17/6078) . . . . . . . 13079 A
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13066 A Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13079 A
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13083 A tionsschutzgesetzes und weiterer Ge-


setze
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 13084 C (Drucksachen 17/5178, 17/6141) . . . . 13095 C
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13085 B – Zweite und dritte Beratung des von der
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung eingebrachten Ent-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13086 B wurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Infektionsschutzgesetzes und
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 13087 A weiterer Gesetze
(Drucksachen 17/5708, 17/6141) . . . . 13095 C
Tagesordnungspunkt 11: b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Gesundheit
– Beschlussempfehlung und Bericht des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag – zu dem Antrag der Abgeordneten
der Bundesregierung: Fortsetzung der Bärbel Bas, Mechthild Rawert,
deutschen Beteiligung an der interna- Dr. Carola Reimann, weiterer Abge-
tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo ordneter und der Fraktion der SPD:
auf der Grundlage der Resolution 1244 Besserer Schutz vor Krankenhaus-
(1999) des Sicherheitsrates der Verein- infektionen durch mehr Fachperso-
ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des nal für Hygiene und Prävention
Militärisch-Technischen Abkommens – zu dem Antrag der Abgeordneten
zwischen der internationalen Sicher- Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge,
heitspräsenz (KFOR) und den Regie- Inge Höger, weiterer Abgeordneter
rungen der Bundesrepublik Jugosla- und der Fraktion DIE LINKE: Kran-
wien (jetzt: Republik Serbien) und der kenhausinfektionen vermeiden –
Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Tödliche und gefährliche Keime be-
(Drucksachen 17/5706, 17/6135) . . . . . . . 13088 B kämpfen
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß – zu dem Antrag der Abgeordneten
§ 96 der Geschäftsordnung Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt
(Drucksache 17/6136) . . . . . . . . . . . . . . . . 13083 C Bender, weiterer Abgeordneter und der
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13083 D Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Prävention gegen Kranken-
Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13089 D hausinfektionen verbessern
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13091 A (Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203,
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13091 D 17/6141) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13095 C

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13092 D Tagesordnungspunkt 14:
Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 13093 D Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite-
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 13095 A rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Wirksamen Verbraucherschutz bei
Nanostoffen durchsetzen
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13114 C (Drucksache 17/5917) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13096 B

Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 15:


Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und zes zur Vereinbarkeit von Pflege und
der Fraktion der SPD: Barrierefreier Touris- Beruf
mus für alle (Drucksache 17/6000) . . . . . . . . . . . . . . . 13096 C
(Drucksache 17/5913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13095 B
b) Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Tagesordnungspunkt 13:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verein-
a) – Zweite und dritte Beratung des von barkeit von Pflege, Familie und Beruf
den Fraktionen der CDU/CSU und verbessern – Pflegende Bezugspersonen
FDP eingebrachten Entwurfs eines wirksam entlasten und unterstützen
Gesetzes zur Änderung des Infek- (Drucksache 17/1434) . . . . . . . . . . . . . . . 13096 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 IX

c) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger- Tagesordnungspunkt 19:


Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Beschlussempfehlung und Bericht des
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Rechtsausschusses
Fraktion DIE LINKE: Bezahlte Pflegezeit
einführen – Organisation der Pflege si- – zu dem Antrag der Abgeordneten
cherstellen Christine Lambrecht, Petra Crone,
(Drucksache 17/1754) . . . . . . . . . . . . . . . . 13096 D Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Gleichstellung
eingetragener Lebenspartnerschaften
Tagesordnungspunkt 23: – zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Cornelia
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Möhring, weiterer Abgeordneter und der
Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Fraktion DIE LINKE: Öffnung der Ehe
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516) . . 13105 B
NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Änderung der Vornamen
und die Feststellung der Geschlechtszu- Tagesordnungspunkt 20:
gehörigkeit (ÄVFGG) a) Beschlussempfehlung und Bericht des
(Drucksache 17/2211) . . . . . . . . . . . . . . . . 13097 A Ausschusses für die Angelegenheiten der
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Europäischen Union zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Ein-
Höll, Cornelia Möhring, Matthias W.
richtung einer Interparlamentarischen
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Konferenz zur Gemeinsamen Außen-
Fraktion DIE LINKE: Sexuelle Men- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsa-
schenrechte für Transsexuelle, Trans- men Sicherheits- und Verteidigungs-
gender und Intersexuelle gewährleisten politik der Europäischen Union
– Transsexuellengesetz aufheben (Drucksachen 17/5903, 17/6140) . . . . . . . 13105 C
(Drucksache 17/5916) . . . . . . . . . . . . . . . . 13097 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Auswärtigen Ausschusses
Tagesordnungspunkt 17: – zu dem Antrag der Abgeordneten
Günter Gloser, Dietmar Nietan,
– Zweite und dritte Beratung des von der Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs und der Fraktion der SPD: Für eine
eines Gesetzes zur Anpassung der wirkungsvolle interparlamentari-
Rechtsgrundlagen für die Fortentwick- sche Begleitung der Europäischen
lung des Emissionshandels Außen- und Sicherheitspolitik im
(Drucksachen 17/5296, 17/5711, 17/6124) Geiste des Vertrages von Lissabon
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß – zu dem Antrag der Abgeordneten
§ 96 der Geschäftsordnung Kerstin Müller (Köln), Marieluise
(Drucksache 17/6125) . . . . . . . . . . . . . . . . 13097 C Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Tagesordnungspunkt 18: Kriterien und Anforderungen für
eine parlamentarische Beteiligung
Erste Beratung des von der Bundesregierung an der Gemeinsamen Außen- und
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherheitspolitik der EU
Novellierung des Finanzanlagenvermitt- (Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137,
ler- und Vermögensanlagenrechts 17/6138) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13105 D
(Drucksache 17/6051) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13097 D
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13098 A
Tagesordnungspunkt 21:
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13099 B a) Antrag der Abgeordneten Karin Roth
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13100 D (Esslingen), Lothar Binding (Heidelberg),
Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordne-
Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 13102 C ter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Thilo Hoppe, Tom
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Koenigs, Undine Kurth (Quedlinburg),
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13104 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte in- Durchsetzung und Evaluation des Reise-
digener Völker stärken - ILO-Konven- rechts verbessern
tion 169 ratifizieren (Drucksachen 17/4041, 17/5562) . . . . . . . . . . 13122 B
(Drucksache 17/5915) . . . . . . . . . . . . . . . . 13106 B
Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13122 C
b) Antrag der Abgeordneten Hans-Christian
Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13124 A
Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Patrick Döring (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13125 B
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Ver-
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13126 A
bot von Koka-Blättern – Für die völker-
rechtliche Anerkennung als schützens- Markus Tressel (BÜNDNIS 90/
werte Kultur der indigenen Völker im DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13126 C
Anden-Raum
(Drucksache 17/6120) . . . . . . . . . . . . . . . . 13106 C
Tagesordnungspunkt 24:
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13106 D
Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13108 C Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Karin Roth (Esslingen) (SPD). . . . . . . . . . . . . 13109 B Barthel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD: Alphabetisierung und Grund-
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP). . . . . . 13111 A bildung in Deutschland fördern
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13112 A (Drucksache 17/5914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13127 C
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13127 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13113 A Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU). . . 13128 C
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 13129 C
Zusatztagesordnungspunkt 16: Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13131 A
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP Sylvia Canel (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13132 A
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Belarus
nach den Wahlen – Repressionen beenden Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 13132 D
(Drucksache 17/6144) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13116 B Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13133 D
Tagesordnungspunkt 22:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 25:
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
geordneten Sevim Dağdelen, Alexander schusses für Bildung, Forschung und Tech-
Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab-
und der Fraktion DIE LINKE: Für die Demo- geordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter
kratisierung des Gewerkschaftsrechts in Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer
der Türkei Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
(Drucksachen 17/1101, 17/2025) . . . . . . . . . . 13116 D Adulte Stammzellforschung ausweiten,
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13117 A Forschung in der regenerativen Medizin
voranbringen und Deutschlands Spitzen-
Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13117 C position ausbauen
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13118 C (Drucksachen 17/908, 17/3618) . . . . . . . . . . . 13135 A

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 13119 B Eberhard Gienger (CDU/CSU). . . . . . . . . . . . 13135 B

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13120 A Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13135 D
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13137 C
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13121 A Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 13138 C
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . 13139 C
Tagesordnungspunkt 27: Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13140 C
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung zu dem Antrag der Abgeordneten
Tagesordnungspunkt 26:
Markus Tressel, Nicole Maisch, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der a) Antrag der Abgeordneten Katrin Werner,
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 XI

Abgeordneter und der Fraktion DIE – Krankenhausinfektionen vermeiden – Töd-


LINKE: Ausbeuterische Kinderarbeit liche und gefährliche Keime bekämpfen
weltweit bekämpfen
– Prävention gegen Krankenhausinfektionen
(Drucksache 17/5759) . . . . . . . . . . . . . . . . 13141 D
verbessern
b) Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina (Tagesordnungspunkt 13 a und b)
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 13158 D
Fraktion DIE LINKE: Verbot der Ein-
Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 13160 B
fuhr, des Handels und der Verwendung
von Steinprodukten, die durch ausbeu- Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13161 B
terische Kinderarbeit hergestellt wur- Jens Ackermann (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . 13162 D
den
(Drucksache 17/5803) . . . . . . . . . . . . . . . . 13141 D Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 13164 B
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 13142 A Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13164 C
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . . 13143 C
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13144 B
Anlage 4
Karin Roth (Esslingen) (SPD). . . . . . . . . . . . . 13145 D
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13147 A des Antrags: Wirksamen Verbraucherschutz
Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 13148 A bei Nanostoffen durchsetzen (Tagesordnungs-
punkt 14)
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13149 A Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13165 C
Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13166 D
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13150 C Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . . 13167 D
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13168 D
Anlage 1 Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 13169 C
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 13151 A Karin Binder (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . . 13170 C
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
Anlage 2 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13171 C

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung


des Antrags: Barrierefreier Tourismus für alle Anlage 5
(Tagesordnungspunkt 12 )
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13151 C
– Entwurf eines Gesetzes zur Vereinbarkeit
Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13152 D von Pflege und Beruf
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 13154 B – Antrag: Vereinbarkeit von Pflege, Familie
Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13155 C und Beruf verbessern – Pflegende Bezugs-
personen wirksam entlasten und unterstüt-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 13156 D zen
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ – Antrag: Bezahlte Pflegezeit einführen –
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13157 D Organisation der Pflege sicherstellen
(Tagesordnungspunkt 15 a bis c)
Anlage 3 Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13172 C
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13173 B
– Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13174 B
des Infektionsschutzgesetzes und weiterer
Gesetze Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 13175 A

– Beschlussempfehlung und Bericht zu den Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . 13175 D


Anträgen: Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13176 C
– Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio-
nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
und Prävention BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13177 A
XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Anlage 6 – Kriterien und Anforderungen für eine


parlamentarische Beteiligung an der
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Gemeinsamen Außen- und Sicher-
des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung
heitspolitik der EU
der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung
des Emissionshandels (Tagesordnungspunkt 17) (Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . . 13178 A Roderich Kiesewetter (CDU/CSU . . . . . . . . . 13190 A
Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 13179 B Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 13191 B
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13180 C Dietmar Nietan (SPD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13192 B
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13182 B Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13194 B
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 13182 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 13195 B
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13183 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13196 C

Anlage 7 Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
– Entwurf eines Gesetzes über die Änderung
den Anträgen:
der Vornamen und die Feststellung der
– Gleichstellung eingetragener Lebenspart- Geschlechtszugehörigkeit (ÄVFGG)
nerschaften
– Antrag: Sexuelle Menschenrechte für
– Öffnung der Ehe Transsexuelle, Transgender und Inter-
sexuelle gewährleisten – Transsexuellen-
(Tagesordnungspunkt 19)
gesetz aufheben
Ute Granold (CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 13184 C
(Tagesordnungspunkt 23 a und b)
Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13186 C
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 13197 B
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13187 D
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 13199 A
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . 13188 B
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13200 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 13201 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13189 A
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13201 C
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Anlage 10
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Antrag: Einrichtung einer Interparlamen-
des Antrags: Belarus nach den Wahlen – Re-
tarischen Konferenz zur Gemeinsamen
pressionen beenden (Zusatztagesordnungs-
Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge-
punkt 16)
meinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik der Europäischen Union Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 13202 B
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13203 A
Anträgen:
Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 13203 D
– Für eine wirkungsvolle interparlamen-
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 13204 D
tarische Begleitung der Europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik im Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/
Geiste des Vertrages von Lissabon DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13205 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12955

(A) (C)

Redetext

114. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: deswegen fragen, ob Sie mit diesem Vorschlag einver-
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. standen sind. – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist
Herr Dr. Bentmann als stellvertretendes Mitglied in das
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Gremium gewählt.
begrüße Sie alle herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
Ganz besonders herzlich begrüße ich die Kollegin dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
Ulla Jelpke, die heute ihren 60. Geburtstag feiert und geführten Punkte zu erweitern:
der ich dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren
möchte. ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
(Beifall)
Haftung der Kreditanstalt für Wiederaufbau
Ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Kollege und der Bundesrepublik Deutschland für Feh-
(B) Winfried Hermann am 6. Juni 2011 auf seine Mitglied- ler beim Börsengang der Deutschen Telekom (D)
schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Für ihn im Jahre 2000 (Entscheidung des BGH vom
ist der Kollege Till Seiler nachgerückt. Für die gestern 31. Mai 2011)
ausgeschiedene Kollegin Ulrike Höfken hat der Kollege (siehe 113. Sitzung)
Tobias Lindner die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben. Im Namen des Hauses begrüße ich die ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
beiden neuen Kollegen herzlich. CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
(Beifall) die Förderung der Stromerzeugung aus erneu-
erbaren Energien
Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit.
– Drucksache 17/6071 –
Die Fraktion der FDP schlägt vor, den Kollegen
Überweisungsvorschlag:
Rainer Brüderle anstelle der Kollegin Birgit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Homburger zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsa- Innenausschuss
men Ausschuss und zum stellvertretenden Mitglied im Rechtsausschuss
Vermittlungsausschuss zu wählen. Die Kollegin Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Homburger soll wiederum den Kollegen Joachim Spatz Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus- Verbraucherschutz
schuss ablösen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einver- Verteidigungsausschuss
standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
beiden Kollegen hiermit gewählt. Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauf- ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
tragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
vom Bundesministerium des Innern benannte stellvertre- setzes zur Neuregelung energiewirtschafts-
tende Mitglied Stéphane Beemelmans ausgeschieden ist rechtlicher Vorschriften
und Herr Dr. Jörg Bentmann als dessen Nachfolger – Drucksache 17/6072 –
vorgeschlagen wird. In § 19 des entsprechenden Geset-
Überweisungsvorschlag:
zes ist vorgesehen, dass auch die von anderen Stellen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftungsrates vom Innenausschuss
Deutschen Bundestag bestätigt werden. Ich möchte Sie Finanzausschuss
12956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Überweisungsvorschlag: (C)
Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Verteidigungsausschuss
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
setzes über Maßnahmen zur Beschleunigung Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
– Drucksache 17/6073 –
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil
Überweisungsvorschlag: (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
der SPD
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Die Energiewende gelingt nur mit KWK
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Drucksache 17/6084 –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
setzes zur steuerlichen Förderung von energe- Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
tischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
bäuden NIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/6074 – Rückstellungen der Atomwirtschaft in Öko-
Überweisungsvorschlag: wandel-Fonds überführen – Sicherheit, Trans-
Finanzausschuss (f) parenz und ökologischen Nutzen schaffen,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfall-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit risiko festzuhalten
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
– Drucksache 17/6119 –
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Überweisungsvorschlag:
(B) CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (D)
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Errich- Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
tung eines Sondervermögens „Energie- und Haushaltsausschuss
Klimafonds“ (EKFG-ÄndG)
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
– Drucksache 17/6075 – Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Überweisungsvorschlag: Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Haushaltsausschuss (f) DIE GRÜNEN
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Versorgungssicherheit transparent machen –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
serve“

ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ – Drucksache 17/6109 –
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
setzes zur Stärkung der klimagerechten Ent- Innenausschuss
wicklung in den Städten und Gemeinden Rechtsausschuss
Finanzausschuss
– Drucksache 17/6076 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss ZP 12 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
Rechtsausschuss fahren
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ergänzung zu TOP 34
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese,
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ers- Fraktion der SPD
ten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtli- Die Integration der Sinti und Roma in Europa
cher Vorschriften verbessern
– Drucksache 17/6077 – – Drucksache 17/6090 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12957
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: (C)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss Uta Zapf
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Dr. Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Kerstin Müller (Köln)
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Klare Regelungen für Intensivtierhaltung
Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die
– Drucksache 17/6089 –
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses
Überweisungsvorschlag: durch die Bundesregierung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Unterstützung für Opfer der Heimerziehung –
Abgeordneter und der Fraktion der SPD Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen
Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten – Drucksache 17/6093 –
– Drucksache 17/6088 – Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Bildung, Forschung und
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang Technikfolgenabschätzung
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ZP 16 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Belarus nach den Wahlen – Repressionen be-
(B) enden (D)
Regelung im SGB VI verankern
– Drucksache 17/6108 – – Drucksache 17/6174 –
Überweisungsvorschlag: ZP 17 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Bundesminister der Finanzen
Rechtsausschuss Stabilität der Euro-Zone
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole ZP 18 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushalts-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ordnung
DIE GRÜNEN – Drucksache 17/6132 –
Bericht zum Risikomanagement bei Lebens- ZP 19 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
mittelkrisen vorlegen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
– Drucksache 17/6107 – Kritik am Krisenmanagement des Bundesge-
ZP 13 Weitere Abschließende Beratungen ohne Aus- sundheitsministers und der Bundesministerin
sprache für Verbraucherschutz beim Umgang mit dem
Ergänzung zu TOP 35 Ehec-Erreger
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- weit erforderlich, abgewichen werden.
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Die Tagesordnungspunkte 16, 28, 34 o sowie 35 c
Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weite- und d werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Än-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ derungen im Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 23 wird
DIE GRÜNEN bereits nach Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen und der
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Tagesordnungspunkt 27 nach Tagesordnungspunkt 22.
Group verhindern – Keine weitere Erosion des
Schließlich mache ich noch auf eine Reihe von nach-
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
träglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zu-
– Drucksachen 17/5374, 17/6139 – satzpunktliste aufmerksam:
12958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Der am 16. Dezember 2010 überwiesene nachfolgende 3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die (C)
Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Aus- Bundeskanzlerin
schuss) zur Mitberatung überwiesen werden:
Der Weg zur Energie der Zukunft
Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer,
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des
der SPD
Atomgesetzes
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schiff- – Drucksache 17/6070 –
fahrtsverwaltung sichern
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/4030 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss
Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Haushaltsausschuss CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende An-
die Förderung der Stromerzeugung aus erneu-
trag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss)
erbaren Energien
zur Mitberatung überwiesen werden:
– Drucksache 17/6071 –
Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Ab- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Innenausschuss
GRÜNEN Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzi- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sieren und die Wasser- und Schifffahrtsver- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
waltung reformieren Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
– Drucksache 17/5056 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(B) Ausschuss für Bildung, Forschung und (D)
Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Haushaltsausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Ausschuss für Tourismus CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Haushaltsausschuss setzes zur Neuregelung energiewirtschafts-
rechtlicher Vorschriften
Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende An-
trag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss) – Drucksache 17/6072 –
zur Mitberatung überwiesen werden:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Innenausschuss
Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abge- Finanzausschuss
ordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Kein Personalabbau bei der Wasser- und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökolo- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
gischer Flusspolitik ausrichten
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
– Drucksache 17/5548 – CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Überweisungsvorschlag: setzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 17/6073 –
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen- Finanzausschuss
sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und b, Zu- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
satzpunkte 2 bis 8, Tagesordnungspunkte 3 c und d so- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
wie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf: Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12959
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ d) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva
setzes zur steuerlichen Förderung von energe- Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
tischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge- Fraktion DIE LINKE
bäuden
Atomausstieg bis 2014 – Für eine erneuerbare
– Drucksache 17/6074 – und demokratische Energieversorgung
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f) – Drucksache 17/6092 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Errich- Haushaltsausschuss
tung eines Sondervermögens „Energie- und
Klimafonds“ (EKFG-ÄndG) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil
– Drucksache 17/6075 – (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Überweisungsvorschlag: der SPD
Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die Energiewende gelingt nur mit KWK
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 17/6084 –
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
setzes zur Stärkung der klimagerechten Ent- ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
wicklung in den Städten und Gemeinden Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
– Drucksache 17/6076 – terer Abgeordneter und der Fraktion
Überweisungsvorschlag: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
(B) Innenausschuss Rückstellungen der Atomwirtschaft in Öko- (D)
Rechtsausschuss wandel-Fonds überführen – Sicherheit, Trans-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie parenz und ökologischen Nutzen schaffen,
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfall-
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit risiko festzuhalten
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ – Drucksache 17/6119 –
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ers- Überweisungsvorschlag:
ten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtli- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
cher Vorschriften Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 17/6077 – Haushaltsausschuss
Überweisungsvorschlag: ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Innenausschuss Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Rechtsausschuss DIE GRÜNEN
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss Versorgungssicherheit transparent machen –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
serve“
3 c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen – Drucksache 17/6109 –
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- Überweisungsvorschlag:
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Rechtsausschuss
eines … Gesetzes zur Änderung des Atomge- Finanzausschuss
setzes (Beendigung der Nutzung von Atom- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
kraftwerken zur kommerziellen Energieerzeu- Haushaltsausschuss
gung in Deutschland) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
– Drucksache 17/5931 – die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
Überweisungsvorschlag: rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit spruch. Dann können wir so verfahren.
12960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Frau Bundeskanzlerin, bevor ich Ihnen das Wort er- dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. (C)
teile, möchte ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in
des ganzen Hauses herzlich zur Verleihung der Freiheits- räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verhee-
medaille durch den amerikanischen Präsidenten gratulie- rend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller an-
ren. deren Energieträger bei weitem übertreffen. Das Rest-
risiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert,
(Beifall im ganzen Hause) weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnolo-
Wir freuen uns über die hohe Wertschätzung, die mit gieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschli-
dieser Auszeichnung für die Person, für Ihr Amt, aber si- chem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten.
cher auch für unser Land zum Ausdruck kommt.
Genau darum geht es also – nicht darum, ob es in
Sie haben das Wort. Bitte schön. Deutschland jemals ein genauso verheerendes Erdbeben,
einen solch katastrophalen Tsunami wie in Japan geben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird. Jeder weiß, dass das genau so nicht passieren wird.
Nein, nach Fukushima geht es um etwas anderes. Es geht
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Verlässlichkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen.
Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 90 Tagen
(Ulla Burchardt [SPD]: Das war auch vorher
wurde der Nordosten Japans vom schwersten Erdbeben
schon bekannt!)
in der Geschichte des Landes heimgesucht. Anschlie-
ßend traf eine bis zu 10 Meter hohe Flutwelle seine Ost- Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die
küste. Danach fiel in einem Reaktor des Kernkraftwer- Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für
kes Fukushima I die Kühlung aus. Die japanische eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also
Regierung rief den atomaren Notstand aus. sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge
Heute, 90 Tage nach jenem furchtbaren 11. März, ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst
wissen wir: In drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerkes letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energie-
sind die Kerne geschmolzen. Noch immer steigt radioak- konzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der
tiver Dampf in die Atmosphäre. Die weiträumige Evaku- deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmiss-
ierungszone wird noch lange bestehen bleiben, und an verständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fu-
ein Ende der Schreckensmeldungen ist noch nicht zu kushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.
denken. Erst letzte Woche herrschte in Block 1 die Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die
(B) bisher höchste Strahlenbelastung. Die Internationale Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt, in den ver- (D)
Atomenergie-Organisation bewertet die Situation in gangenen drei Monaten alle deutschen Kernkraftwerke
Fukushima als weiterhin sehr ernst. einer umfassenden Sicherheitsprüfung zu unterziehen.
Meine Damen und Herren, wir werden heute weitrei- Darüber hinaus hat die Bundesregierung eine Ethik-
chende Vorhaben für eine neue Architektur der Energie- Kommission zur sicheren Energieversorgung ins Leben
versorgung in Deutschland beraten. Aber bevor wir das gerufen. Beide Kommissionen haben inzwischen die Er-
tun, wünsche ich mir, dass wir zuerst an die Menschen in gebnisse ihrer Arbeit vorgelegt, und beiden Kommissio-
Japan denken. Wir trauern um die Opfer, wir fühlen mit nen gilt für ihre Arbeit mein ausdrücklicher Dank.
denen, die ihre Lieben, ihr Hab und Gut, ihr Zuhause un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wiederbringlich verloren haben. Ich habe beim G-8-Gip-
fel vor wenigen Tagen in Deauville meinem japanischen Auf der Grundlage dieser Arbeiten hat die Bundesregie-
Amtskollegen gesagt: Deutschland steht weiter an der rung am Montag acht Gesetzentwürfe und Verordnungen
Seite Japans. beschlossen. Sie hat damit die notwendigen Entschei-
dungen für den Betrieb der Kernkraftwerke in Deutsch-
(Beifall im ganzen Hause)
land und die zukünftige Architektur unserer Energiever-
Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan sorgung auf den Weg gebracht.
sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein Einschnitt
auch für mich ganz persönlich. Wer auch nur einmal die Erstens. Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird
Schilderungen an sich heran lässt, wie in Fukushima ver- bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland
zweifelt versucht wurde, mit Meerwasser die Reaktoren beendet.
zu kühlen, um inmitten des Schreckens noch Schreckli- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
cheres zu verhindern, der erkennt: In Fukushima haben DIE GRÜNEN)
wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem
Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kern- Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschal-
energie nicht sicher beherrscht werden können. teten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das
seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden
Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequen- nicht wieder ans Netz gehen.
zen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung
vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, SPD und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12961
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Für die Stilllegung der weiteren Kernkraftwerke ha- Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Pro- (C)
ben wir einen Stufenplan beschlossen. Danach wird zent und bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber
2015, 2017 und 2019 jeweils ein Kraftwerk vom Netz 1990 reduziert werden. Bis 2050 soll unser Primärener-
gehen. Dann folgen bis 2021 drei weitere Kraftwerke. gieverbrauch um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken.
Die drei neuesten Anlagen können noch ein Jahr länger Das heißt, wir müssen ihn halbieren. Die energetische
laufen: bis Ende 2022. Gebäudesanierung soll im Vergleich zur bisherigen Rate
verdoppelt, der Stromverbrauch bis 2020 um 10 Prozent
Reststrommengen bleiben innerhalb der festgelegten gesenkt werden.
Zeiträume auf andere Kernkraftwerke übertragbar. Dies
gilt auch für die Strommengen von Krümmel, Mülheim- Das sind genau die Ziele unseres Energiekonzepts,
Kärlich und die der sieben ältesten Kernkraftwerke. das wir im Herbst 2010 beschlossen haben. Dieses Kon-
zept bleibt gültig, genauso wie die Umsetzung dieses
Zweitens. Bis Ende dieses Jahres werden wir einen Konzepts. Aber erreichen können wir diese Ziele nur
gesetzlichen Vorschlag für die Regelung der Endlage- durch einen tiefgreifenden Umbau unserer Energiever-
rung vorlegen. Das schließt die ergebnisoffene Weiter- sorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz mo-
erkundung Gorlebens ebenso ein wie ein Verfahren zur dernster Technologie; denn die Leistungsfähigkeit unse-
Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien rer Industrie in Deutschland ist ein hohes Gut. Sie muss
und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen. bewahrt, sie muss ausgebaut werden; denn ihr verdanken
wir unseren Wohlstand.
Drittens. Damit die Versorgungssicherheit, insbeson-
dere die Stabilität der Stromnetze, in der jetzt anstehen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Zeit unmittelbar nach der Stilllegung von acht Kern-
kraftwerken zu jeder Minute und zu jeder Sekunde Deshalb steigen wir nicht einfach aus der Kernkraft aus,
gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reser- sondern wir schaffen die Voraussetzungen für die Ener-
vekapazitäten unseres Kraftwerkparks vorhalten. gieversorgung von morgen. Genau das hat es bislang so
in Deutschland nicht gegeben.
Zusätzlich schaffen wir die Möglichkeit, dass die
Bundesnetzagentur, falls sie es für notwendig erachtet, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
eines der stillgelegten Kernkraftwerke in den beiden rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
Winterhalbjahren bis zum Frühjahr 2013 als Reserve be- GRÜNEN: Oh!)
stimmen kann. Auch hier, meine Damen und Herren, Weil wir wissen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“,
ziehen wir eine Lehre aus Wahrscheinlichkeitsanalysen wissen wir auch, dass das eine, nämlich der Ausstieg,
nach Fukushima, und zwar ein für alle Mal. Wir werden ohne das andere, nämlich den Umstieg, nicht zu haben (D)
(B) uns – und ich auch ganz persönlich – nicht dafür herge-
ist. Das ist es, worum es geht.
ben, dass wir uns auf etwas stützen, das das Restrisiko
beinhaltet, dass es einen sogenannten Blackout in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Deutschland geben kann. Thomas Oppermann [SPD]: Oh! – Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das wissen wir! Ganz neue Erkenntnis!)
Auch wenn das nach menschlichem Ermessen äußerst Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Stromnetze in
unwahrscheinlich ist, dürfen wir dies nicht zulassen, ganz Deutschland zu modernisieren und auszubauen.
weil wir gerade im Zusammenhang mit Fukushima
erlebt haben, dass auch äußerst unwahrscheinliche (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ereignisse eintreten können. Deshalb müssen wir hier NEN]: Das hätten wir schon in den letzten Jah-
Vorsorge treffen, wenn die Bundesnetzagentur das für ren machen können!)
geboten hält. Es ist nach derzeitiger Einschätzung der Der erforderliche Leitungsausbau bei den Stromübertra-
Bundesnetzagentur notwendig, eine Reserve bis zum gungsnetzen in Deutschland liegt bei weit mehr als
Frühjahr 2013 vorzuhalten. 800 Kilometern. Fertiggestellt sind bislang aber nur we-
Viertens. Zentrale Säule der zukünftigen Energiever- niger als 100 Kilometer, weil geplante Stromleitungen
sorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Wir noch immer auf Widerstände vor Ort stoßen. Planungs-
wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien errei- verfahren dauern – das ist eigentlich die Regel – häufig
chen. Mit dem Energiekonzept vom Herbst 2010 hat die länger als zehn Jahre. Das ist nicht akzeptabel.
Bundesregierung dazu die Richtung festgelegt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hier müssen wir eine erhebliche Beschleunigung und
NEN]: Was?) gleichzeitig mehr Akzeptanz erreichen. Es kann nicht
angehen, auf der einen Seite den Ausstieg aus der Kern-
und ehrgeizige Ziele formuliert. Der Anteil der erneuer- energie gar nicht schnell genug bekommen zu wollen,
baren Energien am Energieverbrauch soll bis 2050 auf auf der anderen Seite aber eine Protestaktion nach der
60 Prozent, ihr Anteil am Stromverbrauch auf 80 Pro- anderen gegen den Netzausbau zu starten,
zent anwachsen. 2020 sollen mindestens 35 Prozent un-
seres Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und anderen re- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
generativen Energiequellen erzeugt werden. Immer diese CDU-Bürgermeister!)
12962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) ohne den der Umstieg in die erneuerbaren Energien aber Aber – das ist neu –: Wenn die erneuerbaren Energien (C)
schlichtweg nicht funktionieren wird. zukünftig noch schneller einen Großteil der Energiever-
sorgung übernehmen sollen – 35 Prozent sind immerhin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr als ein Drittel des zukünftigen Stromverbrauchs –,
Genau dieser Kreislauf – hier dagegen und dort dagegen – dann müssen wir konsequent auf Kosteneffizienz und
muss durchbrochen werden. Marktintegration achten. Ein Schritt auf diesem Weg ist
die Einführung der sogenannten optionalen Marktprä-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mie, die die erneuerbaren Energien an das Marktgesche-
hen heranführt. Das ist ein qualitativ neuer Zugang, den
Dazu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Netz- wir aber brauchen, wenn erneuerbare Energien einen
ausbaubeschleunigungsgesetzes beschlossen, das unter größeren Anteil an der Stromversorgung übernehmen
anderem eine bundeseinheitliche Planung für Höchst- sollen.
spannungsleitungen von überregionaler und europäi-
scher Bedeutung vorsieht. Darüber hinaus enthält das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
NABEG auch Regelungen zur Sammelanbindung von Im Bereich der Photovoltaik und der Biomasse wol-
Offshorewindparks sowie zur Erstellung eines Offshore- len wir bestehende Potenziale für Kostensenkungen aus-
netzplans. Dabei wollen wir auch weiterhin eine mög- schöpfen. Darüber hinaus ist die Vereinfachung der Re-
lichst frühzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung si- gelungen ein Leitgedanke des Erneuerbare-Energien-
cherstellen. Gesetzes. Wo immer möglich, sind Sonderregelungen
Auch die von uns beschlossene umfassende Novelle oder spezielle Boni abgeschafft oder vereinfacht worden.
des Energiewirtschaftsgesetzes enthält Regelungen zum Damit wird die Förderpraxis vereinfacht und mehr
beschleunigten Netzausbau. Weiterhin wird im novel- Transparenz geschaffen.
lierten Energiewirtschaftsgesetz der Einbau von intelli- Meine Damen und Herren, unsere Wirtschaft und vor
genten Zählern als Ausgangspunkt kommender intelli- allem die energieintensive Industrie sind in besonderer
genter Netze geregelt. Hinzu kommen zahlreiche Weise darauf angewiesen, Strom zuverlässig und zu
Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs auf den wettbewerbsfähigen Preisen beziehen zu können.
Energiemärkten sowie die Förderung von Speichern. Im
Rahmen des neuen Energieforschungsprogramms wer- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
den wir die Entwicklung und Anwendung neuer Spei- Die rund 1 Million Beschäftigten in der energieintensi-
chertechnologien unterstützen, die wir brauchen, um die ven Industrie leisten einen zentralen Beitrag für die
fluktuierende Energieversorgung aus erneuerbaren Ener- Wertschöpfung in unserem Land.
(B) gien zu verstetigen. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich sagte es: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das eine
ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt für den Aus- Unsere Devise heißt: Die Unternehmen genauso wie
bau der Netze, und das gilt gleichermaßen für die erfor- die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssen
derlichen neuen Stromerzeugungskapazitäten, insbeson- auch in Zukunft mit bezahlbarem Strom versorgt wer-
dere bei Wind, Sonne und Biomasse. Leitlinie dabei sind den. Deshalb wollen wir die erneuerbaren Energien
Kosteneffizienz und zunehmende Marktorientierung. schneller zur Marktreife führen und effizienter gestalten.
Die EEG-Umlage soll nicht über ihre heutige Größen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ordnung hinaus steigen; heute liegt sie bei etwa 3,5 Cent
pro Kilowattstunde.
Diesem Ziel dient die Novelle des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes. Die Grundpfeiler der bisher so erfolgrei- (Beifall des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/
chen Förderung der erneuerbaren Energien bleiben be- CSU])
stehen. Die gesetzliche Vergütung, der Einspeisevorrang
Langfristig wollen wir die Kosten für die Vergütung des
und die Verpflichtung zum Netzanschluss haben unver-
Stroms aus erneuerbaren Energien deutlich senken.
ändert Bestand.
Mit Blick auf die stromintensiven Unternehmen wol-
(Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜND- len wir Zuschüsse zum Ausgleich für emissionshandels-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) bedingte Strompreiserhöhungen vorsehen. Die Bundes-
Damit sichern wir die notwendigen Investitionen für den regierung wird sich – das sage ich hier zu – mit aller
weiteren Ausbau. Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass unsere Unterneh-
men faire Wettbewerbsbedingungen in Europa erhalten.
Schwerpunkt des zukünftigen Ausbaus soll die Wind-
energie an Land und auf See sein. So werden die Finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zierungsbedingungen für Offshoreanlagen verbessert, Darüber hinaus wird ab 2012 die Härtefallregelung des
und mit der Novellierung des Bauplanungsrechts, etwa Erneuerbare-Energien-Gesetzes ausgeweitet.
mit der erleichterten Flächenausweisung für erneuerbare
Energien, leisten wir einen Beitrag zum Ausbau und zu Meine Damen und Herren, wenn wir schneller aus der
einer schnelleren Modernisierung von Windkraftanlagen Kernenergie aussteigen und in die erneuerbaren Ener-
an Land. gien einsteigen, dann brauchen wir für die Zeit des Über-
gangs fossile Kraftwerke. Auch daran führt kein Weg
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vorbei. Dazu werden wir den Rahmen für hocheffiziente
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12963
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Kohle- und Gaskraftwerke fortentwickeln. Mit dem Ent- Die Finanzierung der Maßnahmen des Energiekon- (C)
wurf einer Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungs-Geset- zepts beruht dabei auf einem soliden Fundament. Ab
zes leisten wir einen Beitrag zur Versorgungssicherheit 2012 sollen die Erlöse aus der Versteigerung der Emis-
und Effizienz der Stromerzeugung. In einem ersten sionszertifikate unmittelbar in den von uns im vergange-
Schritt wollen wir die Frist für förderberechtigte KWK- nen Herbst eingerichteten Energie- und Klimafonds flie-
Anlagen bis ins Jahr 2020 verlängern und die Vorausset- ßen. Schon ab 2012 werden die Mittel des Fonds
zungen für die Förderung flexibler gestalten. Noch im verstärkt.
Laufe dieses Jahres werden wir über weitergehende
Schritte entscheiden. Meine Damen und Herren, diese vier Punkte – erstens
die Novelle des Atomgesetzes, zweitens die Arbeit für
Die schnelle Fertigstellung der in Bau befindlichen ein Entsorgungskonzept, drittens die Versorgungssicher-
fossilen Kraftwerke mit einer Leistung von rund heit bis 2013, viertens das Energiekonzept der Zukunft –
10 Gigawatt bis 2013 ist aus Gründen der Versorgungs- zeigen schon die Größe der Aufgabe, die vor uns steht.
sicherheit und der Netzstabilität unabdingbar. Mindes- Ich sage ganz deutlich: Es handelt sich um eine Herkules-
tens 10, eher 20 weitere Gigawatt müssen in den nächs- aufgabe – ohne Wenn und Aber. Alle, die zweifeln, wie
ten zehn Jahren hinzugebaut werden. Durch ein wir als großes Industrieland in zehn Jahren ohne Kern-
Planungsbeschleunigungsgesetz wollen wir zudem den energie auskommen wollen, ohne gleichzeitig die Kli-
weiteren zügigen Ausbau von Kraftwerkskapazitäten si- maschutzziele zu riskieren, ohne Arbeitsplätze in der
cherstellen. Insbesondere mit Blick auf kleine und mit- energieintensiven Industrie zu gefährden, ohne das Stei-
telständische Energieversorger werden wir zudem ein gen der Strompreise in das sozial nicht mehr Erträgliche
neues Kraftwerksförderprogramm auflegen. Auch dies in Kauf zu nehmen, ohne gefährliche Stromausfälle zu
ist ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit. provozieren, ohne dass andere Länder um uns herum
denselben Weg einschlagen, alle, die solche Fragen stel-
Aber machen wir uns nichts vor: Alle noch so ehrgei-
len, sind keine Ideologen, keine Ewiggestrigen, keine
zigen Maßnahmen für den Ausbau der erneuerbaren
Spinner, denn sie stellen wichtige Fragen.
Energien und der dafür erforderlichen Netze werden
nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, die Energieeffi- (Zuruf von der SPD: Ach ja?)
zienz in unserem Land zu steigern. Im Zentrum steht da-
bei der Gebäudebereich. Auf ihn allein entfallen rund Sie sind anzuhören, sie sind ernst zu nehmen, und wir
40 Prozent des deutschen Energieverbrauchs, etwa ein haben Antworten darauf zu finden.
Drittel aller CO2-Emissionen. Genau hier müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ansetzen. Ziel bleibt es – so haben wir es schon im
Herbst beschlossen –, bis 2050 einen nahezu klimaneu- Es ist ja wahr: Es scheint einer Quadratur des Kreises
(B)
tralen Gebäudebestand zu erreichen. Auch im Bereich nahezukommen, all das schaffen zu wollen, was wir uns (D)
der energieeffizienten Geräte und Prozesse wollen wir vorgenommen haben. Deshalb ist ein fünfter Punkt
mehr tun, um den Stromverbrauch schon bis 2020 um zwingend und unerlässlich: die Einrichtung eines lü-
10 Prozent zu senken. ckenlosen Monitoringprozesses. Nur so können wir prü-
fen, ob wir unsere Ziele auf dem Weg zur Energie der
Wir werden deshalb die Mittel für das KfW-CO2-Ge- Zukunft tatsächlich erreichen oder was wir zusätzlich
bäudesanierungsprogramm auf 1,5 Milliarden Euro jähr- tun müssen, wenn wir sie zu verfehlen drohen. Dabei
lich aufstocken. Hinzu kommen neue steuerliche An- geht es nicht um den schnelleren Ausstieg aus der Kern-
reize für die Gebäudesanierung, die auf weitere rund energie – der steht fest –; nein, es geht um die regelmä-
1,5 Milliarden Euro an gezielter Förderung anwachsen ßige Überprüfung der Umsetzung des Maßnahmenpro-
werden. gramms, auf die ein Land wie Deutschland in seinem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eigenen Interesse nicht verzichten darf. Dieses Monito-
ring muss im Sinne eines richtigen Projektmanagements
In einer Novelle der Energieeinsparverordnung wol- durchgeführt werden.
len wir festlegen, dass Gebäude nach 2020 und öffentli-
che Gebäude schon nach 2018 nur noch als Niedrigst- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
energiehäuser errichtet werden sollen. Deshalb wird die Bundesregierung diese Überprüfung
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wird die Ener- jährlich vornehmen und dem Deutschen Bundestag das
gieeffizienz als wichtigstes Kriterium rechtlich veran- Ergebnis zur Debatte vorlegen. Sie wird auf der Grund-
kert. Hierzu haben wir die Vergabeverordnung entspre- lage von Berichten von Institutionen wie dem Statisti-
chend geändert. Zudem wollen wir einen Fahrplan für schen Bundesamt, der Bundesnetzagentur oder des Um-
die energetische Sanierung von öffentlichen Gebäuden weltbundesamtes erfolgen. Über die Ergebnisse wird die
des Bundes erarbeiten mit dem Ziel, den Wärmebedarf Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrich-
der Bundesgebäude bis 2020 um 20 Prozent gegenüber ten, und gegebenenfalls wird sie Empfehlungen zum
2010 zu senken. weiteren Vorgehen aussprechen.
Auf europäischer Ebene werden wir uns für an- Meine Damen und Herren, wenn wir den Weg zur
spruchsvolle Produktstandards im Rahmen eines soge- Energie der Zukunft so einschlagen, dann werden die
nannten Top-Runner-Ansatzes einsetzen. Energieeffi- Chancen viel größer sein als die Risiken. Welches Land,
zienz soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in wenn nicht unser Land, sollte dazu die Kraft haben?
Europa ein neues Markenzeichen werden. Deutschland hat schon so manches Mal gezeigt, was es
12964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) kann, was in ihm steckt, und hat schon ganz andere He- Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder (C)
rausforderungen bewältigt: die Einführung der sozialen [CDU/CSU]: Sie haben Ihre Schuhe doch
Marktwirtschaft, weltweit in dieser Form einmalig; die noch an!)
Vollendung der deutschen Einheit, historisch ohne Vor-
bild; aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise Nur damit es hier in diesem Hohen Hause noch ein-
stärker herausgekommen, als wir in sie hineingegangen mal gesagt ist: Der Atomausstieg stand im Gesetz. Die
sind, und – ja, auch das – besser als die meisten anderen. Energiewende war eingeleitet, gegen Ihren Widerstand.
Und sie fand statt: täglich, seit zehn Jahren. Meine Da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men und Herren, so war das.
Deshalb sind wir überzeugt: Deutschland hat das Po- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tenzial und die Kraft für eine neue Architektur unserer DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Energieversorgung. Die Energie der Zukunft soll siche- LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wa-
rer sein und zugleich verlässlich, wirtschaftlich und be- rum schreien Sie so?)
zahlbar. Wir können als erstes Industrieland der Welt die
Wende zum Zukunftsstrom schaffen. Wir sind das Land, Ich erinnere mich noch genau an die Debatte, die wir
das für neue Technik, Pioniergeist und höchste Inge- in ähnlicher Aufregung in diesem Haus vor einem hal-
nieurkunst steht. Wir sind das Land der Ideen, das ben Jahr, im September und Oktober vergangenen Jah-
Zukunftsvisionen mit Ernsthaftigkeit, Genauigkeit und res, geführt haben. Auch damals – das ist ja noch gar
Verantwortung für zukünftige Generationen Wirklichkeit nicht lange her – war Ihnen kein Wort zu groß. Auch
werden lässt. damals wurde nicht mit Pathos gespart. Sie, Frau
Merkel – ich darf das einmal zitieren –, haben von einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „Revolution im Bereich der Energieversorgung“ gespro-
Wir alle, Regierung und Opposition, Bund, Länder chen, die bis zum Jahr 2050 trägt.
und Kommunen, die Gesellschaft als Ganzes, jeder Ein- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! –
zelne, wir alle gemeinsam können, wenn wir es richtig Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Stimmt
anpacken, bei diesem Zukunftsprojekt ethische Verant- doch!)
wortung mit wirtschaftlichem Erfolg verbinden.
Herr Röttgen hat das Ganze als „weltweit unübertroffen“
(Zurufe von der SPD) bezeichnet.
Dies ist unsere gemeinsame Verantwortung. Für dieses (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gemeinsame Projekt werbe ich mit aller Kraft und mit al- der LINKEN)
ler Überzeugung.
(B) (D)
Herr Westerwelle hat diesem Beschluss „epochale Be-
Herzlichen Dank.
deutung“ für den Klimaschutz beigemessen.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Dass der Herr (Zurufe von der SPD)
Fuchs einmal dem Atomausstieg zuklatscht! Meine Damen und Herren, so schnell können Epochen
Wenn er tot wäre, würde er sich im Grabe um- vorbeigehen. Aber das spürt Schwarz-Gelb ja nicht nur
drehen! Begeisterte Atomaussteiger! Mir kom- in der Energiepolitik.
men die Tränen!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kauder [CDU/CSU]: Und Sie haben Ihre
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol- Schuhe immer noch an!)
lege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Frau Bundeskanzlerin, ganz ehrlich: Bei Ihrem Auf-
(Beifall bei der SPD)
tritt hier heute Morgen hätte ich mir von Ihnen ein Wort
des Bedauerns gewünscht,
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Frau Bundeskanzlerin, ich würde niemandem, den die der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Realität zu neuen Einsichten zwingt, einen Vorwurf ma- GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha!
chen. Was ich Ihnen vorwerfe, ist das falsche Pathos, Ha! Ha!)
auch die Unaufrichtigkeit, mit der Sie hier auftreten. statt Wortgirlanden über die Lehren aus Fukushima, die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eben zu spät gezogen worden sind. Plötzlich ist alles an-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ders bei Ihnen; wir wundern uns. Jetzt wird das Konrad-
LINKEN) Adenauer-Haus außen und innen grün angestrichen.
Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Sie sich hier (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
als die Erfinderin der Energiewende in Deutschland hin- NEN]: Was?)
stellen. Das zieht einem doch die Schuhe aus.
Horst Seehofer macht auf Baldur Springmann der Grü-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Beifall nen. Er zahlt die Mitgliedsbeiträge für die letzten Jahr-
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei zehnte und tut so, als sei er Gründungsmitglied gewesen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12965
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der zu erklären! Die Gesellschaft war immer schon weiter (C)
SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE als Sie.
GRÜNEN]: Buh!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bei alldem hoffen Sie tatsächlich darauf, dass Sie in der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Zukunft in Bezug auf die Sicherheitspolitik ernst genom- LINKEN)
men werden.
Was Sie dem Bundestag vorlegen, ist eben nicht ein Ge-
Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass auch Sie jetzt für setz zur Energiewende, sondern es ist Ihr Irrtumsbereini-
den Atomausstieg sind, und noch weniger, dass Sie nach gungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen.
zwei Kehrtwenden um 180 Grad und nach den Pirouet- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten in der letzten Woche nun genau dort angekommen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sind, wo Rot-Grün die Dinge schon gestaltet. LINKEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was das letzte halbe Jahr und die doppelte Kehrt-
DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Eben wende in der Energiepolitik hinterlassen, ist noch nicht
nicht! Das ist eine Frage der Qualität! – Ingrid abzusehen. Ich rede nicht nur von den Irritationen in der
Fischbach [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch Wirtschaft, ausgelöst durch Ihr „Rein in die Kartoffeln“
selber nicht!) mit der Verlängerung der Laufzeiten und „Raus aus den
Das werde ich Ihnen nicht vorwerfen. Aber vor allen Kartoffeln“ mit der Rückkehr zu den Beschlüssen von
Dingen werde ich eines nicht vergessen – das sage ich Rot-Grün. Was das an Verunsicherung hinterlässt, kann
mit großem Ernst –: mit welchen Hetzreden Sie uns vor im Moment noch niemand ermessen. Ich sage nur: So
zehn Jahren durch die Landschaft getrieben haben. viel Unsicherheit gab es noch nie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber vielleicht einmal ein anderer Gedanke: Was be-
DIE GRÜNEN) deutet es eigentlich für die politische Kultur in diesem
Lande, wenn Sie heute mit derselben Euphorie und
Landauf, landab konnten Sie sich vor zehn Jahren gar Überzeugungskraft genau das Gegenteil von dem vertre-
nicht einkriegen vor Spott, Häme und angeblicher Em- ten, was Sie vor einem halben Jahr gesagt haben? Das
pörung über die Politik, die wir damals eingeleitet ha- muss doch den einen oder anderen nachdenklich ma-
ben. „Totengräber der Wirtschaft“ haben Sie uns überall chen.
im Land nachgerufen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(B) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wart ihr ja des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
auch!) Nun wäre angesichts dessen für die Opposition nichts
Und jetzt klatscht sogar Herr Fuchs bei der Regierungs- einfacher, als die vorliegenden Gesetzentwürfe abzuleh-
erklärung von Frau Merkel, auch wenn es ihm schwer- nen. Nichts wäre leichter für eine Opposition, als zuzu-
fällt. schauen, wie Sie, Frau Merkel, Irritation in den eigenen
Reihen säen und den Koalitionspartner ein ums andere
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mal düpieren. Ob man sich das alles gefallen lassen
DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/ muss, Herr Rösler, ist eine andere Frage; das müssen Sie
CSU]: Ich klatsche bei der Kanzlerin doch im- entscheiden.
mer! – Ulrich Kelber [SPD]: Der ist vor nichts
fies!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
SPD)
Die Atomkatastrophe in Tschernobyl – auch daran
darf ich erinnern – wurde damals nicht etwa als gefähr- Ginge es um Unterstützung dieser Regierung, dann
licher Reaktorunfall angesehen, der uns zum Umdenken würde ich in jedem Fall zu jedem einzelnen Gesetz Nein
zwingt, sondern als Betriebsunfall eines verlotterten sagen.
Sowjetkommunismus. Ihre Haltung damals war: Wir Aber es geht eben nicht um diese Regierung, es geht
machen einfach weiter, als wäre nichts geschehen, an al- um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Ver-
len Mehrheiten und Sicherheitsbedenken vorbei. Das trauen – auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wie-
war ein Jahrzehnt lang die Hybris Ihrer Energiepolitik. derherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses,
Sie waren schlicht und einfach auf dem falschen Damp- den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not
fer. Dicker und länger konnte der Holzweg gar nicht zerstört hat.
sein, den Sie sich da selbst zurechtgezimmert haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Wenn Sie jetzt nach Ihrer energiepolitischen Irrfahrt
an den Ausgangspunkt zurückkehren, muss etwas zu-
Jetzt müssen Sie herunter von diesem Holzweg. Jetzt stande kommen, was länger hält als nur sechs Monate.
müssen Sie alles korrigieren. Das ist gut so. Aber hören Wir können in diesem Land, in der größten Volkswirt-
Sie doch bitte auf, uns das Ausräumen Ihrer Positionen schaft Europas, nicht eine Energiepolitik aufsetzen, die
aus der Vergangenheit als nationale Gestaltungsaufgabe wir alle sechs Monate oder alle zwei Jahre oder nach je-
12966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) der Bundestagswahl korrigieren. Das geht nicht, das stoffindustrien, die in der Regel energieintensiv sind, bis (C)
kann sich keine Regierung erlauben. hin zu der kleinen Hightechschmiede. Wenn wir jetzt ei-
nen solch gewaltigen Umbau auf den Weg bringen, dür-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fen wir die ersten Kettenglieder nicht vergessen oder gar
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aus dem Lande treiben. Das ist auch für diejenigen wich-
Und weil das so ist, sage ich: Erstens. Wenn Sie tig, die einen Umbau der Energielandschaft wollen.
glaubwürdig, rechtlich und tatsächlich unumkehrbar auf (Beifall bei der SPD)
den Atomausstieg zugehen, wenn Sie diesen phasen-
weise gestalten, so wie wir das in unserem Modell auch Deshalb darf es nicht nur ein Monitoring des Umbau-
vorgesehen hatten, dann werde ich jedenfalls nicht aus prozesses geben, sondern es muss auch ein Monitoring
taktischen Gründen krampfhaft nach Gründen suchen, innerhalb der Wirtschaftsprozesse geben, wie der Um-
um meiner Partei die Ablehnung des Atomausstieges zu bau der Energielandschaft auf diesen Teil der Wirtschaft
empfehlen. Das kann ich Ihnen sagen. wirkt, der besonders wertvoll und im Hinblick auf den
internationalen Wettbewerb besonders gefährdet ist. Es
Zweitens. Das Gesetzespaket besteht nicht nur aus gibt da Vorschläge, Frau Merkel. Da reicht es nicht aus,
dem Atomgesetz. Wir werden uns die 700 Seiten, die Sie bestehende Regelungen wie etwa die Ausnahmen bei der
uns übermittelt haben, natürlich sehr genau angucken. Ökosteuer zu festigen und dass Sie sich in Brüssel dafür
Ich kann auch verstehen, dass Sie die Unterstützung einsetzen wollen, dass die Sonderbedingungen beim eu-
durch die Breite des Hohen Hauses suchen. Aber nach ropäischen Emissionshandel weiter gelten. Vielmehr
einem Blick in Ihr Gesetzespaket kann ich Ihnen jetzt müssen Sie da ein bisschen kreativer werden. Es gibt
schon sagen: Wenn Sie durch die Gestaltung des Geset- dazu Vorschläge, und wir werden die hier im Deutschen
zes die wirklichen Potenziale der erneuerbaren Energien, Bundestag auch einbringen.
des Repowering, der Onshoreanlagen, nicht schöpfen
und nicht schöpfen wollen, können wir doch nicht zu- Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat zum Ab-
stimmen! Das ist die falsche Richtung! schluss ihrer Rede gesagt, dass es sich beim Ausstieg
und Umstieg „um eine Herkulesaufgabe“ handele. Wem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sagen Sie das! Wir haben uns dieser Herkulesaufgabe
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beginnend vor zehn Jahren mit einer Aufrichtigkeit und
LINKEN)
Offenheit gewidmet,
Mit anderen Worten: Da müssen Sie sich in den nächsten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Tagen entscheidend bewegen. Die Beratungen in den
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La-
(B) Ausschüssen stehen dafür zur Verfügung. chen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der (D)
Das Dritte ist: Glaubwürdig werden Sie – jenseits von FDP – Zurufe von Abgeordneten der CDU/
Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag – am Ende CSU und der FDP: Oh!)
doch nur dann sein, wenn Sie bei einer entscheidenden
indem wir nicht geleugnet haben, was auf die Wirtschaft
Frage bezüglich der Zukunft der Kernenergie in diesem
und die Menschen zukommt, sondern vor zehn Jahren
Land ebenfalls glaubwürdig sind. Es geht nicht nur um
gesagt haben: „Der Umbau der Energielandschaft wird
einen phasenweisen Atomausstieg, nicht nur um eine Fi-
stattfinden; die Zukunft wird ohne Atom sein; der Um-
xierung des Enddatums – Sie müssen sich auch endlich
bauprozess wird mehr als 20 Jahre dauern.“ Sie haben
entschließen, in der Endlagerfrage Ihre Position zu
sich nicht entschließen können, diese Ehrlichkeit gegen-
wechseln. Wir brauchen eine ergebnisoffene Endlager-
über den Bürgern zu wahren. Das ist der Unterschied.
suche.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Daniela
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
LINKEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich schließe mit einem Zitat aus einer Rede, die hier
Sie haben überhaupt nichts gemacht! – Gegen- im Hohen Hause gehalten wurde:
ruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])
Es ist … ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik,
Mit einem haben Sie recht: Der Umbau der Energie- insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bun-
landschaft, der uns da bevorsteht, ist gewaltig. Und in desrepublik … von Grund auf neu zu überdenken.
den nächsten Jahren wird es nicht nur einen Umbau der
Energielandschaft, sondern einen Umbau der gesamten … Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke
Wirtschaft geben. ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantwor-
ten.
Ich habe gestern beim ZVEI geredet. Die Elektroin-
dustrie ist natürlich begeistert darüber, was in den nächs- Das ist ein Zitat aus der Rede von Hans-Jochen Vogel
ten Jahren stattfindet. Darin stecken viele Potenziale. vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach der Katastrophe
Hier bieten sich Chancen. Ich schaue auch auf die ener- von Tschernobyl. Meine Damen und Herren, es hat
gieintensiven Betriebe. Ich schaue auf die Werthaltigkeit 25 Jahre, genau ein Vierteljahrhundert, gedauert, bis die
der deutschen Volkswirtschaft. Die Werthaltigkeit der heutige Regierung und die Regierungsparteien an die-
deutschen Volkswirtschaft ergibt sich aus der ununter- sem Punkt angekommen sind. Das ist eine bemerkens-
brochenen Innovationskette, beginnend bei den Grund- werte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12967
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Sie sind den Menschen die Antwort auf die Frage schul- (C)
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dig geblieben, wie die Energieversorgung in Deutsch-
GRÜNEN) land nach dem beschlossenen Ausstieg tatsächlich gesi-
chert werden soll.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bei-
Das Wort hat nun der Bundeswirtschaftsminister fall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen
Dr. Philipp Rösler. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) [SPD]: Deswegen hat Ihre Partei ja auch gegen
das Erneuerbare-Energien-Gesetz gestimmt!)
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Deswegen ist es richtig, dass diese Regierungskoali-
tion auf das wichtige Thema Versorgungssicherheit setzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten In der Tat: Wir steigen deutlich schneller aus, als Sie es
Damen und Herren Abgeordnete! Zu einer guten Ener- jemals geplant haben. Sieben Kraftwerke sind vom Netz
giepolitik gehören immer drei Dinge: Umweltverträg- gegangen.
lichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der
Energie. Insofern stelle ich hier fest: Das vorliegende (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Energiekonzept findet hinsichtlich dieser drei wesentli- der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]:
chen Säulen genau die richtige Balance; Wie machen Sie denn das? – Burkhard
Lischka [SPD]: Das ist noch schlimmer als
(Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] Guido!)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Aber man darf die Versorgungssicherheit im Sinne von
es ist ein gutes, vernünftiges Energiekonzept für Deutsch- Netzstabilität niemals außer Acht lassen. Deswegen ist
land. es natürlich klug, insbesondere bei Berücksichtigung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schwieriger Witterungsbedingungen, ein Reservekraft-
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werk vorzuhalten.
NEN]: Wie war das vor einem halben Jahr?) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Frage der Umweltverträglichkeit war in der Tat Denn eines können wir uns in Deutschland nicht leisten:
die Begründung für die nun anstehenden wesentlichen einen Blackout. Das wäre volkswirtschaftlich aus unse-
(B) Entscheidungen. Denn anders als die bisherigen Kata- rer Sicht nicht zu verantworten. Sie wären leichtfertig (D)
strophen – Sie haben Tschernobyl angesprochen – war bereit, dieses Risiko einzugehen. Mit uns ist so etwas
die Katastrophe von Fukushima die erste, die nicht auf nicht zu machen.
menschliches Versagen, sondern auf technisches Versa-
gen zurückzuführen ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was ist denn mit dem Blackout der FDP? –
DIE GRÜNEN: Oh! – Jürgen Trittin [BÜND- Thomas Oppermann [SPD]: Das ist ein politi-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut ja weh!) scher Blackout!)
Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn eine Regie- – Zu Ihnen komme ich noch, Herr Trittin.
rung darauf nicht reagiert hätte. Insofern ist es richtig,
gemeinsam in einem gesellschaftlichen Konsens, mit der Zum Thema Versorgungssicherheit gehört auch die
Ethik-Kommission und allen beteiligten gesellschaftli- Beantwortung der Frage, wie wir möglichst schnell zu
chen Gruppen, den Beschluss zu fassen, nach 2022 auf neuen Kraftwerken kommen. Deswegen brauchen wir
die Kernenergie zu verzichten. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) GRÜNEN]: Weniger Bürgerbeteiligung!)

Wenn aber hier im Hause jemand unaufrichtig ist, andere Gesetze, um die Planung und den Bau von Kraft-
dann sind es doch die Kollegen von Rot und Grün. werken und Netzen insgesamt zu beschleunigen;
(Johannes Kahrs [SPD]: Da war ja selbst
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
Westerwelle besser! – Heiterkeit bei der SPD
chen bei Abgeordneten der SPD und des
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
denn das einzig Limitierende beim Ausbau des Bereichs
Denn Sie haben bei Ihrem Ausstiegsbeschluss einfach
der erneuerbaren Energien ist der Ausbau unserer Netze.
nur Ihre Ideologie befriedigt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Deswegen ist es klug, ein Gesetz auf den Weg zu brin-
GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ist das lächer- gen, mit dem erstmals die Planung von den Ländern auf
lich! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE den Bund übertragen wird. So machen wir Schluss mit
GRÜNEN]: Das ist ja kabarettreif!) dem Flickenteppich und kommen dazu, unsere Netze
12968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) bundeseinheitlich neu zu planen, ähnlich wie das beim Unternehmen in unserem Land moderat zu halten. Des- (C)
Bundesverkehrswegeplan der Fall ist. wegen ist es gut, dass wir erstmalig die Fördermöglich-
keiten bzw. die Entlastungen umstellen. Künftig können
Wir haben das ehrgeizige Ziel, die Planung und den
auch kleinere Unternehmen von der EEG-Umlagebefrei-
Bau von Netzen deutlich zu beschleunigen. Bisher haben
ung profitieren und nicht mehr nur die großen. Das för-
wir dafür teilweise über zehn Jahre gebraucht; das wol-
dert Handwerk, Mittelstand und Gewerbe. Es ist klug,
len wir auf vier Jahre reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges,
dabei auf bürokratische Verfahren wie verpflichtend vor-
aber richtiges Ziel, wenn es darum geht, die erneuerba-
geschriebene Energiemanagementsysteme, zu verzich-
ren Energien besser nutzen zu können.
ten. Wir wollen einen automatischen Ausgleich zur Stär-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kung der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland.
Es geht auch um den Neubau von Kraftwerken. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sage das ganz bewusst: Es geht auch um den Neubau
von konventionellen Kraftwerken. Auch hier müssen wir Deswegen ist es richtig, energieintensive Unterneh-
schneller werden. Ich finde es geradezu absurd, dass es men durch Strompreissenkungen zu entlasten, um die in-
beispielsweise nicht möglich ist, an derselben Stelle, an ternationale Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen zu kön-
der in Stade ein Kernkraftwerk vorhanden war, das nun nen. Darum setzen wir uns gemeinsam auf europäischer
zurückgebaut wurde, ein konventionelles Kraftwerk zu Ebene für diese Unternehmen ein.
bauen. Wir müssen gerade solche Standorte nutzen, weil Wir dürfen – das ist entscheidend – nicht glauben,
dort die Infrastruktur vorhanden ist. Deswegen brauchen dass sich aus der Umstellung der Energiepolitik allein
wir zusätzlich zum Netzausbau auch ein Planungsbe- durch Strompreissenkungen neue Chancen ergeben. Es
schleunigungsgesetz in Deutschland. eröffnen sich vielmehr auch völlig neue Chancen bei
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem wichtigen Thema Effizienz und bei der Herstellung
neuer Produkte. Deutschland wird künftig federführend
Wir gehen fest davon aus, dass die Grünen künftig bei sein und voranschreiten, wenn es darum geht, energie-
jeder Demonstration an unserer Seite stehen werden und effiziente Produkte auf den Markt zu bringen.
jedem Gegner von neuen Kraftwerken und neuen Tras-
sen zurufen werden: Wer Nein sagt zur Kernenergie, Ich sage Ihnen voraus: Eines Tages werden auch an-
muss Ja sagen zum Netzausbau und zum Kraftwerksneu- dere Staaten – in Europa und weltweit – auf die Idee kom-
bau. Ich bin sehr gespannt, ob Sie am Ende den Mut men, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Kern-
dazu aufbringen werden. energie auszusteigen. Diese Staaten werden nach wie vor
Produkte, Instrumente und Ideen für die Nutzung erneu-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- erbarer Energien benötigen. Genau an dieser Stelle wird (D)
(B)
rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland dann federführend sein. Das bedeutet für
Auch die Frage der Bezahlbarkeit ist wichtig. Es ist unsere deutsche Wirtschaft kein Risiko, sondern eine
richtig, dass wir in das Erneuerbare-Energien-Gesetz Chance.
erstmalig Marktmechanismen einbringen; (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op-
NEN]: Die Drohung ist groß!) position, Sie haben damit die Chance, den Fehler, den
denn wir wollen, dass die bisherige EEG-Umlage bei Sie Anfang 2000 gemacht haben, endlich zu korrigieren.
3,5 Cent pro Kilowattstunde stabil bleibt und durch die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Marktprämie vielleicht erstmalig die Chance gegeben Burkhard Lischka [SPD]: Wer hat denn hier ei-
wird, Spielräume für Senkungen zu schaffen. nen Fehler gemacht? – Renate Künast
(Ulrich Kelber [SPD]: Alle sagen, dass es teu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Klaus
rer wird! Sie müssen einmal die Gutachten Ernst [DIE LINKE]: Lächerlich!)
Ihres eigenen Ministeriums lesen, Herr Sie können endlich dafür sorgen, zu zeigen, dass Sie
Dr. Rösler!) nicht nur aussteigen wollen, sondern auch die Frage be-
– Herr Kelber, es kann nicht sein, dass wir eine Ener- antworten können, wie Sie in die erneuerbaren Energien
giewende haben, aber Sie sich nicht trauen, den Men- einsteigen wollen.
schen zu sagen: Jawohl, wer eine solche Energiewende (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
will, der muss auch bereit sein, mit moderaten Kosten- Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
steigerungen umzugehen. Diese Ehrlichkeit haben wir. GRÜNEN]: Das ist frech! Weitere Zurufe von
Sie scheinen sie nicht zu haben. der SPD, der LINKEN und dem BÜND-
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)
NIS 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augs-
Das gilt insbesondere für die Grünen. Ich habe mich
burg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor-
gewundert, Herr Steinmeier, dass Sie so betont haben,
sicht mit Ehrlichkeit!)
Sie hätten eine Antwort auf die Frage der Endlagerung
Es ist richtig, dass wir alles versuchen, um die Belas- gefunden. Da bin ich jetzt wirklich überrascht. Das ein-
tungen für die Menschen und gleichzeitig für die Wirt- zige, was Sie in Ihrer Zeit gemacht haben, war doch, ein
schaft und gerade die kleinen und mittelständischen Moratorium festzulegen. Sie haben sich gerade nicht um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12969
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) die Endlagerung gekümmert. Das war zum Schaden der Warum – das ist doch eine spannende Frage – gelingt (C)
nachfolgenden Generationen. das zuerst in Deutschland und nicht in Frankreich oder
Polen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es in Deutsch-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
land eine ungeheuer starke Antiatombewegung gibt, die
Die vorliegenden Gesetze bieten auch Ihnen eine jetzt einen Erfolg feiert, für den sie jahrzehntelang ge-
Chance, Ihre Fehler zu korrigieren. Sie können gerne da- kämpft hat.
bei mitmachen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE neten der SPD)
GRÜNEN]: Eine Frechheit! – Zurufe von der Das muss einmal klar gesagt werden.
SPD)
Ich sagte es schon: Die Bundesregierung will die
Oder haben Sie etwa Angst, weil vielleicht wieder ein Energiewende, aber halbherzig. Zunächst geht es doch
bisschen die kleine, traurige Dagegen-Partei durch- um nichts anderes als um die Rücknahme der im Dezem-
schimmert? Wir jedenfalls reichen Ihnen auch zu dieser ber letzten Jahres beschlossenen Verlängerung. Das
Energiepolitik die Hand. heißt, Sie korrigieren sich. Im Kern gehen Sie auf das
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zurück, was SPD und Grüne mit der Atomlobby schon
ausgehandelt und wir schon immer als halbherzig be-
(Anhaltender Beifall bei der FDP und der zeichnet hatten. Das heißt, das, was Sie jetzt vorlegen, ist
CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE eine Korrektur der von Ihnen beschlossenen falschen
GRÜNEN) Gesetze. Das könnten Sie doch einfach einmal klar sa-
gen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der LINKEN)
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke. Ich verstehe es nicht: Warum wollen Sie den Atom-
ausstieg erst Ende 2022? Das sind elf weitere Jahre Fu-
(Beifall bei der LINKEN)
kushima-Risiko; das können wir uns überhaupt nicht
leisten. Die Bundesregierung behauptet, ein früherer
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Atomausstieg sei nicht möglich. Frau Bundeskanzlerin,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be- die Fachleute sagen etwas anderes: Der BUND sagt
dauere sehr, Herr Präsident, dass Sie nicht das Recht ha- 2013. Professor Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachver-
ben, den Bundestag zu fragen, wer eigentlich die 700 Sei- ständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung,
(B) ten, die uns Anfang der Woche erreicht haben, schon sagt 2014. Greenpeace sagt 2015. Das Öko-Institut Frei- (D)
gelesen hat, und eine ehrliche Antwort darauf zu verlan- burg sagt 2015. Selbst das Umweltbundesamt, eine Be-
gen. Ich sage Ihnen: Diese Art von Tempo zerstört die hörde des Bundesumweltministeriums, spricht von 2017.
parlamentarische Demokratie. Der Branchenverband der Energiewirtschaft sagt 2020.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sie kommen auf 2022. Ich sage Ihnen: Dahinter steckt
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nichts anderes als der Wunsch, den vier Konzernen Eon,
EnBW, RWE und Vattenfall noch elf Jahre lang hohe
Keiner glaubt, dass die Abgeordneten diese 700 Seiten Profite mit dem Atomstrom zu ermöglichen. Nichts an-
vor der Debatte gelesen haben. deres steckt dahinter!
Herr Rösler, ich habe Ihrer Rede zugehört. Manchmal (Beifall bei der LINKEN)
imponiert mir Dreistigkeit. Ich finde aber, Sie haben die
Grenze überschritten. Wir haben uns mit den Fachleuten beraten und sind auf
das Jahr 2014 gekommen. Bei einem Atomausstieg im
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Jahr 2014 müsste kein einziger Haushalt, kein einziges
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unternehmen ohne Licht leben. Das ist realisierbar.
Heute geht es darum, dass Sie und nicht andere Ihre Feh- (Beifall bei der LINKEN)
ler korrigieren. Das hätten Sie wenigstens einmal deut-
lich sagen müssen. Nun signalisiert die SPD der Bundesregierung Zu-
stimmung zu den Gesetzentwürfen; das hat auch Herr
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Steinmeier gesagt. Die Spitze der Grünen liebäugelt mit
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der Zustimmung. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn
NEN) es wahr ist, dass die jetzige Regierungskoalition – zu-
mindest im Kern – zu dem zurückkehrt, was Sie im Jahre
Immerhin scheinen wir heute fast ein Wunder zu erle-
2000 verabschiedet haben, und Sie dem jetzt zustimmen
ben. Binnen eines halben Jahres wurden aus den Atom-
wollen, dann sagen Sie damit, dass sich an Ihrem Kom-
parteien Union und FDP Atomausstiegsparteien, zumin-
promiss aus dem Jahre 2000 nach Fukushima nichts
dest halbe. Die Reaktion auf die Atomkatastrophe in
hätte ändern müssen. Das geht nicht.
Fukushima ist eindeutig: Atomtechnologie und deren Ri-
siken sind letztlich nicht beherrschbar; also müssen wir (Beifall bei der LINKEN)
aussteigen, und zwar so schnell wie möglich.
Auch Sie müssen Konsequenzen aus Fukushima ziehen.
(Beifall bei der LINKEN) Deshalb brauchen wir zweifellos weiter gehende Rege-
12970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) lungen. Die Antiatombewegung sieht das übrigens ganz müssen die Erzeugung erneuerbarer Energien viel stär- (C)
genauso. Die vielen Fotos von Herrn Gabriel und von ker fördern, um aus der Atomenergie so schnell wie
Herrn Trittin bei den Demos der Antiatombewegung tra- möglich aussteigen zu können.
gen angesichts ihrer Haltung jetzt nicht zu ihrer Glaub-
Die andere Seite ist die Macht der vier Konzerne. Die
würdigkeit bei. vier Konzerne, die ich genannt habe, haben in den letz-
(Beifall bei der LINKEN) ten Jahren einen Profit von 100 Milliarden Euro ge-
macht. Die werden überhaupt nicht zur Kasse gebeten.
Es geht wieder einmal um das Verhältnis zur Atom- Im Gegenteil: Sie sorgen dafür, dass es dabei bleibt.
lobby, um eine Machtfrage. Das ist der zweite Punkt; Wieso haben diese Konzerne einen solchen Profit ge-
dieser ist spannend. Sie alle sagen jetzt: Wir wollen den macht? Weil sie die Bürgerinnen und Bürger und auch
Ausstieg aus der Atomenergie unumkehrbar und für im- die Unternehmen abgezockt haben, ohne dass Sie irgend-
mer. Frau Bundeskanzlerin, wenn wir das wirklich wol- etwas dagegen unternommen haben. Ich sage: Es ist eine
len – dass Sie mir zustimmen, nehme ich dankend zur Kernfrage, dass die Politik wieder für Wasser, für Bil-
Kenntnis –, dann habe ich eine Frage: Warum verankern dung, für Gesundheit und auch für Energie zuständig
wir – dies haben wir im April 2011 beantragt – das Ver- wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Das
bot der Nutzung der Atomenergie und das Verbot von Parlament, das sie wählen, wird darüber entscheiden.
Atomwaffen nicht im Grundgesetz? Die Vorstände der vier Konzerne dürfen sie nämlich
nicht wählen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sind doch hier eine klare Mehrheit. Alle Fraktionen
wollen das. Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, Sie wol- Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich
len, dass die Unumkehrbarkeit im Gesetz steht. Ich muss macht, was für ein Unsinn dabei herauskommt. Ein Al-
Ihnen sagen: Das ist wirklich albern; denn ein Gesetz leinstehender, der in einer kleinen Mietwohnung lebt
kann durch jede Mehrheit im Bundestag aufgehoben und wenig Strom verbraucht, zahlt pro Kilowattstunde
werden und damit auch dessen Unumkehrbarkeit. mehr als jemand, der in einer Villa mit Swimmingpool
wohnt. Diese Person verbraucht nämlich mehr. Wer
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wenn Sie das mehr verbraucht, bekommt billigeren Strom. Das ist so
sagen, mache ich mir keine Sorgen!) was von antiökologisch und dämlich! Wenn die Politik
Herr Steinmeier, das ist so, als ob Sie ins Gesetz schrei- zuständig wäre, gäbe es solche Schwachsinnsregelungen
ben: Dieses Gesetz gilt. Das stimmt, aber das brauchen nicht, und wenn doch, würden sie nicht halten. Das ist
Sie nicht ins Gesetz zu schreiben. Unumkehrbar wird es das Entscheidende.
(B) nur durch eine Verankerung im Grundgesetz; denn dann (Beifall bei der LINKEN) (D)
müsste es, um zur Atomenergie zurückzukehren, eine
Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat ge- Die Zuständigkeit der Politik ist also eine Frage der De-
ben. Diese wird sich niemals finden. Deshalb wäre es mokratie und der Demokratisierung. Die Stromnetze ge-
dann unumkehrbar. hören in die öffentliche Hand; denn sie sind ein Machtin-
strument.
(Beifall bei der LINKEN)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jawohl! Volksei-
Nun hat Bundesumweltminister Röttgen gesagt gener Betrieb Gysi!)
– Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es lohnt sich, da-
Zum Vierten. Die Energiewende soll sozial gestaltet
rüber nachzudenken –, dass er die Aufnahme in das
werden. Was heißt das? Darauf gibt es von der Regie-
Grundgesetz nicht möchte, und zwar deshalb nicht, weil rung nicht eine einzige Antwort. Wer soll eigentlich die
künftige Mehrheiten dann gebunden wären. Ja, ich Kosten der Energiewende tragen? Kostet erneuerbare
möchte künftige Mehrheiten gerne binden. Wir müssen Energie nichts? Wie stellen Sie sich die Verteilung vor?
der Bevölkerung sagen, dass das Gesetz nicht mehr Das Erste, was Sie geregelt haben, ist: Die energieinten-
leicht zu ändern ist, sondern dass dies höchst kompliziert siven Industrien müssen die Kosten auf jeden Fall nicht
wäre und dass es dafür keine Mehrheiten mehr geben tragen. Sie bekommen eine Entlastung von
wird. Das scheint mir das Entscheidende zu sein. 1,2 Milliarden Euro. Das heißt mit anderen Worten: Die
(Beifall bei der LINKEN) Bürgerinnen und Bürger und die kleinen Unternehmen
müssen die Kosten tragen. Genau das akzeptieren wir
Wenn Sie dazu Nein sagen, dann heißt das: Die Regie- nicht. Den Riesenprofit der Energiekonzerne habe ich
rungskoalition will einen Atomausstieg mit Rückfahr- bereits erwähnt. Auch dieser muss, zumindest zum Teil,
karte. Das ist nicht hinnehmbar. herangezogen werden.
(Beifall bei der LINKEN) Heute haben wir die Situation, dass ein Hartz-IV-
Empfänger 44 Euro im Monat für Strom ausgibt. Ange-
Kommen wir zum dritten Punkt. Der Atomausstieg rechnet werden aber nur 30,42 Euro. Auf diesen Betrag
muss untrennbar mit einer Energiewende verbunden wurde der Regelsatz festgelegt. Finden Sie das in Ord-
werden. Dies hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die nung? Ich finde das nicht in Ordnung. Hartz-IV-Empfän-
Frage der erneuerbaren Energien. In Ihren Gesetzent- ger wissen nämlich nicht mehr, wie sie das Ganze bezah-
würfen, liebe Regierungskoalition, steht zu den erneuer- len sollen.
baren Energien nichts Neues. Es gibt nicht eine einzige
zusätzliche Fördermaßnahme. Das ist falsch; denn wir (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12971
Dr. Gregor Gysi
(A) Jedes Jahr werden 800 000 Strom- und Gasversor- Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht nur eine (C)
gungssperrungen vorgenommen. Haben Sie sich damit Energiewende, sondern auch eine Kulturwende und eine
einmal beschäftigt? Ich habe eine alleinerziehende Frau soziale Wende in unserem Land.
mit drei Kindern besucht, bei der eine Stromsperre vor-
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
genommen wurde. Ich sage Ihnen: Ich war wirklich ent-
setzt. Das verletzt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgeset-
zes. Die Würde des Menschen ist so nicht zu garantieren. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt
(Beifall bei der LINKEN) für die CDU/CSU-Fraktion.
Ich sage Ihnen: Stromsperren und Gassperren sind zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
verbieten. Dafür brauchen wir – jetzt werden Sie sich
wieder furchtbar aufregen – eine staatliche Strompreis- Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):
kontrolle, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
(Beifall bei der LINKEN) gen! Wir beraten heute eines der wohl ehrgeizigsten Pro-
jekte in dieser Legislaturperiode.
wie es sie übrigens unter allen Unionsregierungen bis
zur Großen Koalition gab. SPD und Union haben sie (Zuruf von der SPD: Für Sie!)
dann abgeschafft mit der Begründung, es gebe genug Dass es bei diesem kontrovers diskutierten Thema ge-
Wettbewerb. Das war ein schlechter Scherz; denn die lungen ist, den Sachverstand von Wissenschaft, Wirt-
vier Konzerne telefonieren miteinander und verabreden, schaft und Technik und den Sachverstand der breiten
wie sie uns abzocken. Hier gibt es keinen wirklichen Gesellschaft und der Politik zu bündeln und in konkretes
Wettbewerb. politisches Handeln umzusetzen, ist eine großartige
(Beifall bei der LINKEN) Leistung der Bundeskanzlerin und dieser Bundesregie-
rung. Das verdient Anerkennung und Respekt. Ich danke
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zum sogenannten dafür.
Strahlenproletariat, das entstanden ist. Ich finde, das ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ein einzigartiger Skandal.
Herr Steinmeier, der größte Teil Ihrer Rede war
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Einzigartig?)
(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)
– Ja. Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. – Meine Fraktion
hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Da- von einem Blick in die Vergangenheit geprägt.
(B) bei stellte sich heraus, dass es bei den AKW-Betreibern (D)
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Warum
weniger als 6 000 Festangestellte, aber über 24 000 Leih- wollen Sie dann dahin?)
arbeiterinnen und Leiharbeiter und Beschäftigte von
Fremdfirmen gibt. Die Leiharbeiterinnen und Leiharbei- Um die Energiepolitik künftig für dieses Land zu gestal-
ter verdienen im Schnitt nur zwei Drittel dessen, was ten, ist es erforderlich, dass wir den Blick in die Zukunft
Festangestellte verdienen – das muss man wissen –, und richten. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um das,
– das ist der größte Skandal – sie sind einer doppelt so was wir gemeinsam wollen, nämlich einen schnelleren
hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wie die Festange- Ausstieg aus der Kernenergie und einen schnelleren
stellten, weil sie immer wieder in die entsprechenden Ausbau der erneuerbaren Energien, in gemeinsamer Ver-
Bereiche geschickt werden. Ich sage Ihnen: Das ist eine antwortung richtig zu gestalten.
Unverschämtheit der Konzerne! (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Haben
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Sie das vor sechs Monaten auch gesagt?)
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Wir dürfen nicht in einer hämischen Art und Weise bes-
ten der SPD) serwisserisch den Blick einfach in die Vergangenheit
Ich will auch begründen, warum. Es stecken drei richten. Wir brauchen den Blick in die Zukunft.
Dinge dahinter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich will nur an zwei Punkten den Unterschied zwi-
Präsident Dr. Norbert Lammert: schen dem, was damals von Ihnen beschlossen wurde,
Herr Kollege. und dem heutigen Weg deutlich machen.
Damals stand die Reststrommenge im Vordergrund,
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): und die Entscheidung über das Enddatum der einzelnen
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. – Die Konzerne Kraftwerke haben Sie in die Hände der Betreiber gelegt.
machen einen Profit von 100 Milliarden Euro, zahlen Heute wird gesetzlich ein Enddatum festgelegt. Dadurch
Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern aber schlechte schaffen wir Planungssicherheit für alle Beteiligten: für
Löhne. Außerdem gefährden sie ihre Gesundheit. Sie die Betreiber, für die Investoren und vor allem auch für
verachten sie. Das ist nicht zu dulden. diejenigen, die in die erneuerbaren Energien investieren
wollen und müssen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Gerda Hasselfeldt
(A) Der zweite Unterschied ist, dass damals kein Wort (Ulrich Kelber [SPD]: Lassen Sie doch den (C)
über die Fragen verloren wurde, wie wir den Umstieg Rösler in Ruhe!)
schaffen, was notwendig ist, um die Energieversorgung
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was uns verbin-
tatsächlich zu sichern, was an Ersatzkraftwerken not-
det.
wendig ist, was an Netzausbau notwendig ist, wie der
notwendige Netzausbau beschleunigt wird, wie es mit Der Minister hat vorhin die drei Kernelemente ange-
der Netzintegration der erneuerbaren Energien ausschaut sprochen, die auch im Energiewirtschaftsgesetz veran-
und was mit den notwendigen Speicherkapazitäten ist. kert sind und an die wir uns bei jeder energiepolitischen
Zu all diesen notwendigen Themen haben Sie nicht nur Diskussion erinnern sollten, nämlich Versorgungssicher-
nichts gesagt, sondern Sie haben in Ihrer ganzen Regie- heit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit. Darin
rungszeit auch überhaupt nichts in die Wege geleitet, um sind wir uns doch einig; das hoffe ich zumindest.
dies zu realisieren.
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Der Kelber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nicht! Der versteht das nie!)
Ulrich Kelber [SPD]: Unglaublich!) Der Strom darf nicht ausfallen,
Verantwortliche Energiepolitik schaut anders aus, als (Zuruf von der SPD: Ja, logisch!)
nur Überschriften zu setzen.
und zwar weder in den Betrieben und Krankenhäusern
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, wem sagen Sie das!) noch im Bereich der Datenverarbeitung oder in den
Haushalten.
Wir haben uns die Diskussion in den letzten Wochen
wirklich nicht leicht gemacht – auch in den eigenen Rei- Wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, müssen wir
hen nicht –, und wir haben gerade in meiner Landes- gemeinsam für den entsprechenden Ersatz sorgen. Es
gruppe und in meiner Fraktion auch immer dafür Sorge geht nicht ohne fossile Ersatzkraftwerke. Deshalb darf es
getragen, die Diskussion über das Enddatum nicht an nicht sein, dass man konkrete Projekte blockiert. Das
den Anfang zu stellen, sondern zuerst den Weg zum wäre unglaubwürdig. Zu einem verantwortungsvollen
Ausstieg und Umstieg zu definieren, um dann mit Fach- Handeln gehört auch, dass wir die Äußerungen der Bun-
leuten darüber zu diskutieren, was technisch, was wirt- desnetzagentur in Bezug auf die nächsten zwei Jahre
schaftlich und was auch aufgrund der Eigentumsrechte ernst nehmen. Wir können uns in diesem Lande keinen
rechtlich möglich und richtig ist. Dann erst sind wir zu Blackout leisten. Das wäre völlig verantwortungslos.
der Entscheidung für 2022 als Enddatum gekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn wir uns darin einig sind, dass der Strom nicht (D)
neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Herr ausfallen darf, dann müssen wir uns auch darin einig
Seehofer gehört nicht zu Ihrer Partei?) sein, dass wir beim Umstieg in die erneuerbaren Ener-
– Wir haben kontrovers diskutiert; das habe ich erwähnt. gien alles tun müssen, um den Netzausbau nicht nur the-
oretisch, sondern auch praktisch zu befördern. Wir müs-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben gerade von sen die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass er
allen in Ihrer Partei gesprochen!) zügig erfolgen kann, und zwar nicht nur in Bezug auf die
überregionalen Netze, sondern auch in Bezug auf die
– Entscheidend ist das, was im Gesetzentwurf steht. –
Verteilernetze. Damit die Netzintegration der erneuerba-
Das ist ein rechtlich sauberer und technisch und wirt-
ren Energien funktioniert, müssen wir dafür sorgen, dass
schaftlich realisierbarer Weg. Damit ist das ein seriöser
die entsprechenden Speicherkapazitäten vorhanden sind.
Weg.
All das gehört dazu, wenn wir es mit der Versorgungssi-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) cherheit und mit dem Ziel, dass der Strom in diesem
Land nicht ausfallen darf, ernst meinen.
Wer die Leute glauben machen will, es ginge noch
schneller, wie Sie das gerade gesagt haben, der streut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Leuten Sand in die Augen und gaukelt ihnen etwas Ein zweiter Punkt. Wir haben mit diesem Konzept
nicht Realisierbares vor. auch die Strompreise im Auge. Das gilt für die privaten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verbraucher genauso wie für die Unternehmen. Es ist
deshalb wichtig, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz da-
Auch ich weiß, dass das, was wir hier vor uns haben, rauf zu achten, dass die Einspeisevergütungen den
einer ganz großen Kraftanstrengung bedarf. Energiever- Zweck der Anschubfinanzierung und der Innovationsfi-
sorgung betrifft die Grundbedürfnisse eines jeden Bür- nanzierung erfüllen. Sie sollen aber keine Dauersubven-
gers. Sie ist die Lebensader für unsere Volkswirtschaft tionierung sein.
und für unsere Beschäftigten. Da lohnt es sich schon,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sich über den richtigen Weg auseinanderzusetzen. Es
der FDP)
lohnt sich meines Erachtens auch, zu streiten, und zwar
in dem Sinn, dass wir darum ringen, wie wir das beste Ich weiß sehr wohl, dass es an dieser Stelle immer wie-
Ergebnis erreichen können. Wir dürfen aber nicht bes- der Diskussionen gibt. Diese sind auch berechtigt. Wir
serwisserisch streiten, nur um recht zu haben. Wir müs- dürfen aber auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik
sen vielmehr um die besten Argumente ringen. diesen Zweck nie aus den Augen verlieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12973
Gerda Hasselfeldt
(A) Zur Behandlung der Strompreisproblematik gehört aber auch der Investoren und der Bürger, ja jedes Einzel- (C)
auch, das Augenmerk auf die energieintensiven Betriebe nen für sich. Da wird es noch viele Diskussionen in den
zu richten. Hunderttausende von Arbeitsplätzen in die- Regionen bei konkreten Kraftwerksbauten, Netzausbau-
sen Unternehmen sind davon unmittelbar betroffen. Es ten und Ähnlichem geben.
sind aber auch Hunderttausende von Menschen in den
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ein gutes
vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Es wäre
Signal, wenn dieser Konsens nicht nur in der Gesell-
also zutiefst fahrlässig, wenn wir diese Problematik
schaft, nicht nur in der Ethik-Kommission spürbar wäre,
nicht beachten würden. Deshalb wird es auch hier eine
sondern wenn dieser Konsens auch von diesem Hohen
zusätzliche Entlastung geben.
Hause ausginge. Darum möchte ich Sie herzlich bitten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen über die Ge-
setzentwürfe in den Ausschüssen ein und bitte Sie bei
Ich will noch einen dritten Punkt ansprechen; da sind
der zweiten und dritten Lesung herzlich um Ihre Zustim-
wir uns eigentlich einig. Es geht um die Verantwortung
mung.
für die Natur und unsere Umwelt, also für das, was uns
der Herrgott mitgegeben hat. Deshalb muss uns die Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
duzierung der CO2-Belastung ein Anliegen sein. Des-
halb müssen wir in diesem Konzept ein starkes Augen- Präsident Dr. Norbert Lammert:
merk auf die Energieeffizienz sowohl der Kraftwerke als Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
auch aller Geräte, die wir benutzen, und auf die Einspar- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
möglichkeiten richten. Wir legen ebenfalls großen Wert
auf die Maßnahmen, die wir zum Beispiel in der Gebäu-
desanierung vorgesehen haben, und auf die Frage der in- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
telligenten Netzinfrastruktur und Ähnliches. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Rösler, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe,
Ich will dabei zum Ausdruck bringen, dass ich gerade
mit diesem Energiekonzept Chancen sehe, dass wir den (Zurufe von der FDP: Haben Sie das?)
Schwerpunkt ein bisschen mehr, als wir das bisher tun, habe ich Verständnis für die Kanzlerin, die Sie bei diesen
auf dezentrale Energieversorgung legen. Hier bieten sich Entscheidungen einfach übergangen und ignoriert hat,
sowohl im Bereich der erneuerbaren Energien als auch weil Sie wirklich nichts zum Thema zu sagen haben.
im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung große Chancen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Was uns, insbesondere in unserer Fraktion, ausgehend und bei der SPD)
von meiner eigenen Landesgruppe, noch wichtig ist, ist
(B)
der jährliche Fortschrittsbericht. Er ist uns deshalb wich- Durch Fukushima ist uns eines deutlich geworden: Es (D)
tig, weil jeder, der den Ausstieg aus der Kernenergie gibt kein vernachlässigbares Restrisiko. In Fukushima
ernsthaft will, den Umstieg mitmachen muss und die ist dieses Restrisiko dreimal höchst real geworden. Nun,
notwendigen Schritte auf diesem Weg nicht blockieren nach diesem Zwischenfall, 25 Jahre nach Tschernobyl,
darf. Da wir in der Vergangenheit erstens nicht dieses zieht auch die CDU aus diesen Erfahrungen Konsequen-
genaue Konzept mit den Verbesserungsmöglichkeiten, zen. Das ist spät, aber es ist richtig.
den Planungsbeschleunigungen und dergleichen, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
jetzt in den Gesetzentwürfen verankert ist, beschrieben
haben und zweitens auch kein Monitoring vorgesehen Sie, Frau Merkel, beenden damit auch einen persönli-
hatten, ist vieles nicht geschehen, was auf dem Weg zum chen Kampf. Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Ener-
weiteren notwendigen Ausbau der erneuerbaren Ener- giewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Ener-
gien notwendig gewesen wäre. giesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie
haben noch in der Bundestagswahl – ich zitiere – erklärt:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit
gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn
Deshalb wollen wir diesen jährlichen Fortschrittsbe- Deutschland aussteigen würde.
richt. Wir wollen ihn, um dann nachjustieren zu können,
und zwar nicht beim Enddatum des Ausstiegs, sondern Das war Ihre Position.
bei dem, was auf diesem Weg noch notwendig ist und
Dieser Tage lobte der US-Präsident die deutsche
wo blockiert wird. Das war uns ein ganz wichtiger As-
Energiepolitik, weil sie mit neuer Technologie Klima-
pekt. Ich bin dankbar dafür, dass dieser nun in den Ge-
schutz, Wachstum und Arbeitsplätze verbunden hat.
setzentwürfen verankert ist.
Meine Damen und Herren, das war ein scharfer Tadel an
Nun wissen wir bei der riesigen Aufgabe, die vor uns Sie, Frau Merkel; denn Sie haben in der Energiepolitik
liegt, um den breiten gesellschaftlichen Konsens. Das der letzten zehn Jahre eine ganz einfache Rolle einge-
Ergebnis der Ethik-Kommission hat deutlich gemacht, nommen. Sie waren die Dagegen-Partei.
dass das vorgelegte Energiekonzept von einer breiten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Basis in der Gesellschaft und auch in der Ethik-Kommis-
und bei der SPD)
sion voll mitgetragen wird. Wir alle wissen, dass das nur
mit einer Kraftanstrengung aller Beteiligten vor Ort Sie haben nicht nur versucht, uns im letzten Jahr die
möglich ist: des Bundes, der Länder, der Kommunen, Laufzeitverlängerung als Revolution – oder Ihr Umwelt-
12974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Jürgen Trittin
(A) minister als Meilenstein – zu verkaufen. Die CDU ver- leben den Grafen Bernstorff enteignen? Warum streichen (C)
anstaltete in Nordrhein-Westfalen Fackelzüge gegen die Sie nicht die Ermächtigung zur Enteignung im Atomge-
Einführung des Emissionshandels. Sie waren gegen die setz? Das frage ich Sie, wenn Sie Konsens wollen.
Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Da, wo
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die Union regiert hat – in Hessen, Bayern und Baden-
bei der SPD und der LINKEN)
Württemberg –, haben Sie den Ausbau der Windenergie
bürokratisch so schikaniert und blockiert, dass es heute Heute wandeln Sie beim Ausstieg zögerlich auf grü-
nicht einmal lächerliche 1 Prozent an Windstrom in die- nen Pfaden. Damit kann man bekanntlich nichts verkehrt
sen Bundesländern gibt. machen. Aber beim Einstieg in die energiepolitische Zu-
kunft halten Sie an den Fehlentscheidungen fest, die Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
im letzten Jahr getroffen haben. Mit der Laufzeitverlän-
bei der SPD und der LINKEN)
gerung bis 2040 wollten Sie bis 2020 den Ausbau er-
Sie haben das schrittweise korrigiert: erst beim Emis- neuerbarer Energien auf 35 Prozent deckeln. Das ist we-
sionshandel, dann beim Erneuerbare-Energien-Gesetz. niger, als Sie selbst in Brüssel bei der EU-Kommission
Heute rollen Sie auch die Fahne beim Ausstieg aus der für Deutschland gemeldet haben. Jetzt, wo Sie bis 2022
Atomenergie ein. Da kann ich nur sagen: Willkommen, aus der Atomenergie ausgestiegen sein wollen, bleibt es
gnädige Frau, im 21. Jahrhundert. bei den 35 Prozent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
und bei der SPD) GRÜNEN]: Ja, da stimmt was nicht!)
Dies ist ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der Da wundert es Sie, dass die Wende, die Sie vollzogen
Umweltverbände. Es ist ein Erfolg der Hunderttausende haben, von den Menschen in diesem Lande nicht als
von Menschen, die auf Mahnwachen, bei Demonstratio- glaubwürdig angesehen wird?
nen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten ha- Nehmen wir ein anderes Beispiel. Sie haben sich mit
ben. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen den Ministerpräsidenten darauf verständigt, dass On-
schon nicht entschuldigen wollen – dafür hätte ich ja shorewindenergie, also Windenergie an Land, nicht be-
Verständnis –, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen nachteiligt werden soll. Sie mindern zwar die Benachtei-
Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die ligung, die Sie ursprünglich vorgesehen haben, aber Sie
sie Ihnen erteilt haben. verschlechtern die Bedingungen für das Repowering. Er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klären Sie uns doch einmal, wie Sie bei einer zusätz-
und bei der SPD) lichen Hürde, die Sie mit der EEG-Umlage darauf-
(B) packen, (D)
Heute übernehmen Sie die Laufzeitbegrenzung von
Rot-Grün. Sie packen einen Deckel drauf, damit die von (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Genau!)
Ihnen selbst verursachte und angestiftete Zockerei mit zu einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien
den Reststrommengen ein Ende hat. Sie üben tätige zu verträglichen Preisen an Land kommen wollen, wenn
Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke Sie weiterhin Repowering und Onshorewindenergie in
plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei dieser Weise schlechter behandeln, als es notwendig ge-
noch am Netz sind. Ohne diese Zockerei wären sie nicht wesen wäre!
am Netz. Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die ge-
gen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ben. und bei der SPD)
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Da haben Dafür gäbe es eine Erklärung. Die Erklärung ist: Sie
Sie ja nichts gemacht, gar nichts!) haben das Wesen der Energiewende immer noch nicht
verstanden.
Für all das haben Sie unsere Unterstützung.
(Zuruf von der FDP: Das sagen Sie!)
Aber warum nehmen Sie eigentlich Ihre Novelle vom
letzten Jahr nicht vollständig zurück? Warum bleibt es Es geht hierbei um den Ausbau erneuerbarer Energien,
bei der Absenkung der Sicherheitsstandards? Warum Energieeinsparung und Energieeffizienz. Aber dies setzt
wird § 7 d des Atomgesetzes nicht gestrichen? eine andere Struktur unserer Energieversorgung voraus,
nämlich eine flexiblere und dezentralere Struktur.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Warum müssen wir – wenn Sie einen Konsens wollen –
Worauf Sie hinauswollen, ist der Ersatz der Grundlast
das nach wie vor vor dem Bundesverfassungsgericht be-
Atom durch die Grundlast Kohle. Da treffen Sie sich mit
klagen? Sie haben den Ministerpräsidenten zugesagt, Sie
der Linken von Gregor Gysi.
wollten – ich zitiere – „eine ergebnisoffene Standortsu-
che auf einer gesetzlichen Grundlage“. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich frage Sie: Was ist daran ergebnisoffen, wenn man
parallel dazu in Gorleben weiterbaut? Wenn es ergebnis- Energiewende geht, gerade im Einstiegsprozess, an-
offen sein soll, warum wollen Sie dann weiterhin in Gor- ders. Ob Erneuerbare-Energien-Gesetz oder Netzausbau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12975
Jürgen Trittin
(A) gesetz: Bei all diesen Gesetzen gibt es massiven Ände- jetzt nicht abschaffen. Das ist absurd, meine Damen und (C)
rungsbedarf. Ich habe Ihre Botschaft durchaus gehört, Herren von den Grünen.
Frau Hasselfeldt – Ihr Minister hat das auch gesagt –,
dass Sie bereit seien, tatsächlich zu konkreten Verände- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rungen zu kommen. Wir werden in dem Gesetzgebungs- Die FDP will den schnelleren Umstieg in der Energie-
prozess darauf achten, dass diesen Ankündigungen auch versorgung, wir wollen den schnelleren Ausstieg aus der
Taten folgen. Kernkraft. Deswegen haben wir gemeinsam mit der
Seit Montag steht Frau Merkel der Energiewende Union ein Gesetzespaket vorgelegt.
nicht mehr im Weg. Aber eines scheint immer noch zu (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Weiß das
gelten: Merkel bleibt Merkel. Sie glauben immer noch, Herr Lindner? – Rolf Hempelmann [SPD]: Für
man käme vorwärts, wenn man gleichzeitig bremst und welchen Teil der FDP sprechen Sie?)
Gas gibt. Gnädige Frau, damit kommt man nur ins
Schleudern und ist zu abrupten Kehrtwendungen ge- Die Koalition hat gemeinsam ein klares Signal gesetzt.
zwungen. Wir Liberale haben insbesondere an drei Punkten dieses
Gesetzes einen wesentlichen Anteil.
Vielen Dank.
Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass die Brennele-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mentesteuer nicht abgeschafft wird. Diese Brennelemen-
sowie bei Abgeordneten der SPD) testeuer wurde eingeführt, weil sich die Stromkonzerne
in vergangenen Jahren ihrer Abfälle sehr günstig in der
Präsident Dr. Norbert Lammert: Asse entledigt haben. Deshalb müssen sie auch an den
Michael Kauch ist der nächste Redner für die FDP- Kosten beteiligt werden. Wir haben vereinbart, dass die
Fraktion. Konzerne einen Beitrag zur Haushaltssanierung leisten.
Daran hat sich nichts geändert. Wir wollen die Bürger
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten entlasten, wir wollen die Spielräume nicht einengen und
der CDU/CSU) das Geld nicht dadurch verpulvern, dass wir vier Kon-
zernen ein Geschenk machen. Dafür hat die FDP ge-
Michael Kauch (FDP): sorgt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Trittin, Hochmut kommt vor dem Fall. der CDU/CSU – Renate Künast [BÜND-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und noch ein Mö-
(B) der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/ venpick-Eis dazu!) (D)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Zweitens. Die FDP hat dafür gesorgt, dass wir neben
SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist das
der Erkundung von Gorleben auch andere Entsorgungs-
beste Beispiel dafür!)
optionen entwickeln. Da bin ich schon sehr erstaunt über
Die Grünen sollten sich fragen, ob sie, wenn sie regieren das, was Herr Steinmeier gesagt hat, nämlich dass man
würden, ihre Energiepolitik nicht auch hätten ändern das jetzt endlich machen müsse. Wir haben vereinbart,
müssen. Denn das von uns vorgelegte Konzept sieht eine dass wir das machen. Ich möchte festhalten: Wer das
deutlich frühere Abschaltung der alten Kernkraftwerke nicht gemacht hat, das waren Herr Trittin und Herr
vor, als sie es vorgesehen haben. Sie haben es mit dem Gabriel. Rote und grüne Umweltminister haben elf Jahre
Reststrommengenkonzept doch gerade den Unterneh- davon geredet, aber sie haben es nicht durchgesetzt. Wir
men ermöglicht, das Datum immer weiter nach hinten zu werden es jetzt durchsetzen.
verschieben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Auch
die Unwahrheiten sind unter Ihrem Niveau!)
Das war doch ein rot-grünes Gesetz, von Ihnen als Um-
weltminister verantwortet, Herr Trittin. Drittens. Wir sorgen für Netzstabilität in diesem
Land. Frau Hasselfeldt hat es sehr deutlich gesagt: Man
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kann den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in
der CDU/CSU) den Betrieben, den Arbeitenden in den Krankhäusern
Warum haben Sie denn die ältesten Kraftwerke nicht und in den EDV-Zentralen nicht zumuten, dass wir das
abgeschaltet? Warum haben Sie denn keine zusätzliche Risiko eingehen, dass der Strom ausgeht, auch nicht in
Sicherheit eingefordert? Weil Sie, Herr Trittin, einen Bayern, auch nicht in Baden-Württemberg.
Deal mit den vier großen Stromkonzernen gemacht ha- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
ben. Die Hybris, die die Grünen hier an den Tag legen,
besteht darin, einen Deal gemacht zu haben, nichts für Deshalb ist es notwendig, ein Stand-by-Kraftwerk für
die Sicherheit getan zu haben und uns vorzuwerfen, dass die nächsten beiden Winter vorzuhalten. Das ist unsere
wir den Paragrafen, mit dem wir mehr Sicherheit schaf- Versicherung für die Stromversorgung der Bürgerinnen
fen, und Bürger.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Welcher war das noch?) der CDU/CSU)
12976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Michael Kauch
(A) Wir kümmern uns nicht nur um den Ausstieg, wir Meine Damen und Herren, wir wollen Anreize setzen (C)
kümmern uns auch um den Einstieg; denn der Einstieg für eine möglichst gute Integration der erneuerbaren
ist eine Chance für unser Land, eine Chance für Innova- Energien in den Markt und in das Netz. Deswegen set-
tion, für neue Technologien und für die Modernisierung zen wir auf die Direktvermarktung. Wir geben den An-
unserer Wirtschaft. Dieser Einstieg wird in erheblichem lagenbetreibern bei ihrer Vergütung sozusagen einen
Maße anlagesuchendes Kapital nach Deutschland zie- Airbag. Mit der Marktprämie stehen sie sich vergütungs-
hen. Das ist ein neues Konjunkturprogramm, und zwar mäßig nie schlechter als bei der Festvergütung; aber erst-
ein marktwirtschaftliches. Aber es ist auch eine Heraus- mals müssen sie sich darüber Gedanken machen, sich ei-
forderung an uns alle. Das funktioniert nicht von alleine. nen Kunden zu suchen. Das ist das Mindeste, was man
in einer Marktwirtschaft erwarten muss: dass sich zum
Das bedeutet, dass auch der ländliche Raum Funktio- Beispiel große Anbieter von Biogasanlagen für den
nen für die Energieversorgung übernehmen muss, die Strom einen Kunden suchen müssen und dass sie den
bisher zu großen Teilen die Städte übernommen haben. Strom dem Netzbetreiber nicht nur vor die Füße werfen
Nicht überall wird es so bleiben, und nicht alles wird so nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“.
bleiben, wie es war. Das müssen die Menschen wissen,
wenn wir aus der Kernkraft aussteigen. Wir werden (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Netze brauchen, und wir werden Masten brauchen. Die der CDU/CSU)
wird man in der Landschaft sehen, ebenso Windräder,
die Schlagschatten werfen, Solarkraftwerke, die dem ei- Zum Abschluss möchte ich sehr deutlich machen: Wir
nen oder anderen nicht gefallen werden, und große Bio- wollen Onshore- und Offshorewindkraft. Es geht auch
gasanlagen, die gegebenenfalls zu mehr Verkehr in den um das Planungsrecht. Es nützt nichts, einem Windpark-
Dörfern führen. All das ist unvermeidbar. Wir sind be- betreiber oder einem Anlagenbetreiber eine möglichst
reit, das zu tragen. Wir sind gespannt, ob auch die Grü- fette Rendite zu garantieren, wenn man keine Flächen
nen bereit sind, Verantwortung für den Umstieg bei der geben kann, weil sie in der Planung nicht ausgewiesen
Energieversorgung zu tragen. werden. Es nützt eben auch nichts – da müssen wir noch
eine Änderung am Erneuerbare-Energien-Gesetz vor-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmen –, dass man sagt: „Solarparks, Solarkraftwerke
der CDU/CSU) in der Freifläche sind für den Verbraucher am günstigs-
ten“, aber nur Flächen zur Verfügung stellt, die in Ost-
Rot-Grün hat das EEG immer so gestrickt, dass mög- deutschland oder Nordrhein-Westfalen liegen, während
lichst viele neue Anlagen errichtet wurden. dort, wo wir wegen des Kernkraftausstiegs jetzt Kapazi-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- täten brauchen – in Bayern, in Baden-Württemberg –,
(B) NEN]: Das wollen Sie ändern?) gesagt wird: Wir haben leider keine Flächen für die So- (D)
larenergieerzeugung. – Zum Umstieg gehört, dass man
Das haben Sie gemacht, ohne dass Sie die Netze entspre- sagt: Wir schaffen auch Flächen für Anlagen und sorgen
chend angepasst haben; denn Sie haben immer nur auf nicht nur für Vergütungen.
die Anlagen geschaut, nie auf das Gesamtsystem. Das
Ergebnis können Sie heute sehen: Nachdem die sieben (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ältesten Kraftwerke und Krümmel abgeschaltet worden der CDU/CSU)
sind, exportieren wir im Norden den Windstrom und im-
portieren im Süden den Kernkraftstrom und den Braun- Präsident Dr. Norbert Lammert:
kohlestrom aus Frankreich und aus Tschechien. Das ist Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
das Ergebnis von elf Jahren mit rot-grünen Umwelt- SPD-Fraktion.
ministern in diesem Land.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ulrich Kelber (SPD):
Die FDP will mit der Erneuerung des Erneuerbare- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Energien-Gesetzes drei Ziele erreichen: Wir wollen wei- ren! Ein herzliches Dankeschön an die Hunderttausen-
ter und schneller einen dynamischen Ausbau der er- den und Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit
neuerbaren Energien. Wir wollen mehr Effizienz. Ich Jahrzehnten gegen die Atomenergie in unserem Land en-
freue mich, dass es uns in der Koalition gelungen ist, uns gagiert haben,
darauf zu verständigen, dass wir die Umlage bei
3,5 Cent stabilisieren. Das bedeutet: kein fester Deckel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Aber das bedeutet auch: Es gibt eine politische Ver- Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Manno-
pflichtung, dass wir die Kosten ernst nehmen, die wir mann!)
den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Stromrechnung
auferlegen, und dass wir nicht nur daran denken, den Be- die aushalten mussten, dass sie aus den Reihen von CDU
treibern eine möglichst fette Rendite zu garantieren, wie und CSU und FDP ignoriert, ausgelacht, verleumdet und
es uns Herr Trittin heute hier wieder vorgeworfen hat. beleidigt worden sind, auch noch in den letzten Wochen,
sogar noch in den ersten Tagen nach Fukushima. Noch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einmal ein herzliches Danke! Ohne ihren Widerstand
der CDU/CSU – Norbert Barthle [CDU/CSU]: hätten CDU/CSU und FDP auch nach Fukushima ein-
Grüne Klientelpolitik!) fach weitergemacht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12977
Ulrich Kelber
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stützt, ist mir auch nach den Reden von heute Morgen (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) unklar, ich glaube, den meisten innerhalb der FDP auch.
Sie müssen hier schon für Klarheit sorgen. Sind Sie Teil
Jetzt gilt aber: Sie haben gewonnen; Schwarz-Gelb
der Koalition, legen Sie uns also einen Entwurf vor, über
hat verloren. Die wollten die Energiewende im letzten
den wir mit Ihnen diskutieren können, oder sind Sie bei
Jahr vernichten, wurden zum Einlenken gezwungen und
dem Versuch, die CSU von früher zu imitieren, gleich-
beschimpfen jetzt immer noch in Parlamentsreden, in
zeitig Regierung und Opposition zu sein? Das müssen
Flugblättern und auf den Webseiten die, die schon lange
Sie unter sich klären.
auf dem richtigen Weg waren.
Wir begrüßen das Einlenken von Schwarz-Gelb in der
Herr Rösler, bei allem Respekt: Ihre Rede war die Be-
Frage der Atomkraftlaufzeiten – trotz der Zeitverzöge-
werbung als Kaltreserve der Koalition.
rungen und Kosten, die durch die Extrarunde im Oktober
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entstanden sind, als wir an der gleichen Stelle geredet
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des haben, als wir mit dem gleichen Pathos erklärt bekom-
Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) men haben, warum Atomkraftwerke in diesem Land län-
ger laufen müssen, bis in die 40er-Jahre unseres Jahr-
Diese Rede werden wir eins zu eins in der heute-show
hunderts hinein.
wiederfinden. Sie erinnert mich an das Verhalten eines
Kleinkindes, das über seine eigenen Füße gestolpert ist Eines gilt auch: Wir könnten noch schneller ausstei-
und am Boden liegend nach allen um sich herum haut, gen, wir könnten noch sicherer aussteigen, Herr Fuchs,
weil irgendjemand anderes an seinem Unglück ja schuld wir könnten auch preisgünstiger aussteigen,
gewesen sein muss.
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Mit der
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt Solarwirtschaft?)
fangen Sie mit der Sache an!)
wir könnten die Erneuerbaren noch schneller ausbauen,
Frau Bundeskanzlerin, ein einziges Wort des Einse- wir könnten die Energieeffizienz noch stärker voranbrin-
hens, eine einzige kleine Entschuldigung bei den Bürge- gen.
rinnen und Bürgern, einmal der Verzicht auf das Überhö-
hen des eigenen Handelns, wäre das so schwierig (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Und billiger
gewesen? wird es auch!)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir bitten Sie, wir fordern Sie auf: Nutzen Sie we-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nigstens die kurzen Beratungszeiten auch dafür, das
(B) ernst zu nehmen, was Ihnen die Ethik-Kommission auf- (D)
Seit Mitte März wurden jetzt fast drei Monate Fach- geschrieben hat, und das ernst zu nehmen, was die Sach-
beratungszeit für gute Gesetze durch Grabenkämpfe in verständigen gestern in den Anhörungen gesagt haben!
der Koalition vergeudet. Selbst Koalitionsabgeordnete Selbst Ihre eigenen Sachverständigen haben massive
haben sich gestern in den Ausschussanhörungen, vorges- Kritik an den Gesetzentwürfen geübt.
tern beim Deutschen Bauernverband über die mangelnde
Sorgfalt in den Gesetzentwürfen und über die mangelnde Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Beratungszeit beschwert. Aber da gilt eines, werte Kol- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jetzt kommt
leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Be- es!)
schweren Sie sich doch nicht, ändern Sie es doch ge-
meinsam mit uns! Sie hätten nicht akzeptieren müssen, Ohne dieses Gesetz wäre ein schneller Atomausstieg gar
dass selbst die Sachverständigen nur 24 Stunden Vorbe- nicht möglich. Es ist eine deutsche Erfolgsgeschichte,
reitungszeit für die Fachanhörungen bekommen haben. übrigens beschlossen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP, auch die erste Novelle beschlossen gegen die
Aber jetzt sind wir mitten in der Debatte. Die Ethik- Stimmen von CDU/CSU und FDP. Daran muss man
Kommission hat ihr Ergebnis vorgelegt, manchmal erinnern.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU] Jetzt (Beifall bei der SPD)
kommt Inhaltliches!)
Frau Merkel hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz zwei-
und dieses Ergebnis lautet: Die bisher von CDU/CSU mal abgelehnt, Herr Röttgen – er wird ja gleich noch re-
und FDP gemachte Energiepolitik ist unethisch gewe- den – hat es abgelehnt; aber der Atomausstieg, Milliar-
sen; Sie sollen zurück zu dem, was SPD und Grüne vor- deninvestitionen und 400 000 Jobs in Deutschland
gelegt haben. hängen am Erneuerbare-Energien-Gesetz.
(Beifall bei der SPD) Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung jetzt mit
Schwarz-Gelb will nun den mit voller Absicht – mit diesem Gesetz vor?
voller Absicht! – gemachten Fehler einer Laufzeitverlän-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, was hat sie da
gerung weitgehend zurücknehmen. CDU und CSU ha-
vor?)
ben in der letzten Woche auch bei der Brennelemente-
steuer und dem schrittweisen Ausstieg eingelenkt, verbal Das Ausbauziel bleibt unverändert – trotz Atomaus-
übrigens ebenso bei der bundesweiten ergebnisoffenen stiegs. Das muss man mal erklären! Wir schalten also
Endlagersuche. Ob die FDP das in allen Punkten unter- 20 Prozent der Leistung ab, aber die Erneuerbaren wol-
12978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ulrich Kelber
(A) len Sie nicht mehr ausbauen, als bisher geplant. Es ist schläge heraussuchen, Frau Merkel. Das ist nicht in Ord- (C)
eine dreiste Bevorzugung der großen Energiekonzerne, nung.
quasi als Entschädigung für die Rücknahme der Lauf-
zeitverlängerung. Ein letzter Punkt: Die Expertenanhörung hat aufge-
zeigt, dass Zweifel berechtigt sind, ob die Novelle des
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatsch!) Atomgesetzes auch juristisch wasserdicht konstruiert ist.
Im Kern geht es um die nicht begründete Ungleichbe-
Bei den preisgünstigen dezentralen Erneuerbaren wie handlung bei den Laufzeiten. Alle Antworten der Bun-
dem Onshorewind wird gekürzt und ausgebremst. Schon desregierung gegenüber verschiedenen, bei der Anhö-
heute brechen die Anmeldezahlen zusammen. Die teure- rung anwesenden Rechtsexperten waren unbefriedigend.
ren zentralen Anlagen allerdings, wie die Energiekon- Wir können aber von der schwarz-gelben Bundesregie-
zerne sie lieben, werden bei der Vergütung vergoldet. rung erwarten, dass sie ein ordentlich gemachtes Gesetz
Das Konzept, das hinter dieser Novelle des Erneuerbare- vorlegt, das alle Kriterien erfüllt. Wir lassen nicht zu,
Energien-Gesetzes durch Schwarz-Gelb steht, heißt: we- dass Sie eine juristische Hintertür in die Laufzeitverkür-
niger neue Kilowattstunden bei höheren Kosten, die die zung, in den Atomausstieg einbauen. Das geht nicht.
Verbraucherinnen und Verbraucher zu tragen haben.
Dies ist ein unsinniger Entwurf; den müssen Sie ändern. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sind erschrocken über die mangelnde handwerk-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liche Qualität der Gesetzentwürfe. Eines können wir
aber erwarten: Tun Sie dem Land einen Gefallen, indem
Zum Atomgesetz. Zunächst die gute Nachricht: Sie Sie wenigstens bei der Beseitigung Ihrer Irrtümer etwas
nehmen die Laufzeitverlängerung tatsächlich weitge- Sorgfalt an den Tag legen! Das wäre ein letzter Dienst an
hend zurück. Ich fand den Begriff von Frank-Walter diesem Land.
Steinmeier, dass das ein Irrtumsbereinigungsgesetz ist,
die treffendste Beschreibung für ein Gesetz, die ich seit (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ein letzter Dienst?
Jahren gehört habe. Mamma mia! Wo leben Sie denn?)

(Beifall bei der SPD) Vielen Dank.

Wir gehen auch davon aus, Frau Bundeskanzlerin, (Beifall bei der SPD)
dass Ihre Ankündigung einer ergebnisoffenen und, Frau
Hasselfeldt, bundesweiten Endlagersuche so gemeint ist, Präsident Dr. Norbert Lammert:
wie Sie es gesagt haben, und dass dem auch Taten fol- Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Fuchs
(B) gen. Man muss übrigens nicht bis zum Ende des Jahres für die CDU/CSU-Fraktion. (D)
warten. Man könnte mit einem einzigen Satz im Atom-
gesetz eine solche bundesweite Suche als Voraussetzung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
für die Genehmigung eines Endlagers festschreiben und der FDP)
dann am Ende des Jahres in einem weiteren Gesetz die
Details regeln. Auch auf diese Weise könnten Sie bewei- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
sen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Trittin
Wir als SPD behalten uns vor, mit eigener Mehrheit,
ist leider schon weg, ich sage es aber trotzdem: Herr
spätestens ab 2013, weitere schwarz-gelbe Irrtümer und
Kollege Trittin, Sie waren, wenn ich mich nicht sehr irre,
Unterlassungen im Atomrecht zu revidieren. Wir werden
von 1998 bis 2005 Umweltminister in diesem Lande. In
die längst fertiggestellten höheren Sicherheitsstandards
diesen sieben Jahren hätten Sie zusammen mit Ihren
in Kraft setzen. Herr Dr. Röttgen weigert sich ja, unter
Kollegen von der SPD das Flugzeugabsturzproblem lö-
diese seine Unterschrift zu setzen. Wir werden den Ent-
sen können, wenn Sie es denn gewollt hätten. Es gibt ja
eignungsparagrafen wieder streichen und die vollen An-
Stimmen, die behaupten, dass Sie persönlich es gewollt
wohnerrechte wiederherstellen. Wir werden auch den
haben. Aber Sie waren während dieser Zeit eben Kellner
Vorschlag der Ethik-Kommission für einen parlamenta-
und nie Koch. Sie werden wahrscheinlich auch nie Koch
risch kontrollierten Überwachungsprozess für den Atom-
werden.
ausstieg durchsetzen. Dieser sieht ja als Kernforderung
auch die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung Lieber Herr Kollege Steinmeier, ich habe Ihre rück-
des Atomausstiegs vor, wenn wir bei unseren Zielen des wärts gewandte Rede sehr wohl gehört. Ich kann mir
Ausbaus und der Netzmodernisierung schneller voran- auch durchaus denken, warum sie rückwärts gewandt
kommen als heute erwartet. war: Weil Sie damals noch bessere Umfragewerte als
heute hatten, erinnern Sie sich lieber an diese Zeit.
(Beifall bei der SPD)
(Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg]
Die Mitglieder der Ethik-Kommission sind durch die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Thomas
Bundeskanzlerin handverlesen worden. Durch keinen Oppermann [SPD]: Kommen Sie einmal zur
parlamentarischen Prozess sind die Teilnehmer bestimmt Sache!)
worden. Wenn es sich so verhält, muss aber auch die
obengenannte Kernforderung der Ethik-Kommission er- Das ist verständlich. Zu Ihnen fällt mir ein Zitat von
füllt werden. Man darf sich nicht nur die genehmen Vor- John F. Kennedy ein:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12979
Dr. Michael Fuchs
(A) Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo Richtig ist, dass wir den Ausbau der erneuerbaren (C)
die anderen erst einmal reden. Energien fördern müssen, dass wir so schnell wie mög-
lich auf erneuerbare Energien umsteigen müssen. Das ist
(Rolf Hempelmann [SPD]: Dann packen Sie
aber nicht neu, Herr Oppermann. Das haben wir bereits
mal an!)
mit dem Gesetz vom letzten Jahr beschlossen.
Sie haben 25 Jahre nur geredet, aber nie angepackt; und
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
das macht diese Koalition jetzt.
GRÜNEN]: Deswegen haben Sie die Laufzeit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der verlängert!)
FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Wir hatten nur Skepsis – ich habe sie immer noch –, ob
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden die Brücke von zehn Jahren, die wir jetzt bauen, aus-
– dafür müssen wir alle gesellschaftlichen Kräfte zusam- reicht. Ich hoffe, dass das der Fall ist. Sie alle sind gefor-
menführen – jetzt anpacken. Wir müssen dafür sorgen, dert, daran mitzuarbeiten. Dass das Ganze nicht einfach
dass die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, ge- ist, weiß, glaube ich, jeder in diesem Hohen Hause. Wir
meinsam umgesetzt werden. Das wird alles andere als müssen gemeinsam daran arbeiten; denn es sind eine
einfach. Der Neubau von effizienten Gas- und Kohle- Menge Punkte zu berücksichtigen.
kraftwerken wird nötig sein. Der Neubau von Pumpspei-
(Thomas Oppermann [SPD]: Wenn es schwie-
cherkraftwerken wird nötig sein. Der Ausbau der Strom-
rig wird, sind Sie die Falschen!)
leitungsnetze wird nötig sein. All das wird viel Kraft
kosten. Das wird häufig gerade von Politikern der Grü- Versorgungssicherheit ist einer der zentralen Punkte.
nen sehr kritisch betrachtet. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deut-
schen Bundestag, das TAB, hat festgestellt, dass ein ein-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
stündiger Ausfall, ein einstündiger Blackout in Deutsch-
GRÜNEN]: Ja, natürlich muss man Kohle-
land 1,3 Milliarden Euro kostet. Pro Tag wären das fast
kraftwerke kritisch betrachten!)
30 Milliarden Euro. Wenn das passiert, dann werden wir
Ich frage mich, woher diese fast überall in Deutsch- alle hier anders diskutieren. Wir werden darüber nach-
land zu spürende grundsätzliche Angst vor neuen Tech- denken müssen, wie wir das verhindern können. Es ist
nologien, vor neuen Infrastrukturprojekten kommt. notwendig, dass wir uns darum in Zukunft stärker küm-
mern.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nein, die haben wir nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Was müssen wir dagegen tun? Ausländer sprechen ja so-
(B) (D)
gar schon von „German Angst“. Die Bundesnetzagentur mahnt uns schon die ganze
Zeit, dass wir vorsichtig sein sollen, falls der geplante
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schnelle Ausbau nicht funktionieren wird. Seit Fuku-
NEN]: „Angst“ ist immer ein deutsches Wort!
shima sind wir zum Stromimporteur geworden. Wir
So ist die Sprache!)
haben vor Fukushima 98 Gigawattstunden pro Tag ex-
Ich habe vor kurzem an einer Podiumsdiskussion in portiert – ich zitiere die Bundesnetzagentur – und impor-
den USA zum Thema „Energiepolitik nach Fukushima“ tieren seitdem pro Tag 23 Gigawattstunden. Das kann
teilgenommen. Da fragte mich ein Japaner, mit dem ich nicht die Zielrichtung sein. Die Bundeskanzlerin hat völ-
dort saß: Michael, where was the nuclear accident, in lig zu Recht gesagt, dass wir das nicht wollen. Wir müs-
Germany or in Japan? sen Selbstversorger bleiben. Aus diesem Grunde müssen
wir so schnell wie möglich auch mehr auf fossile Kraft-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)
werke setzen und Verträge mit Gasproduzenten abschlie-
Diese Frage ist durchaus berechtigt: Warum ist die ßen, um in Zukunft genügend Gas zu haben.
Hysterie in Deutschland so groß, und haben Sie von den
Einen Punkt möchte ich in dem Zusammenhang er-
Grünen nicht einen großen Anteil an dem Schüren dieser
wähnen, der mir Sorge macht: Wir werden natürlich in
Hysterie?
eine noch größere Abhängigkeit von Russland geraten.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Machen wir uns nichts vor: Bis jetzt kommen bereits
NEN]: Lehnen Sie den Atomausstieg jetzt ab, 38 Prozent unseres Gases aus russischen Quellen. Ich
oder stimmen Sie zu?) gehe davon aus – und das sagen auch die Energieversor-
ger –, dass der Anteil auf eine Größenordnung von über
Mit Hysterie und Ablehnung von Infrastrukturprojekten
40 Prozent wachsen wird, wenn wir zukünftig acht bis
werden wir in Deutschland keine Probleme lösen.
zehn zusätzliche Gaskraftwerke brauchen. In dem Zu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sammenhang sollten wir uns noch einmal sehr intensiv
mit dem Thema LNG-Terminal, vielleicht in Wilhelms-
Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam daran arbeiten,
haven, beschäftigen.
die Probleme in den Griff zu bekommen.
(Rainer Brüderle [FDP]: Sehr richtig!)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie stehen
Sie denn zu dem Ausstieg? – Thomas Das muss dann als Alternative aufgebaut werden. Auch
Oppermann [SPD]: Was sagen Sie denn zu das ist etwas, was von vielen von Ihnen abgelehnt
dem Ausstieg?) wurde.
12980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Michael Fuchs


(A) Beim Netzausbau haben wir mit dem NABEG die der FAZ und anderswo nicht leisten. In Prospekten von (C)
richtigen Weichen gestellt. SolarWorld – das ist im Wahlkreis von Herrn Kelber,
glaube ich – werden 10 Prozent Rendite über 20 Jahre
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: versprochen. – Donnerwetter, das ist wesentlich mehr,
Sie haben keine Ahnung, Herr Fuchs!) als man bei Griechenland bekommen kann, und in die-
Der Netzausbau ist dringend notwendig. Denn der Strom sem Fall ist es sicher. – Das kann nicht funktionieren.
von der Nordsee oder von der Ostsee nützt uns gar Das muss geändert werden. Solche Renditen sind unsitt-
nichts, wenn er nicht dahin transportiert werden kann, lich; denn sie müssen von den kleinen Leuten bezahlt
wo er gebraucht wird. werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: der FDP)
Bayern zum Beispiel!)
Das heißt, wir werden an das EEG herangehen; denn die
Sie wissen genau, dass es um einen Netzausbau von Solarwirtschaft ist in der Förderung die teuerste. Wir ha-
4 400 Kilometern geht. Diese 4 400 Kilometer müssen ben heute pro Jahr insgesamt eine EEG-Förderung von
in kürzester Zeit gebaut werden. Bundesminister Rösler 13,5 Milliarden Euro; davon entfallen 6,7 Milliarden
hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass sie innerhalb Euro allein auf die Solarwirtschaft. Das kann nicht rich-
von vier Jahren gebaut werden müssen. Das heißt, dass tig sein; denn nur 2 Prozent des gesamten Stroms der er-
eine gewaltige Beschleunigung erforderlich ist. Wir neuerbaren Energien kommen aus Solarpaneelen. Das
müssen circa 500, 600, 700 Kilometer pro Jahr bauen. zeigt, dass es hier ein totales Missverhältnis gibt. Das
Auch dabei sind Sie alle gefordert. Das funktioniert nur, werden wir beim EEG korrigieren. Da müssen wir alle
wenn alle Parteien das wollen. Da kann nicht einer vor gemeinsam ran; es müssen vernünftige Lösungen gefun-
Ort sagen: Das geht mich nichts an; die sollen die Lei- den werden. Wir müssen bei Solarenergie eine Decke-
tungen irgendwo anders hinbauen. lung im EEG einführen, ansonsten wird es nicht funktio-
nieren. Sonst wird zu viel aufgebaut. Das ist nicht meine
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorstellung.
Sagen Sie das Ihren Leuten vor Ort!)
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So machen Sie von den Grünen das ja sonst sehr gerne. NEN]: Und nicht raus aus der Atomkraft! –
Sie verbünden sich mit Ihren Freunden von Attac, Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
BUND etc., den üblichen Verdächtigen, NEN)
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wichtigste, was wir in diesem Hohen Hause zu (D)
(B)
und verhindern den Leitungsausbau. So kann es nicht beachten haben, ist, dass Deutschland ein guter Arbeits-
weitergehen. Wenn wir da nicht gemeinsam vorgehen, platzstandort bleibt. Auch die energieintensive Industrie
werden wir die Energiewende nicht schaffen. muss in Deutschland bleiben. Wenn die abwandert, ge-
hen Wertschöpfungsketten verloren und wird das Folgen
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben, die wir so nicht wollen. Mein Deutschland ist und
NEN]: Was glauben Sie, wie viele CDU-Mit- bleibt ein Industrieland. Daher werde ich dafür kämpfen,
glieder beim BUND sind?) dass die Industrie überall in Deutschland preisgünstigen
Notwendig ist auch, dass wir beim EEG aufpassen. Strom erhält.
Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar für Ihre eben Das darf nicht durch verrückte Preissteigerungen ka-
gemachte Äußerung, dass die EEG-Umlage nicht über puttgemacht werden. Das können wir uns nicht leisten.
3,5 Cent pro Kilowattstunde steigen soll. Das muss un- Denn wir können gerade jetzt mit Freude feststellen,
sere Richtschnur sein, auch bei den jetzt anstehenden dass sich die Arbeitsmarktsituation endlich entspannt
Verhandlungen. Denn wenn dieser Preis steigt, zahlen hat. Ich darf daran erinnern: Am Ende Ihrer Regierungs-
das gerade die kleinen Leute, Herr Gysi. Dann zahlen zeit hatten Sie 5 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen,
nämlich gerade diejenigen, die sich keine Solaranlage Frau Künast. Wir werden dieses Jahr unter 2,3 Millionen
leisten können, die sie nicht auf dem Dach haben. Das ist Arbeitslose haben; das ist eine Erfolgsstory. Das darf
eine Umverteilung von unten nach oben. Herr Kelber nicht durch eine falsche Energiepolitik kaputtgemacht
profitiert; er ist der Cheflobbyist der Solarwirtschaft. werden.
Das war schon immer so.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind einfach ein der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE
Lügner, der unerträglich arrogant ist!) GRÜNEN)
Unsere Aufgabe ist es aber nicht, dafür zu sorgen, dass Lassen Sie mich zum Schluss den Vater des Industrie-
die Solarindustrie noch mehr Geld verdient. landes Deutschland, Ludwig Erhard, zitieren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ulrich Kelber [SPD]: Oje!)
Es gibt keine Zeitung, die in den letzten Tagen nicht Er hat gesagt:
großformatige Anzeigen vom BSW enthalten hätte. Das
zeigt, dass man anscheinend doch verdammt viel Geld Unser Tun dient nicht nur der Stunde, dem Tag oder
haben muss; sonst könnte man sich solche Anzeigen in diesem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Generationen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12981
Dr. Michael Fuchs
(A) zu denken und unseren Kindern und Kindeskindern Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (C)
ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft Verehrter Herr Kollege Kelber, erstens habe ich fast
zu bauen. alle Ämter in Aufsichtsräten und Beiräten schon vor
meiner Tätigkeit als Abgeordneter des Hohen Hauses in-
Das werden wir mit unseren Gesetzen tun. Bitte hel-
negehabt.
fen Sie dabei mit, dass es funktioniert!
(Ulrich Kelber [SPD]: Auch die Vorträge
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf des Jahres 2010?)
Hempelmann [SPD]: Kein Wort über die Feh-
ler der Vergangenheit!) Zweitens steht es mir frei, diese Tätigkeiten weiter
auszuüben. Ich erhalte dadurch erhebliche Erkenntnisse,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die Ihnen in vieler Hinsicht fehlen.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- (Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie für einen be-
gen Ulrich Kelber. zahlten Vortrag 10 000 Euro kriegen!)
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Jetzt kommt Drittens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
der Cheflobbyist! – Volker Kauder [CDU/ Sie hier vielleicht auch den Rechenschaftsbericht Ihrer
CSU]: Jetzt kommt der Solarlobbyist!) Kreispartei zitieren sollten, die erheblich von Solar-
World unterstützt wird; das verschweigen Sie immer
Ulrich Kelber (SPD): gerne.
Der Kollege Fuchs muss es einfach aushalten, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
ich mich jedes Mal, wenn er seine Lügen verbreitet, zu Ulrich Kelber [SPD]: Er hört ja nicht einmal
Wort melde. zu, wenn ich etwas sage! – Renate Künast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, er hat
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat er über- recht! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]:
haupt nicht!) 70 000 Euro von SolarWorld! – Volker Kauder
Außerhalb des Deutschen Bundestages ist das, was [CDU/CSU], an den Abg. Ulrich Kelber
Sie machen, natürlich längst strafbewehrt. Sie haben [SPD] gewandt: Wissen Sie, was Sie sind?
wieder mit einer Formulierung versucht, den Eindruck Kein gescheiter Mensch! Sie sind sogar ein
zu erwecken, ich hätte irgendeinen wirtschaftlichen Vor- kleinkarierter Simpel!)
teil von meinem Engagement für erneuerbare Energien,
(B) für die ich mich seit 30 Jahren einsetze. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D)
Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Fuchs, veröffentli-
Die Linke.
che ich meine Steuererklärung auf meiner Website. Dort
kann man sehen, dass ich keinen Cent daran verdiene. (Beifall bei der LINKEN)
Im Gegensatz zu Ihrem Kreisverband veröffentlicht
meine Partei übrigens auch sämtliche Spenden. Aber im-
Dorothee Menzner (DIE LINKE):
merhin gibt es ja eine durch die SPD initiierte Verpflich-
tung zur Veröffentlichung von entgeltlichen Tätigkeiten Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
neben dem Mandat. Bei mir finden Sie da übrigens – mit Beitrag des Kollegen Fuchs hat eben deutlich gemacht,
Ausnahme des kommunalen Aufsichtsrates – null. Bei womit wir es hier seit Tagen und Wochen zu tun haben:
Ihnen finde ich: Vortrag Stufe 2, Vortrag Stufe 2, Vor- mit einer Panikmache bei den Menschen, die vor ver-
trag 1 Stufe 2, Vortrag 2 Stufe 2, Vortrag 3 Stufe 3, Auf- meintlichen Strompreissteigerungen, Stromausfällen und
sichtsrat Stufe 3, Beirat Stufe 3, usw. unbezahlbaren Stromrechnungen gewarnt werden. Dabei
sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Ein
Zwei kleine Vorschläge: Umbau der Energieversorgung hin zur Nutzung erneuer-
barer Energien wird Mehrkosten von durchschnittlich
Erstens. Lesen Sie meine Steuererklärung, die 0 Cent 0,2 bis 0,5 Cent je Kilowattstunde nach sich ziehen. Wir
Einnahmen neben dem Mandat ausweist! sagen nicht: Das kostet nichts. Aber es geht um einen
Zweitens. Schaffen Sie einfach einmal so viel Trans- sehr überschaubaren Betrag.
parenz wie ich! Danach können Sie den Mund hier vorne Ich habe mir einmal herausgesucht, wie sich die
wieder aufmachen. Stromkosten eines Dreipersonenhaushalts mit einem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verbrauch von 3 500 Kilowattstunden in den letzten Jah-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ren entwickelt haben. 2001 kostete die Kilowattstunde
LINKEN – Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. im Durchschnitt 14,3 Cent, zehn Jahre später 24,9 Cent.
Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU] gewandt: Wie Wir hatten also in den letzten Jahren einen viel stärkeren
viel haben Sie denn da verdient pro Stunde?) Anstieg, der vielen Menschen Probleme macht. Kollege
Gysi hat vorhin angesprochen, dass viele Menschen in-
zwischen längst Probleme haben, ihre Rechnungen zu
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zahlen. Das hat nichts mit einem Umbau des Energiesek-
Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion. tors zu tun, sondern mit Abzocke, fehlender Strompreis-
12982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dorothee Menzner
(A) aufsicht und fehlenden sozialen Tarifen, wie es sie in Nun nennen Sie 2022 in der Hoffnung, dass deswegen (C)
Ländern wie Belgien und Frankreich längst gibt. keine Klagen eingereicht werden. Gestern haben wir
aber gehört, dass es Klagen geben wird.
(Beifall bei der LINKEN)
(Otto Fricke [FDP]: Klagen gibt es immer! Die
Und es hat etwas damit zu tun, dass die großen vier Frage ist, ob sie gewinnbar sind!)
Energiekonzerne entsprechende Gewinne gemacht ha-
ben. Wir haben uns die Daten zu den drei großen deut- Wir haben es als Drohung empfunden, dass der Eon-Ver-
schen Energiekonzernen Eon, RWE und EnBW vom treter in der gestrigen Anhörung sagte: Wir werden die
Wissenschaftlichen Dienst geben lassen: Sie haben ihre Vermögensschäden konkret beziffern und mit der Bun-
Gewinne in den letzten Jahren von circa 10 Milliarden desregierung erörtern und auf Gespräche setzen, um ju-
Euro im Jahr auf 23 Milliarden Euro im Jahr gesteigert. ristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. – Sie
Das zahlen die Kundinnen und Kunden. Worüber? Über wollen also weiterkungeln, und sie wollen Entschädi-
die Stromrechnung; ich habe es eben erläutert. gungen. Dabei wissen Koalition und Konzerne, dass
nach einem Verfassungsgerichtsurteil von 1991 eine ent-
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: schädigungslose Enteignung aus Gründen des Gemein-
Sauerei!) wohls sehr wohl möglich ist.
Jetzt erleben wir, dass es nicht zum schnellstmögli- Ich danke Ihnen.
chen Ausstieg kommt, sondern zu einem Ausstieg erst
im Jahr 2022, einem Jahr, das keiner der Wissenschaftler (Beifall bei der LINKEN)
und Sachverständigen vorgeschlagen hat. Die Begrün-
dung dafür, dass der Ausstieg erst 2022 erfolgen soll, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
findet sich in Ihren Texten: Da sagen Sie, dass nicht nur Das Wort hat nun Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die
die Abschreibung, sondern auch die Möglichkeit, ange- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
messene Gewinne zu erzielen, zu berücksichtigen ist.
Deswegen kommen Sie auf das Jahr 2022. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Man muss sich das wirklich einmal auf der Zunge Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
zergehen lassen: Seit Wochen und Monaten – nicht erst Ich habe von meiner Japan-Reise, die ich im Mai unter-
seit Fukushima, sondern auch schon anlässlich der Lauf- nommen habe und die mich auch in die Präfektur Fuku-
zeitverlängerung – demonstrieren Hunderttausende von shima geführt hat, die Einsicht mitgenommen, dass aus
Menschen, die eine sehr legitime Forderung erheben: die dem GAU eine weitere Lehre zu ziehen ist. Aus vielen
Forderung nach dem sofortigen Ausstieg. Sie wissen Gesprächen mit Flüchtlingen, aber auch mit Verantwort-
(B) nämlich, dass jeder Tag des Betriebs von Kernkraftwer- lichen, zum Beispiel mit Bürgermeistern und dem Gou- (D)
ken ein weiterer Tag der Gefahr ist. Sie wissen, dass der verneur, habe ich die Lehre gezogen, dass jedes Land der
Block 1 in Fukushima Ende März hätte vom Netz gehen Welt und jede Regierung mit der Bewältigung der Aus-
können. Das ist einer der Blöcke, die heute mit einer wirkungen eines GAUs überfordert wäre. Das gibt uns
Kernschmelze zu kämpfen haben und bei denen wir bis den Auftrag, den schnellstmöglichen Ausstieg ernsthaft
heute nicht wissen, wie umfänglich die Gefahren und anzugehen.
wie groß die Folgen sind, wie viele Tausende von Toten Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
und Hunderttausende von Krebskranken das nach sich befinden sich in einem Lernprozess. Das ist erfreulich.
ziehen wird. Die Menschen stellen also die sehr berech- Um die Rückfallgefährdung Ihrer eigenen Parteien in
tigte Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg. Grenzen zu halten, brauchen Sie aber einen Konsens mit
(Beifall bei der LINKEN) denen, die das, was Sie jetzt lernen, schon immer so ge-
sehen haben, und mit denen – teilweise sind sie in Ihrer
Wenn wir hier über Daten und Jahreszahlen diskutie- eigenen Partei –, die das immer noch nicht so sehen wol-
ren, dann geht es um eine Abwägung zwischen dieser len. Wir Grüne sind uns unserer Verantwortung durchaus
sehr berechtigten Forderung und anderen Interessen, bewusst. Wir wollen unsere Verantwortung gerne dafür
nämlich dem Interesse an einer sicheren Stromversor- übernehmen, dass es in dieser Gesellschaft über die Par-
gung und dem an bezahlbaren Strompreisen; dabei ist zu teien hinaus einen breiten Konsens gibt; denn wir wissen
berücksichtigen, in welchem Zeitraum der Umbau voll- so gut wie Sie, dass Sie einen gesellschaftlichen Kon-
zogen werden kann. Die Gutachten nennen Jahreszahlen sens in dieser Frage ohne die Grünen nicht bekommen
zwischen 2013 und 2017; Sie aber nennen das Jahr 2022 werden.
und feiern das als große Errungenschaft. Ich erinnere da-
ran: Da waren wir vor einem halben Jahr schon einmal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der LINKEN) Wir sind uns aber auch der Verantwortung bewusst, dass
gerade wir ganz genau darauf achten müssen, dass Ihre
An dieser Stelle möchte ich auch nicht verschweigen, Vorlage zum Atomausstieg und das, was wir hinterher
dass mit mir damals viele den Zeitraum für den rot-grü- beschließen sollen, die Lehren aus Fukushima tatsäch-
nen sogenannten Atomausstieg für zu lang hielten und lich berücksichtigt. Da haben wir noch Beratungsbedarf.
als Laufzeitgarantie empfunden haben, die mit den Kon-
zernen ausgehandelt worden war. Nehmen wir das Thema Sicherheit. Wo findet man
das Thema Sicherheit in Ihrem Gesetzentwurf? Um Si-
(Beifall bei der LINKEN) cherheit zu gewährleisten, bedarf es gar nicht viel: Neh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12983
Sylvia Kotting-Uhl
(A) men Sie § 7 d Atomgesetz zurück, der die Sicherheitsan- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
forderungen relativiert. Das Wort hat nun Bundesminister Norbert Röttgen.
(Michael Kauch [FDP]: Erhöht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dann würde wieder der Stand von Wissenschaft und neten der FDP)
Technik gelten, den bekanntermaßen nichts toppen kann.
Auf dem Stand von Wissenschaft und Technik führen Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
wir dann Sicherheitsanalysen durch, für die mehr Zeit Naturschutz und Reaktorsicherheit:
zur Verfügung steht, als Sie der RSK gegönnt haben, und Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
stellen anschließend Nachrüstanforderungen. Dann ha- nen und Kollegen! Alois Glück, der Präsident des Zen-
ben wir für die Sicherheit etwas getan. tralkomitees der deutschen Katholiken, hat heute erklärt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Energiewende sei die größte Herausforderung für
Deutschland und die deutsche Gesellschaft seit der Wie-
Zu dem von Ihnen angestrebten Ziel der Unumkehr- dervereinigung.
barkeit. Wir wissen: Gesetze kann man ändern, auch
Meinungen können sich ändern. Wir erleben das gerade Ich füge hinzu, dass nach meiner Auffassung mit die-
sehr häufig, in regelmäßigem Turnus. sem Projekt auch die größten Chancen für unser Land
verbunden sind, die es seit langem gegeben hat. Dabei ist
(Michael Kauch [FDP]: Das nennt man Demo- die Lage nicht so, wie sie vor zehn Jahren war. Frau
kratie!) Kotting-Uhl, Sie haben gerade auf Fukushima hingewie-
– Ja, man kann alles ändern. – Wenn es Ihnen aber ernst sen. Das war am 11. März dieses Jahres. Fukushima war
damit ist, so nah wie möglich an das Ziel der Unumkehr- und ist – das haben wir übereinstimmend festgestellt –
barkeit heranzukommen, frage ich Sie: Warum schieben eine Zäsur. Fukushima ist eine neue Menschheitserfah-
Sie das Ende des Atomausstieges, von heute aus gese- rung: die Erfahrung der Nichtbeherrschbarkeit der Kern-
hen, in eine dritte Legislatur? Das ist ja eine längere energie in einem Hochtechnologieland. Eine Gesell-
Frist, als in der Empfehlung der Ethik-Kommission vor- schaft darf das aufnehmen, eine Gesellschaft sollte das
gesehen. In dieser dritten Legislatur, nach der dritten aufnehmen. Die Politik ist ebenfalls gut beraten, wenn
Bundestagswahl, stehen theoretisch noch sechs Kraft- sie aus den weltweiten Erfahrungen, die in diesem Zu-
werke zur Abschaltung an. In diesem Zusammenhang sammenhang gemacht worden sind, lernt.
möchte ich Herrn Töpfer zitieren, der auf meine Frage Darum ist die Situation heute nicht die gleiche wie
hin gestern sagte: Wir wollten nicht, dass der Ausstieg vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren hat es keine Einladung
2021 beginnt, sondern dass er 2021 endet. an die Opposition gegeben, zu einem parteiübergreifen- (D)
(B)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens
zu kommen, wie sie heute zum Beispiel Gerda
Was aber vor allem fehlt, ist eine Konkretisierung Ih- Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion ausgesprochen
rer angekündigten Bereitschaft, sich auf eine ergebnisof- hat.
fene Endlagersuche zu begeben. Wenn Sie sagen, Sie
wollen andere Gesteinsformationen prüfen, so ist das ein (Rolf Hempelmann [SPD]: Es hat auch nicht
bisschen dünn. die Bereitschaft der Opposition gegeben! –
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die neueste Vorschrift im Gesetz dazu ist die Enteig- NEN]: Was?)
nungsklausel für Gorleben, die Lex Gorleben. Ich sage
Ihnen: Das überzeugt niemanden. Wer eine Endlager- Es hat auch keine Einladung an die Ministerpräsidenten
suche ernst meint, damit beginnen und ein Gesetz dazu gegeben, in dieser Frage zu einem Konsens zu kommen.
erlassen will, der kommt ohne einen Baustopp in Gorle-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ben nicht aus. Niemand wird Ihnen abnehmen, dass Sie
Ihr wärt ja nicht mal gekommen!)
es wirklich ernst meinen.
Darüber hinaus sage ich Ihnen: Ohne den Brandherd Heute befinden wir uns in der Konsensbildung an einer
dort zu befrieden, werden Sie keinen gesellschaftlichen ganz anderen Stelle als vor zehn Jahren.
Konsens herstellen können. Voraussetzung für einen sol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen Konsens ist ein Baustopp in Gorleben.
Das ist eine positive Entwicklung in Deutschland.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist glatt gelogen, und das wissen
Ihre Vorlage ist Ausdruck eines Lernprozesses. Ich Sie!)
hoffe, dass wir in den Beratungen der nächsten Wochen
– die Zeit ist kurz genug, aber wenn man sich anstrengt, Vor zehn Jahren gab es auch noch nicht 17 Prozent
ist es möglich – das, was Ausdruck Ihres Lernprozesses Anteil der erneuerbaren Energien am Strom. Dieser Pro-
ist, gemeinsam so verbessern, dass es den Lehren aus zentsatz hat sich erheblich gesteigert.
Fukushima entspricht.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Das haben wir gesteigert! – Thomas
sowie bei Abgeordneten der SPD) Oppermann [SPD]: Das haben wir geschafft!)
12984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) Die technologisch-industriellen und ökonomischen Wir sollten den Blick nicht zurückwenden, sondern (C)
Möglichkeiten, die wir heute haben, bedeuten eine große die Chancen für unser Land ergreifen, indem wir fragen:
Chance. Wir sollten sie gemeinsam ergreifen. Die Bot- Welche Möglichkeiten bietet die Situation jetzt für die
schaft an die Bevölkerung muss heute sein, Zukunft?
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Ulrich Kelber [SPD]: Mit den gleichen Wor-
NEN]: Das ist unverschämt! Ihr wärt doch gar ten haben Sie die Laufzeitverlängerung be-
nicht gekommen!) gründet! Mit den gleichen Worten!)
Gemeinschaft, Gemeinsinn und damit eine große Diese Regierung ist entschlossen, diesen Weg zu gehen.
Chance für Deutschland zu realisieren. Das muss unsere Wir sind entschlossen, den gesellschaftlichen Konsens,
Debatte bestimmen. den es in Deutschland gibt, in Politik und Gesetzgebung
zu realisieren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich bin davon überzeugt, dass es um Gemeinsamkeit
und Gemeinschaft geht. Frau Kotting-Uhl, das, was Sie gerade gesagt haben,
war, glaube ich, falsch. Sie haben eben gesagt: Die Grü-
(Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE
nen entscheiden darüber, ob es Konsens in der Gesell-
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
schaft gibt.
frage)
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Das möchte ich jetzt gern ausführen, Herr Kollege
NEN – Otto Fricke [FDP]: So hätten die es
Fell. – Das Wesen der Demokratie ist nicht Harmonie
gerne! So sehen die sich!)
und auch nicht, dass wir alle einer Meinung sind und im-
mer das Gleiche wollen. Zum Wesen der Demokratie ge- – Wir können es ja im Protokoll nachlesen. Ich habe Ih-
hören vielmehr Kontroverse und Auseinandersetzung als rer Rede zugehört.
ein Funktionselement oder ein Lebenselement von De-
mokratie. Einer Demokratie tut es gut, ja es ist geradezu (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
notwendig für eine gute Entwicklung, dass eine Gesell- NEN]: Das können wir machen! Sie würde das
schaft auch in der Lage ist, über Grundfragen der gesell- nie sagen!)
schaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung einen Ich glaube, niemand – keine Person, kein Mitglied
Konsens zu erreichen. des Bundestages, keine Fraktion – sollte sich zu wichtig
(B) nehmen. Die Gesellschaft möchte diesen Konsens, und (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wir als Parteien disponieren nicht darüber, ob die Gesell-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des schaft Frieden, Konsens und Fortentwicklung will. Die-
Kollegen Fell? ses Recht hat keine Fraktion und keine Partei. Wir jeden-
falls wollen diesem Bedürfnis entsprechen.
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Naturschutz und Reaktorsicherheit: neten der FDP – Renate Künast [BÜND-
Nein. Ich habe ja gesagt, dass ich gleich gerne darauf NIS 90/DIE GRÜNEN]: Willkommen im
zurückkomme. 21. Jahrhundert! – Rolf Hempelmann [SPD]:
Warum erst jetzt?)
Ich finde es positiv – es gehört doch zu unserer ge-
meinsamen Erfahrung –, dass wir in der Kontroverse, in
dem Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in der sozialen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Marktwirtschaft einen Ausgleich gefunden haben. Es ge- Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage
hört zu unseren positiven Erfahrungen, dass wir in dem der Kollegin Kotting-Uhl?
Konflikt zwischen Friedensziel und der Bereitschaft zu
militärischen Einsätzen einen Ausgleich gefunden ha- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
ben. Es ist für manche sehr schmerzhaft, diesen Weg zu Naturschutz und Reaktorsicherheit:
gehen, aber es ist doch Ausdruck von demokratischer Bitte. Ich habe sie ja angesprochen.
Entwicklung und Reife, dass man sich selber korrigiert
und zu neuen gemeinschaftlichen Positionen kommt. In Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
diesen Kontext stelle ich, dass wir in Deutschland zu der
Herr Dr. Röttgen, wir neigen nicht zu Überheblich-
Überzeugung kommen, dass es keinen Konflikt zwi-
keit, auch wenn dies hier oft behauptet wird.
schen Ökonomie und Ökologie gibt, sondern dass es ein
großes Ziel ist, die Bewahrung der Lebensgrundlagen, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat der Trittin
die Bewahrung der Schöpfung in unsere Vorstellung und gerade gezeigt in seiner Arroganz!)
Konzeption von Wachstum, Industrie und Wirtschaft zu
Ich erlaube mir, zu zitieren – ich glaube, das kann ich
integrieren. Damit erreichen wir in Deutschland ein gro-
ziemlich genau –, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt,
ßes Ziel und einen wichtigen Ausgleich.
dass wir – so gut wie wohl auch Sie – wissen, dass es in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dieser Frage ohne die Grünen keinen gesellschaftlichen
der FDP) Konsens geben wird. Stimmen Sie mir da zu?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12985
Sylvia Kotting-Uhl
(A) (Otto Fricke [FDP]: Also doch! – zum Ausstieg führen, nämlich dass wir im Hochtechno- (C)
Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: An- logieland Japan erneut die Erfahrung der Nichtperfek-
maßung!) tion des Menschen, der Nichtbeherrschbarkeit der Natur
und der Nichteingrenzbarkeit der Schäden gemacht ha-
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, ben.
Naturschutz und Reaktorsicherheit: (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
Genau so hatte ich Sie verstanden und wollte ich Sie
zitieren. In dieser Selbsteinschätzung stimme ich Ihnen Das ist eine Erfahrung, die die Menschheit gemacht
ausdrücklich nicht zu. Die Grünen entscheiden nicht da- hat. Daraus ziehen wir die ethische Konsequenz, dass es
rüber, ob es in Deutschland einen gesellschaftlichen geboten ist, die wirtschaftliche Nutzung dieser Techno-
Konsens gibt. Vielmehr ist der gesellschaftliche Konsens logie zu beenden. Schon allein deshalb, weil wir eine
da, bessere Alternative haben, ist die Beendigung richtig
und ethisch fundiert. In dieser Frage besteht ein ethi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scher Konsens.
und Sie müssen sich entscheiden, ob Sie Teil des gesell- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
schaftlichen Konsenses sind oder ob Sie außen vor blei-
ben. Wir haben daraus allerdings auch eine Konsequenz in
anderer Richtung gezogen – auch dies ist ein Unter-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schied zur Situation vor zehn Jahren –: Die rot-grüne
NEN]: Da sind wir doch längst! Sie kommen Ausstiegskonstruktion sah eine nicht befristete, eine
dazu! Sie sind jetzt wirklich zum Schwätzer zeitlich nicht bestimmte Übertragung von Strommengen
mutiert!) vor. Nach dem Gesetz von 2002, dem Ausstiegsgesetz
Das ist die Frage, die Ihnen Schmerzen bereitet. Darum von damals, wäre es ganz sicher nicht zur Beendigung
habe ich Verständnis für manche Rede, die Sie halten. der Nutzung der Kernenergie bis zum Jahre 2022 ge-
Für die Zerrissenheit bei Ihnen habe ich Verständnis, kommen. Vielmehr wäre die Kernenergie bis weit in die
über die mache ich mich auch nicht lustig, sondern die Mitte des nächsten Jahrzehnts genutzt worden.
nehme ich sehr ernst. Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, bietet
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch die vorgesehene zeitliche Staffelung die Chance,
NEN]: Sie machen sich gerade zum Hampel- Klarheit zu schaffen. Für die Gesellschaft, aber auch für
mann!) die Investoren wird Klarheit bestehen, wohin die Investi-
tionen jetzt fließen müssen, wenn man eine Rendite er-
(B) Für Sie stellt sich die Frage, ob Sie jetzt Gesetzentwür- zielen will. Das ist ein wesentlicher Vorzug dieses Ge- (D)
fen, die von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden setzentwurfes und eine wesentliche Veränderung im
sind und in denen der Ausstieg aus der Kernenergie und Vergleich zu der Gesetzeslage, die Sie hier beschlossen
der Einstieg in die erneuerbaren Energien zeitlich defi- haben. Nehmen Sie das zur Kenntnis.
niert werden, zustimmen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben den Kontakt mit der Realität Das ist auch nicht Hysterie und nicht Panik, sondern eine
verloren!) rationale, eine ethische Bewertung, die auch von der gro-
ßen Mehrheit der Gesellschaft so vorgenommen wird.
Die Gesetzentwürfe wurden von den Koalitionsfraktio-
nen und nicht von Ihnen eingebracht. Das ist der Punkt, (Rolf Hempelmann [SPD]: Das wurde auch
mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen. vorher schon so gesehen!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dass Gesetzgebung, Politik und Parlament dies aufneh-
NEN]: Das können wir auch nicht, weil wir men, ist positiv.
nicht die Scheiße gebaut haben im letzten
Jahr!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sich nicht so wichtig, Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage
sondern stellen auch Sie sich in den Dienst der Fortent- der Kollegin Hendricks?
wicklung der Gesellschaft! Das ist Ihre Aufgabe und
Verantwortung. Werden Sie Ihrer Verantwortung ge- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
recht, und verfolgen Sie nicht parteipolitische Interes- Naturschutz und Reaktorsicherheit:
sen!
Nein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Feigling! – Ge-
Wir haben viel erreicht. Sie müssen sich jetzt ent- genruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU]:
scheiden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben. Wir Na, na! Das ist aber gar nicht nett, Frau
haben eine ethische Haltung zur Kernenergie und zur Hendricks! – Weitere Gegenrufe von der
Bewertung des Risikos der Kernenergie erreicht. Die CDU/CSU: Oh! – Unverschämtheit! – Volker
Bundeskanzlerin hat das ausgeführt. Sie hat die ethi- Kauder [CDU/CSU]: Als ob man vor Ihnen
schen Aspekte genannt, die uns zu der Entscheidung Angst haben müsste, Frau Hendricks! Ha, ha,
12986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) ha! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ Energien. Jetzt wollen wir eine weitere Verdopplung (C)
CSU und der FDP) oder sogar eine Verdreifachung erreichen. Der Anteil der
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll sich
Ich möchte den zweiten Konsens, den wir erreicht ha- bis 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Die Grundversorgung
ben, darstellen. Die Energiefrage betraf in Deutschland mit Strom soll dann durch den Einsatz erneuerbarer
immer den Kern von Industrie. Darum ist die Frage einer Energien gewährleistet werden. Das kann man aber nicht
neuen Energiepolitik auch eine Frage der wirtschaft- mehr auf der Basis eines Subventionsgesetzes leisten.
lichen Modernisierung unseres Landes. Wir wollen näm- Daher muss sich der Charakter des Erneuerbare-Ener-
lich Industrieland bleiben, und wir werden Industrieland gien-Gesetzes verändern: von einem Subventionsgesetz
bleiben. zu einem Marktordnungsgesetz. Wir wollen diese Tech-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nologien in den Markt führen. Dort sollen und werden
Ja! Dank der Anti-AKW-Bewegung!) sie sich bewähren.
Wir wollen wirtschaftliches Wachstum, und wir werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
es erzielen. Durch die neue Energiepolitik wollen wir Auch dies ist ein Unterschied zu früher: Wir setzen
das wirtschaftliche Wachstum nicht begrenzen und die nicht auf planwirtschaftliche Steuerung, sondern auf
Industrie nicht einschränken. Vielmehr geht es um wirt- marktwirtschaftliche Instrumente und Ordnung. Wir
schaftliche Modernisierung und technologische Innova- glauben, beides miteinander verbinden zu können: eine
tion, die unserem Land guttun werden, auch bei der Ent- ökologische Ausrichtung in der sozialen Marktwirt-
wicklung der Industrie. schaft. Das ist jedenfalls unsere konkrete Vision. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) glaube, dies wird auch von der Bevölkerung gewollt.

Manche sagen: Ihr müsst investieren; das kostet doch Dritter Punkt. Was bedeutet das im Hinblick auf
Geld. – Ja, klar. Glauben wir denn, dass wir als führen- Wachstum? Es wird gesagt: Das ist ein Sonderweg; un-
des Industrieland in einem Billigwettbewerb bestehen sere Nachbarn sind irritiert. – Selbstverständlich be-
könnten? Glauben wir denn, dass wir unsere Technolo- obachten unsere Nachbarn, was in Deutschland passiert.
gieführerschaft und unsere wirtschaftliche Spitzenstel- Sie fragen sich: Ist das richtig? Muss uns das besorgen?
lung dadurch behalten, dass wir nicht in Infrastruktur, Inwiefern sind wir davon betroffen?
Energieerzeugung und Industrie investieren? Nein, diese Ich glaube, zum Konsens in unserer Gesellschaft ge-
neue Energiepolitik ist ein Investitionsprogramm, sie ist hört, dass wir Wachstum anders verstehen müssen. Zwei
ein Modernisierungsprogramm, und sie ist ein Innova- Missverständnisse, zwei historische Fehlverständnisse
tionsprogramm. Sie leistet einen Beitrag dazu, dass wir von Wachstum dürfen wir nicht beibehalten.
(B) ein führendes Industrieland bleiben werden. Darum ist (D)
die Frage „Kostet der Strom dann 0,3 Cent oder 0,8 Cent Das eine ist aus meiner Sicht der postmaterialistische
pro Kilowattstunde mehr?“ falsch. Irrtum, wir könnten und sollten auf Wachstum verzich-
ten, um die Natur zu schützen. Wir werden ohne Wachs-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tum keine erfolgreiche solidarische Gesellschaft sein
NEN]: Das hätten Sie doch schon letztes Jahr und bleiben. Darum gehört das Wachstumsbekenntnis in
sagen können, Mensch! Sie Schläfer!) diese Debatte. Wir sind eine Gesellschaft, die nur auf-
Die Kosten werden beherrschbar sein. Das sind Investi- rechtzuerhalten ist, wenn es Wachstum gibt.
tionskosten zum Nutzen unseres Landes. – Das ist der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Konsens, den wir erreicht haben. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zum anderen geht es darum, die Grenzen der Natur in
neten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE unsere Vorstellung und unsere Konzeption von Wachs-
LINKE]: Und was bedeutet das für den Ver- tum zu integrieren. Wachstum darf nicht mehr, wie es
braucher?) seit der Industriealisierung der Fall war, durch den Ver-
brauch und die Zerstörung von Natur, durch Ressourcen-
Wir müssen dafür eine weitere Veränderung vorneh-
verbrauch und CO2-Emissionen entstehen.
men, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz betrifft. Sei-
nen Ursprung hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz üb- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
rigens im Stromeinspeisungsgesetz, das 1991 in Kraft GRÜNEN]: Das müssen Sie uns sagen!)
getreten ist; bei diesem Thema sollte man also etwas
weiter in die Vergangenheit blicken. Das Stromeinspei- Die neue Vorstellung von Wachstum besteht darin, dass
sungsgesetz wie auch jetzt das Erneuerbare-Energien- wir die technologische Entwicklung, wie es sie beispiel-
Gesetz sind im Wesentlichen – bislang war das auch haft in der Energieversorgung gibt, in unsere Industrie-
richtig – ein Fördergesetz bzw. ein Subventionsgesetz, und Wachstumspolitik integrieren. Es ist nicht mehr der-
um Technologien, die noch nicht wettbewerbsfähig sind, jenige der Gewinner, der am meisten Ressourcen ver-
in den Markt zu bringen. braucht. Wir gewinnen den Wettbewerb um mehr Wohl-
stand und mehr Gerechtigkeit in unserer Zeit nur dann,
Wir haben es geschafft, den Anteil erneuerbarer Ener- wenn wir mit immer weniger Verbrauch von Natur und
gien an der gesamten Stromproduktion auf 17 Prozent Ressourcen immer mehr produzieren. Das ist unser Ziel.
im Jahr 2010 zu erhöhen. Im Laufe von gut zehn Jahren Darin besteht der Wettbewerb unserer Zeit, und wir wol-
kam es zu einer Vervielfachung des Anteils erneuerbarer len diesen Wettbewerb gewinnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12987
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schaft. Ich kann diese Worte nur unterstreichen; ich halte (C)
neten der FDP) das für richtig. Ich frage Sie aber: Warum haben Sie ei-
nen Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG vorgelegt,
Neu ist schließlich die Chance auf einen Konsens. mit dem exakt das Gegenteil bewirkt wird?
Wir brauchen diesen Konsens, weil es eine nationale
Pioniertat ist, für die wir alle brauchen: die Wissen- Wir hatten gestern im Umweltausschuss des Deut-
schaft, die Wirtschaft, die Mittelständler, die großen Un- schen Bundestages eine vierstündige Anhörung zur ge-
ternehmen, die Kommunen, die Länder, den Bund und planten Reform des EEG. Die Verbändevertreter haben
auch die Bürger, die mitmachen, die sich in Energiege- diesen Gesetzentwurf aufgrund vieler Details schlicht-
nossenschaften zusammenschließen und Energieerzeu- weg zerrissen und ihn als klare Bremse für den Ausbau
ger werden, die nicht nur passive Verbraucher sind, son- der erneuerbaren Energien bezeichnet.
dern über intelligente Systeme und Zähler selber
bestimmen können, wann sie welchen Strom verbrau- Der Bundesverband WindEnergie hat beispielsweise
chen. gesagt, dass es wegen der von Ihnen angekündigten Ver-
schlechterungen bei der Onshorewindvergütung schon
Ein Teil dieses Konsenses ist der Konsens über die si- jetzt eine Investitionszurückhaltung in den südlichen
chere dauerhafte Lagerung von hochradioaktiven Abfäl- Bundesländern gibt. Der Vorsitzende des Bundesverban-
len. Auch hier gibt es eine Veränderung hinsichtlich der des BioEnergie, Herr Lamp, ein ehemaliger CDU-Kol-
Wahrnehmung nationaler Verantwortung, und ich lege dieses Hohen Hauses, hat gesagt: Wenn das, was an
glaube, das sollten wir sehr positiv würdigen. Aber auch Vorstellungen zur Bioenergie in diesem Gesetzentwurf
an dieser Stelle muss Klarheit herrschen. Die Augen zu enthalten ist, Realität wird, werden wir die Bioenergie in
verschließen und nicht zu untersuchen, führt nicht zum wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Er hat De-
Ziel. Wir haben diese radioaktiven Abfälle. Es ist in un- tails genannt und kopfschüttelnd gefragt, warum die Ver-
serer Verantwortung, sie dauerhaft sicher zu lagern. Da- gütung für Bioöle völlig abgeschafft wird. Zu einem
rum ist es falsch, zu sagen: Wir machen ein Moratorium Zeitpunkt, wo wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf
und beschäftigen uns nicht mit dieser Frage. – Natürlich den Weg gebracht haben, kann das doch nicht der Weg
muss die Eignung des Standorts Gorleben unter Beteili- zu einem Ausbau der erneuerbaren Energien sein.
gung der Öffentlichkeit ergebnisoffen – ich betone und
unterstreiche das: ergebnisoffen – geprüft werden. Die Solarenergiebranche hat gesagt, sie verstehe die
Welt nicht mehr. Sie will große Investitionen beispiels-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE weise in Freiflächenanlagen tätigen, um mehr Netzstabi-
GRÜNEN]: Das ist alles falsch! Das wissen lität, Netzintegration und Speicherfähigkeit zu erreichen.
Sie doch!) Sie hat aber angesichts des Gesetzentwurfs, in dem die
(B) Ackerflächen nicht mehr berücksichtigt werden, keine (D)
Es müssen aber – über Gorleben hinaus – auch andere
Chance, in diese Bereiche zu investieren.
Optionen der Endlagerung, andere geologische Forma-
tionen untersucht werden. Auch das ist eine neue Ent- Das alles ist eine Folge der Rahmenbedingungen, die
wicklung hin zum Konsens in dieser Gesellschaft. Sie schaffen wollen. Die Deckelung des Anteils erneuer-
barer Energie auf 35 Prozent bis zum Jahr 2020 stellt
Ich sage darum heute auch an die Bevölkerung ge-
keinen beschleunigten Ausbau dar. Frau Merkel hat es in
richtet: Das ist eine veränderte Situation. Hier entsteht
ihrer Rede noch einmal betont: Sie wollen über die De-
ein gemeinschaftlicher Wille, und ich bin zutiefst davon
ckelung der EEG-Umlage auf 3,5 Cent eine Gesamt-
überzeugt, dass das zum Nutzen unseres Landes ist. Der
deckelung für den Ausbau erneuerbarer Energien errei-
Erfolg, den wir haben werden, wird über unser Land hi-
chen. Herr Fuchs hat hier mit ganz klaren Worten gesagt,
nausstrahlen, ein positiver Beitrag sein und ein Beispiel
die Solarenergie solle gedeckelt werden. Wie soll denn
dafür geben, dass es in einem Hochtechnologieland, im
ein Ausbau erneuerbarer Energie noch möglich sein,
Industrieland Deutschland möglich ist, die Bewahrung
wenn Sie im Detail solche Hemmnisse einbauen?
der Lebensgrundlage und der Schöpfung mit einer klaren
Wachstums- und Industriepolitik zu verbinden. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
eine große Chance. Wir sollten sie gemeinschaftlich er- der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
greifen.
Es wird keinen Ausbau geben, wenn erfolgen wird, was
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen.
Ich fordere Sie daher auf: Ziehen Sie diesen Gesetz-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: entwurf zurück, und treten Sie in Verhandlungen mit der
Das Wort zu zwei Kurzinterventionen erteile ich zu- Branche ein! So haben wir eine Chance, den Ausbau der
nächst Hans-Josef Fell und dann Bärbel Höhn. erneuerbaren Energien, der gesamtgesellschaftlich ge-
wünscht wird, auch wirklich voranzutreiben.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Minister Röttgen, Sie haben gerade gesagt, die
erfolgreiche Entwicklung der erneuerbaren Energien
müssten wir gemeinsam weiterführen. Sinngemäß haben Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie gesagt, es gebe dafür in der Bevölkerung eine große Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Die
Akzeptanz und auch Innovations- und Investitionsbereit- drei Minuten für die Kurzintervention sind abgelaufen.
12988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
NEN]: Ich bin am Schluss!) NEN]: Sie hätten gestern mal zur Anhörung
kommen sollen!)
– Dann hat jetzt Kollegin Bärbel Höhn das Wort und an-
schließend Barbara Hendricks, die sich ebenfalls zu ei- – Ich rede von dem Gesetzentwurf, den Sie kritisiert ha-
ner Kurzintervention gemeldet hat. Danach gibt es keine ben, und zwar im Tonfall der Empörung. Ich frage mich
weiteren Kurzinterventionen zu dieser Rede. immer, was die wahren Gründe dafür sind.
Sie haben gesagt, es gebe beim Ausbau der erneuer-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): baren Energien eine Deckelung auf 35 Prozent. Das ist
Herr Präsident, ich brauche keine Redezeit von drei Unsinn; das steht nicht im Gesetzentwurf, das schlagen
Minuten. – Herr Minister Röttgen, Sie haben eben darauf wir nicht vor. An dieser Stelle können Sie Ihre Empö-
hingewiesen, dass es jetzt an der Zeit ist, miteinander zu rung ein Stück zurückschrauben. Es gibt keine 35-Pro-
verhandeln, und dass Sie einen gesellschaftlichen Kon- zent-Deckelung, sondern diese 35 Prozent sind eine
sens wollen. Wir wollen mit Ihnen verhandeln. Ich Mindestgröße. Wir glauben, dass wir vielleicht sogar
möchte darum bitten – dazu werde ich Ihr Büro anrufen –, noch mehr erreichen können. Aber unsere Aufgabe ist
dass wir einen Termin vereinbaren. In diesem Zusam- es, innerhalb von neun Jahren mehr als eine Verdoppe-
menhang möchte ich gerne wissen: Wer hat Prokura? lung des bisherigen Anteils auf mindestens 35 Prozent
Sollen wir mit Herrn Kauder, mit Ihnen oder mit der zu erreichen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel. Wenn wir
Kanzlerin reden? von 40 Prozent gesprochen hätten, hätten Sie wahr-
Wir haben eben gefragt, ob es in Gorleben einen Bau- scheinlich erklärt, 40 Prozent seien zu wenig, es müssten
stopp gibt. Wir sind der Meinung, dass es keine ergebnis- mindestens 45 Prozent sein. Insofern müssen Sie sich
offene Suche geben kann, wenn Sie Fakten schaffen. Wir selber einmal fragen, ob Sie noch realistische Ziele ver-
wollen auch gerne wissen, was Sie zur Sicherheit sagen. folgen und realistische Oppositionspolitik machen. Es ist
Vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, Sie seien der ein Mindestziel, keine Deckelung.
Minister für Sicherheit. Nach Fukushima sehen wir aber Genauso gibt es bei der EEG-Umlage keine Decke-
keinerlei zusätzliche Sicherheitsanstrengungen bei den lung auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Allerdings wollen
Atomkraftwerken. Ich werde also mit einem Termin- wir das EEG so ausgestalten, dass wir diese Größenord-
wunsch auf Sie zukommen. Ich erwarte, dass wir einen nung halten und langfristig absenken können; denn diese
Termin vereinbaren und dass wir Grüne mit Ihnen über bezahlen die Verbraucher. Es klingt schön, wenn in den
die uns wichtigen Punkte des Gesetzentwurfs reden. Reden immer mehr gefordert wird, aber diese Rechnung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird ohne den Wirt gemacht. Der Wirt ist der ganz nor-
(B) male Bürger und die ganz normale Bürgerin in Deutsch- (D)
land.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat Barbara Hendricks das Wort zu einer letzten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kurzintervention. neten der FDP)
Damit bin ich bei Ihrer Anhörung. Ich rede mit den
Dr. Barbara Hendricks (SPD): Verbänden und respektiere sie, weil sie die Vertreter der
Herr Minister, Sie haben durchaus versucht, Ihre in- Interessen von Unternehmen sind. Sie sind keine Träger
haltliche Neupositionierung argumentativ zu überhöhen. von Allgemeinwohlbelangen, sondern sie sind Vertreter
In dem Zusammenhang haben Sie zum Beispiel gesagt, wirtschaftlicher Interessen,
es sei eine neue ethische Erkenntnis, dass der Mensch
nicht unfehlbar und die Technik deswegen nicht immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
beherrschbar sei. Ich habe einmal nachgeschaut und he- neten der FDP)
rausgefunden, dass Sie derselben christlichen Kirche an- die sich dafür einsetzen, dass die Subventionen für ihre
gehören wie ich. Ich kann mir schlechterdings nicht vor- Unternehmen möglichst hoch sind, um das einmal klar
stellen, dass es für einen Christen eine neue ethische zu sagen. Sie sollten zu diesen Vertretern wirtschaftli-
Erkenntnis ist, dass der Mensch nicht unfehlbar sei und cher Interessen die gleiche Distanz haben, die Sie zu an-
dass die vom Menschen erschaffene Technik nicht im- deren Vertretern wirtschaftlicher Interessen haben, nicht
mer beherrschbar sei. weil sie etwas Illegitimes tun, sondern weil sie legitim
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihre ureigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen,
DIE GRÜNEN) und je höher die Subventionen sind, desto erfolgreicher
war der Verband. Auf diese Verbände haben Sie sich ge-
rade bezogen. Ein bisschen Distanz zu ihnen ist schon
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: angemessen.
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Ich kenne das. Subventionen zu senken, ist schmerz-
Naturschutz und Reaktorsicherheit: haft. Stellen Sie sich ein Gesetz mit garantierten Subven-
Herr Kollege Fell, es ist ja der erste Versuch, gemein- tionen vor, die immer höher werden sollen, und in die-
sam zu einem Ergebnis zu kommen. Sie stellen aber Be- sem Gesetz soll festgeschrieben werden, dass die
hauptungen auf, die sachlich falsch sind. Kilowattstunde bezahlt wird, unabhängig davon, ob die-
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Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) sen Strom irgendein Mensch braucht. So kann es nicht nalen Sache stellen. Das wäre doch einmal ein Ansatz, (C)
bleiben. Wir müssen diese Subventionsabhängigkeit zu an ein solches Thema heranzugehen.
einer Marktintegration dieser Branchen umlenken. Auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
diese Branchen müssen sich daran orientieren, ob man
neten der FDP)
das Produkt, das sie herstellen, braucht.
Frau Hendricks, es ging doch nicht um die neue an-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- thropologische Erkenntnis der Beherrschbarkeit bzw.
neten der FDP) Nichtbeherrschbarkeit der Natur und der Begrenztheit
Ansonsten werden wir das nicht schaffen. Das ist doch auch des Menschen. Ich habe die Positionierung des da-
kein böser Wille. Wie soll denn eine Versorgung von maligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
50 oder 80 Prozent mit erneuerbaren Energien gelingen, Kardinal Höffner, aus dem Jahr 1980 nachverfolgt. Er
wenn Strom unabhängig davon produziert wird, ob ihn hat aus dem Spannungsfeld zwischen einerseits dem mi-
irgendein Mensch braucht? Wir müssen auch in diesen nimalen bzw. klitzekleinen Risiko der Eintrittswahr-
Bereich ein bisschen Nachfrageorientierung und Markt scheinlichkeit und andererseits der Nichtbegrenzbarkeit
hineinbringen, sonst werden wir scheitern. Mit gutem der Schäden heraus für sich damals die Position bezo-
Willen allein kann man keine Energieversorgung errei- gen: Weil die Schäden so immens und nicht begrenzbar
chen, Herr Kollege. sind und weil sie sich über Generationen fortsetzen, ver-
lange ich absolute Sicherheit. Die gibt es – naturwissen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaftlich und anthropologisch – nicht. Darum gab es
vor 30 Jahren die ethische Positionierung von Kardinal
Das war das, worauf ich kurz hinweisen wollte. Wenn Höffner und übrigens – auch damals schon – der Deut-
man all das einmal nüchtern und sachlich betrachtet, schen Bischofskonferenz gegen die wirtschaftliche Nut-
dann stellt man fest, was da an positiven Veränderungen zung der Kernenergie. Aber Kardinal Höffner hat nie-
stattfindet. Ich wollte die Erfahrungen, die wir gemacht mals gesagt: Das kann man gar nicht anders sehen.
haben, gerne noch mitteilen. Ihre Reden habe ich persön- Vielmehr geht es darum, wie eine Gesellschaft mit Risi-
lich nicht alle nachgelesen. Ich habe vorher nicht histo- ken umgeht, welche sie bereit ist hinzunehmen und in
risch recherchiert, sondern habe heute in meiner Rede Bezug auf welche sie sich zutraut, zu sagen: Das können
nach vorne gesehen. Aber vielleicht lesen Sie einmal wir beherrschen. Weil wir alles tun, sind wir in der Lage,
Ihre Reden nach, als es um die erste Reduzierung der mit dieser Technologie umzugehen. – Das ist übrigens
Photovoltaikvergütung ging, die wir eingebracht und be- eine der Grundfragen moderner Gesellschaften bzw. Ri-
schlossen haben. Sie haben damals den Tod der Branche sikogesellschaften. Dabei geht es um eine der ernstesten
vorausgesagt. Sie sagten, ich sei der Totengräber, die Re- Diskussionen unserer Zeit. Darum sind Sie, glaube ich,
(B) duzierung sei so falsch, wie sie nicht falscher sein könne, etwas oberflächlich mit dieser Frage umgegangen, Frau (D)
und auch die Branche sei dagegen. Was haben wir er- Kollegin.
lebt? Ein munteres und lebendiges Wachstum dieser
Branche, sodass wir im zweiten Anlauf eine nochmalige Ich glaube, dass die Frage der ethischen Verantwor-
Senkung der Vergütung vorgenommen haben, und zwar tung in der Risikogesellschaft eine der Grundfragen auch
im Konsens mit der Branche. Diese Branche hat gelernt, zukünftiger technologischer Entwicklung sein wird. Üb-
dass es auf Dauer auch für sie keine Perspektive ist, nur rigens sind auch die erneuerbaren Energien nicht nur
mit immer höheren Subventionen zu wirtschaften. Sie gut; auch sie führen zu Eingriffen und Belastungen, auch
hat gelernt, alleine erfolgreich zu sein. Ich empfehle die- da gibt es Konflikte. Das wird eine uns immer beglei-
ses Lernbeispiel auch allen anderen. tende Frage sein, nämlich die ganz konkrete Bestim-
mung des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diese ganz konkrete Bestimmung haben wir hier an ei-
neten der FDP) ner Stelle vorgenommen. Ich glaube, dass sie richtig ist
und auch in der Gesellschaft mit vollzogen wird.
Frau Höhn, wir können gerne einen Termin vereinba-
ren. Herr Brüderle hat sich schon gemeldet; er möchte Danke sehr.
zum Gespräch hinzukommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Thomas Oppermann [SPD]: Hat er Prokura? –
Rainer Brüderle [FDP]: Mein Nachfolger!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort in der Debatte hat nun Rolf Hempelmann
– Gut, wer auch immer. – Es geht aber nicht darum, dass für die SPD-Fraktion.
wir jetzt verhandeln. Wir befinden uns in einer parla-
mentarischen Beratung. Es hat eine Anhörung statt- (Beifall bei der SPD)
gefunden. Es gibt selbstverständlich die Offenheit, auf
vernünftige Anregungen einzugehen, miteinander zu Rolf Hempelmann (SPD):
diskutieren, um zu einem gemeinschaftlich guten Ergeb- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
nis zu kommen. Wir sind aber doch keine Verhandlungs- In der Debatte, die jetzt für einige Zeit unterbrochen war,
parteien, die sich gegenüberstehen. Vielleicht versuchen haben Sie – da muss man, glaube ich, den Rednern der
Sie einmal, sich dem Gedanken zu öffnen, dass es hier Regierungskoalition ein Kompliment machen – ein un-
darum geht, ein nationales Werk zu schaffen, von dem glaubliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Wenn man
alle profitieren. Wir sollten uns in den Dienst der natio- bedenkt, dass Sie heute, zum Beispiel Herr Röttgen, den
12990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Rolf Hempelmann
(A) Atomausstieg teilweise mit den gleichen Worten begrün- nur lernen, wie man aussteigt, sondern auch umsteigt, (C)
det haben wie vor einem halben Jahr die Laufzeitverlän- dann sagen wir Ihnen: Wir waren schon lange auf dem
gerung – also das komplette Gegenteil –, kann man nur Weg und hätten schon sehr viel weiter sein können. Sie
sagen: bewundernswert, ganz toll. Nachdem Sie den haben das auch schon in Zeiten unserer schwarz-roten
Karren sozusagen vor die Wand gefahren haben, bege- Koalition blockiert.
hen Sie außerdem Fahrerflucht und zeigen auf alle ande-
ren, die es gewesen sein sollen. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, wie Sie bei-
spielsweise beim Netzausbau neue Technologien blo-
Sie sind diejenigen, die meinen, uns jetzt daran erinnern ckiert und beim Speicherausbau notwendige Anreize
zu müssen, dass zum Ausstieg aus der Kernenergie auch verhindert haben oder wie Sie – das haben Sie heute als
der Einstieg in etwas Neues gehört. Meine Damen und besondere Errungenschaft propagiert – in der letzten
Herren, das ist Chuzpe. Legislaturperiode verhindert haben, dass wir mit der Sys-
temintegration der erneuerbaren Energien vorankom-
Ich will Sie daran erinnern, dass wir es mit unserer
men. Dazu hatten wir schon Vorschläge vorgelegt. Jetzt
Gesetzgebung waren, die dafür gesorgt haben, dass aus
bewegen Sie sich. Aber die Marktprämie greift zu kurz;
5 Prozent erneuerbare Energien im Strombereich
das hat die Anhörung gestern gezeigt. Wir brauchen an-
17 Prozent geworden sind.
dere Instrumente. Ich hoffe, dass wir mit Ihnen gemein-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sam zu Lösungen kommen.
DIE GRÜNEN)
Heute war viel von Konsens die Rede. Bei den meis-
Das ist nicht von allein geschehen. Wir haben mit dem ten Rednern hat aber der Stil der Rede nicht wirklich in
Atomausstieg und durch das Erneuerbare-Energien-Ge- Richtung Konsens gezeigt. Ich will eines klarstellen:
setz die Rahmenbedingungen gesetzt, die diese Investi- Eben wurde gesagt, die Opposition sei im Jahr 2000
tionen überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir wa- nicht eingeladen gewesen, sich an einem Energiekonsens
ren es, die das, was Sie jetzt als Forderungsliste zu beteiligen. Die Opposition hat sich damals Gesprä-
aufgestellt haben, schon längst begonnen hatten. Ihre chen verweigert. Sie war nicht an einem Konsens inte-
Forderungsliste – damit spreche ich beispielsweise Frau ressiert, der auf dem Atomausstieg aufbaut.
Hasselfeldt an – ist im Grunde genommen Ihre Blocka-
deliste. Ich kann das im Einzelnen aufführen. (Beifall bei der SPD)

Sie sagen, Sie sorgen jetzt dafür, dass endlich auch in Jetzt haben wir eine völlig andere Situation. Für eine
Effizienz investiert wird. Sie haben Fortschritte bei der Regierung ist es leicht, der Opposition Konsensgesprä-
(B)
effizientesten Form der Energieumwandlung, der Kraft- che anzubieten. Aber die Lage hat sich doch völlig um- (D)
Wärme-Kopplung, verhindert. gekehrt. Erstens sind wir, die Opposition, zuerst auf Sie
zugegangen und haben Ihnen angeboten, Konsensge-
(Beifall bei der SPD) spräche zu führen. Zweitens sind Sie doch darauf ange-
wiesen, mit uns zusammenzukommen. Denn – es ist
Sie haben in Ihrer jüngsten Regierungszeit die Kraft-
richtig, was hier gesagt worden ist, aber man darf es
Wärme-Kopplung sogar noch mit zusätzlichen Auflagen
nicht auf eine Fraktion beschränken – es ist wichtig, dass
erschwert.
wir als Politiker in dieser Frage mit einer Stimme spre-
Sie haben auf der Nachfrageseite, also da, wo Ener- chen. Ohne einen politischen Konsens wird ein gesell-
gieeffizienz sozusagen beim Kunden beginnen soll, schaftlicher Konsens unglaublich schwierig.
schon in der schwarz-roten Koalition alle unsere Ansätze
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
blockiert, die – das propagieren Sie heute – etwa über ei-
der LINKEN und des Abg. Jürgen Trittin
nen Energieeffizienzfonds Haushalte beim effizienteren
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Umgang mit Energie unterstützt hätten.
Dabei geht es nicht nur um die Ausstiegsfrage und das
Sie haben die Industrie in den letzten anderthalb Jah-
Tempo des Ausstiegs, sondern auch um die Frage, wie
ren nicht etwa unterstützt, wie Sie das heute gefordert
wir Versorgungssicherheit schaffen wollen. Wie halten
haben, sondern ihr zusätzliche Kosten auferlegt. Sie ha-
wir es beispielsweise mit dem konventionellen Kraft-
ben für die Industrie die Ökosteuer erhöht, wenn auch
werkspark? Wie wollen wir es mit der Industrie halten?
nicht in dem Umfang, wie es die Regierung zunächst
Was sind wir bereit für sie zu tun?
vorgeschlagen hatte. Jetzt tun Sie so, als seien Sie der
Erfinder einer industriefreundlichen Politik, in der Er- Frank-Walter Steinmeier hat heute einiges zu diesem
kenntnis, dass wir nur durch das Vorhandensein einer Thema gesagt, und ich glaube, es ist ein zentrales
vernetzten Industrie besser aus der Krise herausgekom- Thema. Wenn wir die Wertschöpfungskette in Deutsch-
men sind als viele andere. land verlieren, dann verlieren wir die Basis für unsere
Sie haben, um beim Thema Energieeffizienz zu blei- Volkswirtschaft, und dann können wir uns alle hehren
ben, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm Ziele auch im sonstigen energiepolitischen Bereich in
die Haare schmieren. Deswegen müssen wir sehr genau
zusammengestrichen.
darauf achten, was wir für die energieintensiven Unter-
Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in Sachen Ener- nehmen tun können. Dazu liegen Vorschläge vor, einige
giewende Nachhilfeunterricht nötig und müssten nicht davon seit langem. Bisher ist aber nichts passiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12991
Rolf Hempelmann
(A) Nehmen wir das Thema „abschaltbare Lasten“. Viele diesen Tagen, nicht nur bei diesem Thema. Sie leben in (C)
dieser Unternehmen können abgeschaltet werden. Das der Vergangenheit. Kommen Sie mit! Machen Sie mit
ist ein hoher Wert, gerade wenn volatile Einspeisung zu- bei der Gestaltung der Zukunft!
nimmt und wenn der Netzausbau noch nicht vollendet
(Rolf Hempelmann [SPD]: Haben Sie über-
ist. Das muss ausreichend honoriert werden. Die Kom-
haupt unser Energieprogramm gelesen?)
pensation der CO2-Lasten ist genannt worden. Ich sage
noch ein Weiteres: Diese Unternehmen sind Grundlast- Wie schrieb doch die Stuttgarter Zeitung dieser Tage
stromabnehmer. Sie bekommen ihren Strom aus Grund- so schön in einem Kommentar? Während Rot-Grün sich
lastkraftwerken, bezahlen aber nach der Merit Order aus der Kernenergie herausschleichen wollte, legt diese
praktisch einen Gas-Strompreis. Das ist nicht in Ord- Bundesregierung ein klares Konzept zum Umstieg vor.
nung. Das muss man angehen, und auch dazu liegen Vor-
schläge auf dem Tisch. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf
Hempelmann [SPD]: Dann müssen Sie aber
Ich bitte Sie herzlich, mit diesen Vorschlägen kon- auch sagen, dass das in der Glosse gestanden
struktiv umzugehen. Wir brauchen Lösungen. Wir sind hat!)
daran interessiert, mit Ihnen gemeinsam Lösungen zu
finden, die über Wahldaten hinaus halten. Das muss un- Dem ist nichts hinzuzufügen; denn im Gegensatz zu Ih-
ser gemeinsames Ziel sein, allein schon deshalb, weil Sie rer früheren Politik belassen wir es nicht bei einem Aus-
nur so die Akzeptanz für Infrastrukturinvestitionen in stiegsbeschluss, sondern wir legen feste Ausstiegsdaten
diesem Land bekommen. Wenn wir das nicht schaffen fest, wir beschäftigen uns mit allen Fragen rund um den
und am Ende weiter über Energiepolitik streiten, dann Ausstieg aus der Kernenergie, wir beschäftigen uns mit
wird sich der Streit in der Bevölkerung fortsetzen, und dem Ausbau aller erneuerbaren Energien, und wir be-
dann werden Sie niemanden überzeugen können, vor Ort schäftigen uns auch mit Endlagerfragen, Netzausbau und
Investitionen zuzulassen, die er eigentlich nicht haben Speicherkapazitäten.
möchte. Also: Bitte keine Worthülsen, sondern ehrliches An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich für die um-
Bemühen um einen parteiübergreifenden Konsens! Neh- fassende, auch ethisch unterfütterte Position der Ethik-
men Sie die Angebote zu Gesprächen an! Ob Sie diese Kommission danken. Auf der Tribüne sitzt Herr Profes-
Gespräche dann Verhandlungen oder Beratungen nen- sor Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsge-
nen, ist egal; aber sorgen Sie dafür, dass es möglich ist, meinschaft. Ich möchte den Dank an Sie stellvertretend
ausreichend und intensiv genug über einen möglichen für die Ethik-Kommission weitergeben. Herzlichen
Konsens zu reden. Dann wird man am Ende vielleicht an Dank!
der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken. Das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(B) wird wahrscheinlich jeder müssen. Aber Sie sind es, die (D)
ein vernünftiges Angebot machen müssen. FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Vielen Dank.
Lassen Sie mich als Haushälter etwas zu den haushal-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terischen Auswirkungen unserer Konzeption sagen;
DIE GRÜNEN) denn das ist meine Aufgabe. Der beschleunigte Umstieg
in die erneuerbaren Energien wird nicht spurlos an Haus-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: halt und Verbrauchern vorübergehen. Darauf wurde
Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSU- schon hingewiesen. Es ist für mich eine Selbstverständ-
Fraktion. lichkeit, dass auch der Haushalt davon betroffen ist;
denn es handelt sich um eine grundsätzliche gesell-
(Beifall bei der CDU/CSU) schaftspolitische Entscheidung von großer Tragweite,
sowohl in technischer als auch in volkswirtschaftlicher
Norbert Barthle (CDU/CSU): und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Diese Herausfor-
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten derung ist nicht nur für uns auf nationaler Ebene von
Damen und Herren! Wenn es auf dieser Seite des Hauses weitreichender Bedeutung; wir werden auch internatio-
auch nur annähernd so viel Sinn für Klamauk und thea- nal sehr aufmerksam beobachtet. Ich finde es schon be-
tralische Auftritte gäbe wie auf jener Seite des Hauses, merkenswert, dass wir uns an die Spitze der Bewegung
hätte ich eigentlich barfuß ans Rednerpult treten müssen; in diesem Bereich setzen. Wir werden sicherlich noch
denn nach der Rede von Herrn Steinmeier hat es mir große Erfahrungen sammeln können, wie international
nicht nur die Schuhe, sondern auch die Socken ausgezo- darauf reagiert wird.
gen.
Was heißt das aber für den Bundeshaushalt? Für die
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahre 2011 bis 2015 rechnen wir mit ansteigenden Belas-
DIE GRÜNEN) tungen von 0,2 Milliarden Euro bis 2 Milliarden Euro
jährlich. Diese Belastungen resultieren aus folgenden
Ich will auch gerne sagen, warum. Wer mit so viel fal-
Maßnahmen:
schem Pathos und Unaufrichtigkeit seine vergangene,
übrigens inzwischen abgewählte, Politik im Nachhinein Erstens, die steuerliche Förderung von Maßnahmen
zu verklären versucht, der lebt nicht im Hier und Heute der energetischen Gebäudesanierung ab 2013. Das wird
und im Morgen, sondern in der Vergangenheit. Das ist, uns nach dem Finanztableau des Gesetzentwurfs im Ent-
glaube ich, das Grundproblem der Sozialdemokraten in stehungsjahr zunächst einmal mit etwa 100 Millionen
12992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Norbert Barthle
(A) Euro belasten. In den Folgejahren steigt diese Belastung den diese Einnahmen nämlich in diesen Fonds fließen; (C)
kontinuierlich auf circa 1,5 Milliarden Euro in der vollen bisher war vorgesehen, dass dem Bundeshaushalt 2012
Jahreswirkung an. knapp 850 Millionen Euro und ab 2013 jährlich gut
900 Millionen Euro zugute kommen. Damit werden die
Zweitens. Wir haben Mindereinnahmen bei der Kern- Einnahmen dieses Fonds gefestigt. Sie werden in den
brennstoffsteuer. Es ist vollkommen klar, dass dadurch, kommenden Jahren auf einen jährlichen Betrag von über
dass die sieben älteren Kernkraftwerke plus Krümmel 3 Milliarden Euro ansteigen. Damit ist dieser Fonds mit
nicht mehr ans Netz gehen, entsprechend weniger Ein- Sicherheit gut ausgestattet.
nahmen aus dieser Steuer fließen. Wir rechnen damit,
dass uns an dieser Stelle etwa 1 Milliarde Euro fehlen Drittens. Gleichzeitig werden in diesem Fonds die
wird. Ich will hier nur anmerken, dass die Grünen darauf Ausgaben für Elektromobilität gebündelt. Damit wird
immer mit großem Beifall reagieren, obwohl sie ansons- dieser Bereich übersichtlicher, transparenter gestaltet.
ten stets für Steuererhöhungen sind. Ich bin froh, dass Bisher sind die Ausgaben über die Ministerien Verkehr,
die Kernbrennstoffsteuer erhalten bleibt. Dafür zu sor- Wirtschaft, Umwelt und Forschung verteilt. Das bedeu-
gen, das war, sehr geehrter Herr Kauch, auch unser Be- tet aus meiner Sicht einerseits eine Entlastung des Haus-
mühen; ich kann das zumindest für mich persönlich sa- halts, andererseits mehr Transparenz.
gen.
Viertens. Außerdem statten wir das CO2-Gebäudesa-
Was kommt hinzu? Risiken sind sicherlich damit ver- nierungsprogramm künftig besser aus. Seine Mittel wer-
bunden, dass die Energieversorgungsunternehmen ange- den von derzeit gut 900 Millionen Euro auf über
kündigt haben, gegen das Erheben der Kernbrennstoff- 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Das wird entsprechend
steuer zu klagen. Unbestritten ist es das Recht jedes gegenfinanziert.
Steuerpflichtigen, sich gegen Besteuerung zu wehren. Es
erschließt sich mir aber nicht, wie sich aus der Gesetzesbe- Fünftens. Darüber hinaus erfolgt aus diesem Fonds
gründung ein Grund zur Klage gegen das Erheben dieser ein Ausgleich emissionshandelsbedingter Strompreiser-
Steuer ableiten lässt. Einen rechtlichen Zusammenhang höhungen für stromintensive Unternehmen in Höhe von
zwischen der Laufzeitverlängerung und der Einführung jährlich bis zu 500 Millionen Euro. Warum machen wir
der Kernbrennstoffsteuer gab es nicht und gibt es nämlich das, meine Damen und Herren? – Wir sind der Auffas-
nicht; darauf hat der Kollege Kauch schon hingewiesen. sung, dass wir, wenn die Europäische Kommission dem
Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass zustimmt, etwas dafür tun müssen, dass Arbeitsplätze in
die Steuereinnahmen zur Haushaltskonsolidierung ver- diesem Bereich in Deutschland erhalten bleiben. Es geht
wendet werden und als Beteiligung an der Deckung der um den Arbeitsplatzstandort Deutschland. Wir dürfen
Kosten der Asse zu verstehen sind. Nebenbei bemerkt: Im Arbeitsplätze nicht gefährden.
(B) (D)
Hinterkopf hatte man immer den Gedanken, dass die (Beifall bei der CDU/CSU)
Kernkraftbetreiber durch die Strompreissteigerung nach
der Einführung des CO2-Emissionshandels nicht belastet Schließlich gibt es noch eine Kreditermächtigung für
werden, sondern von ihr profitieren. Es geht um den Ef- den Fonds, die aber nicht dauerhaft sein soll, sondern nur
fekt der sogenannten Windfall Profits, der sich aus der in Ausnahmefällen greifen soll. Wir müssen noch genau
Nichtbeteiligung am Emissionshandel und gleichzeitig darüber reden, wie wir dies ausgestalten.
steigenden Strompreisen ergibt; diesen Effekt gibt es (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)
auch in Zukunft.
Aber da werden wir uns, glaube ich, schnell einig.
Eine weitere Belastung für den Bundeshaushalt resul-
tiert aus der kompletten Umschichtung der Einnahmen Wenn ich zusammenfasse, komme ich zu dem Ergeb-
aus der Versteigerung der CO2-Zertifikate vom Haushalt nis, dass wir angesichts der Größenordnung des Vorha-
in den neu zu schaffenden Energie- und Klimafonds. Ich bens überschaubare Belastungen haben. Allerdings darf
will kurz darstellen, wie dieser Fonds ausgerichtet sein daraus nicht der Schluss gezogen werden, es bestünden
wird – da gibt es einige Änderungen –: noch Spielräume für neue Wünsche. Denn eines muss
man immer wieder festhalten: Zentrales Ziel der Koali-
Erstens. Eingerichtet ist er, um zusätzliche Ausgaben tion von CDU/CSU und FDP ist die Konsolidierung des
zur Förderung einer umweltschonenden, zuverlässigen Haushalts. Das steht über allen politischen Vorhaben in
und bezahlbaren Energieversorgung zu ermöglichen. Es der gesamten Legislaturperiode. Das ist schon allein des-
handelt sich um ein Sondervermögen. Zunächst einmal halb so, weil wir besser mit Geld umgehen können als
ist anzumerken, dass die freiwilligen Zahlungen der alle anderen Fraktionen in diesem Haus. Das wird auch
EVUs in diesen Fonds wegfallen. Bisher sind mehr als so bleiben.
70 Millionen Euro eingezahlt worden. In den folgenden
Jahren werden 1,4 Milliarden Euro fehlen. Wir sehen, Herzlichen Dank.
dass wir zumindest 2011 einen Ausgleich aus dem Haus-
halt in diesen Fonds in der Größenordnung von etwa bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu 225 Millionen Euro leisten müssen. Ich sage bewusst
„bis zu“; denn die Höhe dieses Ausgleichs hängt von den Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ausgaben dieses Fonds ab. Ich schließe die Aussprache.
Zweitens. Die Einnahmen aus der Versteigerung der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Emissionszertifikate fallen dauerhaft weg. Ab 2012 wer- den Drucksachen 17/6070 bis 17/6077, 17/5931, 17/6092,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12993
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) 17/6084, 17/6119 und 17/6109 an die in der Tagesord- Das gilt auch für die vielen gesellschaftlichen Gruppen (C)
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie und Initiativen im Land. Immer mehr Menschen in ganz
damit einverstanden? – Da ich keinen Widerspruch höre, Europa wollen eine derartige Steuer und werden zu
ist das offensichtlich der Fall. Dann sind die Überwei- Recht immer unruhiger, weil es auf der Ebene der Regie-
sungen so beschlossen. rungen nicht weitergeht.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Es stimmt, dass Frau Merkel und Herr Schäuble im-
mer wieder die Einführung einer Finanztransaktion-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten steuer einfordern, genauso auch Herr Sarkozy und Frau
Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing- Lagarde. Aber außer dass hin und wieder Briefe ge-
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der schrieben wurden, hat sich in der Sache in den letzten
Fraktion der SPD zwölf Monaten nichts bewegt. Dabei bringt es auch nie-
Finanztransaktionsteuer in Europa einfüh- manden mehr weiter, auf die bösen internationalen Part-
ren – Gesetzesinitiative jetzt vorlegen nerstaaten zu verweisen, die partout nicht mitmachen
wollen. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn
– Drucksache 17/6086 – alle relevanten Finanzzentren der Welt bei einer Finanz-
Überweisungsvorschlag: transaktionsteuer mitmachen würden. Aber darf man
Finanzausschuss (f) sich hinter einer solchen Bedingung verstecken? Dann
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie passiert und bewegt sich nämlich gar nichts, liebe Kolle-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ginnen und Kollegen.
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sehr
Haushaltsausschuss wahr!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der fünf
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich größten EU-Länder will die Einführung einer Finanz-
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. transaktionsteuer.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD) GRÜNEN)
Herr Schäuble, Frau Merkel, das sollte doch für Sie eine
Joachim Poß (SPD): ausreichende Basis sein, sich gegen die Ideologen und
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Finanzlobbyisten in Ihren eigenen Reihen und in der (D)
Antrag zur Finanztransaktionsteuer, den wir hier heute FDP durchzusetzen. Dieser Rückhalt müsste auch groß
im Deutschen Bundestag debattieren, ist eine besondere genug sein, um es wagen zu können, sich mit der Fi-
parlamentarische Initiative. Zeitgleich wird der gleiche nanzindustrie anzulegen. Seien Sie endlich so mutig, ein
Antrag in der französischen Assemblée nationale bera- Gesetz vorzulegen, durch das eine Finanztransaktion-
ten. Es handelt sich also – das passiert ja nicht jeden Tag steuer in einem ersten Schritt schon einmal in Deutsch-
oder jede Woche hier im deutschen Parlament – um eine land, Frankreich und anderen dazu bereiten Staaten ein-
grenzüberschreitende, deutsch-französische Parlamenta- geführt wird. Das würde eine Entwicklung in Gang
rierinitiative in einer äußerst wichtigen Frage. setzen, die nicht mehr zu stoppen wäre.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Diese Initiative ist es wert, dass sie in beiden Parlamen- GRÜNEN)
ten breite Unterstützung findet. Ich bitte daher die Kolle- Wenn meine Informationen stimmen, denken auch die
ginnen und Kollegen aller Fraktionen um eine breite Un- französischen Konservativen in eine ähnliche Richtung.
terstützung dieser Initiative, Nur, es muss gehandelt werden. Oder ist diese Koalition
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) auch in dieser Frage wie üblich handlungsunfähig? Vor
diesem Problem stehen wir derzeit ja leider des Öfteren.
nicht nur wegen der Sache selbst, sondern weil sich hier
ganz konkret zeigt, dass Deutsche und Franzosen an ei- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
nem Strang ziehen und zusammen ein gemeinsames In- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
teresse verfolgen. Ich finde, so sollte europäische Demo- Wir brauchen die Lenkungswirkung einer Finanz-
kratie ablaufen, liebe Kolleginnen und Kollegen. transaktionsteuer, um unerwünschte Aktivitäten und Ge-
Warum aber ist eine solche Initiative bitter nötig? Wir schäfte zurückzudrängen und so einen weiteren Beitrag
als Initiatoren wollen uns mit den vielen Sonntagsreden zur Stabilisierung der Finanzmärkte zu leisten. Machen
der Regierenden in Deutschland und Frankreich zur Ein- wir uns doch nichts vor: Auch wenn die ökonomische
führung einer Finanztransaktionsteuer nicht mehr zufrie- Entwicklung aktuell erfreulich ist, sind die Finanzmärkte
dengeben. nach wie vor sehr labil. Die Lösung der Griechenland-
Probleme ist doch auch deshalb so schwierig, weil nicht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nur Banken und Finanzinstitute in Griechenland auf
DIE GRÜNEN) wackligen Füßen stehen.
12994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Joachim Poß
(A) Wir sind bei der Finanzmarktregulierung noch lange hinwegtäuschen, dass das richtig und wichtig ist. Wir (C)
nicht da, wo wir sein müssten. Das Kasino ist wieder er- müssen darüber eine ehrliche Debatte führen. Für die
öffnet. Die Finanzindustrie macht wieder munter auf Wahrnehmung wichtiger gesellschaftspolitischer Aufga-
Risiko. Da trifft leider auch die deutsche Regierung ein ben ist dieser Staat auf allen Ebenen strukturell unterfi-
gerüttelt Maß an Schuld. Wegen der großen Meinungs- nanziert. Das gilt unabhängig von der aktuellen Ent-
unterschiede in der Koalition gerade in Finanzmarktfra- wicklung bei den Steuereinnahmen. Darüber müssen wir
gen war die Regierung gelähmt und ist auf G-20-Ebene eine ehrliche Debatte in diesem Haus führen.
und europäischer Ebene oftmals nur schwankend und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
unklar aufgetreten. Auch hier zeigt sich, was es bedeutet,
wenn Führung fehlt. Deutschland muss als sehr starke Dabei geht es dann nicht nur um eine Finanztransaktion-
Macht in Europa die Führung mitprägen. Wir sind aber steuer, sondern in meinen Augen zum Beispiel auch um
auf europäischem Parkett derzeit nicht meinungsbildend, eine modernisierte private Vermögensteuer
und das kann nicht gut gehen.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da ist sie wieder!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und andere Finanzierungsmaßnahmen, um Geld für die
GRÜNEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ Erfüllung gesellschaftspolitisch wichtiger Aufgaben – Be-
CSU]: So ein Quatsch!) friedung der Gesellschaft, Forschung und Entwicklung,
Bildung und andere Zwecke – zur Verfügung zu haben
Was die Meinungsunterschiede angeht, will ich nur an und verwenden zu können.
die schmerzhaften Debatten im letzten Jahr erinnern, als
sich der damalige FDP-Vorsitzende an dieser Stelle für Vielen Dank.
alle sichtbar und erkennbar gewunden hat, nur um das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wort „Finanztransaktionsteuer“ nicht in den Mund neh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
men zu müssen. Wir brauchen aber diese Steuer, auch als
Finanzierungsinstrument. Dass wir darauf nicht verzich-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ten können, weiß auch der Bundesfinanzminister, der in
seinem Finanzkonzept ab 2012 daraus jährlich Einnah- Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
men in Höhe von 2 Milliarden Euro vorgesehen hatte. CSU-Fraktion.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Herr Schäuble (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bzw. sein Haus aber auch anfangen, um dieses Geld zu neten der FDP)
kämpfen, und dürften es nicht einfach streichen.
(B) Es stimmt ja sowieso vieles nicht mehr von dem, was Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): (D)
vor einem Jahr in dieses sogenannte Sparpaket einge- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
stellt wurde. Ich erinnere mich aber, was hierzu vor fast Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion ist grundsätzlich ge-
genau einem Jahr in Fernsehbeiträgen gesagt wurde. gen eine exzessive Erhöhung der Steuerbelastung und
Frau Merkel und andere haben da gesagt: Wir stellen die gegen Doppelbesteuerungen, die eine Überforderung für
soziale Ausgeglichenheit dieses Pakets dadurch her, dass den Steuerzahler bedeuten. Das heißt aber nicht, dass wir
die Wirtschaft in Form einer Finanztransaktionsteuer so- uns gegen einen Umbau der europäischen Steuersysteme
wie anderer Maßnahmen wie einer Brennelementesteuer wenden oder gegen eine gerechtere Besteuerung des Fi-
beteiligt wird. – Wie sieht denn inzwischen das Ergebnis nanzmarktes sind. Man muss das aber natürlich im Ge-
aus? Mittlerweile wird der Haushalt nur noch dadurch samtkontext sehen. Umschuldungen, Basel III, neue Ein-
stabilisiert, dass man bei den sozial Schwachen und den lagensicherungssysteme, die deutsche Bankenabgabe –
Arbeitslosen spart – das ist aber die falsche Stelle, ja- all das muss wohl bedacht sein und darf nicht in einer
wohl –, während andere Maßnahmen erst einmal nicht Scharfmacherrede angeprangert werden.
umgesetzt wurden. Auch das ist ein Beleg für Ihre unso-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
ziale Politik.
Joachim Poß [SPD]: Das war eine Werberede,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem keine Scharfmacherrede, Herr Kollege!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Eine bessere Lenkungswirkung durch Finanzmarkt-
Das ist so ähnlich wie in der Atomenergiefrage. Sie steuern und ein Beitrag des Finanzsektors sind unter be-
wissen gar nicht mehr, was Sie vor drei Tagen, ge- stimmten Voraussetzungen mit uns durchaus denkbar
schweige denn vor einem Jahr öffentlich gesagt haben. und machbar. Das muss intensiv geprüft und internatio-
Sie setzen auf die Vergesslichkeit des Publikums – leider nal zielführend gestaltet sein. Die Vorwürfe der SPD ge-
oft zu Recht. Das muss sich ändern in der deutschen genüber der Bundesregierung wegen des angeblich feh-
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen. lenden Handlungsnachweises weisen wir zurück. Die
Dinge müssen fachlich beurteilt werden.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Die Besteuerung des Finanzmarktes muss wettbe-
Diejenigen, die von den Rettungsmaßnahmen des
werbsneutral, wirksam, unbürokratisch, umsetzbar und
Staates in der Finanzkrise profitiert haben, müssen also
wachstumsfreundlich erreicht werden.
auch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt
werden. Sie dürfen nicht außen vor bleiben. Auch die ak- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist in Ord-
tuell sprudelnden Steuerquellen können nicht darüber nung!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12995
Dr. h. c. Hans Michelbach
(A) Den Beweis dafür lieferte der EU-Kommissar für Steu- Wir müssen über die Ausgestaltung dieser Steuer nach- (C)
ern, Herr Semeta, in dieser Woche im Finanzausschuss. denken. Hinsichtlich der Ausgestaltung einer Finanztrans-
Leider waren Sie nicht anwesend, Herr Poß. Ich zitiere aktionsteuer sollte, um einen Konsens auf europäischer
ihn für Sie noch einmal wörtlich. Ebene zu erreichen, den Diskussionen nicht – auch nicht
(Joachim Poß [SPD]: Da bin ich gespannt!) durch Deutschland – vorgegriffen werden. Wir sind der
Auffassung, dass die Finanztransaktionsteuer möglichst
Er sagt: alle Finanzinstrumente, die gehandelt werden, erfassen
Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzuneh- soll. So sollten Finanzinstrumente, die börslich und au-
men, wenn keine unvoreingenommene Prüfung ei- ßerbörslich gehandelt werden, in die Besteuerung einbe-
ner positiven Lenkungsfunktion durch die EU- zogen werden. Damit könnte der Finanztransaktion-
Kommission vorliegt. steuer eine breite Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt
werden. Insbesondere bei einer Ausklammerung be-
So weit der Kommissar. stimmter Finanzinstrumente wäre eine Verschiebung des
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der ist weiter als Geschäfts in diese Bereiche zu erwarten. Dies muss un-
Sie!) bedingt vermieden werden. Deshalb sprechen wir uns
für eine möglichst alle Finanzinstrumente umfassende
Das ist eine klare Aussage. Er sagt, die Prüfung liege Finanztransaktionsteuer aus.
noch nicht vor. Er hat uns eine Folgenabschätzung zur
Finanztransaktionsteuer oder einer Finanzaktivitätsteuer, Die Anknüpfung an die Erwerbsgeschäfte über Fi-
wie sie diskutiert wird, zugesagt. nanzinstrumente hat den großen Vorteil, dass es bei je-
dem auf Finanzinstrumente bezogenen Handelsgeschäft
Es ist nun einmal so, dass das Initiativrecht dafür die
bzw. Transaktionsgeschäft zu einer Steuerentstehung
Kommission hat und nicht die Parlamente, auch nicht in
kommen wird. Eine Unterscheidung in gute und
Frankreich oder Deutschland. Deswegen, Herr Poß, ist
der SPD-Antrag ein reiner Schaufensterantrag. schlechte Geschäfte, wie sie die SPD immer wieder ver-
sucht vorzunehmen, wird damit nicht vorgenommen.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Unglaublich!) Das wäre auch nicht sinnvoll. Vorrangig bei der Einfüh-
Da bringt uns auch die Begleitmusik, die Sie gemeinsam rung einer Finanztransaktionsteuer ist die Erzielung von
mit Frankreich bestellt haben, nicht weiter. Wir weisen Einnahmen. Natürlich sollte die Steuer auch Lenkungs-
diesen Schaufensterantrag zurück; wir werden ihm in wirkung entfalten. Wenn wir uns für die Finanztrans-
dieser Form nicht zustimmen. aktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage mit ei-
nem niedrigen Steuersatz vorstellen, dann dürfen wir
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht vergessen, die Lenkungswirkung zu prüfen. Wir
(B) neten der FDP) sind auf die Prüfung der EU-Kommission angewiesen. (D)
Es geht um eine fachgerechte Entscheidung. Dabei Ich glaube, wenn Sie wie in Ihrem Antrag von einem
muss verhindert werden, dass Steuersubstrat in Dritt- Steuersatz in Höhe von 0,05 Prozent – letzten Endes eine
staaten verlagert und unsere Wettbewerbsfähigkeit am aus der Luft gegriffene Zahl – ausgehen, dann sind Sie
Finanzplatz Deutschland erheblich beschädigt wird. Es gewissermaßen nicht verhandlungsfähig. Das ist sicher
gilt, eine gemeinsame Lösung zumindest in Europa zu die oberste Grenze, die sich andere Länder vorstellen
erreichen. Wir setzen uns mit den Chancen und den Fak- können. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie einfach eine
ten ohne ideologische Scheuklappen auseinander und Zahl ohne Prüfung der Lenkungswirkung und ohne Sub-
vertreten dabei folgenden Standpunkt: Um einen finan- stanz in die Welt setzen, ist dies inkompetent. Dann kön-
ziellen Beitrag des Finanzsektors zu erhalten, unterstüt- nen Sie keine Kompetenz in der Finanzwirtschaft nach-
zen wir die möglichst weltweite, aber zumindest auf eu- weisen. Sie erweisen damit Ihrer Sache, der Sache der
ropäischer Ebene oder wenigstens innerhalb der Euro- Finanztransaktionsteuer, wirklich keinen Dienst.
Zone abgestimmte Einführung einer Finanztransaktion-
steuer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Sabine Stüber [DIE LINKE]: Davon merkt Ganz besonders schlimm wird es, wenn man sieht,
man aber nichts!) dass die SPD in ihrem Antrag das Geld schon weltweit
verteilt hat.
Diese ist nach unserer Auffassung zur zusätzlichen Ge-
nerierung von Einnahmen aus dem Finanzsektor sehr gut (Joachim Poß [SPD]: Was? Was? – Christian
geeignet. Diese Auffassung teilt auch das Europäische Lange [Backnang] [SPD]: Was reden Sie denn
Parlament. Ich glaube, das ist die beste Grundlage. da?)
Es sollte uns bewusst sein, dass zum Erreichen dieses Das ist nicht seriös. Dieses Geld gehört in den Bundes-
Ziels so viele Länder wie möglich von der Einführung haushalt; denn der Bundeshaushalt hat in der Finanz-
einer Finanztransaktionsteuer überzeugt werden müssen. marktkrise die Banken gerettet. Das Geld wurde nicht
Bisher sind nur Österreich, Frankreich und Deutschland weltweit an die Armen verteilt. Für die Bekämpfung der
dafür, wobei Frankreich auch eine andere Lösung bevor- Armut ist die Entwicklungshilfe zuständig. Sie machen
zugen würde. einfach ein Fass auf und sagen: Das Geld aus dieser
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Luxemburg, Finn- Steuer können wir in die Welt transferieren.
land, Belgien!)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Worüber
Wir brauchen aber möglichst alle. reden Sie eigentlich?)
12996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) Das sieht Ihr Antrag vor. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sa- Denn inzwischen wissen alle, dass die Finanzmärkte ei- (C)
gen: Ich habe schon viele Anträge der SPD gelesen, aber nerseits enorme Handelsvolumina haben und rasant ge-
der nun vorliegende Antrag stellt keine gute Vorberei- wachsen sind und dass sie andererseits nach wie vor
tung dieses Hohen Hauses dar. Das Budgetrecht wird kaum Steuern zahlen. Alle Unternehmen, die ein Pro-
von diesem Hohen Haus und insbesondere vom Haus- dukt verkaufen, müssen auf das Produkt Umsatzsteuer
haltsausschuss des Deutschen Bundestages wahrgenom- erheben und sie beim Staat abliefern; nur Finanztrans-
men und darf nicht für eine solche Verteilungsaktion, aktionen sind davon ausgenommen. Allein an der
wie sie im SPD-Antrag gefordert wird, genutzt werden. Frankfurter Derivatenbörse Eurex werden Umsätze ge-
Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen. macht, die 60-mal so hoch sind wie das gesamte deut-
sche Bruttoinlandsprodukt, ohne dass ein einziger Cent
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Steuern gezahlt wird. Das ist doch ein Skandal.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die neten der SPD)
Linke. Fakt ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht nur
(Beifall bei der LINKEN) Staatseinnahmen bringen, sondern auch eine wichtige
Lenkungswirkung entfalten kann. Das heißt, dass es un-
Richard Pitterle (DIE LINKE): attraktiver wird, mit hoher Geschwindigkeit an den Fi-
nanzmärkten zu spekulieren; für alle Zocker wird es we-
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
niger profitabel, weil bei jeder Spekulation ein Teil des
und Kollegen! Seit 2009 höre ich im Bundestag von der
Profits abgezogen wird. Die maßlosen Spekulationen
Bundesregierung, man wolle die Finanzbranche zur Be-
nämlich führten zur Finanzkrise und später zur Euro-
wältigung der Krisenkosten heranziehen. Und? Es pas-
Krise. Seither bedrohen sie die Stabilität zahlreicher
siert nichts. Die Linke sagt: Wir brauchen endlich die Fi-
Volkswirtschaften, siehe Griechenland.
nanztransaktionsteuer.
(Beifall bei der LINKEN) Frau Merkel und Herr Schäuble sind leider nicht da.
Gerne würde ich ihnen glauben, dass es ihnen mit dem
Mit dieser Steuer soll jeder und jede, der oder die an Versprechen ernst ist, das sie mit dem französischen
der Börse und außerbörslich mit Wertpapieren, Deriva- Staatspräsidenten Sarkozy abgegeben haben. Gerne
ten und Devisen spekuliert und dabei fette Gewinne würde ich ihnen auch glauben, dass sie die Mehrheit ih-
macht, mindestens 0,05 Prozent davon abgeben. Da sind rer Fraktionen hinter sich haben. Wenn wir heute gleich-
wir uns mit allen parlamentarischen und außerparlamen- zeitig mit dem französischen Parlament eine Entschei-
(B) tarischen Initiativen ganz einig, die auch die Einführung dung zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer zu (D)
der Steuer fordern. treffen haben, dann können wir unseren Freundinnen
und Freunden in Frankreich nur zurufen: „Oui, Madame!
Blicken wir zurück. Am Anfang hat die Regierungs-
Oui, Monsieur!“ Sorgen Sie dafür, dass die Finanztrans-
koalition die Finanztransaktionsteuer abgelehnt; mit den
aktionsteuer jetzt beschlossen wird. Wir brauchen in
Argumenten, sie verzerre den Wettbewerb, sei nicht ef-
Europa wirtschaftliche Stabilität; wir brauchen Steuer-
fektiv, nur global machbar und leicht zu umgehen, haben
gerechtigkeit. Deshalb brauchen wir Gesetze, die verhin-
Sie all unsere Vorschläge abgeschmettert. Diese Argu-
dern, dass die Geringverdienerinnen und Geringverdie-
mente haben Sie sich dann auch noch von Ihren Sachver-
ner, die Rentnerinnen und Rentner die Lasten der Krise
ständigen bestätigen lassen.
tragen müssen und die Vermögenden uneingeschränkt
(Björn Sänger [FDP]: Dafür gibt es Sachver- und fröhlich weiterzocken können.
ständige!)
Vielen Dank.
Dann wurde die Finanzkrise zur Euro-Krise, und die Re-
gierung wandelte sich vom Saulus zum Paulus. Vor gut (Beifall bei der LINKEN)
einem Jahr, am 17. Mai 2010, berichtete zum Beispiel
Die Zeit: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Auch der CSU-Vorsitzende … Horst Seehofer er- Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-
neuerte die Forderung nach einer Finanztrans- tion.
aktionssteuer, „ohne Wenn und Aber“. Die Regierung
müsse „diese Branche, die Finanzbranche insgesamt, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der wir ja zum großen Teil diese Wirtschafts- und
Finanzkrise leider zu verdanken haben, bei der Be- Dr. Volker Wissing (FDP):
wältigung der Kosten auch heranziehen“, sagte er. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist Originalton Seehofer. Diese Regierung ist, wie Wenn man von falschen Prämissen ausgeht, kommt man
man auch in der Energiepolitik sieht, für manche Wende nicht zum richtigen Ergebnis. Das belegt die SPD mit ih-
gut. Wenn es in die richtige Richtung geht, werden wir rem heute vorgelegten Antrag wieder einmal eindrucks-
sie deswegen nicht kritisieren. Aber hier reicht es nicht, voll. Ihre Feststellung, dass der Finanzsektor „keinen …
den Mund nur zu spitzen; man muss auch pfeifen. Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens“ leistet,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Joachim Poß [SPD]: Keinen ausreichenden
neten der SPD) Beitrag!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12997
Dr. Volker Wissing
(A) ist in der Sache grundfalsch; das wissen Sie auch. Wenn Sie haben die Finanztransaktionsteuer nicht eingeführt, (C)
Sie sich einmal darüber informieren wollen, sollten Sie weil Sie diese, als Sie die Regierungsverantwortung tru-
einmal mit der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt gen, für falsch hielten und nicht wollten. Wir führen die
sprechen und sie fragen, ob sie den Eindruck hat, dass Finanztransaktionsteuer ebenfalls nicht ein, weil wir sie
der Finanzsektor einen Beitrag zur Finanzierung des Ge- für falsch halten und sie deshalb nicht wollen.
meinwesens dieser Stadt leistet; danach sind Sie viel-
leicht klüger, als Sie es mit Ihrem Antrag zum Ausdruck (Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE
bringen. LINKE]: Aha! Jetzt kommen wir doch zur Sa-
che!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Björn
Es besteht zwischen uns im Grunde Konsens. Der Unter-
Sänger [FDP]: Einfach mal anrufen!)
schied ist nur, dass Sie in der Opposition etwas fordern,
Meine Damen und Herren, man kann dem Finanzsektor was Sie während Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt
viele Dinge vorwerfen und vieles kritisieren; in den letz- haben.
ten Jahren ist auch unter Ihrer Regierungsverantwortung Wenn man Argumente gegen die Finanztransaktion-
vieles nicht richtig gelaufen. Es schadet aber auch nicht, steuer benötigt, findet man in Ihrem Antrag eine geeig-
wenn man sich vorher zumindest ansatzweise informiert. nete Arbeitsgrundlage. Er enthält viele Allgemeinplätze
Dieser Grundsatz gilt auch, wenn man Frank-Walter und keine Fakten. Man könnte sagen: viel Sigmar
Steinmeier heißt und einen Antrag in den Deutschen Gabriel, kaum Helmut Schmidt.
Bundestag einbringt.
(Beifall des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] –
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lachen bei Abgeordneten der SPD)
der CDU/CSU)
Ihr Antrag zeigt einmal mehr, dass die SPD über kei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nen Kompass mehr verfügt. Wohin wollen Sie eigent- Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage
lich? Wollen Sie zurück in die Zeiten des Klassenkamp- des Kollegen Steinbrück?
fes, oder wollen Sie nach vorne? Vertreten Sie heute
eigentlich die Finanzpolitik Ihres früheren Finanzminis- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der
ters Oskar Lafontaine, oder vertreten Sie die Finanzpoli- Kanzlerkandidat!)
tik Ihres früheren Ministers Peer Steinbrück?
Dr. Volker Wissing (FDP):
(Joachim Poß [SPD]: Worüber reden Sie denn Ja, bitte.
(B) eigentlich? Sagen Sie etwas zur Sache!) (D)
Beide haben übrigens keine Finanztransaktionsteuer ein- Peer Steinbrück (SPD):
geführt. Es gehört zu dem wenigen Guten, was man über Sehr geehrter Herr Kollege Wissing, würden Sie be-
die sozialdemokratische Finanzpolitik sagen kann, dass stätigen, dass sich die Bundeskanzlerin und der seiner-
die SPD in der Regierung ganz schnell vergisst, was sie zeitige Bundesfinanzminister auf den Finanzgipfeln im
in der Opposition gefordert hat. April 2009 in London und im September 2009 in Pitts-
burgh massiv für die Einführung einer Finanzmarkt-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
transaktionsteuer eingesetzt haben und – mehr noch –
Vermögensteuer? Fehlanzeige. Finanztransaktion- die Aufnahme einer entsprechenden Empfehlung in das
steuer? O-Ton Steinbrück: Der Welt ist es egal, was der Kommuniqué des Gipfels im September 2009 sowie ei-
SPD-Ortsverband Kessenich will. Nicht nur der Welt nen konkreten Prüfauftrag an den Internationalen Wäh-
war und ist es egal, was die SPD wollte. Ihrem selbster- rungsfonds durchgesetzt haben? Wenn Sie dies zugeben,
nannten Kanzlerkandidaten war es in seiner Zeit als Fi- würden Sie dann auch Ihre bisherigen Ausführungen
nanzminister erst recht schnurz. Deshalb darf es auch der freundlicherweise korrigieren wollen?
christlich-liberalen Koalition egal sein, was die SPD
heute mit diesem Antrag fordert. Dr. Volker Wissing (FDP):
Herr Steinbrück, es stimmt, dass man sich auf interna-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tionaler Ebene dafür eingesetzt hat. Übrigens hat auch
Eine Partei, die in ihrer gesamten Regierungszeit, diese Bundesregierung auf internationaler Ebene gesagt,
gleich ob sie mit der grünen Partei oder der CDU/CSU dass sie eine Besteuerung des Finanzsektors erreichen
regiert hat, nicht einmal einen ernsthaften Versuch unter- möchte. Auf internationaler Ebene hat es aber keinen
nommen hat, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, Konsens gegeben. Deshalb hat diese Regierung genauso
sollte sich auch jetzt mit Anträgen zurückhalten. vernünftig gehandelt wie Sie damals und den Unfug ge-
lassen, diese Steuer auf nationaler Ebene einzuführen.
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Diesen Unfug sollte die SPD weiterhin unterlassen.
GRÜNEN]: Reden Sie doch nicht dauernd
über die SPD!) (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Es geht um die eu-
ropäische Ebene! Lesen bildet!)
Sie sind in dieser Frage nämlich schlicht unglaubwürdig.
Es macht keinen Unterschied, ob man in der Regie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rung oder in der Opposition ist. Eine nationale oder re-
12998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Volker Wissing


(A) gionale Transaktionsteuer bringt nichts. Das wissen Sie – Ganz ruhig. – Wir haben gesagt: Wir sehen nicht ein, (C)
sehr gut, Herr Steinbrück. dass wir den deutschen Finanzplatz beschädigen
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das ist (Joachim Poß [SPD]: Jetzt kommt es!)
Herumeierei!)
und Ausweichbewegungen beispielsweise nach London
In dieser Position kann ich Sie nur unterstützen; damit eröffnen; denn – da bin ich ganz bei Ihnen – 10 Prozent
lagen Sie immer richtig. Ihre Fraktion liegt jetzt aber von nichts bringt noch lange keine höheren Steuerein-
falsch, wenn sie dem Bundestag vorschlägt, das Gegen- nahmen.
teil zu machen, nämlich diese Steuer national einzufüh- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ist aber eine
ren. Deswegen bleibe ich bei meiner Position. andere Steuer!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deshalb haben Sie einen nationalen Weg abgelehnt. Den
der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] lehnen auch wir ab. Wir als FDP-Fraktion sagen: Eine
[SPD]: Er hat das unterstützt! Er gehört zu un- Finanztransaktionsteuer ausschließlich in der Euro-Zone
serer Fraktion! Haben Sie das vergessen?) ist nicht vertretbar, weil sie den deutschen Finanzplatz
nachhaltig schädigt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Also
Kollege, gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen doch nein! Ein klares Nein! Die Wahrheit ist
Steinbrück? auf dem Tisch!)

Dr. Volker Wissing (FDP): Ohne Großbritannien kommt eine solche Steuer nicht in
Betracht. Das ist die Position der Bundesregierung. In
Ja.
der Opposition vertreten Sie jetzt die Auffassung, dass
es, wenn sie in Deutschland und in Frankreich eingeführt
Peer Steinbrück (SPD): würde, automatisch zu einer flächendeckenden Einfüh-
Würden Sie bestätigen, Herr Kollege Wissing, dass rung der Finanztransaktionsteuer kommen würde. Diese
die Diskussion inzwischen weitergegangen ist und auch Position haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie vertreten,
der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank die Ein- weil Sie wissen, dass sie falsch ist.
führung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer
dann für richtig hielte, wenn mindestens die wichtigsten (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das steht auch
kontinentaleuropäischen Finanzplätze einbezogen wür- nicht im Antrag!)
den? Das heißt, wenn die Bundesrepublik Deutschland Deswegen sei es Ihr Recht als Oppositionsfraktion, jetzt
(B) sich mit ihrem Gewicht in Brüssel dafür einsetzen (D)
all die Dinge zu fordern, die Sie in der Regierung für
würde, dass im Benelux-Bereich, in Frankreich, mögli- falsch gehalten haben. Wir bleiben bei einem klaren
cherweise auch in Italien eine solche Finanzmarkttrans- Kurs.
aktionsteuer eingeführt würde, dann gäbe es sogar Ver-
treter der deutschen Finanzwirtschaft, die sich darüber (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist doch
nicht grämen würden. Insofern kommt es darauf an – das Quatsch!)
ist meine Frage –, ob Sie als FDP-Vertreter bereit wären, Wir können uns gerne inhaltlich mit der Finanztrans-
auf die Bundesregierung stärker einzuwirken, dass zu- aktionsteuer auseinandersetzen. Sie schreiben, die Steuer
sammen mit diesen Ländern, die sich teilweise bereits würde unerwünschte Effekte zurückdrängen. Sie müss-
für die Einführung einer solchen Finanzmarkttransak- ten schon näher erklären, wie die Finanztransaktion-
tionsteuer ausgesprochen haben, die Chance auf Reali- steuer unerwünschte Effekte erkennt und zurückdrängt.
sierung genutzt wird. Diese Steuer ist nämlich nicht selektiv; sie unterscheidet
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht zwischen guter und spekulativer Anlage, sondern
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sie belastest alle, und zwar alle gleich. Sie belastet die
LINKEN) Riester-Rentner und Besitzer von Lebensversicherungen
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das Riester-
Dr. Volker Wissing (FDP): Argument hatten wir schon in der vorletzten
Sie kennen die Beschlussfassung des Deutschen Bun- Debatte! – Michael Roth [Heringen] [SPD]:
destages. Sie kennen auch die gemeinsamen Anträge Dann sagen Sie doch, dass Sie die Finanztrans-
von CDU/CSU und FDP. aktionsteuer nicht wollen!)

(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da steht dazu genauso wie Hedgefonds, nur dass es für Letztere ein
nichts drin!) Leichtes ist, sich einen anderen Finanzplatz auszusuchen
und der Finanztransaktionsteuer zu entgehen. Ich er-
Deshalb lohnt es sich für Ihre Fraktion, nicht immer so kenne daher nicht, welche unerwünschten Nebeneffekte
zu tun, als würden wir diesen Weg ausschließlich blo- die Steuer zurückdrängen soll.
ckieren.
Wenn Sie schreiben, dass die Finanztransaktionsteuer
(Lachen bei der SPD – Christian Lange [Back- einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leis-
nang] [SPD]: „Ausschließlich blockieren“! tet, so ist auch das mehr als gewagt. Sie glauben doch
Das ist verräterisch!) nicht allen Ernstes, dass die Anleger, nur weil Sie in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12999
Dr. Volker Wissing
(A) Deutschland und Frankreich eine Finanztransaktion- Hiervon wollten Sie zu Regierungszeiten nichts wissen. (C)
steuer einführen, verlustbringende Investments länger Deswegen sollten Sie den Deutschen Bundestag damit
halten werden, und dass dies auch noch den Finanzmarkt nicht länger behelligen.
stabilisiert. Ich glaube, die Finanztransaktionsteuer wird Vielen Dank.
eher das Gegenteil bewirken.
(Beifall bei der FDP)
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Kommen Sie
doch einmal zur Sache!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Dort, wo sie nicht umgangen wird, wird sie zu stärkeren Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion
Reaktionen der Märkte führen, weil die Märkte die Bündnis 90/Die Grünen.
Steuer in ihre Kalkulation einbeziehen. Während bisher
die schnelle Reaktion der Märkte dazu beiträgt, Fehlent- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wicklungen frühzeitig zu erkennen, NEN):
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sekundenhan- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
del, so schnell handeln die!) der Frage, wer als Opposition bei bestimmten Themen
die Klappe aufgerissen hat und nachher in der Regie-
würde die Finanztransaktionsteuer dafür sorgen, dass die rungszeit nichts zu liefern hat, wäre ich als FDP ganz
Reaktionen später erfolgen und dafür umso heftiger aus- leise.
fallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, bei der SPD und der LINKEN)
dass Ihr Antrag vor allem autosuggestiven Charakter hat. Zu dem Vorwurf, man bringe hier nur Allgemeinplätze,
Sie glauben selber nicht mehr an diese Steuer und wollen sage ich, Herr Wissing, dass die Gegenargumente, die
sich mit dem Antrag immer wieder selbst überzeugen. Sie heute gebracht haben, viel schlimmer als Allgemein-
(Lachen bei der SPD) plätze waren. Es waren längst widerlegte Behauptungen.

Ich habe auch Verständnis für die Widersprüchlichkeiten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
in Ihrem Antrag. Ebenso habe ich Verständnis dafür, In der Anhörung des Finanzausschusses ist ganz klar ge-
dass Sie in der Opposition glauben, Punkte mit einer sagt worden: Die Belastung des Kleinanlegers ist mini-
Politik machen zu können, die Sie in der Regierung nie- mal und von Personen aufgebauscht worden, die die Fi-
mals ernsthaft verfolgt haben. Deswegen schlage ich Ih- nanztransaktionsteuer mit fadenscheinigen Argumenten
nen vor: Machen Sie es wie Herr Steinbrück und schi- ins Aus katapultieren wollten, weil sie das tut, was not-
(B) cken Sie Ihren Finanztransaktionsteuer-Antrag dorthin, wendig ist, nämlich den Finanzsektor zu belasten. (D)
woher er gekommen ist, nämlich an den Ortsverband (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Kessenich. – Ich glaube, das habe ich richtig zitiert, Herr bei der SPD und der LINKEN)
Steinbrück.
Gestern im Finanzausschuss sah man ganz klar, wie
Wie Sie richtig schreiben, gibt es bisher keinen Kon- die Positionen in dieser Debatte verteilt sind. Alle Frak-
sens, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, weder tionen haben dem anwesenden EU-Kommissar Semeta
auf europäischer noch auf internationaler Ebene. Es ist ganz eindeutig die deutsche Position mit auf den Weg
mehrfach versucht worden, ist aber ganz klar gescheitert. gegeben: Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer. Wir
Das liegt aber nicht daran, dass die anderen Regierungen haben gesagt, dass das jetzt auf europäischer Ebene vo-
so viel dümmer wären als die SPD im Deutschen Bun- rangebracht werden muss und dass nicht nur rumgeeiert
destag; sie haben sich vielmehr mit der Finanztransak- werden darf, wie es auch hier die Koalition macht. Eine
tionsteuer auseinandergesetzt, deren Schwächen erkannt Fraktion war die große Ausnahme. Man sieht, warum
und suchen nun eine bessere Lösung zur Besteuerung diese Bundesregierung nicht vorankommt: Die Unter-
des Finanzsektors. Das geschieht aber nicht aus Gründen stützung der FDP für diese Position fehlt. Hören Sie auf,
der Regulierung, sondern zur Lösung der Haushaltspro- zu blockieren! Wir brauchen keinen parlamentarischen
bleme. Arm der Finanzbranche, sondern eine Unterstützung für
das, was von einer breiten Mehrheit dieses Hauses getra-
Nur die SPD tut in der Opposition immer so, als habe gen wird: eine Finanztransaktionsteuer.
sie einen finanzpolitischen Erkenntnisrausch, der ihr in
Regierungszeiten abhanden gekommen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Meine Güte,
diese Koalition hat es echt nicht leicht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie präsentieren der Öffentlichkeit in altbekannter Ma- Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
nier ein Sammelsurium sozialdemokratischer Wieder- gen Wissing?
gänger wie die Vermögen- oder die Finanztransaktion-
steuer. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Die schüt-
Gerne.
teln schon alle den Kopf auf der Regierungs-
bank!) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Lobby!)
13000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Dr. Volker Wissing (FDP): ist das als Ursache dieser Finanzkrise deutlich gewor- (C)
Würden Sie, Herr Kollege Schick, weil Sie sich im- den. So schreibt ein Forscherteam des Internationalen
mer gerne mit der Vergangenheit beschäftigen, dem Währungsfonds und der UN-Konferenz für Handel und
Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit Entwicklung, UNCTAD: Zu viel Finanzwirtschaft ist
erklären, wer unter Rot-Grün verhindert hat, dass eine schlecht. Es schadet der Wirtschaft eines Landes, wenn
Finanztransaktionsteuer von der Bundesregierung auf es einen aufgeblähten Finanzsektor hat. – Genau aus die-
den Weg gebracht worden ist? War das damals die SPD sem Grunde brauchen wir eine Schuldenbremse für Ban-
oder Bündnis 90/Die Grünen? ken – Leverage-Ratio –, die Sie in harter Form aber nicht
wollen und auf internationaler Ebene verhindern.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Stimmt ja über-
NEN): haupt nicht!)
Es gab unter Rot-Grün Initiativen für eine Tobin-
Steuer. Ich erinnere an eine Studie aus dem Hause Wir brauchen auch eine Besteuerung von Finanzumsät-
Wieczorek-Zeul. Man fragt sich, ob ein Ministerium der zen. Denn es ist für die wirtschaftliche Entwicklung
aktuellen Bundesregierung auch nur mit einer Studie nicht gut, wenn Umsätze an den Finanzmärkten privile-
versucht hat, die Debatte voranzutreiben. Das könnte giert werden. Es ist falsch, wenn auf jedes Brötchen und
man ja tun. Das gab es damals, und das ist von beiden jeden Stuhl Umsatzsteuer erhoben wird, aber nicht auf
Parteien unterstützt worden. Finanzprodukte. Das muss korrigiert werden.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Haben Sie es einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
führt?) bei der SPD und der LINKEN)
Ich frage Sie umgekehrt – das könnte vielleicht je- Es gibt einen zweiten wichtigen Punkt: die soziale
mand aus den Koalitionsfraktionen klären –: Wenn ich Balance und die Verteilungsfrage. Ja, es ist zu Recht ge-
eine Idee voranbringen will, dann versuche ich, dazu sagt worden, dass eine Finanztransaktionsteuer ein Teil
eine Konferenz zu organisieren, eine Studie in Auftrag eines Ausgleiches sein kann, wenn wir jetzt die Haus-
zu geben. Warum gibt es bisher nur von einem öster- haltssanierung angehen und es um die Frage geht: Wer
reichischen Institut eine Studie dazu und nicht einmal trägt die Finanzierung künftiger Ausgaben? So hat auch
von einem deutschen? die Bundeskanzlerin im Juni 2010, also vor einem Jahr,
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber woran ist es gesagt: Die Tatsache, dass wir eine Finanztransaktion-
gescheitert?) steuer einplanen, ist ein Beitrag zur Gerechtigkeit. – Das
war Ihre Aussage, als es damals um das Sparpaket ging.
(B) Die Bundesregierung könnte ja eine Studie in Auftrag Damit wurde begründet, dass es Kürzungen gibt: beim (D)
geben. Hören Sie auf, nur zu reden! Handeln Sie endlich, Heizkostenzuschuss, bei der Rente und bei den Arbeits-
und bringen Sie diesen Gedanken voran! marktmaßnahmen. Sie haben damals gesagt: Dieses Pa-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ket ist ausgewogen, weil es auch zu einer Belastung der
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Industrie bzw. der Wirtschaft kommt, zum Beispiel
Wissing [FDP]: Eine Antwort? – Dr. Daniel durch die Brennelementesteuer und die Finanztrans-
Volk [FDP]: Beantworten Sie doch einmal die aktionsteuer.
Frage: Haben Sie die Tobin-Steuer einge-
Wo stehen wir heute? Ursprünglich ging man von
führt?)
Einnahmen aus der Brennelementesteuer in Höhe von
Ich will noch kurz auf das eingehen, was Herr 2,3 Milliarden Euro aus. Mittlerweile ist bekannt, dass
Michelbach gesagt hat. Wissen Sie, Herr Michelbach, die Einnahmen deutlich geringer ausfallen – man rechnet
wir haben hier heute etwas, was es nicht häufig gibt: eine jetzt mit 1,3 Milliarden Euro –, und die Finanztrans-
parallel organisierte Debatte der französischen National- aktionsteuer ist aus dem Finanztableau für den Haushalt
versammlung und des Deutschen Bundestages und einen 2012 hinausgeflogen. Das heißt, wenn Sie Ihren eigenen
abgestimmten Antrag. Wenn wir bei allen Delegations- Maßstab der sozialen Balance der Haushaltspolitik von
gesprächen mit den französischen Kollegen immer die vor einem Jahr anlegen würden, müssten Sie heute zuge-
Zusammenarbeit der nationalen Parlamente hochhalten ben, dass von einem fairen Ausgleich keine Rede mehr
und dafür kämpfen – das ist richtig –, dann können wir sein kann, weil die Maßnahmen, die zur Belastung der
hier in der Debatte nicht sagen, das sei Begleitmusik. Ich Wirtschaft eingeplant waren, so nicht realisiert werden.
finde, eine solche Haltung haben Europa und auch der Bei der sozialen Balance Ihrer Politik besteht ganz drin-
Bundestag nicht verdient. gender Korrekturbedarf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN – Dr. h. c. Hans bei der SPD und der LINKEN)
Michelbach [CDU/CSU]: Das hat mit Europa
nichts zu tun!) Es hat einen tieferen Grund, warum wir diese soziale
Balance brauchen. Es ist so – das müssen Sie zur Kennt-
Zur konkreten Frage: Warum brauchen wir unbedingt nis nehmen –, dass die Schieflage bei der Einkommens-
eine Finanztransaktionsteuer? Wir stellen fest, dass der verteilung eine der Ursachen der Finanzkrise war.
Finanzmarkt an vielen Stellen zu groß ist. Das sagen
nicht nur einige Oppositionsleute, sondern inzwischen (Joachim Poß [SPD]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13001
Dr. Gerhard Schick
(A) In diesem Punkt besteht in der Forschung inzwischen ein die problematischen Hypothekenpapiere, nur entstehen (C)
ziemlich breiter Konsens; Joseph Stiglitz hat das schon konnte, weil es eine Konzentration von Reichtum bei
vor zwei Jahren deutlich gemacht. Studien des Interna- wenigen Individuen gab? Nehmen Sie es eigentlich zur
tionalen Währungsfonds kamen zu dem Ergebnis, dass Kenntnis, dass die Schieflage auch eine Ursache dieser
der Zusammenhang zwischen der Konzentration hoher Krise ist und dass wir aus dieser Krise nur herauskom-
Einkommen bei wenigen Haushalten und der hohen men, wenn wir diese Schieflage korrigieren? Das hat
Verschuldung ärmerer Haushalte in dieser Krise eine überhaupt nichts mit Klassenkampf zu tun, sondern das
wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man aus der Krise he- ist das Wiederherstellen der Bedingungen für eine so-
rauskommen und versuchen will, die Wirtschaft zu stabi- ziale Marktwirtschaft. Erinnern Sie sich einmal: Das
lisieren, sodass die Wahrscheinlichkeit einer neuen Krise führen Sie ständig im Mund. Tun Sie es auch!
sinkt, dann muss man dafür sorgen, dass auch die Ein-
kommen der Unter- und Mittelschicht wieder stabilisiert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
werden. Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie versprechen das
Falsche! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und bei der SPD) NEN]: Die FDP hat sich schon längst von der
sozialen Marktwirtschaft verabschiedet!)
Das heißt nichts anderes, als dass wir uns mit der
Frage beschäftigen müssen: Wie wird die Steuerlast ver- Ich muss zum Schluss kommen. – Ich glaube, eine
teilt? Schauen Sie sich die Situation in Europa an. Die Sache ist wichtig: Wir müssen dieses Anliegen in diesem
EU-Kommission fordert von Spanien, die Mehrwert- Haus wirklich gemeinsam vertreten. Deswegen ist die
steuer auf Grundgüter, also auf Güter, die jede Bürgerin Kooperation mit der französischen Nationalversamm-
und jeder Bürger braucht, zu erheben. Es ist wichtig, lung gut. Wir müssen uns klarmachen: Wenn wir die De-
dass sich die deutsche Bundesregierung jetzt aktiv dafür batte in Europa gewinnen wollen und das sicherstellen
einsetzt, dass nicht Steuern auf Grundgüter erhoben wer- wollen, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
den, die jeder Bürger und jede Bürgerin zahlen muss diesem Land will, nämlich eine wirkliche Veränderung
– auch die Menschen, die schon in der Finanzkrise viel an den Finanzmärkten, dann müssen wir gemeinsam da-
verloren haben –, sondern dass endlich die Privilegie- für kämpfen. Es kann dann nicht sein, dass Vertreter der
rung von Finanzumsätzen abgeschafft und durch die Regierungskoalition hier Larifari von sich geben und
Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer die Finan- ausweichende Bedingungen formulieren, sondern dann
zierung europäischer Ausgaben gewährleistet wird. ist an dieser Stelle ein wirkliches Handeln von Regie-
rung und Fraktionen notwendig. Wir haben heute bei den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) Koalitionsfraktionen erlebt, dass das nicht der Fall ist. (D)
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel
Volk [FDP]: Klassenkampf!) Korrigieren Sie das, damit hinter den Ankündigungen
– Für das Stichwort „Klassenkampf“ bin ich Ihnen sehr der Minister und der Kanzlerin etwas mehr als nur laue
Konzepte steht. Wir brauchen jetzt eine wirkliche Strate-
dankbar, Herr Volk.
gie, die dieses Haus hier gemeinsam entwickeln muss.
(Zuruf von der SPD: Was hat er gesagt?) Hören Sie auf, das zu blockieren!
– „Klassenkampf“ hat er gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Davon
hat er doch gar keine Ahnung!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nein! Machen Sie sich einmal wieder den Gedanken Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSU-
einer sozialen Marktwirtschaft klar. Schon am Beginn Fraktion.
der Bundesrepublik Deutschland ist ein breiter Konsens
entstanden – übrigens von Ordoliberalen formuliert und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vorgeschlagen –: Eine Marktwirtschaft kann nur stabil
sein, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt. Wer heute Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
daran erinnert, mitten in der Krise, die dadurch ver-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
schärft wurde, dass die Verteilungssituation nicht
ren! Herr Poß, nachdem sich die Sozialdemokraten bei
stimmt, der macht keinen Klassenkampf, sondern der
vielen bedeutenden europäischen Abstimmungen in den
sorgt dafür, dass eine solche Krise in Zukunft nicht mehr
letzten Monaten etwas schwergetan haben, begrüßen wir
stattfinden kann. Dass die FDP dabei nicht mitzieht, ist
es natürlich außerordentlich, dass uns deutsche Sozialde-
ihr schwächster Punkt. Deswegen nähern sich Ihre Um-
mokraten und französische Sozialisten nun gemeinsame,
frageergebnisse langsam den Steuersätzen, die wir für
wortgleiche Anträge zeitgleich diskutieren lassen. Da-
die Finanztransaktionsteuer vorschlagen.
durch wird aber der Inhalt natürlich nicht viel aktueller.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Zum einen wissen Sie – mein Kollege Michelbach hat
darauf hingewiesen –, dass wir in wenigen Tagen oder
Haben Sie eigentlich wahrgenommen, dass in der Wochen hoffentlich den Prüfbericht der Europäischen
Wissenschaft inzwischen klar ist, dass der Markt für Kommission zu eben diesem Thema Finanztransaktion-
Collateralized Debt Obligations – CDOs –, der Markt für steuer erwarten und dann gemeinsam prüfen müssen, ob
13002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Frank Steffel


(A) unsere deutschen Interessen und unsere deutsche Posi- Länder wie Frankreich, Österreich und Deutschland, die (C)
tion dort hinreichend wiedergefunden werden. momentan Motor des Aufschwungs sind, und auch Finn-
land und Luxemburg dringend benötigt werden, um mit
Zum anderen wollen Sie mit diesem Antrag wahr- ihrer herausragend guten Bonität Europa und den Euro
scheinlich den Eindruck erwecken, dass, wenn wir auf zu stabilisieren, sich Europa auf der anderen Seite wei-
europäischer Ebene zu einer Finanztransaktionsteuer gert, von diesen Ländern vorgeschlagene Regelungen zu
kommen, es an Ihrem heutigen Antrag liegt. Wir wissen internationalen europäischen Spielregeln zu akzeptieren.
beide, dass das am Ende wahrscheinlich nicht der Wahr- Wir erwarten deshalb, dass die EU – in diesem Punkt
heit entspricht. teile ich Ihre Kritik, Herr Kollege Schick – jetzt zügig zu
(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Ergebnissen kommt. Deutschland hat sich aufgrund gu-
Das ist eine kühne Unterstellung!) ter Politik, aber auch wegen der vielen fleißigen Arbeit-
nehmer und insbesondere des deutschen Mittelstandes,
Deswegen versuche ich, einige sachliche Anmerkun- der momentan in Europa ein stabilisierender Faktor ist
gen aus meiner Sicht in dieser Debatte zu machen. – auch das muss man an dieser Stelle einmal wohlwol-
Deutschland ist – das würde ich am Beginn gerne be- lend und lobend erwähnen –, als stabil erwiesen und
wusst festhalten – bei der Einführung einer internationa- sollte zusammen mit den vorhin von mir erwähnten Län-
len Finanztransaktionsteuer gemeinsam mit Frankreich dern Vorschläge für die Ausgestaltung von europäischen
und Österreich momentan Motor in Europa. Spielregeln machen.

(Manfred Zöllmer [SPD]: Warum weiß die Unser Finanzminister Wolfgang Schäuble hat völlig
FDP nichts davon?) recht, wenn er sagt: Eines darf keinesfalls passieren,
nämlich dass wir drei Jahre diskutieren und dann nichts
Um das sehr klar zu sagen, weil es hinsichtlich der natio- hinbekommen. – Das wäre in der Tat ernüchternd für
nalen Einführung, Herr Wissing, und der internationalen Europa, ernüchternd für das Thema, aber auch ernüch-
Einführung hier offensichtlich eine unterschiedliche De- ternd für die Bevölkerung, weil sie dann den Eindruck
battenlage gibt: Das Präsidium der CDU hat vor der bekommen würde, dass wir weder Lehren aus der Krise
Euro-Krise, am 14. Januar 2010, einstimmig beschlos- gezogen haben noch international in der Lage sind, den
sen, dass wir eine internationale Finanztransaktionsteuer Finanzsektor zu regulieren und so zu gestalten, wie wir
einführen wollen. es mit Blick auf unsere Verantwortung für richtig halten.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das stellt niemand (Beifall bei der CDU/CSU)
infrage!)
Ich will jetzt sehr bewusst das aufgreifen, was Sie,
(B) Wir haben genauso klar gesagt: „Wir sind gegen einen Herr Wissing, gesagt haben und was Gegenstand einer (D)
nationalen Alleingang“, weil wir fest davon überzeugt kritischen Debatte war: Europa – das ist zumindest mein
sind, dass bei solchen Fragen sowohl die Zeit der Ideolo- Eindruck – benötigt Deutschland. Wenn ich an die
gien als auch die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist. nächsten 48 Stunden denke, liegt mir auf der Zunge, zu
Auch das ist eine Lehre aus der Krise. sagen: offenkundig mehr denn je. Europa benötigt inso-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fern auch unsere soziale Marktwirtschaft, die nicht zu-
neten der FDP) letzt der Grund dafür ist, dass Deutschland so stark ist.
Zu dieser sozialen Marktwirtschaft – ich sage das sehr
Die Einheit des Euro-Raums – was aus meiner Sicht deutlich – gehören neben Freiheit auch Spielregeln und
das Minimum sein müsste –, besser noch die Einheit soziale Gerechtigkeit.
Europas, sollte in dieser Frage unser Maßstab und Ziel
sein. Es sind schon viele Zahlen genannt worden; ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
greife nur eine heraus: Zwei Drittel des Handelsumsat- DIE GRÜNEN)
zes der europäischen Börsen – da bin ich noch nicht in
Wer von uns also erwartet, dass wir in einer schwieri-
New York, Schanghai oder Hongkong – entfallen auf die
gen Situation zu Europa stehen – ich vermute, die Mehr-
Börsen in London und Madrid. Das heißt, wenn Großbri-
heit dieses Hauses wird dies in den nächsten Stunden
tannien und Spanien nicht mitmachen, bleibt dieser
tun – und dass wir für unsere Währung Euro einstehen,
europäische Tiger, den wir zu schaffen versuchen, zahn-
der muss auch akzeptieren, dass wir bei den Regeln für
los. Wir wissen auch, dass die Deutsche Börse in
die Finanz- und Wirtschaftsordnung in Europa ein kräfti-
Frankfurt nicht einmal einen Anteil von 10 Prozent am
ges Wörtchen mitreden möchten. Die Menschen in
europäischen Börsenumsatz macht. Wir sind also gut be-
Deutschland erwarten von uns zu Recht, dass wir, wenn
raten, die Bundesregierung dabei zu unterstützen, inter-
wir aus Überzeugung für Europa werben, auch in ande-
nationale Lösungen – zumindest im Euro-Raum, besser
ren Bereichen unsere Positionen durchsetzen, die zur
noch in ganz Europa – herbeizuführen.
Vermeidung einer neuen Krise notwendig sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Wir erwarten hier von unseren europäischen Partnern
und Freunden – ich sage das sehr klar und glaube, dass
Weil ich den Eindruck habe, dass wir Deutsche hier dies auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in
unsere Position offensiv vertreten müssen, will ich sehr Deutschland, völlig unabhängig von der Parteiorientie-
deutlich machen: Wir von der CDU/CSU sind nicht be- rung, so sieht –, dass sie die berechtigte Interessenlage
reit, zu akzeptieren, dass auf der einen Seite Triple-A- Deutschlands respektieren und sich in der Frage einer in-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13003
Dr. Frank Steffel
(A) ternationalen europäischen Finanztransaktionsteuer dem Ich möchte noch auf etwas anderes eingehen. Es ist (C)
Vorschlag von Frankreich, Österreich und Deutschland erfreulich, zu hören, dass der Bundesfinanzminister, der
anschließen. Nach einer europäischen Lösung – auch das sich hierzu unterschiedlich deutlich ausgesprochen hat,
sollte heute betont werden – muss es unser Ziel sein, von Teilen der Koalition unterstützt wird. Auch bei der
eine internationale Regelung in Nordamerika und in vie- Bundeskanzlerin gab es ein Hin und Her;
len anderen Ländern dieser Erde durchzusetzen. Denn
(Joachim Poß [SPD]: Vorsichtshalber bleibt sie
nur internationale Regeln schützen uns vor einer erneu-
weg, um die Reden nicht zu hören!)
ten Finanzkrise.
auch sie hat sich in diese Richtung geäußert. Hier bedarf
Der Grund für den Dissens in der Debatte, Herr Kol- es weiterer Unterstützung. Wir sind auch deshalb noch
lege Wissing, war – das war zumindest mein Eindruck –, nicht weiter, weil aus der Regierungskoalition keine ein-
dass einige Ihnen unterstellt haben, Sie würden nicht für heitliche Unterstützung kommt. Da wollen wir gemein-
internationale Regeln einstehen. Natürlich sind wir in sam nachhelfen. Wir hoffen – diese Hoffnung gebe ich
der Koalition gemeinsam der Auffassung, dass auf inter- noch nicht auf; denn die Debatte ist noch nicht zu
nationaler Ebene Lehren aus dieser Finanzkrise gezogen Ende –, dass wir hier einen Schritt weiterkommen.
werden müssen. Da schaden nationale Alleingänge.
Denn bei aller Bedeutung der Finanztransaktionsteuer: Ich will einige Punkte ansprechen, die missverstanden
Sie wird nicht alle Probleme, die im Rahmen der Finanz- worden sind. Herr Michelbach hat sich dahin gehend ge-
krise aufgetreten sind, lösen können. Sie wäre aber ein äußert – das ist der erste Aspekt –, wir als SPD wollten
ergänzender Baustein neben vielen anderen Dingen, die diese Steuer national einführen. In unserem Antrag wird
wir gemeinsam in den letzten Jahren angegangen sind, klar, dass eine internationale Einführung richtig wäre.
und insofern ein weiterer Schutz vor einer möglichen Ich muss an dieser Stelle aus unserem Antrag zitieren
nächsten Krise. Deshalb unterstützen wir die Bundes- – denn er ist offensichtlich nicht gelesen worden –:
regierung in ihrer Position, europäische Regelungen zu Die Gesetzesinitiative soll so ausgestaltet sein, dass
erreichen und dann daran zu arbeiten, sie international sie sich in der Europäischen Union …, notfalls aber
durchzusetzen. vorerst allein in der Euro-Zone oder in einem Zu-
Herzlichen Dank. sammenschluss von mehreren Einzelstaaten einfüh-
ren lässt …
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Darum geht es uns; das ist der Weg.
Dazu sage ich: Mit den Worten „mehrere Einzelstaa-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ten“ sind nicht nur Deutschland, Frankreich und Öster-
(B) Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak- (D)
reich gemeint, sondern es sollte auch bekannt sein, dass
tion. Belgien, Luxemburg, Finnland und außerhalb des EU-
Raums auch Norwegen diesen Weg mitgehen würden.
(Beifall bei der SPD)
Von daher gibt es hierfür eine breite Basis. Diese Chance
muss ergriffen werden. Das ist der Kern des Antrags.
Dr. Carsten Sieling (SPD): Darum geht es.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD)
Diese Debatte hat uns in ihrem Verlauf leider gezeigt
– das wissen wir eigentlich schon –, wie der Zustand die- Der zweite Aspekt ist der Prüfbericht. Es war gestern
ser Regierungskoalition ist und in welch unterschiedli- im Finanzausschuss toll, Herrn Wissing und Kommissar
chen Tonarten dort gesprochen wird. Ich will das aber Semeta nebeneinander sitzen zu sehen. Ich bewundere
gar nicht weiter vertiefen, weil ich dann meine wertvolle Herrn Wissing dafür, dass er gestern die Nerven behalten
Redezeit auf die FDP verwenden müsste. Meine Rede- hat.
zeit beträgt sieben Minuten. Diese Zahl ist Gott sei Dank (Joachim Poß [SPD]: Es ist unglaublich, dass
höher als die Prozentzahl, die die FDP bei einer Wahl Sie Herrn Wissing bewundern!)
bekäme.
Eigentlich hätte er aus dem Hemd springen müssen;
Ich möchte gerne aufgreifen, was mein Vorredner, denn der Kommissar der Europäischen Union hat ges-
Herr Steffel, deutlich gemacht hat, und an seine Rede an- tern deutlich gemacht, dass die EU-Kommission nicht
knüpfen. Wir als Sozialdemokraten haben den vorliegen- mehr an der Finanzaktivitätsteuer festhält, die die Bun-
den Antrag nicht eingebracht, um dieses Thema zu ver- desregierung dankenswerterweise ablehnt und für die es
einnahmen. Dafür sind dieses Thema und die damit in hoffentlich keine Mehrheit gibt, sondern jetzt vorurteils-
Verbindung stehende Aufgabe zu wichtig. Wir haben das frei die Finanztransaktionsteuer prüfen will.
Ganze im Zusammenhang mit der Bewältigung der euro-
päischen Krise und der Beteiligung des Finanzsektors an Er hat zu dem wichtigen Thema der Gefahr der Ab-
den Kosten dieser Krise zu sehen. Das müssen wir errei- wanderung erklärt, dass wir uns nicht damit aufhalten
chen. Das wollen wir über eine Finanztransaktionsteuer sollten, darüber zu jammern und es als Gegenargument
hinbekommen. Daher ist es richtig, wenn hier eine sol- zu strapazieren, sondern dass die Kommission versucht,
che Tonart angeschlagen wird. Wege zu finden, wie man diese Abwanderung einhegen
kann, wie man dafür sorgen kann, dass die Transaktio-
(Beifall bei der SPD) nen besteuert werden, ohne dass es zu Abwanderungen
13004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Carsten Sieling


(A) kommt. Einen solchen Weg muss man gehen. Das ist ein Haushalt geben soll. Ich sage nur: Die UMP, Ihre (C)
konstruktiver Umgang damit. Schwesterpartei in Frankreich, geht da einen Schritt wei-
ter. Sie lehnen dies hier vehement ab. Auch das sollte Sie
Herr Wissing, statt hier Ihre Märchenstunde über die
zum Nachdenken bringen.
Vergangenheit abzuhalten, die offensichtlich nur Sie sel-
ber und ein paar FDPler erlebt haben, wäre es besser ge- Ich hätte mich gefreut, wenn Sie diesen Schritt ge-
wesen, dies zu sagen und deutlich zu machen; denn das macht hätten. Sie können das hier nachholen, indem Sie
hätte auch Ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Ich erwarte, dass heute unserem Antrag zustimmen. Wenn Sie hier und
Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses – das sind Sie heute einen eigenen Antrag – wortgleich mit unserem –
noch – die Debatten kennen. Sie haben uns an einer Stelle eingebracht hätten, dann hätten wir auch Ihrem Antrag
Unglaubwürdigkeit vorgeworfen: Wir würden sagen, zugestimmt, und wir hätten die Situation, dass nicht nur
dass der Finanzsektor nicht vernünftig besteuert wird, die Franzosen in ihrer Nationalversammlung, –
und das sei falsch. Die EU-Kommission befasst sich aber
deshalb mit diesem Thema, weil festgestellt worden ist Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
– Kollege Schick hat dies dargestellt –, dass der Finanz-
sektor im Bereich der Umsatzbesteuerung ausgespart Herr Kollege.
werde, dass dies – so steht es in Vorlagen der EU-Kom-
mission – eine Unterbesteuerung des Finanzsektors be- Dr. Carsten Sieling (SPD):
deute und dass man das korrigieren wolle. Ich erwarte, – sondern hoffentlich auch wir hier die Finanztransak-
Herr Wissing, dass Sie als Vorsitzender des Finanzaus- tionsteuer auf den Weg bringen könnten. Das braucht
schusses das wissen und uns hier nichts vorwerfen, son- Deutschland dringend, das braucht Europa dringend, und
dern endlich klar die Wahrheit sagen und sich dazu be- das brauchen auch die Menschen in unseren Ländern.
kennen, dass Sie – und nicht wir mit unserem Antrag – auf
dem Holzweg sind. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD – Christian Lange [Back-
nang] [SPD]: Wo ist eigentlich der Herr
Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren, sich Michelbach geblieben?)
wirklich zu überlegen, wie Sie sich in dieser Sache ver-
halten und damit umgehen wollen. In dieser Minute
– das ist wahrscheinlich einmalig – führt die französi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sche Nationalversammlung auf der Grundlage eines Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.
gleichlautenden Antrages die gleiche Debatte wie wir. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Ich finde, das ist ein großer Schritt. Ich hoffe, dass wir (D)
einen solchen Gleichschritt, wie wir ihn jetzt mit unseren
Parteien hinbekommen haben, auch zwischen Deutsch- Björn Sänger (FDP):
land und Frankreich erreichen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das deutsch-französische Verhältnis ist natür-
Richtig überraschend und positiv ist aber, dass sich lich wichtig und verdient eine besondere Pflege. Es ist
vorgestern die UMP, die konservative Partei Frank- auch begrüßenswert, wenn solche Initiativen in beiden
reichs, die Partei des Präsidenten Sarkozy, dem Antrag Parlamenten zeitgleich beraten werden. Das bedeutet
der Sozialisten in Frankreich, der dem Antrag der So- aber natürlich nicht, dass man die Dinge hier unkritisch
zialdemokraten in Deutschland entspricht, angeschlos- durchwinkt, sondern man sollte schon einen kritischen
sen hat. Blick auf das werfen, was hier vorgelegt wurde.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war ein
Sie schreiben in Ihrem Antrag als erste These, dass
eigener Antrag!)
der Finanzsektor keinen seiner Bedeutung entsprechen-
– Herr Brinkhaus, ich bedanke mich für die Detailkor- den Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leistet.
rektur, die aber im Kern nichts ändert. Es wurde ein ei- Das steht auf der ersten Seite. Da habe ich mich gefragt,
gener Antrag eingebracht, so wie man das parlamenta- wie es eigentlich um die Körperschaftsteuer, die Gewer-
risch macht; aber er ist im Kern wortgleich. besteuer und auch die Einkommensteuer bei den Mana-
gern jener Unternehmen steht; denn hier wird ja nach
Er sieht übrigens einen Steuersatz von 0,05 Prozent Leistungsfähigkeit besteuert. Dass da keiner einen seiner
– Herr Michelbach hat dies hier noch bekrittelt – und Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des
eine breite Bemessungsgrundlage vor. Es gibt aber eine Gemeinwesens leistet, kann man sicherlich nicht sagen.
Differenz: Die Einnahmen sollen nicht unbedingt in den
nationalen Haushalt eingestellt werden, wofür wir hier Die Lösung aus Ihrer Sicht ist eine Finanztransaktion-
sind, sondern die UMP schreibt, dass dieses Geld insbe- steuer, die – das haben Sie ja selber im Laufe der Debatte
sondere für Entwicklungshilfe und den Kampf für Kli- mehrfach gesagt – wie eine Umsatzsteuer wirkt. Sie soll
maschutz eingesetzt werden soll. aber die Verursacher treffen. Wenn man eine solche
Steuer einführen möchte, dann muss man Pro und Kon-
(Beifall bei der SPD)
tra abwägen. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob sie das
Ich teile das von der inhaltlichen Seite her. Das könnte geeignete Instrument ist, um dieses Ziel zu erreichen.
eine Verwendungsmöglichkeit sein. Wir sagen aber Wen wollen Sie denn damit treffen? Angesichts der Im-
trotzdem, dass es eine Vereinnahmung in den nationalen mobilienblase in den Vereinigten Staaten, die man si-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13005
Björn Sänger
(A) cherlich als krisenursächlich ansehen kann, frage ich Am Ende würde eine derartige Steuer möglicherweise (C)
mich, ob Sie die Clinton-Administration treffen wollen, mehr schaden als nutzen.
(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Mein Gott, Damit komme ich zur Frage der Abwanderung. Das
Junge!) ist aus meiner Sicht als jemand, der aus Hessen kommt
– Frankfurt liegt schließlich in Hessen –,
die hinsichtlich der Hypothekenkredite in den Vereinig-
ten Staaten einen Fehler gemacht hat. Oder wollen Sie (Kerstin Tack [SPD]: Da hat er mal etwas
vielleicht die Landesbanken treffen, die die Krise nach Wahres gesagt!)
Deutschland importiert haben, oder am Ende gar die
das größte Problem. Wenn Sie eine solche Steuer nur in
Sparkassenvorstände, die in den Aufsichtsräten der Lan-
der Euro-Zone einführen wollen, dann ist der Finanzplatz
desbanken agiert haben?
London davon nicht betroffen. In den Millisekunden, in
Das alles werden Sie mit der Finanztransaktionsteuer denen diese Geschäfte stattfinden, Herr Dr. Troost, kann
nicht schaffen. Im Gegenteil: Sie werden wie bei jeder man auch den Handelsplatz ändern.
Umsatzsteuer erreichen, dass die Belastung letzten En-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das
des an den Anleger durchgereicht wird. Dabei entsteht
auch nicht!)
auch – das schreiben Sie sogar in Ihrem Antrag, und es
blieb im Übrigen damals in der Anhörung unwiderspro- Das ist ein einfacher Klick im Programm, und schon fin-
chen – ein gewisser Effekt für die Arbeitnehmer, zum det die Transaktion in London statt. Damit haben Sie
Beispiel auf ihre Pensionskassen, und für die Riester- letztlich keines Ihrer Ziele erreicht, weil die Spekulation
Sparer. und der Handel mit Finanzprodukten dort weiterlaufen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Wir unterstützen selbstverständlich eine Prüfung und
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch end- gründliche Aufarbeitung aller Punkte, die ich eben ge-
lich mit dem Unsinn auf! – Dr. Carsten Sieling nannt habe, um zu einer vernünftigen Datenbasis zu kom-
[SPD]: 70 Euro in 20 Jahren!) men und zu erkennen, ob das Instrument sinnvoll ist. Wir
wollen aber keine Einführung einer solchen Steuer unter-
Denn wenn die Vermögen entsprechend umgeschlagen
halb der Europäischen Union. Wenn überhaupt, dann
werden, fällt auch diese Steuer an. Das kann das Endver- wäre die Ebene der G 20 sinnvoll. Ich glaube aber, das ist
mögen um 6 bis 9 Prozent mindern.
ausgeschlossen, wobei man auch da sagen kann, dass
Die Frage ist, ob man damit wirklich die Finanz- dann möglicherweise der 21. kommt, der Regulierungs-
märkte erreicht. Werden diese an der Krise beteiligt? arbitrage schafft.
Reichen die Maßnahmen, die die Bundesregierung zum Unterhalb der Europäischen Union bzw. ohne den (D)
(B)
Beispiel mit der Bankenabgabe eingeleitet hat, nicht aus, Finanzplatz London werden wir die Steuer nicht einfüh-
um den Sektor entsprechend an der Krise zu beteiligen? ren können, und wir werden dies auch nicht wollen.
Des Weiteren möchten Sie die Finanztransaktion- Herzlichen Dank.
steuer zur Bekämpfung der Armut heranziehen. Das ist
ein hehres, richtiges und gutes Ziel. Die Frage ist aber, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
was Sie mit dem Geld machen wollen. Wollen Sie damit der CDU/CSU)
die Krisenkosten bezahlen oder die Armut bekämpfen?
Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben; es sei denn, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie beherrschen die Kunst der wundersamen Geldver- Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die
mehrung. Fraktion Die Linke.
Das Ziel, das Sie mit dieser Steuer verfolgen, ent- (Beifall bei der LINKEN)
spricht dem Ziel, das Sie eigentlich immer verfolgen,
nämlich Abkassiererei. Sie stellen damit Ihr Ziel in eine
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Linie mit Ihren bisherigen Vorhaben: Trinken für die
Truppe, Rauchen für die Rente und jetzt Spekulieren ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gen Hunger. Wir begrüßen ausdrücklich diese zeitgleiche Debatte
hier und im französischen Parlament. Die Forderung
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was sagt nach einer Finanztransaktionsteuer, für die wir schon vor
eigentlich die Bundesregierung zu so einer der Finanzkrise eingetreten sind, ist inzwischen breit in
Rede? Das ist ja unglaublich!) der Bevölkerung und auch in diesem Haus verankert.
Dem ist eine lange Vorarbeit vorausgegangen. Zunächst
Die nächste Frage, die sich mir stellt, ist, ob die Len-
wurde die Forderung vor allem von Attac erhoben, in-
kungswirkung, die Sie dieser Steuer unterstellen, über-
zwischen unterstützt sie ein breites Bündnis von 82 Or-
haupt eintreten wird. Manche Ökonomen sagen, dass Sie
ganisationen in der Kampagne „Steuer gegen Armut“.
damit Liquidität aus dem Markt herausziehen und die
Dieses Engagement will ich hier ausdrücklich würdigen.
schnelle Informationsweitergabe bei Fehlbewertungen
am Markt beseitigen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Herr Sänger, wer hat Ihnen denn das Auch international ist die Stimmung gut: Neben
gesagt?) Frankreich sind inzwischen auch viele andere Länder zu
13006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Axel Troost


(A) der Einführung bereit. Das Europäische Parlament – das sondern auch ihre unhaltbaren Positionen ausrangieren, (C)
ist heute noch nicht erwähnt worden – hat am 8. März damit wir weiterkommen.
mit der deutlichen Mehrheit von 78 Prozent für die Ein-
führung dieser Steuer gestimmt. Die traditionell eher (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
links angesiedelte Forderung wird inzwischen also auch NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
breit von Konservativen in Europa befürwortet. Vorges- ten der SPD)
tern, am Dienstag, hat Kommissionspräsident Barroso Ich habe schon einmal in einer Debatte zu diesem Thema
gesagt: gesagt: Es kann nicht sein, dass der Schwanz FDP in die-
Ich bin für eine Finanzmarkttransaktionsteuer und ser Frage mit dem Hund, dem gesamten Parlament, wa-
werde dazu in sehr naher Zukunft einige Ideen ein- ckelt.
bringen. (Björn Sänger [FDP]: Da können Sie mal
Nun haben wir gehört, dass uns der zuständige EU- sehen, wie viel Einfluss wir haben!)
Kommissar, Herr Semeta, der gestern bei uns war, zuge- Wenn es stimmt, dass die FDP und die CDU/CSU eine
sichert hat, dass eine unvoreingenommene, ergebnis- gemeinsame Fraktionsklausur abhalten wollen, dann
offene Prüfung vorgenommen wird. Ich selbst bin Volks- kann ich die CDU/CSU nur bitten, die FDP in dieser
wirt und kenne die Kolleginnen und Kollegen und die Frage wieder an die Leine zu nehmen, damit man mit ge-
Mehrheiten. Wenn die Mehrheit derjenigen, die prüfen, meinsamen Positionen vorangehen kann.
aus Personen besteht, die seit 20 Jahren sagen, die Fi-
nanzmärkte seien das Effektivste und Finanzkrisen Das zweite Problem ist die Frage, auf welcher Ebene
könnten nicht vorkommen, dann ist zumindest nicht si- die Steuer eingeführt werden soll und wie groß die Zu-
cher, ob diese Personen ihre Meinung wirklich so schnell stimmung zu der Einführung der Steuer sein muss. Wenn
ändern. Oder – um es an einem einfachen Beispiel deut- man die Zustimmung aller 27 EU-Staaten fordert, dann
lich zu machen –: Wenn Sie dem sehr berühmten Profes- ist das aus unserer Sicht eher unrealistisch. Es muss da-
sor „Un-Sinn“ rum gehen, mit dem Kern, Frankreich, Österreich und
anderen, zu schauen, insbesondere noch Großbritannien
(Heiterkeit bei der LINKEN und dem BÜND- ins Boot zu bekommen, um dann die Steuer einzuführen.
NIS 90/DIE GRÜNEN) Es muss darum gehen, eine Koalition williger Staaten
den Auftrag geben, unvoreingenommen und ergebnis- hinzubekommen, die dann entsprechend handelt. Was
offen eine Prüfung durchzuführen, dann wissen Sie, was wir wirklich brauchen, ist ein Vorratsbeschluss des Deut-
das Ergebnis ist: Unsinn! schen Bundestages, der dokumentieren würde, dass die
Bundesrepublik wie Frankreich, Belgien und Österreich
(B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- sofort eine solche Steuer einführen würde. (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir Bundestagsabgeordnete sind nicht dazu gewählt
worden, Unsinn zu machen, sondern wir sind gefordert, Lassen Sie mich noch etwas zu den Einnahmen aus
Politik zu machen. In diesem Zusammenhang möchte dieser Steuer sagen. Eine Finanztransaktionsteuer – das
ich ausdrücklich die Rede von Herrn Steffel begrüßen wissen alle, die sich damit beschäftigt haben – bringt
und sagen, dass nahezu Einmütigkeit herrscht, dass weit mehr Einnahmen als die von Schäuble veranschlag-
Druck ausgeübt werden muss und wir deutlich machen ten 2 Milliarden Euro. Insofern ging es nie um so etwas
müssen, dass wir als deutsches Parlament der Ansicht wie ein Instrument zur Finanzierung von Steuersenkun-
sind, dass diese Steuer auf europäischer Ebene breit ein- gen für Hoteliers; die Finanztransaktionsteuer ist viel-
geführt werden muss. mehr traditionell eine Steuer zur Finanzierung globaler
Angelegenheiten wie Entwicklungshilfe oder Umwelt-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem und Klimaschutz.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Die Bundesregierung bemüht sich in der Tat, bei die-
ser Einigung voranzukommen, und dafür loben wir sie. Und das ist auch richtig so.
Aber mein Eindruck ist bisher, dass es zwei große Pro- Seit 40 Jahren haben alle Bundesregierungen das Ver-
bleme gibt. Das erste Problem ist die FDP. sprechen gebrochen, 0,7 Prozent des Bruttonationalein-
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da haben wir es kommens für Entwicklungshilfe zu verwenden. Eine
wieder!) Mehrheit von 353 Bundestagsabgeordneten, darunter
also auch Mitglieder der Regierungskoalition, unter-
Das ist heute sehr deutlich geworden. Ich will auf die stützt inzwischen einen Aufruf zur Erfüllung dieses Ver-
Beiträge gar nicht eingehen. Es war nur peinlich, was sprechens. Mit einer Finanztransaktionsteuer wäre dies
Herr Sänger hier vorgetragen hat. problemlos finanzierbar. Es ist schon wichtig, das hier
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das noch einmal zu betonen. Das heißt nicht, dass diese
stimmt allerdings!) Steuereinnahmen nicht in den Haushalt fließen. Das
heißt auch nicht, dass darüber hinausgehende Einnah-
Es ist wirklich so: Die FDP steht auf völlig verlorenem men aus dieser Steuer nicht für eine nachhaltige Politik
Posten und sollte nicht nur ihre Führungsmannschaft, in der Bundesrepublik selbst genutzt werden können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13007
Dr. Axel Troost
(A) Die Bundesregierung sollte in enger Abstimmung mit Die Bundesregierung findet nicht schrecklich viele Part- (C)
der französischen Regierung und koordiniert mit ande- ner für dieses Projekt. Sie wissen darüber hinaus, dass
ren Regierungen noch in diesem Jahr eine Gesetzesini- wichtige europäische Länder gegen dieses Projekt sind.
tiative für eine europäische Finanztransaktionsteuer vor- Insofern ist Ihr Antrag an dieser Stelle fehlgeleitet. Was
legen und dann in der Tat – ich stimme Herrn Steffel Sie formulieren, ist nicht richtig.
völlig zu – auch international, etwa im G-20-Rahmen,
versuchen, andere davon zu überzeugen, dass das Erhe- Zweitens. Sie fordern eine Finanztransaktionsteuer in
ben dieser Steuer eine sinnvolle Maßnahme ist. Wir soll- Höhe von 0,05 Prozent. Sie müssen uns jetzt auch ein-
ten versuchen, noch vor der Sommerpause einen ent- mal begründen, wie Sie auf diese Zahl kommen. Herr
sprechenden Vorratsbeschluss hier im Bundestag zu Troost ist hier einmal durch die Gegend gelaufen und hat
fassen. 0,01 Prozent gefordert.

Danke schön. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: National!)

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Es gibt NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE 0,1 Prozent fordern. Dieser Steuersatz ist durchaus er-
GRÜNEN) heblich. Wenn nämlich ein zu niedriger Steuersatz ge-
wählt wird, dann werden wir kein Steuersubstrat erzie-
len. Wenn ein zu hoher Steuersatz gewählt wird, dann
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
werden wir die Geschäfte, die wir besteuern wollen, im
Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/ Zweifel in andere Länder vertreiben, und zwar in solche,
CSU-Fraktion. in denen diese Steuer nicht erhoben wird. Das gilt es zu
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bedenken. Das konnten Sie nicht ausräumen.
der FDP)
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dazu gibt es eine
Studie! – Weitere Zurufe von der SPD)
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Steuer auf
möchte zwei Vorbemerkungen machen: Wertpapiergeschäfte, auf Derivate, auf Devisentransak-
tionen erhoben wird. Das kann man machen. Ich hätte
Erstens. Ich glaube, dass eine gut organisierte, inter- mir gewünscht, dass Sie erklären – schließlich wollten
national möglichst breit angelegte Finanztransaktion- Sie mit diesem Antrag etwas Neues einbringen –, warum
steuer nicht dazu führen wird, dass der Finanzplatz Sie genau diese Abgrenzung vornehmen. Sie sagen: Wir
Deutschland ernsthafte Probleme bekommt. Ich bin des- wollen börsliche und nichtbörsliche Geschäfte besteu-
(B) wegen der Meinung, dass die eine oder andere Aufre- ern. Auch da müssen Sie mir noch erklären, wie das ad- (D)
gung an dieser Stelle übertrieben ist. ministrierbar sein soll. Wie soll zum Beispiel die Ver-
Zweitens. Ich bin der Meinung, dass das Konstrukt waltung von nichtbörslichen Geschäften aussehen? Das
Finanztransaktionsteuer völlig überschätzt wird. Man ist durchaus eine große Herausforderung.
konnte hier hören, welche Einnahmen damit erzielt wer- Sie sagen, meine Damen und Herren von der SPD,
den sollen, was damit gemacht werden soll: Der Hunger dass diese Steuer im ersten Schritt dazu genutzt werden
und die Armut in der Welt sollen damit bekämpft wer- soll, die nationalen Haushalte zu stärken. Das kann man
den; die Umwelt soll gerettet werden. machen. Damit befinden Sie sich im Widerspruch zu den
(Björn Sänger [FDP]: Spannung, Spiel und Nichtregierungsorganisationen, auch zu einzelnen Par-
Schokolade!) teien, die dezidiert fordern, dass dieses Geld zur Rettung
der Umwelt und des Klimas, zur Bekämpfung des Hun-
Ich glaube, das ist illusorisch. Es ist auch illusorisch, zu gers und für die Dinge, die ich eben benannt habe, ver-
glauben, dass wir mit einer lokal begrenzten Finanz- wandt wird. Sie müssen auch beantworten, warum Sie zu
transaktionsteuer eine Lenkungswirkung in der Form er- dieser Schlussfolgerung gekommen sind.
zielen, dass unerwünschte Geschäfte von den internatio-
nalen Finanzmärkten verschwinden. Ich finde es Sie sagen: Wir bauen eine Kaskade auf. Die Steuer
befremdlich, mit welcher teilweise geradezu religiösen soll möglichst in der Europäischen Union gelten, wenn
Inbrunst dieses Thema vorangetragen wird. Ich erkenne das nicht klappt, im Euro-Raum und sonst in einer Ko-
den guten Willen, insbesondere bei einigen Nichtregie- alition der Willigen. Herr Sieling von der SPD hat ge-
rungsorganisationen; aber ich sehe auch sehr viel Naivi- rade aufgeführt, wer zu dieser Koalition der Willigen,
tät. die das einführen wollen, gehören könnte. Aber Sie müs-
sen die Frage beantworten: Was ist, wenn Großbritan-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nien, der Finanzplatz London, nicht mitmacht? Dann be-
der FDP) kommen wir ein erhebliches Problem. Was machen wir,
Zu Ihrem Antrag. wenn die Schweiz nicht mitmacht, wovon auszugehen
ist? Diese Fragen sind unbeantwortet geblieben.
Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich zu-
sammen mit den europäischen Partnern für eine Initia- Zum Schluss – ich weiß nicht, warum Sie das vorge-
tive zur Finanztransaktionsteuer einzusetzen. Meine Da- sehen haben – fordern Sie, dass das Parlament über den
men und Herren von der SPD, Sie wissen: Die Prozess der Entscheidungsfindung zeitnah und umfas-
Bundesregierung macht das bereits. Sie wissen auch: send zu informieren ist. Das ist ein selbstverständliches
13008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ralph Brinkhaus
(A) parlamentarisches Recht. Aber vielleicht war einfach Aber wir befinden uns in einer Koalition. Ich glaube, es (C)
noch ein bisschen Platz auf dem Papier, sodass Sie das ist auch ganz gut und richtig, dass die FDP nicht immer
hinzugefügt haben. einer Meinung mit uns ist und andere Akzente setzt. Das
war übrigens in der Großen Koalition mit Ihnen, Herr
Wenn ich das alles einmal zusammenfasse, dann muss Poß, genauso der Fall.
ich sagen: Ich halte es – das ist sehr ernst gemeint – für
eine sehr gute Idee, etwas zusammen mit den französi- (Joachim Poß [SPD]: Das hat aber nicht zu Hand-
schen Parlamentariern zu machen. Ich glaube, das soll- lungsunfähigkeit geführt wie bei Ihnen!)
ten wir an der einen oder anderen Stelle öfter machen,
und zwar deswegen, um einen Gegenpol zum Europäi- In einer Koalition muss man sich einfach einigen und
schen Parlament zu bilden und um die Bedeutung der na- Kompromisse finden. Ich glaube, die Regierung hat ei-
tionalen Parlamente herauszustellen. Ich glaube, das ist nen guten Kompromiss gefunden und vertritt diese Linie
wichtig und gut. eigentlich ganz gut.
(Joachim Poß [SPD]: Wir haben aber
Dieser Antrag eignet sich nur bedingt dafür, weil Sie
gehandelt!)
mit Ihrem Antrag nichts wirklich Neues liefern,
Das kann es also auch nicht sein.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das sieht Ihre
Fraktionsfreundin ganz anders!) Meine dritte These ist – das ist die These, die am
schlagendsten ist –, dass die SPD einfach mal ein finanz-
weil Sie Dinge bekräftigen, die schon geschehen, weil politisches Lebenszeichen von sich geben wollte.
Sie viele Fragen unbeantwortet lassen und weil dieser
Antrag, bei allem Respekt, handwerklich noch eine (Zuruf von der FDP: Ja!)
Menge Potenzial nach oben hat. Insofern habe ich mir
schon die Frage gestellt: Warum wurde dieser Antrag Denn während diese Bundesregierung und diese Regie-
eingebracht? rungskoalition in den letzten 14 Monaten acht Gesetze
auf den Weg gebracht haben, darunter sehr umfangrei-
Im Übrigen – Sie haben es gestern im Finanzaus- che, innovative Pakete – ob das nun das Verbot der Leer-
schuss gehört –, das Timing ist sehr schlecht, die Euro- verkäufe war oder zum Beispiel das Bankenrestrukturie-
päische Kommission erwartet die Ergebnisse wichtiger rungsgesetz –, wurde in den Diskussionen von Ihrer
Studien in den nächsten Wochen, die uns dann sicherlich Seite, subjektiv gefühlt, immer nur geäußert: Eigentlich
auch weiterbringen. brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer. Mehr ist
nicht gekommen. Das war, subjektiv gefühlt, Ihr Beitrag.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und das Gesetz im
(B) Oktober!) (Zurufe von der FDP und des Abg. Dr. Carsten (D)
Sieling [SPD])
Ich habe mir also die Frage gestellt: Was ist der An-
lass dafür, dass die SPD diesen Antrag eingebracht hat? Jetzt ist es nicht meine Aufgabe, die Oppositionspolitik
Erste Vermutung: Sie wollten als Opposition der Regie- zu bewerten. Aber, ehrlich gesagt, konstruktive Vor-
rung einfach einmal zeigen: Ihr müsst mehr tun. Ich schläge, auch wenn sie nicht gut waren und wir sie nicht
glaube, die Regierung tut eine Menge, und es ist schon teilen, sind leider nicht von der größten Oppositionspar-
erstaunlich, dass es eine christlich-liberale Regierung ist, tei gekommen, sondern von den Grünen. Das ist ein
die das Projekt Finanztransaktionsteuer mit einer derarti- peinliches Beispiel dafür, wie die finanzpolitische Quali-
gen Vehemenz vorantreibt, und nicht eine sozialistische tät und die Situation der SPD momentan sind. Außer Fi-
Regierung. nanztransaktionsteuer fällt Ihnen nichts, aber auch gar
nichts ein.
(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/
CSU] – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wir heute gehört! – Dr. Axel Troost [DIE
Das Schlimme an der Sache ist, dass Sie den Men-
LINKE]: Aber der liberale Teil ist so gut wie
schen damit suggerieren, dass die Regulierung der Fi-
weg!)
nanzmärkte und das Erzielen von Steuersubstrat aus dem
Das kann es also nicht sein. finanzwirtschaftlichen Sektor mal so eben per Feder-
strich durch diese Steuer erreicht werden können. Nein,
Der zweite Punkt ist: Sie wollten vielleicht dezent da- das ist eine mühsame Kärrnerarbeit, das ist ein Kampf
rauf hinweisen, dass unser Koalitionspartner dieses Pro- um jede Regulierung, und das ist ein Kampf um jede
jekt nicht mit der gleichen Begeisterung verfolgt, wie gute Entscheidung. An diesem Kampf haben Sie sich
wir das tun. nicht beteiligt. Das werfe ich Ihnen vor.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das wissen wir ja (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie sind doch der
schon!) Ausfall!)
Dazu muss ich sagen: Das ist Ihnen, wenn ich mir die Sie haben immer nur die Finanztransaktionsteuer ge-
heutige Debatte anschaue, graduell auch durchaus gelun- fordert. Das ist der einzige Beitrag, den Sie hier leisten,
gen. und das ist schlichtweg zu wenig.
(Lachen bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13009
Ralph Brinkhaus
(A) Wie geht es jetzt weiter? Das ist ja die entscheidende Und Kollege Brinkhaus war ein wenig unschlüssig. (C)
Frage. Es geht jetzt so weiter, wie es die Bundesregie-
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Waren Sie
rung, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundes-
vielleicht in einem anderen Plenarsaal?)
kanzlerin angekündigt haben: Wir werden auf europäi-
scher Ebene weiterhin vehement darum kämpfen, dass – Nein, ich war gerade hier. Sie waren ein wenig un-
wir eine vernünftig ausjustierte Finanztransaktionsteuer schlüssig. Sie haben sich nicht so recht geäußert, in wel-
bekommen. Wir werden daran arbeiten. che Richtung Sie denn nun wirklich etwas vorantreiben
wollen. Es war Ihnen irgendwie nicht so ganz klar, wie
(Manfred Zöllmer [SPD]: Kämpfen Sie erst
Sie mit dieser Frage umgehen sollen.
einmal in Ihrer Koalition darum! – Zuruf des
Abg. Joachim Poß [SPD]) (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Vielleicht erläu-
tern Sie erst einmal die Position der SPD!)
Aber wir werden auch darauf achten, dass eine solche
Finanztransaktionsteuer, wenn sie denn eingeführt wird, Deswegen haben Sie versucht, sich an der SPD abzuar-
so organisiert wird, dass danach der Finanzplatz beiten, die selbstverständlich im Finanzausschuss an al-
Deutschland und der Finanzplatz Europa noch Bestand len mit der Finanzmarktregulierung zusammenhängen-
haben und nicht das passiert, was den Schweden Ende den Themen genauso verantwortungsvoll arbeitet wie
der 90er-Jahre passiert ist, als mit viel gutem Willen eine Sie.
ähnliche Steuer eingeführt worden ist, was jedoch zur
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Waren Sie im
Folge hatte, dass daraufhin der Finanzplatz nachhaltig
Finanzausschuss dabei? Es ist schon lange her,
verwüstet worden ist. Das ist nicht der richtige Weg.
dass Sie im Finanzausschuss waren!)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist etwas
– Ich bin stellvertretendes Mitglied des Finanzausschus-
anderes!)
ses. Ich komme gewöhnlich nicht,
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der Weg, den diese (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein, noch
Regierung geht, ist nicht spektakulär, weil Verhandlun- nie!)
gen, die im demokratischen Umfeld stattfinden, nie
spektakulär sind. Dieser Weg ist lang, aber wir werden aber ich habe Zugang zu den Protokollen. Herzlichen
ihn gehen. Ihr Antrag dazu war nett, aber nicht unbe- Dank.
dingt hilfreich.
Vor ungefähr zwei Monaten hat die Frühjahrstagung
Danke schön. von IWF und Weltbank stattgefunden. Im Vorfeld haben
1 000 Ökonomen aus 53 Ländern, darunter Jeffrey Sachs,
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dani Rodrik und Christian Fauliau, einen Aufruf unter- (D)
Joachim Poß [SPD]: Ihre Rede war auch nett, zeichnet, in dem ein Appell an das G-20-Finanzminister-
aber ohne Auswirkungen! Sie war harmlos!) treffen zur Einführung einer internationalen Finanztrans-
aktionsteuer enthalten war. Das hat bedauerlicherweise
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die dort Zusammengekommenen nicht weiter interes-
Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks hat jetzt das Wort siert. In der Unterrichtung des Bundesministeriums der
für die SPD-Fraktion. Finanzen an den Finanzausschuss über die Frühjahrsta-
gung vom 14. bis 16. April in Washington heißt es unter
Dr. Barbara Hendricks (SPD): „Sonstiges“ – man merke: „Sonstiges“ –: Das Thema
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Entwicklung inklusive Financial Transaction Tax spielte
legen! Ihre Rede, Kollege Brinkhaus, stand wohl offen- bei dem Treffen keine größere Rolle.
bar unter dem Obersatz, wie man acht Minuten Redezeit Bedauerlicherweise muss man das feststellen. Genau
füllt, wenn man unschlüssig ist. Ich glaube, das war Ihr hier knüpft der Antrag der SPD an. Wenn wir auf der
Problem. Ebene der G 20 zurzeit nicht vorankommen, dann ist es
(Beifall bei der SPD) nötig, über ein abgestuftes Verfahren, wie wir es im An-
trag dargestellt haben, wie es auch von meinen Vorred-
Es ist in der Tat bemerkenswert, wie sich die Kolle- nern dargestellt worden ist und wie es übrigens auch
gen aus der CDU/CSU-Fraktion bisher verhalten haben; Kollege Steffel als möglich und zielführend – in dieser
Sie, Herr Flosbach, werden ja gleich noch sprechen. Der Reihenfolge natürlich – dargestellt hat, das Thema
Kollege Dr. Steffel ist sehr deutlich geworden und hat, Finanztransaktionsteuer voranzutreiben.
wie ich finde, eine vollkommen klare Linie vertreten.
Selbstverständlich verfolgen wir immer noch das
Diese hat ja die Koalition in der Bundesregierung eigent-
große Ziel, möglichst alle mit ins Boot zu holen. Aber
lich schon beschlossen. Insofern müsste eigentlich auch
wenn das nicht geht, sollten zumindest wir damit anfan-
die FDP sagen: Das ist schon beschlossen. Wir müssen
gen. Eigentlich müssten wir doch davon überzeugt sein,
das mittragen, weil wir in dieser Koalition sind und als
dass dieses Vorhaben, wenn es denn gut ist und ein höhe-
eine der Koalitionsfraktionen die Regierung tragen. –
res Finanzaufkommen ermöglicht, eine Strahlkraft ent-
Kollege Michelbach war ein wenig offen in seinen For-
wickeln wird. Es macht dann auch nichts, wenn der Lon-
mulierungen; nun gut.
doner Finanzplatz nicht von Anfang an dabei ist. Man
(Joachim Poß [SPD]: Das ist aber schon wohl- sollte sich nämlich nur einmal vor Augen führen, dass
wollend formuliert!) Großbritannien bei der Relation der Neuverschuldung
13010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Barbara Hendricks


(A) seines Haushaltes zum Bruttoinlandsprodukt auch nicht Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): (C)
besser dasteht als Griechenland. Großbritannien könnte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
also durchaus auch ein bisschen Geld gebrauchen, um Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sehr inte-
eigene Probleme besser zu lösen. ressant. Aber an dieser Stelle sollte der Bundesregierung
– unserer Bundeskanzlerin, unserem Finanzminister
(Joachim Poß [SPD]: Das ist wohl wahr!) Schäuble –, auch vonseiten der Opposition, dafür ge-
Ich will nur, vorsichtig und ohne den Briten zu nahe tre- dankt werden, dass sie bei jeder internationalen Tagung
ten zu wollen, die Daten vor diesem Hause einmal deut- deutlich macht, dass die große Mehrheit der Deutschen
lich machen. Wenn Aufkommen auf vernünftige Art und für eine Finanztransaktionsteuer ist, und dass sie diese
Weise erzielbar ist, wird das seine Strahlkraft entwi- Steuer weltweit, unter den G 20, in Europa oder wo auch
ckeln. immer einführen will. Das ist unser gemeinsames Anlie-
gen, auch in diesem Parlament. Insbesondere die Regie-
Selbstverständlich wird das Aufkommen – da muss rungskoalition hat dies deutlich gemacht, indem sie
ich Ihnen widersprechen, Kollege Brinkhaus – dem 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt hat.
deutschen Bundeshaushalt zugeführt, und die Verwen- (Beifall bei der CDU/CSU)
dungszwecke werden dann in diesem Parlament festge-
legt, auch zugunsten von Entwicklung und Klimaschutz, Damit haben wir ein Ziel formuliert, auch wenn uns be-
und zwar in den jeweiligen Haushalten. Uns liegt daran, wusst ist, dass es weltweit große Widerstände und
dass es ein nationales Aufkommen ist, selbstverständlich Schwierigkeiten, die Steuer durchzusetzen, gibt.
auch mit internationalen Verwendungszwecken, die (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie haben sie
durch dieses Parlament, durch diesen Haushaltsgesetz- wieder rausgenommen!)
geber zu bestimmen sind. Es soll keine europäische
Steuer mit europäischem Aufkommen definiert werden. Ich finde es auch gut, dass beispielsweise die Parla-
So ist das zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir den mente in Frankreich und in Deutschland – wir haben ja
NGOs widersprechen würden; im Gegenteil. einen relativ engen Kontakt zu den Franzosen – sowie
Präsident Sarkozy sich dieses Themas angenommen ha-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben und dass wir dieses Thema in der Europäischen
der LINKEN) Union federführend vorantreiben. Der heute vorliegende
Antrag der SPD ist im Grunde eine Bestätigung der Re-
Ich möchte mich noch kurz mit der heutigen Debatte
gierungspolitik.
auseinandersetzen. Der Kollege Volker Wissing hat wie
immer nach dem Motto agiert: Frechheit siegt. Damit hat (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wenn die FDP Ih-
er zu verbergen versucht, dass er die Finanztransaktion- nen nicht hilft, müssen wir es machen, Herr
(B) (D)
steuer eigentlich nicht will. Er sagt das nur nicht deut- Flosbach!)
lich, weil er sich nicht offen gegen die Koalitionsräson
Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, über dieses
stellen kann. Aber es kommt klar genug zum Ausdruck.
Thema zu diskutieren; deswegen haben wir dazu keinen
Da war es doch gut, dass der Kollege Dr. Steffel seinem
eigenen Antrag eingebracht.
Koalitionspartner Wissing einen Grundkurs in sozialer
Marktwirtschaft gegeben hat. Das hat mich gefreut, Kol- Ihre Worte, Herr Sieling, waren natürlich viel schärfer
lege Steffel. Es hat aber leider nicht geholfen. Denn als der Inhalt Ihres Antrages. Es ist ein relativ ruhiger
schon der FDP-Kollege Sänger war, ebenso wie einige Antrag. Sie sagen: Setzen Sie die Finanztransaktion-
Zwischenrufer aus der FDP, nicht bereit, die in diesem steuer global durch. Wenn das nicht klappt, machen Sie
Grundkurs enthaltene Botschaft zu akzeptieren. es wenigstens in Europa oder, wenn auch das nicht funk-
tioniert, zumindest in der Euro-Zone oder auch nur mit
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Die Botschaft in- Gleichgesinnten. – Das ist natürlich ein bisschen wenig.
tellektuell aufzunehmen! – Joachim Poß Die Einführung beinhaltet ein höheres Risiko, wenn nur
[SPD]: Die sind nicht mal grundkursfähig!) wenige dahinterstehen. Der Kollege Brinkhaus hat ge-
In diesem Zusammenhang möchte ich den Mitglie- rade am Beispiel Schwedens deutlich gemacht, wie in-
dern der FDP – ich meine nicht die Fraktion – zurufen: nerhalb kürzester Zeit 85 Prozent des Marktes eingebro-
chen sind. Das passiert, wenn man es isoliert einführt
Die Abgeordneten, die entsendet werden, sollten über
und nicht mit den anderen abstimmt. Das ist ein großes
eine Grundausstattung an historisch-politischem Wissen
Risiko, dessen wir uns bewusst sind.
und an ökonomischem Wissen verfügen.
Ich glaube jedoch, dass insgesamt die Chance, dieses
Herzlichen Dank. Thema voranzubringen, recht groß ist, und zwar nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur in Europa, sondern auch global. Wir sollten uns ein-
der LINKEN) mal die Länder China, Hongkong, Brasilien, Indien und
Südafrika auf der G-20-Ebene ansehen, die bereits heute
eine Besteuerung ihrer Transaktionen durchführen. Übri-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gens hat auch Großbritannien eine Steuer, eine Stempel-
Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/ steuer, die allerdings auf ansässige oder registrierte Un-
CSU-Fraktion. ternehmen beschränkt ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auch die
neten der FDP) Schweiz!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13011
Klaus-Peter Flosbach
(A) Aber sie haben einen Weg gefunden, eine Besteuerung gen müssen wir darauf achten, dass die Banken hier in (C)
einzuführen, deren Aufkommen immerhin 3,5 Milliar- Deutschland besonders stabil sind.
den Pfund ausmacht.
Die Finanztransaktionsteuer soll auf Umsätze bei-
Warum sind wir im Grunde für eine Besteuerung des spielsweise durch Aktien, Renten, Derivate, Devisen er-
Finanzsektors? Wir haben nicht nur mehrere Krisen er- hoben werden. Das ist hier vorgeschlagen worden. Die
lebt, sondern stecken teilweise noch mittendrin. Wir ha- Europäische Kommission hat gesagt: Das kriegen wir
ben mehrfach überlegt, wie wir den Finanzmarkt durch derzeit nur global hin. Herr Semeta hat gestern bei uns
eine Besteuerung an den Kosten beteiligen können. Hier im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass hier noch
wird über die Finanzaktivitätsteuer, das heißt die Besteu- keine Entscheidung gefallen ist, ob besser die Aktivität-
erung von Gewinnen und Vergütungen, diskutiert. Oder steuer oder die Transaktionsteuer eingeführt werden soll.
soll man den Handel von Papieren im Bereich der Ban- Warum gibt es hier noch Unterschiede? Viele gehen
ken, aber auch der Privatleute besteuern? Wir haben am davon aus, dass man mit einer Finanztransaktionsteuer
Finanzmarkt bisher keine Mehrwertsteuer, die wir in al- auch seinen eigenen Heimatmarkt beschädigen kann,
len anderen Bereichen selbstverständlich erheben. wenn das passiert, was heute in der Finanzwirtschaft
Der erste Gedanke ist natürlich: Die Banken waren vielfach passiert: Im Grunde wird auf den Knopf ge-
die Hauptverursacher der Krise, also müssen wir sie he- drückt, und der Handel findet nicht in Frankfurt, sondern
ranziehen. Nun wissen Sie alle, dass etwa zehn Banken in London, New York, Hongkong oder anderswo statt.
mit recht großen Beträgen gerettet werden mussten. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Aber es ging auch um die anderen Banken, die durch die
Rettung dieser zehn Banken gesichert werden mussten. Das ist eine Problematik, der wir uns stellen müssen.
Deswegen ist es auch so wichtig, Herr Staatssekretär, in-
Jetzt kann man natürlich sagen, dass diese Banken ternationale Verhandlungen zu führen, um die anderen
mehr Steuern zahlen sollten, zum Beispiel über die Akti- mit auf diesen Weg zu nehmen. Es kann nicht sein, dass
vitätsteuer. Das würde heißen, die Gewinne und Vergü- wir unseren Finanzmarkt durch diese Abwanderung
tungen würden noch einmal zusätzlich besteuert. Das schwächen und die anderen dadurch gestärkt werden,
kann ein Weg sein. Aber mit dieser Besteuerung und wie beispielsweise damals in Schweden.
dem damit verbundenen Kumulativeffekt, durch den die
Banken mehrfach belastet würden, würden viele Dinge Bei jeder Besteuerung und jeder Regulierung stellt
nicht umgesetzt werden, die wir mit Blick auf die Regu- sich aber die Frage: Sind sie eigentlich für den eigenen
lierung des Finanzmarktes für wichtig halten. Wir wol- Finanzmarkt richtig? Die Krise hat gezeigt, dass wir gute
len, dass die Banken stabiler werden. Es ist ein Marken- Regulierung brauchen, wenn wir einen stabilen Finanz-
(B) zeichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition, markt haben wollen. Jede Regulierung und jede Besteue- (D)
dass wir in erster Linie darauf abstellen, wie wir den rung bedeutet immer ein gewisses Stück Wettbewerbs-
Finanzmarkt wieder stabil machen können. Da sagen behinderung für den eigenen Markt. Wenn wir dadurch
wir: Wir brauchen mehr Eigenkapital in den Unterneh- aber einen stabilen Markt erreichen können, kann es nur
men. Das ist einer der absolut wichtigsten Punkte, damit der richtige Weg sein, recht scharfe Bedingungen für den
eine solche Krise nicht noch einmal passieren kann. Sta- Finanzmarkt zu schaffen, gleichzeitig aber auch die
bilität – das ist das Wort dieser Regierung. Möglichkeit, dass sich der Finanzmarkt zukünftig an den
Kosten der Finanzkrise und an unserem Gemeinwesen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und beteiligt.
der FDP)
Meine Damen und Herren, die Finanztransaktion-
Daran anknüpfend haben wir – Herr Kollege steuer hätte die Krise nicht verhindert; das wissen wir.
Brinkhaus hat mehrere Gesetze aufgezählt – durch das
sogenannte Restrukturierungsgesetz einen Weg gefun- (Joachim Poß [SPD]: Das hat auch keiner
den, wie wir Banken auch in der Insolvenz übertragen behauptet!)
können, wenn sie systemrelevant sind. Oder wir können Oftmals wird so getan, als ob wir mit der Steuer unseren
sie pleitegehen lassen, ohne dass das System gefährdet ganzen Haushalt sanieren könnten. Wir haben Einnah-
wird. Dafür haben wir eine zusätzliche Bankenabgabe men in Höhe von 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt
eingeführt. Dies ist zwar noch einmal eine Belastung des eingestellt, weil wir das für einen realistischen Wert hal-
Finanzsektors, aber notwendig, um in Zukunft für wei- ten, der in naher Zukunft erreicht werden kann. Die
tere Krisen gewappnet zu sein. Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert;
denn sie ist durch günstige Kreditzinsen in den USA ent-
Das Wichtigste im deutschen Markt ist die Versor-
standen. Die entsprechenden Kredite sind nach Europa
gung unserer mittelständischen Wirtschaft mit Krediten.
verkauft worden, auch an unsere Landesbanken. Das
Dazu brauchen wir stabile Banken. Deswegen müssen
wäre durch eine solche Steuer nicht verhindert worden.
wir ganz genau festlegen, wo angesetzt werden soll, wo
Banken belastet werden sollen, wo wir aber auch Ban- Finanzmarktregulierungen hingegen können in Zu-
ken stärken können, damit sie unseren Mittelstand finan- kunft Krisen verhindern. Wir haben in dieser Koalition
zieren können. Wir haben im Gegensatz zu England innerhalb eines Jahres acht große Gesetze auf den Weg
einen starken Mittelstand. Diese Wirtschaft ist stabil. gebracht, um zukünftige Krisen zu verhindern. Das hat
Diese Wirtschaft schafft es, 40 Prozent aller Leistungen es bisher noch nicht gegeben. Sie haben heute einen An-
ins Ausland zu transportieren. Das ist die Stärke. Deswe- trag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt, die in unse-
13012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Klaus-Peter Flosbach
(A) rem Paket bereits enthalten ist. Sie haben einen solchen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C)
Antrag aber in den elf Jahren Ihrer Regierungsführung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
nicht eingebracht; Sie haben nicht versucht, das Ganze Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der
umzusetzen, auch nicht in der rot-grünen Koalition. Bundesrepublik Deutschland und der Interna-
tionalen Organisation für erneuerbare Ener-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Waren da die gien über den Sitz des IRENA-Innovations-
internationalen Rahmenbedingungen so, dass und Technologiezentrums
man das konnte?)
– Drucksache 17/6039 –
Wir stellen uns als Koalition hinter unsere Regierung. Überweisungsvorschlag:
Wir unterstützen unsere Bundeskanzlerin und unseren Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzminister. Wir kämpfen für ein stabiles System.
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Wir sind keine schwache Gesellschaft im europäischen
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
Konzert; wir Deutsche sind derzeit der große, stabile zung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie
Anker, im Gegensatz zu den Jahren am Anfang des Jahr- und zur Änderung des Bundeswasserstraßen-
tausends, als wir in allen Tabellen Letzter waren. Damals gesetzes
hielten wir die rote Laterne, jetzt sind wir vorne: Wir
sind die Lokomotive in Europa; wir sind diejenigen, die – Drucksache 17/6055 –
derzeit den Zug insgesamt ziehen. Diese Stärke haben Überweisungsvorschlag:
wir mit dieser Regierung erreicht. Wir haben dafür ge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
sorgt, dass wir am Finanzmarkt deutlich stabiler aufge- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
stellt sind als in den Zeiten Ihrer Regierungsführung.
Darauf können wir stolz sein. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. kommen vom 9. März 2010 zwischen der Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desrepublik Deutschland und der Republik
Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
Ich schließe die Aussprache. vom Vermögen
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor- – Drucksache 17/6056 –
lage auf Drucksache 17/6086 an die Ausschüsse zu über- Überweisungsvorschlag:
(B) weisen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit Finanzausschuss (D)
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis n und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis e auf: kommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der Regierung der Turks- und Caicosinseln
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- über den steuerlichen Informationsaustausch
zung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der – Drucksache 17/6057 –
Europäischen Union und zur Anpassung na-
Überweisungsvorschlag:
tionaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa- Finanzausschuss
kodex
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
– Drucksache 17/6053 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Überweisungsvorschlag: kommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bun-
Innenausschuss (f) desrepublik Deutschland und der Republik
Auswärtiger Ausschuss San Marino über die Unterstützung in Steuer-
Rechtsausschuss und Steuerstrafsachen durch Informations-
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
austausch
Ausschuss für Arbeit und Soziales – Drucksache 17/6058 –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rechtsausschuss
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
führung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
und zur Anpassung des Chemikaliengesetzes kommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Re-
und anderer Gesetze im Hinblick auf den Ver- gierung der Bundesrepublik Deutschland und
trag von Lissabon der Regierung der Britischen Jungferninseln
– Drucksache 17/6054 – über die Unterstützung in Steuer- und Steuer-
strafsachen durch Informationsaustausch
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 17/6059 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13013
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Überweisungsvorschlag: n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid (C)
Finanzausschuss (f) Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Rechtsausschuss
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
Aussagekräftigen Abschlussbericht zur been-
kommen vom 28. Februar 2011 zwischen der
deten Beteiligung deutscher Streitkräfte an
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
der Operation Enduring Freedom vorlegen
blik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuer- – Drucksache 17/6123 –
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Überweisungsvorschlag:
Einkommen und vom Vermögen Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
– Drucksache 17/6060 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Finanzausschuss (f) Entwicklung
Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- p) Beratung des Zwischenberichts der Enquete-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vierten, Kommission Ethik und Recht der modernen Me-
Fünften und Sechsten Änderung des Europäi- dizin
schen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über Organlebendspende
die Arbeit des im internationalen Straßenver-
kehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) – Drucksache 15/5050 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/6061 – Ausschuss für Gesundheit (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Technikfolgenabschätzung
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens vom 4. Au- ZP 12 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
gust 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese,
Entwicklungsbank Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
(B) (D)
– Drucksache 17/6062 –
Die Integration der Sinti und Roma in Europa
Überweisungsvorschlag: verbessern
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) – Drucksache 17/6090 –
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Auswärtiger Ausschuss
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
rung des Übereinkommens vom 29. November
1972 über die Errichtung des Afrikanischen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Entwicklungsfonds Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/6063 –
Überweisungsvorschlag: Klare Regelungen für Intensivtierhaltung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung – Drucksache 17/6089 –
Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Verbraucherschutz (f)
Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weite- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
DIE GRÜNEN Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Mit Essen spielt man nicht – Spekulation mit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Agrarrohstoffen eindämmen Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/5934 –
Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
zichten
Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
– Drucksache 17/6088 –
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag:
Entwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
13014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und cherschutz (10. Ausschuss)
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/6106 –
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Berichterstattung:
Regelung im SGB VI verankern Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
– Drucksache 17/6108 – Dr. Kirsten Tackmann
Überweisungsvorschlag:
Friedrich Ostendorff
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Rechtsausschuss Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Haushaltsausschuss lung auf Drucksache 17/6106, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/5804 in der Aus-
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole schussfassung anzunehmen. Wer stimmt dem Gesetz-
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer entwurf in der Ausschussfassung zu? – Wer stimmt da-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf wurde
DIE GRÜNEN einstimmig in zweiter Beratung angenommen.
Bericht zum Risikomanagement bei Lebens- Dritte Beratung
mittelkrisen vorlegen
und Schlussabstimmung. Wer dafür stimmt, möge sich
– Drucksache 17/6107 – bitte erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver- In dritter Beratung wurde der Gesetzentwurf ebenfalls
einfachten Verfahren ohne Debatte. einstimmig angenommen.

Wir kommen zuerst zu den unstrittigen Überweisun- Tagesordnungspunkt 35 b:


gen. Hier geht es um die Tagesordnungspunkte 34 a bis n Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
und 34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis d. Interfraktio- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nell wird vorgeschlagen, diese Vorlagen an die Aus- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
schüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung fin- ordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg,
(B) den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der (D)
beschlossen. Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Jetzt kommen wir zum Antrag der Fraktion Bünd- Torsten Staffeldt, Dr. Martin Lindner (Berlin),
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 mit dem Ti- Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
tel „Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittel- der Fraktion der FDP
krisen vorlegen“. Hier wünscht die Fraktion Bündnis 90/ Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirt-
Die Grünen Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen schaft als nationale Aufgabe
der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung, – Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buchstabe a –
Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie mitbera-
tend an den Gesundheitsausschuss. Die Abstimmung Berichterstattung:
über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach Abgeordneter Eckhardt Rehberg
ständiger Übung vor. Deshalb frage ich: Wer stimmt für Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
die Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6028, den An-
gen? – Damit ist die Überweisung so beschlossen, bei trag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppo- sache 17/5770 anzunehmen. Wer stimmt für die
sitionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Damit gibt es Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
heute keine Abstimmung zu diesem Punkt. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 35 a und b, mung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die
35 e bis m sowie Zusatzpunkt 13 auf. Hier handelt es Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen
wir keine Aussprache vorgesehen haben. des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 35 a: Tagesordnungspunkt 35 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten ausschusses (2. Ausschuss)
Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzte-
ordnung Sammelübersicht 269 zu Petitionen
– Drucksache 17/5804 – – Drucksache 17/5919 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13015
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt 35 k: (C)
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Tagesordnungspunkt 35 f:
Sammelübersicht 275 zu Petitionen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 17/5925 –

Sammelübersicht 270 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
– Drucksache 17/5920 – durch CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen. SPD und Linke haben dagegen gestimmt.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht wurde ebenfalls ein- Tagesordnungspunkt 35 l:
stimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 35 g: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 276 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/5926 –
Sammelübersicht 271 zu Petitionen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
– Drucksache 17/5921 – tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- gestimmt haben SPD und Bündnisgrüne. Die Linke hat
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung sich enthalten.
durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Dagegen
hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Bündnisgrü- Tagesordnungspunkt 35 m:
nen haben sich enthalten.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 35 h: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 277 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/5927 –
(B) Sammelübersicht 272 zu Petitionen (D)
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
– Drucksache 17/5922 – tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppo-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- sitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen. Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:
Tagesordnungspunkt 35 i: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
ausschusses (2. Ausschuss) Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weite-
Sammelübersicht 273 zu Petitionen rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/5923 –
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Group verhindern – Keine weitere Erosion des
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung nuklearen Nichtverbreitungsregimes
durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrüne ange-
nommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. – Drucksachen 17/5374, 17/6139 –

Tagesordnungspunkt 36 j: Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Uta Zapf
ausschusses (2. Ausschuss) Dr. Bijan Djir-Sarai
Sammelübersicht 274 zu Petitionen Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)
– Drucksache 17/5924 –
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- lung auf Drucksache 17/6139, den Antrag der Fraktion
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5374 abzu-
stimmt haben CDU/CSU, SPD und FDP. Dagegen haben lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke ge- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
stimmt. fehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen ha-
13016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) ben zugestimmt. Die Oppositionsfraktionen haben dage- Gehen wir die einzelnen Punkte einmal durch: Wir (C)
gen gestimmt. Enthaltungen gab es keine. haben die Rede von Herrn Rösler gehört. Die war – da-
rauf hat der Staatssekretär in der Abmoderation Wert ge-
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf: legt – frei gehalten, das war wunderbar. Sie hatte eine
Aktuelle Stunde gewisse Struktur, das war auch wunderbar. Konkrete Zu-
auf Verlangen der Fraktion der SPD: sagen aber, wie der maritimen Wirtschaft in den einzel-
nen Sektoren geholfen werden kann, gab es keine. Auch
Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die denjenigen, die vielleicht von dem Stil der Rede in den
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses ersten Minuten noch begeistert waren, ist spätestens
durch die Bundesregierung beim Mittagessen aufgegangen, dass nichts Substanziel-
les hinter diesen Aussagen steckte.
(Garrelt Duin [SPD], an den Abg. Eckhardt
Rehberg [CDU/CSU] gewandt: Jetzt gibt es Die Bundeskanzlerin hat, als sie über die Werften ge-
Haue! – Gegenruf der Abg. Michaela Noll sprochen hat, gesagt: „Die Sorge ist im Raum.“ Herzli-
[CDU/CSU]: Nein, den Kollegen Rehberg chen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Wir brauchen
nicht hauen!) aber keine sich sorgende Mutti, sondern wir brauchen
eine handelnde Kanzlerin, die den Werften in Deutsch-
– Zu einem gewaltfreien Redebeitrag gebe ich jetzt das land hilft und Unterstützung anbietet.
Wort dem Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
(Patrick Döring [FDP]: Ein wahrer Pazifist!)
Der Kollege Ramsauer hat überhaupt noch nicht be-
Garrelt Duin (SPD): griffen, was für eine Unruhe er mit seinen Entwürfen für
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und eine neue Wasserstraßenpolitik in diesen Bereich hinein-
Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil getragen hat. Anstatt auf der Maritimen Konferenz klar
es aus unserer Sicht dringend notwendig ist, dieses und deutlich zu sagen: „Das war eine Fehlentwicklung,
Thema nach der Nationalen Maritimen Konferenz in ich stehe unter Druck von einzelnen Abgeordneten in der
Wilhelmshaven und der im Vorfeld geführten Debatte Koalition, das korrigieren wir“, will er diesen Weg
noch einmal aufzugreifen. – bislang jedenfalls – nicht korrigieren oder verlassen.

Bei der Debatte, die wir nur wenige Tage vor der letz- In allen Reden seitens der Bundesregierung kam deut-
ten Nationalen Maritimen Konferenz in diesem Hause lich zum Ausdruck, dass es Handlungsdruck gebe, die
Haushaltslage schwierig sei und man ordnungspolitisch
(B) geführt haben, waren sich alle einig, wohin die Reise ge- (D)
hen sollte. Wenn man sich aber die Ergebnisse der Natio- sauber sein wolle. Das hat Herr Rösler, glaube ich, in je-
nalen Maritimen Konferenz anschaut, dann ist von die- dem dritten Satz gesagt, das sagt auch der Maritime Ko-
sen Absichtserklärungen, die insbesondere von der ordinator alle naselang. Es geht aber nicht an, dabei zu-
Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfrak- zusehen, wie diese Branche immer wieder in große
tionen abgegeben worden sind, nichts übrig geblieben. Schwierigkeiten gerät, und sich trotzdem auf die Schul-
Wir lesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die ter zu klopfen und zu sagen: Dafür sind wir aber ord-
Überschrift: „Eine maritime Enttäuschung“, in der nungspolitisch sauber.
Financial Times Deutschland: „Reeder meutern gegen
Regierung“ und im Handelsblatt: „Reeder holen die Sehr geehrter Herr Staatssekretär Otto, ich will Ihnen
deutsche Flagge ein“. Was die Bundesregierung bei der sagen: Sie sind der Maritime Koordinator dieser Bundes-
Nationalen Maritimen Konferenz an Nichtzusagen hin- regierung. Diese Funktion ist damals parallel zu den Ma-
terlassen und was sie mit ihrem Agieren dort verursacht ritimen Konferenzen eingeführt worden, um in der Bun-
hat, bedeutet einen schweren Schaden für die maritime desregierung jemanden zu haben, der die Interessen für
Wirtschaft in Deutschland. diesen Sektor wahrnimmt und der gerade nicht die Ab-
wehrhaltungen aus den einzelnen Ressorts noch vertei-
(Beifall bei der SPD) digt. Sie sagen: Im Verteidigungshaushalt ist nicht mehr
Geld vorhanden, deshalb kann die Marine keine Schiffe
Ich kann für mich behaupten, bei internationalen bestellen; in anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Sie
Konferenzen dabei gewesen zu sein, ob in Emden, sind nicht der Verteidiger der einzelnen Ressorts, son-
Rostock, Hamburg oder anderenorts. dern Sie sollten sich als Interessenvertreter der mariti-
men Wirtschaft gegen das aufbäumen, was auf der Mi-
(Zuruf von der FDP: Rostock und Hamburg
nisterialebene überall vorgetragen wird. Das wäre Ihr
sind international!)
Job.
– Das sind internationale Maritime Konferenzen, Herr
Kollege. – Es hat regelmäßig Erwartungen gegeben, die Ich möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Otto, zum Ab-
nicht immer zu 100 Prozent erfüllt werden konnten. Das schluss eines sagen – das kann ich Ihnen nicht ersparen –:
ist völlig klar. Diesmal aber ist keine einzige Erwartung Als Frau Wöhrl diese Position zur Regierungszeit der
erfüllt worden. Überhaupt nichts ist passiert. Großen Koalition übernahm, war die gesamte maritime
Szene skeptisch. Die heutige SPD-Opposition hatte
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das ist doch diese Skepsis gegenüber Frau Wöhrl zu Beginn ihrer
falsch!) Amtszeit geteilt. Frau Wöhrl ist es gelungen, sich im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13017
Garrelt Duin
(A) Laufe ihrer Arbeit bei allen Beteiligten einen hohen Re- solchen Vorhaben beginnt man nicht mit der teuersten (C)
spekt zu erarbeiten. Lösung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Mit
dieser Äußerung haben Sie Verunsicherung und Wider-
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sie hat auch
stand hervorgerufen sowie neue Gründungen von Bür-
einen guten Job gemacht!)
gerinitiativen gegen CCS provoziert. Sie sollten jetzt erst
Davon sind Sie, Herr Otto, noch weit entfernt. einmal das erledigen, was in diesem Bereich auf der Ta-
gesordnung steht. Deswegen sage ich ausdrücklich: Das
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Er hat auch
war nicht gerade hilfreich.
noch zwei Jahre Zeit!)
Die kritischen Diskussionen im Workshop „Seeschiff-
Vielen Dank.
fahrt“ habe ich kurz angesprochen. Dazu wird mein Kol-
(Beifall bei der SPD) lege Rehberg noch einiges sagen. Ja, es gibt dort Kon-
flikte, die uns sicherlich noch weiter beschäftigen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Das wird noch Thema hier im Parlament sein.
Ingbert Liebing hat jetzt das Wort für die CDU/CSU- Ich möchte ausdrücklich die Aufbruchsstimmung und
Fraktion. den Optimismus im Workshop zur Offshorewindenergie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- würdigen. Lange genug ist in diesem Bereich zu wenig
neten der FDP) passiert. Umweltminister Trittin hat seinerzeit in rot-grü-
ner Verantwortung die Seeanlagenverordnung mit zwei
Sätzen geändert; das war es dann. Danach ist jahrelang
Ingbert Liebing (CDU/CSU):
nichts passiert. Der erste Offshorewindpark, die erste
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demonstrationsanlage, Alpha Ventus, ist von CDU-Um-
Genauso wie der Kollege Duin habe auch ich die Chance weltminister Röttgen mit eingeweiht worden.
gehabt, an der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven
teilzunehmen. Ich habe dort die beiden Workshops zu Jetzt, nach vielen Jahren, müssen wir uns an die Auf-
den Themen „Seeschifffahrt“ und „Offshorewindener- gaben machen, die in Ihrer Verantwortung viel zu lange
gie“ besucht. Ich habe die strittigen Diskussionen im liegen geblieben sind. Wir haben jetzt ein großartiges
Workshop „Seeschifffahrt“ erlebt, aber auch den Opti- Paket auf den Weg gebracht. Es ist in dem Workshop ge-
mismus und die Aufbruchsstimmung, als es um Offshore- lobt worden und wird von der Branche angenommen.
windenergie ging. Deshalb, Herr Kollege Duin, habe ich Wir werden in der nächsten Sitzungswoche im Zusam-
für die Kritik, die Sie hier vorgetragen haben, überhaupt menhang mit dem EEG hier im Plenum darüber abstim-
kein Verständnis; denn damit werden Sie den Verhältnis- men. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und
(B) sen nicht gerecht. ob Sie zustimmen werden. In dem Gesetzentwurf wer- (D)
den eine Verbesserung der Vergütung von Offshorewind-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
energie, eine Einbeziehung der Sprinterprämie in die
Offensichtlich scheint Ihrer Fraktion das Thema nicht Anfangsvergütung und die Verschiebung des Degres-
so wichtig zu sein, sonst wären bei der Aktuellen Stunde, sionsbeginns von 2015 auf 2018 vorgesehen. Wir führen
die Sie beantragt haben, mehr Kollegen anwesend. ein optionales Stauchungsmodell ein; das sichert mehr
Liquidität in der schwierigen Anfangsphase. Wir ver-
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir sind pflichten die Netzbetreiber, dauerhaft für die Netzanbin-
bis zur vierten Reihe besetzt!) dung zu sorgen. Das BSH wird einen Masterplan Off-
Allein die Lokalität dieser Veranstaltung in Wilhelms- shorenetzanbindung erarbeiten. Wir werden eine neue
haven auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports hat deut- Genehmigungsstruktur schaffen, mit Konzentrationswir-
lich gemacht, welche Aufbruchsstimmung an der Küste kung in der Verantwortung des BSH; das macht die Ge-
vorherrscht. Die Baustelle des Jade-Weser-Ports ist ein nehmigungsverfahren schneller, schlanker und einfacher.
Symbol für Dynamik in der maritimen Wirtschaft, nicht Ich nenne auch das KfW-Programm mit einem Volumen
zuletzt deshalb, weil die Bundesregierung mit Tatkraft von 5 Milliarden Euro, das die finanzielle Absicherung
– insbesondere auch durch die zusätzliche Verkehrsan- zehn weiterer Windparks ermöglicht.
bindung – dafür sorgt, dass die maritime Wirtschaft er-
Von dieser Entwicklung wird eine breite maritime
folgreich ist. Wir tun das, was für die maritime Wirt-
Wertschöpfungskette profitieren. Davon wird auch der
schaft notwendig, richtig und sinnvoll ist.
Schiffbau profitieren, wenn es um Errichter- und Versor-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gungsschiffe geht. Auch die Hafenwirtschaft blickt mit
neten der FDP) Spannung und Optimismus auf diese Entwicklung, weil
es dort um eine vielfältige Versorgungs- und Dienstleis-
Dennoch möchte und muss ich eine kritische Anmer- tungsstruktur geht, die sich jetzt im Aufbruch befindet.
kung an die Adresse des Maritimen Koordinators rich-
ten. Eine Bemerkung von ihm in seiner Abschlussan- Die Länder und die Kommunen engagieren sich bei
sprache konnte ich nicht nachvollziehen. Sie haben dort diesem Thema. Der runde Tisch „Maritime Offshore-
zum Thema CCS mit Blick auf eine CO2-Speicherung infrastruktur“ bündelt diese Engagements, um dies so
im Meer angekündigt: Seien Sie sicher, wir werden das schnell wie möglich und so geordnet wie möglich über
machen. – Dazu sage ich ausdrücklich: Seien Sie da die Bühne zu bringen, damit wir alle davon profitieren
nicht so sicher. Wir arbeiten an einem Gesetzentwurf be- können. Das Ziel ist, bis 2030 eine Leistung von
züglich Demonstrations- und Forschungsvorhaben. Bei 25 000 Megawatt zu erreichen. Dann würden wir off-
13018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ingbert Liebing
(A) shore etwa 15 Prozent des gesamten Strombedarfs de- auch einmal mit den Inhalten beschäftigen, (C)
cken. Das allein ist eine gute Entwicklung und eine gute Herr Behrens!)
Perspektive mit gewaltigen Chancen für die maritime
Wirtschaft. Ich habe das Signal, das von der Maritimen Bis zum Jahr 2020 sollen in der Nord- und Ostsee
Konferenz in Wilhelmshaven ausging, so verstanden, Windparks mit einer Leistung von 10 000 Megawatt in-
dass die Branche Gewehr bei Fuß steht. stalliert werden. Doch das neue Offshoresonderpro-
gramm der staatlichen KfW steht den Werften, die bei-
spielsweise in den Bau von Offshoreversorgungsschiffen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: investieren wollen, offenbar nicht zur Verfügung. Diese
Herr Kollege. Forderung von Werften, der Zulieferindustrie und der
IG Metall wird nicht erfüllt. Massive Kritik erntete die
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Bundesregierung in Wilhelmshaven auch für ihren völlig
Sie möchte diese Maßnahmen umsetzen und wird es verkorksten Reformvorschlag im Hinblick auf die Was-
auch tun. Hierin liegt eine gewaltige Chance, gerade vor ser- und Schifffahrtsverwaltung; wir haben in den Work-
dem Hintergrund der Ergebnisse, die die Maritime Kon- shops davon gehört. Beschäftigte und Unternehmen der
ferenz in Wilhelmshaven gebracht hat. Binnenschifffahrtsbranche machten auf der Maritimen
Konferenz ihrem Unmut Luft.
Vielen Dank.
Wir haben in Wilhelmshaven kein Bekenntnis zur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verbesserung der ökologischen Bilanz des Schiffsver-
kehrs zu hören bekommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das stimmt
Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die doch gar nicht! – Eckhardt Rehberg [CDU/
Linke. CSU]: Sie waren doch gar nicht da, Herr
(Beifall bei der LINKEN) Behrens! Sie waren doch ganz woanders! –
Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Sie waren
doch auf einer ganz anderen Veranstaltung!)
Herbert Behrens (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Statt sich eindeutig für die Einhaltung der Grenzwerte
Die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven sollte so et- für Schwefelemissionen in Nord- und Ostsee stark zu
was wie eine Leistungsschau der Bundesregierung sein; machen, philosophierten Mitglieder der Regierungsko-
zumindest war sie so angekündigt. Das hat dieser Konfe- alition über Moratorien und Stichtagsverschiebungen.
(B) renz enormen Wind verliehen. Hätte man diesen Wind (D)
genutzt, um damit Energie zu erzeugen, dann wären wir Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie wissen wollen,
bei der Energiewende, über die wir heute Morgen disku- wer an der Maritimen Konferenz teilgenommen hat,
tiert haben, wie ich glaube, schon ein Stück weiter. sollten Sie nicht nur in das Veranstalterverzeichnis se-
hen. Sie sollten auch nach links und rechts schauen.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Dann würden Sie möglicherweise feststellen, dass auch
LINKEN) Menschen, die nicht im Teilnehmerverzeichnis stehen,
sehr wohl an dieser Konferenz teilgenommen haben.
Sehen wir uns die Wirklichkeit an. Die Werften ste-
cken trotz des Spezialschiffbaus immer noch in einer tie- Ich habe bereits einige Ausführungen zur Bilanz der
fen Krise; das wurde auch in Wilhelmshaven von den Maritimen Konferenz gemacht. Sie ist in gewisser Weise
einzelnen Akteuren so gesagt. Trotzdem wird die Förde- desaströs. Dort, wo es zu wirklich zukunftsweisenden
rung der Schiffbaufinanzierung zurückgeschraubt. Initiativen hätte kommen können, ist nichts geschehen.
An dieser Stelle stimme ich der Kritik der Kolleginnen
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Wo haben
und Kollegen von der SPD zu.
Sie denn gelesen, Herr Behrens, dass die För-
derung der Schiffbaufinanzierung zurückge- Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Ge-
schraubt wird? Sie wissen wirklich nicht, wo- genstand der Maritimen Konferenz gewesen ist: die Auf-
rüber Sie reden! – Gegenruf des Abg. Hans- kündigung des Maritimen Bündnisses.
Werner Kammer [CDU/CSU]: Das hat er
wahrscheinlich auf der alternativen Maritimen (Patrick Döring [FDP]: Wer hat das denn auf-
Konferenz der Linken gehört!) gekündigt?)
Die Bürgschaftsquote muss bei 90 Prozent bleiben; das Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen.
wurde von Ihnen infrage gestellt. Wenn das nicht pas-
siert, wird den Werften in Mecklenburg-Vorpommern 3 700 Schiffe von deutschen Eignern fahren auf den
die Luft ausgehen. Dann werden wir in Mecklenburg- Weltmeeren – 445 davon unter deutsche Flagge. Das
Vorpommern nicht nur in sozialer, sondern auch in tech- heißt, über 3 000 Belegschaften arbeiten teils unter
nologischer Hinsicht ein Fiasko erleben. Das müssen wir schlimmen Bedingungen. Niedrige Heuern und geringe
auf jeden Fall verhindern. Sicherheitsstandards sind an der Tagesordnung. Oft ha-
ben die Beschäftigten keine Chance, mit den Gewerk-
(Beifall bei der LINKEN – Eckhardt Rehberg schaften Kontakt aufzunehmen und Unterstützung zu be-
[CDU/CSU]: Ich würde mich an Ihrer Stelle kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13019
Herbert Behrens
(A) (Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Mit der Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C)
Linken auch nicht!) desminister für Wirtschaft und Technologie:
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
Aus diesen schlechten Bedingungen ziehen die Reeder ginnen und Kollegen! Es freut mich durchaus, dass wir
im Moment ihren Extraprofit. Wettbewerb auf Kosten heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde noch einmal
der Menschen und der ökologischen und sozialen Stan- Gelegenheit haben, die maritime Wirtschaft in den Fo-
dards ist ein schmutziger Wettbewerb. Dagegen kämpft kus der parlamentarischen Aufmerksamkeit rücken zu
die Linke. können. Verbunden mit der Debatte, die wir vor knapp
vier Wochen hier im Hause geführt haben, und der ge-
Wir fordern ein Maritimes Bündnis zwischen Politik,
rade erfolgreich beendeten Siebten Nationalen Mariti-
Reedern und Gewerkschaften, das maßgeblich den Be-
men Konferenz in Wilhelmshaven können wir damit er-
schäftigten dient. Wenn die Reeder Zuschüsse zu den
neut die strategische, unverzichtbare Bedeutung und die
Lohnkosten bekommen, wenn Ausbildungskosten für
große Perspektive für diese Zukunftsbranche in den
den Seeleutenachwuchs bezuschusst werden, dann ist
Blick nehmen.
das in Ordnung, wenn wieder mehr Schiffe unter deut-
scher Flagge fahren und wenn wieder tarifliche Heuern (Garrelt Duin [SPD]: Bitte sehr!)
und soziale Standards gelten. Allerdings darf es Subven-
tionen nur so lange geben, bis ein vereinbartes Ziel er- Die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wil-
reicht worden ist. Darum kann es durchaus richtig sein, helmshaven mit fast tausend Teilnehmern hat zum wie-
derholten Male gezeigt: Das Konzept der maritimen Ko-
dass die Bundesregierung ihre Lohnkostenzuschüsse
auslaufen lässt. Eine Subvention muss auf jeden Fall in- ordinierung und auch des partei- und branchenübergrei-
frage gestellt werden, wenn sich eine Seite gar nicht fenden Zusammenhalts ist ein Erfolgsmodell.
mehr an die Vereinbarung hält und einen Konsens auf- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
löst. der CDU/CSU)
600 Schiffe – das hatten die Reeder zugesagt – sollten Viele von Ihnen, Herr Kollege Duin, seien es Mitglie-
im internationalen Seehandel wieder unter deutscher der der Koalitions- oder der Oppositionsfraktionen, ha-
Flagge fahren. Dass die Reeder diese Zusage nicht ein- ben die Konferenz mitgestaltet und an ihr mitgewirkt.
halten, sondern heute nur 445 Schiffe unter deutscher Dafür möchte ich mich namens der Bundesregierung bei
Flagge fahren, allen bedanken, auch wenn sie hier kritische Töne fin-
den.
(Torsten Staffeldt [FDP]: 589 am heutigen
Tag!) Der Dank gilt darüber hinaus aber auch dem Land
(B) Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven, die in ei- (D)
ist angeblich – das wurde gesagt – der Krise geschuldet. ner unglaublichen logistischen Kraftanstrengung diese
Die Reeder sagen: Wir sind auf jeden Fall nicht damit Konferenz auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports mög-
einverstanden, dass diese Subvention infrage gestellt lich gemacht haben. Auch das sollte an dieser Stelle im
wird. Sie drohen damit, dass weitere Schiffe nicht mehr Deutschen Bundestag lobend hervorgehoben werden.
unter der deutschen Flagge fahren werden. Das ist nicht Nicht zuletzt gelten mein Dank und meine Glückwün-
einmal mehr nur eine Drohung, sondern schon Wirklich- sche den vielen Tausend Beschäftigten und den Unter-
keit. Die Zahl der ausgeflaggten Schiffe steigt an; die nehmern der Branche. Diesen ist nicht nur zu verdanken,
Gesamttonnage der ausgeflaggten Schiffe hat sich in den dass die Konferenz dank ihrer Mitwirkung so erfolgreich
letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht. abgelaufen ist, sondern vor allem, dass sich die Branche
Jetzt damit zu drohen, aus dem Maritimen Bündnis heute so überraschend gut präsentieren kann. Die Zahlen
auszusteigen, weil die Zuschüsse zu den Lohn- und Aus- und die Wachstumsraten sprechen für sich. Ob das An-
bildungskosten halbiert werden sollen, ist nicht akzepta- ziehen des Welthandels, der Ausbau der Offshorewind-
bel und nicht aufrichtig. Wir brauchen eine vernünftige energie oder das Entstehen bzw. Wachsen neuer
Förderung, mit der den Beschäftigten geholfen wird. Geschäftsfelder für maritime Technologien: Seefahrt
Dies dürfen nicht nur Subventionen sein, und es darf und Häfen, Schiffbau und Zulieferer, Logistik und Mee-
auch nicht nur zu Steuerentlastungen über die Tonnage- restechnik werden in jedem Fall davon profitieren. Wenn
steuer kommen, sondern wir brauchen eine sozial-ökolo- wir jetzt alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und
gisch orientierte Wende in der maritimen Wirtschaft. zwar in dieselbe Richtung, dann stehen wir vor einer
lang anhaltenden Phase des Aufschwungs für die ge-
Vielen Dank. samte Branche.

(Beifall bei der LINKEN) Ich warne aus den genannten Gründen vorsorglich da-
vor, die Lage und die Perspektiven der maritimen Wirt-
schaft schlechtzureden. Diese Warnung gilt auch außer-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: halb dieses Parlaments, nämlich für die Verbände; denn
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen- damit würden sie der Branche einen Bärendienst erwei-
tarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. sen und im schlimmsten Fall sogar schaden. Sie rücken
die maritime Wirtschaft damit in ein Licht, in dem sie
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich, gerade außerhalb der Küstenregionen – ich weiß,
der CDU/CSU) wovon ich rede –, nicht so darstellen kann, wie sie es an-
13020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto


(A) gesichts der Erfolge, die sie hat, verdient hätte. Das gilt Sie die gesamten Fördermittel heranziehen, die der Bund (C)
auch – Herr Kollege Behrens hat es angesprochen – für für die maritime Wirtschaft bereitstellt, dann stellen Sie
das Maritime Bündnis. fest, dass die Kürzungen im Promillebereich liegen. Das
alles ist kein Anlass, um das Maritime Bündnis infrage
Das Maritime Bündnis wurde übrigens nicht gekün- zu stellen.
digt. Ich habe keine Kündigungserklärung bekommen.
Selbstverständlich ist es ein prioritäres Anliegen der Ich lade Sie alle ein, Kollegen von Koalition und Op-
Bundesregierung und insbesondere von mir persönlich, position, Vertreter der Teilbranchen der maritimen Wirt-
das Bündnis aufrechtzuerhalten und zu stärken. Herr schaft, Unternehmer und Vertreter der Beschäftigten:
Kollege Duin, Herr Kollege Behrens, verständlicher- Lassen Sie uns den bewährten, gemeinsamen Weg er-
weise ist es der Bundesregierung keine Freude, kleinere folgreich fortsetzen.
– das betone ich: kleinere – Anpassungen am Haushalt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
vornehmen zu müssen. Herr Kollege Duin, der Maritime der CDU/CSU)
Koordinator ist, wie der Name sagt, ein Koordinator, er
ist leider kein Imperator. Das hätte ich zwar manchmal Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunftsfähigkeit der
gerne, aber ich darf nur koordinieren. maritimen Wirtschaft im Blick behalten. Nur so können
wir den bereits eingeleiteten Wachstumskurs fortsetzen
Wir alle kennen die Zwänge, die uns die Haushalts- und – darum geht es uns gemeinsam – den maritimen
lage auferlegt. Das gilt auch für die Länder, und zwar Standort Deutschland dauerhaft stärken. Die Bundesre-
auch für die, die nicht von CDU/CSU und FDP regiert gierung wird im Rahmen der maritimen Koordinierung
werden. Daher waren nach Meinung des Bundesfinanz- weiterhin ihren Teil dazu beitragen. Seien Sie versichert,
ministers Kürzungen an dem durchaus erfolgreichen Herr Kollege Duin, auch ich persönlich werde meinen
– darüber sind wir uns einig – Instrument der Lohnkos- Beitrag wirksam, nicht immer laut nach außen, aber im-
tenzuschüsse unumgänglich. Umso mehr ist ein Ergeb- mer sehr nachdrücklich innerhalb der Bundesregierung
nis der Konferenz zu begrüßen: Der Bundesminister für leisten. Versprochen!
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Herr Ramsauer,
wird sich in den nächsten Tagen mit der Branche erneut (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zusammensetzen. Er wird mit der Branche nach Alterna-
tiven zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Seeverkehrswirtschaft suchen, übrigens auch nach sol- Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat das Wort für
chen, die den Haushalt und damit die Steuerzahler nicht Bündnis 90/Die Grünen.
belasten.
(B) Herr Kollege Duin, natürlich sind die Kürzungen um Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D)
rund 27 Millionen Euro schmerzhaft. Wir sollten aller- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
dings nicht die vielen anderen erfolgreichen Instrumente gen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde
zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der maritimen steht nicht nur unter dem Titel „Ergebnisse der Mariti-
Wirtschaft im Rahmen des Maritimen Bündnisses und men Konferenz“, sondern Sie haben angekündigt, auch
des Programms „LeaderSHIP Deutschland“ aus den Au- zur Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die
gen verlieren. Herr Kollege Behrens, nur zur Klarstel- Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde zu spre-
lung: Die Mittel für den Schiffbau sind immer erhöht chen.
worden. Das liegt übrigens in der Verantwortung des (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Es wird gar
Bundeswirtschaftsministeriums. Was Sie beklagen, be- nicht aufgekündigt! – Garrelt Duin [SPD]: Da
trifft nicht die Mittel für Schiffbau, sondern die Mittel haben wir nicht nur einen Redner!)
für Reeder. Allein die Entlastungswirkung der Tonnage-
steuer – ich bitte Sie, sich das vor Augen zu halten – – Genau, es ist immer das Problem, alles unterzubringen.
wird auf mindestens 500 Millionen Euro, wahrscheinlich Bündnisse sind dazu da, Konflikte beizulegen. Mit ih-
auf bis zu 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Ich kann nen legt man gemeinsame Ziele und Interessen fest.
Ihnen versichern, die Bundesregierung hält daran fest. Bündnisse brauchen Verlässlichkeit, sonst funktionieren
Das gilt auch für die Ausbildungsbeihilfen für die See- sie nicht. Das Maritime Bündnis scheint nach dem, was
fahrt. wir eben hier und auch schon in Wilhelmshaven gehört
haben, offensichtlich nicht mehr so ganz zu funktionie-
Die Titel für Innovationsbeihilfen und FuE-Mittel im
ren.
Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Tech-
nologie wurden erhöht. Mit dem Masterplan „Maritime Die Bundesregierung trifft in dieser Debatte nur die
Technologien“, dem KfW-Sonderprogramm für Off- halbe Schuld.
shorewindenergie und dem fortschreitenden „Leader-
(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Oh!)
SHIP“-Prozess im Schiffbau stellen wir die Weichen für
ein langfristiges Wachstum auf den Zukunftsmärkten. Denn wir müssen ehrlich sein: Auch die Reeder haben
Deswegen, Herr Kollege Duin, lieber VDR – Verband ihren Teil des Bündnisses nicht eingehalten. Es fahren
Deutscher Reeder –, halten Sie sich bitte vor Augen: Die heute kaum mehr Schiffe unter deutscher Flagge,
schmerzlichen Kürzungen im Bereich der Lohnkosten- obwohl es eigentlich vereinbart war. Wir wollten auf
zuschüsse betreffen nur rund 2 bis 3 Prozent der gesam- 600 Schiffe unter deutscher Flagge kommen. Dorthin
ten Fördermittel für die Teilbranche Schifffahrt. Wenn sind wir nie gekommen. Prozentual ist es sogar weniger
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13021
Dr. Valerie Wilms
(A) geworden: Fuhren vor zehn Jahren noch 15 Prozent der Die Bundesregierung muss sich mit den Reedern an ei- (C)
deutschen Schiffe unter deutscher Flagge, sind es heute nen Tisch setzen, und zwar sofort. An die Reeder geht
insgesamt lediglich 12 Prozent. meine klare Aufforderung: Drohen Sie nicht mit Aus-
flaggung; denn auch Sie brauchen die Unterstützung
Jetzt hat die Bundesregierung ohne Vorankündigung durch die Politik in diesem Hause.
die Beiträge für die Seeschifffahrt gekürzt und hält sich
damit nicht an ihren Teil der Vereinbarung. Das Mari- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
time Bündnis wurde also von beiden Seiten aufgekün-
digt. Reeder und Bundesregierung schieben sich jetzt ge- Die Reeder fordern wie selbstverständlich bei der
genseitig den Schwarzen Peter zu. Wer wird verlieren? Piraterieproblematik die Hilfe des Staates. Wir haben im
Am Ende werden die Seeleute verlieren; Kollege Verkehrsausschuss schon einmal begonnen, die Debatte
Behrens hat es schon angedeutet. Da kann man nur sa- darüber zu führen. Das ist auch richtig; denn das Risiko
gen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem gemeinsamen der Reeder und vor allem der Besatzungsmitglieder,
Versagen! wenn sie durch die entsprechenden Seegebiete fahren, ist
enorm. Die Reeder sollen hier nicht alleingelassen wer-
Aber auch die Reeder haben sich nicht mit Ruhm be- den, ihnen soll geholfen werden. Sie müssen aber auch
kleckert. Selbst die Jahre großer Gewinne haben kaum auf dem Teppich bleiben und beim Maritimen Bündnis
etwas geändert. Die 600 Schiffe unter deutscher Flagge kompromissbereit sein. Deshalb muss das Maritime
hat es nie gegeben. Die Beihilfen wurden dankbar mit- Bündnis auf neue Beine gestellt werden. Herr Otto, Sie
genommen und dazu weitere Subventionen eingestri- hatten ja schon angedeutet, dass Sie es stärken wollen.
chen, allen voran die Vorteile aus der Tonnagebesteue- Dabei müssen wir auch insgesamt seine Machbarkeit
rung. Sie haben es schon gesagt: Das sind locker über überprüfen. Utopische Versprechen helfen da nieman-
500 Millionen Euro. dem weiter.
Die Subventionen an die Reeder werden regelmäßig Gleichzeitig muss man darüber reden, was bei Nicht-
unter den größten Posten im Subventionsbericht der einhaltung passiert; denn sonst steht das Bündnis wie
Bundesregierung gelistet. Hierzu gehören die Tonnage- bisher nur auf dem Papier. Das neue Bündnis sollte aber
besteuerung mit etwa 500 Millionen Euro, der Lohn- auch aktuelle Fragen aufgreifen. Es sollte über die
steuereinbehalt mit etwa 18 Millionen Euro, die Ausbil- Einführung einer ökologischen Komponente in die Ton-
dungsförderung mit 2 Millionen Euro und der jetzt nagesteuer nachgedacht werden, es sollte strikte Rege-
gekürzte Finanzbeitrag an die Reeder für das Führen der lungen bei der Ausflaggungsgenehmigung durch die
deutschen Flagge, der zuvor mit jährlich 57 Millionen Bundesregierung geben, und wir müssen auf mehr Aus-
Euro zu Buche schlug. Alles in allem kommen hier pro bildung von Bordpersonal setzen, um weitere Schiffe
(B) Jahr etwa 580 Millionen Euro an Subventionen zusam- auch mit Personal aus Deutschland besetzen zu können. (D)
men. Die Seeschifffahrt bleibt damit eine stark subven- Viertens sollte das neue Bündnis auch die Probleme
tionierte Branche, obwohl sie in den Jahren vor der Krise Piraterie, Emissionshandel und Meeresschutz mit einbe-
satte Gewinne geschrieben hat. ziehen.
(Torsten Staffeldt [FDP]: Aber warum?) Greifen Sie, Herr Otto und meine Damen und Herren
von der Regierung, die Probleme umfassend auf und sor-
Natürlich ist die Kürzung von 30 Millionen Euro ein
gen Sie gemeinsam für Verlässlichkeit.
großer Brocken, doch muss sie im Verhältnis der gesam-
ten Förderung und der fehlenden Gegenleistung durch
die Reeder gesehen werden. Die 30 Millionen Euro ma- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
chen nur 5 Prozent der gesamten Fördersumme aus. Frau Kollegin, könnten Sie jetzt verlässlich zum
(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Schluss kommen?
Richtig!)
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist deswegen schon etwas vermessen, wenn man jetzt
von der Reederseite knallhart ankündigt – Herr Duin hat Ja, ich bin so gut wie dabei.
das schon aus der Financial Times Deutschland zitiert –:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir werden ausflaggen und weniger deutsche See-
leute beschäftigen … Na ja.

So geht das auch nicht. Gleichzeitig ist es genauso Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
hier einfach nur den Geldhahn aufdrehen zu wollen. Gehen Sie aufeinander zu und machen Sie das mari-
time Bündnis fit für die Zukunft. Der Fortbestand der
(Torsten Staffeldt [FDP]: Genau!) maritimen Wirtschaft, dieser durchaus wichtigen Bran-
che mit mehr als 380 000 Beschäftigten, hängt davon ab.
Denn auch als das Geld geflossen ist, wurden die Verein-
barungen nicht eingehalten. Herzlichen Dank.
Im Maritimen Bündnis muss jeder seinen Beitrag leis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ten. Deswegen muss das Bündnis jetzt erneuert werden. und bei der SPD)
13022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gab ein Konfliktthema, und zwar die Zuschüsse für (C)
Eckardt Rehberg hat das Wort für die CDU/CSU- die deutsche Seeschifffahrt. Frau Kollegin Wilms, für
Fraktion. mich sind das keine Subventionen. Die Tonnagesteuer
ist für mich Standortpolitik. Das ist erfolgreiche Stand-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ortpolitik, die dazu geführt hat, dass Deutschland der
führende Schifffahrtsstandort in der Welt ist.
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Für mich sind auch Lohnsteuereinbehalt und Lohn-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- kostenzuschüsse Standortpolitik. Denn die Europäische
ordneten! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! Ich Kommission hat 1997 und 2004 gesagt: Wir müssen die
glaube, Sie haben die falsche Überschrift gewählt. Es europäischen Flotten stärken. Herr Kollege Duin, damals
wäre in Ordnung gewesen, die Überschrift „Ergebnisse waren Sie noch nicht im Parlament, aber Rot-Grün hat
der Maritimen Konferenz“ zu wählen. Aber die Formu- regiert. Man muss fragen, warum man damals nicht die
lierung „Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch gleichen Rahmenbedingungen geschaffen hat wie Ita-
die Bundesregierung“ in der Überschrift ist aus meiner lien, Frankreich, die skandinavischen Länder und Hol-
Sicht vollkommen falsch. land. Jetzt haben wir das Ergebnis, dass bei gleicher
Tonnage ein holländisches Schiff rund 400 000 bis
Herr Kollege Duin, ich meine, Sie können – bei aller 500 000 Euro günstiger fährt als ein deutsches Schiff.
persönlichen Wertschätzung – nicht sagen: Da ist nichts Unter liberianischer Flagge ist es fast 1 Million Euro
rausgekommen. Gucken Sie sich erst einmal die Hand- Unterschied.
lungsempfehlung aus dem Workshop „Schiffbauindus-
trie“ an. Ich finde, es ist wichtig und gut, dass eine Wir müssen uns, glaube ich, an diesem Punkt damit
Arbeitsgruppe zum Thema Schiffbaufinanzierung einge- befassen, wie wir der Kritik begegnen. Der Vorstands-
setzt wird, damit die Thematik „Was können wir noch vorsitzende von Hamburg Süd, Herr Gast, beklagt in der
mehr für den deutschen Schiffbau bzw. die deutsche Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember
Werftindustrie tun“ wirklich noch einmal auf den Prüf- 2010, dass nur 440 Frachter unter deutscher Flagge fah-
stand kommt. ren. Er sagte – ich zitiere –:
Wir wollen keine höheren Bürgschaften. Herr Kollege Es gibt aber leider diverse Unternehmen, die das
Behrens, 90 Prozent Verbürgung bedeuten über 10 Pro- nicht tun.
zent Kapitalkosten. Ich möchte, dass wir wieder zu ganz
Er ist nämlich der Meinung, dass 20 Prozent der Linien-
normalen Bauzeitenfinanzierungen zurückkommen:
reeder unter deutscher Flagge fahren könnten. Weiter
80 Prozent Landesbürgschaft und 20 Prozent Fremdka-
(B) pital mit Kapitalkosten zwischen 3 und 4 Prozent. Das sagte er: (D)
macht die deutschen Werften wettbewerbsfähig. Sie haben dies aber auch nicht getan, als sie im
Boom viel Geld verdienten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn wir über das Fahren unter deutscher Flagge re-
Der Bereich maritimer Technologien ist ein Zukunfts- den, dann treffen wir immer die Falschen. Wir müssen
feld. Hier gibt es ganz konkrete Vereinbarungen im na- eigentlich die treffen, die die Tonnagesteuer in Anspruch
tionalen Masterplan „Maritime Technologien“. Dazu nehmen, aber nicht unter deutscher Flagge fahren.
wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die kleintei-
lige mittelständische Industrie bzw. das kleinteilige For- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
schungsnetz noch stärker miteinander verzahnen bzw. bei Abgeordneten der SPD)
verbinden soll. Denn bei uns fehlt im Bereich Offshore,
Deswegen glaube ich, dass wir die Tonnagesteuer mit
Öl und Gas der große Player. Eine ganz konkrete Maß-
dem Thema Lohnsteuereinbehalt verbinden müssen.
nahme ist, dass man im nächsten Jahr zum ersten Mal
Gleichzeitig müssen wir aber über die Schiffsbeset-
auf die Leitmesse nach Houston geht. Aus meiner Sicht
zungsverordnung dafür Sorge tragen, dass deutsche See-
sind das Zukunftsfelder, die von der Bundesregierung
leute auch weiterhin auf Schiffen von deutschen Reede-
ins Visier genommen werden.
reien eine Chance haben.
Sie haben hier den Eindruck erweckt, Wilhelmshaven
(Garrelt Duin [SPD]: Genau!)
sei ein Fehlschlag gewesen. Dazu sage ich: Ganz im Ge-
genteil, Wilhelmshaven war eine kontinuierliche Fort- Ich glaube, an der Stelle sind wir alle miteinander gefor-
entwicklung bzw. eine Fortsetzung der sechs vorange- dert. Denn die Reeder – Frau Wilms ist darauf eingegan-
gangenen Nationalen Maritimen Konferenzen. Gerade gen – haben auch bei der Zahl der Ausbildungsplätze die
wir aus dem Norden, Herr Kollege Duin, sollten ein es- Zusage nicht eingehalten. Heute bilden weniger Reede-
senzielles Interesse daran haben, dass diese Konferenzen reien aus als vor sieben oder acht Jahren.
weitergeführt werden; denn diese branchenübergreifende
Konferenz ist einmalig in Deutschland. Wir sollten sie Ich mache mich weder zum Fürsprecher von Verdi,
nicht schlechtreden, sondern sie positiv nach vorne tra- Herr Kollege Duin, noch zum Fürsprecher der Reeder;
gen, hinein in die gesellschaftliche Mitte der Bundesre- ich habe das Allgemeinwohl des maritimen Standorts
publik Deutschland. Deutschland im Blick. Deswegen sollten wir weiter über
die Ergebnisse der Maritimen Konferenz diskutieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber Ihr zweiter Punkt, die Aufkündigung des Mariti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13023
Eckhardt Rehberg
(A) men Bündnisses, ist sachlich nicht gerechtfertigt und und Seesicherheit gewesen. Sie haben diese Chance lei- (C)
einseitig. der verpasst.
Herzlichen Dank. Verehrter Herr Staatssekretär Otto, Sie schreiben mir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu diesem Thema, dass ausreichend Marineangehörige
im Auditorium vertreten gewesen seien; ich hoffe zu Ih-
ren Gunsten, dass es sich bei der Antwort um ein Büro-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: versehen gehandelt hat. Oder wollen Sie mir ernsthaft
Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort erklären, dass der Maritime Koordinator der Bundesre-
für die SPD-Fraktion. gierung das Thema Seesicherheit ausreichend behandelt
(Beifall bei der SPD) sieht, wenn ein paar Marineangehörige als Gäste auf der
Konferenz umherwandeln?
Karin Evers-Meyer (SPD): (Beifall bei der SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die maritime Wirtschaft hat große Bedeutung für den Kollege Otto, das ist ein bisschen unter Ihrem Niveau.
Wirtschaftsstandort Deutschland. Als Abgeordnete für (Patrick Döring [FDP]: Ihre Rede aber auch!)
die Stadt Wilhelmshaven habe ich mich auch persönlich
sehr über die Entscheidung gefreut, die Siebte Nationale Bei der deutschen Marine – das kann ich Ihnen heute
Maritime Konferenz 2011 in der Jadestadt zu veranstal- hier sagen – haben Sie sich damit nicht viele neue
ten. Das war ein sehr wichtiges Zeichen für die Region, Freunde gemacht.
für den Tiefwasserhafen, für die maritime Wirtschaft in
Deutschland und Europa und auch ein wichtiges Zeichen In Deutschland gibt es neben der Marine eine Reihe
für den größten Marinestandort in unserem Land. von Unternehmen, die im Bereich der Hafen- und See-
sicherheit tätig sind. Deutschland hat hier ein Profil, mit
Ergebnisse der Konferenz vermissen wir leider bis dem sich weltweit etwas für die Sicherheit auf See errei-
heute. In Wilhelmshaven ist klar geworden, dass Ihnen chen lässt. Das sollten wir unterstützen, und wir sollten
in der maritimen Wirtschaftspolitik eine Idee fehlt. Es die Chancen, die darin liegen, nutzen. Ich hoffe sehr,
fehlt Ihnen an Leidenschaft. dass dieser Appell heute Gehör findet.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was?) Wenn wir schon dabei sind: Mein zweiter Appell gilt
Es fehlt an einer Linie, an einem Konzept für die Zu- dem Thema Marineschiffbau, das auf der Konferenz
kunft des maritimen Standortes Deutschland. zwar eine Rolle spielen durfte, aber auch das war – mit
(B) Verlaub – keine angemessene Rolle. Das passte ebenfalls (D)
Sie haben die Maritime Konferenz nicht nur zur in das Bild einer verschenkten Konferenz. Im Verteidi-
Selbstdarstellung missbraucht – das allein wäre schlimm gungsausschuss habe ich dazu die Auskunft bekommen,
genug –, sondern Sie haben auch noch Schaden ange- dass die Bundesregierung bei der Branche keine falschen
richtet, den andere jetzt richten müssen. Man muss sich Erwartungen wecken wollte. Ich frage mich, ob das der
das einmal klarmachen: Die größte und wichtigste Kon- richtige Ansatz für eine Maritime Konferenz ist; denn
ferenz zur maritimen Wirtschaft in Deutschland findet die Idee dieser Konferenz ist doch, die gesamte Palette
am größten Bundeswehr- und Marinestandort Deutsch- an maritimen Themen zu diskutieren und nicht nur das,
lands statt, und einige für die maritime Wirtschaft welt- was der Regierung gerade besonders aussichtsreich und
weit wichtige Themen kommen schlichtweg gar nicht angenehm erscheint. Oder werden hier Themen abge-
vor. Ich spreche zum Beispiel von der Hafen- und See- setzt, die die schönen Bilder – Bundeskanzlerin Merkel,
sicherheit, für die unsere Soldatinnen und Soldaten der- Wirtschaftsminister Rösler und Verkehrsminister Ramsauer
zeit vor der somalischen Küste und anderswo erfolgreich mit goldenem Maschinentelegrafen – stören könnten?
arbeiten. Gerade beim Marineschiffbau wären eine ehrliche Be-
standsaufnahme und eine offene Diskussion über die
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass dieses
Perspektiven und Anforderungen gut gewesen. Aber
Thema – denken Sie an die Piraterie am Horn von
auch diese Chance wurde vertan. Den nächsten Telegra-
Afrika! –, das wichtig ist für die maritime Wirtschaft in
fen müssen Sie sich noch verdienen.
der Welt, in dem sich Deutschland ein Profil erarbeitet
hat und in das sich deutsche Sicherheitsfirmen mit inno- Die SPD-Fraktion und ich als Abgeordnete von der
vativen Ideen einbringen können, völlig ignoriert wird? Küste ohnehin sind immer bereit, mitzuhelfen, die mari-
80 Prozent des weltweiten Handels – das sagen auch time Wirtschaft in Deutschland zu stärken und neue
Sie immer – werden über See abgewickelt. Wir alle, die Betätigungsfelder zu erschließen. Die Maritime Konfe-
deutsche Exportnation insbesondere, sind auf sichere renz 2011 ist jedenfalls hinter ihren Möglichkeiten zu-
Häfen und verlässliche Handelswege auf See angewie- rückgeblieben. Für die Bundesregierung gilt dies nach
sen. Wilhelmshaven als größter Marinestandort wäre die meiner Einschätzung nicht. Sie haben Ihre derzeitigen
ideale Kulisse gewesen, sich diesem Thema ernsthaft Fähigkeiten ausgeschöpft, und wir haben festgestellt,
und intensiv zu widmen und vor allem ein deutsches dass diese bei weitem nicht reichen.
Profil zu schärfen. Ein eigener Bereich der Marine zu Vielen Dank.
diesem Thema auf der Maritimen Konferenz wäre die
richtige Antwort auf die Herausforderung der Hafen- (Beifall bei der SPD)
13024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Fundament. Dieses Fundament ist aber auch in diesem (C)
Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion. Jahr nicht so stark, wie vereinbart worden war. Wir sind
von der Zielgröße der 600 Schiffe nach wie vor entfernt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist ein Problem.

Torsten Staffeldt (FDP):


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wo sind die
Kiemen? Haben Sie die mitgebracht?)
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute – Nein. Das mache ich vielleicht beim nächsten Mal
einen Brückentag. Heute Morgen ging es um Brücken zu wieder.
erneuerbaren Energien, und jetzt geht es um eine Brü-
Um dieses Problem zu lösen, haben wir den Mariti-
cke, die man das Maritime Bündnis nennen kann. Das ist
men Koordinator, Herrn Hans-Joachim Otto.
eine Brücke zum Ufer der globalen Konkurrenzfähig-
keit. Diejenigen, die die Brücke gebaut haben, sind die (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er hat
Reeder, die Schiffbauer, die Hafenbetriebe, die Sozial- auch keine! Ich sehe jedenfalls keine!)
partner und die Politik. Die SPD behauptet nun, dass das
Um beim Bild der Brücke zu bleiben: Er inspiziert die
Bündnis aufgekündigt sei. Die SPD stellt sich vor die
Brücke und macht Vorschläge zur Verbesserung der
Brücke und sagt: Da ist gar keine Brücke. Wir haben sie Tragfähigkeit und der Verkehrsleistung; aber er baut sie
damals mitgebaut. Darum wissen wir das. – Nur weil die nicht. Er ist insofern, wenn Sie so wollen, ein Brücken-
SPD etwas nicht sehen will, heißt das noch lange nicht, inspektor.
dass dies nicht da ist.
(Garrelt Duin [SPD]: Auch ein Amt!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das macht er gut, und daran besteht eigentlich auch kein
Darum ist der Titel dieser Aktuellen Stunde mehr als Zweifel. Das sagen alle.
absurd. Von einer Aufkündigung des Maritimen Bünd-
nisses kann auf gar keinen Fall die Rede sein. Die SPD, Wir machen natürlich noch andere Sachen. Eine
wie üblich, verunsichert wieder einmal die Partner des breite Straße auf der Brücke ist für die deutschen Reeder
Maritimen Bündnisses und scheint das Ende des Bünd- die Tonnagesteuer. Es gibt Vorfahrtspuren auf der Brü-
nisses herbeizusehnen. Anders ist das nicht zu interpre- cke für schnellere Fahrzeuge, die besondere Kriterien er-
tieren. Das ist demagogisch, führt zu Verunsicherung füllen, zum Beispiel Ausbilden, unter deutscher Flagge
und befördert genau die falschen Reaktionen: Ausflag- Fahren. Diese Vorfahrtspuren nennen sich „Schifffahrts-
gung und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland beihilfe“, „Lohnsteuereinbehalt“ oder „Lohnnebenkos-
im schlimmsten Falle. Meine Damen und Herren von der tensubvention“.
(B) SPD, Sie reißen diese Brücke ein, unnötigerweise und (D)
Meine Damen und Herren, auch ich sehe das Pro-
fahrlässig. Um Ihre Worte, Herr Duin, zu verwenden: Sie blem, dass die Kürzungen der Mittel für den maritimen
sind die nationale Enttäuschung. Standort Deutschland mit Schwierigkeiten verbunden
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ganz stark! – sind. Darum gibt es im Moment auf den Vorfahrtspuren
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hat auf der Brücke Sperrungen und Baustellen. Daher be-
grüße ich ausdrücklich das Gesprächsangebot von Ver-
jetzt aber nicht gezündet! Betretenes Schwei-
kehrsminister Ramsauer an die Reeder und an Verdi. Es
gen!)
soll ergebnisoffen an einer Problemlösung gearbeitet
Diese Brücke wird nicht nur von den Reedern getra- werden. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Brü-
gen, sondern auch von den Schiffbauern, der Meeres- cke wieder besser befahrbar wird, dass die Baustellen
technik, den Offshoreunternehmen, den Hafenbetrieben verschwinden und dass die Geschwindigkeitsbeschrän-
und nicht zuletzt den Sozialpartnern. Um beim Bild der kungen aufgehoben werden. Das sollte schnell gesche-
Brücke zu bleiben: Auf der Brücke hat jeder seine eigene hen. Meines Wissens ist schon nächste Woche der erste
Fahrspur. Und das funktioniert auch. Wenn Sie die Er- Gesprächstermin.
gebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz ansehen, (Garrelt Duin [SPD]: Super!)
stellen Sie fest, dass die große Mehrheit der Teilnehmer
die Ergebnisse positiv bewertet. Herr Behrens, auch Meine Damen und Herren von den Unternehmen, den
wenn ich nur in zwei Workshops war, habe ich feststel- Verbänden und den Sozialpartnern, die jetzt zuhören, wir
len können, dass die Mehrheit der Workshops sehr kon- als Politik können Ihnen keine goldenen Brücken bauen;
struktiv und sehr positiv verlaufen ist. dem steht die Schuldenbremse des Grundgesetzes entge-
gen. Wir können Ihnen aber versichern, dass wir dafür
Alle Partner müssen bei dieser Brücke ihren Teil zum arbeiten, die breite Brücke des Maritimen Bündnisses
Erfolg beitragen. Vor allen Dingen mit den Reedern ha- befahrbar zu halten.
ben wir Probleme. Man muss ganz klar sagen: Die Ree-
der, die unter deutscher Flagge fahren, sind ein Teil des Vielen Dank.
Fundaments dieser Brücke. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ingo Egloff redet jetzt für die SPD-Fraktion.
– Danke, danke. – Gerade die wenigen, die seit Jahren
unter deutscher Flagge fahren, sind ein wesentliches (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13025

(A) Ingo Egloff (SPD): Deutschland endlich erkennen würde, meine Damen und (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herren! Herr Kollege Staffeldt, zu sagen, die SPD ge- (Beifall bei der SPD
fährde das Maritime Bündnis, weil sie auf die Gefahren
hinweise, die vonseiten der Bundesregierung ausgingen, Wir kommen jedenfalls mit Fensterreden nicht weiter.
ist ein bisschen – wenn wir schon von Spuren auf Brü- Fensterreden werden nicht dafür sorgen, dass Arbeits-
cken usw. reden – neben der Spur. Fakt ist doch, dass in plätze auf deutschen Schiffen geschaffen werden. Wenn
einem Moment, wo hier allgemein festgestellt wird, dass weiterhin Schiffe ausgeflaggt werden, dann können ja
sich die Reeder nicht an die getroffenen Verabredungen Herr Otto und Herr Ramsauer am Kai stehen und den
gehalten haben, diese Bundesregierung den Reedern zu- Schiffen hinterherwinken, wenn sie unter der Flagge
sätzliche Munition dafür gibt, dieses Bündnis aufzukün- Maltas, Zyperns oder Liberias fahren. Aber welche
digen, indem die Lohnnebenkostenhilfen halbiert wer- junge deutsche Frau oder welcher junge deutsche Mann
den. soll denn eine nautische Ausbildung anstreben, wenn
klar ist, dass sie hinterher unter der Flagge Liberias fah-
(Torsten Staffeldt [FDP]: Selbstmord ist das ren müssen? Das ist doch unrealistisch.
doch!)
(Beifall bei der SPD)
Herr Staatssekretär Ferlemann sagte laut Frankfurter
Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi in Hamburg
Allgemeine Zeitung: Die Anträge für 2010 hatten zur
hat dazu gesagt – Gewerkschafter haben ja immer eine
Folge, dass bereits 2011 das ganze Geld ausgegeben ist.
etwas drastische Ausdrucksweise –: Es reicht nicht aus,
Was will Herr Ramsauer den Reedern in dem Gespräch
„La Paloma“ durch das Bullauge zu pfeifen. Wer das tut,
denn sagen? Diese Frage stellt sich doch an dieser Stelle.
der hat noch lange keinen Beitrag zur deutschen See-
Ich glaube, dass das das falsche Signal für die maritime
schifffahrt geleistet. – Recht hat er, der Mann.
Wirtschaft ist.
Vielen Dank.
Da die maritime Wirtschaft 12 Prozent des Bruttoin-
landsproduktes in diesem Land erwirtschaftet und über (Beifall bei der SPD)
400 000 Arbeitsplätze bis weit in den Süden der Repu-
blik hinein geschaffen hat, hat die SPD unter Bundes- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
kanzler Schröder dafür gesorgt, dass im Rahmen dieser Der Kollege Dr. Matthias Heider spricht jetzt für die
Maritimen Konferenz versucht wurde, alle Player an ei- CDU/CSU-Fraktion zu uns.
nen Tisch zu bringen. Das war acht oder neun Jahre lang
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) erfolgreich, auch unter der Großen Koalition. (D)
(Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Heider (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Sie haben mit den von Ihnen angekündigten Kür-
zungsmaßnahmen erreicht, dass ein Teil der Mitglieder Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Egloff,
dieses Maritimen Bündnisses sagt: Wir können uns vor- lapidar ist das natürlich nicht, wenn eine Branche eine
Sonderveranstaltung im Rahmen des Regierungsalltags
stellen, auszusteigen. Sie sind diejenigen, die mit dieser
Politik denen auch noch Argumente für diesen Ausstieg bekommt. Das wird nicht jeder Branche zuteil. Die Re-
liefern. Deswegen ist es falsch, meine Damen und Her- sonanz auf die Siebte Nationale Maritime Konferenz in
Wilhelmshaven hat einmal mehr die herausragende Be-
ren, an dieser Stelle so zu handeln. Richtig wäre es, bei
den Zuschüssen zu bleiben und gleichzeitig die Reeder deutung der Exportnation Deutschland belegt. Sie ist
zu verpflichten, sich an die Vereinbarungen zu halten, mehrfach angesprochen worden: 95 Prozent des inter-
kontinentalen Warenaustauschs werden über den See-
die wir mit ihnen getroffen haben, meine Damen und
Herren. weg abgewickelt, 90 Prozent des europäischen Außen-
handels und 60 Prozent des deutschen Exports, über den
(Beifall bei der SPD) wir uns übrigens neulich im Wirtschaftsausschuss unter-
halten haben.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede dazu lapidar
gesagt – ich habe das nachgelesen –: „Ich frage mich, ob Diese Zahlen veranschaulichen, dass die Hafenwirt-
die Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten unbedingt not- schaft und die Seeschifffahrt nicht nur für die Küsten-
wendig sind“, ohne das weiter auszuführen. Weiter region eine sehr große Bedeutung haben, sondern für
wurde gesagt, der Bundesverkehrsminister stehe für wei- ganz Deutschland und den Europäischen Wirtschafts-
tere Gespräche bereit. Das ist, glaube ich, schlicht und raum spielen sie eine bedeutende Rolle.
ergreifend zu wenig, wenn man das Maritime Bündnis Häfen sind die Brückenköpfe der Wirtschaft, und die
am Leben erhalten will. Logistikkette entfaltet ihre Tiefenwirkung bis weit in das
deutsche Hinterland, aus dem übrigens ein Großteil der
Natürlich muss der Bundesverkehrsminister für derar-
Waren kommt, die exportiert werden.
tige Gespräche bereitstehen. Das ist sein Job. Sein Job ist
es im Übrigen auch, dafür zu sorgen, dass das Maritime Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung
Bündnis weiter existiert, genauso wie es der Job der haben die Bedeutung der maritimen Wirtschaft immer
Bundeskanzlerin wäre, das zu tun, wenn sie denn die Be- wieder betont und entsprechend gehandelt. In dem Be-
deutung der maritimen Wirtschaft in der Bundesrepublik richt über die maritime Wirtschaft wird dies ebenso
13026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Matthias Heider


(A) deutlich wie im Antrag der Union und der FDP zur Zu- die steuerlichen Ausfälle bei dieser Pauschalsteuer auf (C)
kunftsfähigkeit. Dass neben Häfen, Schiffbau und mari- 500 Millionen Euro. Die nun in Rede stehenden 56 Mil-
timen Technologien auch die leistungsfähige deutsche lionen Euro machen nur ein Zehntel der bisherigen Sub-
Seeschifffahrt von hoher Bedeutung ist, versteht sich ventionen in Höhe von 556 Millionen Euro in Form von
von selbst. Tonnagesteuervorteilen plus Lohnkostenzuschüssen aus.
(Johannes Kahrs [SPD]: Aber dann müssen Nimmt man das Ziel der Haushaltskonsolidierung
Sie etwas dafür tun!) ernst – das tun Sie, liebe Kollegen von der SPD, offenbar
nicht –, kann man der deutschen Seeschifffahrt durchaus
Der Zweck, den maritimen Standort Deutschland zu zumuten, einen solchen Beitrag zu erbringen, zumal die
stärken, Wertschöpfung und Ausbildung auch unter Prognosen für den internationalen Handel hervorragend
wettbewerblich schwierigen Bedingungen zu erhalten, sind. Dass darüber hinaus in Zeiten wirtschaftlichen
ist eine Herausforderung. Wir wollten es den deutschen Aufschwungs deutsche Kapitäne und Offiziere gefragt
Reedern mit dem Maritimen Bündnis ja erleichtern, un- sind und zu guten Konditionen auch unter anderen Flag-
ter deutscher Flagge zu fahren. Die Bundeskanzlerin hat gen fahren, zeigt, dass wir uns um das maritime Fach-
in Wilhelmshaven betont, dass sie die Erfolgsgeschichte wissen keine Sorgen zu machen brauchen.
des Bündnisses fortschreiben will.
(Torsten Staffeldt [FDP]: Richtig!)
(Zuruf von der SPD: Im Haushalt sieht man
das aber nicht!) Ich komme zum Schluss: Ihre Vorhaltungen, meine
Damen und Herren von der SPD, sind reiner Alarmis-
Von einer Aufkündigung kann da überhaupt keine Rede mus. Es bleibt also die Frage zu klären, warum Sie diese
sein, Herr Kollege Egloff. Aktuelle Stunde überhaupt auf die Tagesordnung ge-
bracht haben. Die Substanzlosigkeit Ihrer Vorwürfe lässt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – eigentlich nur eine Erklärung zu: Die Idee kam Ihnen in
Garrelt Duin [SPD]: Sie müssen nicht nur eine dieser Woche, als Sie auf der Spargelfahrt des Seeheimer
Veranstaltung organisieren, Sie müssen auch Kreises auf Havel und Spree unterwegs waren,
etwas dafür tun!)
(Garrelt Duin [SPD]: Daran werden Sie nie
Die Gewerkschaften hingegen klagen in der Online- teilnehmen! – Thomas Oppermann [SPD]:
ausgabe der Welt am 31. Mai über den angeblichen Teil- Man merkt: Sie kennen die Geschäftsordnung
ausstieg aus dem Maritimen Bündnis. Von dem in dem des Bundestages nicht!)
Artikel zitierten Hamburger Verdi-Landeschef Rose
hätte ich mir eine solch sorgenvolle Betrachtung auch sich im Überschwang für Ihre Oppositionsarbeit auf die
Schultern geklopft haben und die Wellen an der Reling
(B) einmal gewünscht, als der DGB im Herbst letzten Jahres des Schiffes „La Paloma“ – so hieß es übrigens – richtig (D)
aus dem Ausbildungspakt ausgestiegen ist, meine Da-
men und Herren. hochgeschlagen haben. Da haben Sie sich überlegt: Die-
ses Thema gehört eigentlich auf die Tagesordnung dieses
(Beifall bei der CDU/CSU – Ingo Egloff [SPD]: Hauses.
Herr Rose ist immer sorgenvoll!)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Gewerkschaften und SPD erheben hier den Vorwurf, der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Das war we-
dass die Zuschüsse zur Senkung der Lohnkosten in der sentlich bedeutender als das, was Sie gestern
Seeschifffahrt von 56 Millionen auf 28 Millionen Euro Nachmittag als Aktuelle Stunde beantragt ha-
in 2011 reduziert wurden und in 2012 ganz auslaufen. ben!)
Aber über welche Dimensionen reden wir hier eigent-
lich, Herr Kollege Duin? Durchschnittlich entfielen von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
den 56 Millionen Euro auf jedes der 566 im Jahr 2010 Herr Kollege, bevor Sie jetzt anfangen, zu singen – –
unter deutscher Flagge fahrenden Handelsschiffe genau
98 936 Euro pro Jahr. Das entspricht den Brennstoffkos-
ten eines 8 000-TEU-Containerschiffes pro Tag auf Ba- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU):
sis des aktuellen Energiepreisniveaus. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Aktuell
haben wir hier einige SPD-Beiträge zu diesem Thema
(Garrelt Duin [SPD]: Warum streichen Sie das gehört. Auf alle Fälle hatten sie nichts mit Haushaltskon-
denn dann nicht ganz, wenn es zu wenig ist?) solidierung zu tun und stellten auch keinen Beitrag zur
Zum Fahren der derzeit größten Containerschiffe der Verbesserung des Maritimen Bündnisses dar.
Emma-Mærsk-Klasse mit 14 700 TEU werden gerade Vielen Dank.
einmal 13 Mann Besatzung benötigt. Die Bedeutung der
Personalkosten in der Seeschifffahrt nimmt ab. Diese be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo
triebswirtschaftlichen Eckpunkte nenne ich nur, damit Egloff [SPD]: Wir wissen jedenfalls, wovon
einmal klar ist, wovon wir hier überhaupt reden. wir reden!)

Die Bundeskanzlerin hat den Reedern auf der Mariti- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
men Konferenz ein klares Bekenntnis zur Ausbildungs- Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort für die SPD-
platzförderung in Höhe von 7,5 Millionen Euro und zu Fraktion.
den Regelungen zur Tonnagesteuer überbracht. Laut
Subventionsbericht der Bundesregierung belaufen sich (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13027

(A) Hans-Joachim Hacker (SPD): folgreiche Projekte ab. Das ist keine gute Politik für (C)
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Deutschland und im konkreten Fall nicht für die mari-
und Kollegen! Herr Heider, mit der Kenntnis der Ter- time Wirtschaft.
minplanung des Deutschen Bundestages scheint es bei
(Beifall bei der SPD – Eckhardt Rehberg
Ihnen ja ein bisschen zu hapern; denn wenn erst auf der
[CDU/CSU]: Es sollten sich nur die melden,
Spargelfahrt der Beschluss zur Beantragung dieser Aktu-
die was zur maritimen Wirtschaft zu erzählen
ellen Stunde gefasst worden wäre, dann wäre dieses
haben!)
Thema erst in der nächsten Sitzungswoche auf die Ta-
gesordnung gekommen. Aber sei’s drum. Das sollte ja Ich hätte gedacht, dass die maritime Politik, gerade
ein Gag von Ihnen sein; er ist nicht ganz so angekom- weil die Kanzlerin einen Wahlkreis an der Küste hat, die-
men. ser Koalition eine Herzensangelegenheit wäre,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – (Johannes Kahrs [SPD]: Das Gegenteil ist der
Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Bei Ihnen Fall! – Gegenruf des Abg. Eckhardt Rehberg
vielleicht nicht!) [CDU/CSU]: Nun ist aber gut!)
Ich denke, die heutige Debatte hat deutlich gemacht, dass sie mit Engagement und Empathie betrieben würde.
dass die Siebte Maritime Konferenz nicht die Erwartun- Aber Zukunftsfragen der maritimen Wirtschaft werden
gen erfüllt hat, die an sie gestellt worden sind. Wir woll- in der Bundesregierung nicht beantwortet,
ten nicht, Herr Staffeldt, dass hier heute darüber disku-
tiert wird, was die maritime Wirtschaft leistet, sondern (Johannes Kahrs [SPD]: So ist das! – Patrick
wir wollten heute über die Politik der Bundesregierung Döring [FDP]: Von Ihnen werden die ja nicht
und ihre Konzepte diskutieren. Ich sage es Ihnen in ei- mal gestellt!)
nem Satz: Diese Bundesregierung fährt in der maritimen
weder in der Maritimen Konferenz noch in anderen Ge-
Politik ohne Kompass und ohne Ziel, und das darf nicht
sprächen mit Ihnen, Herr Staatssekretär. Das darf so
so bleiben.
nicht bleiben; denn das ist nicht gut für den Norden.
(Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]: Ebenso wenig gut ist es für Süd- und Südwestdeutsch-
Wir haben GPS!) land, wo wichtige Zulieferbetriebe ihren Sitz haben und
wo bedeutsame Warenströme ihren Ursprung haben, die
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mariti- über die Häfen abgewickelt werden.
men Konferenzen der letzten Jahre, die ja auf Bundes-
kanzler Gerhard Schröder zurückgehen, waren Treffen, (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Kommt da noch
(B) bei denen maritime Bündnisse geschmiedet wurden, bei mal Butter bei die Fische, oder was?) (D)
denen konkrete Verabredungen getroffen wurden und bei
denen auf aktuelle Fragen ganz konkrete Antworten ge- Ich möchte an dieser Stelle auch Herrn Ferlemann
geben wurden. einmal ansprechen. Herr Ferlemann, Sie schreiben ge-
rade fleißig. Ich hätte mir gewünscht, dass auf der Mari-
(Johannes Kahrs [SPD]: Das war halt ein guter timen Konferenz in Wilhelmshaven endlich einmal eine
Kanzler!) konkrete Aussage zur Elbe getroffen worden wäre.
– Das ist richtig, Herr Kahrs. – Die Siebte Maritime (Patrick Döring [FDP]: Da läuft ein Planfest-
Konferenz war aber nun wirklich keine Erfolgsge- stellungsverfahren!)
schichte. Herr Staatssekretär, Sie haben Selbstlob ver-
teilt. Aber das, womit Sie sich geschmückt haben, waren An den Binnenhäfen an der Elbe, zum Beispiel in Wit-
Leistungen der maritimen Wirtschaft, nicht Leistungen tenberge, wird investiert. Wir warten dringend auf eine
der Bundesregierung. Das können wir so nicht stehen Positionierung des Bundesverkehrsministeriums in der
lassen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie ein Konzept Frage, wie es mit der Nutzung der Elbe weitergehen soll
dazu vorlegen, wie es mit der maritimen Wirtschaft in und wie wir unsere Vereinbarung mit Tschechien erfül-
Deutschland weitergehen soll. len können. Da haben Sie eine Bringschuld. Sie können
das nicht weiter auf die lange Bank schieben. Sie müssen
(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim jetzt einen konkreten Vorschlag machen – wenn mög-
Bundesminister für Wirtschaft und Technolo- lich, noch in diesem Jahr, am besten noch vor der Som-
gie: Das habe ich doch gesagt!) merpause, Herr Ferlemann.
– Nein, das hat gefehlt. (Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim
(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
Bundesminister für Wirtschaft und Technolo- wicklung: Ja, mache ich!)
gie: Sie haben meinen Bericht nicht gelesen! – – Herzlichen Dank.
Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sie waren ja
gar nicht da! Das ist das Problem: nicht da ge- (Beifall bei der SPD)
wesen sein und keine Handlungsempfehlun-
gen gelesen haben!) Heute ist viel über Offshore gesprochen worden. Die
Kanzlerin hat einen Förderrahmen von 5 Milliarden
Bei der Maritimen Konferenz machen Sie das Gleiche Euro angeboten. Aber sie hat nicht gesagt, wie das um-
wie im Bereich der Städtebauförderung: Sie wickeln er- gesetzt werden soll.
13028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Hans-Joachim Hacker
(A) (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Stimmt doch Hans-Joachim Hacker (SPD): (C)
nicht! Liegt doch alles vor! – Eckhardt – dann geht dieses an die Kollegen von der Union, die
Rehberg [CDU/CSU]: Auch das wieder nicht sich mit diesem Thema beschäftigen. Ich vermisse Ihr
gelesen, das Programm nicht durchgelesen!) Engagement
Es muss weiterhin darum gehen, dass die Offshorege- (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Hat er zehn Mi-
biete an das deutsche Netz angebunden werden. Herr nuten Redezeit?)
Rehberg, da haben Sie in der Vergangenheit auf das fal-
sche Pferd gesetzt. Sie haben Offshore vernachlässigt, für den Hafen Mukran im Wahlkreis der Bundeskanzle-
rin.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was?)
(Beifall bei der SPD)
und zwar zugunsten der Atomindustrie.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –
Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Die Diskussion Herr Kollege!
hatten wir heute Morgen! Thema verfehlt! Sag
doch noch was zu Ehec!) Hans-Joachim Hacker (SPD):
Dort ist ein riesiges Areal mit Loks der Deutschen
Sie haben jetzt die Wende geschafft und schalten nun Bahn AG vollgestellt. Dieser Hafen muss dringend ent-
um. In der Vergangenheit haben Sie ganz andere Priori- wickelt werden.
täten gesetzt.
Herzlichen Dank.
Im Zusammenhang mit Offshore stelle ich die Frage:
Wo sind Ihre Angebote zur Finanzierung des Baus von (Beifall bei der SPD – Eckhardt Rehberg
Spezialschiffen im Rahmen des KfW-Sonderprogramms [CDU/CSU]: 15. Juni ist Spatenstich für die
„Offshore-Windenergie“? Darauf wartet die Wirtschaft. B 96! Was ihr acht Jahre nicht geschafft habt,
Es gibt kein Angebot. haben wir in zwei Jahren hingekriegt!)

Wenn wir über Offshore diskutieren, stellt sich für die


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
SPD auch die Frage nach der Lebens- und Rechtssitua-
tion der Arbeitnehmer in diesem Bereich. Wann wollen Patrick Döring hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
Sie Regelungen treffen im Hinblick auf Arbeitsschutz, tion.
Tarifverträge und Mindestlöhne? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) (D)
(Patrick Döring [FDP]: Das machen immer
noch die Sozialpartner in Deutschland!) Patrick Döring (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was sich in diesem Bereich abspielt, ist nicht in Ord- Wieder einmal wird in dieser Debatte versucht, mithilfe
nung. Da brauchen wir Regelungen. Wir können das mit eines völlig an der Realität vorbeigehenden Zerrbildes,
auf den Weg bringen. Für den Gesundheitsschutz ist das hier insbesondere durch die Sozialdemokraten in ih-
auch die Bundesregierung verantwortlich. ren Reden gezeichnet wird, die Situation in Deutsch-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) land – in diesem Fall der maritimen Wirtschaft – völlig
falsch darzustellen.
Auf all diese Fragen haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, keine Antwort gegeben. Geschätzter Herr Kollege Hacker, die Lebensbeichte
über die schönsten Projekte des Wahlkreises kann man
zu Hause vortragen, aber sie hat in dieser Rede nun
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wirklich nichts zu suchen. Diese Bundesregierung und
Herr Kollege? diese Koalition investieren mehr als alle Vorgängerregie-
rungen und -koalitionen in Hafenhinterlandanbindun-
gen,
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Ich werfe noch einen Blick in Richtung Verkehrs- (Ingo Egloff [SPD]: Das werden wir erst noch
ministerium. Der Fokus muss viel stärker auf die Hinter- mal sehen!)
landanbindung gerichtet werden, Herr Ferlemann. in das Schienennetz vor Wilhelmshaven, in die Ertüchti-
Wenn ich dann ein letztes Wort sagen darf, Frau Präsi- gung des Eisenbahnknotens Bremen, in die Anbindung
dentin, – des Hamburger Hafens durch das dritte und vierte Gleis,
(Ingo Egloff [SPD]: Was ist mit der Y-Trasse?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: durch die Ertüchtigung der Strecke Uelzen–Stendal und
Ein letztes Wort, ein letzter Blick. durch die Planfeststellung für die Y-Trasse.
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Schluss, (Ingo Egloff [SPD]: Die Planungskosten für
Ende!) die Y-Trasse zahlen die Bundesländer!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13029
Patrick Döring
(A) Wir sorgen dafür, dass unsere Seehäfen auf leistungsfä- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
higen Strecken angebunden werden – mehr als alle ande- Garrelt Duin [SPD]: Das hätten Sie sich vorher
ren Regierungen vor uns. überlegen müssen!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir reden hier über 580 Millionen Euro Hilfe und
weit darüber hinausgehende zusätzliche Anstrengungen
Das gehört eben auch zur Leistung dieses Staates. der öffentlichen Hand. Da muss ich sagen – die Kollegin
Evers-Meyer musste schon gehen –: Man kann darüber
Dazu kommen 580 Millionen Euro unmittelbare Hil- streiten, ob es richtig oder falsch war, dass das Thema
fen für diese Branche. Es ist ein großes Verdienst der Pirateriebekämpfung auf der maritimen Konferenz nicht
Haushälterinnen und Haushälter dieser Koalition und der diskutiert wurde. Aber ich hätte mir schon gewünscht,
Fachpolitiker, dass in dieser gewaltigen Unterstützung dass man auch anerkennt, dass dieser Staat bzw. der
weitestgehend keine Kürzungen vorgenommen wurden, Deutsche Bundestag weit über die Fraktionsgrenzen der
einer Unterstützung, die wir zu Recht erbringen, weil wir Koalition hinaus mit gewaltigen Anstrengungen, auch fi-
mit der Tonnagesteuer 1998 ein europäisches Besteue- nanzieller Art, die Sicherheit der Seewege garantiert und
rungsregime geschaffen haben. den militärischen Einsatz finanziert. Auch das gehört
hinzugerechnet, wenn man über die Hilfe für die See-
Aber ich sage auch: Man macht einen Fehler, wenn wirtschaft und unsere Wirtschaft spricht. Das ist ein Ver-
man wegen der Kürzung von 27 Millionen Euro im Bun- dienst des gesamten Deutschen Bundestages. Das kann
deshaushalt aus der florierenden maritimen Wirtschaft man auch als Oppositionsredner erwähnen.
eine Elendsbranche macht, indem man sie herbeiredet.
Damit tut man der Branche keinen Gefallen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kommen wir zu den Herausforderungen an die Inves-
titionen für die Infrastruktur unserer Seehäfen. Auch in
Lassen Sie mich auf das kommen, was der Kollege der Rede von Herrn Duin ist wieder das leidige Thema
Hacker eben zum Thema Offshore gesagt hat. Wir wer- Wasser- und Schifffahrtsverwaltung angesprochen wor-
den in den auf der Konferenz zuständigen Arbeitskreisen den.
und überall, wo wir zurzeit reden, für das, was wir in (Garrelt Duin [SPD]: Das ist Ihnen leidig! Das
diesem Bereich tun, gelobt. ist aber der Branche nicht leidig!)
(Garrelt Duin [SPD]: Was ist das denn für eine – Sehr geschätzter Herr Kollege Duin, das Einzige, was
Veranstaltung gewesen?) in diesem Fall zur Verunsicherung beiträgt, sind die
Wortmeldungen von Ihnen und dem geschätzten Kolle-
(B) Wir realisieren schnell und zügig eines der größten in- (D)
gen Beckmeyer;
dustriellen Förderprojekte – über 5 Milliarden Euro
KfW-Mittel –, die es jemals gab. Wer uns vorwirft, wir (Garrelt Duin [SPD]: Die ganze Branche
hätten an dieser Stelle aufs falsche Pferd gesetzt, hat schüttelt den Kopf über Sie!)
nicht begriffen, welche gewaltige Anstrengung wir mit denn niemand sonst verbreitet Verunsicherung zu diesem
der Hilfe der KfW geleistet haben und was wir dort ins- Thema. Im Koalitionsvertrag haben wir angekündigt,
gesamt auf den Weg bringen. dass wir leistungsfähige Verwaltungsstrukturen schaffen
wollen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das werden Sie
Aber wir müssen auch sehen: Wahrscheinlich hat die doch nicht! – Garrelt Duin [SPD]: Was ver-
Kürzung im Bundeshaushalt Auswirkungen auf die Be- birgt sich denn dahinter?)
schäftigung und Ausbildung von deutschen Seeleuten.
Diese müssen wir in den Gesprächen, die das Ministe- Diese leistungsfähigen Verwaltungsstrukturen werden
rium führt und die wir als Berichterstatter führen, noch wir nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses mit
einmal genau analysieren; vielleicht müssen wir auch zu dem Ministerium ganz in Ruhe aufbauen. Parallel dazu
anderen Lösungen kommen. Da geht es nicht darum, werden wir schauen, wo wir die Investitionen konzen-
dass der eine den anderen bestraft oder der eine dem an- trieren können.
deren Wortbruch vorwirft oder gar eine Fraktion im (Johannes Kahrs [SPD]: Wo denn? – Hans-
Deutschen Bundestag einseitig ein Bündnis, das die Re- Joachim Hacker [SPD]: Hü und hott!)
gierung und die Branche geschlossen haben, aufkündigt.
Es geht vielmehr darum, richtige und solide Lösungen Es ist ein Verdienst des Hauses, dass wir über die Inves-
jenseits von Haushaltsbelastungen zu finden, zum Bei- titionsnotwendigkeiten in diesem Bereich offensiv spre-
spiel über Entschlackung und Entbürokratisierung, über chen.
andere Verfahren oder Anrechnungsmöglichkeiten oder Abschließend will ich auf Folgendes hinweisen: In
über Veränderungen bei der Tonnagesteuer. Dresden hat die frühere Ratspräsidentin der EKD, Frau
(Zuruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) Käßmann, gesagt:
(Garrelt Duin [SPD]: Jetzt müssen Sie da
All das ist möglich. Das kann man besprechen. Jeden- schon Hilfe suchen?)
falls wollen wir nicht, dass maritime Kompetenz in
Deutschland verloren geht. Das gilt es zu verhindern. Nichts ist gut in unserem Land …
13030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Patrick Döring
(A) So ähnlich haben sich auch die Debattenbeiträge der Vorher möchte ich einen Satz zu Herrn Behrens sa- (C)
Sozialdemokraten angehört. Ich glaube, wir sind als deut- gen. Herr Behrens, ich bin von Ihrem Beitrag für die
sche Parlamentarier aufgerufen, in diese Mentalität nicht Linke mehr als entsetzt. Ich nehme an, dass Sie zu einer
einzustimmen. In Deutschland ist viel mehr gut, als viele, alternativen maritimen Konferenz vorgetragen haben.
viele Menschen, offenbar auch in der SPD, glauben. Ich sage nur etwas zu Ihren Aussagen zur Vertiefung von
Elbe und Weser, die ich der Presse entnommen habe: Mit
(Garrelt Duin [SPD]: Nur die Bundesregierung einem Kanuboot werden wir niemals Container in die
nicht!) Häfen bekommen; aber das fordern Sie im Grunde.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom- Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist ja eine
men. schlaue Feststellung!)
Ich hätte allerdings auch gern meine Wahlkreiskolle-
Patrick Döring (FDP): gin Evers-Meyer angesprochen, nur ist sie leider nicht
Wir werden sicherstellen, dass dies auch bei denen mehr da. Sie hat sich in der lokalen Presse darüber be-
ankommt, die betroffen sind. schwert, dass die Marine nicht entsprechend beteiligt ist,
dass die Piraterie nicht auf der Tagesordnung stand. Ich
Vielen Dank.
hätte mir von der SPD-Fraktion gewünscht, dass dieses
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thema in ihrem Antrag zur Maritimen Konferenz breiter
Johannes Kahrs [SPD]: Phrasendreschma- behandelt worden wäre. Bei uns wurde es breit behan-
schine!) delt. Wäre Frau Evers-Meyer damals bei der Debatte da-
bei gewesen, hätte sie es mitbekommen. Aber leider war
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: es so: Eröffnung, Abendessen und dann wieder weg. Das
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich genügt nicht, wenn man diese Themen ernsthaft bespre-
Kollegen Hans-Werner Kammer das Wort. chen will.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: So kann
man nicht mit der Bundeskanzlerin umgehen!)
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich sage ausdrücklich: Ich nehme es nicht hin, dass
Wir werden es sicherlich unterschiedlich beurteilen, ob meine Kollegin sagt, die Fähigkeiten der Regierung
(B) die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelms- reichten nicht aus. Wir waren in einer Großen Koalition. (D)
haven ein großer Erfolg war oder nicht. Für mich jeden- Da war ein Minister –
falls ist klar: Diese Maritime Konferenz war ein großer
Erfolg. (Garrelt Duin [SPD]: Wir können nichts dafür,
aber es ist so! – Hans-Joachim Hacker [SPD]:
(Johannes Kahrs [SPD]: War sie nicht!) Wir können es doch nicht ändern!)
Ich möchte das anhand von zwei Punkten herausstellen. – Herr Duin, nun hören Sie doch einmal zu – Tiefensee
Zum einen war die Veranstaltung auf dem Bauge- gemeinsam mit uns in Wilhelmshaven.
lände des ersten deutschen Tiefwasserhafens ein einzig-
(Patrick Döring [FDP]: Sie nannten ihn
artiges Symbol für den Aufbruch der deutschen mariti-
„Pfütze“!)
men Wirtschaft in eine neue Zeit.
Zum anderen ging von ihr die klare Botschaft an die Als er wieder in Berlin war, hatte er nur vergessen, dass
Wirtschaft in der ganzen Welt aus: Die maritime Wirt- es in Deutschland überhaupt eine Küste gibt; das muss
schaft in Deutschland bleibt international führend und man dazusagen.
hat weiterhin gewaltige Wachstumspotenziale. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Sozialdemokraten haben nach Ergebnissen ge-
Wir haben in mehreren Arbeitsgruppen die verschie-
fragt.
denen Themen besprochen. Ich war in der Arbeitsgruppe
(Garrelt Duin [SPD]: Da müssen Sie mal lie- „Hafenwirtschaft & Logistik“. Da ging es um die Zu-
fern! – Johannes Kahrs [SPD]: Im Haushalt kunft der deutschen Häfen. Ich habe dort Perspektiven
steht nichts!) und Strategien für die Hinterlandanbindung, die Y-Trasse
und die Vertiefungen von Weser, Elbe und Ems ange-
Das ist absolut verständlich. Denn es waren nur wenige sprochen. Das war aber für einen ehemaligen SPD-Bür-
SPD-Bundestagsabgeordnete auf der Konferenz bzw. sie germeister offensichtlich zu anspruchsvoll; es ging ihm
waren nur für kurze Zeit da. Vor allem waren sie nicht nur um die Klassifizierung der Fließgewässer. So sehen
dabei, als die Präsentation der Ergebnisse der Gespräche intellektuelle Tiefpunkte aus; auch das muss man dazu
in den Foren anstand; da fehlten etliche. sagen.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Deshalb will ich Ihnen gern etwas Nachhilfe geben. der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13031
Hans-Werner Kammer
(A) Unbestrittener Höhepunkt der Maritimen Konferenz Otto Fricke (C)
war aber das persönliche Bekenntnis unserer Kanzlerin Dr. Gesine Lötzsch
zur Küste, zu ihren Menschen und ihrer Wirtschaft. Sven-Christian Kindler
(Garrelt Duin [SPD]: Was soll sie sonst auch Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
tun? „Ich bekenne mich zur Küste“!) Bündnis 90/Die Grünen vor.
Allen Anwesenden – aber nur denen, Herr Duin – wurde Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
wieder einmal bewusst: Diese Bundesregierung setzt die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
Rahmenbedingungen für die Zukunft. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Sie haben von einer Kündigung des maritimen Pakts Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Antje
gesprochen. Was Sie dazu gesagt haben, ist schlichtweg Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
die Unwahrheit. Wenn Sie nicht schon Rote wären, dann
müssten Sie von der Sozialdemokratie jetzt rot werden.
Antje Tillmann (CDU/CSU):
Da haben Sie uns wirklich die Unwahrheit gesagt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Ich glaube, es ist klar, dass wir vor dem Hintergrund verabschieden heute mit dem Entwurf eines Steuerver-
der wirtschaftlichen Erholung auch unseren Subven- einfachungsgesetzes einen Gesetzentwurf, den Sie, liebe
tionskurs korrigieren müssen. Mein Kollege Dr. Heider Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, als lä-
hat bereits gesagt, dass wir einige Dinge zurücknehmen cherlich bezeichnet haben. Deshalb beginne ich mit ein
müssen. Diese Korrektur fällt aber sehr moderat aus, so- paar Zitaten aus dem Protokoll der Anhörung, die wir
dass es wirklich keinen sachlichen Grund zur Panikma- dazu durchgeführt haben. Professor Dr. Loritz sagte:
che gibt. Wir steigen nicht aus dem Maritimen Bündnis „Ich beurteile das Ziel des Gesetzes uneingeschränkt po-
aus, ganz im Gegenteil: Wir sichern insbesondere die sitiv.“ Weiter meinte er: Es ist „die einzige realistische
Ausbildung qualifizierter Nachwuchskräfte für den ma- Chance, dass man sich einzelne Gesetzesänderungen
ritimen Standort Deutschland. Das war so, und das wird vornimmt, um insgesamt eine Vereinfachung zu errei-
auch so bleiben. chen“.
Als Abgeordneter des Wahlkreises Wilhelmshaven (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist das! –
freue ich mich besonders über das Ergebnis der Siebten Manfred Zöllmer [SPD]: Das war auch der
Nationalen Maritimen Konferenz. Wenn wir auf diesen Einzige!)
Ergebnissen aufbauen, werden wir weitere Erfolge für
unser Maritimes Bündnis erzielen, und das ist gut so. – Nein, der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine
(B) Dieses Signal ist von der Konferenz in Wilhelmshaven sagt: (D)
ausgegangen. Darüber freue ich mich besonders. Wir begrüßen insbesondere, dass man sich bemüht,
Danke. im Gesetz zu bleiben, also nicht einen riesengroßen
Wurf zu machen, der dann viele neue Unwägbar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keiten nach sich zieht, sondern sich einzelne Rege-
lungen vornimmt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Auch der Familienbund der Katholiken sagt zu den
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Familienmaßnahmen im Gesetzentwurf:
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Die … Maßnahmen im Bereich der Familienbe-
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- steuerung … werden von uns sehr begrüßt.
gierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerver-
Sie sehen, liebe Kollegen, Sie sind allein mit Ihrer
einfachungsgesetzes 2011
Kritik.
– Drucksachen 17/5125, 17/5196 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss) Ich weiß auch, warum.
– Drucksachen 17/6105, 17/6146 – (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]:
Nichts hinkriegen, aber meckern!)
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann Sie haben an dem Gesetzentwurf außer Kleinigkeiten gar
Lothar Binding (Heidelberg) nichts auszusetzen, und um ein Argument zu finden,
Dr. Daniel Volk nicht zustimmen zu müssen, versuchen Sie hier, diesen
Gesetzentwurf kleinzureden, indem Sie ihn als lächer-
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
lich bezeichnen.
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Nun aber zu den Einzelheiten. Dieser Gesetzentwurf
– Drucksache 17/6121 –
ist ganz wesentlich einer für Familien, für Bürokratieab-
Berichterstattung: bau, für Entlastungen und für Vereinfachungen für El-
Abgeordnete Norbert Barthle tern mit Kindern und für Eltern in ihrem Verhältnis zu
Carsten Schneider (Erfurt) ihren Eltern.
13032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Antje Tillmann
(A) Fangen wir mit dem Kinderfreibetrag an, der den Fa- Dritter Bereich: Kinderfreibeträge. Auch dieser Be- (C)
milien allein eine Entlastung in Höhe von 260 Millionen reich war sehr ungerecht geregelt. Bislang war es so,
Euro bringt. Das ist aber nur der finanzielle Teil. Die dass Elternteile, die zwar rechtlich zu Unterhaltszahlun-
Vereinfachung, die damit verbunden ist, ist für die Fami- gen verpflichtet sind, die Zahlung aber verweigern, den
lien noch viel wertvoller. Bisher war es so, dass Kinder Kinderfreibetrag nicht bekommen können. Elternteile
in Berufsausbildung, die über 18 Jahre alt waren und aber, bei denen festgestellt ist, dass sie keinen Unterhalt
durch Ferienjobs oder durch ihre Ausbildungsvergütung zahlen müssen – zum Beispiel wegen Vermögenslosig-
mehr als 8 004 Euro verdient haben, kein Kindergeld keit –, konnten den Kinderfreibetrag behalten. Derjenige
mehr beziehen konnten. Die Finanzämter mussten – meistens handelt es sich um die Mütter –, der die Kos-
100 Prozent der Fälle prüfen, obwohl in 99 Prozent der ten für das Kind alleine trägt, konnte somit nur einen
Fälle die Einkommensgrenze nicht überschritten wurde. halben Kinderfreibetrag geltend machen. Das ist unge-
Dieser Verwaltungsaufwand ist unnötig. Noch viel recht, und das werden wir mit dem neuen Gesetz ändern.
schlimmer ist aber, dass bei 1 Prozent der Fälle durch die
Immer mehr Eltern entscheiden sich Gott sei Dank
Finanzverwaltung festgestellt wurde, dass die Grenze für
nach einer Scheidung dazu, die Kinder gemeinsam zu
das eigene Einkommen der Kinder überschritten wurde.
betreuen. Die Kinder leben in der einen Hälfte des Jahres
Grund dafür konnte sein, dass die Kinder eine Stunde zu
beim Vater, in der anderen Hälfte bei der Mutter. Bisher
viel gearbeitet und deshalb die Lohngrenze überschritten
war es so, dass nur derjenige Kinderbetreuungskosten
haben. Ein anderer Grund, der noch schlimmer ist,
über den Betreuungsfreibetrag geltend machen konnte,
konnte das Verbummeln einer Monatskarte sein. Dies
bei dem das Kind mit Hauptwohnsitz gemeldet war. Das
konnte dazu führen, dass über 1 000 Euro weniger Kin-
ist ungerecht, und auch das werden wir ändern.
dergeld bezogen wurden. Das finden wir nicht richtig.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Vierter Bereich: die Ehegattenbesteuerung. Das ist ein
Sehr richtig!) Dauerthema; wir haben uns schon sehr lange damit be-
fasst. Wir haben immer wieder versucht, Möglichkeiten
Nun können Sie einwenden, dass in einem bürokrati-
der Ehegattenbesteuerung zu schaffen, die verhindern,
schen Staat auch die Erziehung der Kinder zum Aufbe-
dass Eheleute schlechter gestellt werden als Ledige.
wahren von Belegen zum Erziehungsauftrag gehört.
Auch in diesem Bereich haben wir Vereinfachungen
Wenn dieser Erziehungsauftrag aber 1 000 Euro kostet,
durchgeführt. Wir haben aufgrund der Ergebnisse der
ist das, glaube ich, ein teures Vergnügen.
Anhörung sichergestellt, dass Eheleute, auch nachdem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sie sich für eine Veranlagung entschieden haben, das
(B) der FDP) Recht haben, eine andere Veranlagung zu wählen, die für (D)
sie günstiger ist.
Wir werden diese Einkommensgrenzen wegfallen las-
sen und nur, um Missbrauch zu vermeiden, bei einer Ein weiterer Punkt. Familien sind nicht nur Eltern und
Zweitausbildung eine 20-Stunden-Begrenzung vorsehen. Kinder, sondern auch Kinder und Großeltern oder Eltern
Ansonsten glauben wir, dass es gut ist, wenn junge Men- und deren Eltern. Wir wollen, dass Familien füreinander
schen sich anstrengen und versuchen, möglichst viele ei- einstehen. Zum Beispiel soll Rentnern mit einer gerin-
gene Einkünfte zu haben. Das wollen wir nicht durch bü- gen Rente Wohnraum von ihren Kindern zu einem güns-
rokratische Hemmnisse verhindern. tigen Preis zur Verfügung gestellt werden können. Bis-
her war die Berechnung dieser Mieten sehr schwierig,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. vor allem im Hinblick darauf, wie man das Ganze steu-
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) erlich absetzen konnte. Das war jedes Mal ein Fall für
Zweiter Bereich: Kinderbetreuungskosten. Hier den Steuerberater.
herrschte bisher ein ziemliches Durcheinander. Zum Es gab zwei Grenzen, nämlich 56 und 75 Prozent der
Beispiel musste der Steuerpflichtige, der Kinderbetreu- ortsüblichen Miete. In diesem Bereich musste die Miete
ungskosten absetzen wollte, nachweisen, dass er entwe-
mindestens liegen, um die Kosten für die Wohnung über-
der einer Berufstätigkeit nachgeht, sich in Ausbildung haupt steuerlich abziehen zu können. Das haben wir ver-
befindet oder krank ist. Bei einer Berufstätigkeit liegt einfacht, was mit Sicherheit dazu führt, dass es weniger
eine gewisse Regelmäßigkeit vor; bei Krankheit handelt
Diskussionen zwischen Familienangehörigen gibt. Das
es sich dagegen eher um eine Frage von Wochen. Inner- wird die Bereitschaft von Kindern, ihren Eltern günsti-
halb eines Jahres musste man der Finanzbehörde unter gen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sicherlich er-
Umständen mehrfach den aktuellen Status mitteilen, um
höhen.
überhaupt Kinderbetreuungskosten geltend machen zu
können. Wir haben die Abzugsfähigkeit von Spenden verbes-
sert; denn es ist ärgerlich, wenn man etwas Gutes tut und
Das halten wir für falsch. Deshalb haben wir diese hinterher feststellt, dass man leider an den Falschen
Regelung geändert. Künftig sind bei Familien die Kin-
überwiesen hat und deshalb keine Spendenquittung be-
derbetreuungskosten – egal in welcher Situation – als
kommt.
Sonderausgaben abzugsfähig. Die Behauptung, dass El-
tern deswegen höhere Kindergartengebühren zahlen Bei der Pendlerpauschale haben wir den Arbeitneh-
müssten, ist unwahr. Kinderbetreuungskosten mindern merinnen und Arbeitnehmern Wahlrechte gegeben, die
stets die Bemessungsgrundlage. tatsächlich zu einer Vereinfachung führen. Auch hier ha-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13033
Antje Tillmann
(A) ben wir für einen erheblichen Abbau von Bürokratie ge- lastet. Wir werden ab Dienstag – Montag ist ja Pfingsten (C)
sorgt. – nahtlos mit der Erarbeitung von Vereinfachungen bei
der Unternehmensteuer weitermachen. Wir brauchen die
Wir schenken den Menschen in großen Bereichen
Verlängerung der Regelung bei der Umsatzgrenze im
mehr Zeit. Das ist zugleich weniger Zeit, die sie für Rahmen der Istbesteuerung. Wir brauchen den Gleich-
Steuererklärungen aufbringen müssen. Weil ich die fa- klang von Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht.
milienpolitischen Maßnahmen in den Vordergrund stelle,
Wir brauchen eine Verkürzung von Aufbewahrungs- und
sage ich: Das ist hoffentlich mehr Zeit, die sie mit ihren Prüffristen, und wir brauchen einheitliche IT-Schnittstel-
Familien verbringen. len von Steuer, Rente und Betriebsprüfung. Das alles
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind Maßnahmen, die wir völlig umsonst bekommen
können; diese werden wir angehen.
Wir sind uns einig, dass wir über Steuervereinfachun-
gen sprechen, nicht über Steuersenkungen. Wir versu- Ich würde mich freuen, wenn Sie den ersten Schritt
chen, dort zu entlasten, wo es den Staatshaushalt nicht mitgehen. Wir gehen diesen Weg aber auch ohne Sie.
belastet. Das gelingt am besten bei den Bürokratiekos- Wir werden auch bei der Unternehmensteuerreform im
ten. Mit diesem Gesetz werden wir den Unternehmen Sinne der Bürgerinnen und Bürger und im Sinne von Bü-
Bürokratiekosten in Höhe von 4 Milliarden Euro erspa- rokratieabbau und Haushaltskonsolidierung weiterma-
ren. Zum Beispiel lassen wir bei der Umsatzsteuer zu, chen.
dass demnächst Rechnungen nicht mehr nur auf Papier,
sondern auch per E-Mail übersandt werden können. Danke.
Rechnungen als einfache E-Mails, Computerfaxe oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mittels Datenträgeraustausch – wenn der Empfänger zu-
stimmt – werden künftig von der Finanzbehörde aner-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
kannt.
Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Frak-
Natürlich tragen wir den Bedenken der Innenpolitiker tion.
Rechnung, die sagen, dass eine einfache E-Mail auch
Gefahren bergen könne. Deshalb haben wir im Gesetz- (Beifall bei der SPD)
gebungsverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass neben der elektronischen Signatur und dem EDI- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Verfahren auch die neue De-Mail ein sicheres Verfahren Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
im Sinne des Gesetzes ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einige
(B) Wenn man also vor Hackern sicher sein möchte, ist Vorbemerkungen zu einigen Sätzen machen, die ich vor- (D)
De-Mail ein einfaches Verfahren im Sinne des § 14 Um- hin aufgeschnappt habe. Herr Brinkhaus hat gesagt: Die
satzsteuergesetz, mit dem man auch erheblich Kosten Regierung tut eine Menge. – Das finde auch ich. Herr
und Bürokratie einsparen kann. Der Normenkontrollrat Döring sagte, wir hätten etwas nicht begriffen. Es ist ja
sagt dazu: Die elektronische Rechnungsstellung stellt ein beliebtes Spiel, dass man den anderen unterstellt,
insbesondere wegen später folgender Vereinfachungs- dass sie etwas nicht verstehen und es deshalb schief
möglichkeiten eine zentrale Maßnahme zur Vereinfa- läuft.
chung dar. Diesem Bereich kommt eine Schlüsselstel- (Zuruf von der FDP: Schauen wir einmal, wie
lung zu, ähnlich wie anderen Projekten, wie zum Ihre Rede weitergeht!)
Beispiel ELENA. – Es gibt also noch einen Sachverstän-
digen, der ausdrücklich sagt: Dieses Gesetz ist richtig Ich möchte einiges in Erinnerung rufen. Es gab eine
und gut für die Unternehmen. Phase eins. Sie erinnern sich: Holperstart, Gurkentruppe,
spätrömische Dekadenz, Westerwelle. Heute haben wir
Wir haben die Pauschalen für Waldbesitzer geändert. gelernt, dass Rösler es schafft, dieses Niveau weiter ab-
Wir haben uns im Rahmen der Anhörung davon überzeu- zusenken.
gen lassen, dass bestimmte Betriebskostenpauschalen er-
höht werden müssen. Wir werden die Betriebskostenpau- (Beifall bei der SPD)
schale bei eingeschlagenem Holz von 65 auf 55 Prozent Die Phase zwei war eine Phase der Ruhe und des euro-
senken; bei auf dem Stamm verkauftem Holz gehen wir päischen Abtauchens.
auf 20 Prozent. Auch das ist ein Ergebnis der Anhörung.
Wir haben ernst genommen, was uns Sachverständige ins (Dr. Daniel Volk [FDP]: Reden Sie noch zum
Stammbuch geschrieben haben. Dann macht eine Anhö- Thema?)
rung wirklich Sinn, weil Bürgerinnen und Bürger und
Die Phase drei war der Herbst der Entscheidungen. Sie
Sachverständige mit Gesetzgebung machen und uns hel-
erinnern sich: Die Laufzeiten der AKW wurden verlän-
fen, Fehler bei der Gesetzgebung zu vermeiden.
gert usw. Jetzt erleben wir die Phase vier. Das ist sozusa-
All diese Maßnahmen werden heute nach der Verab- gen die Phase der Kehrtwende. Das haben wir heute am
schiedung des Gesetzentwurfes und nach Zustimmung Beispiel AKW gesehen. Atomkraftwerke sind jetzt
des Bundesrates dazu führen, dass das Verhältnis zwi- plötzlich des Teufels. Ganz aktuell sehen wir das auch
schen Staat und Bürger einfacher wird. Aber wir wissen am heutigen Desaster mit der Gewerbesteuer. Wir mer-
natürlich auch, dass das nur ein erster Schritt ist. Wir ha- ken: Die Regierung tut eine Menge. Aber wer eine
ben jetzt im Wesentlichen Familien und Privatleute ent- Menge tut, tut nicht unbedingt das Richtige.
13034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehen. Diese Regelung macht diesen Gesetzentwurf, (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – glaube ich, sehr schlecht.
Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Zum
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Thema!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte das, was Frau Tillmann gesagt hat, sowohl Was uns ohne Einschränkung gefällt, ist die Verbesse-
als falsch bezeichnen als auch als richtig bestätigen. Sie rung bei der Entfernungspauschale. Bisher musste man
haben gesagt, dass wir diesen Gesetzentwurf lächerlich auf sehr komplizierte Weise nachweisen, welche Strecke
finden. man mit dem öffentlichen Personennahverkehr und wel-
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Sie haben ge- che Strecke man mit dem privaten Pkw zurückgelegt hat,
sagt, dass Sie das lächerlich finden!) und man musste umfangreiche Aufzeichnungen führen.
Dass dies wegfällt, ist sicherlich eine sehr gute Sache.
– Ich habe das gesagt. – Diese Aussage ist, bezogen auf Die Ausführungen, die Sie in Ihrer Rede zum Thema
einzelne Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf, nicht zu- Kinderbetreuungskosten gemacht haben, habe ich nicht
treffend. Aber bezogen auf Ihre eigenen Maßstäbe ist richtig verstanden. Bisher konnte man durch Berufstätig-
diese Aussage richtig. Denn das, was Sie uns Bürgern keit veranlasste Kosten als Werbungskosten absetzen,
über viele Jahre hinweg versprochen haben, nämlich die private und andere Ausgaben waren Sonderausgaben.
Steuern einfach, niedrig und gerecht zu gestalten – zwei Ich habe Sie so verstanden, dass künftig all diese Ausga-
Jahre Ihrer Regierungszeit sind bereits um –, wird auch ben zu Sonderausgaben werden sollen. Das würde be-
mit diesem Gesetzentwurf erneut verfehlt. deuten, dass diese Kosten nicht mehr abzugsfähig wären.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Nein! Falsch!
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sonderausgaben sind abzugsfähig! Ich erkläre
Ihnen das gerne noch mal!)
Deshalb ist die Aussage, der Gesetzentwurf sei lächer-
lich, gemessen an Ihren eigenen Maßstäben richtig. Ihr Sie haben aber gerade ausgeführt, diese Kosten seien in
Gesetz muss sich ja an Ihren Maßstäben messen lassen. Zukunft genauso abzugsfähig wie bisher. Ich glaube, wir
müssen noch genauer darüber diskutieren, wie das ge-
Hinweise auf E-Mail usw. finde ich im Jahr 2011 dacht ist.
nicht besonders gelungen. Es gibt das EHUG, BilMoG
und ELENA; darüber müssen wir übrigens noch einmal Nicht eingegangen sind Sie auf den Antrag, den die
reden. Über ELENA werden die Unternehmen verpflich- SPD eingebracht hat. In diesem Antrag, der auf einem
großen Konsens in den Ländern basiert, fordern wir, die
(B) tet, einen Datenfriedhof anzulegen, der überhaupt nicht (D)
genutzt wird. Die Unternehmen werden ohne jeglichen Pauschbeträge für behinderte Menschen, die seit 1975
Sinn über ein Jahr lang belastet. festgeschrieben sind, anzuheben. Hier haben in der Ver-
gangenheit viele Leute nichts getan, weil dies in der
Man muss sagen, dass der Gesetzentwurf insgesamt scharfen Form wie heute auch nicht nötig war.
positive Elemente enthält. Aber er erreicht trotz eines
großen Aufwands und hoher Kosten von fast 600 Millio- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Auch die SPD in den
nen Euro nur einen kleinen Effekt. Vielleicht sollte man letzten zehn Jahren! – Gegenruf des Abg.
noch erwähnen – das macht viele gute Elemente aus –, Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wirklich ganz ori-
dass der Gesetzentwurf auf einvernehmlich vorgebrachte ginell, Herr Volk! – Gegenruf des Abg.
Vorschläge der Länder zurückgreift. Insgesamt positiv Dr. Daniel Volk [FDP]: Es ist ja nicht neu, dass
finde ich allerdings, dass man sagt: In den Ländern gibt die SPD nichts gemacht hat! – Gegenruf des
es gute Initiativen, die wir übernehmen. Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was für ein
Scharfsinn!)
Jetzt zu einigen konkreten Punkten. Es klingt nicht – Sie haben recht; das ist völlig klar. Vielen Dank für Ih-
schlecht, zu sagen: Die Einkommensüberprüfung bei ren einmaligen Einwand. – Inzwischen bilden die
volljährigen Kindern, die sich in der Schul- oder Berufs- Pauschbeträge für behinderte Menschen, auch aufgrund
ausbildung befinden, soll wegfallen. – Besonders gut ge- der Inflationsrate, die tatsächlichen Aufwendungen nicht
fällt mir, dass der Fallbeileffekt – auch Sie haben ihn er- mehr angemessen ab. Wir wollten unseren Fehler, hier
wähnt – beseitigt werden soll. Die Regelung, dass zehn Jahre nichts getan zu haben, jetzt korrigieren.
jemand, der 1 Euro zu viel verdient, den Anspruch auf
Kindergeld verliert, war sehr schlecht. Man muss aller- (Florian Toncar [FDP]: Jetzt? Als Opposi-
dings beachten, dass auch Ihre Regelung im Hinblick auf tion?)
den Bezug von Kindergeld zu Schieflagen führt. Denn
Aber die Regierung verhindert unseren ernsthaften Ver-
die Missbrauchsregelung für die Zeit nach der Erstausbil-
such, dies zu korrigieren. Das halten wir für eine traurige
dung bevorzugt jene, die Einkünfte aus Kapitalvermögen
Entwicklung im Umgang mit guten Vorschlägen der Op-
erzielen, und benachteiligt jene, die einer Erwerbstätig-
position.
keit im Umfang von größer/gleich 20 Stunden nachge-
hen. Diese Asymmetrie halten wir für problematisch. Wir Jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der be-
wollen nicht ausgerechnet diejenigen belohnen, die Ein- sonders gut klingt, bei dem man aber besonders merk-
künfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpach- würdig vorgegangen ist – auf dem Bundessteuerberater-
tung erzielen, sondern eher diejenigen, die selbst arbeiten kongress, an dem 1 300 Steuerberater teilgenommen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13035
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) haben, hat man allenthalben gehört, dass man die ge- 13 000 Euro nicht übersteigen. Erzielt die steuer- (C)
plante Regelung in ihrer jetzigen Form überhaupt nicht pflichtige Person im Verlauf des ersten Veranla-
versteht –: Es geht um die zweijährige Steuererklärung. gungszeitraums des Zweijahreszeitraums andere als
Wer „zweijährige Steuererklärung“ hört, denkt zunächst die in Satz 1 genannten Einkünfte oder übersteigt die
einmal, damit ist gemeint, dass man für zwei Jahre eine Summe der Einnahmen nach Satz 2 13 000 Euro, ist
Steuererklärung abgibt. Aber so ist das nicht gedacht. eine gleichzeitige Abgabe von Steuererklärungen
Gemeint ist nur die Möglichkeit der gleichzeitigen Ab- im Zweijahreszeitraum nicht möglich.
gabe von zwei einzeljährigen Steuererklärungen zum
gleichen Zeitpunkt. Das ist natürlich keine besonders Ich denke, die Bürger gehen jetzt nach Hause und kön-
gute Sache. Denn die Bürger haben nur die Möglichkeit, nen ihre zweijährige Steuerklärung abgeben.
auf diese Erstattung entweder zwei Jahre zu warten oder (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
aber Geld und Liquidität zu verlieren. Das ist, wie ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sagt, keine gute Sache.
Insofern wird deutlich, warum wir sagen: Mit dieser
(Florian Toncar [FDP]: Das kann der Bürger Schimäre, mit dieser Begriffsbildung kann man dem
doch selber entscheiden!) Bürger doch keine aus sich selbst generierte, einfache,
Es kommt aber noch schlimmer. Auf dem Steuerbera- verständliche, transparente Steuergesetzgebung vorgau-
terkongress hieß es zu diesem Thema: Es gibt mehr of- keln. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
fene Fragen als positive Antworten. – Sie hatten gerade (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach,
die einmalige Chance, uns das zu erklären. deshalb?)
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das macht Herr – Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil diese
Volk gleich!) Art der Irrtumsverbreitung in der Bevölkerung keinen
Da das etwas ganz Neues ist, hätten Sie die Chance ge- guten Eindruck macht.
habt, eine Formulierung zu finden, die für jeden Bürger
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Arbeitnehmer
verständlich, einfach und transparent ist. Ich zitiere den
werden sich freuen!)
neuen § 25 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes:
Es gibt auch Steuersenkungen. Schauen wir einmal
Werden die Einkommensteuererklärungen unter
nach, wo es Steuersenkungen gibt: Der Arbeitnehmer-
den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 und 2
oder des Absatzes 2 für zwei aufeinander folgende pauschbetrag wird von 920 Euro auf 1 000 Euro angeho-
ben. Gut, „1 000 Euro“ klingt einfacher als „920 Euro“;
Veranlagungszeiträume zusammen abgegeben, be-
(B) das stimmt. In Wahrheit spart dadurch jeder Arbeitneh- (D)
ginnt der Zinslauf für Zinsen nach § 233 a der Ab-
gabenordnung für den ersten Veranlagungszeitraum mer 3 Euro, aber nicht pro Tag – nicht, dass das jemand
falsch versteht. Das ist in Richtung Steuersenkung ja
des Zweijahreszeitraums erst 15 Monate nach Ab-
doch ein erster Schritt.
lauf des zweiten Veranlagungszeitraums.
Jetzt werden Sie sagen: So etwas muss in jedem Gesetz (Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)
stehen. Da der Abs. 1 nicht vorgetragen wurde, konnte Insofern ist es richtig: Die CDU/CSU-FDP-Koalition tut
man das gar nicht verstehen. viel. Wenn Sie weiterhin in 3-Euro-Schritten vorgeht,
Sie hatten aber auch die Chance, den Abs. 1 ganz neu dann gibt es noch viel zu tun.
und für jeden Bürger – hier sitzen ja viele Bürger – trans- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
parent und verständlich zu formulieren. Ich möchte Ih- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nen § 25 a Abs. 1 Ihres Gesetzentwurfes vortragen:
Ich zitiere hierzu die Bundessteuerberaterkammer, die
Die steuerpflichtige Person kann die Einkommen- sagt: Das ist nicht effektiv. Außerdem betrifft das nur
steuererklärungen für zwei aufeinander folgende Bürger, die Werbungskosten zwischen 920 Euro und
Veranlagungszeiträume (Zweijahreszeitraum) auf 1 000 Euro haben.
Antrag abweichend von § 25 Absatz 3 innerhalb
von fünf Monaten nach Ablauf des zweiten Veran- Eine Sache ärgert uns besonders: Begünstigt werden
lagungszeitraums zusammen abgeben, diejenigen, die keine berufsbedingten Aufwendungen
haben. Alle anderen müssen im Veranlagungszeitraum
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Vorlesen machen Sie nämlich ohnehin die Belege sammeln; denn es bleibt so
gerne! Das können Sie schon!) komplex wie bisher: Am Ende des Veranlagungszeit-
wenn sie in beiden Veranlagungszeiträumen vo- raums muss man schauen, ob man die Pauschale in An-
raussichtlich spruch nehmen kann oder ob man die Werbungskosten
einzeln abrechnen muss, sodass der Gesetzentwurf im
– damit wird schon angedeutet, was da passiert – Ergebnis viel weniger hält, als er verspricht. Wir wollen
ausschließlich Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1 uns an diesem Fehlversprechen nicht beteiligen.
Nummer 4 bis 7 erzielt. Die Summe der nicht ei- Vielen Dank.
nem inländischen Steuerabzug unterliegenden jähr-
lichen Einnahmen nach den §§ 20, 21 und 22 (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Nummer 1 Satz 1 und 2 und Nummer 2 und 3 darf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
13036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) NEN] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jahre abzugeben, richtet sich an jene Steuerpflichtigen, (C)
Peinliches Argument, Herr Kollege!) die ihre Steuererklärung selber abgeben,
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Deshalb
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist der Text auch so einfach!)
Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion.
und nicht an die Steuerberater, weil die Steuerberater
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weiterhin dabei bleiben, die Steuererklärung für ihre
der CDU/CSU) Klienten jährlich abzugeben. Das ist auch in Ordnung;
denn es ist ein Angebot. Ich gehe davon aus, dass die
Dr. Daniel Volk (FDP): Finanzämter die Steuerpflichtigen entsprechend beraten
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- werden, ob sie ihre Steuererklärung alle zwei Jahre ab-
ren! Lieber Kollege Binding, Ihre elfminütigen Ausfüh- geben können.
rungen Ich möchte auf das eingehen, was Sie zum Thema Ar-
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Warum beitnehmerpauschbetrag gesagt haben. Die Diskussion
fassen Sie sich denn dabei ans linke Ohr?) zeigt, dass Sie den Begriff Steuervereinfachung schlicht-
weg nicht verinnerlicht haben.
haben gezeigt, dass Sie krampfhaft danach gesucht ha-
ben, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht
kennen!)
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Erfolg-
reich!) Vielmehr sprechen Sie im Rahmen der Anhebung des
Arbeitnehmerpauschbetrages von Steuersenkungen. Für
irgendwie einen Grund zu finden, uns ist das eine Maßnahme der Steuervereinfachung.
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nicht irgendwie! (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So
Das waren Tausende!) war das auch zu lesen! – Lothar Binding [Hei-
diesen Gesetzentwurf abzulehnen. delberg] [SPD]: Ich habe das doch gelobt!)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jeder Pauschbetrag muss immer wieder, schon allein in-
Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe flationsbedingt, angepasst werden. Es ist für uns ein Bei-
Ihnen erklärt, warum!) trag zur Steuervereinfachung, dass der Arbeitnehmer ei-
nen höheren Pauschbetrag in Anspruch nehmen kann.
Der Höhepunkt wurde erreicht, als Sie hier einen Ge-
(B) setzestext vorgelesen haben, ohne inhaltlich etwas dazu (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
Genau 3 Euro!)
zu sagen.
Einer Mär möchte ich deutlich widersprechen. Es
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der Text
wird immer wieder behauptet, es seien in dieser Legisla-
ist doch selbsterklärend! Was soll ich denn da
turperiode auf Betreiben der FDP- und der Unionsfrak-
sagen? Das hat ja jeder verstanden!)
tion keine Steuerentlastungen vorgenommen worden.
Sie haben leider Gottes auch verschwiegen, dass wir hier
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE
ein Angebot an die Steuerpflichtigen machen. Niemand
GRÜNEN]: Genau!)
wird gezwungen,
Zum 1. Januar 2010 haben wir Arbeitnehmerinnen und
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ist das liberal! –
Arbeitnehmer und Familien in einer Größenordnung von
Heiterkeit bei der SPD)
24 Milliarden Euro entlastet.
von diesem Angebot Gebrauch zu machen, sondern je-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der einzelne Steuerpflichtige kann sich überlegen, ob er
einmal alle zwei Jahre seine Steuererklärung abgeben Das war eine deutliche Entlastung. Jetzt geht es um
will. Steuervereinfachung.
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass der Ar-
komplizierter wegen der Fristen! – Lisa Paus beitnehmerpauschbetrag unter der Ägide eines SPD-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Steuer- Finanzministers gekürzt wurde. Ich bin mir nicht ganz
erklärungen!) sicher, ob auf den Oppositionsbänken tatsächlich die Ar-
beitnehmerpartei sitzt. Ich habe daran große Zweifel;
Ich möchte ganz kurz aus der Anhörung zitieren; denn
denn wir machen Steuerpolitik für die Arbeitnehmerin-
wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen von den Sachver-
nen und Arbeitnehmer.
ständigen beraten lassen. Sie haben nämlich gesagt – zu-
mindest Professor Loritz und Dr. Hechtner –, dass es zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
mindest ein richtiger Schritt ist, dies auszuprobieren, den Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie haben
Steuerpflichtigen also dieses Angebot zu machen. sie damals mit 3 Euro belastet! Jetzt entlasten
Sie sie um 3 Euro! Das ist schon gewaltig!)
Sie haben von der Stimmung auf dem Deutschen
Steuerberaterkongress gesprochen. Ich sage eines ganz Weitere Punkte des vorliegenden Entwurfs eines
deutlich: Das Angebot, die Steuererklärung alle zwei Steuervereinfachungsgesetzes führen in vielen anderen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13037
Dr. Daniel Volk
(A) Bereichen zu einem deutlichen Bürokratieabbau. Allein es für die Steuerpflichtigen einfacher machen. Das ist (C)
durch die elektronische Rechnungsstellung rechnen wir Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Ich lade Sie
bei den Bürokratiekosten mit einem Entlastungsbetrag in herzlich ein, hieran mitzuwirken.
einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro. Das ist
Vielen Dank.
keine Entlastung, die zulasten der Staatskasse geht, son-
dern es handelt sich um den Abbau übertriebener Büro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kratie, die Sie als SPD-Finanzminister zehn Jahre lang in
finanzpolitischer Verantwortung schlichtweg haben be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
stehen lassen. Sie hatten zehn Jahre lang nicht die Kraft,
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Sie hatten nicht die Vision und den Willen, das Steuer-
Linke.
recht zu vereinfachen. Im Zweifel haben Sie das Steuer-
recht verkompliziert. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carsten Sieling
[SPD]: Jetzt wollen wir gucken, ob sie der Ein-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
ladung folgt!)
Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann ma-
chen Sie es doch!)
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Zu den Bereichen, die wir unterhalb der gesetzlichen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Regelung angehen. Ich spreche von einer stärkeren Kollegen! Kollegin Tillmann und Herr Flosbach von der
Kommunikation in elektronischer Form zwischen CDU haben den Entwurf eines Steuervereinfachungsge-
Steuerpflichtigen und Finanzamt. Ich spreche von dem setzes unmittelbar nach der Anhörung gelobt und gesagt:
Projekt der vorausgefüllten Steuererklärung. Ich spreche
von dem Projekt der zeitnahen Betriebsprüfung. Dies Die heutige Sachverständigenanhörung hat in ein-
sind alles Punkte, die den Steuerpflichtigen, der seiner helliger Weise die mit dem Steuervereinfachungs-
Steuererklärungspflicht nachkommt, von Bürokratie ent- gesetz 2011 vorgesehenen Maßnahmen begrüßt.
lasten. Das macht die Steuererklärungspflicht einfacher.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist ja auch
Ich bin der Überzeugung: Wenn der Steuerpflichtige in
richtig!)
Deutschland schon Steuern zahlen muss, dann soll er es
wenigstens einfach haben; er soll Freude daran haben, Dem Protokoll der Anhörung entnehme ich etwas ande-
seine Steuererklärung auszufüllen. Dafür sorgen wir mit res.
dem vorliegenden Steuervereinfachungsgesetz.
(Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der DIE GRÜNEN])
(B) CDU/CSU) (D)
Alle haben gesagt, das Ziel des Gesetzentwurfs sei un-
Erlauben Sie mir abschließend, darauf hinzuweisen, eingeschränkt positiv. Aber das besagt bei weitem nicht,
dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht umsonst den Ti- dass Ihre Maßnahmen dafür geeignet sind. Da kann ich
tel „Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011“ nur sagen, Herr Volk: Sie haben schlicht und ergreifend
trägt. Er trägt diesen Titel deswegen, Ihr Ziel verfehlt.
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Er (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
kommt jährlich!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter
Flosbach [CDU/CSU]: Sie waren wahrschein-
weil dies das erste in einer Reihe weiterer Steuerverein-
lich nicht bei der Anhörung!)
fachungsgesetze sein wird.
Der Vertreter der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ist das eine
Dieter Ondracek, – ich zitiere noch einmal – meinte in
Drohung?)
der Anhörung:
Wir werden auch ein Steuervereinfachungsgesetz 2012
Was kommt raus: keine Erleichterung, eher das Ge-
auf den Weg bringen, in dem wir weitere Vereinfachun-
genteil.
gen im Steuerrecht gesetzlich formulieren werden, und
zwar Vereinfachungen, die die Steuerpflichtigen von Bü- Praktiker hauen Ihnen den Gesetzentwurf um die Ohren.
rokratie entlasten, ohne dass es in großem Umfang zu- Von einer einhelligen Begrüßung ist dieser Gesetzent-
lasten der Staatskasse geht. wurf meilenweit entfernt. Vielleicht haben Sie davon ge-
träumt, das hat aber mit der Realität nichts zu tun.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann
kommt denn dann die Istbesteuerung?) (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich lade Sie ganz herzlich ein, an der weiteren konti- NEN])
nuierlichen Arbeit an der Steuervereinfachung teilzuneh-
men. Ich lade Sie, den Bundesrat und die Opposition, Fakt ist: Die Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf
übrigens auch ein, dieses Steuervereinfachungsgesetz werden im Großen und Ganzen zu keiner, in wenigen
2011 so schnell wie möglich in Kraft zu setzen, weil es Bereichen zu einer geringen Vereinfachung, in manchen
wirklich höchste Zeit wird, den Steuerpflichtigen klarzu- Bereichen sogar zu einer Verkomplizierung führen. Eini-
machen: Wir kümmern uns tatsächlich um die mittler- ges hat mein Kollege Binding schon ausgeführt; ich er-
weile zu komplizierte Steuergesetzgebung. Wir wollen gänze noch einige andere Punkte.
13038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Barbara Höll


(A) Ich begrüße ausdrücklich, dass Sie der Forderung der weiteres Jahr warten sollten. Dies sieht im Übrigen auch (C)
Linken nachgekommen sind und auf die von Ihnen ge- die Bundessteuerberaterkammer so – ich zitiere –:
plante Anhebung der Bagatellgrenzen für Vermögens-
Da wird es … mehr Probleme geben, als es Verein-
verwahrer und -verwalter bei der Erbschaftsteuer ver-
fachungen geben wird …
zichtet haben. Das begrüßen wir uneingeschränkt.
Das hat auch der Kollege Binding schön belegt.
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das war eine
gute Entscheidung von uns!) Das heißt, sowohl die Deutsche Steuer-Gewerkschaft
als auch die Bundessteuerberaterkammer wie auch zahl-
Ebenfalls begrüße ich die Anhebung des Arbeitneh- reiche Fachleute lehnen die zweijährige Steuererklärung
merpauschbetrages um 80 Euro auf 1 000 Euro. Es ab, und Sie stehen hier immer noch völlig ungerührt und
wurde aber schon gesagt: Im Jahr 2003 lag der Betrag sagen: Es ist prächtig, was wir hier als Angebot unter-
bei 1 044 Euro. Wenn es Ihnen bei der Anhebung um breiten. – Das ist Ihnen wirklich prächtigst gelungen.
eine Inflationsanpassung gegangen wäre, hätten Sie von-
seiten der CDU schon Jahre Zeit gehabt, hier tätig zu (Dr. Daniel Volk [FDP]: Fragen Sie doch einmal
werden. die Steuerpflichtigen, was sie dazu sagen!)
(Beifall bei der LINKEN – Klaus-Peter Prächtigst gelungen ist Ihnen auch die Vereinfachung
Flosbach [CDU/CSU]: Wer hat denn 2003 re- der Veranlagungsarten für Eheleute. Erst streichen Sie
giert? – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir hatten ein drei Veranlagungsarten, um dann festzustellen, dass das
Jahr Zeit, Frau Kollegin!) verwaltungstechnisch nicht geht, und anschließend füh-
ren Sie mit Ihrem Änderungsantrag drei neue Tatbe-
Sie sind weit von dem Stand entfernt, den wir vor acht stände ein. Prima Vereinfachung! Das ist doch Etiketten-
Jahren hatten. schwindel.
Allein diese Maßnahme macht mit 330 Millionen (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das ist jetzt
Euro etwa die Hälfte des konkreten Entlastungsbetrages schlicht dummes Zeug!)
aus. Wer ungefähr 30 000 Euro brutto im Jahr verdient,
wird monatlich um 2 bis 3 Euro entlastet. Auf diese Pea- Schauen wir uns noch einmal an, wie es – von wegen
nuts sind Sie auch noch stolz. Dabei ziehen Sie den Senkung oder nicht – konkret abgelaufen ist. Sie haben
Menschen mit den gestiegenen Krankenversicherungs- überlegt, ob Sie bei den Behindertenpauschbeträgen et-
beiträgen ein Vielfaches aus der Tasche. Das ist die Rea- was machen. Durch die Anhebung des Mindestbehinde-
lität. rungsgrades wollten Sie eine Verschärfung einführen.
Gleichzeitig wollten Sie eine Erhöhung der Pauschbe-
(B) (Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich träge vornehmen. Dies haben Sie wieder zurückgezogen (D)
[DIE LINKE]: Das ist die Sauerei!) mit der Begründung des Staatssekretärs: Wir hatten uns
zwischen einer Anhebung des Arbeitnehmerpauschbe-
Zudem muss man sagen: Diese Vereinfachung kommt trages und einer Anhebung des Behindertenpauschbetra-
gerade einmal 1,6 Prozent der Steuerpflichtigen zugute. ges zu entscheiden. – Das darf doch wohl nicht wahr
Damit kann man sich einfach nicht schmücken. sein. Wenn es eine Vereinfachung geben soll, kann man
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- doch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen.
neten der SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
[FDP]: Vereinfachung, nicht Senkung!) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
Als zweite große Vereinfachung verkaufen Sie die ten der SPD)
zweijährige Steuererklärung. Das heftet sich die FDP Bei den Kinderbetreuungskosten müssen wir erst ein-
groß an die Brust. An dieser Stelle möchte ich dem lang- mal prüfen, was die von Ihnen gewählte Rechtskonstruk-
jährigen Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerk- tion tatsächlich bedeutet und ob sie überhaupt so mög-
schaft, Dieter Ondracek, zum einen für sein Wirken dan- lich ist.
ken. Zum anderen möchte ich aus seiner gestrigen
Abschiedsrede zitieren: Gott verschone uns vor der Ich frage Sie: Warum vereinfachen Sie nicht, indem
Zweijahreserklärung. – Recht hat der Mann, sage ich. Sie die Abgeltungsteuer abschaffen, anstatt sie zuneh-
mend weiter zu verkomplizieren? Warum nehmen Sie
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem keine Vereinfachung vor, indem Sie das Ehegattensplit-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ting abschaffen? Wie den Zeitungen zu entnehmen ist,
wird das selbst aus Brüssel vorgeschlagen bzw. direkt
Es handelt sich lediglich um eine Fristverlängerung.
gefordert. Warum gestalten Sie nicht den Einkommen-
Sollten Sie hier diesen Gesetzentwurf beschließen, so
steuertarif gerecht, indem Sie den sogenannten Mittel-
hoffe ich – hier zitiere ich noch einmal Dieter Ondracek –:
standsbauch abschaffen und eine linear-progressive Be-
Mit Gottes Hilfe wird niemand die Zweijahreserklärung
steuerung wählen?
in Anspruch nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie wissen so gut wie ich, dass die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die eine Steuererklärung abge- Da herrscht bei Ihnen Schweigen im Walde. Dabei
ben, meistens zu Recht auf eine Erstattung hoffen. Nen- bräuchten Sie nur unsere Vorschläge aufzugreifen. Wir
nen Sie mir nur einen Grund, warum sie darauf noch ein brauchen dazu gar keine Einladung von Ihnen. Die Vor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13039
Dr. Barbara Höll
(A) schläge liegen auf dem Tisch. Greifen Sie zu! Verwirkli- nicht noch intensiver zu begründen. Die Ungerechtigkeit (C)
chen Sie sie, und wir haben eine tatsächliche Steuerver- gegenüber den Behinderten ist ebenfalls dokumentiert
einfachung! worden. Dieser Kritik schließen wir uns uneingeschränkt
an.
Ich danke Ihnen.
Andere Punkte kritisieren wir gar nicht; diese Maß-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nahmen sind allerdings längst überfällig. Sie hätten au-
neten der SPD)
ßerdem durchaus in ein anderes Gesetz gepasst. Dafür
hätte das Jahressteuergesetz ausgereicht. Dass Rechnun-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gen jetzt auch elektronisch archiviert werden können
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion und nicht mehr in Papierform aufbewahrt werden müs-
Bündnis 90/Die Grünen. sen, ist zwar okay, hätte aber nicht unbedingt des Steuer-
vereinfachungsgesetzes bedurft.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit 97 Vorschlägen haben Sie angefangen. Das Er-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden gebnis ist schlicht halbherzig. Sie haben auch schon das
hier über das Steuervereinfachungsgesetz. nächste Gesetz angekündigt; ansonsten wäre das auch
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) noch peinlicher gewesen.

Als es im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wurde, hat Christian Lindner am 11. Dezember 2010 er- sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg]
klärt – das habe ich noch im Ohr –, dieses Steuerverein- [SPD])
fachungsgesetz werde ein Meilenstein. Ich möchte mich auf zwei negative Beispiele be-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Christine schränken, die noch nicht so im Fokus gestanden haben.
Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So Beim Ehegattensplitting wollen Sie eine Reduzierung
schauen die Meilensteine der FDP aus!) der Veranlagungsmöglichkeiten von sieben auf vier vor-
Heute, bei der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetz- nehmen. Eine echte Steuervereinfachung wäre es gewe-
entwurfs, müssen wir allesamt feststellen: Das ist mehr sen, wenn Sie das Ehegattensplitting ganz abgeschafft
eine Mischung aus hätten und das System auf eine Individualbesteuerung
plus übertragbaren Grundfreibetrag umgestellt hätten.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Stolperstein!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) – gut – Stolperstein und Placebo. sowie der Abg. Lothar Binding [Heidelberg] (D)
Die Zweijahressteuererklärung zum Beispiel ist ein [SPD] und Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])
Placebo; denn sie ist nun einmal nichts anderes als eine Eine solche Änderung ist im Übrigen überfällig; denn
Fristverlängerung. Wir alle wissen, dass diejenigen, von das Ehegattensplitting fördert weder Kinder noch die
denen Sie sagen, sie sollten die Möglichkeit bekommen, Ehe, sondern wirkt sich schlichtweg positiv aus bei be-
diese längere Frist in Anspruch zu nehmen, wahrschein- sonders großen Einkommensunterschieden zwischen
lich eher diejenigen sind, die ein bisschen laxer damit Eheleuten.
umgehen und Probleme haben, Fristen einzuhalten. Ge-
nau denjenigen werden Sie am Ende aber damit, dass sie Dabei geht es um eine relevante Geldsumme, nämlich
nicht mehr zum Steuerberater gehen können, ein zusätz- um 18,9 Milliarden Euro. Wenn man den Grundfreibe-
liches Problem aufbürden. Dann haben sie das nämlich trag einführte, stünde zwar nicht die komplette Summe
verschlampt, stellen fest, dass sie das jetzt ganz schnell zur Verfügung, aber grundsätzlich wäre es eine gute
machen müssen, das aber gar nicht mehr können, und Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zugunsten der Fami-
können sich schließlich noch nicht einmal vom Steuer- lienförderung durchzuführen. Auch das lehnen Sie ab.
berater helfen lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Wir helfen je-
dem, der Hilfe braucht! – Dr. Daniel Volk Dabei wurde Ihnen das noch einmal ins Stammbuch
[FDP]: Es kann doch jeder zum Steuerberater geschrieben. Zum Beispiel werden Sie im Gutachten Ih-
gehen!) rer Sachverständigenkommission zum ersten Gleichstel-
lungsbericht der Bundesregierung im Januar 2011 aufge-
Die sogenannte Zweijahressteuererklärung ist tat- fordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Das ist eine
sächlich ein wichtiger Punkt Ihres sogenannten Steuer- wichtige Maßnahme zur Gleichstellung in Deutschland.
vereinfachungsgesetzes. Auch von außen gibt es Kritik. Die EU-Kommission bei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spielsweise hat vor zwei Tagen betont, dass das Ehegat-
sowie bei Abgeordneten der SPD) tensplitting in Deutschland ein wirtschaftspolitisches
Hemmnis und ein wettbewerbspolitisches Problem ist.
Ansonsten enthält Ihr Entwurf eines Steuervereinfa- Machen Sie also endlich das, was zwar schon allgemein
chungsgesetzes lächerliche Regelungen. Die Erhöhung bekannt ist, was Ihnen aber jetzt auch noch einmal offi-
des Pauschbetrages um 80 Euro ist hier schon genug ziell von EU-Seite und von Ihren eigenen Sachverständi-
durch den Kakao gezogen worden. Das brauche ich jetzt gen ins Stammbuch geschrieben wird!
13040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Lisa Paus
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Frau Kollegin!
LINKEN)
Ein anderes Beispiel ist die Steuergestaltung. Der Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Steuerexperte der OECD beispielsweise sagt dazu, Steu- Eine letzte Bemerkung: Wir wollen aber nicht mehr
ergestaltung sei selbstverständlich legitim, zumal bei ei- Steuervereinfachung auf Kosten von Steuergerechtig-
nem so komplizierten Steuerrecht wie in Deutschland, keit. Man muss beides miteinander verbinden. Wir ha-
aber das Versteckspiel koste alle Beteiligten unglaublich ben entsprechende Änderungsanträge eingebracht. De-
viel Zeit und Geld. nen sind Sie nicht gefolgt. Deswegen können wir den
Was ist Steuergestaltung? Unter Steuergestaltung ver- Gesetzentwurf nur ablehnen.
steht man den Versuch, möglichst wenig Steuern zu zah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
len. Da das deutsche Steuerrecht kompliziert ist, können sowie bei Abgeordneten der SPD)
sich das nur diejenigen leisten,
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Die auch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Steuern zahlen!) Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSU-
die Steuern zahlen, aber vor allem auch Fachleute beauf- Fraktion.
tragen können, nach Steuerschlupflöchern im deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gesetz zu suchen, die die Gesetzgeber, also wir, in der
Form nicht erkannt haben. Große Heere von Beratern
werden dafür bezahlt, diese Steuerschlupflöcher zu fin- Peter Aumer (CDU/CSU):
den. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kollegen! Frau Paus, Sie haben gerade selber
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch ein gesagt, das deutsche Steuerrecht sei kompliziert. Wir
Grund, das einfacher zu machen!) leisten einen Beitrag dazu, es ein bisschen zu vereinfa-
Spätestens dann, wenn ein Steuerschlupfloch besonders chen und Bürokratie abzubauen. Ein Schritt wird heute
groß ist, befassen wir uns wieder im Bundestag damit. getan. Viele weitere Schritte müssen folgen. Das ist ein
Dann müssen wir dem als Deutscher Bundestag mit viel Ziel, das sich die christlich-liberale Koalition gesetzt hat.
Mühe hinterherregulieren. Es wäre schön, wenn Sie diese Arbeit unterstützen wür-
den.
Das muss nicht sein; das kann man anders machen.
(B) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
Das wissen Sie auch. Wir haben das Thema nicht neu
aufgebracht. Dazu gibt es bereits eine lange Diskussion. Das haben wir doch mit unseren Vorschlägen
Wir als grüne Fraktion beispielsweise haben schon 2007 gemacht!)
einen Antrag dazu eingebracht. Auch der Bundesrat hat Sehr viele konstruktive Vorschläge kamen in den Bera-
fertige Gesetzesformulierungen vorgelegt. Aber dieses tungen aber nicht.
Haus beschäftigt sich nicht damit. Wir haben dazu einen
Änderungsantrag eingebracht, den Sie gestern abgelehnt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben.
Herr Binding, es ist schön, dass Sie unser Motto „Ein-
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ihr Antrag ist kein fach und gerecht“ übernommen haben,
Beitrag zur Steuervereinfachung!)
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das
Darin schlagen wir eine Anzeigepflicht für Steuergestal- nehme ich sehr ernst! Aber Sie nehmen das
tungsmodelle vor. Sie würde Vereinfachung und Steuer- nicht ernst!)
gerechtigkeit miteinander verbinden. In den USA, in
Großbritannien und Kanada beispielsweise gibt es das das ein sehr wertvoller und wichtiger Beitrag zur Gestal-
schon. Sie wirkt wie ein Frühwarnsystem für Behörden tung des Steuerrechts in Deutschland ist.
und Firmen, schafft Rechtssicherheit für Unternehmen
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ein gutes
und vermeidet Steuerausfälle. Das wäre ein echter Ver-
Ziel!)
einfachungseffekt.
Sie haben allerdings von einer grünen Wiese gespro-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chen, die es leider nicht gibt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Doch!)

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben die Steuergesetzgebung im Einkommensteu-
Ich komme zum Schluss. errecht und in allen anderen steuerlichen Bereichen. Da-
raus müssen wir das Beste machen und die besten Leh-
Fazit: Sie haben uns einen großen Wurf versprochen. ren ziehen. Deswegen ist es fast schon lächerlich, wenn
Angekommen ist stattdessen ein großer Papierberg. Sie Paragrafen zitieren; denn die Steuerzahlerinnen und
Mehr Steuervereinfachung wäre möglich gewesen; sie Steuerzahler werden das Einkommensteuergesetz sicher-
wäre auch tatsächlich nötig. lich nicht in Gänze lesen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13041
Peter Aumer
(A) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe ten. Man sollte nicht nur Dinge miesmachen, sondern (C)
auch nicht das Ganze vorgelesen! Ich habe nur auch schauen, an welcher Stelle man konstruktive Vor-
den neuen Teil vorgelesen!) schläge machen kann. Ich habe bis auf kleine Ansätze
von Frau Paus in dieser Hinsicht nicht sehr viel gesehen.
– Das hätten Sie vielleicht machen können; aber wegen
der Kürze der Redezeit war das nicht möglich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Reduzierung der Erklärungs-, Prüfungs- und Ver- neten der FDP)
anlagungsaufwendungen ist das erklärte Ziel, das wir Es müssen weitere wichtige Maßnahmen auf den Weg
mit dem Steuervereinfachungsgesetz erreichen wollen. gebracht werden. Das Steuervereinfachungsgesetz ist ein
Ich glaube, es gelingt uns, das Steuerrecht zu vereinfa- Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen eine bes-
chen und Bürokratie abzubauen. Das ist die große Auf- sere Harmonisierung der steuerlichen und sozialrechtli-
gabe, die wir uns gestellt haben. Ich glaube, wir leisten chen Vorschriften, die bisher die Unternehmen stark be-
einen Beitrag dazu, diese Aufgabe zu erfüllen. lasten. Dieser Aufgabe müssen wir uns gemeinsam in
Man muss auch schauen, welche finanziellen Auswir- diesem Haus stellen. Es gibt noch viele Dinge, die im
kungen das Ganze hat. Sie reden immer von 3 oder Bereich des Unternehmensteuerrechts zu tun sind.
4 Euro. Wir stehen vor der großen Herausforderung der Das Steuervereinfachungsgesetz ist kein Steuerentlas-
Einhaltung der Schuldenbremse, die ab 2016 gilt, und tungsgesetz. Ich glaube, meine Damen und Herren von
der Konsolidierung der Haushalte. Davon haben Sie der Opposition, Sie haben da etwas falsch verstanden. Es
nicht gesprochen. Unser Gesetz trägt zur Entlastung der gehen sicherlich steuerliche Erleichterungen mit diesem
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem der Fa- Gesetz einher, aber diese sind nicht das Ziel des Geset-
milien mit Kindern, bei. Es handelt sich um 590 Millio- zes. Wir wollen Bürokratie abbauen und Steuererleichte-
nen Euro, was eine schöne Summe ist. Der geringere Bü- rungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler errei-
rokratieaufwand für Unternehmen schlägt sich in einer chen. Es ist ein kleiner Schritt – das habe ich gesagt –,
Kostenersparnis von ungefähr 4 Milliarden Euro pro aber es ist ein Schritt. Wir haben diesen Schritt getan.
Jahr nieder. Das ist etwas, was sich sehen lassen kann. Sie – Herr Binding, Sie haben es angesprochen – haben
Das sollte man in einer solchen Debatte nicht verschwei- lange Zeit einen Bundesfinanzminister gestellt; aber in
gen. dieser Zeit sind keine positiven Effekte für die Steuer-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zahlerinnen und Steuerzahler erzielt worden. Das aber ist
neten der FDP) in dieser Zeit wichtig.
Es gibt viele Maßnahmen, die sicherlich sinnvoll Unser Ziel muss es sein, vor allen Dingen die Arbeit-
(B) sind. Ich nenne zum Beispiel die Anhebung des Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer und die Beschäftigten in (D)
nehmerpauschbetrages. Frau Kollegin Dr. Höll, 60 Pro- unserem Land am Aufschwung teilhaben zu lassen. Es
zent aller steuerpflichtigen Arbeitnehmerinnen und Ar- müssen in der Steuergesetzgebung Maßnahmen ergriffen
beitnehmer ersparen sich durch die Anhebung des werden, um die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-
Pauschbetrages einen bürokratischen Aufwand. men zu entlasten. Das hat der finanzpolitische Sprecher
unserer Fraktion in die Diskussion eingebracht. Wir
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Durch müssen neue Regelungen bei der Steuerprogression auf
die Änderung nicht!) den Weg bringen; wir müssen aber auch schauen, welche
– Durch die Änderung nicht. – Durch die Änderung sind Spielräume wir haben. Die Schuldenbremse, die Haus-
in der Summe 550 000 Arbeitnehmer mehr betroffen, haltskonsolidierung und die Nachhaltigkeit sind ange-
insgesamt über 22 Millionen. Auch das ist etwas, was sprochen worden. Frau Kollegin Paus, wir haben uns
sich sehen lassen kann. über dieses Thema im Rahmen der Debatte schon einmal
unterhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Eines unserer Ziele bei der Weiterentwicklung der
Steuergesetzgebung muss sein, dass wir die Auswirkun-
Es gibt viele weitere positive Punkte. Durch die ver- gen auf die kommenden Generationen immer mit beach-
besserte Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ten. Wir müssen die Nachhaltigkeitsprüfung als einen
werden die Steuerzahler um 60 Millionen Euro entlastet, wesentlichen Bestandteil der Gesetzgebung ansehen.
200 Millionen Euro Entlastung ergeben sich aus dem Wir müssen in diesem Hause verstärkt Wert darauf le-
Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze bei der Bean- gen, dass die arbeitenden Menschen in diesem Land un-
tragung von Kindergeld und bei dem Kinderfreibetrag. ter keiner zu hohen Steuerlast leiden. Vom Bund der
Von der Vereinfachung bei der Berechnung der Entfer- Steuerzahler stammt die Feststellung, dass aufgrund der
nungspauschale profitieren hauptsächlich die Menschen kalten Progression eine Lohnerhöhung um 1 Prozent
in den ländlichen Räumen. Auch für die Unternehmen eine um 2 Prozent höhere steuerliche Belastung nach
– das ist in der Debatte verschwiegen worden – sind sich zieht. Unsere Aufgabe ist es, hieran etwas zu än-
Erleichterungen im Gesetz vorgesehen, die sich auf dern. Dabei müssen wir den Haushalt natürlich im Blick
4 Milliarden Euro belaufen. Diese Einsparung für die haben; die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen ist die
Unternehmen resultiert unter anderem aus Erleichterun- große Aufgabe.
gen bei der elektronischen Rechnungslegung. Man sollte
nicht immer nur die negativen Dinge sehen. Es ist auch Stimmen Sie unserem ersten Schritt in Richtung Steu-
die Aufgabe der Opposition, das Positive herauszuarbei- ererleichterungen zu. Bisher sind wichtige Maßnahmen
13042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Peter Aumer
(A) ergriffen worden. In Zukunft können Sie sie mittragen, Überweisungsvorschlag: (C)
gerade im Hinblick auf die Familien mit Kindern, die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unter- Innenausschuss
nehmen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Lassen Sie Rechtsausschuss
uns weiter daran arbeiten, das deutsche Steuerrecht zu Verteidigungsausschuss
vereinfachen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Herzlichen Dank. Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Syrien endgültig stoppen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 17/5937 –
Überweisungsvorschlag:
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
desregierung eingebrachten Entwurf eines Steuerverein- Auswärtiger Ausschuss
fachungsgesetzes 2011. Der Finanzausschuss empfiehlt in Innenausschuss
Rechtsausschuss
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/6105 Verteidigungsausschuss
und 17/6146, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/5125 und 17/5196 in der Aus- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter tungsgütern nach Tunesien endgültig stoppen
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge-
– Drucksache 17/5938 –
gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthal-
tung der Linken angenommen. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Dritte Beratung Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
(B)
zuvor angenommen. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (D)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf tungsgütern nach Oman stoppen
Drucksache 17/6122. Wer stimmt für diesen Entschlie- – Drucksache 17/5939 –
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Überweisungsvorschlag:
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Auswärtiger Ausschuss
Stimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt. Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis r auf: Verteidigungsausschuss

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs- Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Ägypten endgültig stoppen tungsgütern in den Jemen stoppen
– Drucksache 17/5940 –
– Drucksache 17/5935 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss
Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs- tungsgütern in die Vereinigten Arabischen
tungsgütern nach Libyen endgültig stoppen Emirate stoppen
– Drucksache 17/5936 – – Drucksache 17/5941 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13043
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (C)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss Innenausschuss
Rechtsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss Verteidigungsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs- Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Saudi-Arabien stoppen tungsgütern nach Jordanien stoppen
– Drucksache 17/5942 – – Drucksache 17/5947 –
Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss Innenausschuss
Rechtsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss Verteidigungsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs- Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Israel stoppen tungsgütern nach Bahrain stoppen
– Drucksache 17/5943 – – Drucksache 17/5948 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Innenausschuss
Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
(B) (D)
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Marokko stoppen Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Katar stoppen
– Drucksache 17/5944 –
– Drucksache 17/5949 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Innenausschuss
Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern in den Libanon stoppen Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Algerien stoppen
– Drucksache 17/5945 –
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/5950 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss Innenausschuss
Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- q) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
tungsgütern nach Kuwait stoppen
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
– Drucksache 17/5946 – tion DIE LINKE
13044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens inhaftiert werden, Geständnisse erzwungen werden; au- (C)
einstellen – Militärische Zusammenarbeit be- ßer der muslimischen dürfe keine andere Religion ausge-
enden – Atomwaffenfreie Zone befördern übt werden. Trotzdem hat Deutschland in den letzten
zehn Jahren Rüstungsexporte im Wert von sage und
– Drucksachen 17/2481, 17/4508 – schreibe 675 Millionen Euro nach Saudi-Arabien geneh-
Berichterstattung: migt. Das muss doch irgendwann einmal ein Ende ha-
Abgeordnete Joachim Hörster ben.
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Rainer Stinner (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
Wolfgang Gehrcke [Berlin] [FDP]: Nein!)
Dr. Frithjof Schmidt Das sind übrigens Waffen, mit denen die Saudis nicht
r) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nur ihr eigenes Volk unterdrücken; damit führen sie auch
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- praktisch Krieg. Wir haben Fotos, die zeigen, wie saudi-
nologie (9. Ausschuss) sche Soldaten mit deutschen G-36-Sturmgewehren vor
zwei Jahren an der jemenitischen Grenze Krieg geführt
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD haben. Selbst solche Vorfälle halten die Bundesregierung
Mit Transparenz und parlamentarischer Be- nicht davon ab, eine Waffenfabrik in Saudi-Arabien auf-
teiligung gegen die Ausweitung von Rüs- zubauen. Das muss man sich vorstellen: Dort wird eine
tungsexporten Fabrik zur Produktion des deutschen G-36-Sturmge-
wehrs aufgebaut. Diese Fabrik wird über Jahrzehnte
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Waffen produzieren, und diese Waffen werden über Jahr-
Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite- zehnte eingesetzt werden. Noch in 100 Jahren werden
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE überall auf der Welt Menschen mit deutsch-saudischen
G-36-Gewehren erschossen werden, weil Sie jetzt eine
Alle Exporte von Kriegswaffen und sonsti-
falsche Entscheidung getroffen haben. Die sollten Sie
gen Rüstungsgütern stoppen
sofort zurücknehmen.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, wei- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- [Berlin] [FDP]: Das haben Sie alles schon mal
NIS 90/DIE GRÜNEN erzählt!)

Genehmigung für Waffenexporte bei Unzu- Jetzt wird es ganz pikant – das hat uns die Bundesre-
(B) verlässigkeit konsequent aussetzen gierung diese Woche schriftlich gegeben –: Der deutsche (D)
Rüstungskonzern EADS wollte einen Milliardendeal mit
– Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204, den Saudis machen. Die Saudis haben zur Bedingung
17/5823 – gemacht: Dann müssen aber saudische Grenzpolizisten
Berichterstattung: durch deutsche Polizisten ausgebildet werden. – Und Sie
Abgeordneter Erich G. Fritz tun das! Sie schicken über 70 deutsche Polizisten nach
Saudi-Arabien, damit EADS einen Rüstungsdeal ma-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die chen kann.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Zuruf von der FDP)
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jan Die Reisekosten der deutschen Polizisten werden von
van Aken für die Linke das Wort. EADS bezahlt, ihr Gehalt vom deutschen Steuerzahler.
Sie finanzieren mit deutschen Steuergeldern einen riesi-
(Beifall bei der LINKEN)
gen Rüstungsdeal von EADS, und zwar mit einem Land,
von dem Sie selber sagen, dass es große Menschen-
Jan van Aken (DIE LINKE): rechtsverletzungen begeht. Diesen Deal müssen Sie so-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine fort aufkündigen!
Legende, dass deutsche Rüstungsexporte besonders
scharf kontrolliert werden. Im Gegenteil: Man kann (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
praktisch jede deutsche Waffe fast überall in die Welt lie- [Berlin] [FDP]: Auf keinen Fall!)
fern. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2009 hat die Regierung
Saudi-Arabien ist aber nur ein Beispiel. Das Gleiche
Rüstungsexportgenehmigungen für 135 Länder welt-
gilt für viele andere Länder in dieser Region. Die Linke
weit erteilt, darunter für Kriegsgebiete, auch für Diktatu-
hat jetzt 16 Anträge eingebracht, damit der Rüstungsex-
ren, etwa im Nahen Osten und in Nordafrika.
port in 16 Länder des Nahen und Mittleren Ostens und
Ein besonders schwerer Fall ist Saudi-Arabien. Die Nordafrikas verboten wird. Wir wollen, dass über alle
Bundesregierung selbst schreibt in ihrem Menschen- 16 Anträge namentlich abgestimmt wird; denn ich finde,
rechtsbericht von schwersten Menschenrechtsverletzun- Sie sollten auch ganz persönlich eine Entscheidung tref-
gen, von Folterungen, von Todesstrafen. Sie beschreibt fen, ob in Zukunft noch Waffen nach Saudi-Arabien oder
in ihrem eigenen Menschenrechtsbericht, dass Frauen an andere Diktatoren geliefert werden oder nicht, und
dort Menschenrechte vorenthalten werden, Dissidenten dann die Verantwortung dafür übernehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13045
Jan van Aken
(A) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland In Ihren 16 Anträgen zum Verbot von Exporten von (C)
gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich weiß, dass Kriegswaffen und Rüstungsgütern unterscheiden Sie
wir darüber nicht so schnell einig werden. Aber Sie kön- überhaupt nicht. Sie verstehen auch gesicherte Autos für
nen hier einen kleinen Anfang machen. Sie können nun Botschaften als Waffen. Das ist zumindest oberflächlich
entscheiden, dass an einzelne Diktatoren keine Waffen und zeigt, dass Sie mit diesen Anträgen bestimmte Inten-
mehr geliefert werden. tionen verfolgen.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Klientel-
pflege, sonst gar nichts!)
Da möchte ich die Damen und Herren der FDP direkt an-
sprechen. Es ist doch ein geradezu liberales Prinzip, die Alle Ihre Anträge sind fast inhaltsgleich. In den Aus-
individuelle Freiheit hochzuhalten. Wie können Sie ver- schussberatungen haben Sie einen Antrag für die ge-
antworten, dass diese Freiheit in Saudi-Arabien mit samte Region gestellt. Das war durchaus sinnvoll. Jetzt
deutschen Waffen niedergehalten wird? Meine Damen zeigen Sie, dass Sie etwas ganz anderes im Sinn haben,
und Herren von CDU und CSU, ich verstehe bis heute als wirklich darüber zu diskutieren. Ihnen geht es näm-
nicht, wie Sie Waffenexporte mit Ihrem christlichen lich in Wirklichkeit um einen propagandistischen Erfolg.
Glauben vereinbaren können. Nur zur Erinnerung: In
Saudi-Arabien darf das Christentum nicht praktiziert Sie hatten auch eine Reihe von Anfragen gestellt, mit
werden. deren Hilfe Sie belegen wollten, dass die Rüstungsex-
portpolitik der Bundesregierungen der letzten zehn Jahre
In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie sich jeden Antrag das Schlimmste darstelle, was man sich überhaupt vor-
genau anschauen und zumindest bei dem einen oder an- stellen könne. Das ist Ihnen ja nicht gelungen; das lässt
deren Land sagen werden: In diese Diktatur, in diese sich weder den Summen noch den Zielländerlisten ent-
Kriegsregion darf keine deutsche Waffe mehr exportiert nehmen. Weil Ihnen das nicht gelungen ist, haben Sie
werden. – Sie sollten nicht den gleichen Fehler wie bei nun erneut eine ganze Reihe von Anträgen gestellt, die
Ägypten, Libyen und Tunesien machen. Überall dorthin wir heute zu beraten haben. Sie verschweigen dabei
haben Sie bis vor kurzem Waffen geliefert. Selbst Herr aber, dass etwa gegen Libyen und Syrien jeweils ein
Kauder hat öffentlich gesagt: Das war ein Fehler. – Ma- Waffenembargo besteht; daran halten wir uns natürlich.
chen Sie den Fehler nicht noch einmal! Stoppen Sie die So gibt es eigentlich gar keinen Grund, entsprechende
Waffenexporte in die infrage stehenden 16 Länder! Anträge vorzulegen. Sie wollen vergessen machen, dass
die Bundesregierung selbstverständlich das Bundesamt
Ich danke Ihnen.
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, unverzüg-
(Beifall bei der LINKEN) lich angewiesen hat, ihr alle Anträge, die diese Region
(B) betreffen, vorzulegen. Diese werden damit separat be- (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: handelt und gehen nicht den routinemäßigen Weg.
Das Wort hat nun Erich G. Fritz für die CDU/CSU- In einer der Anfragen, die Sie gestellt hatten,
Fraktion. schildern Sie – das hat mich besonders beeindruckt – das
ägyptische System. Sie tun so, als ob Sie schon seit
Erich G. Fritz (CDU/CSU): 20 Jahren zu den intensivsten Kritikern dieser Diktatur
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber gehört hätten. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit ha-
Herr van Aken, bevor ich sage, was zu sagen ist: Ihre ben Sie genauso auf die stabilisierende Wirkung Ägyp-
pauschale Darstellung der Polizeiausbildung ist zu tens gehofft und gesetzt wie alle anderen.
schlicht. Der Zusammenhang – das kann ich jetzt nicht (Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist falsch,
nachprüfen – mag diskussionswürdig sein. Aber wir ha- Herr Fritz! Wir haben schon vor einem halben
ben nun einmal überall auf der Welt die Erfahrung ge- Jahr beantragt, Rüstungsexporte nach Ägypten
macht: Dort, wo wir Polizisten und Führungskräfte aus- zu stoppen, also vor der Revolution! Das wis-
bilden, gibt es anschließend eine größere demokratische sen Sie!)
Substanz, gibt es in Krisensituationen Menschen, die an-
dere Qualitäten aufweisen als den puren Gehorsam ge- – Ja. Wir gehen jetzt seit einem Jahr anders an die Sache
genüber Diktaturen. Deshalb ist es zumindest gefährlich, heran. Hier sind wir einer Meinung. Hier gibt es ja nun
auf diese Art und Weise zu argumentieren. auch keine Genehmigungen mehr.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Jan van Aken [DIE LINKE]: Aber Sie haben
unseren Antrag abgelehnt und im letzten De-
Meine Damen und Herren, bei diesem Thema lassen zember geliefert!)
sich nach Max Weber interessengeleitete Positionen auf
der einen und wertgebundene Positionen auf der anderen – Sagen Sie hier doch einmal, was denn geliefert worden
Seite wunderbar gegeneinander in Stellung bringen. Das ist. Sie verschweigen einfach zu viel.
hilft aber nicht wirklich weiter. Wenn der an Werte Ge- (Jan van Aken [DIE LINKE]: Sturmgewehre
bundene nur an seine Werte denkt, ist er politisch hand- zum Beispiel!)
lungsunfähig. Wer nur interessengeleitet ist, bewegt sich
am Rand der moralischen Unfähigkeit. Es geht also da- Wir halten uns an alle Maßnahmen, die die Bundesre-
rum, die beiden Prinzipien vernünftig und möglichst ver- gierungen in den letzten 20 Jahren seit Rabta, seit dem
antwortungsvoll miteinander zu verbinden. illegalen Export nach Libyen, getroffen haben. Ob Aus-
13046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Erich G. Fritz
(A) bau des Zollkriminalinstituts, Entwicklung neuer Instru- Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ (C)
mentarien, verbesserte Eingriffsmöglichkeiten bei Fahn- CSU]: Brüllen Sie nicht so herum!)
dungen oder erhöhte Strafandrohungen, wir versuchen
alles, um illegale Ausfuhren zu verhindern. Wir tun das Ich habe elf Jahre dem Bundessicherheitsrat angehört
alles in einem insgesamt transparenten Verfahren. Damit und darf mich aus Gründen der Geheimhaltung natürlich
glauben wir die Genehmigungen verantworten zu kön- nicht zu Einzelentscheidungen und auch nicht zu mei-
nen, die die Bundesregierung bisher erteilt hat. nem eigenen Stimmverhalten äußern. Ich bitte Sie aus-
drücklich, mich auch nicht dazu zu zwingen. Aber so
Herzlichen Dank. viel kann ich aufgrund meiner Erfahrung sagen: Diese
Geheimhaltung hat in den letzten Jahren dazu geführt,
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der dass die richtigen politischen Grundsätze zu den Waffen-
LINKEN: Sie haben auch schon einmal besser und Rüstungsexporten, die die rot-grüne Regierung 1999
argumentiert!) und 2000 beschlossen hat, einerseits und die realen Ent-
scheidungen im Bundessicherheitsrat zu den Rüstungs-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: exporten andererseits immer weiter auseinanderklaffen.
Das Wort hat nun Heidemarie Wieczorek-Zeul für die Da hilft nur parlamentarische Offenheit. Das ist die
SPD-Fraktion. Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Diese Erfahrungen im Bundessicherheitsrat sind – ne-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ben meiner grundsätzlichen restriktiven Haltung gegen-
beraten heute unter anderem über den SPD-Antrag zur über Waffen- und Rüstungsexporten – ein Grund, warum
Reduzierung von Waffenexporten und zu einer stärkeren ich diese Initiative verfolge. Ich werde sie weiter verfol-
parlamentarischen Beteiligung des Deutschen Bundesta- gen, und sie wird zum Erfolg führen.
ges an Entscheidungen, die ansonsten in geheimer Sit- Warum muss der Bundestag über Waffen- und Rüs-
zung im Bundessicherheitsrat allein von den Ressortver- tungsexporte parlamentarisch mit entscheiden, und wa-
tretern der Bundesregierung getroffen werden. Ich rum muss dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben?
appelliere an CDU/CSU und FDP, unseren Antrag entge- Dafür gibt es mindestens sechs gute Gründe:
gen Ihrem Verhalten in den Ausschüssen anzunehmen.
Damit würden Sie auch die Forderungen der katholi- Erstens. Waffen- und Rüstungsexportlieferungen an
schen und der evangelischen Kirche, die wir aufgenom- nordafrikanische Länder müssen ein Ende haben. Was
(B)
men haben, umsetzen. brauchen die Menschen in der Region jetzt wirklich? In (D)
Tunesien oder Ägypten braucht man Hunderttausende
(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner Arbeitsplätze für junge Menschen, die gut ausgebildet
[Berlin] [FDP]: Wenn Sie in den elf Jahren Ih- sind und Hoffnungen auf den demokratischen Wandel
rer Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat das setzen. Darauf müssen diese Länder ihre Finanzmittel
gebracht hätten, wären wir weiter!) konzentrieren, statt sie für Rüstungsimporte zu ver-
schwenden.
Die Einwände, die wir in den Beratungen von Ihnen
gehört haben – das waren bisher die einzigen –, lassen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sich leicht widerlegen; denn sie sind lediglich vorge- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
schoben. Da wurde gesagt, es gehe um die Trennung von GRÜNEN)
Exekutive und Legislative. Schweden und Großbritan-
nien haben natürlich auch eine entsprechende Trennung Wenn ich das ergänzen darf: Die nordafrikanischen Län-
zwischen Exekutive und Legislative; trotzdem gibt es der brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die auf
dort solche Regelungen, wie wir sie vorschlagen. Es geht Demokratisierung nicht mit Frontex antwortet, sondern
also, wenn man will. Mein Verdacht ist jedoch, dass die die den europäischen Werten der Menschlichkeit und
Regierungsparteien bei Waffen- und Rüstungsexporten Solidarität entspricht.
keine wirkliche Transparenz schaffen wollen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Des Weiteren wird gesagt, das bringe zu viel Verwal- Wir fordern die Regierung auf, hier zu erklären, dass
tungsaufwand mit sich. Es wäre, ehrlich gesagt, wohl ein der Stopp von Waffenexporten in nordafrikanische Län-
bisschen Verwaltungsaufwand wert gewesen, wenn man der, den sie Anfang des Jahres beschlossen hat, jetzt fort-
damit verhindert hätte, dass dem Gaddafi-Regime Ab- gesetzt wird. Ich würde gerne wissen: Wie ist der Stand
schussrampen für Panzerabwehrraketen, Kommunika- in Bezug auf diese Länder?
tionstechnik und Störsender geliefert wurden, die dieser
nun gegen die eigene Bevölkerung einsetzen kann. Zweitens. Unsere Befürchtung ist, dass die anste-
hende Umstrukturierung der Bundeswehr dazu führen
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind wird, dass ausgemusterte Waffen und Rüstungsgüter
so glaubwürdig wie ein T-Bone-fressender Ve- weltweit exportiert und dadurch die nächsten Konflikte
getarier! – Gegenruf des Abg. Jan van Aken angeheizt werden. Gerade bei dem Export solcher Güter,
[DIE LINKE]: Herr Lindner, benehmen Sie die bereits vom deutschen Steuerzahler bezahlt worden
sich einmal hier! Das ist doch unverschämt! – sind, ist eine parlamentarische Mitentscheidung wichtig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13047
Heidemarie Wieczorek-Zeul
(A) Drittens. Besonders schädlich finde ich das Verhalten und im Übrigen auch Portugal hängt auch damit zusam- (C)
der Bundesregierung beim Export von Kampfflugzeugen men, dass sie teure, unnötige Waffenimporte unter ande-
nach Indien. Nach den damaligen Ministern Brüderle rem aus Deutschland und Frankreich zu bezahlen hatten.
und zu Guttenberg haben Minister Westerwelle und nun
noch die Bundeskanzlerin in Indien antichambriert. Hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wird leichtfertig mit den restriktiv formulierten deut- sowie bei Abgeordneten der SPD)
schen Rüstungsexportrichtlinien umgegangen; SIPRI weist darauf hin, dass der Anteil deutscher Waffen-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ exporte nach Griechenland bei 13 Prozent und der Anteil
DIE GRÜNEN) französischer Waffenexporte bei 12 Prozent liegt.

denn diese Richtlinien besagen, dass Lieferungen in (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Spannungsgebiete nicht genehmigungsfähig sind. An die Wissen Sie, wann die Beschlüsse dazu gefasst
Adresse Indiens gerichtet sage ich: Statt 126 Kampfflug- worden sind? Die Beschlüsse sind damals un-
zeuge im Milliardenwert zu kaufen, sollte die indische ter Rot-Grün gefasst worden!)
Politik auf die Bekämpfung der Armut im Land setzen. Es ist wirklich eine Schizophrenie, sich von Ländern wie
(Beifall bei der LINKEN) Griechenland und Portugal Waffen abkaufen zu lassen
und ihnen gleichzeitig Geld zu liefern, damit sie finan-
Etwa ein Drittel der 1,2 Milliarden Menschen in Indien ziell stabilisiert werden können. Dieser Schizophrenie
lebt unterhalb der Armutsgrenze. muss ein Ende gemacht werden. Ich fordere Sie auf:
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Viertens. Die Bundesregierung versucht, die restrikti-
ven Regelungen der Rüstungsexportrichtlinien auszu- Vielen Dank.
höhlen, indem sie auf strategische Partnerschaften ver-
weist. Unter diesem Deckmantel wird dann auch in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Länder geliefert, die vom Waffenexport eigentlich aus- DIE GRÜNEN)
geschlossen sind.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Fünftens. Wichtig für die Transparenz gegenüber dem Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Frak-
Deutschen Bundestag ist auch, dass die Bundesregierung tion.
durch die Vorlage des Rüstungsexportberichtes verstärkt
ihrer Informationspflicht nachkommt. Das hätten wir – das (Beifall bei der FDP)
sage ich selbstkritisch und gestehe es freimütig zu – be-
(B) reits früher veranlassen können. Schön und richtig wäre, Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): (D)
wenn er in drei- oder sechsmonatigen Abständen erfolgt. Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Sie
Ich fordere alle Fraktionen des Deutschen Bundestags alle kennen diesen wunderbaren Film Und täglich grüßt
auf, sich über eine neue Struktur dieses Rüstungsexport- das Murmeltier mit Bill Murray. Ein bisschen erinnert
berichts Gedanken zu machen; denn – vielleicht hat es mich die heutige Debatte daran. Wir haben bereits am
noch nicht jeder festgestellt – die Verteidigungsgüter- 18. März, am 24. März und am 12. Mai über dieselben
richtlinie, die in diesem Jahr in Kraft tritt, wird zukünftig Anträge geredet. Die Szenarien sind gleich. Ich glaube,
bewirken, dass Waffenlieferungen innerhalb europäi- der einzige Unterschied ist, dass heute Staatsministerin
scher Länder nicht mehr in der Statistik des Rüstungs- Pieper anstelle des damaligen Staatsministers Hoyer an-
exportberichtes auftauchen. Wir weisen frühzeitig auf wesend ist. Ansonsten haben wir komplett die gleiche
diesen Sachverhalt hin und fordern, das in dem Bericht Aufstellung. Der große Unterschied ist: Bei Und täglich
auch deutlich zu machen. Sonst wird uns die Bundes- grüßt das Murmeltier handelt es sich um eine 120-minü-
regierung noch erzählen, in ihrer Regierungszeit seien tige, witzige, intelligente Unterhaltung. Das, was Sie uns
die Waffen- und Rüstungsexporte zurückgegangen. vorlegen, ist weder witzig noch intelligent. Es sind die-
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] selben langweiligen Schaufensteranträge, die Sie für
[CDU/CSU]: Das ist auch richtig!) Ihre Klientel brauchen.
– Ja, genau. (Beifall bei der FDP)
Sechster und letzter Punkt. Viele europäische Staaten Damit betreiben Sie Klientelpflege und wenden sich an
– Frankreich, Österreich, Großbritannien, Italien, Nie- die S-Bahn-Brandstifter, die unter dem Deckmantel, ge-
derlande – haben neben Deutschland Waffen und Rüs- gen Waffenexporte zu sein, gehandelt haben.
tungsgüter nach Nordafrika geliefert. Außerdem gibt es (Jan van Aken [DIE LINKE]: Sind Sie das
europäische Rüstungsfirmen. Es ist an der Zeit, dass Murmeltier oder Bill Murray?)
endlich die acht gemeinsamen Regeln, die Ausdruck des
gemeinsamen europäischen Standpunkts sind und die Seriös ist das natürlich nicht, was Sie vorlegen.
sehr wichtig und richtig sind, in den europäischen Län-
dern gesetzlich fixiert werden. Seriös wäre es, darauf hinzuweisen, dass eine militä-
rische Mittelmacht wie Deutschland selbstverständlich
Eines ist klar – darauf wird vielleicht auch in der mor- eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie braucht und
gigen Debatte Bezug genommen –: Die exzessive Ver- dass Sicherheit durch diese Industrie exportiert wird,
schuldung europäischer Partnerländer wie Griechenland zum Beispiel auch nach Saudi-Arabien.
13048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Martin Lindner (Berlin)


(A) (Jan van Aken [DIE LINKE]: Und nach zieht diese Gesetze. Die Bearbeitung einzelner Anträge (C)
Libyen?) und darauf erfolgender Genehmigungen gehören selbst-
verständlich zum exekutiven Handeln. Wie soll es, bitte
Der Export nach Saudi-Arabien bestand im Wesentli-
schön, anders gehen? Wie soll denn ein Ausschuss oder
chen in einem Auftrag an EADS zum Küstenschutz.
gar ein einzelner Abgeordneter einen Rüstungsexport-
Dieser Milliardenauftrag ist übrigens unter Frau
antrag in seiner ganzen Tiefe bearbeiten?
Wieczorek-Zeul genehmigt worden, die elf Jahre im
Bundessicherheitsrat saß. (Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie schaffen das
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Genau nicht! Wir schaffen das! Die Amerikaner
deshalb weiß ich, wovon die Rede ist!) schaffen das auch!)

Frau Kollegin, in diesen elf Jahren sind Sie nicht auf die – Sie schaffen das? Sie schaffen es doch nicht einmal,
Idee gekommen, einen solch wunderbaren Antrag wie anständige Anträge zu formulieren. Wie können Sie
den heutigen zu stellen. Deswegen wiederhole ich mei- glauben, dass Sie in der Lage wären, solche Anträge se-
nen Zuruf von vorhin: Ein Vegetarier, der T-Bone-Steaks riös zu bescheiden? Das ist schlichtweg lächerlich.
verzehrt, ist glaubwürdig im Vergleich zu Ihnen; das (Beifall bei der FDP)
kann ich Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul.
Wenn wir über das Thema Rüstungsexporte sprechen,
(Beifall bei der FDP) müssen wir natürlich eine Diskussion darüber führen,
Alles, was Sie sagen, ist Kokolores. Es ist nicht glaub- wie die Länder der NATO und der Europäischen Union
würdig, wenn man so lange wie Sie in der Verantwor- ihre Rüstungsanstrengungen bei Hightechprodukten ko-
tung stand und sich in dieser Zeit nichts getan hat. ordinieren können. Darin scheint mir ein Hauptproblem
zu bestehen. Wir bilden zwar mit der NATO eine Vertei-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE digungsgemeinschaft und mit der EU eine Wirtschafts-
GRÜNEN]: Jetzt steht die FDP in der Verant- gemeinschaft; aber wir haben, was die Rüstungsindustrie
wortung!) angeht, noch immer nationale Verteidigungsstrategien.
Ich erinnere Sie daran: Im Jahr 2005 – da waren Sie Da liegt das Problem: Die Stückkosten sind gigantisch
schon geraume Zeit im Amt – sind die Rüstungsexporte hoch; damit steigt der Druck, zu exportieren. Es gibt
um 1,2 Milliarden Euro gestiegen. Ich habe nachge- zwei Möglichkeiten: Entweder wir zahlen die hohen
schaut: Lag das vielleicht an einem Großauftrag? Nein, Stückkosten und belasten damit die nationalen Verteidi-
Exporte im Umfang von 900 Millionen Euro gingen in gungsetats überproportional, oder wir koordinieren zu-
die Dritte Welt, künftig unsere Rüstungsprojekte auf intelligentere
(B) Weise; dann wäre bei gemeinsamen Unternehmen wie (D)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE EADS der Druck geringer, zu Exporten in größerem
GRÜNEN]: Nach Afrika!) Umfang zu kommen. Das wäre ein seriöser Beitrag, den
in die Länder, für die Sie verantwortlich und zuständig Export von Hightechprodukten zu verringern.
waren. Wenn Sie uns Schizophrenie vorwerfen, muss ich Wir reden hier nicht über G 36. Sie glauben doch
mich fragen, worum es sich bei dem handelt, was Sie nicht im Ernst, dass sich die Sicherheitslage der Men-
heute hier vorgetragen haben. schen im Nahen oder Mittleren Osten dadurch geändert
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hat, dass dort Waffenfabriken unter deutscher Beteili-
gung gebaut wurden; anderenfalls hätten China und
Meine Damen und Herren, eine Thematisierung der Russland dort Fabriken gebaut. Darum geht es nicht; das
Anträge der Linken ist nicht lohnenswert; sie sind ein re- ist doch nicht der entscheidende Punkt. Der entschei-
lativ naives und perfides Manöver zur Klientelpflege. dende Punkt ist – da besteht ein berechtigtes Interesse –,
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Ihre Arroganz dass wir beim Export von Hightechprodukten zu einer
ist nicht zu übertreffen!) restriktiven Handhabung kommen; denn es tangiert na-
türlich unsere Sicherheitslage, wenn Produkte – keine
Aber was Sie als eigentlich ernst zu nehmende Fraktion Stangenware – in nennenswertem Umfang unkontrolliert
beantragen, meine Damen und Herren von der SPD, ist exportiert werden, die tatsächlich zu einer Gefährdung
nicht minder problematisch. Ihre Anträge sind natürlich unserer Sicherheit führen können. Hier stehen die FDP,
nicht so populistisch wie die der Linken. Aber erzählen die Koalition und die Bundesregierung für eine weiter-
Sie uns einmal, wie Sie sich die praktische Exekution hin vernünftige, restriktive Handhabung, natürlich in
der Anträge vorstellen. Wie sollen die Abgeordneten des dem Bewusstsein, dass Deutschland eine bedeutende
Deutschen Bundestages 16 000 Anfragen betreffend Exportmacht ist und es bleiben will.
Rüstungsexporte seriös bearbeiten? Das können sie
nicht. Herzlichen Dank.
(Jan van Aken [DIE LINKE]: Wieso können (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Amerikaner das? Die Amerikaner machen der CDU/CSU)
das!)
Das ist klassisches exekutives Handeln. Der Deutsche Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bundestag setzt den gesetzgeberischen Rahmen unter Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich zu-
anderem für die Exportwirtschaft; die Verwaltung voll- nächst dem Kollegen Fritz. Diese Kurzintervention be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13049
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) zieht sich auf die Rede von Heidemarie Wieczorek-Zeul, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
die anschließend eine Kurzintervention angemeldet hat. DIE GRÜNEN)
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, vielleicht können Sie
gleich darauf erwidern und dann Ihre Intervention for- Ich muss sagen: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass in-
mulieren. nerhalb der FDP einmal über die Frage des Umgangs ge-
sprochen wird, insbesondere unter dem Gesichtspunkt,
Erich G. Fritz (CDU/CSU): welche subkutanen Beleidigungen über den Tisch ge-
reicht werden.
Verehrte Frau Kollegin, ich bin auf den SPD-Antrag,
der sich qualitativ von den übrigen Anträgen unterschei- Zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr
det, nicht eingegangen, weil ich nach der Beratung im Fritz. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Vorsitzenden des
Wirtschaftsausschuss den Eindruck gewonnen hatte, Auswärtigen Ausschusses – ich nenne jetzt keinen Na-
dass es Ihnen nicht um den Inhalt Ihres Antrags geht, men – gesprochen.
sondern nur um die Darstellung Ihres Antrags im Ple-
num. Im Rahmen der ersten Lesung habe ich ausdrück- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
lich angeboten, über diese Themen ausführlich zu reden. „Ich nenne jetzt keinen Namen!“ Lustiges Ra-
Im federführenden Ausschuss war eine Diskussion da- tespiel!)
rüber nicht möglich, weil dieser Antrag ohne Diskussion
wieder an das Plenum überwiesen worden ist. Insofern – Also: Herr Polenz. – Ich habe mit Herrn Polenz und
hatte ich den Eindruck, dass er Ihnen nicht so wichtig ist, Herrn Mißfelder – da ist er – zusammengesessen und ge-
und habe ihn unter die anderen subsumiert. sagt: Überlegt, ob wir in der Richtung weiterarbeiten
Ansonsten haben wir die Zwischenzeit genutzt und können. – Es gab keine positive Reaktion. Das ist die
uns die verschiedenen Praktiken noch einmal genau an- Wahrheit.
gesehen. Ich glaube nicht, dass Sie das britische Modell Ich nehme aber zur Kenntnis – deshalb sage ich das
wirklich wollen. Dort liegen Beschaffung für die Armee jetzt auch –, dass der Rüstungsexportbericht wegen der
und Genehmigung der Exporte nämlich in einer Hand. nicht mehr auftauchenden innereuropäischen Waffen-
Das möchten Sie bestimmt nicht. Das einzige Modell,
und Rüstungsexporte sowieso geändert werden muss.
über das man reden kann – es gibt sehr gute Gründe da-
Deshalb sollten sich – erstens – alle zusammensetzen
für, aber auch dagegen –, ist das schwedische Modell.
Sie werden allerdings feststellen, dass die beiden Länder und überlegen, wie er künftig aussehen soll. Zweitens
nicht vergleichbar sind, weder in bündnispolitischer – wir haben diesen Vorschlag gemacht – sollten wir den
Hinsicht noch hinsichtlich der industriellen Basis noch Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses in diesem
hinsichtlich aller anderen Aspekte, die die Verantwor- Sinne einsetzen; denn jedes Parlament nutzt seine Mög-
(B)
tung für eine gemeinsame Sicherheitspolitik und die Ko- lichkeiten. Das Angebot steht. Wir werden die Anträge (D)
operationsfähigkeit betreffen. Die Schweden haben das voranbringen. Insofern wird es dazu Gelegenheit geben.
Genehmigungsverfahren in ein unabhängiges Institut
Ich komme zu meinem zweiten Punkt, zu dem, was
ausgelagert. Weil dieses Institut völlig außerhalb der
Herr Lindner bereits in der ersten Debatte gesagt hat. Ich
Exekutive steht, haben sie logischerweise ein zusätzli-
weise darauf hin, dass es sich hierbei um einen Ablen-
ches parlamentarisches Kontrollgremium, das innerhalb
eines ganzen Jahres etwa 1 600 Anträge bearbeitet. Inso- kungsversuch handelt. In der Zeit von Rot-Grün ist der
fern ist ein Vergleich schwierig. Man müsste auf der Ba- Anteil von Genehmigungen von Rüstungsexporten in die
sis eines solchen Antrages einen längeren Disput darüber ärmsten Entwicklungsländer drastisch reduziert worden.
führen, was sinnvoll ist und was nicht und wie man die Sie haben eine Zahl aus dem Jahr 2005 genannt. Der An-
Gewalten auch in dieser Frage ordentlich teilt. teil der Lieferungen an die ärmsten Entwicklungsländer
ist hier gering. Im Übrigen weisen der Rüstungsexport-
Dass es in diesem Haus Kontrolle gibt, zeigen nicht zu- bericht der GKKE – also der Kirchen – sowie der deut-
letzt die vorliegenden Anfragen. Ich habe noch von kei- sche Rüstungsexportbericht darauf hin, dass der Anteil
nem Kollegen gehört, dass ihm in irgendeinem Ministe- der armen Entwicklungsländer bei den Rüstungsexpor-
rium die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn er ten verschwindend gering ist. Im Jahr 2005 gab es mit
über ein bestimmtes Projekt etwas erfahren wollte. Südafrika einen spezifischen Fall. Dieser Punkt war sehr
Von daher sollten wir die Sache adäquat und zielfüh- umstritten. Er war auch für mich umstritten, ohne dass
rend behandeln. Wir sollten uns möglichst nicht gegen- ich jetzt ins Detail gehen kann.
seitig Versagen und moralische Unfähigkeit vorwerfen.
Lenken Sie also bitte nicht ab. Beteiligen Sie sich im
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sinne von Herrn Fritz konstruktiv und ohne Ihren hämi-
neten der FDP) schen Ton an der Sachdebatte. Das wäre dem Ernst die-
ses Themas angemessen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Kollegin Wieczorek-Zeul.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Vielen Dank, Herr Kollege Fritz. Ihr Beitrag hat sich
positiv von dem – ich persönlich würde sagen: herabset- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
zenden – Ton Ihres Kollegen Lindner unterschieden. Kollege Lindner, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
13050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Frau Kollegin, mir ist Häme wirklich fern. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lindner?
(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– Mir ist Häme wirklich fern, grundsätzlich. – Wenn Ja.
man, einen Tag bevor man Sie hört, den Rüstungsexport-
bericht in die Hand bekommt und dort liest, dass in dem
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
von Ihnen genannten Jahr die Rüstungsexporte um
900 Millionen Euro in die Höhe gegangen sind, und Frau Kollegin Keul, bei Saudi-Arabien muss man dif-
weiß, dass Sie wie kein anderes Mitglied des Hauses ferenzieren. Es geht im Wesentlichen – ich sagte das vor-
lange in Regierungsverantwortung waren, von 1998 bis hin schon – um einen Küstenschutzauftrag für Saudi-
zum Jahr 2009, und ununterbrochen dem Bundessicher- Arabien durch EADS. Das ist öffentlich bekannt.
heitsrat angehört haben, Sie aber genau in dem Moment (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Sie wollten doch
aufwachen, in dem Sie die exekutive Verantwortung ver- eine Frage stellen!)
lassen und damit die Chance verloren haben, auf eigenen
Mehrheiten beruhende Vorschläge zum vernünftigen Das sind im Wesentlichen Radargeräte, Küstenschutzge-
Umgang mit dem Thema Rüstungsexport einzubringen, räte und Elektronik. Das hat doch mit Menschenrechts-
und glauben, uns im Monatsrhythmus Vorschläge unter- verletzungen wirklich nichts zu tun. Wir helfen dort,
breiten zu können, wie nunmehr die Legislative einzelne eine Radarüberwachung zum Schutz gegen Piraterie auf-
Rüstungsentscheidungen zu handhaben hat, dann erlau- zubauen.
ben Sie uns bitte, dass wir das nicht so vollständig ernst (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Sie reden sich
nehmen können, wie es der Sache vielleicht – wie Sie es immer tiefer hinein! – Hans-Christian Ströbele
zu recht angemerkt haben – angemessen wäre. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewehr
Herzlichen Dank. G 36!)
Sie können den Küstenschutz doch nicht zur Bekämp-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fung von missliebigen Bürgern einsetzen; das gilt auch
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion für U-Boote und anderes. Bei der Betrachtung dessen,
Bündnis 90/Die Grünen. was exportiert wird, muss man differenzieren.
Das andere sind Konzessionen, die gehandelt werden.
(B) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im eigenen Land werden Fabriken aufgebaut. Auch das (D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hat mit Exporten von Deutschland in diese Länder nichts
Kollegen! Sehr geehrter Herr Lindner, Inhaftierung von zu tun.
Dissidenten, unter Folter erzwungene Geständnisse, öf-
fentliche Hinrichtungen, Sie würden wahrscheinlich an (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
dieser Stelle sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier. GRÜNEN]: Was?)

Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung Ich glaube, es lohnt sich für eine seriöse Partei, der
führt die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien Sie angehören, die Dinge, über die wir reden, anders als
akribisch auf. Dennoch genehmigt dieselbe Regierung die Populisten auf der linken Seite des Hauses sauber
nicht nur Rüstungs-, sondern auch Kriegswaffenexporte auseinanderzuhalten.
in dieses Land und entsendet zudem noch deutsche Poli-
zisten zur Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte. Dabei Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sind nach der Rüstungsexportrichtlinie und dem Verhal- Herr Lindner, ich habe gedacht, Sie seien zynisch,
tenskodex der EU die menschenrechtliche Lage und frie- aber es ist noch viel schlimmer. Sie haben sich gar nicht
denspolitische Kriterien zwingend zu berücksichtigen. mit dem befasst, was in Saudi-Arabien passiert.
Wir müssen feststellen, dass in der Rüstungsexportpoli-
tik der Bundesregierung Anspruch und Wirklichkeit weit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
auseinanderklaffen. bei der SPD und der LINKEN)

Die Linke hat in 16 Anträgen die kritische Menschen- Bei dem Auftrag der Firma Cassidian geht es nicht um
rechtslage in arabischen Ländern dargelegt und fordert Küstenschutz, sondern um die Sicherung der Tausende
für jedes einzelne ein umfassendes Embargo für Rüs- Kilometer langen Grenze quer durch die Wüste. Diese
tungsgüter. Wo bereits ein Embargo besteht, fordert sie wird überwacht. Es geht auch um innere Repressionen.
eine Art Ewigkeitsgarantie, unabhängig von der zukünf- Man darf sich dieser Grenze vonseiten Saudi-Arabiens
tigen Entwicklung des Landes. Wenn man diese Forde- gar nicht nähern; wenn man es tut, setzt man sich den
rung logisch übersetzt, heißt das eigentlich, sämtliche Repressalien des Regimes aus. Beschäftigen Sie sich
Rüstungsexporte für alle Zeit zu verbieten. also erst einmal damit. Polizisten werden dazu ausgebil-
det, nach innen repressiv zu unterdrücken. Es geht hier
(Beifall bei der LINKEN) nicht um Boote oder Fregatten für den Küstenschutz.
Das ist etwas völlig anderes.
So steht es auch in Ihrem anderen Antrag, der heute zur
Abstimmung steht und den wir ablehnen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13051
Katja Keul
(A) Das Anliegen, das wir teilen, ist: weniger Handel mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
todbringenden Waffen. Da sind wir uns einig. Auch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
meine Fraktion setzt sich für eine restriktivere Rüstungs- LINKEN)
exportpolitik ein. Aber ob es nun zielführend ist, für alle
Vor diesem Hintergrund werden wir dem entspre-
genannten Staaten ein umfassendes Embargo zu fordern,
chenden Antrag der SPD zustimmen. Im Zusammen-
bezweifele ich sehr. Denn diese Forderung dürfte in ihrer
hang mit der Verbesserung des Außenwirtschaftsgeset-
Radikalität nicht nur auf politische, sondern auch auf zes würde ich auch vorschlagen, den Wortlaut der
verfassungsrechtliche Hürden stoßen, besonders wenn es Rüstungsexportrichtlinien gleich ins Außenwirtschafts-
um Rüstungsgüter geht, die keine Kriegswaffen sind. gesetz zu integrieren, um dem Menschenrechtskriterium
Sie von der Linken machen es sich einmal wieder klaren Gesetzesrang zu verschaffen.
sehr einfach. Wer ohnehin keine Regierungsverantwor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tung übernehmen will, kann erst einmal das Blaue vom sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Himmel fordern. KEN)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Natürlich! Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag
So ist das!) „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstel-
len“ eingehen. Er enthält viele richtige Forderungen, ins-
Es gibt aber durchaus einige diskussionswürdige Punkte, besondere was die atomwaffenfreie Zone und die Ein-
auf die wir an dieser Stelle hinweisen müssen. Nach un- haltung völker- und menschenrechtlicher Standards
serem geltenden Recht sind Exporte von Kriegswaffen betrifft. Die Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit
in Drittländer außerhalb von NATO und EU generell un- Israel ist jedoch für uns keine tragbare Forderung, sodass
tersagt und dürfen nur ausnahmsweise genehmigt wer- Sie hier ohne unsere Zustimmung auskommen müssen.
den, wenn deutsche Sicherheitsinteressen es erfordern.
Diese Einschränkung des freien Handels hat bei uns so- Ich danke Ihnen.
gar Verfassungsrang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Joschka
Fischer!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Warum aber beispielsweise Waffenfabriken und Polizei- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
training in Saudi-Arabien in einem besonderen deut- erteile ich Kollegen Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-
(B) schen Sicherheitsinteresse liegen sollen, hat die Bundes- Fraktion das Wort. (D)
regierung bislang nicht begründen wollen und wohl auch
(Beifall bei der CDU/CSU)
nicht begründen können. Auf Nachfrage werden wir Par-
lamentarier immer wieder auf die allgemeinen Rechts-
grundlagen und auf das Prinzip der Einzelfallentschei- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
dung verwiesen. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In ihren Anträgen fordert die Linke die Bundesregierung
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das auf, den Export sämtlicher Rüstungsgüter in alle Länder
war doch Grundlage rot-grüner Politik!) des Nahen und Mittleren Ostens einzustellen bzw. keine
weiteren Exporte zu genehmigen.
Ich bin allerdings durchaus der Meinung, dass einige
der hier genannten Länder sich für den Export von (Zurufe von der LINKEN: Ja! – Richtig!)
Kriegswaffen deutlich disqualifiziert haben. Das ist doch Außerdem soll die Ausbildungskooperation zwischen
ein Punkt, über den wir als Parlamentarier einmal reden der Bundeswehr und der israelischen Armee beendet
sollten. Wollen wir nicht eine Rechtsgrundlage für den werden.
Erlass von einer Liste von Ländern, an die aufgrund der
Menschenrechtslage und der Repressionen im Inneren (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Jawohl!)
keine Kriegswaffen geliefert werden dürfen, schaffen? Dies soll wohl zu einer Verminderung der politischen
Für eine solche Rechtsverordnung ließe sich im Außen- Spannungen im Nahen Osten beitragen.
wirtschaftsgesetz leicht eine Grundlage schaffen. So,
wie es in der Außenwirtschaftsverordnung Listen von (Jan van Aken [DIE LINKE]: Richtig!)
Waffengattungen gibt, gäbe es dann auch eine Liste von
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist das Ziel aller
Ländern, bei denen das Ermessen der Genehmigungsbe- Fraktionen im Deutschen Bundestag,
hörde auf Null sinkt. Über die Rechtsverordnung ver-
bliebe die Entscheidung in der Sache selbst bei der (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube
Exekutive. Ein großer Vorteil wäre die Transparenz. Die ich nicht!)
Liste der Länder wäre Gegenstand öffentlicher Debatte
eine nachhaltige politische Entspannung im Nahen und
und parlamentarischer Kontrolle. Wegen der Sensibilität
Mittleren Osten und in Nordafrika herbeizuführen.
und friedenspolitischen Bedeutung des Themas sind
mehr Öffentlichkeit und weniger Geheimniskrämerei (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das würde
ohnehin dringend erforderlich. ich so nicht behaupten!)
13052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Wolfgang Götzer


(A) Die uns heute vorliegenden Anträge der Linken sind dung sind dabei auch die Konfliktprävention und natür- (C)
hierzu ganz sicher nicht geeignet. lich die Beachtung der Menschenrechte im Empfangs-
land. Ebendiesem Verfahren unterliegen auch Entschei-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war zu dungen über Rüstungsexporte in die Regionen, die Ge-
erwarten!) genstand der Anträge der Linkspartei sind.
Es handelt sich hierbei – das möchte ich unterstreichen –
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Und was
um scheinheilige Schaufensteranträge.
sagt das? Gar nichts!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Tatsache, dass das Bundesministerium für Wirt-
Ein Wort zu Ihnen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul. schaft und Technologie im Februar dieses Jahres in An-
Sie haben zwar sachlich geredet, aber natürlich Kritik an betracht der aktuellen Ereignisse in Ägypten das Bun-
der Praxis dieser Bundesregierung in den letzten Jahren desamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle angewiesen
geübt. hat, ihm sämtliche Anträge auf Erteilung von Ausfuhr-
genehmigungen von Rüstungsgütern nach Ägypten
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: An allen, vorzulegen, und dass die Bearbeitung dieser Anträge
ja!) ausgesetzt wurde, zeigt, dass das derzeitige System
Auch Sie müssen sich einige Zahlen vorhalten lassen; funktioniert.
zum Teil sind sie schon genannt worden. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Hält die
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja! Aber sie Aussetzung denn noch an? Für alle nordafrika-
sind falsch! Das habe ich doch erklärt!) nischen Staaten?)
– Die Zahlen sind nicht falsch. Ich darf noch einmal Paul Holtom vom SIPRI-Institut
zitieren, der dazu sagt – das ist ein wörtliches Zitat –:
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Doch!
Das habe ich belegt!) Es ist nun mal so, dass die Deutschen bei Ausfuh-
ren in Spannungsgebiete deutlich restriktiver sind
Unter Rot-Grün wurden die meisten Rüstungsexporte als ihre Konkurrenten.
genehmigt. Es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung,
nicht um den Zeitpunkt der Lieferung; das ist ein großer Hört! Hört!
Unterschied.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja! Und
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, eben!) die machen damit auch noch Werbung!)
(B) Bei Paul Holtom vom SIPRI-Institut stößt die Kritik Da Israel in mehreren Ihrer Anträge erwähnt wird, (D)
beispielsweise der Grünen-Chefin Claudia Roth am An- möchte ich aus gegebenem Anlass darauf hinweisen,
stieg der deutschen Rüstungsexporte auf Unverständnis. dass Deutschland aufgrund seiner Historie eine beson-
Jetzt kommt ein wörtliches Zitat: dere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit
des Staates Israel hat. Deutschland hat sich bislang im-
Die meisten Verträge, die diese Verdoppelung be- mer offen zu dieser Verantwortung bekannt und wird
wirkt haben, wurden ja während der rot-grünen Re- dies auch zukünftig tun. Diese deutsch-israelische Son-
gierungszeit abgeschlossen. derbeziehung umfasst auch eine enge Zusammenarbeit
Das sagt der Vertreter des SIPRI-Instituts. Deutschlands mit Israel im Verteidigungsbereich. Die
Anträge der Linken berücksichtigen in keiner Weise die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und besondere deutsche Beziehung zu Israel. Diesen Aspekt
der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: zu unterschlagen, ist unverantwortlich. Freilich ist das
Da schau her! Das sagt sogar das heilige einmal mehr bezeichnend für das Verhältnis der Linken
SIPRI-Institut!) zu Israel.
Es gibt eine weitere interessante Zahl, Frau Kollegin (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! –
Wieczorek-Zeul. Im Jahr 1998 – damals noch unter der Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist es! –
Regierung Kohl – wurden nach offiziellen Angaben Ex- Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist doch
portgenehmigungen für Rüstungsgüter im Umfang von ein ganz anderes Thema!)
1,338 Milliarden DM erteilt, im Jahr 2000 – unter Rot-
Grün – waren es 5,9 Milliarden DM, sprich: etwa Über dieses Thema haben wir vor nicht allzu langer
3 Milliarden Euro. Diese Zahlen müssen Sie sich vorhal- Zeit im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutiert. Wer
ten lassen. heute die Tageszeitung Die Welt liest, erfährt, dass Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Damit hat sie sich offensichtlich schon selber mit der Abgrenzung zum
nichts zu tun! An dem Tag war sie krank!) Antisemitismus in Ihren eigenen Reihen beschäftigen
Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zum mussten.
deutschen Rüstungsexport sagen. Alle Anträge auf Aus- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ducken sie
fuhrgenehmigungen werden im jeweiligen Einzelfall sich noch weg!)
nach sorgfältiger Abwägung vor allem der außen-, der
sicherheits- und der menschenrechtspolitischen Argu- Offensichtlich haben Sie dies nötig. Die Forderungen
mente entschieden. Wichtige Kriterien jeder Entschei- bezogen auf Israel gehen im Übrigen gänzlich an den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13053
Dr. Wolfgang Götzer
(A) politischen und militärischen Realitäten im Nahen Osten Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- (C)
vorbei. Deutschland muss und wird an seiner Verantwor- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
tung für die Sicherheit Israels festhalten und in diesem Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5039 mit dem Ti-
Zusammenhang auch die verteidigungspolitische Zu- tel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
sammenarbeit mit Israel fortsetzen. tungsgütern stoppen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel ist zu-
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-
dem darauf hinzuweisen, dass auch Deutschland von
ses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
dieser Kooperation profitiert. Die in Israel hergestellten
men.
Drohnen, die die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich
zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Af- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
ghanistan und somit zur Erhöhung der Sicherheit unserer stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf können und dür- Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
fen wir nicht verzichten. sache 17/5204 mit dem Titel „Genehmigung für Waffen-
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Deutsch- exporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen“.
land eine äußerst verantwortungsvolle und zurückhal- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
tende Rüstungspolitik betreibt. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Ent-
Das glauben Sie doch selbst nicht!) haltung der Linken angenommen.
Dies gilt ganz besonders für die Regionen, die in den Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zu-
Anträgen der Linkspartei genannt sind. satzpunkt 15 auf:
Ich bedanke mich.
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth
van Aken [DIE LINKE]: Das glaubt er wirk- Winkelmeier-Becker, weiterer Abgeordneter und
lich!) der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Marlene Rupprecht, Petra
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter
Ich schließe die Aussprache. und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordne- (D)
(B)
den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950 an die in der Ta- ter und der Fraktion der FDP
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Ab-
sind die Überweisungen so beschlossen. geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke Opfern von Unrecht und Misshandlungen in
mit dem Titel „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen der Heimerziehung wirksam helfen
Ostens einstellen – Militärische Zusammenarbeit been-
den – Atomwaffenfreie Zone befördern“. Der Ausschuss – Drucksache 17/6143 –
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Überweisungsvorschlag:
sache 17/4508, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Drucksache 17/2481 abzulehnen. Wer stimmt für diese Innenausschuss
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Rechtsausschuss
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
übrigen Hauses angenommen. ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
schusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
sache 17/5823. LINKE

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Unterstützung für Opfer der Heimerziehung –
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Angemessene Entschädigung für ehemalige
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5054 mit dem Titel Heimkinder umsetzen
„Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung ge-
gen die Ausweitung von Rüstungsexporten“. Wer stimmt – Drucksache 17/6093 –
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Überweisungsvorschlag:
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen Ausschuss für Arbeit und Soziales
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange- Ausschuss für Bildung, Forschung und
nommen. Technikfolgenabschätzung
13054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wenn man mit ehemaligen Heimkindern spricht, dann (C)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre erfährt man von körperlicher Gewalt, aber auch von star-
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ker psychischer Gewalt, von Schlägen, Beschimpfungen
und Beleidigungen, von dem immerwährenden Druck
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin und der immerwährenden Furcht, die den betroffenen
Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Kindern in einer der wichtigsten Entwicklungsphasen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tagtäglich zuteil wurde. Es gab Essensentzug, Schlafent-
zug, Arrest und Isolation. Es gab – schon allein das Wort
Dorothee Bär (CDU/CSU): ist unglaublicher Hohn – sogenannte Besinnungszim-
mer. Betroffene berichten, dass sie sich jeden Tag al-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
leine, verloren, ängstlich, hilflos und traurig gefühlt ha-
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
ben. Das Allerschlimmste in einer solchen Situation ist,
darf zu dieser heutigen Debatte auch einige ehemalige
wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, sich jeman-
Heimkinder sehr herzlich begrüßen, weil ich von einigen
dem anzuvertrauen.
aus Briefen weiß, dass sie heute extra nach Berlin gereist
sind, um diese Debatte hier vor Ort zu verfolgen, und Die älteren Heimkinder wurden im Heim und für das
viele haben mir geschrieben, dass sie sich unsere De- Heim zur Arbeit geschickt, aber auch für externe Be-
batte heute live zu Hause vor dem Fernseher ansehen triebe verpflichtet. Selbstverständlich gab es für ihre Ar-
wollen. beit keinen Beitrag für die Rentenkasse. Kein einziges
Wenn wir heute über diesen Antrag sprechen – ich bin Heimkind sah für sich die Möglichkeit, jemanden um
sehr froh, dass dieser Antrag in einem fraktionsübergrei- Hilfe zu bitten oder sich über die Institution beschweren
fenden Konsens geschrieben wurde –, dann wissen wir zu können. In der Bundesrepublik schied es faktisch aus,
bei der Verarbeitung der zum Teil erschütternden Ge- in der DDR gab es noch nicht einmal die theoretische
schehnisse in den Erziehungsheimen der alten Bundesre- Möglichkeit, Hilfe zu suchen.
publik und der DDR um die große Aufmerksamkeit der Die Folgen dieser Heimerziehung reichen bis in die
Betroffenen. Gegenwart. Viele ehemalige Heimkinder leiden noch
Ich weiß nicht, warum von der linken Seite höhni- immer unter Angstzuständen und posttraumatischen Be-
sches Gelächter kommt; denn es ist ein sehr ernstes lastungsstörungen. Das sind Erlebnisse, die immer wie-
Thema. der hochkommen und die man ein ganzes Leben lang
nicht mehr los wird.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Da ging es, glaube ich, um etwas Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
(B)
anderes!) hat sich zwei Jahre lang intensiv mit der Thematik be- (D)
schäftigt und festgestellt, dass mögliche Schadensersatz-
Ich kann mich nicht erinnern, im Bundestag in den oder Entschädigungstatbestände in vielen Fällen mittler-
letzten Jahren zu einem solch schwierigen Thema am weile verjährt sind. Deshalb wurde ein Runder Tisch ein-
Rednerpult gestanden zu haben. Für diejenigen, die das gerichtet. Knapp zwei Jahre hat der Runde Tisch bera-
Ganze persönlich miterleben mussten, ist das Erlebte ten. Als Rehabilitierung wurde ein ganzes Maßnahmen-
keine Geschichte, sondern es ist eine nachwirkende Re- bündel vorgeschlagen. Es ist uns wichtig, dieses Maß-
alität. Das Leid – wenn man nicht selbst davon betroffen nahmenbündel fraktionsübergreifend nicht einfach nur
war – kann man sich nicht einmal im Ansatz vorstellen. zur Kenntnis zu nehmen, sondern es konkret umsetzen
Selbst wenn man es täte, könnte man sicher nicht nach- zu können. Dazu gehören materielle Hilfen, das ist wich-
empfinden, was den Opfern in ihrer Kindheit passiert ist. tig, aber selbstverständlich auch immaterielle Hilfen, zu
Als ungefähr vor acht Jahren die ersten Berichte über denen meine Kolleginnen und Kollegen noch näher Stel-
das Unrecht und das Leid in Heimen der jungen Bundes- lung nehmen werden.
republik erschienen sind und drei Jahre später die ersten Auch die Kinder und Jugendlichen in den Heimen der
Petitionen beim Deutschen Bundestag eingegangen sind, DDR haben Leid und Unrecht erlitten. Deswegen haben
habe ich – wie sicherlich viele von uns – gehofft, dass es wir gesagt, wir halten es für notwendig, auch für die ehe-
sich einfach nur um schreckliche Einzelfälle handelt. maligen Heimkinder in der DDR Hilfsangebote vorzuse-
Aber wir haben längst erfahren, dass es in Wahrheit kei- hen und diese an den Empfehlungen des Runden Tisches
neswegs so war: Es waren keine Einzelfälle, sondern es Heimerziehung zu orientieren.
war für sehr viele Menschen bittere Realität.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
war in der Praxis sehr unterschiedlich. Es gab sicherlich bei Abgeordneten der LINKEN)
Heime mit einer sehr fürsorglichen Unterbringung, aber
es gab auch Heime, in denen Kindern und Jugendlichen Wir sind einen wichtigen Schritt weitergekommen,
systematisch Leid und Unrecht zugefügt wurden. Wir um für die ehemaligen Heimkinder wenigstens im An-
mussten erfahren, dass das Ganze in katholischen Hei- satz zu versuchen, Wiedergutmachung herzustellen.
men, in evangelischen Heimen und auch in staatlichen Selbstverständlich wird Leid – egal welche Summe be-
Einrichtungen geschehen ist und dass tagtäglich, stünd- zahlt wird – nicht ausreichend bzw. angemessen ausge-
lich, minütlich gegen bestehendes Recht und elementare glichen werden können. Aber es war wichtig, diese Ar-
Grundsätze unserer Verfassung verstoßen wurde. beit zu leisten, auch die Arbeit des Runden Tisches, der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13055
Dorothee Bär
(A) stattgefunden hat. Ich möchte mich noch einmal im Na- rechtsverletzungen, Zerstörung von Menschen, von Per- (C)
men aller bei denjenigen bedanken, die sich diese Jahre sönlichkeiten.
Zeit genommen haben, an diesem Runden Tisch mitzu-
wirken, die es versucht und vielleicht auch geschafft ha- Ich bin heute Mittag ins Internet gegangen, weil ich
ben, all das etwas menschlicher erscheinen zu lassen. mir noch einmal vergegenwärtigen wollte, warum ich
damals gekämpft habe. Ich habe mir das Buch des ge-
Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass nannten Spiegel-Journalisten, Schläge im Namen des
unser aufrichtiges Bedauern, unser aufrichtiges Mitge- Herrn, noch einmal angesehen. Ich habe mir noch ein-
fühl im Hinblick auf dieses düstere Kapitel unserer Ge- mal eines der Schicksale von Menschen, die ich zum
schichte nicht nur in Worten zum Ausdruck kommt. Als Teil kenne, vor Augen geführt. Immer wieder bin ich da-
Deutscher Bundestag wollen wir auch darangehen, kon- von betroffen. Ich habe dann noch einmal die Berichte
krete Maßnahmen zu ergreifen und eine finanzielle Re- der Menschen anlässlich des Treffens in Torgau aufgeru-
habilitierung der Opfer zu ermöglichen. fen und über Strafen und Belobigungen nachgelesen. Ich
Vielen Dank. habe gedacht: Egal worauf die Kinder und Jugendlichen
getrimmt werden sollten, sie sind in beiden Systemen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie misshandelt worden. In beiden Systemen sind sie kaputt-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gemacht worden.
GRÜNEN)
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Petra Pau: Ich habe damals mit dem Spiegel-Journalisten und
Die Kollegin Rupprecht hat für die SPD-Fraktion das auch mit Betroffenen Kontakt aufgenommen. Ein erster
Wort. Verein wurde gegründet. Ich war zusammen mit
(Beifall bei der SPD) Gabriele Lösekrug-Möller, Josef Winkler und Herrn
Schiewerling Mitglied im Petitionsausschuss. Daher hat-
ten wir Erfahrung mit Petitionsarbeit. Ich habe gesagt:
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Da wir nicht auf Grundlage eines Gesetzes helfen kön-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen – alles ist verjährt –, ist das Einzige, was wir tun
2003 wurde in Deutschland der Film mit dem deutschen können, das in Anspruch zu nehmen, was unser Grund-
Titel Die unbarmherzigen Schwestern gezeigt. Er han- gesetz in einem solchen Fall für Bürger bereithält, näm-
delte von der Heimerziehung in Irland. Viele von uns lich das Recht der Beschwerde und der Eingabe über den
werden ihn nicht gesehen haben, aber einige ehemalige Petitionsausschuss. So kamen die ersten beiden Petitio-
Heimkinder haben ihn gesehen. Das löste bei ihnen Fol- nen, die Herr Wensierski vom Spiegel und Herr (D)
(B) gendes aus: All das, was sie glaubten ganz tief in sich
Schiltsky vom Verein ehemaliger Heimkinder geschrie-
vergraben zu haben – sie meinten, so mit ihrer Vergan- ben haben, in den Petitionsausschuss.
genheit abgeschlossen zu haben –, brach wie bei einem
Vulkan aus ihnen heraus. Alle Verletzungen, alle Hilflo- Ich kann mich noch gut an die Sitzung erinnern, zu
sigkeit waren auf einmal wieder da. der wir die ersten Betroffenen eingeladen haben. Noch
nie habe ich Kollegen so erschüttert und mit Tränen in
Diese betroffenen Menschen haben sich an Journalis-
den Augen erlebt wie damals, als sie hörten, was mit
ten und auch an das Parlament gewandt, und zwar an
Kindern gemacht wurde – die heute noch nicht wissen,
eine Kollegin, die heute gar nicht mehr im Bundestag ist,
warum das mit ihnen gemacht wurde. Für manche war es
und haben gesagt: Wir wollen darüber reden. – Denn
das erste Mal, dass sie darüber gesprochen haben.
Menschen, die Traumatisierungen, die schreckliche
Dinge erleben, ob Misshandlung oder Missbrauch oder Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ein junges
seelische Zerstörung, müssen ja weiterleben. Was tun Mädchen ist schwanger und bekommt ein Kind. Sie ist
sie? Sie müssen all das ganz tief vergraben, damit sie nicht volljährig; damals lag das Volljährigkeitsalter noch
überleben können. Wenn aber das, was tief vergraben ist, bei 21 Jahren. Nach der Entbindung nimmt man ihr das
wieder hervorkommt, brauchen sie Hilfe. Dieser Schrei Kind weg. Dieses Kind weiß nicht, warum es wegge-
nach Hilfe ging an die Öffentlichkeit. nommen wird. Es kommt in ein Säuglingsheim. Von da
Meine Kollegin sprach mich damals an und sagte: Du gerät es in die Erziehungsmaschinerie und erfährt nie,
bist doch für Heimerziehung in der Bundesrepublik zu- warum es eigentlich dort ist. Schon im Säuglingsheim
ständig. Ich antwortete: Ja, ich bin Kinderbeauftragte erlebt es aber nur eines: Es ist niemand da, der ihm Hilfe
und bin auch für Jugendhilfe zuständig. Ich wusste da- gibt und es unterstützt. Es hat keine Tante, keinen Onkel,
mals nicht, dass es um erwachsene Menschen in meinem keine Oma oder Opa, zu der oder dem es flüchten kann,
Alter ging. sondern ist gnadenlos ausgeliefert. – Das muss man sich
einmal vor Augen führen.
Ich habe mich damit auseinandergesetzt. Im Spiegel
erschien immer wieder einmal ein Artikel des Journalis- Deshalb hat sich der Petitionsausschuss sehr ernsthaft
ten Peter Wensierski über Heimerziehung und über und intensiv zwei Jahre lang damit beschäftigt. Nach
Filme zu diesem Thema. Die erste Reaktion war eher diesen zwei Jahren wussten wir zwar vieles mehr. Wir
eine Ablehnung dessen, was man gelesen hat, weil man wussten aber nicht, wie wir es regeln können. Der Peti-
einfach nicht wahrhaben wollte, dass so etwas nach dem tionsausschuss hat nicht so viele Instrumente zur Verfü-
Krieg in der Bundesrepublik passiert ist: Menschen- gung. Wir haben dann ein neues Instrument erdacht,
13056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) nämlich einen Runden Tisch, mit allen, die beteiligt wa- Ich hoffe, dass wir das ganz zügig schaffen, sodass (C)
ren und sind, und Nachfolgenden. wir bereits am 1. Januar 2012 die große Stelle in Angriff
nehmen können und die ersten Auszahlungen vorneh-
Man kann wirklich viel über diesen Bundestag und men können.
über Politiker schimpfen. Wir haben es aber dort und
auch weiterhin geschafft – darüber freue ich mich, so Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-
schlimm der Anlass ist, aus dem heraus wir heute debat- gen, die all die Jahre ganz nah an den betroffenen Men-
tieren müssen –, gemeinsam etwas auf den Weg zu brin- schen gearbeitet haben, statt über Pressemitteilungen
gen, indem wir sagen: Wir stellen uns der Verantwor- und Ähnliches Öffentlichkeit zu suchen. Das ist ein
tung. Wir übernehmen diese Verantwortung. Wir werden Lichtblick für den Bundestag.
das Leid nicht ungeschehen machen. Wir wollen, dass Vielen herzlichen Dank.
Menschen Zugang zu dem haben, was ihnen passiert ist,
und dass sie darüber reden können. Wir wollen, dass Ak- (Beifall im ganzen Hause)
ten nicht mehr vernichtet werden, sondern dass das
Ganze auch für die Nachwelt dokumentiert wird. Viele Vizepräsidentin Petra Pau:
Betroffene leben heute in Not und Armut. Sie sollen jetzt
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Laurischk das
Unterstützung bekommen, angesetzt am heutigen Leid.
Wort.
Es ist gut, Menschen dafür zu gewinnen und sie zu
überzeugen. Wir hatten nämlich keine Rechtsgrundlage, Sibylle Laurischk (FDP):
sondern mussten mit gutem Willen alle an den Runden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
Tisch bitten. An diesem Runden Tisch mussten wir erst Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der
manche Hürden überwinden, die von außen kamen, um Heimerziehung wirksam helfen“ richten wir den Blick
dann gemeinsam sagen zu können: Wir wollen diesen auf die deutsche Geschichte. Im Frühjahr 2006 kamen
Menschen konkrete Hilfe geben, über Beratungsstellen, die ersten Petitionen im Petitionsausschuss an, die sich
also über das Angebot von Beratung, und finanziell. mit dem Thema Heimerziehung in den 50er- und 60er-
Jahren in der damaligen Bundesrepublik befassten.
Wir hatten von Anfang an die Kinder aus den Heimen
im Osten nicht mit einbezogen, und zwar deshalb, weil Ziel der Petenten war, das erzieherische Unrecht, wel-
der Petitionsausschuss kein Selbstbefassungsrecht hat. ches ihnen als Kindern und Jugendlichen in der Heim-
Wir durften sie nicht mit aufnehmen. Wir haben aber im- erziehung zugefügt wurde, öffentlich zu machen und
mer mit an sie gedacht. Mit Blick auf sie haben wir im- eine finanzielle Wiedergutmachung zu erlangen. Ich
(B) mer überlegt, was wir für sie tun können. Wir können möchte mich an dieser Stelle gerade auch bei diesen Pe- (D)
nicht zweierlei Recht schaffen. Wir können weder nur tenten für ihren Mut bedanken, dieses Thema zum
für Heimkinder im Westen noch nur für Heimkinder im Thema zu machen und nicht still zu leiden, sondern es
Osten oder nur für Kinder in der Psychiatrie oder nur für dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich in den
Kinder in Behinderteneinrichtungen Recht schaffen. Wir Bundestag.
brauchen ein Recht für alle Menschen, die in Deutsch-
land als Kinder und Jugendliche Menschenrechtsverlet- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
zungen erlitten haben. bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb bringen wir heute gemeinsam einen Antrag 2008 kam der Petitionsausschuss zu dem Ergebnis
ein. Ich danke Ihnen allen für Ihre Bereitschaft dazu und – der Kollege Jens Ackermann, der damals Mitglied die-
für die konstruktive Zusammenarbeit. ses Ausschusses war, hat mich gerade darauf hingewie-
Es wird noch manches zur Überwindung notwendig sen –, dass das Thema nicht mit einer Beschlussfassung
sein. Die Jugend- und Familienministerkonferenz – und abschließend behandelt werden kann, sondern dass die
damit der Bundesrat – hat bereits für sich entschieden, verjährten Ansprüche eine weitere Behandlung erfor-
für die Westeinrichtungen die Dinge auf den Weg zu dern.
bringen. Für die Heimkinder im Osten wurde jetzt aus Es kam seinerzeit durch einen gemeinsamen Be-
Sachsen ein Antrag eingebracht. schluss des Bundestages zur Gründung eines Runden Ti-
sches, der sich ausführlich mit der Heimerziehung be-
Ich hoffe, dass wir das Ganze schnell auf den Weg fasst hat. Das hat zwei Jahre gedauert. Anfang dieses
bringen können und eine gemeinsame Lösung hinbe- Jahres wurde uns als Ergebnis der Bericht des Runden
kommen. Es darf nicht passieren, dass sie im Parteige- Tisches überreicht. Wir haben uns als Mitglieder des Fa-
harke untergeht. Das wäre fatal, weil wir den betroffenen milienausschusses und des Rechtsausschusses mit dem
Menschen damit nicht helfen. Zwar können wir ihnen Bericht befasst, der für uns auch Leitfaden für die wei-
die Last nicht abnehmen; aber wir können ihnen zumin- tere Beratung und Beschlussfassung war.
dest sagen: Wir unterstützen euch, damit ihr aus dem
Elend herauskommt, in das ihr, was wir als Gesellschaft Es war für uns eine wichtige Erfahrung, fraktions-
zugelassen haben, hineingestoßen wurdet. Die Betroffe- übergreifend zu arbeiten. In den Beratungen waren im-
nen sollen wieder aufrecht gehen können, das erste Mal mer alle Fraktionen vertreten, und wir haben uns sehr
durchatmen und ihren Familien und Kindern darüber be- sachlich und im Bewusstsein der Problematik ausge-
richten können. tauscht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13057
Sibylle Laurischk
(A) Wir haben insbesondere erkannt, dass das erlittene keit der Aufarbeitung des erlittenen Unrechts bewusst (C)
Unrecht Anerkennung finden muss. Wir stellen uns die- war.
sem Unrecht und der Problematik der Menschen, die es
erlitten haben, und wir bedauern es ausdrücklich. Die Auseinandersetzung mit der Situation der Heim-
kinder dient allerdings nicht nur der Vergangenheitsbe-
Wir sind auch der Meinung, dass eine finanzielle Ent- wältigung. Ich halte es auch für wichtig, dass eine gesell-
schädigung notwendig ist. Wir haben Vorschläge ge- schaftliche Aufarbeitung mit Blick in die Zukunft
macht, wie eine solche Entschädigung auszusehen hat. stattfindet. Die Eingriffe in die Freiheitsrechte der Kin-
Die verschiedenen Träger sind daran zu beteiligen. der und Jugendlichen und die Eingriffe in ihre körperli-
che Unversehrtheit müssen uns zu der Erkenntnis füh-
Wir sind im Übrigen über das Ergebnis des Runden ren, dass nur ein funktionierender Rechtsstaat vor einer
Tisches hinausgehend zu dem Ergebnis gekommen, dass Wiederholung schützt. Nur ein funktionierender Rechts-
das Schicksal der Heimkinder im Osten aufgegriffen staat garantiert, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die
werden muss. Auch das Leid von Kindern und Jugendli- Opfer der damaligen Heimerziehung haben ein Anrecht
chen in Heimen in der DDR ist ernst zu nehmen. Es darf darauf, dass sich Politik und Gesellschaft mit den Ge-
keinesfalls bagatellisiert oder vergessen werden. schehnissen auseinandersetzen. Die Frage der Wieder-
gutmachung und der Hilfestellung muss für die Betroffe-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
nen abschließend und zufriedenstellend geklärt werden.
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Der vorgelegte Antrag ist ein eindeutiger Auftrag an die
SES 90/DIE GRÜNEN)
Bundesregierung, eine umfassende Lösung bis zum Jah-
Dazu bedarf es aber einer weiteren Aufarbeitung und resende vorzulegen.
Aufklärung der Vorgänge in der DDR. Das wird eine (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
Aufgabe sein, der wir uns im Weiteren zu stellen haben. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Die Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren, bis in des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])
die 70er-Jahre hinein, wurden in Deutschland drangsa-
liert, gedemütigt, oftmals verprügelt und vernachlässigt. Vizepräsidentin Petra Pau:
Die Opfer haben schweres Leid und Unrecht erlebt. Sie Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich
waren körperlicher, seelischer und auch sexueller Ge- das Wort.
walt hilflos ausgesetzt. Dabei waren die Kinder und auch
die betroffenen Familien dem unmenschlichen System (Beifall bei der LINKEN)
zum Teil schutzlos ausgeliefert.
(B) Heidrun Dittrich (DIE LINKE): (D)
Es gab weder eine Aufsichts- noch eine Eingriffs-
ebene. Verantwortlich für das erlebte Leid waren sowohl Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
staatliche Organe als auch Träger der Einrichtungen, und Herren! Sehr geehrte ehemalige Heimkinder! Die
Heimleitungen und -personal, auch Eltern, Vormünder ehemaligen Heimkinder, die Gewalt und Misshandlun-
und Pfleger. gen in der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutsch-
land erlebt haben, wurden so stark diskriminiert, dass sie
Wir sind auch zu dem Ergebnis gekommen, dass es oft 30 Jahre benötigten, um über ihr Schicksal zu spre-
nicht nur Halbwüchsige und Jugendliche waren, die be- chen. In der Bundesrepublik waren nach der Gründung
troffen waren, sondern teilweise auch – das wurde schon 1949 bis 1975 in 3 000 Heimen fast 800 000 Kinder und
angeschnitten – ganz kleine Kinder und Säuglinge. Ich Jugendliche betroffen.
erinnere mich gut an die Aussage einer betroffenen Frau,
Aber die Opfer sind an die Öffentlichkeit gegangen,
die nur relativ kurz in einem solchen Säuglingsheim war,
und zwar nicht mit Hilferufen, sondern mit Forderungen.
aber zu mir sagte: Ich bin damals in diesem Heim see-
Sie haben Demonstrationen organisiert und Petitionen
lisch gestorben.
im Bundestag eingereicht. Sie haben es geschafft, dass
Viele ehemalige Heimkinder haben noch heute mit heute über ihre Forderung nach einer monatlichen Ent-
den Folgen der physischen und psychischen Misshand- schädigung im Bundestag gesprochen wird. Es ist er-
lungen zu kämpfen. Die Betroffenen leiden unter der le- staunlich, dass alle anderen Fraktionen in ihrem gemein-
benslangen Traumatisierung mit erheblichen Konse- samen Antrag nichts zu den Möglichkeiten der Wieder-
quenzen für sich selbst und auch für ihre Umgebung. gutmachung und dem finanziellen Teil gesagt haben. Für
Alle Beteiligten der Arbeitsgruppe im Bundestag waren die entgangenen Lebenschancen und die Verletzungen
sich deshalb einig, dass die Auseinandersetzung mit die- der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrt-
sem Thema nicht durch die Übergabe des Abschlussbe- heit sind Entschädigungsforderungen der ehemaligen
richts erledigt sein kann und die Arbeit des Runden Ti- Heimkinder in Höhe von einer monatlichen Zahlung von
sches nicht folgenlos bleiben darf. Die FDP-Fraktion 300 Euro oder – hochgerechnet auf 15 Jahre – von
hält es insbesondere für wichtig, im Anschluss an die Ei- 54 000 Euro wohl das Mindeste, was als Versuch der
nigung des Runden Tisches auch eine Einigung im Bun- Wiedergutmachung gezahlt werden sollte.
destag zu erzielen. Wir begrüßen es daher, dass alle (Beifall bei der LINKEN)
Fraktionen bis zum Schluss zusammengearbeitet haben.
Die gute Zusammenarbeit über alle Fraktionsgrenzen Daher haben wir als Linke uns dem Antrag der ande-
hinweg zeigt, dass sich jeder Einzelne der Notwendig- ren Fraktionen nicht angeschlossen;
13058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Heidrun Dittrich
(A) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist ein biss- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
chen Geschichtsklitterung! – Josef Philip Kollegin Dittrich, noch einmal: Gestatten Sie eine
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel- Frage der Kollegin Rupprecht?
leicht hat das damit zu tun, dass vom Un-
rechtsstaat DDR die Rede war!) Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
wir haben vielmehr einen eigenen Antrag eingebracht, Ja.
der einen Anspruch der Opfer auf Entschädigung nach
einem Gesetz für die Opfer ehemaliger Heimerziehung Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
vorsieht. Sie, meine Damen und Herren der anderen Frak- Ich möchte keine Frage stellen, Frau Präsidentin.
tionen, entscheiden nach Kassenlage. Sie erklären, dass
die Möglichkeit einer Klage nicht besteht, weil die An- Vizepräsidentin Petra Pau:
sprüche verjährt sind. Ein Opferverband hat 1 000 Betrof- Natürlich können Sie auch eine Feststellung treffen.
fene gefragt, was sie möchten. Von diesen 1 000 haben
nur 9 Prozent gesagt: Wir nehmen die Empfehlung des
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Runden Tisches an. 88 Prozent haben gesagt: Dieser
Spatz in der Hand ist uns zu klein. Wenn Sie keine Frage stellen, dann können wir später
darüber sprechen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist ja extrem repräsentativ! Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Eine Internetumfrage – toll!) Die Kollegin Dittrich behauptet, dass die ehemaligen
Jetzt komme ich zu den Empfehlungen des Runden Heimkinder am Runden Tisch – sechs waren es – unter
Tisches. Mit 18 Vertretern der evangelischen Kirche, der Druck gesetzt und erpresst wurden. Ich war für den Peti-
katholischen Kirche, der staatlichen Heimträger, der tionsausschuss Mitglied des Runden Tisches. Ich möchte
Vertreter der Landesjugendämter, der Bundesländer und hier feststellen, dass ich es nie zugelassen hätte, dass ir-
mit nur drei betroffenen Heimkindern haben Sie getagt. gendjemand erpresst oder unter Druck gesetzt wird.
Die Zustimmung zu Ihrem Vorschlag einer freiwilligen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Fondsregelung anstelle eines gesetzlichen Anspruchs ha- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ben Sie von den Heimkindern mit dem Ausspruch er-
presst: Sonst gibt es gar nichts. Meine Aufgabe am Runden Tisch war, darauf zu ach-
ten, dass die Vorgaben des Petitionsausschusses umge-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE setzt werden. Egal wer was im Nachhinein behauptet: Es
(B) GRÜNEN]: So ein Unfug! Sie waren doch gar stimmt so nicht. (D)
nicht dabei!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Das allein ist schon ein Skandal. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sind ein Skandal!)
NEN]: Das weiß Frau Dittrich auch! Das ha-
Sie sind erneut würdelos mit den betroffenen Opfern ben wir ihr ja schon mal erzählt!)
umgegangen.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Dann muss ich mich wohl auf das Brieflein vom Lan-
SES 90/DIE GRÜNEN) dessprecher der ehemaligen Heimkinder Niedersachsens
beziehen, in dem auch Sie angesprochen werden, Frau
– Ich habe die entsprechenden Briefe dabei. Ich kann sie Marlene Rupprecht. Er beschreibt eindeutig, dass die
ja vorlesen. Zustimmung erpresst wurde. Diese Aussage liegt hier
schriftlich vor. Das Ganze ging auch an die SPD und an
Von den sechs abstimmungsberechtigten Betroffenen,
Sie.
die an der letzten Sitzung teilgenommen haben, zogen
fünf ihre Zustimmung zurück. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann steht wohl Aussage gegen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Aussage! Es waren ja noch ein paar mehr beim
GRÜNEN]: Sie stehen unter Druck!) Runden Tisch dabei!)
Das heißt, Sie beschließen an den Opfern vorbei. Es gibt auch noch andere, die geschrieben haben.
(Burkhard Lischka [SPD]: Ein bisschen rum-
Vizepräsidentin Petra Pau:
googeln, und dann geht’s los!)
Kollegin Dittrich, gestatten Sie eine Frage der Kolle-
gin Rupprecht? Von den sechs, die berechtigt waren, an der Abschluss-
abstimmung teilzunehmen, haben bereits fünf ihre Zu-
Heidrun Dittrich (DIE LINKE): stimmung wieder zurückgezogen. Das bedeutet: Sie be-
schließen an den Opfern vorbei.
Sie, meine Damen und Herren, wollen hiermit Un-
recht relativieren. Sie schreiben auf Seite 2 Ihres An- (Dagmar Ziegler [SPD]: Was wollen Sie denn
trags, dass es auch fürsorgliche Heime gab. eigentlich?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13059
Heidrun Dittrich
(A) In einem echten Täter-Opfer-Ausgleich wird zunächst (Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sind nur (C)
die Schuld anerkannt. Man geht auf die Opfer zu und peinlich!)
bietet eine Wiedergutmachung, meist finanzieller Art,
– Sie lügen sogar hier im Parlament.
an.
(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Unerträglich!)
LINKE] – Weitere Zurufe: Peinlich!)
Diese Opfer mussten sich aber durchkämpfen.
Sie schreiben, dass es fürsorgliche Heime gab. Heime Vizepräsidentin Petra Pau:
mit Schutz, Geborgenheit und Schulausbildung ohne Ar- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
beitszwang? Nennen Sie diese Heime jetzt. Wo sind die legin Dörner das Wort.
Generationen von Heimkindern, die diese Heime erlebt
haben? Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Keine Ahnung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
haben Sie! – Sibylle Laurischk [FDP]: Völlig Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Dittrich, ich finde es
verfehlt!) sehr traurig und auch sehr unangemessen, wie durch Ih-
ren Redebeitrag die sehr gute und immens wichtige Ar-
Welche Bedingungen gab es dort, die es woanders nicht beit des Runden Tisches Heimkinder hier diffamiert
gab? wird.
Sie selbst zählen auf den Seiten 3 und 4 Ihres Antrags (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
alle Verantwortlichen für die Heimerziehung auf: die bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Vormünder, die Pfleger, die Jugendämter, die Landesju-
gendämter, die Heimträger, die Gerichte und weitere. Das hätte bei solch einem interfraktionellen Antrag und
Wer fehlte eigentlich? Die gesamte staatliche Gewalt einer so großen Einigkeit hier im Parlament wirklich
war beteiligt. Kinder und Jugendliche waren – dem stim- nicht sein dürfen.
men auch Sie zu – rechtlich ausgeliefert; sie befanden Ich möchte mit einigen Sätzen eines ehemaligen
sich in einer Situation der Ohnmacht. Sie behaupten, den Heimkindes beginnen, die so in dem Materialband des
Opfern werde geglaubt; aber die Entschädigung weisen Runden Tisches Heimkinder dokumentiert sind:
Sie zurück.
Wärme, Zuneigung und Geborgenheit gab es nicht.
Dafür gab es aber Demütigungen, Schläge und Er-
Vizepräsidentin Petra Pau: niedrigungen im Überfluss. Als ich einmal nachts
(B) Frau Kollegin Dittrich, kommen Sie bitte zum ins Bett nässte, musste ich am nächsten Morgen vor (D)
Schluss und beachten Sie das Signal. der versammelten Gruppe den gestreiften ‚Bettnäs-
ser-Schlafanzug‘ anziehen. … Alle Kinder sollten
Heidrun Dittrich (DIE LINKE): einen ihrer Schuhe/Hausschuhe ausziehen, mir da-
Dennoch weinen Sie hier fast Krokodilstränen und mit auf den Po schlagen und mich dabei laut als
wollen nicht entschädigen. Wir fordern dagegen eine ge- Bettnässer beschimpfen.
setzliche Entschädigung. Der von Ihnen vorgeschlagene
Fonds mit 120 Millionen Euro bedeutet, dass für Rehabi- Diese Sätze sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt des-
litationen, die eigentlich Krankenkassenleistungen sind, sen, was der Runde Tisch Heimkinder in den letzten Jah-
der Krankenkasse 100 Millionen Euro zur Verfügung ren aufgearbeitet und dokumentiert hat. Aber ich denke,
stehen und dass nur die restlichen 20 Millionen Euro di- er gibt uns einen kleinen Einblick in die damalige Le-
rekt ausgezahlt würden. Für nur 30 000 Antragsteller be- bensrealität in vielen Heimen und lässt uns vielleicht
deutete das eine Einmalzahlung von 666 Euro. auch die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen, die
dem ausgesetzt waren, ein bisschen verstehen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was heißt bitte schön „nur“? Wie Klar ist: Nichts, was der Deutsche Bundestag be-
viele Milliarden hätten Sie denn gern?) schließt, kann dem Unrecht und dem Leid, das viele Kin-
der in Heimen erfahren haben, irgendwie gerecht wer-
den. Viele Leben wurden in ganz jungen Jahren auf sehr
Vizepräsidentin Petra Pau: schwierige Gleise gesetzt, oft – wir wissen das aus den
Kollegin Dittrich, ich bitte Sie jetzt wirklich, zum Gesprächen mit den Heimkindern – mit schwerwiegen-
Schluss zu kommen. den Folgen bis heute. Das kann nicht wiedergutgemacht
werden.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Was aber geschehen kann, ist, die heutige Lebens-
Mit der Umsetzung Ihres Vorschlags kämen die Kir-
situation der ehemaligen Heimkinder zu verbessern. Das
chen, der Staat und die Betriebe, die wir ebenfalls heran-
ist es, was wir tun wollen.
ziehen wollen, sehr billig davon. Schaffen Sie als Ge-
setzgeber Recht! Schaffen Sie ein Entschädigungsge- Hier kann die Arbeit des Runden Tisches Heimkinder
setz! aus meiner Sicht gar nicht oft genug hervorgehoben wer-
den, der hierzu sehr konkrete Empfehlungen unterbreitet
(Dagmar Ziegler [SPD]: Peinlich, peinlich!)
hat. Ich möchte an dieser Stelle der Vorsitzenden des
– Peinlich bei Ihnen. Rundes Tisches, Frau Dr. Antje Vollmer, und gerade den
13060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Katja Dörner
(A) involvierten Heimkindern im Namen aller Fraktionen, Ziel in unsere zukünftige Arbeit im Bereich der Kinder- (C)
die den interfraktionellen Antrag eingebracht haben, und Jugendhilfe mitaufzunehmen.
ausdrücklich danken.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so-
Als Deutscher Bundestag wollen wir die Empfehlun- wie bei Abgeordneten der LINKEN)
gen des Runden Tisches Heimkinder sehr schnell umset-
zen. Schon zum kommenden Jahr soll ein Fonds bzw. Vizepräsidentin Petra Pau:
eine Stiftung arbeitsfähig sein, die, konkret mit
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
120 Millionen Euro ausgestattet, Rentenansprüche aus-
Winkelmeier-Becker.
gleicht und Entschädigungen an die ehemaligen west-
deutschen Heimkinder zahlt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal auf
die Anlauf- und Beratungsstellen hinzuweisen, die nun
von den Ländern eingerichtet werden; denn die mate- Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
rielle Frage ist ja immer nur eine Frage. Sie ist zwar eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
sehr wichtige Frage; aber mit ihrer Lotsenfunktion neh- und Kollegen! Wir haben heute mehrfach auch Einzel-
men diese Anlaufstellen eine sehr wichtige Aufgabe heiten darüber gehört, was Heimkindern widerfahren ist.
wahr. Diese Geschichten machen uns immer sehr betroffen.
Viele Menschen haben darunter viele Jahrzehnte gelit-
Mit der Würdigung der Leistungen des Runden Ti- ten, nicht nur in den Zeiten, die sie in Heimen verbracht
sches wird aber auch deutlich, wie viele Schicksale tat- haben, sondern das hat vielfach ihr ganzes Leben ge-
sächlich noch aufzuarbeiten sind. Für die Aufarbeitung prägt. Sie konnten lange Zeit nicht darüber sprechen,
des Unrechts gegenüber den Heimkindern in der DDR weil es zu schwer war, weil es geradezu unaussprechlich
ist ein Anfang gemacht. Uns allen ist auch klar, dass es war, aber auch, weil es keiner hören und glauben wollte.
keine Opfer erster und zweiter Klasse geben darf. Diese Lebensgeschichten müssen jetzt erzählt werden,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sie müssen jetzt gehört werden. Dazu haben der Peti-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) tionsausschuss und dann der „Runde Tisch Heimerzie-
hung“ das Forum gegeben. Es wurde daraufhin in der öf-
Nicht unterschieden werden darf zwischen Ost und fentlichen Diskussion aufgegriffen. Jetzt ist es an uns,
West, aber auch nicht entlang der Frage, in welcher Ein- am Parlament, daraus die Konsequenzen zu ziehen. (D)
(B)
richtung den Kindern und Jugendlichen Unrecht angetan
wurde, ob in einem Säuglingsheim, ob im Fürsorgeheim Schon die bisherige Diskussion ist nicht ohne Wir-
oder in Einrichtungen der Kinderpsychiatrie oder der kung geblieben. Sie verändert auch unseren Blick retro-
Behindertenhilfe. Ich bin sehr froh, dass wir in unserem spektiv auf die Zeit, in der das alles geschehen ist. Wir
Antrag auch einen Prüfauftrag verankern konnten. müssen daraus aber auch Lehren ziehen für das, was
heute in der Jugendhilfe geschehen muss. Ich finde es
Ich möchte abschließend einen kurzen Blick in die toll, dass die Heimkinder nicht nur ihre eigene Situation
Zukunft werfen. Viel Unrecht war in den Heimen ja auch in den Mittelpunkt stellen, sondern auch dafür eintreten,
deshalb möglich, weil es Strukturen gab, die kein Kor- dass sich das, was sie erfahren haben, oder Ähnliches nie
rektiv hatten, und weil Kinder und Jugendliche selber wieder ereignet.
nicht beteiligt waren und sich nicht selber einbringen
konnten. Hier hat sich in den letzten Jahren zum Glück (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
sehr viel getan. Aber ich würde mir wünschen, dass wir und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
gemeinsam auch in die Zukunft blicken und schauen, bei Abgeordneten der LINKEN)
wie man den Rechten von Kindern und Jugendlichen
Ich weiß natürlich, dass Heimerziehung heute ganz
auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbst stärkeres Ge-
anders läuft als damals, dass das nicht vergleichbar ist.
wicht verleihen kann. Beispielsweise den Bereich der
Es kommt aber in Einzelfällen immer noch vor, dass
Ombudschaft, der auch in den Empfehlungen des Run-
Kinder wehrlos bzw. ausgeliefert sind. Wir müssen alle
den Tisches vorkommt, halte ich für sehr zukunftswei-
dafür sensibilisieren, dass sie schutzbedürftig sind und
send.
nicht verletzt werden dürfen.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]:
Der jetzt vorliegende fraktionsübergreifende Antrag
Rechtshilfe!)
knüpft an die Ergebnisse des „Runden Tisches Heim-
In den Gesprächen mit den Heimkindern und auch im erziehung“ an. Als ich zum ersten Mal gelesen habe, was
Bericht des Runden Tisches wird ja deutlich, dass es den der Bericht empfiehlt, habe ich mir gedacht, dass das
ehemaligen Heimkindern gerade auch darum geht, dass wirklich nicht üppig ist. Der Umfang der finanziellen
es den Kindern und Jugendlichen, die heute in den Ein- Leistungen in Höhe von 120 Millionen Euro ist sehr
richtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind, gut geht. überschaubar. Auch die Tatbestände, bei deren Vorliegen
Das hat mich immer sehr berührt, wenn dieser Aspekt in Hilfe geleistet werden soll, sind nicht sehr weit gefasst.
den Gesprächen genannt wurde. Ich finde, dass wir uns Im Wesentlichen beschränkt man sich auf den Ersatz für
bemühen sollten, dieses Signal aufzugreifen und dieses verpasste Rentenanwartschaften – für den entsprechen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13061
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) den Rentenersatzfonds sind 20 Millionen Euro vorgese- den Müttern die Erziehungsfähigkeit generell absprach (C)
hen – sowie auf die Bewältigung gesundheitlicher oder und die auch ein anderes Verhältnis zu Strafen hatte. Auf
traumatischer Folgen, die nicht über die Krankenversi- beiden Seiten werden wir Strafmethoden finden, die
cherung abgedeckt sind, und auf Hilfen bei der Aufklä- auch über das damalige Maß hinausgingen.
rung, was ja auch sehr wichtig ist. Dafür sollen 100 Mil-
lionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Es war aber eine Spezialität der DDR, den Hilfebe-
darf selbst herbeizuführen. Zum Beispiel wenn die Ent-
Ehe wir das bewerten, sollten wir die Ausgangslage scheidung einer Familie, das Land zu verlassen und an-
berücksichtigen. Da gibt es zum einen schlichtweg den derswo zu leben, oder wenn allein Kritik am politischen
Befund, dass hier Sachverhalte zur Bewertung anstehen, System so kriminalisiert wurde, dass die Eltern in die
die nur sehr schwer aufgeklärt werden können. Dann Haft gesteckt wurden und die Kinder ins Heim mussten,
muss man sicherlich auch sehen, dass Heimerziehung dann ist das eine Besonderheit dieses Staates.
nicht per se und grundsätzlich immer nur als schädlich
angesehen werden darf. Wir haben ja zum Glück auch Es ist eine Spezialität der DDR, dass der Staat mit-
Aussagen von Heimkindern gehört, in denen sie von lie- hilfe der Heime sein Menschen- und Gesellschaftsbild
bevoller Erziehung und Zuwendung berichtet haben oder durchsetzen und den Familien aufoktroyieren wollte.
Problemlagen aufgezeigt haben, bei denen die Heim- Deshalb ist das Unrecht an dieser Stelle nicht vergleich-
erziehung die bessere Alternative darstellte. Vor allem bar.
ist es aber so, dass alle Schadensersatzansprüche verjährt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sind. Man kann die Haftung zulasten der Täter oder Trä- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
ger auch nicht wiederbeleben. Deshalb gibt es an dieser SES 90/DIE GRÜNEN)
Stelle keine zwingende Grundlage und auch keinen An-
lass für den Bund, hier komplett für ausgleichende Ge- Der Aspekt der politischen Verfolgung ist im Wesent-
rechtigkeit zu sorgen und umfänglichen Schadensersatz lichen bereits durch die Rehabilitationsgesetze aufge-
zu leisten. griffen. In dem vorliegenden Antrag geht es mehr um
den Aspekt, dass pädagogische Gründe dazu geführt ha-
Vor diesem Hintergrund ist das, was nun herausge- ben, Kinder in Heime zu stecken. Das von den Opfern
kommen ist, kein schlechtes Ergebnis. Man muss auch empfundene Leid ist gleich. Deshalb ist das der entschei-
sehen, dass Länder und Kirchen, in deren Verantwor- dende Blickwinkel des Staates und unser Grund dafür,
tungsbereich die Missstände bestanden haben, gemein- bei dem Engagement für die Opfer auf beiden Seiten den
sam mit dem Bund diese Lösung gefunden haben und gleichen Maßstab anzulegen. Deshalb soll sich der Bund
der Bund in diesem Rahmen auch seinen Beitrag leistet. mit einem Drittel an den Kosten für die entsprechenden
(B) Ich möchte mich auch dafür einsetzen, dass die Aus- Maßnahmen zugunsten der Opfer in der DDR beteiligen. (D)
gaben des Bundes dafür nicht komplett im Einzelplan 17 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
untergebracht werden; denn das würde bedeuten, dass neten der SPD, der FDP und dem BÜND-
die Aufarbeitung des damaligen Leides auf Kosten der NIS 90/DIE GRÜNEN)
Kinder und Jugendlichen von heute erfolgt. Das wäre so
ziemlich das Letzte, was im Sinne der Heimkinder von Dass das nicht auf Kosten der Heimkinder im Westen
damals wäre. geschehen darf, ist klar. Neben dem Drittel, das der
Bund zahlen wird, werden auch die neuen Länder in die
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Pflicht genommen werden müssen. Des Weiteren ist
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie über den Vorschlag nachzudenken, ob hier ein Rückgriff
bei Abgeordneten der LINKEN) auf noch vorhandenes Vermögen der Parteien und Mas-
Der Antrag bezieht auch die Heimkinder in der DDR senorganisationen der DDR möglich ist.
mit ein, obwohl diese nicht Gegenstand des Runden Ti- Herzlichen Dank.
sches waren. Aber die Diskussion am Runden Tisch hat
auch das Bewusstsein für das Unrecht, das den Heimkin- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
dern in der DDR widerfahren ist, geschärft. Auch sie ha- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
ben Petitionen eingereicht. Ein bisschen schade ist, dass geordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN:
wir die Aufarbeitung nicht parallel betrieben haben. Es Der CDU!)
gibt aber bereits Vorarbeiten, zum Beispiel der Initiative
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Ich habe gehört, Vizepräsidentin Petra Pau:
dass sich unter den Besuchergruppen eine Abordnung Ich schließe die Aussprache.
der Initiative des Jugendwerkhofs Torgau befindet.
Wenn das stimmt, dann seien Sie herzlich gegrüßt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6143 und 17/6093 an die in der
(Beifall) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Bei der weiteren Aufarbeitung werden wir sowohl Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den ist die Überweisung so beschlossen.
Situationen im Osten und im Westen feststellen. Eine Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:
Gemeinsamkeit ist eine aus heutiger Sicht teilweise mo-
ralisch verstaubte und autoritäre Pädagogik, die allzu a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
schnell von Verwahrlosung ausging, die alleinerziehen- Montag, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren
13062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 1999 hat der Europarat gefordert, dass Abgeordneten- (C)
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines bestechung für strafbar erklärt wird.
Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung
und Bestechlichkeit von Abgeordneten (Marco Buschmann [FDP]: Im ersten Jahr von
Rot-Grün!)
– Drucksache 17/5933 –
Und die Bundesregierung hat dieses Abkommen unter-
Überweisungsvorschlag: schrieben.
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und (Marco Buschmann [FDP]: Da war Herr
Geschäftsordnung Fischer Vizekanzler!)
Innenausschuss
Bis zum heutigen Tag haben 43 Staaten Europas dieses
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Abkommen ratifiziert. Wir gehören zu denjenigen, die
Montag, Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bre-
die rote Laterne tragen und die es bisher immer noch
men), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
nicht geschafft haben, zu ratifizieren.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der
Vereinten Nationen gegen Korruption Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischen-
– Drucksache 17/5932 – frage des Kollegen Geis?
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Geschäftsordnung Aber gerne, deswegen ist er ja gekommen.
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Norbert Geis (CDU/CSU):
Herr Montag, vielleicht sollten Sie eher sagen: eine
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rot-grüne Laterne. Denn ich frage Sie, ob Sie die Gründe
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre nennen können, weshalb die Koalition von Rot und
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Grün, warum Ihre damalige Regierung dieses Gesetz,
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege nachdem das 1998 von Schwarz und Gelb so eingeführt
Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. worden ist, nicht geändert oder ergänzt hat.

(B) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D)


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann Ihnen die Antwort darauf sehr gerne geben,
Wenn ein international tätiges Hochbauunternehmen betreffend die Zeit ab dem Jahr 2002, seit ich diesem
zwischen Deutschland und Dänemark ein Bauwerk er- Hohen Hause angehöre. Wir haben ab Oktober 2002 den
richten will und der Vorstand dieses Unternehmens vor Versuch unternommen, ein solches Gesetz zustande zu
diesem Hintergrund beschließt, dass sich ein Mitglied bringen.
des Vorstands mit dänischen Abgeordneten trifft und ein (Marco Buschmann [FDP]: Keine Mehrheit in
anderes Mitglied mit deutschen, und dann beide Vor- den eigenen Reihen!)
stände den Abgeordneten bei dieser Zusammenkunft er-
klären: „Wenn ihr euch für unser Bauanliegen zwischen Nachdem das Bundesjustizministerium einen Vorschlag
Deutschland und Dänemark starkmacht und euch dafür gemacht hat, der von allen Fraktionen abgelehnt worden
in den Parlamenten einsetzt, dann werdet ihr von uns ist, haben wir uns darauf geeinigt, dass ein entsprechen-
100 000 Euro bekommen, oder die Ausbildung eurer der Gesetzentwurf aus der Mitte des Deutschen Bundes-
Kinder im Ausland wird finanziert“, und die dänischen tages entwickelt wird. Daran mitzuarbeiten, haben sich
Abgeordneten darauf eingehen, dann ist das in Deutsch- Schwarz und Gelb verweigert.
land seit September 1998 eine Straftat. Aber wenn die (Marco Buschmann [FDP]: Ihr hättet es selbst
deutschen Abgeordneten auf dasselbe Angebot einge- machen können!)
hen, dann ist das in Deutschland bis zum heutigen Tag
keine Straftat. Und als wir – Rot-Grün – so gut wie fertig damit waren,
ist es leider zum Ende der Legislaturperiode gekommen.
Diesen gesetzgeberischen Irrsinn haben wir der letz-
ten schwarz-gelben Koalition zu verdanken, die im Sep- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)
tember 1998 genau diese Rechtslage herbeigeführt hat.
– Sie können gerne lachen, liebe Kolleginnen und Kolle-
Seit dieser Zeit geraten wir international immer mehr in
gen, aber ich weiß nicht, was daran eigentlich so lustig
eine völlig vertrackte Situation, weil Sie – Schwarz und
ist. Seit 2005 sind Sie am Ruder, und Sie kämpfen nicht
Gelb – sich weigern, diesen Rechtszustand zu beenden.
einmal um eine Lösung.
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Was ha- (Marco Buschmann [FDP]: Wenn es so
ben Sie denn gemacht? – Marco Buschmann einfach wäre!)
[FDP]: Wenn man mit dem Finger auf andere
zeigt, zeigen drei Finger auf einen zurück!) Sie bemühen sich ja überhaupt nicht darum.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13063
Jerzy Montag
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ansgar Heveling (CDU/CSU): (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
KEN)
Das Thema ist ganz offenkundig entschieden kom-
Sie diskutieren mit uns nicht über diese Frage, son- plizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
dern Sie erklären uns – wie im April dieses Jahres in ei- (Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND-
ner Bundestagsdebatte durch den Kollegen van Essen NIS 90/DIE GRÜNEN])
geschehen –: Für alle Bürger dieses Landes sei es
schrecklich, wenn sie eine Straftat begehen und dafür Zumindest das ist in der Debatte deutlich gewor-
bestraft würden. Nur für die Abgeordneten des Deut- den, die neben offensichtlichen Unterschieden auch
schen Bundestages gebe es eine schlimmere Strafe, näm- erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung
lich nicht bestraft zu werden. – Das war Ihre Argumenta- dieser differenzierten Sachverhalte deutlich ge-
tion, Herr van Essen. macht hat. Weil hier zweifellos ein Zusammenhang
mit dem Immunitätsrecht besteht, könnte die Be-
(Jörg van Essen [FDP]: Dann haben Sie es trachtung dieses Zusammenhangs ein Bestandteil
nicht verstanden! Das ist doch Unsinn, das der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themen-
wissen Sie doch!) umfeld sein.
Sie können das im Protokoll nachlesen. So sprach vor acht Wochen der Präsident des Deut-
Der Kollege Kauder hat im April in dieser Diskussion schen Bundestages, Kollege Norbert Lammert, zum
gesagt: Schluss der Debatte zum Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zum Thema Abgeordnetenbestechung.
Sie sagen: Alle
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)
– er meint die 152 Staaten, die die Völkerrechtsvereinba-
Herr Kollege Ströbele ist ob dieser Äußerungen in ver-
rung zur Bekämpfung der Korruption unterschrieben ha-
zücktes Jubilieren geraten,
ben –
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
machen es. – Wenn alle ins Meer springen, springen
NEN]: Der ist noch begeisterungsfähig!)
wir dann hinterher?
und das Protokoll der Sitzung vermerkt Zwischenrufe
Das war seine Argumentation, auch nachzulesen im Pro- der SPD und eine darauf bezogene Dankesbekundung
tokoll. So beschäftigen Sie sich mit dieser Angelegen- des Präsidenten.
heit.
(B) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Worte (D)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- indessen kein bisschen ernst genommen.
NEN]: Unglaublich!)
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt wieder ei- NEN]: Aber selbstverständlich!)
nen Gesetzentwurf vorgelegt, der zeigt, wie man dieses
Thema auf eine vernünftige, rationale, klare und rechts- Im Gegenteil: Sie haben sich keinen Deut um das ge-
staatliche Weise behandeln kann. Wir haben jetzt auch schert, was der Bundestagspräsident gesagt hat.
ein Ratifizierungsgesetz vorgelegt; wir sind neugierig, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie scheren
wie Sie sich dazu verhalten werden. sich nicht darum! – Dr. Eva Högl [SPD]: Sie
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU/ haben nicht zugehört!)
CSU und FDP, die uns hier im April gesagt haben, dass Anders ist das, was wir heute von Ihnen geboten bekom-
sie sich nicht an der Arbeit an einem solchen Gesetz be- men haben, jedenfalls nicht zu erklären. Denn heute be-
teiligen, ich will zum Schluss sagen: Der Präsident des kommen wir, wie schon vor acht Wochen von der Frak-
Deutschen Bundestags, Kollege Dr. Lammert, hat mich, tion Die Linke, einfach nur den Aufguss eines Antrags
weil er nicht hier sein kann, heute Vormittag ausdrück- aus der letzten Wahlperiode als Wiedergänger präsen-
lich gebeten, in seinem Namen zu erklären, dass er ein tiert:
solches Gesetz für den Parlamentarismus für dringend
notwendig hält und deswegen das Haus bittet, sich damit (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
zu beschäftigen. GRÜNEN]: Von Ihnen kommt gar nichts!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie haben 2008 exakt den gleichen Gesetzentwurf schon
bei der SPD und der LINKEN) einmal eingebracht. Offenkundiger lässt sich wohl kaum
deutlich machen, dass man gar nicht so viel Interesse an
Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen, meine einer zielführenden und ernsthaften Debatte hat.
Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Marco Buschmann [FDP] – Jerzy Montag
Vizepräsidentin Petra Pau: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesetz-
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege entwurf war damals gut und ist heute gut!)
Heveling.
– Lieber Herr Kollege Montag, ich werde gleich darauf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eingehen. Dazu gibt es nämlich einiges Interessante zu
13064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ansgar Heveling
(A) sagen, auch in Bezug auf das, was der Herr Bundestags- destag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel- und (C)
präsident gesagt hat. Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln
verwerflich sind.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wer nichts tut, macht keine Fehler!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Offensichtlich geht es darum, hier den Oberlehrer zu NEN]: Jetzt kopieren Sie doch! – Gegenruf
spielen und sich wieder einmal nicht die Gelegenheit des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Er hat ord-
entgehen zu lassen, den Finger in eine vermeintliche nungsgemäß zitiert!)
Wunde zu legen. Dann werden scharfe und große Worte Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in
gewählt: Vor acht Wochen war von „peinlich“ und der Rechtssprache wird er durch einen anderen, ge-
„oberpeinlich“ die Rede. nauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerf-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichkeit ist durch ein besonders hohes Maß an sittli-
NEN]: War es auch!) cher Missbilligung definiert. … Es stimmt, was
Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Ge-
Als das Thema 2008 schon einmal diskutiert wurde, war setzgeber normative Begriffe verwendet, dann sagt
von einem „Makel“ die Rede. Heute ist es auch nicht an- er letztendlich gar nichts.
ders. Auch die Kritik am Gesetzentwurf ist die gleiche
wie 2008. Insofern machen Sie vom Bündnis 90/Die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Grünen es einem wirklich nicht leicht. GRÜNEN]: So ist es!)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nun werden Sie einwenden, dass das bei § 240 des
GRÜNEN]: Sie sind eben die Dagegen-Par- Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand,
tei!) auch möglich ist.
Ich habe bei der Vorbereitung der heutigen Rede (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
lange überlegt, wie ich heute mit dem Gesetzentwurf Und in vielen anderen Gesetzen auch!)
umgehen soll. In Zeiten von VroniPlag und Co hielt ich
es nicht für angemessen, die Beiträge der Kollegen aus Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke
der letzten Wahlperiode einfach zu plagiieren. in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr
2008: Der § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- strukturiert als der Straftatbestand des § 108 e des
NEN]: Sie haben doch keinen Doktortitel zu Strafgesetzbuches, sprich Abgeordnetenbestechung.
verlieren! Also nur zu!) In § 240 Abs. 2 – dem Nötigungsstraftatbestand –
(B)
Auch wollte ich meine vor acht Wochen gehaltene Rede sind die Nötigungsmittel genau definiert. Das kön- (D)
nicht noch einmal halten. Andererseits gibt es einfach nen Sie hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung
keine neuen Argumente. nicht eins zu eins übernehmen.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!) Zitat Ende.
Da Sie damals offensichtlich nicht bereit waren, sich mit Dieses Argument war 2008 genauso richtig, wie es
den sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen, ge- heute richtig ist. Man kann an den Formulierungen, die
schweige denn heute dazu bereit sind – Sie haben am Sie damals wie heute zur Gesetzesbegründung bemüht
Entwurf kein Jota verändert –, ist es vielleicht doch an- haben, ablesen, wie bewusst Sie sich dieses Problems
gebracht, die Argumente von damals noch einmal aufzu- sind.
rufen.
(Jörg van Essen [FDP]: Natürlich!)
Lassen Sie mich das ganz korrekt mit der Methode
des Zitierens machen. Herr Kollege Kauder hat in der Diese Unbestimmtheit und das Ungeklärte des Tatbe-
Debatte am 25. September 2008 zu Recht auf das größte standes führen zu einem zweiten bedeutenden Problem-
Problem Ihres Gesetzentwurfs hingewiesen, auf die kreis, der sich von 2008 bis heute ebenfalls nicht verän-
Übertragung der Verwerflichkeitsklausel. Ich darf zitie- dert hat. Hierauf hat der damalige Kollege Stünker von
ren: der SPD-Fraktion am 25. September 2008 richtigerweise
hingewiesen – ich darf auch ihn zitieren –:
Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor
Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen NEN]: Aber auch die Sozialdemokraten haben
Straftatbestand mit normativen Elementen – also nichts anderes vorgelegt!)
mit wertausfüllenden Elementen – schmückt, sagt
Wo liegt das Problem? Das Problem liegt – das ist
er eigentlich nichts. Das ist das Problem und die
hier schon häufig angesprochen worden – im Tatbe-
Krux des Gesetzentwurfs … Dieser Gesetzentwurf
standsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vor-
lässt mehr Fragen offen, als er klärt. …
teilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu
Regina Michalke hat sich in der Festschrift für schwammig gefasst. Die Abgeordneten des Deut-
Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerf- schen Bundestages werden im Ergebnis in die
lichkeitsklausel befasst. … Nimmt ein Politiker ei- Hände der dritten Gewalt, in die Auslegung gege-
nen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bun- ben, was mit dem freien Mandat aus Art. 38 des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13065
Ansgar Heveling
(A) Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir (C)
zu bringen ist. durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns
die Grünen blockiert haben. Man höre und staune. …
Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grund-
gesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu
sein. Er muss Interessenvertreter sein. Er ist partei- weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug
lich. Er darf parteilich sein. Das alles ist richtig. … ging. …

Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Also war gar nichts zu machen. Man hat sich da-
Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung mals gegenseitig blockiert.
für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Er- So weit das Zitat des Herrn Kollegen Stünker.
mächtigung der Volksvertretung notwendig ist, ob
wir also das Strafrecht mit dem Recht der Immuni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
tät verbinden müssen. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Hört!
Hört! – Jörg van Essen [FDP]: Genau so war
Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: es!)
Bereits eine entsprechende Überschrift in der Bild-
Zeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Er- So sehr Sie uns den Mangel an Bereitschaft vorwer-
mittlungsverfahren geraten ist – das kann ja völlig fen, das Thema überhaupt anzugehen, so sehr muss man
im Sande verlaufen –, führt zum politischen Tod. Ihnen den Vorwurf machen, dass es Ihnen an der Bereit-
Das muss man mit bedenken. schaft mangelt, überzeugende Lösungen auf den Tisch
des Hauses zu legen. Dadurch entlarvt sich der Gesetz-
entwurf als das, was er ist: als reine Show.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Heveling, gestatten Sie eine Frage des Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen Ströbele? Ich selbst habe vor acht Wochen zum Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke ausgeführt:
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben
Nein, ich würde das jetzt gerne weiter ausführen. sollte …, dann ist es mit einem gesetzgeberischen
Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich
(Jörg van Essen [FDP]: Herr Ströbele ist schon ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmt-
wieder nicht als Redner aufgeführt! Er wird heitsgebots Genüge tut, sicherlich nicht getan.
(B) nie als Redner aufgeführt und muss dann im- (D)
mer die Redner stören! – Jerzy Montag (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei zwölf NEN]: Sie können ja langsamer schießen, aber
Minuten Redezeit keine Frage zuzulassen, ist schießen Sie doch einmal!)
jämmerlich!) Das ist der Sache … nicht angemessen, und der
Sieh mal einer an, selbst das, was der Bundestagsprä- Schaden wäre hinterher weitaus größer als der Nut-
sident vor acht Wochen gesagt hat, ist schon in der De- zen.
batte 2008 angeführt worden. Kein Erkenntnisgewinn Das aber gilt auch für Ihren Gesetzentwurf aus dem
bei den Grünen von 2008 bis heute. Stur wird wieder Jahr 2008. Er offenbart keinen tauglichen Lösungsan-
eingebracht, was schon 2008 Murks gewesen ist. satz. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie wirklich sorgfältig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und ernsthaft – jedenfalls 2008 – nach einer tragfähigen
Lösung gesucht haben. Dann hätten Sie aber schon da-
In der damaligen Debatte, im September 2008, ist mals aufgrund der gewichtigen Kritikpunkte einsehen
vom damaligen Kollegen Stünker auch das Thema ange- müssen: Das Thema ist ganz offenkundig entschieden
sprochen worden, bei dem sich Kollege Montag eben auf komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
die Frage des Kollegen Geis hin ein bisschen gewunden (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
hat. Auch das möchte ich gerne zitieren. Da ging es um GRÜNEN]: Deshalb machen Sie nichts!)
die Frage, warum das von Rot-Grün nicht geändert wor-
den ist. Der damalige Kollege Stünker hat laut Protokoll Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die
dazu in Richtung des Kollegen Ströbele ausgeführt: neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differen-
Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke zierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Mit Ihrem
schon lange schließen können. Sie und ich, wir Gesetzentwurf wird eine Lösung aber nicht gelingen.
beide wissen das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in Wir lehnen ihn ab.
einer Kommission … eine Regelung erarbeitet. …
Vielen Dank.
– Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen pein-
lich. – Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
die wir damals erarbeitet hatten – … Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Weil er so kompliziert ist, tun Sie gar
– Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. – nichts!)
13066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Dr. Eva Högl (SPD): (C)


Die Kollegin Dr. Högl hat für die SPD-Fraktion das Aber sicher. Bitte sehr. Jetzt dürfen Sie eine Zwi-
Wort. schenfrage stellen.
(Beifall bei der SPD)
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Dr. Eva Högl (SPD): Danke, Frau Kollegin. Ich frage Sie natürlich etwas
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz anderes als das, was ich den Kollegen von der CDU
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen gefragt hätte;
alle, dass jedes Thema eine Geschichte hat und dass es
gut ist, diese zu kennen. Man braucht sie für den Hinter- (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich habe die
grund. Ich darf aber an uns alle appellieren: Wir haben Antwort gegeben, ohne dass Sie gefragt ha-
heute einen Vorschlag vorliegen und führen eine weitere ben!)
Debatte, nachdem es bereits eine am 8. April gegeben er hat meinen Namen hier wieder ins Spiel gebracht.
hat. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam über die Zukunft
diskutieren und darüber, dass es im Deutschen Bundes- Seinerzeit hat die Justizministerin Frau Zypries
tag Handlungsbedarf gibt. (Marco Buschmann [FDP]: Jetzt war die
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schuld!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von den Sozialdemokraten – ich sage das lobend – den
Im Gegensatz zu meinem Vorredner, Herrn Heveling, Mut aufgebracht, die UNO-Konvention für die Bundes-
habe ich unserem Bundestagspräsidenten Lammert am republik Deutschland zu unterschreiben. Sie wurde von
8. April sehr gut zugehört. Wer nicht zugehört hat, kann der Regierung damals unterschrieben, aber leider hat der
es noch einmal nachlesen. Unser Bundestagspräsident Deutsche Bundestag es bis heute nicht geschafft, diese
hat am Ende der Debatte davon gesprochen, dass wir in Urkunde zu ratifizieren. Deshalb fordern wir dies.
dieser Frage einen erheblichen Handlungsbedarf haben Meine Frage an Sie lautet: Wir hatten in der Tat viele
und dass es trotz offensichtlicher Unterschiede in der Wochen und Monate lang sehr intensive Verhandlungen
Bewertung der Detailregelungen – darüber können und über sehr viele unterschiedliche Vorschläge geführt und
werden wir im weiteren Verlauf gerne streiten – erkenn- hatten, wie das in einer Koalition ist, auch unterschiedli-
bare Übereinstimmungen gibt. che Auffassungen. Der Kollege Stünker hat damals ei-
Der Bundestagspräsident hat an uns appelliert, dieses nen Vorschlag vorgelegt, dem ich sehr viel abgewinnen
(B) (D)
Thema gemeinsam anzugehen. Diesen Appell möchte konnte.
auch ich gerne – Herr Kollege Montag hat es bereits ge-
tan – aufgreifen. Diese Bemerkung unseres Bundestags- Dr. Eva Högl (SPD):
präsidenten fand ich sehr hilfreich. Wir sollten sie sehr Wir auch.
ernst nehmen; denn so etwas macht ein Bundestagspräsi-
dent am Ende einer Debatte nicht jeden Tag. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN):
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Seitdem sind ja viele Jahre vergangen, und ich frage
mich: Warum ist die sozialdemokratische Fraktion nicht
Wir als SPD-Fraktion sind Bündnis 90/Die Grünen in der Lage, diesen fertigen Entwurf des Kollegen
für die Vorlage der beiden Gesetzentwürfe dankbar. Am Stünker als Antrag oder Gesetzentwurf hier in die De-
8. April haben wir bereits über eine Vorlage von der batte einzubringen?
Fraktion Die Linke diskutiert. Selbstverständlich werden
wir auch mit eigenen Vorschlägen in die Debatte einstei- (Marco Buschmann [FDP]: Familienkrach in
gen. Wir waren in der Vergangenheit auch initiativ; des- der Opposition!)
wegen kündige ich an, dass wir uns engagiert an der wei- Dann wären wir schon sehr viel weiter. Dann hätten wir
teren Beratung der vorliegenden Papiere sowie mit uns, zumindest die SPD und Bündnis 90/Die Grünen,
eigenen Vorschlägen beteiligen werden. vielleicht schon darauf verständigen können. Dann hätte
Ich möchte voranschicken – das ist mir wichtig –, auch die CDU/CSU noch die Möglichkeit – anders als
dass Deutschland kein Land ist, in dem Korruption Kollege van Essen, der das vollständig ablehnt –, sich
herrscht. Wir sollten bei dieser Debatte auch nicht davon einzubringen und mitzumachen.
ausgehen, dass wir es mit Verwerfungen zu tun haben. Es ist doch wirklich ein Unding – Kollege Montag hat
das zu Beginn seiner Rede gesagt –, dass wir Abgeord-
Vizepräsidentin Petra Pau: nete anderer Länder unter Strafe stellen für einen Tatbe-
Frau Kollegin Högl, gestatten Sie eine Zwischenfrage stand, der in Deutschland für deutsche Abgeordnete
des Kollegen Ströbele? nicht strafbar ist. Geben Sie mir recht, dass das ein un-
haltbarer Zustand ist und dass Sie sich möglichst schnell
(Jörg van Essen [FDP]: Weil er nicht als Red- an die Arbeit machen sollten, den Vorschlag des Kolle-
ner aufgestellt wird! Das ist auch gut so!) gen Stünker in den Deutschen Bundestag einzubringen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13067

(A) Dr. Eva Högl (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
Lieber Herr Kollege Ströbele, ganz herzlichen Dank DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
für Ihre Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung. Ich LINKEN)
darf Sie beruhigen – das hatte ich eben auch schon ange-
Das ist wichtig. Wir haben es mit sehr vielen Vorurteilen
kündigt –: Die SPD wird die Debatte mit Vorschlägen
zu tun. Deswegen müssen wir jedem Eindruck von Kor-
bereichern; sie wird Vorschläge vorlegen. Wir werden si-
ruption selbstbewusst entgegentreten und ihn zurückwei-
cherlich auch an die umfangreichen Vorarbeiten anknüp-
sen.
fen. Sie wissen auch, dass es die SPD war, die sehr ini-
tiativ und drängend war und nach der Unterzeichnung Ich möchte ganz kurz eine Bemerkung zur UN-Kon-
der UN-Konvention sehr schnell Vorschläge vorgelegt vention machen. Es ist schon gesagt worden, dass es uns
hat. in Deutschland schadet, dass wir die Konvention nicht
Uns ist, wie Sie wissen, 2005 die Neuwahl dazwi- ratifiziert haben. Wir müssen uns mit dem Thema Abge-
schengekommen. ordnetenbestechung befassen und endlich gesetzliche
Regelungen vornehmen. Ich will in diesem Zusammen-
(Marco Buschmann [FDP]: Abwahl!) hang auch etwas zum internationalen Ansehen Deutsch-
Sie fragen sich, warum wir seitdem den Vorschlag des lands sagen; das halte ich für nicht unwesentlich.
Kollegen Stünker nicht vorgelegt haben.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Jörg van Essen [FDP]: Sie waren doch danach Kollegin Högl, gestatten Sie vorher eine Zwischen-
auch in der Regierung, oder nicht?) frage des Kollegen Kauder?
– Ja, das will ich Ihnen ganz genau sagen: Wir haben re-
giert, aber, wie Sie sich vielleicht erinnern können, in an- Dr. Eva Högl (SPD):
derer Konstellation. Wir waren in einer Großen Koali- Gerne. Bitte, Herr Kauder.
tion
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
NEN]: Das war fürchterlich!) CSU):
– das dürfen Sie gerne so sagen; die Bewertung muss je- Liebe Frau Kollegin Högl, Sie haben zu Recht den
der für sich treffen –, und die Kolleginnen und Kollegen Bundestagspräsidenten Lammert erwähnt. Er sprach
aus der Fraktion der CDU/CSU haben verhindert, dass aber nicht von einem Straftatbestand. Wir reden hier
wir zu einer gemeinsamen Vorlage zum Thema Abge- über Bestechung und Bestechlichkeit von Amtsträgern.
(B) ordnetenbestechung kamen. Deswegen werden wir jetzt Verstehen Sie sich als Amtsträger? Das sind wir nicht. (D)
einen neuen Vorschlag machen. Wir werden uns an der Wir sind freie Abgeordnete.
Debatte beteiligen. Seien Sie gespannt und gewiss, dass Die Österreicher haben versucht, dies über den Be-
wir auf bestimmte Vorschläge zurückkommen werden. griff des Amtsträgers zu regeln,
Ich hoffe natürlich, dass Ihnen unser Vorschlag dann
auch gefallen wird. (Christine Lambrecht [SPD]: Das muss man
aber nicht!)
(Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich und gesagt: Der Abgeordnete ist ein Amtsträger. Das gilt
auch in dieser Legislaturperiode!) aber nur, wenn er sich wie folgt verhält. – Damit haben
sie den Amtsträgerbegriff wieder ausgehebelt. Sie haben
– Ja, wir werden im Herbst etwas vorlegen. also einen Klimmzug gemacht, der letztendlich nichts
Ich möchte noch ganz kurz etwas erwähnen, das bei gebracht hat. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis:
der grundsätzlichen Frage, wie wir mit dem Thema Ab- Darüber sollten wir nachdenken. Fangen wir mit der
geordnetenbestechung umgehen, sehr wichtig ist. Wir Diskussion noch einmal bei null an.
müssen eine sehr sorgfältige Trennung zwischen legiti- (Christine Lambrecht [SPD]: Bei null ist die
mer, sinnvoller und richtiger Interessenvertretung auf CDU ja gut aufgehoben!)
der einen Seite und Korruption, Bestechung und Be-
stechlichkeit auf der anderen Seite vornehmen. Es ist Reden wir nicht über Bestechung, Bestechlichkeit und
sehr wichtig – das haben wir bei unseren Debatten über Korruption, sondern über Verhaltensmaßregeln. Das ist
ein verbindliches Lobbyistenregister oder die Beschäfti- ein ganz anderer Ansatz, den der Bundestagspräsident
gung von Externen in der Bundesverwaltung schon an- meinte.
gesprochen –, die Interessenvertretung, die wir in einer
Demokratie brauchen, von den Verwerfungen, von Vor- (Christine Lambrecht [SPD]: Nein!)
teilsnahme, von Korruption, von Bestechung und Be- Das ist vielleicht ein besserer Weg als der, Abgeordnete
stechlichkeit zu trennen. mit einem Amtsträger zu vergleichen.
Deswegen appelliere ich hier an uns alle, vor allen
Dingen an die Koalitionsfraktionen, von einem grund- Dr. Eva Högl (SPD):
sätzlichen Nein abzurücken. Das Signal gegen Korrup- Wir können den Herrn Bundestagspräsidenten bei Ge-
tion, Bestechung und Bestechlichkeit muss von uns hier legenheit vielleicht fragen, was genau er mit seinen hin-
im Deutschen Bundestag ausgehen. weisenden Bemerkungen gemeint hat.
13068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Eva Högl


(A) (Heiterkeit des Abg. Siegfried Kauder [Villin- 2010 – das ist noch gar nicht so lange her – auf die Frage (C)
gen-Schwenningen] [CDU/CSU]) des Kollegen Movassat von den Linken geantwortet hat:
Ich habe sie in dieser Richtung verstanden. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass
Deutschland das Übereinkommen der Vereinten
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nationen gegen Korruption so schnell wie möglich
NEN]: Ich habe ihn heute gefragt!) ratifizieren kann.
Lieber Herr Kollege Kauder, wir reden über Abgeord- Hört! Hört! Außerdem führte sie aus:
netenbestechung. Da ist nicht die Rede von Amtsträge-
rinnen und Amtsträgern. Wir unterscheiden hier sehr Den Entwurf für ein Vertragsgesetz … wird die
sorgfältig. Bundesregierung unverzüglich vorlegen …
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag sind Sie der gleichen Auffassung wie die geschätzte
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, oder sind
tun auch wir in unserem Gesetzentwurf! – Jörg Sie anderer Auffassung?
van Essen [FDP]: Die UN-Konvention tut das
(Jörg van Essen [FDP]: Anderer Auffassung!
nicht!)
Ganz klar!)
Ich möchte mich selbstverständlich nicht als Amtsträge-
Mich würde sehr interessieren, was Sie dazu sagen. Ich
rin, sondern als Abgeordnete verstanden wissen. Natür-
würde mich freuen, wenn Sie sich der Auffassung Ihrer
lich gehören dazu auch – das habe ich eben betont – das
eigenen Staatssekretärin anschließen würden; denn hier
freie Mandat und die Möglichkeit, Interessen aufzugrei-
besteht wirklich Handlungsbedarf. Wir müssen diesen
fen und zu vertreten. Deswegen müssen wir bei der For-
peinlichen Zustand schnellstmöglich beenden.
mulierung der Regelungen zur Abgeordnetenbestechung
sehr sorgfältig darauf achten, wie wir sie im Konkreten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ausgestalten. Wenn ich Ihre Hinweise zur konkreten
Ich will noch einige Bemerkungen zu der konkreten
Ausgestaltung so verstehen darf, dass auch Sie grund-
sätzlich dafür sind, Regelungen zum Thema Abgeordne- Formulierung machen. Es ist in der Tat – auch Sie, Herr
Heveling, haben das gesagt – kein leichtes Thema.
tenbestechung zu treffen, dann freue ich mich natürlich
sehr. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es nämlich!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen bei der Formulierung der Norm sehr sorgfäl-
(B) tig vorgehen. (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte eine Be-
merkung zum internationalen Ansehen Deutschlands (Jörg van Essen [FDP]: Deswegen sollte man
machen. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, wie wir in auch den Begriff „peinlich“ sehr sorgfältig
der Welt dastehen. Wir diskutieren zurzeit über den vermeiden!)
Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien und
über den Beitritt von Kroatien zur Europäischen Union. – Ich glaube, Sie bekommen gleich nach meiner Rede
Welches Thema steht da ganz oben an? Das Thema Kor- das Wort. Dann können Sie sich auch dazu äußern.
ruptionsbekämpfung. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ich glaube,
(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Weil es ein aktuel- das würde er gerne schon vorher tun!)
les Thema ist! Aus gutem Grund!) Wir brauchen eine klare Definition des strafbaren
Wir geben zur Korruptionsbekämpfung sehr wichtige Verhaltens. Wir müssen die Verwendung unbestimmter
und sinnvolle Hinweise, auch bei unserem Einsatz in Rechtsbegriffe vermeiden. Wir dürfen die Interpretation
Afghanistan. Ich finde es mehr als peinlich und sehr be- dessen, was wir in den Straftatbestand einbeziehen, nicht
schämend, dass Deutschland neben Syrien, Saudi-Ara- Dritten überlassen; das halte ich für ganz entscheidend.
bien, Myanmar und dem Sudan eines der wenigen Län- Wir dürfen vor allen Dingen keinen Anlass für grundlose
der der Welt ist, das die UN-Konvention gegen Verdächtigungen und für einen Generalverdacht gegen-
Korruption noch nicht ratifiziert hat. Das sollten wir über Politikerinnen und Politikern geben. Ich glaube,
schnellstmöglich ändern. auch Sie, Herr Kauder, haben darauf angespielt, dass wir
dies auf jeden Fall vermeiden müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deswegen bin ich noch skeptisch, ob der Ansatz der
Grünen, den Vorteil mit dem Adjektiv „rechtswidrig“
Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, wie die einzugrenzen und dann auf ein verwerfliches Verhalten
Positionen der Koalitionsfraktionen sind. Sie haben sich abzustellen, richtig ist. Ich denke, dass wir eine andere,
dazu sehr im Detail geäußert. Vielleicht sind Sie, lieber bessere Definition des Vorteils benötigen, den Vorteil an-
Herr Heveling, wenn Sie sich schon mit den Detailrege- ders einschränken und vor allen Dingen das Verhältnis
lungen auseinandersetzen, im Grundsatz doch dafür zu Leistung und Gegenleistung im Rahmen der Abgeordne-
gewinnen, hier etwas zu tun. tentätigkeit ganz sorgfältig definieren müssen.
Ich möchte zitieren, was die Staatssekretärin im Bun- Lassen Sie uns doch gemeinsam allen Sachverstand,
desjustizministerium, Frau Dr. Grundmann, am 30. Juni der hier im Deutschen Bundestag versammelt ist, zusam-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13069
Dr. Eva Högl
(A) mennehmen und auf der Basis der vorliegenden Vor- linken Seite des Hauses der Eindruck erweckt wird: Da (C)
schläge und der noch kommenden Vorschläge – unter ist die böse CDU/CSU, da ist die böse FDP.
anderem von uns – gemeinsam eine bestmögliche For-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
mulierung des Gesetzentwurfs erarbeiten. Das wäre
doch der richtige Weg, und das wäre ein gutes Signal GRÜNEN]: Noch schlimmer! – Jerzy Montag
hier aus dem Deutschen Bundestag. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, so sehen
wir das!)
(Beifall bei der SPD – Wolfgang Wieland
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind da- Der Kollege Montag hat mir sogar unterstellt, ich
bei!) hätte es gut gefunden, dass ein Abgeordneter nicht be-
straft wird.
– Das hört sich gut an.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Thema Immu- NEN]: Wortwörtlich!)
nitätsrecht machen. Es ist noch ein wichtiger Zusam-
menhang zwischen einem Straftatbestand der Abgeord- – Herr Kollege, ich schätze Sie außerordentlich. Dass
netenbestechung und dem Immunitätsrecht, das wir hier Sie zu einem solchen Argument greifen müssen, zeigt
im Deutschen Bundestag haben, herzustellen. Deswegen aber, wie schlecht Ihre Argumente sind.
ist es wichtig, sich in diesem Zusammenhang auch über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Uta
die Ausgestaltung des Immunitätsrechts Gedanken zu Zapf [SPD]: Das war ein Zitat! – Wolfgang
machen. Das möchte ich gerne in einem Zusammenhang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er
sehen. darf doch zitieren!)
Wir müssen uns darüber unterhalten, ob wir sagen, – Er hat mich natürlich nicht zitiert, sondern er hat hier
der Vorteil, der entgegengenommen bzw. gewährt wird, schlichten Unsinn vorgetragen.
ist vorher zu genehmigen – das wäre eine Variante –,
oder ob wir sagen – man kann auch beide Varianten Es gehört natürlich zur Geschichte, dass die hier ge-
gleichzeitig diskutieren –, dass die Verfolgung der Tat lobte Bundesjustizministerin eine UN-Konvention, die
der vorherigen Zustimmung durch den Deutschen Bun- heute auch auf Vorschlag der Grünen zur Diskussion
destag bedarf. Diese Variante favorisiere ich persönlich, steht, unterzeichnet hat.
aber darüber müssen wir uns im Folgenden noch unter- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
halten. GRÜNEN]: Ja!)
Ich darf mich bedanken und schließe mit einem Ap- Sie hat das damals gegen den ausdrücklichen Wider-
(B) pell insbesondere an die Koalitionsfraktionen: Überle- stand der damals größten Fraktion, der SPD, getan. Sie (D)
gen Sie noch einmal, ob Ihre Staatssekretärin im Bun- hat das auch gegen den ausdrücklichen Widerstand des
desjustizministerium vielleicht doch nicht ganz falsch damaligen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers
liegt, dass es sich nämlich lohnt, die UN-Konvention zu der Grünen, des Kollegen Beck, getan, der heute wahr-
ratifizieren und gemeinsam mit uns an einer guten Rege- scheinlich nicht ohne Grund nicht hier ist.
lung zur Abgeordnetenbestechung zu arbeiten, die über-
fällig ist. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich sage ihm, dass Sie ihn vermisst ha-
Herzlichen Dank. ben!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Ja, das können Sie gerne ausrichten. – Der Kollege
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beck hat das in gleicher Weise getan, wie das CDU/CSU
und FDP auch getan haben.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Grund ist unverändert gleich und richtig: In der
Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDP- UN-Konvention wird ganz allgemein von Amtsträgern
Fraktion. gesprochen, und es ist klar, dass es Unterschiede zwi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen Abgeordneten und Beamten gibt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Jörg van Essen (FDP): GRÜNEN]: Ja!)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, zum wievielten Male ich jetzt hier stehe Der Beamte hat seinen Pflichten neutral nachzukom-
und etwas zur Abgeordnetenbestechung sage. men. Ein Abgeordneter hat nach dem Grundgesetz ein
freies Mandat und kann auch völlig einseitige Interessen
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sagen Sie vertreten, was ein Beamter zu Recht nicht darf. Das ist
doch etwas Neues!) ein ganz wesentlicher Unterschied. Deshalb ist es auch
schwierig, das rechtlich zu fassen. In der Debatte hier,
– Ja, es ist ganz schwierig. Das ist die gleiche Problema-
die wir erlebt haben, wurde das ja auch deutlich. Die rot-
tik, die auch der Kollege Heveling schon aufgezeigt hat.
grüne Koalition hat damals sehr lange Zeit zusammenge-
Es sind eigentlich alle Argumente ausgetauscht.
sessen, weil sie die Probleme offensichtlich gesehen und
Was noch nicht ausgetauscht wurde – deshalb bin ich sehr lange gebraucht hat, bis überhaupt irgendetwas zur
dem Kollegen Heveling ganz dankbar –, ist, dass von der Abstimmung kam.
13070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Jörg van Essen


(A) Das Ganze ist nicht eingebracht worden, und wir ha- Gerichten zu stellen hat. Die Staatsanwaltschaften müs- (C)
ben hier auch gehört, dass es bei den Grünen dann ganz sen ermitteln können. Weil wir das so großzügig tun, ist
offensichtlich Widerstand gegen die Formulierung gege- die Versuchung, Vorwürfe gegen jemanden zu erheben
ben hat – wieder vom Kollegen Beck, der der Bundes- und damit staatsanwaltschaftliche Ermittlungen loszutre-
justizministerin ja vorher auch schon deutlich gemacht ten, bei uns besonders hoch. Wir alle kennen Fälle – ich
hatte, dass er der Auffassung ist, dass die Bundesrepu- bin seit 1994 im Immunitätsausschuss –, in denen aus
blik Deutschland das Abkommen der Vereinten Natio- politischen Gründen bestimmte Vorwürfe erhoben wor-
nen nicht unterzeichnen sollte. Das ist bis heute unverän- den sind. Ein Kollege fand sich mit solchen Vorwürfen
dert meine Auffassung, weil ich großen Wert darauf konfrontiert in den großen Zeitungen wieder. Als sich
lege, dass es keine Verbeamtung des Deutschen Bundes- hinterher herausgestellt hatte, dass alle diese Vorwürfe
tages gibt. aus der Luft gegriffen waren, haben die Zeitungen leider
vergessen, das der Öffentlichkeit mitzuteilen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Christine Lambrecht [SPD]: Die Staats-
Jetzt verstecken Sie sich nicht hinter Herrn anwaltschaft auch!)
Beck!)
Deshalb haben wir die Verantwortung gegenüber den
Ich komme zu einem zweiten Punkt, der mir wichtig Kollegen, die sich einem strafrechtlichen Vorwurf ausge-
ist. Kollege Stünker hat in einer früheren Debatte exzel- setzt sehen, dass wir klare und eindeutige Vorschriften
lent aufgezeigt, dass es schwierig ist, mit bestimmten anwenden, wenn wir Vorwürfe gegen sie erheben.
Begriffen zu arbeiten. In der Diskussion ging es um
Geldbündel, die übergeben werden; das könnte man (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
rechtlich noch fassen. Aber wenn eine Schulausbildung NEN]: Schaffen Sie die! – Gegenruf von der
ermöglicht wird – Sie haben ein Beispiel genannt; es CDU/CSU: Die haben wir ja!)
gibt viele unterschiedliche Fälle, die man sich vorstellen Mein Wunsch ist deshalb – in den Beratungen werden
kann –, dann ist das strafrechtlich schwer zu fassen. wir das tun –, dass wir uns zusammensetzen. Vielleicht
Zu den Prinzipien des Rechtsstaates gehören Nor- fällt dem einen oder anderen, trotz der Schwierigkeiten,
menklarheit und Normenwahrheit. Das ist das Problem. die ich aufgezeigt habe, etwas Neues ein.
Frau Kollegin Högl hat in einem Nebensatz darauf hin- (Christine Lambrecht [SPD]: Dem sind Sie
gewiesen, dass es viele rechtliche Probleme gibt. Ja, sie doch intellektuell gewachsen!)
sind unbestreitbar vorhanden. Ich bin Ihnen dankbar,
dass Sie das angesprochen haben. Von daher ist unser Bisher habe ich leider nichts Neues gehört. Ihr schlech-
(B) Vorgehen nicht Unwillen. Vielmehr haben wir Probleme, ter Vorschlag von 2008 ist durch das Liegenbleiben nicht (D)
die wir nicht vernünftig lösen können. Dazu gehört zum besser geworden.
Beispiel auch, dass es einen Unterschied zwischen den (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der
Abgeordneten des Bundestages und der Landtage auf der CDU/CSU)
einen Seite und denen der kommunalen Vertretungen auf
der anderen Seite gibt. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass wir über dieses
Thema reden sollen und müssen. Frau Högl, insofern
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: nehme ich Ihr Angebot an.
Richtig!)
Vielen Dank.
Auch das ist rechtlich schwierig. Ich weiß, dass das in
der Öffentlichkeit nicht immer ankommt. Wenn ich die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine
Zuschauer oben auf der Tribüne fragen würde: „Muss Lambrecht [SPD]: Geht doch!)
das sein?“, dann würde mit Sicherheit jeder sagen: Klar
muss das so sein! Vizepräsidentin Petra Pau:
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Montag
NEN]: Eben! Da spricht das Volk!) das Wort.

Trotzdem bitte ich um Verständnis, dass wir darauf ach- (Marco Buschmann [FDP]: Jetzt kommt wieder:
ten müssen, dass auch die Abgeordneten Rechtsvor- peinlich, peinlich, peinlich!)
schriften vorfinden, die den Ansprüchen eines Rechts-
staates genügen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege van Essen,
(Zuruf von der FDP: Ein aufklärerischer An-
Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte Sie nicht richtig zi-
spruch!)
tiert, es sei Unsinn gewesen, was ich erzählt habe.
Ein weiterer Punkt, der für mich wichtig ist, ist das
(Jörg van Essen [FDP]: Ja, das ist auch so!)
Immunitätsrecht. Frau Kollegin Högl, Sie haben es ange-
sprochen, wofür ich sehr dankbar bin. Wir haben in Sie haben Recht: Die rechtsstaatliche Abfassung von
Deutschland die Tradition, dass wir eine Aufhebung der Strafnormen unter der Berücksichtigung des Grundsat-
Immunität in aller Regel durchwinken, und das ist auch zes der Normenklarheit ist schwierig. Aber ich habe
gut so. Ich finde, dass sich jeder Abgeordnete, wenn ein noch nie gehört, dass dies dazu geführt hätte, dass dieses
strafrechtlicher Vorwurf gegen ihn erhoben wird, den Parlament bei Strafvorschriften, die es für notwendig
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13071
Jerzy Montag
(A) hält und die die Menschen draußen betreffen, gesagt Es ist richtig, dass ich gesagt habe – das bleibt auch (C)
hätte: Weil es so schwierig ist, machen wir es lieber meine Meinung –: Der Kollege aus Österreich, der ge-
nicht. filmt worden ist, hätte möglicherweise eine Geldstrafe
bekommen. Das, was jetzt passiert ist, dass nämlich
(Jörg van Essen [FDP]: Das hat es natürlich seine politische Karriere zu Ende ist, dass er öffentlich
gegeben!) geächtet ist, dass er all das verloren hat, was er sich auf-
Nur hier in diesem Falle wollen Sie ein Sonderrecht ha- gebaut hat, ist natürlich eine höhere Strafe, als sie jeder
ben. Strafrichter verhängen könnte. Dass uns das aber nicht
davon entbindet, das, was wir dort an Fehlverhalten ge-
(Jörg van Essen [FDP]: Falsch!) sehen haben, strafrechtlich zu fassen zu versuchen, habe
ich in meiner Rede deutlich gemacht. Deshalb weise ich
Das ist das, was ich kritisiere, nicht, dass die Sache erneut den Vorwurf, den Sie mir gegenüber erhoben ha-
schwierig ist. ben, mit Nachdruck zurück.
Nun, Herr Kollege van Essen, komme ich zu dem Zi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tat. Am 8. April 2011 haben wir hier im Plenum disku-
tiert. Frau Kollegin Wawzyniak hat geschildert, wie ein Vizepräsidentin Petra Pau:
Europaabgeordneter gefilmt worden ist, als er sich – ich Das Wort hat die Kollegin Wawzyniak für die Frak-
kürze das einmal ab – hat bestechen lassen. Dazu sagen tion Die Linke.
Sie ausweislich des Protokolls Folgendes:
(Beifall bei der LINKEN)
Sie
– damit ist Frau Wawzyniak gemeint – Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang, Herren! Wir haben über dieses Thema bereits am
der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parla- 8. April diskutiert. Die Debatte hier zeigt: Seitdem hat
ment abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich keiner von uns neue Erkenntnisse gesammelt oder seine
Position grundlegend geändert. Neue Argumente sind
– das sind Sie, Herr van Essen – hier nicht genannt worden. Aber immerhin treten Grüne
habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abge- und die Linksfraktion in den Wettbewerb um die beste
ordneter aus Österreich die Verhandlungen führte juristische Formulierung im Detail.
und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen (Jörg van Essen [FDP]: Oh, oh!)
(B) wollte … Das sehe ich genauso wie Sie, Herr (D)
Hartmann. Das ist eine Schande. Auf der anderen Sinnvoll ist das nur bedingt. Sinnvoll wäre es, ge-
Seite hat sich gezeigt: Kontrolle funktioniert … meinsam an einer Vorlage zu arbeiten.
Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete (Beifall bei der LINKEN)
hat eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten
bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung Zumindest die Oppositionsfraktionen könnten dabei
sein könnte. Er musste sein Mandat aufgeben und schnell eine Einigung erzielen. Natürlich ist dafür noch
ist gesellschaftlich geächtet. Das ist, finde ich, eine ein bisschen Feinarbeit nötig, aber das wäre sehr loh-
Strafe, die durch keinen Strafrichter höher ausge- nenswert; denn am Ende stünde ein breiter Konsens, zu-
sprochen werden könnte. mindest in der Opposition. Das wäre gut.
Besser wäre es, wenn sich auch die Regierungsfrak-
Lieber Herr Kollege van Essen, dies habe ich sinnge-
tionen an der Arbeit, einen Konsens zu erzielen, beteili-
mäß zitiert, als ich Ihnen gesagt habe, Sie seien der Mei-
gen würden. Aber ich habe Herrn van Essen so verstan-
nung, für alle Bürger dieses Landes sei es richtig, bei ei- den, dass er das in Angriff nimmt. Ein Konsens wäre
ner Straftat von einem Strafrichter bestraft zu werden, gut, weil dieses Thema uns alle betrifft. Wir täten gut da-
aber bei uns Abgeordneten sei es besser, wir würden ran, ein klares Signal an die Öffentlichkeit zu senden,
nicht bestraft; denn die höhere Strafe sei, dass wir in der wie wir als Parlament uns diesem Thema stellen.
Öffentlichkeit geächtet wären. Ich glaube, Sie sollten
den Vorwurf gegen mich, dass ich falsch zitiert habe, zu- (Beifall bei der LINKEN)
rücknehmen. Worum geht es? Wir sind gefordert, einen Missstand
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu beseitigen. Deutschland hat die UN-Konvention ge-
gen Korruption aus dem Jahr 2003 nicht ratifiziert. Bis-
lang ist hierzulande nur der Stimmenkauf verboten. Es
Vizepräsidentin Petra Pau: geht um den Kampf gegen Korruption und darum, dass
Der Kollege van Essen hat das Wort. Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten
strafbar sein sollen. Niemand soll und darf sich – auf
Jörg van Essen (FDP): keiner Ebene – mit Geld politisches Handeln kaufen.
Darauf muss jede Bürgerin und jeder Bürger vertrauen
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mich wörtlich zi-
können. Dafür müssen wir die gesetzlichen Rahmenbe-
tiert haben. Ich glaube, jeder, der mein wörtliches Zitat
dingungen schaffen bzw. sie verbessern.
gehört hat, hat gemerkt, dass der Vorwurf, den Sie in Ih-
rer Rede gegen mich erhoben haben, völlig falsch ist. (Beifall bei der LINKEN)
13072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Halina Wawzyniak
(A) Ich frage Sie: Warum sollten wir uns auf andere – und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (C)
sei es die notwendige vierte Gewalt im Staate, also die
Medien – verlassen, wenn wir selbst etwas tun können, – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
um Bestechlichkeit und Bestechung zu unterbinden? Es richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
ist unsere Aufgabe, und dieser Aufgabe sollten wir uns schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
stellen. Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
(Beifall bei der LINKEN) scher Streitkräfte an der United Nations Inte-
rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grund-
Im Gegensatz zu den Regierungsfraktionen sind lage der Resolution 1701 (2006) vom 11. Au-
Linke und Grüne der Meinung, dass es not- und der De- gust 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
mokratie guttut, Regelungslücken zu schließen, und dass 1937 (2010) vom 30. August 2010 des Sicher-
es nicht ausreicht, die Aufdeckung von Korruption den heitsrates der Vereinten Nationen
Medien zu überlassen. Deshalb haben sowohl Grüne als
– Drucksachen 17/5864, 17/6133 –
auch wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, nein, leider kei-
nen gemeinsamen, sondern jeweils einen eigenen. Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Ich habe mir die Mühe gemacht, beide Gesetzent-
Dr. Rolf Mützenich
würfe zu vergleichen, um zu sehen, wo die Unterschiede
Dr. Rainer Stinner
sind. Sie sind marginal. In den meisten und wichtigsten
Wolfgang Gehrcke
Punkten stimmen die beiden Gesetzentwürfe überein. Es
Kerstin Müller (Köln)
gibt einen wirklich essenziellen Unterschied zwischen
den Anträgen in zwei Punkten. Das eine ist die Ver- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
suchsstrafbarkeit. Die wollen wir, die wollen Sie nicht. gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Den Vorschlag der Grünen, auch Wahlbewerber und
Wahlbewerberinnen in die Regelung aufzunehmen, fin- – Drucksache 17/6134 –
den wir gut. Da, finde ich, kann man doch zusammen- Berichterstattung:
kommen. Abgeordnete Herbert Frankenhauser
(Beifall bei der LINKEN) Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Seitens der Regierungsfraktionen sind leider keine Michael Leutert
Fortschritte in der Diskussion zu erwarten. Immerhin hat Sven-Christian Kindler
Herr van Essen heute darauf verzichtet, uns im Hinblick
(B) auf die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korrup- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion (D)
tion durch inzwischen 75 Staaten, zu denen unter ande- Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfeh-
rem Großbritannien, Frankreich und die USA gehören, lung werden wir später namentlich abstimmen. Nach ei-
vorzuhalten, dass wir auch den Unterzeichnerstaat China ner interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausspra-
aufgeführt haben. Ansonsten war wenig Neues zu hören. che eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Koalitionsfraktionen haben auch heute darauf
verzichtet – im Nachgang zur letzten Debatte muss man Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
das allerdings noch einmal sagen –, darauf hinzuweisen, Dr. Stinner für die FDP-Fraktion.
dass sie finden, dass die Einbeziehung auch von Mitglie- (Beifall bei der FDP)
dern von Gemeindevertretungen nicht eingeführt werden
sollte. Das Motto war damals: Völkerrechtliche Verein-
Dr. Rainer Stinner (FDP):
barungen gelten für uns nur, wenn sie uns passen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dass wir uns selbst und der Sache keinen Als wir vor einem Jahr über dieses Mandat gesprochen
großen Gefallen tun, wenn wir jetzt bis in die letzte De- haben, hätte wohl niemand von uns im Traum daran ge-
tailfrage weiter einen Wettstreit führen. Es ist, glaube dacht, unter welch regionalpolitischem Kontext wir uns
ich, nötig, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch set- heute mit diesem Mandat beschäftigen müssen. Die Welt
zen. Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinsam in der Region hat sich dramatisch verändert, verändert
dafür sorgen, dass es endlich eine gesetzliche Regelung sich täglich aufs Neue. Natürlich müssen wir uns heute
gibt. bei der Debatte über das Mandat überlegen, ob denn
diese regionale Veränderung Auswirkungen auf die
(Beifall bei der LINKEN)
Ziele, den Inhalt und die Durchführung dieses Mandates
hat. Das haben wir sehr genau geprüft, und ich möchte
Vizepräsidentin Petra Pau: dazu einiges sagen.
Ich schließe die Aussprache.
Erstens ist klar, dass das UNIFIL-Mandat der Stabili-
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- sierung in der Region dient. Das wird von allen Anrai-
würfe auf den Drucksache 17/5933 und 17/5932 an die nern so gesehen. Alle Anrainer bitten uns inständig – ich
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- darf das hier so nachdrücklich sagen, liebe Kolleginnen
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das und Kollegen –, diese Aufgabe auch in Zukunft fortzu-
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. setzen, weil natürlich alle Anrainer verstehen, dass auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13073
Dr. Rainer Stinner
(A) im gegenwärtigen Kontext eine solch stabilisierende her damit befassen müssen, welche Auswirkungen das (C)
Funktion notwendig ist. hat. Welche Rolle die Hisbollah in Zukunft in der Regie-
rung haben wird und wie sie eventuell bestimmte Posi-
Wir haben im letzten Jahr eine Umorientierung und
tionen durchsetzen möchte, hat sicherlich Einfluss.
Neufokussierung des Mandates vorgenommen, weil wir
der Meinung waren, dass die Überwachung auf See nicht Aber auch die Situation in Syrien hat großen Einfluss
Daueraufgabe der deutschen Marine sein kann. Nein, es auf die Situation im Libanon. Es gibt in Syrien bis zum
muss auch hier darum gehen, dass wir Hilfe zur Selbst- heutigen Tage Kräfte, die der Meinung sind, dass Liba-
hilfe leisten. Wir haben bei der Neuorientierung des non eigentlich ein Teil von Syrien ist. Nach wie vor be-
Mandates im letzten Jahr den Schwerpunkt auf die Aus- steht in Syrien der Anspruch, nachhaltig Einfluss auf Li-
bildung der libanesischen Marine gelegt, damit wir die banon auszuüben.
Marine im Libanon schrittweise ermächtigen, die Auf-
Wir wissen nicht, wie die Entwicklung in Syrien aus-
gaben selbst wahrzunehmen, und wir dem Ziel nahe-
gehen wird. Ich darf aber sehr deutlich sagen: Nach mei-
kommen, auch dieses Mandat richtig gut abschließen zu
nem Dafürhalten ist auch das Regime von Herrn Assad
können.
in Syrien am Ende. Wir sind uns sicherlich alle einig in
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der sy-
der CDU/CSU) rischen Regierung gegen die eigenen Bürger.
Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt, wie wir alle wis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
sen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich durch bei Abgeordneten der SPD)
Besuche vor Ort ein Bild gemacht. Wir wissen, dass die
Das heißt, auch in Zukunft werden wir die Auswir-
libanesische Marine noch nicht so weit ist, aber daran
kungen der regionalen Veränderungen auf das Mandat
wollen wir weiter arbeiten.
betrachten und diese mit einbeziehen müssen. Nachdem
Zweitens haben wir uns – auch das ist wichtig – sehr wir die Schwerpunktsetzung geändert haben, möchten
nachhaltig für den Aufbau von zivilen Kapazitäten ein- wir sehr genau kontrollieren, ob auf Dauer ein solcher
gesetzt. Ich nenne den Aufbau von Radarstationen. Auch deutscher Einsatz notwendig ist. Das werden wir genau
das ist wichtig und richtig. Ich bin sehr dankbar, dass die prüfen.
Bundesregierung die Mittel hierfür bereitgestellt hat. Aber ich stelle abschließend eindeutig fest: Zum heu-
Wir wollen das auch in Zukunft tun.
tigen Zeitpunkt braucht die Region nach wie vor das sta-
UNIFIL ist ohne jeden Zweifel ein stabilisierendes bilisierende Instrument von UNIFIL. Zum heutigen Zeit-
Instrument, und zwar sowohl an Land als Puffer zwi- punkt ist unser Einsatz für die Ausbildung der
(B) schen Israel und den Hisbollah-Kräften als auch auf See. libanesischen Marine unabdingbar notwendig. Zum heu- (D)
Ich möchte noch einmal unseren Soldatinnen und Solda- tigen Zeitpunkt können wir uns zum Glück darauf beru-
ten ausdrücklich dafür danken – ich hoffe, auch in Ihrer fen, dass alle Anrainerstaaten das genauso sehen. Des-
aller Namen, meine Damen und Herren –, dass sie diese halb darf ich Ihnen sagen, dass ich es richtig finde, dass
Aufgabe für die Stabilität in der Region nachhaltig wahr- die Bundesregierung das Mandat vorlegt. Meine Frak-
nehmen. tion wird deswegen heute diesem Mandat zustimmen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schönen Dank.
der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Es hat sich nicht nur in der Region vieles geändert. der CDU/CSU)
Auch im Libanon hat sich in den letzten zwölf Monaten
einiges verändert. Mit Bedauern müssen wir feststellen, Vizepräsidentin Petra Pau:
dass bis zum heutigen Tage immer noch keine neue liba- Die Kollegin Evers-Meyer hat für die SPD-Fraktion
nesische Regierung steht. das Wort.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD)
NEN]: Das ist ja wie in Deutschland! Die steht
auch nicht!)
Karin Evers-Meyer (SPD):
Den alten Premierminister kannten wir. Herr Hariri Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
war kalkulierbar. Er war auch in Berlin zu Gast. Herr UNIFIL ist ein Einsatz der Bundeswehr, der regelmäßig
Miqati ist in der Warteschleife. Ich weiß nicht, was die von den Meldungen aus Afghanistan überlagert wird.
gestrigen Gespräche ergeben haben. Es hat gestern Deswegen spreche ich hier zuallererst im Namen meiner
Abend wohl ein Gespräch zwischen Miqati, Berri und Fraktion allen Soldatinnen und Soldaten und den zivilen
Aoun gegeben. Ich weiß nicht, was dabei herausgekom- Beschäftigten, die bei UNIFIL ihren Dienst leisten, un-
men ist. Wir können nur hoffen, dass es im Libanon bald seren Dank und unsere Anerkennung aus.
eine neue, möglichst stabile Regierung geben wird. Aber
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ich verhehle nicht, dass wir in den nächsten Monaten
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
sehr genau beobachten müssen, welche innenpolitischen
SES 90/DIE GRÜNEN)
Auswirkungen das im Libanon haben wird. Denn es
kann Einfluss auf unser Mandat haben. Wir werden uns Der Dank schließt auch die Familien ein, für die diese
spätestens in einem Jahr, vielleicht aber auch schon frü- langen Einsätze eine enorme Belastung sind. Wir schät-
13074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Karin Evers-Meyer
(A) zen ihre Arbeit vor Ort, und wir sind von der großen Be- bei der letzten Mandatsverlängerung schon gemacht. Sie (C)
deutung dieser Arbeit überzeugt. Deswegen werden wir wollen ihn offensichtlich mit dieser Verlängerung nicht
dem vorliegenden Mandat auch in diesem Jahr zustim- beseitigen.
men.
Das bedeutet aber, dass Deutschland bei diesem wich-
UNIFIL ist ein wichtiger Einsatz. Die Marine leistet tigen UN-Einsatz auf der Führungsebene nicht vertreten
dort gute Arbeit und sendet ein wichtiges Signal für Si- ist. Das muss man sich einmal vorstellen! Stattdessen
cherheit, Frieden und Stabilität in der Region. Die deut- übernehmen jetzt Länder wie Brasilien die Führungs-
schen Schiffe vor der Küste Libanons helfen mit, den rolle. Nicht, dass wir etwas gegen Brasilien hätten,
zerbrechlichen Frieden zu stabilisieren. Sie sind dort
willkommen, und zwar bei allen Beteiligten. Nicht zu- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
letzt deshalb waren wir immer davon überzeugt, dass
aber Brasilien schickt keine Schiffe ins Mittelmeer, da-
dieser Einsatz richtig und wichtig ist. für 20 Führungsoffiziere, die den Einsatz leiten. Bitte er-
Die Kernaufgabe des Mandats, also Waffenschmug- kläre mir einmal einer die deutsche Politik!
gel über See in den Libanon zu verhindern, bleibt ak-
tuell. Zwar wurden im vergangenen Jahr Fortschritte ge- Wenn Deutschland wirklich ein Interesse an diesem
macht – das Küstenradarsystem ist bis auf drei Einsatz hat und wenn es in den Vereinten Nationen eine
Radarstationen fertig –, aber die libanesische Marine ist bedeutendere Rolle spielen will, dann hätte sich bei
trotz aller Anstrengungen gerade auch unserer Marine UNIFIL und insbesondere bei dieser Mandatsverlänge-
vor Ort noch nicht in der Lage, ihre Aufgaben verläss- rung die Möglichkeit ergeben, unseren Anspruch kon-
lich selbst zu übernehmen. Wenn man die kleinen Schiff- kret umzusetzen. Das haben Sie verspielt. Warum, bleibt
chen sieht, die das Meer überwachen sollen, dann muss Ihr Geheimnis.
man schon sagen, dass wir uns ein wenig mehr anstren- Ich weiß nur, dass Sie damit Deutschlands Ansehen in
gen könnten. der Region eher schaden, und Sie schaden vor allen Din-
Ein zweiter wichtiger Punkt bei diesem Einsatz ist gen der Motivation unserer Soldaten vor Ort; denn sie
deshalb die Ausbildung der örtlichen Kräfte. Die Ver- haben kein Verständnis dafür, dass sich Deutschland an
stärkung der Anstrengungen bei der Ausbildung findet UNIFIL zwar beteiligt, aber keine Führung in dieser
unsere ausdrückliche Unterstützung. Eine gut ausgebil- Mission übernehmen will. Das ist Ihr politisches Ver-
dete libanesische Marine mit funktionierendem Material säumnis.
ist für uns ein zentrales Ziel, ohne das UNIFIL der ent- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So eine
scheidende Baustein für den nachhaltigen Erfolg fehlen Rede!)
(B) würde. (D)
Ich will hier einmal mehr sehr klar sagen, was mir
Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich der
wirklich Sorge bereitet – das geht vielen anderen in mei-
Nahe Osten stabilisiert. Das gilt angesichts der Verände-
ner Fraktion genauso –: Wir werden seit 2009 außenpoli-
rungen in Nordafrika, aber auch in Syrien heute mehr
tisch nicht gut vertreten.
denn je. Das hätte man auch noch etwas deutlicher, so
finde ich, in den Antrag schreiben können. Deutschland (Beifall des Abg. Fritz Rudolf Körper [SPD])
ist von allen Seiten, von Israel, vom Libanon und von
den Vereinten Nationen, aufgefordert worden, die Mis- Der Außenminister lässt auch nach knapp zwei Jahren
sion fortzusetzen. Das ist eine Bitte, die uns stolz ma- im Amt eine Linie vermissen. Es fehlt an Führung, es
chen sollte und die wir nicht abschlagen sollten. Sie fehlt an Entscheidungen und klaren Positionen. Schon
zeigt, dass wir, vertreten durch unsere Soldatinnen und hier bei UNIFIL, einem wirklich wichtigen, überschau-
Soldaten vor Ort, ein sehr hohes Ansehen genießen. Ein baren und unterstützenswerten Einsatz, fehlt es dem Au-
friedensstabilisierender Einsatz, der von allen Beteilig- ßenminister an jedweder Motivation. Herr Minister
ten ausdrücklich gewünscht wird, ist selten, und das soll- Westerwelle, Sie sind doch für dieses Mandat verant-
ten wir entsprechend würdigen. wortlich. Es wäre gut, wenn Sie neben schönen Bemer-
kungen über die Demokratisierung in der arabischen
Ungeachtet dieser eindeutigen Faktenlage kommen Welt einige handfeste Erklärungen dazu liefern könnten,
andere Kolleginnen und Kollegen aber zu einem anderen warum Deutschland bei UNIFIL so sehr hinter seinen
Ergebnis. Warum, verehrte Kolleginnen und Kollegen Möglichkeiten und Ansprüchen zurückbleibt.
von der FDP, versuchen Sie seit Beginn von UNIFIL,
diesen Einsatz zu verstecken? Sie tun das immer noch. Dieser Einsatz ist sinnvoll. Er wird von der interna-
Warum bleibt es bei der willkürlichen Mandatsober- tionalen Gemeinschaft getragen und vor Ort von allen
grenze von 300 Mann? Sie wissen doch: Das sind zu we- unterstützt. Dieser Einsatz verdient ein ernsthaftes Enga-
nige. Das reicht natürlich aus, um zwei Minenjagdboote gement der deutschen Regierung. Mit der Mandatsbe-
und ein Versorgungsschiff vor der libanesischen Küste grenzung auf 300 Soldatinnen und Soldaten setzen Sie
zu stationieren, aber – das wurde mir bei meinem Be- das falsche Signal. Es bleibt der Eindruck, auch bei un-
such im Libanon im vergangenen Jahr immer wieder be- seren Partnern, dass wir uns in der Region – das ist mir
stätigt – es reicht eben nicht, um eine Lead-Funktion in persönlich gesagt worden – nicht ernsthaft und nicht an
diesem friedensstabilisierenden Einsatz zu übernehmen. verantwortlicher Stelle einbringen möchten. Das ist be-
Dafür hätten wir nur 50 Soldatinnen und Soldaten mehr dauerlich; denn UNIFIL würde eine gute Möglichkeit
ins Mandat schreiben müssen. Diesen Fehler haben Sie dafür bieten. So bleibt uns nur die Hoffnung, dass in den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13075
Karin Evers-Meyer
(A) verbleibenden zwei Jahren etwas mehr außenpolitische Im Rahmen des vernetzten Ansatzes wird Deutsch- (C)
Weitsicht gezeigt wird. land auch künftig verstärkt den libanesischen Fähigkeits-
aufbau fördern. Hierzu gehören neben den Beteiligungen
Vielen Dank. am UNIFIL-Flottenverband auch politische, wirtschaft-
liche und sozioökonomische Maßnahmen. So beraten
(Beifall bei der SPD)
beispielsweise Experten der Bundespolizei und des Zolls
seit September 2006 die zuständigen libanesischen Be-
Vizepräsidentin Petra Pau: hörden in Fragen der Grenzsicherheit mit finanzieller
Das Wort hat der Kollege Hahn für die Unionsfrak- Unterstützung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes. Sie
tion. sind am Flughafen Beirut, an den Seehäfen und an der
Nordgrenze zu Syrien beratend tätig. Die Beratertätig-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und keit ist mit entsprechender Ausbildungs- und technischer
der FDP – Michael Groschek [SPD]: Das ist Ausstattungshilfe durch die Bundespolizei und den Zoll
der Bad-Reichenhall-Versteher!) verbunden.
Zum Wiederaufbau des im Sommer 2007 zerstörten
Florian Hahn (CDU/CSU): Flüchtlingslagers leistet die Bundesregierung aus Mit-
Ja, so ist es, Herr Kollege. – Sehr geehrte Frau Präsi- teln der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilen
dentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Anfangs Krisenprävention ebenfalls wesentliche Beiträge. Sie
hatte die UNIFIL-Mission zwei Ziele: zum einen die trägt dadurch zur Verbesserung der Lebensbedingungen
Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu über- der palästinensischen Flüchtlinge bei.
wachen und zum anderen den Wiederaufbau im Libanon Dies sind nur zwei Beispiele unserer vielschichtigen
abzusichern. Hierbei haben wir nachhaltige Erfolge er- und sehr erfolgreichen Hilfe.
zielt. Doch wir können und sollten nicht dauerhaft in der
Region präsent sein. Das haben wir auch so im Koali- Auch wenn von der Seeseite Waffenlieferungen
tionsvertrag festgelegt; der Kollege Stinner hat zu Recht merklich eingedämmt sind und der zivile Wiederaufbau
darauf hingewiesen. Wir müssen die aktuellen Entwick- vorangeht, können wir leider nicht von einer entspannten
lungen trotzdem weiterhin verantwortungsvoll beobach- Situation vor Ort sprechen. Denn seit Monaten gibt es
ten. keine stabile Regierung. Doch ein stabiler Libanon ist
für die Sicherheit Israels und der Gesamtregion maßgeb-
Um sukzessiv die Verantwortung in die Hände der li- lich und wichtig. Umso wichtiger ist es, dass Stabilität
banesischen Streitkräfte übergeben zu können, haben wir dauerhaft hergestellt wird. Die Unruhen in den letzten
(B) uns im letzten Jahr entschieden, unseren Schwerpunkt Monaten im Grenzgebiet zwischen Israel, Syrien und Li- (D)
auf die Ausbildung der Marine zu setzen. Hierbei konn- banon sind ein klares Zeichen dafür, wie angespannt die
ten wir bereits gute Fortschritte erzielen. Mein Dank gilt Lage noch ist. Wir wissen leider, dass diese auch plötz-
an dieser Stelle allen unseren Soldatinnen und Soldaten, lich eskalieren kann. UNIFIL hat einen wichtigen Bei-
die bislang dort ihren Dienst versehen haben. Die Er- trag dazu geleistet, dass die Situation nicht weiter ver-
folge, die wir für den Libanon und die gesamte Region schärft wurde.
erzielen konnten, sind auch ihre Erfolge. Für ihr künfti-
ges Wirken wünsche ich ihnen weiterhin Gottes Segen. Sowohl die libanesische als auch die israelische Re-
gierung haben ausdrücklich um die Aufrechterhaltung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des deutschen Engagements gebeten. Nur UNIFIL bietet
der FDP) einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte
Kontakte zur Klärung und Beilegung von Zwischenfäl-
Ich konnte mich bei meinem letzten Besuch im ver- len. So schätzen sowohl Israel als auch Libanon glei-
gangenen Jahr in persönlichen Gesprächen mit Soldatin- chermaßen die Rolle der Mission als bilateralen und re-
nen und Soldaten davon überzeugen, dass erstens die nö- gionalen Stabilitätsanker.
tige Motivation vorhanden ist und dass sie zweitens fest
daran glauben, dass unsere Hilfe zur Selbsthilfe an- Auch vonseiten der für friedenserhaltende Maßnah-
kommt und ein tragfähiges Konzept darstellt. Unser Er- men zuständigen Abteilung des Sekretariats der Verein-
folg zeigt sich auch darin, dass wir zu Beginn des Man- ten Nationen wurde großes Interesse an der Fortsetzung
dats eine personelle Obergrenze von 2 400 Soldaten der deutschen Beteiligung bei UNIFIL bekundet.
hatten und dass wir diesen Auftrag heute mit 300 Solda-
Daher bitte ich Sie alle um Zustimmung zur beantrag-
ten sehr gut wahrnehmen können.
ten Mandatsverlängerung.
Unser Ziel ist es, dass Libanon mittelfristig selbst- Herzlichen Dank.
ständig die Seegrenzen überwachen kann. Deutschlands
bilaterale Aufbau- und Ausrüstungshilfe hat Libanon be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reits befähigt, zumindest in Teilen die Überwachung der
Hoheitsgewässer selbst zu übernehmen. An dieser Stelle Vizepräsidentin Petra Pau:
appelliere ich aber auch an die Verantwortlichen im Li- Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke
banon, den Willen zur Verantwortungsübernahme zu zei- das Wort.
gen und das Ausbildungsangebot großzügig anzuneh-
men. (Beifall bei der LINKEN)
13076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Christine Buchholz (DIE LINKE): das Risiko, dass die UNO-Truppen in einen militäri- (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich schen Konflikt hineingezogen werden und deren Rolle
stimme Herrn Stinner zu: Der arabische Frühling bietet als ein von allen Seiten akzeptierter neutraler Partner
Chancen für den Frieden im Nahen Osten. Allerdings nicht mehr anerkannt wird. Im schlimmsten Fall wird die
glaube ich im Unterschied zur SPD, dass wir das nicht UNO zu einer Kriegspartei. Das lehnt die Linke prinzipi-
unterstützen, indem wir noch mehr Soldaten in die Re- ell ab.
gion schicken, sondern dass wir das unterstützen, indem (Beifall bei der LINKEN)
wir gar keine schicken.
Alle Erfahrungen zeigen, dass militärisches Vorgehen
(Beifall bei der LINKEN) keine Probleme löst. Im Gegenteil: Sobald die UNO den
Die Linke lehnt den UNIFIL-Einsatz ab. Boden der Unparteilichkeit verlässt, besteht zumindest
die Gefahr, dass sie zum Teil des Problems wird, statt
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE dass sie zur Lösung beiträgt. Deswegen möchte ich die
GRÜNEN]: Erstaunlich!) Kritik wiederholen, die die Linksfraktion bereits 2006 in
Ich möchte hier die wichtigsten Argumente dafür anfüh- der Debatte zum selben Thema formuliert hat – ich zi-
ren. tiere Lothar Bisky –:
Als Allererstes: Das Mandat ist nicht neutral. Mit dem Die vorherrschende Politik steckt mehr und mehr
Mandat wird zwar versucht, die Waffenlieferungen in Gedanken und materielle Ressourcen in militäri-
den Libanon zu unterbinden, aber gleichzeitig werden sche Konfliktbearbeitung. Das ist nicht der richtige
die ungehemmten Waffenlieferungen an Israel ignoriert. Weg.

Der Bundestag hat in den nächsten Wochen die Gele- (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/
genheit, diese Einseitigkeit zu beenden, indem er den CSU]: Das war schon damals falsch!)
Anträgen der Linken gegen alle Waffenlieferungen in Viertens. Die Konflikte zwischen Libanon und Israel
den Nahen Osten zustimmt. werden wohl nur dann nachhaltig gelöst werden können,
(Beifall bei der LINKEN) wenn es einen gerechten Frieden im Nahen Osten gibt.
Die Linke hat dafür Vorschläge unterbreitet. Einen Mili-
Auch wenn ich nach der heutigen Debatte pessimis- täreinsatz hingegen lehnen wir ab. Deswegen sagen wir
tisch bin, was die Position der anderen Parteien angeht, auch heute Nein zum UNIFIL-Mandat.
denken wir, dass das der richtige Weg ist. Wenn Sie dem
nicht zustimmen, ist unsere Position wieder einmal be- (Beifall bei der LINKEN)
(B) stätigt, dass Ihr Gerede davon, Frieden zu schaffen, (D)
nichts anderes als geheuchelt ist. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
(Beifall bei der LINKEN) legin Kerstin Müller das Wort.
Zweitens wurde 2006 das bisherige UNIFIL-Mandat
grundlegend erweitert, um die Einhaltung des Waffen- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stillstands in einer aktuell angespannten Situation nach NEN):
dem Libanon-Krieg zu überwachen. Aber nun sind die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Truppen bereits seit fünf Jahren dort, und es ist kein Liebe Frau Buchholz, Sie haben hier noch einmal die
Ende in Sicht. Alles sieht nach einer dauerhaften Statio- Tatsache beklagt, dass UNIFIL ein Kapitel-VII-Einsatz
nierung aus. Vielleicht war das ja auch ein Grund, wa- ist. Ich sage es einmal so: Die Vorstellung, dass ein
rum die FDP bis zu ihrem Eintritt in die Regierung eine Krieg zwischen Libanon und Israel, um den es im Jahr
kritische Position zum Mandat hatte und selbst in den 2006 ging, ohne einen Kapitel-VII-Einsatz hätte beendet
Koalitionsvertrag einen schrittweisen Ausstieg aus werden können, ist derart naiv, dass ich wirklich nicht
UNIFIL hineinverhandelt hatte. Davon ist leider heute weiß, wie Sie seriös mit dieser Argumentation hier auf-
nicht mehr viel zu spüren. treten können.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
GRÜNEN]: Stinner ist ja froh, dass es wieder bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
anders ist!)
Es geht also nicht um einen Kriegseinsatz, sondern da-
Ob man es sinnvoll findet oder nicht – ich persönlich rum, dass mit diesem Einsatz ein Krieg beendet wurde
finde es nicht sinnvoll –: Wenn es bei UNIFIL um einen und die Region so stabilisiert wird.
Beitrag zur Ausbildung der libanesischen Marine geht,
so gilt: Man kann auch bilaterale Vereinbarungen dazu Aus unserer Sicht gibt es mindestens drei Gründe,
treffen; dazu braucht man kein umfassendes robustes warum UNIFIL und die deutsche Beteiligung daran
Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. wichtig sind. Meine Fraktion wird daher mit sehr, sehr
großer Mehrheit zustimmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zuallererst hat diese Mission Bedeutung für die Stabi-
Drittens. UNIFIL ist ein Einsatz, wie gesagt, nach Ka- lität der Region. Die Umbrüche in der arabischen Welt
pitel VII der UN-Charta. Das schließt die Möglichkeit – sie wurden hier schon angesprochen – verändern die
militärischer Zwangsmaßnahmen ein. Dadurch entsteht Region tiefgreifend. Während die Demokratisierungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13077
Kerstin Müller (Köln)
(A) prozesse in Ägypten und Tunesien Fortschritte machen, Der letzte Punkt ist die angespannte Lage im Libanon (C)
eskaliert die Lage in anderen Ländern, vor allem in Sy- selbst; Herr Stinner hat es angesprochen. Vier Monate
rien, in dramatischer Weise. Man kann ja nicht über den nach dem Sturz Hariris gibt es immer noch keine neue
Libanon sprechen, ohne Syrien anzusprechen. Das As- Regierung. Hier zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt
sad-Regime geht mit unverminderter Gewalt gegen die von UNIFIL, nämlich dass die Seeseite zwar erfolgreich
Demonstranten vor. In den letzten Wochen wurden abgesichert wird, aber der Waffenschmuggel an der sy-
1 000 Zivilisten getötet, 10 000 Menschen inhaftiert. risch-libanesischen Grenze nicht verhindert werden kann
Viele von den Freunden, die wir dort kennen und mit de- und die Hisbollah massiv aufgerüstet wurde. Dadurch
nen wir zusammengearbeitet haben, sind im Gefängnis. fühlt sich Israel zu Recht bedroht. Wir müssen also wei-
Wir wissen nicht einmal, wo sie sind. Zugleich sind Tau- ter auf die Entwaffnung der Hisbollah drängen.
sende auf der Flucht. Wir konnten heute lesen, dass viele
aus Angst vor einem drohenden Massaker der Armee in Aus all diesen Gründen ist klar: UNIFIL ist ein Stabi-
Dschisr al-Schughur in die Türkei flüchten. Das ist eine litätsanker in einer fragilen Region. Deshalb darf man
schreckliche Bilanz. hier nicht lavieren. Wenn wir zu Frieden und Stabilität in
der Region beitragen wollen, dann braucht die Region
Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich, verlässliche Signale, und deshalb ist es vernünftig und
dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis heute richtig, dieses Mandat zu verlängern.
diese Gewalt nicht verurteilt.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Ich möchte von dieser Stelle aus wirklich an China und der SPD)
Russland appellieren: Bitte verhindern Sie zumindest
diese Resolution, die auf Initiative von Deutschland, Vizepräsidentin Petra Pau:
Frankreich und Portugal dem Sicherheitsrat noch einmal Das Wort hat der Kollege Gädechens für die Unions-
vorgelegt wird, nicht! Es muss zu einer Verurteilung fraktion.
kommen. Das Assad-Regime muss isoliert werden, da-
mit es baldmöglichst abtritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ingo Gädechens (CDU/CSU):
der SPD) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
(B) gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele ha- (D)
Ein Wandel in Syrien wird auch die gesellschaftlichen ben nach dem libanesisch-israelischen Krieg viel ver-
Verhältnisse im Libanon, etwa die Rolle der Hisbollah, sprochen; wenige haben ihre Versprechen gehalten.
und vermutlich das Gesicht der ganzen Region verän- Deutschland hat nicht nur Hilfe versprochen, sondern
dern. Auch deshalb hat der UN-Sonderkoordinator für nachhaltig Hilfe zur Selbsthilfe geleistet. Weite Teile der
den Libanon, Michael Williams, noch einmal ganz deut- libanesischen Bevölkerung nehmen das deutsche Enga-
lich gesagt: UNIFIL ist gerade in diesen außergewöhnli- gement dankbar zur Kenntnis. – Mit diesen Worten
chen Zeiten ein Stabilitätsfaktor in der Region und muss wurde in der letzen Woche eine Delegation von Mitglie-
unbedingt fortgesetzt werden. Recht hat er mit dieser dern des Verteidigungsausschusses, der auch ich ange-
Aussage. hörte, vom obersten libanesischen Admiral empfangen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Gründe, warum sich Deutschland im UNIFIL-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der Mandat engagiert, sind in diesem Hohen Hause seit 2006
SPD und der FDP) mehrfach diskutiert und beraten worden und sollten so-
mit hinlänglich bekannt sein. Gleichwohl gilt es, einmal
Zweitens. Die Stabilität des Libanon und der Region mehr festzustellen, dass unser Engagement nicht nur
– Sie haben das kurz gestreift, aber meiner Meinung wichtig, sondern tatsächlich auch effektiv ist und die ge-
nach falsch bewertet, Frau Buchholz – hängt eng mit der wünschte Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht.
Sicherheit Israels zusammen. Ich erinnere an die Unru-
hen am Nakba-Tag, der gerade begangen wurde. An die- Ich durfte mich davon überzeugen, dass die nahezu
sem Tag wurden bei Protesten von Palästinensern an den lückenlose Radarüberwachung in einem Radius von
Grenzen 14 Menschen getötet. Es ist auch der Präsenz 24 nautischen Meilen, also circa 45 Kilometer, vor der
von UNIFIL an der südlibanesischen Grenze zu verdan- libanesischen Küste funktioniert. Die von uns zur Verfü-
ken, dass die Situation nicht weiter eskaliert ist. Das ist gung gestellten Boote versetzen die sehr kleine, aber
auch ein Grund, weshalb der Libanon und Israel für die hochmotivierte und gut ausgebildete libanesische Ma-
Fortsetzung des Mandates und ausdrücklich für eine rine in die Lage, unidentifizierte Seeziele – jedenfalls
deutsche Beteiligung sind. Welche besseren Gründe teilweise – abzufangen und zu kontrollieren.
könnten es geben, das Mandat zu verlängern?
Dabei mutierte das ehemalige deutsche Sicherungs-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- boot „Bergen“ zum Flaggschiff der libanesischen Ma-
SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der rine. Ich war seinerzeit bei der Übergabe des Siche-
SPD und der FDP) rungsbootes an die libanesische Marine mit dabei
13078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ingo Gädechens
(A) gewesen und war freudig überrascht, in welch einwand- weil ich diesen Dank in der letzten Woche vielen Kame- (C)
freiem Zustand sich das Boot heute immer noch befindet radinnen und Kameraden gegenüber auf dem Schnell-
boot „Zobel“ und dem Tender „Mosel“ persönlich aus-
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Dank der guten
sprechen durfte.
Pflege!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und welch hohen Ausbildungsstand die Besatzungsmit-
glieder haben. Ich bitte Sie um Zustimmung zur Verlängerung des
UNIFIL-Mandats.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP) Herzlichen Dank.
Drei oder vier Boote reichen aber nicht aus, um ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
genüber Israel glaubhaft zu verdeutlichen, dass zumin-
dest die Seegrenze vor illegalem Waffenschmuggel ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schützt werden kann. Deshalb ist es zu begrüßen, dass Ich schließe die Aussprache.
die Bundesregierung den UNIFIL-Einsatz bis zum Juni
2012 verlängern möchte. Würden wir nämlich das Man- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
dat zum jetzigen Zeitpunkt beenden – beenden in einer empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
Zeit der Unruhe in weiten Teilen der arabischen Welt –, che 17/6133 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
würde Israel morgen die Seeblockade wieder aufleben Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
lassen. Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Leba-
non.
Die innenpolitische Situation im Libanon – wir hörten
es – scheint so zu sein, dass man sie auf den ersten Blick Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
als ruhig bewerten könnte. Die Lage ist allerdings weit 17/5864 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschluss-
davon entfernt, stabil zu sein. Das kontroverse Gespräch empfehlung namentlich ab. Ich bitte nun die Schriftfüh-
zwischen zwei libanesischen Abgeordneten machte die rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-
Situation deutlich: ein Land mit Verfassung, aber leider zunehmen.
immer noch ohne handelnde Regierung. Schlimmer
Sind an allen Urnen die dafür vorgesehenen Schrift-
noch: Wenn man die Skyline von Beirut sieht, blickt
führerinnen und Schriftführer? – Das ist der Fall. Ich er-
man auf eine prosperierende, pulsierende Metropole. Da
öffne die Abstimmung und bitte, die Karten einzuwer-
fragt man sich ganz automatisch, warum dieses Land
fen.
nicht in der Lage zu sein scheint, durch eigenes Steuer-
(B) aufkommen eine wirkungsvolle Küstenwache aufzu- Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten (D)
bauen. Die Antwort mag in der allgegenwärtigen Hisbol- eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann
lah liegen. Besonders nachdenklich kann man schon schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-
werden, wenn man in den Beiruter Sportboothafen rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
blickt, in dem mehr und größere Motorjachteinheiten lie- nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
gen als in dem daneben liegenden Marinehafen. UNIFIL Ihnen später bekannt gegeben.1)
kann das innenpolitische Dilemma nicht lösen, das Pro-
blem der mächtigen Hisbollah-Einflussnahme muss der Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
Staat Libanon eigenständig klären. ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6142. Wer stimmt für diesen Entschlie-
Die deutsche Präsenz durch UNIFIL bietet uns aber ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
noch eine ganz andere – für mich fast noch bedeutendere – Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
diplomatische Offerte. Das gewachsene Vertrauen und tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
die Hochachtung zwischen Israel und Deutschland, die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
Anerkennung und Hilfsbereitschaft zwischen Deutsch- nis 90/Die Grünen abgelehnt.
land und dem Libanon bringen uns in die exzellente di-
plomatische Mittlerposition, die von allerhöchstem Stel- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf:
lenwert ist. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich ver-
Sinnbildlich – das bekräftigten die deutsche Botschafte- antwortliches unternehmerisches Handeln ak-
rin und der kommandierende Kapitän der Marineeinhei- tiv unterstützen
ten – sei die deutsche Flagge am Heck des in exponierter – Drucksache 17/6087 –
Lage liegenden Tenders „Mosel“. Unsere Flagge als Überweisungsvorschlag:
Staatssymbol zeigt jedem Libanesen: Hier ist ein Land, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
das nicht nur redet, sondern uns auf dem Weg in eine Auswärtiger Ausschuss
hoffentlich bald bessere Zukunft unterstützt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die Entwicklung
im UNIFIL-Mandat hervorragende Arbeit leisten – er ist Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
hier heute schon mehrfach formuliert worden –, kann ich
mich nur anschließen, wiederholen muss ich ihn nicht, 1) Ergebnis Seite 13080 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13079
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich glaube, dass es ein ziemlicher Skandal ist, dass (C)
richts des Ausschusses für Menschenrechte und Libyen vor anderthalb Jahren als Mitglied in den Men-
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag schenrechtsrat gewählt worden ist. Ich glaube, das kann
der Fraktion der SPD und darf man nicht hinnehmen.
Die Chance zur Stärkung des UN-Menschen- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei
rechtsrates nutzen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
– Drucksachen 17/5482, 17/6078 –
Von uns ist daher zu begrüßen – das zeigt, dass es mög-
Berichterstattung: lich ist, in diesem Menschenrechtsrat zu arbeiten –, dass
Abgeordnete Ute Granold Libyen im März dieses Jahres mit der nötigen Zweidrit-
Christoph Strässer telmehrheit wieder aus dem Menschenrechtsrat entfernt
Marina Schuster wurde. Auch dies sollte man zur Kenntnis nehmen. Das
Katrin Werner gibt Anlass zu der Hoffnung, dass dieses Gremium vor
Tom Koenigs aktuellen Entwicklungen die Augen nicht verschließt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ich finde, an dieser Stelle muss man auch sehr deut-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- lich ein Manko der ständigen Geschäftsordnung dieses
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- Rates ansprechen, das darin besteht, dass es nicht ge-
schlossen. lingt, aktuelle Konflikte zum Thema zu machen. Man
muss sich wirklich Mühe geben – wir wissen das durch
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- den einen oder anderen Besuch des Menschenrechtsaus-
ner dem Kollegen Christoph Strässer von der SPD-Frak- schusses vor Ort –, um Bündnisse zu bilden, damit man
tion das Wort. bestimmte Punkte überhaupt auf die Tagesordnung brin-
gen kann. So finde ich es nicht nur unangenehm, sondern
(Beifall bei der SPD) sogar skandalös, dass sich der Menschenrechtsrat nach
Beendigung des Krieges in Sri Lanka geweigert hat, das
Christoph Strässer (SPD): Vorgehen der sri-lankischen Regierung gegen die Tami-
len überhaupt auch nur auf die Tagesordnung zu setzen,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der obwohl doch die ganze Welt weiß, dass dort massivste
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen feiert in die- Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind. Da-
sen Tagen Jubiläum: Er wird fünf Jahre alt. Er ist neben mit wird, wie ich meine, der Menschenrechtsrat seiner
(B) der Peacebuilding Commission eines der wenigen Er- (D)
Aufgabe nicht gerecht.
gebnisse des mit großem Eifer angestoßenen Prozesses
einer Reform der Vereinten Nationen insgesamt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In der Resolution, die vor fünf Jahren zur Gründung
des Menschenrechtsrats geführt hat, hieß es – ich zitiere –: Genauso finden wir es nicht wirklich hilfreich – ich
Die Generalversammlung beschließt, „dass die Tätigkeit glaube, auch da sind wir uns alle einig –, dass aktuelle
des Rates von den Grundsätzen der Universalität, der Probleme, die seit vielen Jahren virulent sind, zum Bei-
Unparteilichkeit, der Objektivität und der Nichtselektivi- spiel der Konflikt zwischen Darfur und dem Sudan,
tät, eines konstruktiven internationalen Dialogs und der nicht auf der Tagesordnung des Rates erscheinen. Ich
… Zusammenarbeit“ im Hinblick auf die Förderung und möchte daher die Aufforderung an die Bundesregierung
den Schutz aller Menschenrechte bestimmt wird. Ich richten, dass sie bei den Beratungen in der Generalver-
denke, wenn man nach fünf Jahren Bilanz zieht, inwie- sammlung in den nächsten Wochen und Monaten darauf
fern man diesem hohen Anspruch gerecht wurde, muss hinwirkt, dass die ständige Geschäftsordnung derart ge-
man feststellen – ich sage das etwas vorsichtig –, dass si- ändert wird, dass die Behandlung dieser Konflikte auf
cherlich nicht alle Erwartungen erfüllt wurden. die Tagesordnung gesetzt werden kann. Es kann nicht
sein, dass man immer darauf achten muss, dass aufgrund
Der Menschenrechtsrat ist die Nachfolgeorganisation der Blockbildungen im Menschenrechtsrat Mehrheits-
der Menschenrechtskommission. Diese Menschen- verhältnisse entstehen, die nicht akzeptabel sind. Ich
rechtskommission hat in den Jahren ihrer Arbeit vielerlei zitiere Manfred Nowak – keine Sorge, das ist kein
Kritik hinnehmen müssen, wie ich finde, zu Recht. Kri- Deutscher –, den österreichischen UNO-Sonderbericht-
tikpunkte waren unter anderem die Blockbildung und die erstatter für Folter, der noch vor zwei Jahren gesagt hat:
Tatsache, dass es nicht möglich war, aktuelle menschen- Eigentlich ist die Reform gelungen, aber wir müssen lei-
rechtliche Konflikte ernst zu nehmen und dort zu debat- der feststellen, dass in dem Rat die Staaten die Mehrheit
tieren. Die Etablierung des Menschenrechtsrats war der haben, in denen die Menschenrechte am intensivsten
Versuch, an diesen Umständen etwas zu ändern. Wenn verletzt werden. – Diese Feststellung – wie gesagt: nicht
man nun bilanziert, muss man, glaube ich, sagen, dass es von einem deutschen Politiker – sollte man ernst neh-
hinsichtlich der Arbeit des Rates einige Fortschritte ge- men. Deshalb richte ich an dieser Stelle noch einmal die
geben hat, es aber immer noch negative Punkte gibt. Aufforderung aus unserem Antrag an die Bundesregie-
Diese möchte ich vorweg bewerten. Sie zeigen auf, dass rung, möglichst dafür zu sorgen und dafür zu arbeiten,
noch viel zu tun ist. dass es zu einem anderen Wahlverfahren kommt und
13080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Christoph Strässer
(A) diese Blockabhängigkeit bald der Vergangenheit ange- (Beifall bei der SPD) (C)
hört.
Ich komme zum zweiten Antrag, den wir in den Aus-
(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] schüssen beraten. Im Menschenrechtsrat steht im Juli
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dieses Jahres der Bericht des Sonderbeauftragten der
Vereinten Nationen, John Ruggie, zum Thema „men-
Das zieht auch inhaltliche Probleme nach sich. Ich schenrechtliche Verantwortung von Unternehmen“ an.
will nur ein Beispiel nennen: die Entscheidung des Rates Der Menschenrechtsausschuss hat dieses Thema im letz-
zur sogenannten Diffamierung von Religionen. Diese ten halben Jahr zu seinem Schwerpunkt gemacht. Auch
Entscheidung ist durchgesetzt worden mit der Mehrheit hier lautet die Aufforderung, dieses Verfahren massiv zu
der Staaten der Islamischen Konferenz, die nur ein Ziel unterstützen, weil es sich mit einer Frage auseinander-
hat, nämlich, die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit setzt, die viel brisanter ist, als wir das alle vermuten.
in den Ländern, in denen auch der Islam kritisiert wird,
einzuschränken bzw. abzuschaffen und die Verhältnisse Ruggie versucht – leider unverbindlich –, eine lücken-
in den islamischen Staaten zur menschenrechtlichen lose Kontrolle von Produkten zu erreichen, die – aus wel-
Grundlage für das Verhalten in diesem Rat zu machen. chen Teilen der Welt auch immer – auf unsere Märkte
Das ist inakzeptabel, und auch solche Entscheidungen kommen. Damit soll nachgewiesen werden, dass Pro-
dürfen in dieser Form nicht im Menschenrechtsrat ge- dukte sauber sind und man sie empfehlen kann. Das be-
troffen werden. deutet auch für unsere Unternehmen einen Schutz. Diese
Form von Politik ist keine Belastung für den Standort,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP sondern ein positiver Standortfaktor. Die Menschen in
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) unserem Land wollen wissen, woher ein Produkt kommt.
Ist das ein Produkt aus einem Bürgerkriegsland? Ist das
Nichtsdestotrotz glaube ich, dass der Menschen- ein Produkt aus Usbekistan, wo, wie wir es gesehen ha-
rechtsrat einen qualitativen Fortschritt darstellt. Einer ben, bei der Baumwollproduktion Kinderarbeit nach wie
der wesentlichen Punkte, die ich ansprechen möchte, ist vor eine große Rolle spielt?
das sogenannte UPR-Verfahren – Universal Periodic
Review. Dies ist ein ständiges Überprüfungsverfahren, Ich glaube, wir sollten diese wirtschaftlichen und so-
in dem sich alle 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Na- zialen bzw. kulturellen Rechte massiv in den Vordergrund
tionen, also nicht nur die Mitgliedstaaten des Rates, im unserer Politik stellen. Deshalb geht die Aufforderung an
Abstand von vier Jahren im Hinblick auf die menschen- die Bundesregierung, diese Politik zu unterstützen und
rechtliche Situation bei sich überprüfen lassen müssen. für ein Folgemandat zu sorgen, sodass diese Prinzipien
Eingang in die alltägliche Arbeit finden.
(B) (D)
Das ist ein Fortschritt; denn man bekommt vor Ort
Wir können, sollen und dürfen uns Skandale wie den
– die Bundesregierung hat das, glaube ich, im Jahr 2009
aus Usbekistan geschilderten nicht leisten. Hierbei kann
in Genf gemacht – einen sehr intensiven Eindruck von
dieser Bericht von großem Nutzen sein. Deshalb bitte
der Situation in den jeweiligen Ländern. Daran sollte
ich Sie um Unterstützung und darum, auch in diesem
weiter gearbeitet werden. Wir fordern die Bundesregie-
Hohen Hause dafür zu werben, dass eine solche Politik
rung auf, dafür zu sorgen, dass dieses Instrument ge-
in Deutschland zur realen Praxis wird.
schärft wird und nicht nur einmal in vier Jahren ein Be-
richt vorgelegt wird. Wir erwarten daher, dass uns im Herzlichen Dank.
Jahr 2012 – zur Halbzeit des Berichtes der Bundesregie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
rung – ein Zwischenbericht vorgelegt wird, aus dem wir
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
ersehen können, ob die Empfehlungen, die an die Bun-
GRÜNEN)
desregierung gegeben wurden, befolgt werden. Wenn ja,
ist das gut; wenn nein, müssen wir schauen, warum das
nicht passiert ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-
Das alleine bringt uns weiter. Es macht unsere eigene nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
Glaubwürdigkeit in diesem Verfahren aus, nicht nur bei ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
den anderen auf die Einhaltung der Empfehlungen zu über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
achten, sondern auch bei uns selbst. Das wäre vorbild- schusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortset-
lich. Dass die Bundesregierung sich aus Kapazitätsgrün- zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
den bislang weigert, einen Zwischenbericht für das Jahr an der United Nations Interim Force in Lebanon“ be-
2012 zu erstellen, ist kein positives Beispiel für die Men- kannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt
schenrechtspolitik dieser Regierung und dieses Landes. 484, mit Nein haben gestimmt 80, Enthaltungen 7. Die
Das muss geändert werden. Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13081
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Endgültiges Ergebnis Josef Göppel Dr. Max Lehmer Johannes Selle (C)
Abgegebene Stimmen: 571; Peter Götz Paul Lehrieder Reinhold Sendker
davon Dr. Wolfgang Götzer Dr. Ursula von der Leyen Dr. Patrick Sensburg
Ute Granold Ingbert Liebing Bernd Siebert
ja: 484
Reinhard Grindel Matthias Lietz Thomas Silberhorn
nein: 80 Hermann Gröhe Dr. Carsten Linnemann Johannes Singhammer
enthalten: 7 Michael Grosse-Brömer Patricia Lips Jens Spahn
Markus Grübel Dr. Jan-Marco Luczak Carola Stauche
Ja Manfred Grund Dr. Michael Luther Dr. Frank Steffel
Monika Grütters Karin Maag Erika Steinbach
CDU/CSU Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Christian Freiherr von Stetten
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Dieter Stier
Ilse Aigner Dr. Stephan Harbarth Andreas Mattfeldt Gero Storjohann
Peter Altmaier Jürgen Hardt Stephan Mayer (Altötting) Stephan Stracke
Peter Aumer Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Meister Max Straubinger
Dorothee Bär Dr. Matthias Heider Maria Michalk Karin Strenz
Thomas Bareiß Helmut Heiderich Dr. h. c. Hans Michelbach Thomas Strobl (Heilbronn)
Norbert Barthle Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Lena Strothmann
Günter Baumann Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Michael Stübgen
Ernst-Reinhard Beck Frank Heinrich Dietrich Monstadt Dr. Peter Tauber
(Reutlingen) Michael Hennrich Antje Tillmann
Marlene Mortler
Manfred Behrens (Börde) Dr. Hans-Peter Uhl
Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller
Veronika Bellmann Arnold Vaatz
Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Christoph Bergner Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Ernst Hinsken Dr. Philipp Murmann
Peter Beyer Stefanie Vogelsang
Peter Hintze Bernd Neumann (Bremen)
Steffen Bilger Andrea Astrid Voßhoff
Christian Hirte Michaela Noll
Clemens Binninger Dr. Johann Wadephul
Robert Hochbaum Dr. Georg Nüßlein
Peter Bleser Marco Wanderwitz
Karl Holmeier Franz Obermeier
Dr. Maria Böhmer Kai Wegner
Franz-Josef Holzenkamp Eduard Oswald
Wolfgang Börnsen Marcus Weinberg (Hamburg)
(Bönstrup) Joachim Hörster Dr. Michael Paul
Anette Hübinger Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen)
Wolfgang Bosbach Sabine Weiss (Wesel I)
Norbert Brackmann Thomas Jarzombek Ulrich Petzold
Dieter Jasper Dr. Joachim Pfeiffer Ingo Wellenreuther
Klaus Brähmig Karl-Georg Wellmann
Michael Brand Dr. Franz Josef Jung Sibylle Pfeiffer
Dr. Egon Jüttner Beatrix Philipp Peter Wichtel
(B) Dr. Reinhard Brandl Klaus-Peter Willsch
(D)
Helmut Brandt Bartholomäus Kalb Ronald Pofalla
Hans-Werner Kammer Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier-
Dr. Ralf Brauksiepe Becker
Dr. Helge Braun Steffen Kampeter Ruprecht Polenz
Alois Karl Eckhard Pols Dr. Matthias Zimmer
Heike Brehmer Wolfgang Zöller
Ralph Brinkhaus Bernhard Kaster Thomas Rachel
Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Peter Ramsauer Willi Zylajew
Cajus Caesar
Gitta Connemann Schwenningen) Eckhardt Rehberg
Volker Kauder Katherina Reiche (Potsdam) SPD
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger Dr. Stefan Kaufmann Lothar Riebsamen Ingrid Arndt-Brauer
Marie-Luise Dött Roderich Kiesewetter Josef Rief Rainer Arnold
Dr. Thomas Feist Eckart von Klaeden Klaus Riegert Heinz-Joachim Barchmann
Enak Ferlemann Ewa Klamt Dr. Heinz Riesenhuber Doris Barnett
Ingrid Fischbach Volkmar Klein Johannes Röring Dr. Hans-Peter Bartels
Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Sören Bartol
Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig Dr. Christian Ruck Bärbel Bas
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jens Koeppen Erwin Rüddel Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Land) Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Dirk Becker
Dr. Maria Flachsbarth Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Uwe Beckmeyer
Klaus-Peter Flosbach Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Gerd Bollmann
Herbert Frankenhauser Thomas Kossendey Dr. Annette Schavan Klaus Brandner
Dr. Hans-Peter Friedrich Michael Kretschmer Dr. Andreas Scheuer Bernhard Brinkmann
(Hof) Gunther Krichbaum Karl Schiewerling (Hildesheim)
Michael Frieser Dr. Günter Krings Norbert Schindler Edelgard Bulmahn
Erich G. Fritz Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Marco Bülow
Dr. Michael Fuchs Bettina Kudla Christian Schmidt (Fürth) Ulla Burchardt
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder Martin Burkert
Alexander Funk Günter Lach Dr. Andreas Schockenhoff Petra Crone
Ingo Gädechens Dr. Karl A. Lamers Nadine Schön (St. Wendel) Martin Dörmann
Dr. Thomas Gebhart (Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Elvira Drobinski-Weiß
Norbert Geis Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Garrelt Duin
Alois Gerig Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Sebastian Edathy
Eberhard Gienger Katharina Landgraf Rhein) Ingo Egloff
Michael Glos Ulrich Lange Detlef Seif Siegmund Ehrmann
13082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Dr. h. c. Gernot Erler Marlene Rupprecht Birgit Homburger Harald Ebner (C)
Petra Ernstberger (Tuchenbach) Dr. Werner Hoyer Hans-Josef Fell
Karin Evers-Meyer Anton Schaaf Heiner Kamp Dr. Thomas Gambke
Elke Ferner Axel Schäfer (Bochum) Michael Kauch Kai Gehring
Gabriele Fograscher Bernd Scheelen Dr. Lutz Knopek Katrin Göring-Eckardt
Dagmar Freitag Marianne Schieder Pascal Kober Britta Haßelmann
Sigmar Gabriel (Schwandorf) Dr. Heinrich L. Kolb Bettina Herlitzius
Michael Gerdes Werner Schieder (Weiden) Sebastian Körber Priska Hinz (Herborn)
Martin Gerster Ulla Schmidt (Aachen) Holger Krestel Bärbel Höhn
Günter Gloser Silvia Schmidt (Eisleben) Patrick Kurth (Kyffhäuser) Ingrid Hönlinger
Ulrike Gottschalck Carsten Schneider (Erfurt) Heinz Lanfermann Thilo Hoppe
Angelika Graf (Rosenheim) Ottmar Schreiner Sibylle Laurischk Katja Keul
Kerstin Griese Swen Schulz (Spandau) Harald Leibrecht Memet Kilic
Michael Groschek Ewald Schurer Sabine Leutheusser- Sven-Christian Kindler
Hans-Joachim Hacker Frank Schwabe Schnarrenberger Ute Koczy
Bettina Hagedorn Dr. Martin Schwanholz Lars Lindemann Tom Koenigs
Klaus Hagemann Rolf Schwanitz Christian Lindner Oliver Krischer
Hubertus Heil (Peine) Stefan Schwartze Dr. Martin Lindner (Berlin) Agnes Krumwiede
Rolf Hempelmann Rita Schwarzelühr-Sutter Michael Link (Heilbronn) Stephan Kühn
Dr. Barbara Hendricks Dr. Carsten Sieling Oliver Luksic Markus Kurth
Sonja Steffen Horst Meierhofer Undine Kurth (Quedlinburg)
Gustav Herzog
Peer Steinbrück Patrick Meinhardt Tobias Lindner
Frank Hofmann (Volkach)
Dr. Frank-Walter Steinmeier Gabriele Molitor Nicole Maisch
Dr. Eva Högl
Christoph Strässer Jan Mücke Agnes Malczak
Christel Humme
Kerstin Tack Petra Müller (Aachen) Jerzy Montag
Josip Juratovic
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Burkhardt Müller-Sönksen Kerstin Müller (Köln)
Oliver Kaczmarek Ute Vogt Dr. Martin Neumann
Johannes Kahrs Ingrid Nestle
Dr. Marlies Volkmer (Lausitz) Dr. Konstantin von Notz
Dr. h. c. Susanne Kastner Andrea Wicklein Dirk Niebel
Ulrich Kelber Friedrich Ostendorff
Heidemarie Wieczorek-Zeul Cornelia Pieper Dr. Hermann Ott
Hans-Ulrich Klose Dr. Dieter Wiefelspütz Gisela Piltz
Dr. Bärbel Kofler Brigitte Pothmer
Uta Zapf Dr. Christiane Ratjen- Tabea Rößner
Daniela Kolbe (Leipzig) Dagmar Ziegler Damerau
Fritz Rudolf Körper Claudia Roth (Augsburg)
Manfred Zöllmer Dr. Birgit Reinemund Krista Sager
(B) Angelika Krüger-Leißner Brigitte Zypries Dr. Peter Röhlinger (D)
Ute Kumpf Manuel Sarrazin
Dr. Stefan Ruppert
Christine Lambrecht Elisabeth Scharfenberg
FDP Björn Sänger
Christian Lange (Backnang) Christine Scheel
Christoph Schnurr
Dr. Karl Lauterbach Jens Ackermann Dr. Gerhard Schick
Jimmy Schulz
Steffen-Claudio Lemme Christian Ahrendt Dr. Frithjof Schmidt
Marina Schuster
Burkhard Lischka Christine Aschenberg- Dorothea Steiner
Dr. Erik Schweickert
Dugnus Markus Tressel
Gabriele Lösekrug-Möller Werner Simmling
Daniel Bahr (Münster) Jürgen Trittin
Kirsten Lühmann Judith Skudelny
Florian Bernschneider Daniela Wagner
Caren Marks Dr. Hermann Otto Solms
Sebastian Blumenthal Wolfgang Wieland
Katja Mast Joachim Spatz
Claudia Bögel Dr. Valerie Wilms
Petra Merkel (Berlin) Torsten Staffeldt
Nicole Bracht-Bendt Josef Philip Winkler
Ullrich Meßmer Dr. Rainer Stinner
Klaus Breil
Dr. Matthias Miersch Stephan Thomae
Rainer Brüderle
Franz Müntefering Angelika Brunkhorst
Florian Toncar Nein
Dr. Rolf Mützenich Serkan Tören
Ernst Burgbacher
Dietmar Nietan Johannes Vogel SPD
Marco Buschmann
Thomas Oppermann (Lüdenscheid)
Sylvia Canel Klaus Barthel
Holger Ortel Dr. Daniel Volk
Reiner Deutschmann Willi Brase
Heinz Paula Dr. Guido Westerwelle
Dr. Bijan Djir-Sarai Michael Groß
Johannes Pflug Dr. Claudia Winterstein
Patrick Döring Gabriele Hiller-Ohm
Joachim Poß Dr. Volker Wissing
Mechthild Dyckmans Petra Hinz (Essen)
Dr. Wilhelm Priesmeier Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Rainer Erdel Hilde Mattheis
Florian Pronold Jörg van Essen Rüdiger Veit
Dr. Sascha Raabe BÜNDNIS 90/
Ulrike Flach Waltraud Wolff
Mechthild Rawert DIE GRÜNEN
Otto Fricke (Wolmirstedt)
Stefan Rebmann Dr. Edmund Peter Geisen Marieluise Beck (Bremen)
Dr. Carola Reimann Dr. Wolfgang Gerhardt Volker Beck (Köln) FDP
Sönke Rix Heinz Golombeck Cornelia Behm
René Röspel Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Christel Happach-Kasan Birgitt Bender
Dr. Ernst Dieter Rossmann Heinz-Peter Haustein Viola von Cramon-Taubadel
DIE LINKE
Karin Roth (Esslingen) Manuel Höferlin Ekin Deligöz
Michael Roth (Heringen) Elke Hoff Katja Dörner Jan van Aken
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13083
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Agnes Alpers Dr. Rosemarie Hein Jens Petermann BÜNDNIS 90/ (C)
Dr. Dietmar Bartsch Dr. Barbara Höll Richard Pitterle DIE GRÜNEN
Herbert Behrens Andrej Hunko Yvonne Ploetz Uwe Kekeritz
Karin Binder Ulla Jelpke Ingrid Remmers Monika Lazar
Matthias W. Birkwald Dr. Lukrezia Jochimsen Paul Schäfer (Köln) Till Seiler
Heidrun Bluhm Katja Kipping Dr. Ilja Seifert Hans-Christian Ströbele
Steffen Bockhahn Harald Koch Kathrin Senger-Schäfer Dr. Harald Terpe
Christine Buchholz Jan Korte Raju Sharma
Eva Bulling-Schröter Jutta Krellmann Dr. Petra Sitte Enthalten
Dr. Martina Bunge Katrin Kunert
Kersten Steinke
Roland Claus Caren Lay FDP
Sabine Stüber
Sevim Dağdelen Sabine Leidig Helga Daub
Alexander Süßmair
Dr. Diether Dehm Ralph Lenkert Joachim Günther (Plauen)
Heidrun Dittrich Stefan Liebich Dr. Kirsten Tackmann
Werner Dreibus Ulla Lötzer Frank Tempel BÜNDNIS 90/
Dr. Dagmar Enkelmann Thomas Lutze Alexander Ulrich DIE GRÜNEN
Wolfgang Gehrcke Ulrich Maurer Kathrin Vogler
Dr. Anton Hofreiter
Nicole Gohlke Dorothee Menzner Johanna Voß Sylvia Kotting-Uhl
Diana Golze Cornelia Möhring Sahra Wagenknecht Beate Müller-Gemmeke
Annette Groth Niema Movassat Halina Wawzyniak Lisa Paus
Dr. Gregor Gysi Wolfgang Nešković Katrin Werner Dr. Wolfgang Strengmann-
Heike Hänsel Petra Pau Jörn Wunderlich Kuhn

Jetzt kommen wir zum nächsten Redner. Das ist der dass wir den auf dem deutschen Markt arbeitenden Unter-
Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion. nehmen in die Produktionsländer folgen. Unzumutbare
Bedingungen, die diese Unternehmen dort verantworten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dürfen wir nicht hinnehmen. Die Möglichkeiten, hier Ver-
besserungen zu schaffen, sind sehr vielfältig. Ich möchte
Jürgen Klimke (CDU/CSU): zunächst einmal die Eigenverantwortung der Unterneh-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men nennen. Ein geändertes gesellschaftliches Bewusst-
Meine Damen und Herren! Ich schließe an das an, was sein, aber auch eigene Erkenntnisse haben zu Corporate-
(B) der Kollege Strässer am Schluss angesprochen hat, näm- Social-Responsibility-Aktivitäten vieler Unternehmen (D)
lich das Thema „menschenrechtliche Unternehmensver- geführt, bei manchen eher als Feigenblatt, bei anderen als
antwortung in Entwicklungsländern“. Das fällt nicht nur echter Bestandteil der Firmenphilosophie.
in meine Zuständigkeit, sondern es ist vor allem eine
Herzensangelegenheit von mir. Zu denen, für die das Teil der Firmenphilosophie ist,
gehört die Otto AG mit Sitz in meinem Wahlkreis, deren
Ich bin der Auffassung, dass positive Veränderungen Engagement vor wenigen Tagen durch die Verleihung
zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechts- des Walter-Scheel-Preises an Dr. Michael Otto gewür-
situation in den Entwicklungsländern führen können. digt worden ist. Das zeigt, dass sich Aktivitäten im soge-
Das bedeutet natürlich umgekehrt auch, dass es hier viel nannten Social Business für Unternehmen zumindest
Nachholbedarf gibt. Wichtig bei der Unternehmensver- langfristig auszahlen. Ich glaube, dass die Firmen, die
antwortung ist, dass sowohl die Unternehmen und deren nur auf Quartalszahlen schauen, eine gesellschaftliche
Organisationen als auch die nationale und die internatio- Entwicklung verschlafen, was sie in der Zukunft teuer zu
nale Politik sich dieses Themas annehmen müssen. stehen kommen kann.
Aber auch der Verbraucher kann ganz aktiv mit sei-
nen Kaufentscheidungen eingreifen. Die Medien sind (Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD])
ebenfalls entscheidend, die Missstände vor Ort aufde- Gleichwohl gibt es natürlich Unternehmen, die zum
cken und Verbraucher informieren sollten. Das gab es in Beispiel Textilien in Bangladesch unter Bedingungen
der Vergangenheit häufiger. herstellen lassen, die nicht einmal die Mindestanforde-
Sie können die Widersprüche zwischen der Selbstdar- rungen an Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllen.
stellung der Unternehmen und der Wirklichkeit in den Wir wollen hier nicht auf Einsicht warten, sondern wir
Produktionsländern aufdecken. Es ist eine Konsequenz müssen aktiv für Veränderungen eintreten. Die stärkste
der globalisierten Welt, dass Produkte für unseren Markt Waffe wäre ein Verbraucherboykott; aber das ist eigent-
weit entfernt produziert werden, vor allem in Staaten mit lich nur das letzte Mittel.
einem niedrigen Lohnniveau; das ist völlig legitim.
Grundsätzlich setze ich mich für bessere Verbraucher-
Problematisch ist, dass Arbeits-, Sicherheits- und Um- informationen ein, damit der Verbraucher ein Bewusst-
weltstandards in den Entwicklungsländern ein ganz ande- sein für die Herstellungsbedingungen eines Produktes
res Niveau haben und teilweise nur in der Theorie den entwickeln kann. Das kann zum Beispiel bei der Textil-
Vorstellungen, die wir von ihnen haben, entsprechen. produktion durch ein zumindest EU-weites Label mit
Deshalb ist es eine notwendige Folge der Globalisierung, dem Titel „Socially made“ geschehen. Das heißt, der
13084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Jürgen Klimke
(A) Verbraucher kann nachvollziehen: Dieses T-Shirt ist un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
ter vernünftigen sozialen Bedingungen hergestellt wor- neten der SPD und der FDP)
den.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der
Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards von Fraktion Die Linke.
Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt
sein. Wir haben ja auch Beispiele für solche Siegel. Ich (Beifall bei der LINKEN)
denke an Bio, an MSC und Fairtrade.
Annette Groth (DIE LINKE):
Unternehmen, die in den Produktionsländern diese Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
höheren Standards erfüllen, können damit werben und Auch ich schließe mich dem Herrn Kollegen Klimke an
den Verbraucher informieren, dass er sozial verantwor- und möchte in erster Linie über die oft menschenrechts-
tungsvoll einkauft und ökologisch nachhaltig handelt, verletzenden Praktiken von Unternehmen sprechen; etli-
wenn er sich für ihre Produkte entscheidet. Umgekehrt che Beispiele haben Sie schon benannt.
werden Unternehmen Probleme bekommen, die teure
Markensachen in Deutschland verkaufen, aber in Bang- Durch die Liberalisierung des Welthandels ist die
ladesch oder anderswo nicht einmal die Mindeststan- Macht der internationalen Konzerne immer weiter ange-
dards im sozialen Bereich erfüllen. Wir schließen damit wachsen; das bestreitet niemand mehr. Viele der großen
also eine wichtige Lücke. Deshalb freue ich mich, wenn börsennotierten transnationalen Konzerne erzielen Jah-
möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auch aus den resumsätze, die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer
anderen Fraktionen diese Idee aufgreifen. Staaten deutlich überschreiten. Aufgrund ihrer Markt-
macht diktieren Unternehmen den Zulieferbetrieben in
Im Bereich der Unternehmensverantwortung ist es den verschiedenen Regionen der Welt ihre Forderungen.
meist so, dass nationale Alleingänge in unserer globali- Mit der Drohung, Arbeitsplätze zu verlagern, setzen sie
sierten Welt nicht weiterführen. Wir benötigen deshalb gegenüber den Staaten ihre Profitinteressen durch. Um-
internationale Grundlagen und Vereinbarungen, am bes- welt- und Sozialstandards sowie Menschenrechte spielen
ten unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ich bin froh, dabei leider keine Rolle. Die reichsten 20 Prozent der
dass es gelungen ist, UN-Leitlinien für menschenrecht- Bevölkerung verfügen heute über mehr als 70 Prozent
lich verantwortliches unternehmerisches Handeln als ei- des globalen Reichtums. Fast 80 Prozent der Weltbevöl-
nen Global Compact zu entwickeln. Wir als Union sehen kerung haben keinen Zugang zu elementarem sozialen
uns in der Verantwortung, diese Leitlinien der Vereinten Schutz.
(B) Nationen zu unterstützen. Aktuell macht das auch die (D)
OECD. Wir machen das, indem wir zum Beispiel den Juan Somavia, der Generaldirektor der Internationa-
Global Compact aus dem Etat des Entwicklungsministe- len Arbeitsorganisation, der ILO, betonte kürzlich, dass
riums mit 250 000 Euro unterstützen. das Vertrauen der Menschen in Politik und Wirtschaft ei-
nen historischen Tiefststand erreicht habe. Die Fraktion
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Anmer- Die Linke fordert seit vielen Jahren verbindliche und
kungen zu Ihrem Antrag machen, Herr Strässer. Sank- konkrete Mindeststandards für international arbeitende
tionsbewehrte Menschenrechtsklauseln in Freihandels- Konzerne.
abkommen der EU haben Sie, als Sie noch in der
Regierung waren, immer abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN)
Wenn das nicht gelingt, wird sich die Situation der Ar-
(Christoph Strässer [SPD]: Ja!)
men noch weiter verschlechtern.
Jetzt fordern Sie diese. Welch wundersamer Gesinnungs- Beispiel Kakao. Weltweit bauen rund 5,5 Millionen
wandel! Im Übrigen ist die Erfüllung dieser Forderung Kleinbauern Kakao an; er ist ein wesentlicher Bestandteil
bereits auf einem guten Wege. unserer Schokolade. Unsichere Einkommen, schlechte
Zweitens wollen Sie alle Unternehmen auf die Ein- Arbeitsbedingungen sowie Kinderarbeit sind in diesem
haltung der Menschenrechte in allen Tochter- und Zulie- Sektor weit verbreitet. In der Elfenbeinküste arbeiteten
ferunternehmen verpflichten. Ich halte das für ein biss- im Jahr 2009 rund 820 000 Kinder in der Kakaobranche –
chen blauäugig. Wie wollen Sie diese Forderung vor ein Skandal.
allen Dingen in den Entwicklungsländern durchsetzen (Beifall bei der LINKEN)
und ganz konkret erfüllen? Ich glaube, das ist sehr
schwierig, wenn auch der Anspruch sicherlich sinnvoll In den Anbauregionen der Elfenbeinküste haben 72 Pro-
ist. zent der Dörfer keinen Zugang zu einer Gesundheitsver-
sorgung, 53 Prozent keinen Stromanschluss und ledig-
Festzuhalten ist, dass wir gemeinsam die UN-Leitli- lich 40 Prozent einen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
nien als zielführende Strategie zur Verbesserung der
menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen Weltweit hungert inzwischen mehr als 1 Milliarde
ansehen. Ich glaube, darauf gilt es in Zukunft aufzu- Menschen. Wenn die Politik nicht umgehend handelt,
bauen. werden die Nahrungsmittelpreise weiter steigen. Von
diesen Preissteigerungen werden einige wenige Agro-
Danke sehr. konzerne wie Cargill, Bunge, ADM und Dreyfus in gro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13085
Annette Groth
(A) ßem Maßstab profitieren. Diese vier Konzerne kontrol- müssen wir bezogen auf die bisherigen Ergebnisse auch (C)
lieren 73 Prozent des Weltgetreidehandels und haben einmal Bilanz ziehen: Es gibt Erfolge, aber leider auch
damit eine unglaubliche Macht über unsere Lebensmittel Rückschläge. Zum einen ist es nicht gelungen, gute Vor-
und Nahrung. Auch die Förderung der Agrospritindus- schläge, die auch vonseiten der NGOs kamen, einzu-
trie, die Milliardensubventionen bekommt, um Nah- bauen; andererseits konnte verhindert werden, dass zum
rungsmittel in Tankfüllungen zu verwandeln, trägt mas- Beispiel das Mandat der Sonderberichterstatter abge-
siv zur Verschlechterung der Lage der Ärmsten bei. schwächt wird. Insofern liegen jetzt viele Hoffnungen
auf der Generalversammlung in New York. Ich bin sehr
Die Agrarkonzerne kontrollieren die Lieferketten und
froh, dass sich die Bundesregierung sowohl in Genf als
beherrschen die Märkte; auch Sie haben darauf hinge-
auch in New York aktiv einbringt, um das Ergebnis des
wiesen. Gleichzeitig zocken Finanzspekulanten mit
Review-Prozesses zu verbessern; denn wir sind ein gro-
Nahrungsmitteln, um schnell Kasse zu machen. Auch
ßer Unterstützer, und es ist wichtig, dass wir andere
die Spekulationen sind für steigende Lebensmittelpreise
Staaten finden, die sich diesem Reformprozess anschlie-
verantwortlich. Sie stellen damit einen Angriff auf eines
ßen.
der grundlegenden Menschenrechte dar: auf das Recht,
sich selbstständig und angemessen ernähren zu können. Der Reformprozess darf nicht stoppen. Es gibt noch
Diesem unerträglichen Treiben muss durch verbindliche einiges, was an der Struktur des Menschenrechtsrates
Regeln ein Ende gemacht werden. verbessert werden kann, zum Beispiel die Glaubwürdig-
(Beifall bei der LINKEN) keit. Sie steht und fällt damit, wie schnell und effektiv
der Menschenrechtsrat auf schwere Menschenrechtsver-
Ich fürchte nur, dass die allseits bekannten und zitier- letzungen reagiert. Da gibt es gute Beispiele, wie im Fall
ten UN-Leitlinien nicht dazu beitragen werden, die men- von Libyen. Der Ausschluss Libyens ist gelungen, weil
schenrechtsverletzenden Praktiken der transnationalen der libysche Botschafter vor Ort aktiv daran mitgewirkt
Konzerne einzudämmen. In diesem Zusammenhang hat und es hier zu einer klaren Stellungnahme des Men-
möchte ich Oxfam zitieren: schenrechtsrates kam. Es gibt aber auch schlechte Bei-
Die Politik hat auf diesem Feld im Großen und spiele – Herr Strässer hat es erwähnt – wie Darfur und
Ganzen versagt. Die meisten Regierungen sahen Sri Lanka. Hier blieben die Debatten aus, und eindeutige
untätig zu, wie die großen Agrarkonzerne immer Resolutionen kamen nicht zustande.
mehr Einfluss gewannen und die Landwirtschafts- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
politik zunehmend mitgestalteten. Die Regierungen
haben Wirtschaftsinteressen Vorschub geleistet und Das Problem ist, dass wir feststellen müssen, dass
(B) den Missbrauch öffentlicher Mittel für private Zwe- Blockbildungen, die regionale Zugehörigkeit, aber auch (D)
cke zugelassen. Es wurde darauf verzichtet, effek- nationale Interessen manchmal mehr zählen als die
tive Regeln zur Kontrolle der mächtigen Unterneh- Grundsätze der Universalität der Menschenrechte.
men zu beschließen.
Oft wird verhindert, dass zu humanitären Katastro-
Deshalb wollen wir verbindliche, effektive Regeln, phen Stellung genommen wird. Dafür sind andere The-
die in einem international gültigen völkerrechtlichen men ständig auf der Tagesordnung. Ich möchte nur ein
Vertrag festgeschrieben werden müssen. Konzerne, die Beispiel nennen, nämlich den Nahostkonflikt. Ich
diese Regeln brechen, müssen dafür zur Rechenschaft möchte nur eine Zahl zur Veranschaulichung nennen: Im
gezogen und bestraft werden. Jahr 2007 hat sich der Menschenrechtsrat 120-mal mit
Danke schön. der Situation in Nahost beschäftigt. Aber keine der Re-
solutionen beinhaltete kritische Stellungnahmen zu den
(Beifall bei der LINKEN) Menschenrechtsverletzungen der Palästinenser; es waren
ausschließlich israelkritische Stellungnahmen. Insofern
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können wir mit dieser Bilanz des Menschenrechtsrates
Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster von der nicht zufrieden sein.
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der SPD)
Marina Schuster (FDP):
Illusionen dürfen wir uns bei der Frage, wie wir dort
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Verbesserungen durchsetzen können, nicht hingeben.
SPD-Fraktion hat heute zwei unterschiedliche Anträge
Herr Strässer hat Manfred Nowak zitiert. Die Mehrheits-
vorgelegt. Ich würde gerne noch einmal auf den ersten
verhältnisse im Menschenrechtsrat sind, wie sie sind.
Antrag eingehen, nämlich auf den Menschenrechtsrat als
Leider wurde durch die Wahl der Demokratischen Repu-
solchen.
blik Kongo in den Menschenrechtsrat die Position ver-
Wir sind als Mitglieder des Menschenrechtsausschus- festigt, dass die Staaten in der Mehrheit sind, die bei der
ses einmal im Jahr in Genf und führen dort Gespräche. Menschenrechtsbilanz fragwürdige Ergebnisse abliefern.
Bei der letzten Sitzung des Menschenrechtsrates haben Ich denke, dass wir uns bei der Problemanalyse einig
wir uns natürlich auch über den Stand der Reform des sind. Es gilt weiter konstruktiv daran zu arbeiten und in
sogenannten Review-Prozesses informiert. Insofern New York viel zu erreichen.
13086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Marina Schuster
(A) Ein Anliegen möchte ich ganz besonders herausstel- und es gleichzeitig nicht einmal schafft, eine Sondersit- (C)
len: Wir dürfen nicht zulassen, dass der Menschenrechts- zung zum Völkermord in Darfur hinzubekommen, der
rat instrumentalisiert wird zeigt, dass er einen einseitigen Fokus hat.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck Das ist das Dilemma, das wir beschreiben müssen.
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das beschreibt aber auch die Aufgabe der deutschen und
der europäischen Außenpolitik. Wir müssen mehr daran
gerade von Staaten wie China, Kuba oder Russland.
arbeiten, die Blockbildung aufzubrechen, und Ländern
Auch die OECD ist hier genannt worden. Insofern gilt es
politisch und in der Kooperation etwas anbieten, wenn
lange zu bohren und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir
sie sich in Genf stärker an den Prinzipien der Menschen-
unterstützen die laufende Kandidatur Deutschlands für
rechtspakte – die sie aus außenpolitischen Gründen un-
eine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat, damit wir
terschrieben haben – orientieren, statt sich im Block ge-
den Reformprozess vor Ort beflügeln können.
genseitig zu schützen. In Genf war interessant, zu
Nun zum zweiten Antrag, der sich mit der menschen- beobachten – Frau Schuster hat unsere Reise erwähnt –,
rechtlichen Verantwortung von Unternehmen beschäf- dass der ehemalige Büroleiter von Mubarak nach der de-
tigt. Zu diesem Thema gab es eine Anhörung und eine mokratischen Revolution in Ägypten immer noch die
Reise in den Ostkongo und nach Ruanda. Man kann si- Politik der Unabhängigen koordinierte, die eine Politik
cherlich sagen, dass sich John Ruggie um die Weiterent- gegen eine echte Menschenrechtsanalyse in vielen Län-
wicklung der Menschenrechtsstandards für Unterneh- dern verfolgen. Man stellt sich vor die Schurkenstaaten
men verdient gemacht hat. Ich freue mich, dass die und redet das Ganze schön. Das verhindert, dass etwas
Guiding Principles die bisherigen Regelungen, die es bei passiert.
der UN über den Global Compact, aber auch bei der
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, da der Herr
OECD gibt, gut zusammenfassen.
Außenminister anwesend ist. Demnächst wird der Papst
Gerade beim Thema OECD-Leitsätze sind zwei große an diesem Pult stehen. Ich habe nicht verstanden, was
Erfolge gelungen: zum Ersten die Aufnahme eines eige- uns der Vertreter des Vatikans bei der Menschenrechts-
nen Menschenrechtskapitels und zum Zweiten die Tatsa- ratssitzung zur Verurteilung der Gewalt gegen Lesben
che, dass auch die Zulieferkette einbezogen wird. Es und Schwule sagen wollte. Nachdem mühsam eine
muss jetzt vor allem darum gehen, dass wir mehr und Mehrheit dafür zustande gebracht wurde, die Gewaltta-
mehr Staaten und Unternehmen für die OECD-Leitsätze ten zu verurteilen, sagte er, Schwule und Lesben würden
gewinnen. Schwellenländer sind dringend gefordert, sich Leute attackieren, die eine andere moralische und ethi-
den OECD-Leitsätzen anzuschließen. In dieser Richtung sche Auffassung haben als sie. Ich bitte, noch einmal
arbeiten wir konsequent. Das ist ein Anliegen der Bun- nachzufragen; denn das hat mich sehr irritiert. Diese
(B) (D)
desregierung, aber auch der deutschen Wirtschaft; denn Frage hätte ich gerne geklärt, bevor der Papst hier im
unser Ziel muss sein, dass Menschenrechtsstandards Bundestag zu uns spricht.
weltweit Geltung erhalten. Diesen Weg werden wir kon-
sequent weitergehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
Vielen Dank. LINKE])
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Im Antrag der SPD für menschenrechtlich verant-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- wortliches unternehmerisches Handeln ist das Thema
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ruggie-Prozess ein wichtiger Ansatzpunkt. Es werden
wesentliche Forderungen unseres Antrags aus der letzten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wahlperiode aufgegriffen. So begrenzt der zentrale Ge-
Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bünd- danke im Ruggie-Prozess ist, auf die Corporate Social
nis 90/Die Grünen. Responsibility zu setzen, obwohl sehr gut ausdefiniert
wird, was das für Unternehmen heißt, sollte man in die-
sem Report nicht überlesen, dass Ruggie in Kapitel 26
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
seines Berichtes die Mitgliedstaaten ausdrücklich auffor-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu dert, in der nationalen Gesetzgebung darauf zu achten,
beiden Anträgen etwas sagen. Der Menschenrechtsrat Opfern von Menschenrechtsverletzungen das Recht auf
verdient eine wahrheitsgetreue Würdigung, aber die Entschädigung einzuräumen. Er überlässt es den Mit-
Wahrheit sieht leider nicht sehr gut aus. Das Problem ist gliedstaaten, die jeweiligen Defizite aufzuarbeiten. Da
Folgendes: In Genf müssen sich Staaten, in denen es um gibt es auch im deutschen Recht eine ganze Menge zu
die Menschenrechte schlecht bestellt ist, sozusagen sel- tun.
ber am Kragen aus dem Sumpf ziehen, weil die Mehrheit
dieser Staaten kein ehrliches Interesse an der Verbesse- Der Ansatz der SPD, den wir teilen, dass man auch
rung der Menschenrechtslage hat. Manche haben ein In- Mutter- oder Tochtergesellschaften einbeziehen muss, ist
teresse daran, die Menschenrechtssituation in bestimm- richtig, weil die Firmen oft anders nicht zu fassen sind.
ten Ländern in der außenpolitischen Argumentation als Wir hatten dazu im Rechtsausschuss eine Anhörung. Die
Instrument zu nutzen. Das sieht man zum Beispiel am Vertreterin von Amnesty International, Katharina Spieß,
Standing Point zu Palästina, der völlig unangemessen ist. hat am Fall Bhopal gezeigt, wie wenig die bisherigen
Dort gibt es zwar viele Menschenrechtsverletzungen; Mechanismen greifen. Wenn ein Unternehmen auf eine
aber wer Palästina bei jeder Sitzung auf der Agenda hat solche Katastrophe, bei der Tausende von Menschen ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13087
Volker Beck (Köln)
(A) sundheitlich geschädigt wurden, damit reagiert, dass es kommissarin für Menschenrechte darüber diskutiert, wie (C)
diesen Unternehmensteil verkauft und sich so aus der der Review im nächsten Jahr, also in diesem Jahr, ausse-
rechtlichen Haftung stiehlt, dann ist klar, dass wir bes- hen soll. Wir haben in diesem Jahr mit dem Präsidenten
sere rechtliche Instrumentarien brauchen. des Menschenrechtsrates gesprochen. Als wir nach Genf
gefahren sind, hatten wir die große Hoffnung, dass das,
Wir können hier nicht nur auf das Prinzip Freiwillig-
was auf der Agenda der Bundesregierung, aber auch auf
keit, CSR und OECD-Leitlinien setzen, sondern wir
unserer Agenda gestanden hat, zumindest in wichtigen
brauchen ein Instrumentarium, das den Managern von
Teilen umgesetzt wird. Leider wurden wir enttäuscht.
Unternehmen deutlich macht, dass sich Menschenrechts-
Die Worte des Präsidenten des Menschenrechtsrates wa-
verletzungen am Ende betriebswirtschaftlich nicht loh-
ren – die Kollegen, die dabei waren, erinnern sich –: Der
nen. Ansonsten ist es in dem Kalkül multinationaler
Prozess war schwierig und mitunter auch frustrierend. –
Konzerne angelegt, zur Gewinnmaximierung – das kann
Wir waren dann auch sehr frustriert, als wir gehört ha-
man ihnen nur begrenzt vorwerfen – darauf zu setzen,
ben, was erreicht bzw. was nicht erreicht werden konnte.
ein Auge zuzudrücken oder sich sogar aktiv an Men-
schenrechtsverletzungen zu beteiligen, weil sie dann ihre In drei Monaten Debatte gab es keine Annäherung der
Rohstoffe oder Halbfertigprodukte zu niedrigeren Prei- Blöcke des Westens auf der einen Seite und des politi-
sen einkaufen können. Das dürfen wir nicht zulassen, schen Südens, wenn man ihn so bezeichnen kann, auf
sonst benachteiligen wir die Unternehmen im Wettbe- der anderen Seite. Es gab einige Verbesserungen auf Ne-
werb, die sich daran zu Recht aus ethischen Gründen benschauplätzen. Aber die zentralen Punkte konnten
nicht beteiligen wollen. nicht durchgesetzt werden, was sicherlich auch daran
liegt, dass das Konsensprinzip gilt und die Mehrheitsver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hältnisse eben so sind, wie sie hier schon beschrieben
sowie bei Abgeordneten der SPD)
wurden. Bei nüchterner Betrachtung kann man, glaube
ich, sagen, dass der Status quo dennoch akzeptabel ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, die uns
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ganz wichtig war, wurde angesprochen. Wir hätten lieber
hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Frak- eine Stärkung gehabt. Auch hätten wir eine Stärkung der
tion das Wort. Arbeit der Hochkommissarin für wünschenswert gehal-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten. Beides konnte nicht durchgesetzt werden. Anderer-
seits konnte eine Schwächung der Position verhindern
werden. Insofern können wir zufrieden sein.
Ute Granold (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ein Anliegen im Antrag der SPD betrifft den Review-
(B) (D)
spreche nur zum Menschenrechtsrat, da sich der Kollege Prozess. Es geht auch um das Staatenüberprüfungs- und
Klimke für die Union bereits zur menschenrechtlichen UPR-Verfahren. Im Rahmen der zweiten Runde des
Verantwortung in den Unternehmen geäußert hat. UPR-Prozesses, der 2012 beginnt, muss in den Staaten-
berichten auch in Bezug auf folgende Fragen – darauf
Die Debattenbeiträge haben gezeigt, dass wir uns bei wird der Fokus zu richten sein – Auskunft gegeben wer-
der Beurteilung der Arbeitsweise des Menschenrechtsra- den: Was ist in der ersten Runde berichtet worden? Wel-
tes einig sind und leider vieles zu beklagen ist. Die De- che Hausaufgaben sollten daraufhin gemacht werden?
batte hier im Haus ist sicherlich sehr sinnvoll. Dies aller- Wurde das in den Staaten auch auf den Weg gebracht? –
dings mit einem Antrag zu verbinden, in dem die Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt. Es war
Bundesregierung aufgefordert wird, aktiv zu werden, ist auch ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, dass
– das hat auch die Ausschussberatung gezeigt – völlig das Verfahren auf einen guten Weg kommt. Damit könn-
überflüssig, weil wir uns sehr einig sind. ten wir jetzt zufrieden sein.
Die Bundesregierung ist hinsichtlich der Arbeit des
Ein Manko ist, dass aktuelle Themen nicht so ohne
Menschenrechtsrates sehr aktiv. Unser Außenminister
Weiteres auf die Tagesordnung gesetzt werden können;
war auch in diesem Jahr beim Menschenrechtsrat. Auch
Kollege Strässer hat als Beispiel Sri Lanka angespro-
der Menschenrechtsausschuss war vor Ort. Der Men-
chen. Der Westen wird das – bei 11 von 47 Stimmen –
schenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus
aus eigener Kraft nicht schaffen. Wir müssen also Ver-
Löning, war in Genf. Auch viele Kollegen hier sind nicht
bündete suchen. Es geschieht relativ selten, dass wir da-
zum ersten Mal bei den Sitzungen dabei gewesen. Wir
bei erfolgreich sind. Wir müssen die Regionalblöcke
können feststellen: Unser Engagement ist gut. Wir haben
aufbrechen. Bei Sachthemen geht das auch. Ich denke da
das, was im Menschenrechtsrat geschieht, zu kontrollieren
an die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und zu kritisieren. Er ist eine Neuorganisation der Men-
und den Philippinen beim Thema Menschenhandel. Wir
schenrechtskommission, die ausgesprochen schlecht ge-
müssen versuchen, langsam und in kleinen Schritten
arbeitet hat. Das heißt nicht, dass es jetzt viel besser ist;
diese Blöcke aufzubrechen, um im Sinne der Menschen-
aber wir sind auf einem guten Weg. Das sollten wir kri-
rechte zu guten Ergebnissen zu kommen. Bei Libyen hat
tisch begleiten.
das geklappt; wir haben es gesehen. Ich denke, das war
Der Review-Prozess war bei unserem diesjährigen nur deshalb so, weil sich auch der libysche Botschafter
Besuch wie auch im Jahr zuvor ein zentrales Thema. Wir auf die Seite derer gestellt hat, die die Situation in
haben eine Reihe von Gesprächen im Rat, aber auch am Libyen angeprangert haben. Wir waren live dabei und
Rande geführt. Im letzten Jahr haben wir mit der Hoch- später sehr guten Mutes, dass sich das vielleicht auch im
13088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Ute Granold
(A) Hinblick auf die Situation Syriens fortsetzen wird. Aber Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der (C)
dieser Prozess war leider nicht erfolgreich. Das einzig internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
Positive ist: Damals dachten wir, dass Syrien demnächst auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
einen Sitz im Rat haben wird. Das ist nicht geschehen. des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Syrien hat Gott sei Dank zurückgezogen. Dafür ist Ku- vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
wait in den Rat eingezogen. nischen Abkommens zwischen der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
Im Hinblick auf die Statusfrage war Einvernehmen gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
erzielt worden, dass der Menschenrechtsrat ein Nebenor- (jetzt: Republik Serbien) und der Republik
gan der Vereinten Nationen bleiben wird. Unser Anlie- Serbien vom 9. Juni 1999
gen ist aber, dass die Beziehungen zwischen dem Men-
schenrechtsrat und dem UN-Sicherheitsrat verstärkt – Drucksachen 17/5706, 17/6135 –
werden. Es ist ein großer Wunsch von uns, dass die Bun-
Berichterstattung:
desregierung, die dieses Verfahren jetzt in New York
Abgeordnete Philipp Mißfelder
weiter begleitet, dies vielleicht noch mit auf den Weg
Dr. Rolf Mützenich
nimmt. Die Resolution ist in New York – mit dem klei-
Dr. Rainer Stinner
nen Konsens, der erzielt wurde, aber auch mit allen
Wolfgang Gehrcke
Punkten, die strittig waren – vorgelegt worden. Sie ist
Kerstin Müller (Köln)
also bekannt. Wir schauen, ob wir da vielleicht noch das
eine oder andere erreichen können. Die Bundeskanzlerin – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
hat auf dem Kirchentag darauf gepocht, dass eine Re- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
form des UN-Sicherheitsrates dringend auf den Weg ge-
bracht werden muss. Vielleicht ist das auch noch einmal – Drucksache 17/6136 –
ein Anschub, über das Verfahren bzw. die Arbeitsweise Berichterstattung:
des Menschenrechtsrates nachzudenken, um bei den Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Menschenrechten auf einen besseren Weg zu kommen. Klaus Brandner
Insgesamt sind wir uns in diesem Punkt, was den Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Menschenrechtsrat angeht, im Ausschuss, aber auch hier Michael Leutert
im Plenum sehr einig. Unsere Anliegen und Ziele sind Sven-Christian Kindler
auch die der Bundesregierung. In diesem Sinne sollten Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
wir die Arbeit weiter begleiten. Ich denke, dass das bei schusses werden wir später namentlich abstimmen.
diesem Thema möglich sein wird.
(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (D)
Vielen Dank. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
des Abg. Christoph Strässer [SPD]) so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion
Ich schließe die Aussprache. das Wort.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Drucksache 17/6087 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Joachim Spatz (FDP):
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
so beschlossen. es mit einer EU-Perspektive für den gesamten Westbal-
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- kan ernst meinen, dann ist es unerlässlich, dass wir uns
fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Huma- weiterhin im Kosovo engagieren. Dabei sind die Erfor-
nitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem dernisse an die Präsenz von Truppen in den letzten Jah-
Titel „Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechts- ren zurückgegangen. Wir werden auch diesmal die Ober-
rates nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- grenze reduzieren, und zwar von 2 500 auf 1 850 Sol-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6078, den Antrag daten. Von den geplanten 5 500 Soldaten von KFOR ins-
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5482 abzuleh- gesamt werden wir 900 Soldatinnen und Soldaten stel-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- len.
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Frau Kollegin Evers-Meyer ist nicht anwesend. Des-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei halb bitte ich, ihr auszurichten, dass Deutschland dort
Gegenstimmen von SPD und Grünen sowie Enthaltung den Kommandeur stellt und damit in dieser Mission die
der Fraktion Die Linke angenommen. Lead-Funktion hat. Auch stellen wir bis August dieses
Jahres den Leiter der EULEX-Polizeimission. Dass wir
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
uns, wie sie es in Bezug auf den UNIFIL-Einsatz gesagt
– Beratung der Beschlussempfehlung und des hat, bei diesen Einsätzen zurückhalten, was die Lead-
Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Funktion angeht, stimmt also zumindest in diesem Fall
schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung nicht. Es ist ein sehr erfolgreicher Einsatz.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13089
Joachim Spatz
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie die dort fehlenden Kräfte durch geeignete Kräfte ersetzt (C)
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- werden.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich denke, wir alle haben in diesem Punkt eine gewal-
Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass tige Aufgabe vor uns. Gerade das gelungene Beispiel des
weiterhin in einigen Regionen des Kosovo – Stichwort Kosovo zeigt, dass es sich lohnt, diese Kapazitäten auf-
„Mitrovica und Umgebung“ – ein Eskalationspotenzial zubauen und zum Teil vorzuhalten.
vorhanden ist. Insofern sind die Forderungen unbegrün-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
det, die wahrscheinlich wieder gebetsmühlenartig von
den Linken kommen werden, das Militär an dieser Stelle Ich sage zum Abschluss gegen die wahrscheinlich
abzuziehen, weil es nicht mehr nötig ist. nachher von der Linken kommende Unterstellung der
Militarisierung der Politik: Wer nicht erkennt, dass unter
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das war es nie!)
dem Schutz der Bundeswehr und der Alliierten, die dort
– Wenn Sie sagen: „Das war es nie“, dann kann ich nur präsent sind, eine Aufbauarbeit für dauerhafte Stabilität
sagen: So blind kann man in den 90er-Jahren nicht ge- und einen dauerhaften Staatsaufbau mit der Perspektive
wesen sein, um nicht zu wissen, dass dort Truppen zur eines Beitritts auch dieser Region zur Europäischen
Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen Union geleistet wird, der muss ideologisch verblendet
notwendig gewesen waren. sein. Wir stehen zu diesem Einsatz, weil er in seiner Ge-
samtheit und in der Verbindung mit EULEX sinnvoll ist,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie und bitten um Zustimmung zur Verlängerung dieses
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- Mandats.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Danke schön.
Es sei denn, man ist ideologisch verblendet. Dann war
man vielleicht so blind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Im Übrigen ist dieser Einsatz ein Beispiel für die ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lungene Verbindung von militärischen und zivilen Maß-
nahmen, also für den gelungenen vernetzten Ansatz. Ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen mit-
habe eben schon erwähnt, dass die Europäische Union teilen, dass auf der Tribüne der Außenminister des Ko-
dort mit der EULEX-Mission präsent ist. Diese Mission sovo, Enver Hoxhaj, in Begleitung des Botschafters
hilft, einen Rechtsstaat mit all seinen Komponenten auf- Dr. Vilson Mirdita Platz genommen hat. Herr Minister,
zubauen, sowohl was die Polizeimission als auch den wir freuen uns, dass Sie die Gelegenheit nutzen, bei die-
ser Debatte hier im Deutschen Bundestag dabei zu sein.
(B) Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und der Recht- (D)
sprechung angeht. Insbesondere die Bundesrepublik Vielen Dank!
Deutschland ist mit erheblichem Potenzial vertreten. (Beifall im ganzen Hause)
Über 100 deutsche Experten aus dem Bereich der Justiz
sind dort tätig, ebenso wie Polizeibeamte und andere Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kol-
Kräfte. lege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist seit (Beifall bei der SPD)


Ende der 90er-Jahre dort aktiv, und zwar mit insgesamt
370 Millionen Euro seit 1999. Sie sehen also: Hier geht Dietmar Nietan (SPD):
unter dem Schutz unserer Militärstreitkräfte parallel der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zivile Aufbau der Gesellschaft voran. Auch wenn von anfangs 55 000 NATO-Soldatinnen und
-Soldaten nunmehr nur noch rund 5 000 im Kosovo im
Ich will bei dieser Gelegenheit auf einen allgemeinen
Einsatz sind, stellen wir fest, dass der KFOR-Einsatz
Punkt aufmerksam machen. Gerade an dem erfolgrei-
weiterhin erforderlich ist. Er bleibt deshalb erforderlich,
chen Beispiel der Mission im Kosovo zeigt sich die Not-
weil wir ein stabiles Umfeld im Kosovo brauchen, damit
wendigkeit, dass wir bei den von mir genannten Kräften
dort Sicherheit erreicht wird, aber auch Demokratie,
wie Polizei, Verwaltungsbeamten und Justizbeamten
Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte
mehr Potenzial und Kapazitäten bei uns in der Bundesre-
weiterentwickelt werden können. Das ist nicht nur für
publik Deutschland aufbauen und auch innerhalb der Eu-
die Freiheit und Unversehrtheit aller Bürgerinnen und
ropäischen Union darauf hinwirken, dass die Planziele,
Bürger im Kosovo notwendig, sondern diese Stabilität
die dort vor Jahren vorgegeben worden sind, besser er-
ist auch Voraussetzung, damit das Kosovo eine Perspek-
reicht werden, als es bisher der Fall gewesen ist. Wir
tive hat und den Weg hin zu einer EU-Mitgliedschaft
werden erleben, dass wir auch in anderen Teilen der Welt
weiter konstruktiv gehen kann.
gefordert sein werden, und zwar nicht nur militärisch,
sondern vor allem auch mit zivilem Engagement beim Wie weit dieser Weg ist, zeigen die Fortschrittsbe-
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen, um bei der richte der Europäischen Kommission. In manchen Berei-
Umsetzung der Rule of Law entsprechend tätig zu wer- chen gibt es Fortschritte; aber gerade in den Bereichen
den. Wir sehen an allen Ecken und Enden, dass es an der Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt es
entsprechend qualifiziertem Personal mangelt. Dabei ist keine oder nur sehr geringe Fortschritte. Deshalb muss
für die entsendenden Institutionen in Deutschland, also es für uns darauf ankommen, gemeinsam Rahmenbedin-
die Länderjustiz und die Länderpolizei, vorzusehen, dass gungen zu schaffen, die die Kräfte im Kosovo unterstüt-
13090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dietmar Nietan
(A) zen, die dort Reformen angehen wollen und die den Weg Sicht sehr wichtig, dass wir das Monitoring ausbauen. (C)
in Richtung Ausbau von Demokratie und Rechtsstaat- Trotz der Fortschrittsberichte der Europäischen Kom-
lichkeit gehen. Ich sage sehr deutlich: Damit diese mission habe ich manchmal das Gefühl, wir müssten
Kräfte gestärkt werden, muss das Engagement der Bun- noch etwas genauer schauen, ob es Fortschritte gibt, zum
desrepublik Deutschland, aber auch das Engagement der Beispiel bei den Bürgerrechten.
Europäischen Union im Kosovo und in der gesamten Re-
gion ausgebaut und gestärkt werden. Es muss klar sein, Die Europäische Union muss sich stärker engagieren,
dass das Versprechen von Thessaloniki steht: Die Staa- wenn wir feststellen, dass Konflikte in der Region zu es-
ten in der Region, die den mühsamen Weg der Reformen kalieren drohen. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass die
erfolgreich gehen, müssen sich darauf verlassen können, Europäische Union deutlichere Signale aussendet, etwa
dass sie am Ende dieses Weges die Perspektive des Bei- dass die Art und Weise, wie die Regierung Berisha in
tritts zur Europäischen Union haben. Albanien mit der Opposition umgeht, von uns nicht tole-
riert wird und dass wir dazu nicht schweigen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)

Deshalb brauchen wir deutliche Signale – wir haben die Klar ist: Das Kosovo muss den Weg zu Reformen, zu
Argumente schon in anderen Debatten miteinander aus- einer freiheitlichen Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit
getauscht – aus der EU, aber auch aus wichtigen Mit- selbst gehen und gehen wollen. Dazu bedarf es auch des
gliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland, dass Vorbilds der politischen und ökonomischen Eliten.
nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union Manchmal habe ich den Eindruck, dass da noch einiges
nicht Schluss ist mit den Anstrengungen vonseiten der verbesserungswürdig ist. Gerade die jungen Menschen
Europäischen Union, die Beitrittsperspektive für die im Kosovo – das Kosovo hat eine der jüngsten Gesell-
Staaten offenzuhalten, die die Kriterien erfüllen. schaften in Europa – brauchen eine Perspektive. Gesell-
schaften mit zahlreichen jungen Menschen, die etwas
Nach den Fortschritten, die wir in Serbien erleben können und etwas leisten wollen, gibt es nicht nur in
können, muss es jetzt auch ein klares Signal gegenüber Nordafrika, sondern auch in dieser Region. Es wäre fa-
diesem Land geben, dass sich die dortigen Reformpoliti- tal, wenn mangelndes Engagement der Europäischen
ker – nicht nur Präsident Tadic – darauf verlassen kön- Union dazu führte, dass die dortige junge Generation
nen, dass die Europäische Union ihr Engagement, Ser- desillusioniert wird und das Gefühl hat, dass sie von uns
bien auf dem Weg in die EU zu begleiten, ausbaut. allein gelassen wird.
Gerade nach dem Erfolg der Verhaftung des Kriegsver-
Im Kosovo und anderswo in dieser Region schwindet
brechers Mladic müssen diejenigen in Serbien, die dafür
(B) verantwortlich sind, wissen, dass das aufseiten der Euro- das Vertrauen, dass die Europäische Union es mit der (D)
Unterstützung beim EU-Beitritt wirklich ernst meint.
päischen Union honoriert wird. Das, was unter dem kon-
Manche Menschen im Kosovo erleben KFOR durchaus
servativen Präsidenten Kostunica nicht möglich war, ist
als eine Art Besatzungsmacht. Angesichts dessen muss
jetzt unter Präsident Tadic gelungen. Ich finde, er ver-
klar sein, dass die politischen Initiativen durch die Euro-
dient dafür unsere Anerkennung und unsere Unterstüt-
päische Union, aber auch durch unsere Regierung im
zung.
Vordergrund stehen. Die SPD unterstützt die Mandats-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ verlängerung. Wir verbinden das wirklich mit der Erwar-
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE tung, dass die Bundesregierung und die Europäische
GRÜNEN) Union ihr Engagement für das Kosovo, für die Region,
für die Zivilgesellschaft, für eine Perspektive der jungen
Wenn wir in dieser Region glaubwürdig bleiben wol- Menschen dort glaubhaft verstärken und ausbauen. Mit
len, ist außerdem wichtig, dass wir alle Staaten dort fair unserem militärischen Einsatz stehen wir in der Verant-
behandeln. Das heißt, dass zum Beispiel in der Frage der wortung für das Gelingen der Demokratie in dieser Re-
Visaliberalisierung auch für das Kosovo weiterhin gelten gion. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht
muss: Wenn ein Staat die Bedingungen, die wir entwi- wegstehlen. Wir sollten alles dafür tun, dass es durch ein
ckelt haben, um die Teilnahme an einem liberaleren verstärktes, glaubwürdiges Engagement zu einer so posi-
Visaregime zu ermöglichen, erfüllt, dann müssen wir da- tiven Entwicklung kommt, dass wir das KFOR-Mandat
rauf angemessen reagieren, und es darf nicht aus politi- möglichst bald beenden können.
schen Gründen oder Opportunitätsgründen Möglichkei-
ten erster und zweiter Klasse geben, die Vielen Dank.
Visaliberalisierung zu erlangen. Das wäre kontraproduk-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tiv, und das würde die Glaubwürdigkeit der Europäi-
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-
schen Union aushöhlen.
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ein weiterer Punkt, den ich für sehr wichtig halte
– das ist vom Kollegen Spatz schon gesagt worden –: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wir müssen unser Engagement in der Zivilgesellschaft Das Wort hat der Kollege Florian Hahn von der CDU/
verstärken. Nur wenn es gelingt, tragfähige zivilgesell- CSU-Fraktion.
schaftliche Strukturen zu schaffen – nicht nur im Kosovo –,
können die Reformprozesse mehr Dynamik bekommen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
und unumkehrbar werden. Außerdem ist aus meiner der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13091

(A) Florian Hahn (CDU/CSU): gangslage vor Augen führen, kann man den heutigen (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen Fortschritt gar nicht hoch genug bewerten. Dennoch sind
und Kollegen! Genau vor einem Jahr haben wir hier über für das Kosovo noch viele Hürden auf dem Weg zur Eu-
die Reduzierung der Mandatsobergrenze für KFOR von ropäischen Union zu nehmen.
damals 3 500 Soldaten auf 2 500 abstimmen können.
Der heutige Antrag sieht eine weitere Kürzung um mehr Die größten Problemfelder sind das geringe Wirt-
als ein Viertel auf 1 850 Soldaten vor. Diese sukzessive schaftswachstum, die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe
Reduzierung ist einmal mehr Beweis für den Erfolg un- Nettoimport sowie die anhaltende Korruption. All dies
serer KFOR-Mission. Sie belegt, dass der Kurs von An- hemmt internationale Investitionen, die die Wirtschaft
fang an gestimmt hat und unsere Strategie richtig war. ankurbeln würden. Darüber hinaus schreibt beispiels-
weise die Neue Zürcher Zeitung zu Recht, dass ein Sys-
Knapp 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten tem von Checks and Balances fehlt. Parlament und Re-
haben bislang in diesem Einsatz gedient. Jede und jeder gierung stehen der Justiz fast machtlos gegenüber. Auch
Einzelne hat so einen Beitrag zur Befriedung des Ko- die Medien sind leicht beinflussbar. Die kosovarische
sovo geleistet. Ich möchte ihnen daher von ganzem Her- Regierung muss hier konsequent tätig werden, damit das
zen danken und wünsche ihnen weiterhin bei ihrem Auf- Land eine gute Zukunft hat. Wir helfen gern. Wir wollen
trag Gottes Segen. ein friedliches Kosovo, und wir wollen Frieden auf dem
Balkan; denn diese Region gehört zu Europa. Dafür stel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
len wir Soldaten zur Verfügung, Polizei im Zuge von
Alle am Einsatz Beteiligten haben dazu beigetragen, EULEX, fördern Projekte zur interethnischen Aussöh-
dass das Kosovo auf dem Weg nach Europa ein gutes nung sowie zur Multiethnizität im Kosovo. Dass die För-
Stück vorwärtsgekommen ist und mit mehr Mut und Zu- derung ankommt, können wir unter anderem daran er-
versicht in die Zukunft blicken kann. Dass hier und kennen, dass mehr und mehr Serben am politischen
heute Regierungsvertreter des Kosovo unserer Plenarsit- Leben teilnehmen. Dabei übernehmen sie demokratische
zung beiwohnen und der Debatte folgen, freut mich be- Funktionen und damit Verantwortung in der Politik des
sonders. Es ist ein Zeichen, dass sie Interesse an einem Kosovo – ein wichtiger Schritt, um den multiethnischen
gemeinsamen Europa und an einer guten Entwicklung in Konflikt langsam weiter abbauen und gegenseitiges Ver-
ihrem Land haben. trauen schaffen zu können.
Dafür sprechen auch andere Fakten. So wurden beim Um das Kosovo noch ein Stück auf dem Weg zu ei-
Aufbau einer funktionierenden Polizei und bei den ein- nem modernen und multiethnischen Staat in Europa zu
heimischen Sicherheitskräften im letzten Jahr nachhal- begleiten, bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für dieses
(B) tige Fortschritte erzielt, ebenso bei der Rechtsstaatlich- Mandat. (D)
keitsmission EULEX, an der derzeit über 100 deutsche
Experten beteiligt sind. Die Funktionsfähigkeit des Kon- Herzlichen Dank.
zepts der drei Sicherheitsreihen aus Kosovo-Polizei, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
EULEX-Bereitschaftspolizei und KFOR-Kräften hat
sich dabei bewährt und ist ein richtiger Schritt auf dem
Weg der sukzessiven Übergabe von Sicherheitsverant- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wortung. KFOR tritt mehr und mehr in den Hintergrund Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
und kann das Handeln zunehmend den nationalen Si- Fraktion Die Linke.
cherheitskräften und EULEX überlassen. Der kosovari- (Beifall bei der LINKEN)
sche Sicherheitsapparat hat wiederholt bewiesen, dass er
immer mehr dazu in der Lage ist, Verantwortung für die
Sicherheit im Land zu übernehmen. So waren im Rah- Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
men der letzten beiden Parlamentswahlen weder KFOR Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
noch EULEX gefordert. Auch bei bislang fünf von neun men und Herren! Die erste Debatte zur Verlängerung des
besonders schützenswerten serbischen Denkmälern KFOR-Mandats hat sehr viel über die generelle Haltung
konnte die Sicherheitsverantwortung von KFOR an die der hier vertretenen Parteien gegenüber dem Balkan zum
kosovarischen Sicherheitsapparate abgegeben werden. Ausdruck gebracht, eine Haltung, die vor Geschichtsver-
Dies entlastet nicht nur KFOR, sondern es ermutigt auch gessenheit und Paternalismus geradezu trieft. Da möchte
die lokalen Stellen, den Weg fortzusetzen und Verant- ich gerade Sie, Herr Mißfelder von der CDU, anspre-
wortung für ihr Land zu übernehmen. chen. Sie sagten, die Weigerung des serbischen Präsi-
denten Tadic, an einem Gipfeltreffen mit Obama und der
Wie viel stabiler das Land heute schon ist, zeigt sich sogenannten Präsidentin des Kosovo teilzunehmen, be-
auch daran, dass die Wechsel an der Staatsspitze und die dürfe „keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir
damit einhergehenden kurzzeitigen Phasen des Machtva- uns das so nicht vorstellen.“ In dieser Wendung kommt
kuums nicht zu einer Destabilisierung der Sicherheits- so viel Verachtung gegenüber dem serbischen Präsiden-
lage geführt haben. Im Gegenteil: Der friedliche und ge- ten zum Ausdruck, dass man sich schon sehr wundern
waltfreie Ablauf unterstreicht vielmehr, dass das muss, Herr Kollege.
staatliche und sicherheitspolitische System des Kosovo
sich zu festigen beginnt. Als wir damals die Entschei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
dung getroffen haben, einzugreifen und zu helfen, war Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind aber ein-
dies nicht einfach. Wenn wir uns noch einmal die Aus- seitig!)
13092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Sevim Daðdelen
(A) Genau diese Haltung, Herr Kollege Mißfelder, kritisie- Da Sie, Frau Beck, immer nach mir reden, möchte ich (C)
ren ich und meine Fraktion. Wir wollen keine Außen- Ihnen im Vorhinein etwas sagen: Dass Sie versuchen, je-
politik der Gewalt, der Drohungen und Androhungen. den, der es auch nur wagt, nach den Kriegsverbrechen
der UCK zu fragen, im Stile der UCK als serbischen Na-
(Beifall bei der LINKEN) tionalisten hinzustellen, ist für mich, Frau Beck, wirklich
Sie haben damit bereits genug Unheil angerichtet. Damit unerträglich und abstoßend.
muss wirklich endlich einmal Schluss sein. (Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, leider gehen die Äußerun- Vor so einer Außenpolitik graust es einem ja. Deshalb
gen von Herrn Außenminister Westerwelle in eine ähnli- bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschwei-
che Richtung. Wiederholt behauptet er, dass der Status gen wir hier im Hause nicht weiter die Kriegsverbrechen
des Kosovo geklärt sei. Da frage ich mich ehrlich und der UCK.
ernsthaft: In welcher Welt leben Sie eigentlich?
In diesem Zusammenhang ist die aktuelle Antwort
(Zuruf von der FDP: In Ihrer garantiert nicht!) der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage mit der
Das entspricht doch einfach schlicht nicht den Tatsa- Drucksachennummer 17/5848 sehr brisant. Sie bezeich-
chen. Für Sie persönlich mag das vielleicht gelten, aber net die Frage nach Kriegsverbrechern als eine „innere
völkerrechtlich gilt das doch nicht, Herr Westerwelle. Angelegenheit der Republik Kosovo“.
Warum verschweigen Sie, dass das Kosovo eben kein (Zuruf von der LINKEN: Unerhört!)
Mitglied der Vereinten Nationen ist? Ebenso gut könnten
Sie behaupten, der Status von Abchasien, Südossetien Man kann dies nur so interpretieren, dass Sie auf dem
oder Transnistrien sei geklärt. Die Linke fordert hier eine Balkan mit zweierlei Maß messen und hier bewusst weg-
radikale Kehrtwende, weg von einer Außenpolitik, die schauen. Geben Sie sich endlich einen Ruck, und leiten
einseitige Grenzveränderungen in Europa legitimiert und Sie einen Richtungswechsel ein, um die fortgesetzte
befördert. Straflosigkeit unter dem Schutz der Bundeswehr zu be-
enden!
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand
[CDU/CSU]: Ihre Radikalität hätte Tito unter- (Beifall bei der LINKEN)
stützt!) Die Linke stimmt gegen die Fortsetzung des Militär-
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Bundeswehr einsatzes.
hat auf dem Balkan und auch anderswo nichts zu suchen. (Beifall bei der LINKEN)
(B) Sie hat dort bisher wirklich verheerend gewirkt, ange- (D)
fangen mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen
Bombenkrieg gegen Jugoslawien Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
(Michael Brand [CDU/CSU]: So viel zur Ge- Bündnis 90/Die Grünen.
schichtsvergessenheit!)
(Beifall der Abg. Kerstin Müller [Köln]
bis hin zum Zuschauen, als ein kosovo-albanischer Mob [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
2004 serbische Enklaven stürmte und die Häuser von
Serben und Roma plünderte. Ich finde, ihre Erfolgsbi-
lanz ist hier wirklich sehr schlimm. Deshalb bitte ich Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
Sie, einmal nur für einen kurzen Moment innezuhalten GRÜNEN):
und sich endlich diese schlimme Bilanz anzusehen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, es wäre schon sehr
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand wünschenswert, dass Ihre Kollegen einmal im Europarat
[CDU/CSU]: Reden Sie einmal über die Op- auftauchen.
fer!)
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind stän-
Dazu gehört auch – das sage ich gerade meinen Kolle- dig da, Frau Beck!)
ginnen und Kollegen von den Grünen – das absolute
Versagen gegenüber dem mutmaßlichen Kriegsverbre- Wenn sie dort gewesen wären, wüssten Sie vielleicht
cher Hashim Thaci. Sie ignorieren schlicht die Berichte – aber Sie könnten es auch nachlesen, wenn Sie wollten –,
des Europarates. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind da!
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Es ist unwahr, was Sie hier behaupten!)
DIE GRÜNEN]: Eure Leute sind im Europarat dass bei der Plenardebatte über den Bericht des Kollegen
nie da, im Gegensatz zu mir! Und Sie reden Dick Marty, der übrigens meiner Fraktion angehört und
solche Dinge!) der den Fragen der organisierten Kriminalität im Kosovo
Ja, man kann bei Ihnen den Eindruck gewinnen, Sie wür- nachgegangen ist, ich diejenige gewesen bin, die für eine
den diese Verbrechen auch noch beschweigen wollen. lückenlose und dringliche Aufklärung dieser Vorwürfe
plädiert hat, und dass ich sogar so weit gegangen bin,
(Michael Brand [CDU/CSU]: Herr Gysi ist vorzuschlagen, dass Ministerpräsident Thaci sich selber
zuerst zu Herrn Milosevic gefahren!) anzeigen möge;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13093
Marieluise Beck (Bremen)
(A) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sind ja Ägyptern und von Kosovo-Albanern als gemeinsamer, (C)
ganz neue Töne! – Gegenruf der Abg. Kerstin multiethischer Staat gesehen wird.
Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hören Sie doch mal zu, Mann!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
denn mit dem Leumund, dass man an einer organisierten SPD und der FDP)
Kriminalität, die sogar mit Organen gehandelt hat, betei-
ligt gewesen sei, kann man eigentlich nicht Ministerprä- Fantasien in Bezug auf einen Gebietsaustausch können
sident sein. Das alles können Sie nachlesen, und dann nur von denen in die Welt gesetzt werden, die nicht
wäre es vielleicht an der Zeit, hier einiges von den un- wissen, dass die größten serbischen Enklaven im Süden
glaublichen Dingen, die Sie mir vorgehalten haben, zu- des Landes liegen und insofern ein Gebietsaustausch in
rückzunehmen. Mitrovica der serbischen Bevölkerung im Land nicht
helfen würde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- Der Weg wird nach wie vor schwierig sein. Es ist gut,
geordneten der SPD – Michael Brand [CDU/ dass sich Serbien bewegt. Wir müssen Herrn Tadic allen
CSU]: Dann hat sie ja die Unwahrheit gesagt! – Respekt aussprechen und hoffen, dass dieser Weg der
Florian Hahn [CDU/CSU], an die Abg. Sevim Aussöhnung weitergegangen wird, damit sowohl Ser-
Dağdelen [DIE LINKE] gewandt: Sie sollten bien als auch das Kosovo die echte Perspektive haben,
sich entschuldigen!) zu uns in der Europäischen Union dazuzugehören. Das
wünschen sich vor allem die jungen Menschen in beiden
KFOR ist – das wissen alle, die bei Gewalt nicht weg- Ländern, auch die, die wir im Augenblick als Stipendia-
sehen und zwischen Tätern und Opfern wirklich unter- ten bei uns im Deutschen Bundestag haben. Ich habe
scheiden wollen – nicht denkbar ohne Srebrenica. Ich gestern Abend mit 13 jungen Menschen aus allen West-
möchte das hier noch einmal sagen, weil wir durch die balkanländern zusammengesessen. Sie wollen sich aus
Festnahme von General Mladic noch einmal die Bilder dem Würgegriff der Nationalisten befreien, weil sie nach
von Srebrenica vor Augen geführt bekommen haben. Europa wollen und weil sie eine Zukunft haben wollen.
Am 11. Juli werden sich die Geschehnisse zum 16. Mal Diese Zukunft sollten wir ihnen wirklich geben und ih-
jähren, und wir werden an die Bilder der verzweifelten nen die Türen aufmachen.
Frauen und Mütter denken, die ihre Söhne und Männer
aus den Händen geben mussten, welche unter den Augen Schönen Dank.
der UN in die Wälder abgeführt und dort umgebracht
wurden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
(B) Die Entscheidung für KFOR ist nur vor diesem Hin- Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie erpressen (D)
tergrund zu sehen. die doch nur!)
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn es nach
Ihnen geht, Frau Beck, ist die Bundeswehr auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ewig auf dem Balkan präsent! Gut, dass Sie Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nichts zu sagen haben!) jetzt der Kollege Peter Beyer von der CDU/CSU-Frak-
Sie hat mit Sicherheit allein durch ihre Anwesenheit vie- tion das Wort.
len Menschen das Leben gerettet. Es ist gut, dass diese
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mission immer stärker ihren militärischen Charakter
verlieren und den polizeilichen Charakter verstärken
kann. Der Aufbau dieses kleinen Staates ist sehr schwie- Peter Beyer (CDU/CSU):
rig, viel mühseliger, als wir uns das vorgestellt haben. Es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
gibt viele Schwierigkeiten in diesem Staat. Es gibt orga- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was geht uns
nisierte Kriminalität, bei der auch die zivile europäische das Kosovo an? Warum müssen wir dorthin immer noch
Mission sich schwertut, sie so deutlich und durchschla- unsere Soldaten entsenden und Präsenz zeigen? Das al-
gend zu bekämpfen, wie wir es uns wünschen würden. les sind Fragen, die sich die Menschen hierzulande stel-
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Schlagen ist len. Erinnern Sie sich noch an die Flüchtlinge in den
immer gut!) 1990er-Jahren? Deutschland erklärte sich seinerzeit be-
reit, sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen,
Zudem gibt es viele Schwierigkeiten, mit denen dieses und zwar 10 000 an der Zahl. Insgesamt sprechen
kleine Land konfrontiert ist, weil die Statusfrage zumin- Flüchtlingsorganisationen von 100 000 Menschen, die
dest aus serbischer Sicht noch ungeklärt ist. vor Gewalt und Terror flohen. Uns allen wurde nicht zu-
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Auch aus letzt durch die Anwesenheit dieser Kinder, Frauen und
Sicht der UNO, Frau Beck!) Männer deutlich vor Augen geführt, dass vor unserer
Haustür Krieg herrscht. Es handelte sich bei diesem Krieg
Es macht mich sehr unruhig, dass bei der Stadt Mitro- aber nicht um einen historisch abgeschlossenen Prozess,
vica, die bis heute geteilt ist, immer noch nicht ganz klar den wir in den Geschichtsbüchern nachlesen könnten. Un-
ist, dass diese Teilung keinen Bestand haben kann. Die- ruhen gibt es nach wie vor. Peacekeeping – mit Betonung
ses kleine Kosovo wird nicht durch Gebietsaustausch auf „keeping“ – heißt die Formel für die Region, die
Ruhe finden, sondern nur, wenn dieser Staat von der ser- zweifelsohne zu den größten Herausforderungen euro-
bischen Bevölkerung, von Roma, von Ashkali, von päischer Friedenspolitik gehört.
13094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Peter Beyer
(A) Das Kosovo ist nicht irgendwo, sondern gleich ne- wann und wo erfahren hat. Dennoch – das ist anzuerken- (C)
benan. Der Balkan hat uns schmerzlich daran erinnert, nen – gibt es das Bemühen, die Kapitel der Vergangen-
dass Frieden und Demokratie auch in Europa nicht heit aufzuarbeiten.
selbstverständlich sind, dass wir als Deutsche im Schul-
terschluss mit unseren Partnern immer wieder für diese Meine Damen und Herren, dies ist nicht der Ort, die
höchsten Güter kämpfen müssen. Seit 1999 engagiert denkbaren politischen Entwicklungen und Szenarien im
sich die Bundeswehr nunmehr im Kosovo. KFOR ist da- Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo en détail zu
mit der längste, ununterbrochene Einsatz der Bundes- diskutieren. Es ist aber klar, dass es für Kosovo und Ser-
wehr überhaupt. Es hat – das steht außer Frage – schwie- bien an der Zeit ist, an der Lösung der gemeinsamen
rige Phasen des KFOR-Einsatzes gegeben. Das gilt nicht Probleme zu arbeiten. Die ersten auf Vermittlung der EU
nur für die Zeit der ersten Monate im Jahr 1999, sondern zustande gekommenen direkten Gespräche zwischen
zum Beispiel auch für den März 2004, als es zu schwe- Belgrad und Pristina, die im März dieses Jahres begon-
ren, gewaltsamen Ausschreitungen mit Toten und Ver- nen haben, sind ein wichtiger erster Schritt und eröffnen
letzten und in der Folge zu Tausenden von Vertriebenen der EU im Übrigen die nicht zu unterschätzende Mög-
kam. lichkeit, Einfluss auf Serben und Kosovaren zu nehmen.
Bisher hat es drei Treffen in Brüssel und eines in Pristina
Mit Ausnahme von Teilen der nördlichen Region ist gegeben. Dabei ging es vor allem um die Lösung von
die Sicherheitslage im Kosovo heute nachhaltig stabili- Alltagsfragen, beispielsweise um Pass- und Grundbuch-
siert. So konnte beispielsweise das 2004 schwer beschä- fragen, Zollstempel, Telekommunikation und Elektrizi-
digte Erzengelkloster nahe Prizren, das die Bundeswehr tätsversorgung. Es ist auf ein Momentum für eine umfas-
viele Jahre über beschützte, im letzten Monat an die ko- sende Gesprächsagenda zu hoffen, um die Beziehungen
sovarischen Sicherheitsbehörden übergeben werden. Der zwischen Serben und Kosovaren auf eine solide Basis zu
schrittweise Auf- und Ausbau selbsttragender Sicher- stellen.
heitsstrukturen ermöglicht uns jetzt die weitere Absen-
kung der Personalobergrenze des Mandats von ursprüng- Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung und für
lich 8 500 auf 1 850 Soldatinnen und Soldaten. Damit eine Zukunft in Europa. Für Stabilität und Sicherheit im
stellt Deutschland auch zukünftig das größte Truppen- Kosovo braucht es die KFOR. Sie gewährleistet den
kontingent, von dem ein Teil als Reserve in Deutschland Rahmen, in den eingebettet das Land in eine europäische
verbleiben kann. Welch besseres Zeichen für eine posi- Zukunft schreiten kann, und zwar so lange, bis der Auf-
tive Entwicklung im Kosovo kann es geben, als die kon- trag der Vereinten Nationen beendet ist. Das wird dann
tinuierliche Reduzierung der KFOR-Präsenz? Heute der Fall sein, meine Damen und Herren, wenn die Insti-
wird KFOR vor allem noch als sogenannte dritte Sicher- tutionen des Landes Sicherheit in allen regionalen Berei-
(B) heitslinie hinter der Kosovo Police und EUPOL benö- chen und allen Bevölkerungsschichten verlässlich ge- (D)
tigt. währleisten können.

Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière Lassen Sie uns mit Blick auf die Balkanregion auch
hat die Einzelheiten und Hintergründe zu diesem Einsatz die Rolle unserer transatlantischen Partner, vor allem der
in seinem Debattenbeitrag am 26. Mai an dieser Stelle USA, im Blick behalten; denn sie übernehmen eine ver-
ausführlich erläutert. Erlauben Sie mir daher einige An- antwortungsvolle Rolle in der Region. So sind sie neben
merkungen zur Entwicklung in Serbien; denn dort liegt der EU aktiv an den direkten Gesprächen zwischen Ser-
ein ganz wesentlicher Schlüssel zu einer besseren Zu- ben und Kosovaren beteiligt.
kunft auch des Kosovo.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Balkanregion steht nach wie vor unter dem Ein-
druck der Festnahme des Menschenschlächters von Sre- Kommen Sie bitte zum Schluss.
brenica, Ratko Mladic. Mladic wird sich, wie seinerzeit
Slobodan Milosevic und derzeit Radovan Karadzic, vor Peter Beyer (CDU/CSU):
dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in ei- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wie be-
nem Prozess nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verant- deutend die verlässliche und partnerschaftliche Koopera-
worten müssen; er hat seinen Opfern im Übrigen stets tion mit unseren amerikanischen Freunden insgesamt ist,
die Rechtsstaatlichkeit verwehrt. Vieles ist für die Ange- hat der Besuch der Kanzlerin in Washington Anfang die-
hörigen der Opfer auch heute noch nur sehr schwer zu ser Woche eindrücklich gezeigt.
ertragen. Dennoch dürfen sie hoffen, durch die Themati-
sierung ihres Leids und die gerichtliche Aufarbeitung (Michael Groschek [SPD]: Das hören wir
Linderung zu erfahren. Dazu leistet der Internationale jeden Tag!)
Strafgerichtshof einen wertvollen Beitrag.
Zum Abschluss danke ich den Frauen und Männern,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die im Kosovo Dienst tun, und im Übrigen allen Solda-
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- tinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandsver-
NEN) wendungen. So aufgestellt, können die Kosovaren, kann
Europa und können wir mit angemessen nüchterner Zu-
Die serbische Regierung ist und bleibt aufgefordert, auf- versicht nach vorn schauen.
zuklären, weshalb es fast 16 Jahre gedauert hat, Mladic
festzusetzen, und welche Unterstützung er von wem, Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13095
Peter Beyer
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:3) (C)
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infek-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze
Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 17/5178 –
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
sache 17/6135 zu dem Antrag der Bundesregierung zur zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio- und weiterer Gesetze
nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/5706 anzuneh- – Drucksache 17/5708 –
men. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung na- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführe- für Gesundheit (14. Ausschuss)
rinnen, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
– Drucksache 17/6141 –
Sind die Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? –
Berichterstattung:
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Abgeordnete Lothar Riebsamen
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte Bärbel Bas
eingeworfen? – Dann schließe ich die Abstimmung und Lars Lindemann
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Harald Weinberg
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung Dr. Harald Terpe
wird Ihnen später bekannt gegeben.1) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch eine
schuss)
größere Zahl von Abstimmungen vorzunehmen. Ich bitte
Sie, soweit Sie sich daran beteiligen wollen, die Plätze – zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas,
einzunehmen, damit wir das zügig durchziehen können. Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
(B) den nun folgenden Tagesordnungspunkten sämtlich zu Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio- (D)
Protokoll zu nehmen. – Ich sehe, Sie sind damit einver- nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene
standen. Die Namen brauche ich nicht zu verlesen; sie und Prävention
erscheinen im Protokoll. – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:2) Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele LINKE
Hiller-Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödli-
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der che und gefährliche Keime bekämpfen
Fraktion der SPD
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Barrierefreier Tourismus für alle Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
– Drucksache 17/5913 – GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)
Prävention gegen Krankenhausinfektionen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie verbessern
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203,
Ausschuss für Bildung, Forschung und 17/6141 –
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Berichterstattung:
Haushaltsausschuss Abgeordnete Lothar Riebsamen
Bärbel Bas
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Lars Lindemann
Drucksache 17/5913 an die in der Tagesordnung aufge- Harald Weinberg
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Dr. Harald Terpe
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen. Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
1) Ergebnis Seite 13114 C
2) Anlage 2 3) Anlage 3
13096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) empfehlung auf Drucksache 17/6141, den Gesetzent- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf LINKE
Drucksache 17/5178 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostof-
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- fen durchsetzen
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- – Drucksache 17/5917 –
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Überweisungsvorschlag:
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
fraktionen angenommen. Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit
Dritte Beratung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Technikfolgenabschätzung
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Drucksache 17/5917 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
fiehlt der Ausschuss, den wortgleichen Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/5708 für erle- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:2)
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
schlussempfehlung ist angenommen. barkeit von Pflege und Beruf
Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstim- – Drucksache 17/6000 –
mung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Überweisungsvorschlag:
Gesundheit auf Drucksache 17/6141 fort. Der Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh- Rechtsausschuss
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD Ausschuss für Arbeit und Soziales
auf Drucksache 17/4452 mit dem Titel „Besserer Schutz Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO
vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal
für Hygiene und Prävention“. Wer stimmt für diese Be- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt
(B) Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (D)
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der SPD und Enthaltung von den Linken und
Bündnis 90/Die Grünen. Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
verbessern – Pflegende Bezugspersonen wirk-
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab- sam entlasten und unterstützen
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4489 mit dem Titel „Krankenhausinfektionen – Drucksache 17/1434 -
vermeiden – Tödliche und gefährliche Keime bekämp- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
fen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Finanzausschuss
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Ausschuss für Arbeit und Soziales
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Haushaltsausschuss
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
tion. Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- tion DIE LINKE
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- Bezahlte Pflegezeit einführen – Organisation
che 17/5203 mit dem Titel „Prävention gegen Kranken- der Pflege sicherstellen
hausinfektionen verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksache 17/1754 –
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit Überweisungsvorschlag:
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim- Ausschuss für Gesundheit (f)
men der Linken und Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
tung der SPD.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6000, 17/1434 und 17/1754 an die
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/6000

1) Anlage 4 2) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13097
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) soll außerdem an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 17 auf:2) (C)
der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da-
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Überweisungen so beschlossen.
zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:1) Fortentwicklung des Emissionshandels
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker – Drucksachen 17/5296, 17/5711 –
Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, wei-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
heit (16. Ausschuss)
eines Gesetzes über die Änderung der Vorna-
men und die Feststellung der Geschlechtszuge- – Drucksache 17/6124 –
hörigkeit (ÄVFGG)
Berichterstattung:
– Drucksache 17/2211 – Abg. Andreas Jung (Konstanz)
Überweisungsvorschlag: Abg. Frank Schwabe
Innenausschuss (f) Abg. Michael Kauch
Rechtsausschuss Abg. Eva Bulling-Schröter
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Abg. Dr. Hermann Ott
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE – Drucksache 17/6125 –
Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle, Berichterstattung:
Transgender und Intersexuelle gewährleisten – Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Transsexuellengesetz aufheben Sören Bartol
Heinz-Peter Haustein
– Drucksache 17/5916 – Michael Leutert
Überweisungsvorschlag: Sven-Christian Kindler
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Rechtsausschuss Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
(B) Federführung strittig seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6124, (D)
Tagesordnungspunkt 23 a. Interfraktionell wird die den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2211 an die sachen 17/5296 und 17/5711 in der Ausschussfassung
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
Tagesordnungspunkt 23 b. Die Vorlage auf Drucksa- nommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und
che 17/5916 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, Enthaltung SPD
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Fe- und Grüne.
derführung ist hier jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen die Federführung beim Dritte Beratung
Innenausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht die Fe- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Frauen und Jugend. Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Stimmenverhältnis angenommen.
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
Die Linke. lierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver-
mögensanlagenrechts
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer – Drucksache 17/6051 –
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstim- Überweisungsvorschlag:
men? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Lin- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
ken angenommen. Damit liegt die Federführung beim In- Verbraucherschutz
nenausschuss. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

1) Anlage 9 2) Anlage 6
13098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): auf die Länder und Kommunen zukommen. Diese kön- (C)
Mit der heutigen Einbringung des Gesetzes zur No- nen aber zum einen durch Gebühren gedeckt werden.
vellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermö- Und zum anderen sei angemerkt, dass zukünftig die Prü-
gensanlagenrechts gehen wir einen weiteren wichtigen fung, ob es sich bei bestimmten Produkten des Grau-
Schritt in Richtung besserer, sicherer und fairer Finanz- marktbereichs um nach der Gewerbeordnung erlaubte
märkte. Finanzanlagen handelt, wegfallen wird, was wiederum
eine Erleichterung darstellt.
Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Anleger-
schutz- und Funktionsverbesserungsgesetz zu Beginn Lassen Sie mich kurz eine erste Bewertung – oder
dieses Jahres haben wir ein wesentliches Fundament für besser: Einordnung – des Gesetzentwurfes vornehmen –
einen verbrauchergerechteren Finanzmarkt gelegt. Wir eine Einordnung der im Gesetz vorgesehenen Produkt-
haben schon damals darauf hingewiesen, dass ein Ge- und Vertriebsregulierung. Ein wesentlicher Teil dieses
setz zur Regulierung des sogenannten grauen Kapital- Gesetzentwurfes befasst sich mit der Regulierung von
marktes folgen wird. Dieses Gesetz legen wir Ihnen nun Produkten, insbesondere mit der Regulierung von ge-
heute, wie angekündigt, vor. schlossenen Fonds. Das ist uns sehr wichtig. Es ist uns
deswegen sehr wichtig, weil wir glauben, dass gerade
Mit dem Finanzanlagenvermittler- und Vermögens- im Bereich der geschlossenen Fonds Handlungsbedarf
anlagengesetz stellen wir sicher, dass die Pflichten für besteht. Wir haben in den Vorgesprächen zu diesem Ge-
Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die im regulier- setz zur Kenntnis genommen, dass die seriösen Anbieter
ten Finanzmarktbereich bereits Standard sind, nun auch dieser Produkte sehr daran interessiert sind, eine weit-
auf Produkte des bisher unregulierten, also des Grau- reichende, über alle bisherigen Vorschriften hinausge-
marktbereichs ausgeweitet werden. Durch diese Auswei- hende Regulierung für diesen Bereich zu organisieren.
tung der Produkt- und Vertriebsregulierungsmaßnah- Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag dafür, dass un-
men – zum Beispiel auf geschlossene Fonds – werden seriös handelnde Unternehmen aus dem Markt heraus-
Anleger nun auch in diesen Bereichen besser und um- gehalten werden. Letztlich nützt diese Regulierung also
fänglicher geschützt. Zu den Regelungen gehört eine nicht nur den Verbrauchern, die qualitativ hochwerti-
Vielzahl von Beratungs- und Dokumentationspflichten, gere Produkte erhalten, sondern auch den Anbietern, die
wie beispielsweise das aufsichtsrechtliche Gebot, anle- in einem sauberen Marktumfeld arbeiten können. Die
gergerecht zu beraten, die Provisionen für entspre- Verlängerung von Prospekthaftungsfristen, erweiterte
chende Produkte und Dienstleistungen offenzulegen so- Rechnungslegungsfristen und einige weitere Maßnah-
wie die Pflicht, Protokolle über Beratungsgespräche zu men leisten ein Übriges, um eine bessere Produktquali-
führen und diese dem Anleger zur Verfügung zu stellen. tät sicherzustellen.
(B) Darüber hinaus sieht der Entwurf die Einführung (D)
Produktregulierung ist im Übrigen ein Bereich, der
strengerer Anforderungen an den Inhalt und die Prüfung von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
von Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen vor. Wie überwacht wird. Nun kann man kritisieren, dass eben
bereits für Banken im Anlegerschutzgesetz verbindlich diese Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
geregelt, werden nun auch die Anbieter von Vermögens- nicht auch damit betraut wird, die Aufsicht über die Fi-
anlagen des bisher unregulierten Marktes verpflichtet, nanzanlagenvermittler und damit über die Vertriebs-
kurze und übersichtliche Produktinformationsblätter zu wege zu führen. Denn dies soll – wie bisher – über die
erstellen, um den Anlegern in leicht verständlicher Art Gewerbeordnung geregelt werden. Wir nehmen diese
und Weise wichtige Informationen über Chancen und Ri- Kritik sehr ernst und haben schon im Vorfeld des Gesetz-
siken der ihnen angebotenen Produkte zu liefern. Zudem gebungsprozesses intensiv über diese Frage diskutiert.
sollen für Emittenten von Vermögensanlagen zukünftig
strengere Rechnungslegungsvorschriften gelten. So ist Auf der einen Seite wäre es sicherlich wünschens-
beispielsweise vorgesehen, dass Emittenten für jeden wert, für den gesamten Finanzdienstleistungsbereich
Fonds einen Jahresabschluss und einen Lagebericht in- eine Aufsicht aus einer Hand zu organisieren. Auf der
nerhalb von sechs Monaten nach Ende des Geschäfts- anderen Seite muss man aber sehen, dass die BaFin
jahres von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen und eben nicht darauf ausgerichtet ist, kleinteilige Struktu-
den Anlegern zur Verfügung stellen müssen. All diese ren, wie sie zum Beispiel bei den Finanzanlagevermitt-
Maßnahmen leisten einen entscheidenden Beitrag für lern, aber auch bei Versicherungsvermittlern vorliegen,
die Förderung der Transparenz und des Anlegerschutzes zu überwachen. Die BaFin kann und macht Institutsauf-
auf den Kapital- und Finanzmärkten. sicht. Zu welchen Problemen „BaFin light“ führen
kann, sehen wir ganz aktuell im Bereich der Leasingun-
Für die Erteilung einer Erlaubnis für den gewerbe- ternehmen, die über die bürokratischen und formalen
rechtlichen Vertrieb von Finanzanlagen und für die Fi- Belastungen sowie über die Art und Weise, wie die
nanzberatung sollen darüber hinaus künftig strengere BaFin die Aufsicht durchführt, klagen.
Zulassungs- und Beratungsvorschriften gelten. Darun-
ter fallen auch der Nachweis der Sachkunde sowie der Ich rate daher dringend dazu, die Diskussion weniger
Nachweis über eine Berufshaftpflichtversicherung. an den aufsichtsrechtlichen Strukturen festzumachen,
sondern sich vielmehr auf die Inhalte und Standards zu
Natürlich werden durch diese zusätzlichen Prüfungen konzentrieren.
im Rahmen des Erlaubnisverfahrens sowie durch die
Prüfungen zur Einhaltung der Informations-, Bera- Genau das werden wir im Gesetzgebungsprozess tun.
tungs- und Dokumentationspflichten zusätzliche Kosten Wir möchten erreichen, dass die Verbraucher unabhän-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13099
Ralph Brinkhaus
(A) gig vom Vertriebsweg einheitliche Qualitätsstandards Der Anlegerschutz ist gewährleistet durch eine um- (C)
vorfinden. Und gerade das ist das dezidierte Ziel dieses fassende Prospektpflicht. Es gelten die gesetzlichen Re-
Gesetzentwurfes. Wir werden im parlamentarischen geln über Haustürgeschäfte. Es gelten die gesetzlichen
Prozess daher sorgfältig prüfen, ob und in welchem Um- Regeln über verbundene Darlehen. Insbesondere sind
fang dieses Ziel erreicht wird. Unser Augenmerk liegt im grauen Kapitalmarkt nicht die Ursachen für die Fi-
dabei in erster Linie auf den Inhalten und weniger auf nanzkrise zu finden. Diese entspringt dem regulierten
den Organisationsstrukturen. Bankenmarkt. Um es ganz klar zu sagen: Die Finanz-
krise ist daher ein Kind genau des Marktsegments, das
Das Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla- die dichteste Regulierung mit den schärfsten staatlichen
gengesetz ist im Kontext mit bereits abgeschlossenen, Aufsichtsmitteln überhaupt vorweist.
aber auch mit den noch geplanten bzw. den zum Teil
schon auf den Weg gebrachten Regulierungsvorhaben zu Trotz des Befunds eines ausgewogenen ordnungspoli-
sehen. Zu den abgeschlossenen Maßnahmen gehören tischen Rahmens hat sich die Koalition entschlossen,
insbesondere das Anlegerschutz- und Funktionsverbes- das Netz um die Produkte und Akteure des sogenannten
serungsgesetz, aber auch Projekte wie OGAW IV. Bei grauen Kapitalmarkts so zu knüpfen, dass seine Ma-
den geplanten Vorhaben ist zum Beispiel die AIFM- schen den Anleger genauso schützen, wie es bei den
Richtlinie zu nennen. Im Zusammenspiel all dieser Ge- Wertpapierdienstleistern der Fall ist. Ziel ist ein ver-
setze, Richtlinien und Verordnungen haben und werden gleichbares Spielfeld für die Wettbewerber. Fehlanreize,
wir die Finanzmärkte, wie einleitend bemerkt, besser, von dem einen auf den anderen Markt auszuweichen,
fairer und sicherer machen. Die christlich-liberale Ko- soll es nicht geben. Wir wollen daher eine konsistente
alition hat hier in den letzten zwölf Monaten ein un- Produktregulierung sicherstellen. Dazu greifen wir in
glaubliches Tempo vorgelegt und eine Menge auf den das bestehende haftungs- und aufsichtsrechtliche Ge-
Weg gebracht, darunter auch international Maßstab set- füge ein.
zende Projekte wie das Bankenregulierungsgesetz oder Bei den zusätzlichen Anforderungen an freie Vermitt-
das Verbot der Leerverkäufe. Weitere wichtige Initiati- ler und an die Produkte berücksichtigen wir, dass sich
ven werden in den nächsten Monaten folgen. Vermögensanlagen von Wertpapieren unterscheiden.
Wertpapiere sind standardisiert und liquide, Vermögens-
Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf der anlagen sehr verschieden und oft illiquide Finanzpro-
Bundesregierung. Wir werden in den Fachausschüssen dukte. Das führt zu besonderen Anforderungen insbe-
weiter daran arbeiten und dazu noch vor der parlamen- sondere bei der Aufsicht über ihren Vertrieb. Denn der
tarischen Sommerpause eine Anhörung mit zahlreichen Verkauf von Vermögensanlagen vollzieht sich auf andere
Sachverständigen vornehmen. Wir freuen uns auf die Weise als der von Wertpapieren als standardisiertem
(B) Stellungnahmen der Experten und die Erkenntnisse, die (D)
Produkt. Die gleiche Behandlung von Ungleichem ist
wir daraus gewinnen werden. Und wir freuen uns auf die hier nicht sachgerecht. Dem tragen wir Rechnung. Eine
bevorstehenden, hoffentlich fachlichen, Diskussionen. engere Aufsicht über den Vertrieb von Wertpapieren und
Ich lade Sie alle recht herzlich ein, sich konstruktiv da- Vermögensanlagen muss sich in das System der Gewer-
ran zu beteiligen, um das Gesetz nach der Sommerpause beaufsicht einfügen. Vermittler von Finanzanlagen sind
zu einem guten Abschluss zu bringen. keine Banken. Sie können nicht wie diese reguliert wer-
den. Hier geht es um einen Zuschnitt des Formats der
Frank Schäffler (FDP): Aufsicht auf die Bedürfnisse des Anlegerschutzes einer-
seits und der Struktur der Branche andererseits. Des-
Die Bundesregierung legt den Entwurf eines Gesetzes halb setzen wir im Bereich des Anlageprodukts und im
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver- Bereich der Akteure jeweils am effektivsten Aufsichtshe-
mögensanlagenrechts vor. Dieser soll alle Fragen rund bel an. Unser Vorbild bei der Aufsicht sind die Regeln,
um den sogenannten grauen Kapitalmarkt neu regeln. die sich bei den Versicherungsvermittlern schon bewährt
In diesem Zusammenhang ist zunächst mit einem weit haben. Unser Vorbild bei der Produktregulierung sind
verbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Der graue Kapital- die Regeln über Wertpapiere. Abgerundet wird das Ge-
markt ist nicht unreguliert. Die Produktanbieter und setz durch die Beseitigung einiger Schwachstellen in
Vermittler auf dem grauen Kapitalmarkt bedürfen schon dem Bereich der Regulierung, der am schlagkräftigsten
ist, nämlich bei der zivilrechtlichen Haftung.
heute einer Gewerbeerlaubnis und unterliegen den all-
gemeinen Anforderungen der Gewerbeordnung. Sie haf- Im Einzelnen nun zu den drei Kernpunkten Produkt-
ten nicht nur für Betrug, was eine Selbstverständlichkeit aufsicht, Vermittleraufsicht und Haftungsrecht: Im Pro-
ist, sondern zusätzlich für jegliche Schlecht- und Falsch- duktbereich wird der Bundesanstalt für Finanzdienst-
beratung. Die zugehörige Rechtsprechung des Bundes- leistungsaufsicht zukünftig eine größere und tragende
gerichtshofs existiert seit nunmehr rund 20 Jahren. Sie Rolle zukommen. Im Rahmen einer Kohärenzprüfung
hat sich bewährt und hat gerade in den letzten Jahren an wird sie die Verkaufsprospekte auf Verständlichkeit
Schärfe sogar noch gewonnen. So gilt beispielsweise die überprüfen. Damit heben wir das Niveau bei den Ver-
Kick-back-Entscheidung des BGH zur Offenlegung von kaufsprospekten für Vermögensanlagen auf das Schutz-
Provisionen in Form von Rückvergütungen nicht nur für niveau bei den Wertpapierverkaufsprospekten an. Die
Banken, sondern auch für die Anbieter anderer Finanz- Bundesanstalt wird zukünftig auch die innere Wider-
anlagen. Es mangelt daher nicht an Transparenz bei den spruchsfreiheit der zwingenden Prospektangaben über-
vertriebenen Anlagen. prüfen. Zu dieser inhaltlichen Prüfung ist fachlich nie-

Zu Protokoll gegebene Reden


13100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Frank Schäffler
(A) mand besser geeignet als die Bundesanstalt. Gleichwohl das Vorliegen des uneingeschränkten Testats. Nichts an- (C)
sind wir uns einig, dass die Schaffung eines weiterge- ders würde übrigens die Bundesanstalt machen. Hielte
henden Schutzes etwa in Form einer umfangreichen in- man hier eine Verantwortlichkeit der Bundesanstalt für
haltlichen Prüfung unmöglich zu leisten ist. Die Bundes- notwendig, so schösse man mit Kanonen auf Spatzen.
anstalt ist keine Behörde des Verbraucherschutzes und Denn wer hier eine Zuständigkeit der Bundesanstalt for-
wird es auch niemals sein. dert, der fordert wegen der hohen Compliance-Kosten
ein faktisches Arbeitsverbot für 80 000 kleine, mittlere
Im Vermittlerbereich werden wir präventiv tätig, in- und vor allem eigenverantwortlich tätige Unternehmer.
dem wir den Marktzugang in ordnungspolitischer Ab- Neben einmaligen Initiierungskosten in Höhe von rund
sicht und marktverträglich einschränken. Erstens ver- 30 000 Euro würden bei einer Regulierung nach dem
langen wir von den Finanzanlagenvermittlern einen KWG laufende Kosten von jährlich mehr als 30 000
Sachkundenachweis. Dieser wird höhere Anforderungen Euro anfallen. Das kann ein freier Vermittler nicht leis-
an die Vermittler stellen als an Mitarbeiter von Banken. ten.
Zweitens werden die Vermittler zukünftig eine Berufs-
haftpflichtversicherung vorweisen müssen, mit der even- Durch eine KWG-Regulierung verschwände der freie
tuelle Vermögensschäden abgedeckt werden können. Vermittler. Aber es verschwände natürlich nicht der
Das Risiko des Kunden, schlecht beraten zu werden und Markt für Vermögensanlagen. Diesen teilen sich derzeit
dann auf dem Schaden und zusätzlich den verauslagten die Banken mit 40 Prozent und die freien Vermittler mit
Prozesskosten sitzen zu bleiben, sinkt dadurch beträcht- 60 Prozent Marktanteil. Eine Regulierung des Vertriebs
lich. Hier sind wir nah an dem, was die Anleger als von Vermögensanlagen durch die Bundesanstalt würde
Nachfrager von den Vermittlern ohnehin bereits verlan- die Marktverhältnisse deutlich verschieben. Wir bekä-
gen; denn ein Großteil der Vermittler hat auf freiwilliger men eine gesetzlich bewirkte Marktkonzentration. Der-
Basis eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung artige Folgen würden wir – und nicht nur wir von der
abgeschlossen. FDP – bei jeder anderen Gelegenheit bekämpfen.
Drittens erweitern wir das bereits für Versicherungs- Abgerundet wird das Gesetz durch eine systematisie-
vermittler bei den Industrie- und Handelskammern ge- rende Angleichung bei der Prospekthaftung. Durch die
führte Verzeichnis um die Finanzanlagenvermittler. Wir Aufhebung des Verkaufsprospektgesetzes und die Strei-
nutzen so vorhandene und bewährte Strukturen in kos- chung der Vorschriften über die Prospekthaftung aus
tengünstiger Weise aus. Und anders als das kürzlich ein- dem Börsengesetz wird die bisherige künstliche Tren-
geführte Beraterregister für Wertpapierdienstleister nung aufgehoben. Inhaltlich finden sich die Vorschriften
wird das Register öffentlich sein. Anleger und Behörden dann in Form einer Regelung im Wertpapierprospektge-
können daher bundesweit zugreifen und kontrollieren, setz wieder. Endlich wird dann auch die Verjährung der
(B) (D)
mit wem sie es zu tun haben. Mit dieser Struktur wird es Haftung einheitlicher aussehen und vor allem verlän-
deutliche Verbesserungen beim präventiven Anleger- gert.
schutz geben. Sollte die Bundesanstalt zum Beispiel auf
ein Schneeballsystem im Bereich der Vermögensanlagen Ich fasse zusammen: Mit dem Gesetz erleichtern wir
aufmerksam werden, so kann sie nicht nur eine Warnung insbesondere die Durchsetzung von Ansprüchen. Der
vor dem Produkt aussprechen, sondern zusätzlich über präventive Sachkundenachweis siebt erstens die
die Daten im Vermittlerregister die Vermittler ausfindig schwarzen Schafe aus. Kommt es dann zu einem Haf-
machen und die Gewerbeaufsichtsämter darüber infor- tungsfall, erleichtern wir zweitens die Identifizierung
mieren, welche der ihrer örtlichen Zuständigkeit unter- des Anspruchsgegners über das Werkzeug des Ver-
fallenden Vermittler am Vertrieb des Schneeballprodukts mittlerregisters. Bei der gerichtlichen Geltendmachung
beteiligt sind. Mit dem herkömmlichen und wohlbekann- hilft dem Anleger drittens die Verlängerung der Verjäh-
ten Mittel der verwaltungsrechtlichen Auflage kann das rung. Viertens sind die Titel nicht wertlos, weil es durch
Gewerbeaufsichtsamt den Vertrieb des Produkts unter- die Berufshaftpflicht zukünftig eine ausreichende Haf-
sagen. Das ist nur möglich, weil auf die dezentrale tungsmasse geben wird, aus der etwaige Schadenser-
Struktur der Gewerbeaufsicht zurückgegriffen wird. Wir satzansprüche befriedigt werden können.
vereinen so das Beste beider Welten.
Dr. Carsten Sieling (SPD):
Die Bundesanstalt verfügt über die Produktexpertise, Täglich ringen die Staats- und Regierungschefs mit
die wir mit der jahrelangen Erfahrung und dem Vor-Ort- der europäischen Schuldenkrise und darum, die interna-
Wissen der Gewerbeaufsicht – die ohnehin schon für die tionalen Finanzmärkte endlich zu zähmen. Abseits da-
Vermittler zuständig ist und diese kennt – kombinieren. von und weitgehend unbeachtet werden in Deutschland
Jeder macht das, was er am besten kann. Das gilt auch auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt tausendfach
für die fortgesetzte Aufsicht über den laufenden Betrieb hochrisikoreiche, intransparente und schädliche Anla-
der Finanzanlagenvermittler. Mit einer Rechtsverord- geprodukte an Anlegerinnen und Anleger verkauft, die
nung werden wir die Informations-, Beratungs- und Do- für sie immer wieder mit erheblichen Verlusten verbun-
kumentationspflichten aus dem Wertpapierhandelsge- den sind. Dort tummeln sich unseriöse Anbieter, oftmals
setz auf die Finanzanlagenvermittler ausdehnen. Die schlecht ausgebildet und teils in betrügerischer Absicht.
fachliche Beurteilung, ob diese Pflichten eingehalten
worden sind, erfolgt durch das Testat eines Wirtschafts- Spektakuläre Fälle wie die Insolvenz der Phoenix Ka-
prüfers. Die Sachkunde hierzu liegt also bei externen pitaldienst GmbH mit rund 30 000 betrogenen Anlege-
Dritten. Die Gewerbeaufsicht überprüft nicht mehr als rinnen und Anlegern und einem Gesamtschaden von

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13101
Dr. Carsten Sieling
(A) über 200 Millionen Euro oder der Skandal um die Göt- Die Realität sieht anders aus: In Zukunft hängt der (C)
tinger Gruppe Vermögens- und Finanzholding GmbH & Schutz der Anlegerinnen und Anleger davon ab, welches
Co. KGaA mit geschätzten 200 000 Geschädigten sind Produkt sie kaufen: Bei einer Aktie sitzen die Profis der
nur die bekanntesten Einzelfälle. Diesen Markt müssen BaFin dem Anbieter im Nacken, bei einem geschlosse-
wir endlich ans Licht holen. nen Fonds das Gewerbeamt Henstedt-Ulzburg.
Die Regierung ist mit dem erklärten Ziel gestartet, Fußnote: Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass
hier Abhilfe zu schaffen. Seit über einem Jahr warten Verbraucherschutzministerin Aigner bisher noch nicht
wir nun auf einen Gesetzesvorschlag. Jetzt liegt uns der erwähnt wurde. Noch Ende letzten Jahres hat sie groß-
„Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagen- spurig gefordert, die Finanzaufsicht bei der BaFin zu
vermittler- und Vermögensanlagenrechts“ vor. Nur: Lei- konzentrieren. In der Berliner Invalidenstraße bei
der wird hier nicht gut, was lange währt. Minister Brüderle und in der Wilhelmstraße bei Minister
Schäuble hat man damals darüber wahrscheinlich nur
Immerhin: Die umständliche Bezeichnung des Geset- müde gelächelt, wenn überhaupt. Die Ministerin ist
zes bringt einen Fortschritt: Die Koalition versucht nichts anderes als ein Totalausfall.
nicht – wie unlängst beim „Anlegerschutz- und Funk-
tionsverbesserungsgesetz“ – mit schicken Namen zu Stichwort „KWG-light“: Für die SPD-Fraktion ist
verschwurbeln, dass leider ganz und gar nicht das drin- klar, dass nicht jeder freie Vermittler in den Entschädi-
steckt, was auf Seite eins des Konvoluts angekündigt ist. gungsfonds der Wertpapierhandelsunternehmen einzah-
Denn dass dieser Vorschlag tatsächlich dazu beiträgt, len muss, die Vorschriften zum Risikomanagement von
den grauen Kapitalmarkt endgültig zu zähmen, ist mehr Finanzdienstleistungsinstituten anwenden oder alle Be-
als zweifelhaft. richtspflichten für Großbanken erfüllen kann und soll.
Das ist unnötige Bürokratie und bringt keinen wirkli-
Das lässt sich auch begründen. Ich will mich hier nur chen Mehrwert. Hier müssen wir angemessene Regelun-
auf einige wenige Punkte konzentrieren: gen finden, die die Spezifika des Vermittlermarktes be-
rücksichtigen und die immer wieder unter dem Stichwort
Erstens: Die Aufsicht über die freien Vermittler bleibt
„KWG-light“ diskutiert werden. Ich habe die große
bei den Gewerbebehörden.
Hoffnung, dass sich die Vertreter der Regierungskoali-
Finanzminister Schäuble hatte in einem ersten Ent- tionen hier durchsetzen, die schon damals der Meinung
wurf für das Gesetz im März 2010 eine Regelung vorge- waren, dass eine „KWG-light“-Lösung die bessere Al-
sehen, wonach – statt wie derzeit die Gewerbeämter – ternative zur gewerberechtlichen Lösung ist.
die BaFin zukünftig die Aufsicht über die ungefähr
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu ei-
(B) 80 000 freien Vermittlerinnen und Vermittler bekommen nen sehr eleganten Weg vorgeschlagen: Die Aufsichts- (D)
soll. Das ist nicht nur im Hinblick auf eine umfassende
befugnis der BaFin über den freien Vermittlermarkt wird
Aufsicht in Deutschland logisch, sondern auch ange-
dort über eine spezielle Norm in der Gewerbeordnung
sichts der personellen Situation der Gewerbeämter in
verankert. Welche Anforderungen aus dem Kreditwesen-
Deutschland mehr als notwendig. Wer soll auch Tau-
gesetz darüber hinaus für die freien Vermittler gelten
sende Finanzvermittler kontrollieren, wenn er sich sonst
sollen, könnte dann im Rahmen einer „Opt-in“-Lösung
um Frittenfett und die Organisation des örtlichen Weih-
ebenfalls in der Gewerbeordnung verankert werden. So
nachtsmarktes kümmert? Das leuchtet jedem ein, nur
ersparen wir uns auch die Krücke eines umfangreichen
nicht der Lobby der Finanzvermittler. Also wurde eine
Ausnahmenkatalogs für die freien Vermittler im KWG.
Unterschriftenaktion gestartet, Horrorzahlen zu zusätz-
lichen Kosten veröffentlicht, mit dem Verlust von Tau- Der Vorschlag zeigt einmal mehr überdeutlich: Ein
senden Arbeitsplätzen – kurz mit dem Untergang des einheitliches Schutzniveau für die Anlegerinnen und An-
Abendlandes – gedroht. leger ist möglich, ohne die Branche zu überfordern. Die
SPD bietet an diesem Punkt ausdrücklich ihre Unterstüt-
Im damaligen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle zung an.
fand sich denn auch eine Marionette, die die Argumente
der Finanzvermittlerlobby nachtrompetete und dabei so- Zweitens: Neue Anforderungen an die freien Vermitt-
gar in Kauf nahm, dass Finanzminister Schäuble seinen ler.
ursprünglichen Gesetzentwurf zurückziehen musste
und nun ein Vorschlag auf dem Tisch liegt, beim dem Den Koalitionären von CDU und CSU ist es ganz of-
die BaFin auch zukünftig bei der Aufsicht außen vor fensichtlich ein wenig peinlich, wie ihre Minister
bleibt. Das ist gegen jede Vernunft und widerspricht Schäuble und Aigner vom Ex-Wirtschaftsminister beim
auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb, wo es Thema BaFin-Aufsicht am Nasenring durch die Manege
heißt: gezogen wurden. Deshalb ist jetzt wohl die neue Sprach-
regelung, dass trotz Gewerbeaufsicht für die Vermittler
„Wir wollen ein konsistentes Finanzdienstleistungs- ganz neue, zusätzliche Anforderungen gelten sollen:
recht schaffen, damit Verbraucher in Zukunft besser vor Sachkundeprüfung, Haftpflichtversicherung, Zuverläs-
vermeidbaren Verlusten und falscher Finanzberatung sigkeit, geordnete Vermögensverhältnisse und Berichts-
geschützt werden. Ein angemessener Anlegerschutz ge- pflichten. Dieser Vorschlag ist richtig und unterstützens-
gen unseriöse Produktanbieter und Falschberatung wird wert. Denn bis jetzt hat mir noch niemand erklären
prinzipiell unabhängig davon gewährleistet, welches können, warum Friseure und Kfz-Mechaniker im Neben-
Produkt oder welcher Vertriebsweg vorliegt.“ beruf der Verwandtschaft und dem geneigten Freundes-

Zu Protokoll gegebene Reden


13102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Carsten Sieling


(A) kreis beim gemeinsamen abendlichen Grillen teils hoch- Harald Koch (DIE LINKE): (C)
riskante geschlossene Fonds verkaufen dürfen. Ich möchte diesen Gesetzentwurf und seine Entste-
hung mit einem 100-Meter-Lauf vergleichen. Die Bun-
Nur: Alles das soll in einer vom Finanzministerium desregierung wusste seit Jahren, dass etwas getan
gut gehüteten Verordnung geregelt werden, die der Bun- werden muss, um den Auswüchsen des grauen Kapital-
destag noch nicht zu Gesicht bekommen hat und die marktes Einhalt zu gebieten. Nun sprintet man los, etwas
– Zitat Gesetzentwurf – „ein vergleichbares Anleger- holprig, aber immerhin in die richtige Richtung. Nach
schutzniveau“ wie im Wertpapierhandelsgesetz sicher- 50 Metern beginnen Sie jedoch schon, die Arme hochzu-
stellen soll. Das macht misstrauisch; denn Staatssekre- reißen und zu jubeln, obwohl das eigentliche Ziel noch
tär Asmussen aus dem Finanzministerium hat in diesem nicht erreicht ist.
Zusammenhang von einer Eins-zu-eins-Lösung gespro-
chen. Die SPD wird genau darauf achten, ob das Ver- Der graue Kapitalmarkt ist der Teil des Kapitalmark-
sprechen der Eins-zu-eins-Lösung auch eingelöst wird. tes, der nicht vollständig unter das Kreditwesen-, Invest-
Ich bleibe skeptisch. ment- und Versicherungsaufsichtsgesetz fällt und somit
fast gar nicht durch Rechtsvorschriften und Behörden
Drittens: Das geplante Vermittlerregister. kontrolliert wird. Zu ihm gehören in erster Linie ge-
Seit der Verabschiedung des Anlegerschutzgesetzes in schlossene Fonds (Immobilien, Schiffe, Photovoltaik
diesem Frühjahr müssen sich alle 300 000 Bankberater etc.), Bauherrenmodelle, bestimmte Genussrechte, Ge-
und Tausende Vertriebsbeauftragte sowie Compliance- schäfte mit Bankgarantien sowie manche Steuerspar-
Beauftragte der Banken ausnahms- und anlasslos in ein modelle. Das gravierende Regulierungs- und Aufsichts-
internes Register bei der BaFin eintragen. Treten dann gefälle zum regulierten „weißen“ Kapitalmarkt ist das
im Beratungsgeschäft Kundenbeschwerden auf, sind sie zentrale Problem.
der BaFin zu melden, die ihrerseits Sanktionen bis hin Ich möchte geschlossene Fonds herausgreifen: Sie
zum Tätigkeitsverbot für die einzelnen Berater verhän- sind in der Regel unternehmerische Beteiligungen ohne
gen darf. Die SPD-Fraktion hat diese Registerlösung als Stimmrecht und zugleich schwer handel- bzw. verkaufbar.
bürokratischen Unfug kritisiert. Wir wollten die Berater Dem Anleger muss bewusst sein, dass er das volle Unter-
erst beim Eingang solcher Beschwerden in dem Register nehmerrisiko bis hin zum Totalverlust trägt und dass
erfassen. Das wäre sinnvoll gewesen, ohne die präven- unter Umständen Nachschusspflichten bestehen. Große
tive Wirkung der Datenbank zu mindern. Anteile der Beteiligungssummen – zum Beispiel Ver-
Das Register ist jetzt offensichtlich die Allzweckwaffe triebsprovisionen und Marketingkosten – wandern schon
der Koalition: Im „Copy-Paste-Modus“ sieht nun auch vorab in die Taschen der Fonds-Emittenten und -Vermitt-
(B) dieser Gesetzentwurf vor, dass sich künftig alle 80 000 ler. (D)
Vermittler in das bereits existierende Register für Versi- Nach wie vor gibt es eine erschreckend hohe Zahl an
cherungsvermittler eintragen müssen. Nur: Bei der unseriösen Emittenten, deren graue Finanzprodukte von
Markierung des zu kopierenden Textes ist dem Ministe- wiederum unseriösen, wenig qualifizierten und provi-
rium offenbar ein Fehler unterlaufen. Denn sämtliche sionsgetriebenen Produktvermittlern vertrieben werden.
Passagen zur Möglichkeit von Kundenbeschwerden und Diese locken Anleger mit dem Versprechen hoher Ren-
Sanktionen der Aufsichtsbehörde wie im Bankensektor dite und mit geschicktem Marketing in ihre Produkte,
fehlen im Gesetzentwurf. Wir helfen da gerne bei den welche die zuvor gemachten Versprechen in der Regel
Grundfunktionen von „Windows Word“ nach. nicht einlösen. Eine anlegergerechte Beratung oder Ver-
mittlung findet nicht statt. Da Risiko und Kosten dieser
Diese kurze Aufzählung macht schon deutlich, dass
Finanzprodukte insgesamt beträchtlich sind, beschert
wir uns das Gesetz genau ansehen müssen. Viele andere
der ungeregelte graue Kapitalmarkt Anlegern jährlich
Punkte wären hier noch anzusprechen und werden uns
finanzielle Verluste in Milliardenhöhe. Dies darf so nicht
im Rahmen der Beratungen weiter beschäftigen. Stich-
weitergehen!
worte sind hier das geplante Vermögensanlageninfor-
mationsblatt – das VIB –, die neuen Prospektpflichten Die Linke ist deshalb der Meinung, dass Sie mit die-
oder die Vorschriften zur Wertermittlung der Anlage. sem Gesetzentwurf zumindest einen wichtigen und
längst überfälligen Schritt gehen, um weiterem verbrau-
Ich habe die Hoffnung, dass die Regierungskoalition
cherschädlichen Verhalten Einhalt zu gebieten.
vom Struck’schen-Gesetz – dass nämlich Gesetze den
Bundestag nie so verlassen, wie sie ihn erreichen – aus- Es war an der Zeit, den Finanzinstrumentebegriff
führlich Gebrauch macht. Es gibt viele Punkte, die an auszuweiten. Damit werden nun einige Produkte des
diesem Gesetzentwurf noch geändert werden müssen, grauen Kapitalmarktes als Vermögensanlage definiert,
damit für die Anlegerinnen und Anleger vom grauen Ka- die in der Folge dem Anwendungsbereich dieses Geset-
pitalmarkt nicht weiter unkalkulierbare Risiken ausge- zes unterliegen und so der Finanzaufsicht unterstellt
hen. werden. Natürlich muss man an dieser Stelle diskutieren,
ob nicht noch andere Anlageformen wie Bankgarantien
Die SPD will einen integren und transparenten Kapi- oder Schrottimmobilien mit in den Katalog aufgenom-
talmarkt, bei dem nicht die Anbieter und Vermittler so- men werden müssen.
wie der kurzfristige Gewinn und die Maximalrendite im
Mittelpunkt stehen, sondern die Anlegerinnen und Anle- Gut ist zudem, dass den Kreditinstituten mit dem Ge-
ger. Dafür kämpfen wir. setzentwurf einige Pflichten erwachsen, die im regulier-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13103
Harald Koch
(A) ten Bereich zu den Standards gehören: Es muss anleger- Dreierlei Dinge müssen infolgedessen angepackt (C)
gerecht beraten werden, Provisionen sind offenzulegen, werden: Nachschusspflichten sind von vornherein zu de-
und Beratungsprotokolle müssen angefertigt werden. ckeln, wenn es sie denn weiterhin geben soll. Produkte
Gerade bei der Provisionsoffenlegung sind jedoch noch mit Nachschusspflichten dürfen ebenso wenig wie An-
weitergehende Regelungen notwendig. Weichkosten und sparfonds aus dem Graumarktsegment aktiv an Anleger
Margen sind beispielsweise ohne Ausnahmen offenzule- vertrieben werden; über deren Risiken ist an „prominen-
gen. Alles in allem will die Linke aber provisionsgetrie- ter“ Stelle in Prospekten und Gesprächen umfassend
bene Beratung überwinden. Nur ohne Provisionsdruck aufzuklären. Und über ein Verbot von Blindpool-Kon-
kann Beratung von Finanzprodukten unabhängig und struktionen muss nachgedacht werden.
das verkaufte Produkt folglich passgenau dem tatsächli-
chen Anlegerinteresse entsprechen! Kommen wir nun noch zu den Finanzanlagenvermitt-
lern:
Eine bedeutende Ausnahmeregelung im Gesetzent-
wurf bereitet darüber hinaus Bauchschmerzen: Sehr Künftig soll die Gewerbeerlaubnis für Vermittler an
kleine Fonds bis 100 000 Euro und mit einer Stückelung einen Sachkundenachweis und eine Berufshaftpflicht-
in nicht mehr als 20 Anteile und demgegenüber sehr versicherung, ersatzweise eine entsprechende Kapital-
große Anteile von mindestens 200 000 Euro bleiben von ausstattung, gebunden sein. Die Linke begrüßt es, dass
den Vorschriften des Gesetzes unberührt. Damit wird die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Den-
unterstellt, dass sehr große Anteile nur von professionel- noch sollte man überlegen, ob es sinnvoll ist, dass ein
len Anlegern gehalten werden – die aufgrund der unter- einzelner, langjährig tätiger, seriöser Finanzvermittler
stellten „Professionalität“ als weniger schutzbedürftig nun einen Qualifikationsnachweis erbringen muss, der
gelten – und dass kleineren Investitionsvorhaben keine mit Folgekosten verbunden ist.
bürokratischen Erschwernisse auferlegt werden sollen.
Wenn Sie dies schon auf diese Weise regeln wollen,
Dagegen ist theoretisch wenig einzuwenden, aller- müssen Sie auch konsequent bleiben: Banken als Ganzes
dings wird vergessen, dass bei geschlossenen Fonds für fallen unter das Kreditwesengesetz. Doch dieses Gesetz
den Anleger auch Nachschusspflichten bestehen können. bietet nicht unbedingt ausreichende Gewähr dafür, dass
In diesem Falle wäre der Verlust pro Anteil nicht unbe- die Bankberater hinreichenden Sachverstand für eine
dingt nur auf 5 000 Euro begrenzt, sondern bedeutend anlegergerechte Beratung zu geschlossenen Fonds und
höher. Dies kann den Anleger immer weiter in Geldnot Genussrechten besitzen. Diese Finanzprodukte dürfen
und in eine Verschuldungsspirale treiben. Das dürfen sie aber am Schalter verkaufen. Es ist nicht plausibel,
Sie nicht zulassen! warum der Bankberater gegenüber dem einzelnen Ver-
(B) mittler eine Bevorzugung dadurch erfahren soll, dass er (D)
Man sollte an dieser Stelle die Produkt- bzw. Emitten- keinen gesonderten Qualifikationsnachweis erbringen
tenebene, auf der ja unter anderem Nachschusspflichten muss.
angesiedelt sind, stärker ins Auge fassen und auch dort
mit anlegergerechten Regelungen aufwarten: Seit eini- Der Linken ist wie auch den Verbraucherzentralen
gen Jahren gibt es vermehrt sogenannte Ansparfonds für generell wichtig, Vermittler von Vermögensanlagen
unternehmerische Beteiligungen, mit geringen Anzah- nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, der Gewerbe-
lungen und kleinen Monatsraten, damit auch Kleinanle- aufsicht, sondern der Finanzaufsicht, der BaFin, zu un-
ger ihren Anteil am Fonds über Jahre zusammensparen terstellen. Die Vermittleraufsicht darf nicht zersplittert
können und eine hohe Mindesteinlage nicht sofort schul- bleiben! Dafür setzen wir uns ein!
tern müssen. Oft werden von den Fonds die Zielobjekte
auf Kredit erworben. Bei einer Schieflage stehen die An- Wenn sich freie Vermittler durch die regionale Orga-
leger indes im Risiko, weil das gesamte zugesagte An- nisation der Gewerbeaufsicht dort anmelden können, wo
sparkapital haftet und die Restzeichnungssumme auf ei- eine weniger strenge Aufsicht vorherrscht, ist ein Auf-
nen Schlag einzuzahlen ist. Ansparfonds können somit sichtsgefälle zu befürchten. Durch ihre permanente Auf-
wie Nachschusspflichten ein Weg in die Privatinsolvenz sicht, die ein inhaltliches Prüfungsrecht (auch für Ver-
sein. kaufsprospekte und Informationsblätter) umfassen muss,
kann die BaFin präventiv wirken. Für Anleger wird
Auch sogenannte Blindpool-Konstruktionen stellen durch eine bundesweite Aufsicht zumindest ein bisschen
ein Risiko für Kleinanleger, aber nicht nur für diese, eher das von der Bundesregierung angestrebte „einheit-
dar: Ein Blindpool ist ein Sammelbecken für Beteili- liche Schutzniveau in Regulierung und Beaufsichtigung
gungskapital, bei dem den Anlegern zu Beginn noch un- unabhängig von Vertriebsweg und Produkt“ erreicht.
bekannt ist, in welche Art von Geldanlage mit welchem
Gesamtumfang investiert wird bzw. welche Beteiligun- Selbst wenn der vorliegende Gesetzentwurf, wie ein-
gen erworben werden. Der Anleger ist der Geschäftsfüh- gangs ausgeführt, ein Fortschritt ist, muss man trotzdem
rung des Unternehmens weitgehend schutzlos ausgelie- festhalten, dass das ursprüngliche Ziel, den grauen Ka-
fert, denn er investiert „blind“. Das Einsammeln von pitalmarkt umfassend zu regulieren oder gar verschwin-
investitionswilligem Kapital durch den Emittenten darf den zu lassen, nicht erreicht wird. Sie beschränken sich
aus Transparenzgründen meiner Ansicht nach nur dann zu sehr auf die Vertriebsebene und lassen somit die Pro-
infrage kommen, wenn klar und eindeutig im Voraus be- duktebene sowie die Emittenten von Graumarktproduk-
schrieben und nachgewiesen wird, in welche Objekte in ten außer Acht. Damit befördern Sie einen „grauen Ka-
welchem Umfang und mit welchem Ziel investiert wird. pitalmarkt light“.

Zu Protokoll gegebene Reden


13104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Harald Koch
(A) Die Linke will hingegen den grauen Kapitalmarkt Zwar begrüßen wir, dass der Vertrieb von Vermö- (C)
derart umfänglich regulieren und am Anlegerschutz aus- gensanlagen wie Anteile an geschlossenen Fonds durch
richten, dass er zu einem „weißen“ Kapitalmarkt wird! Banken und Sparkassen künftig unmittelbar den anle-
Es darf nicht mehr ein halbwegs geregelter und ein so gerschützenden Vorschriften des Wertpapierhandelsge-
gut wie ungeregelter Kapitalmarkt nebeneinander exis- setzes, WpHG, und der Aufsicht der Bundesanstalt für
tieren! Das Aufsichts- und Regulierungsgefälle muss Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, unterfällt. Nicht
weg, und damit muss der graue Kapitalmarkt in seiner zielführend ist es jedoch, freie Finanzvermittler von In-
Gesamtheit weg! vestmentfonds, geschlossenen Fonds und anderen Ver-
mögensanlagen weiterhin einer allein gewerberecht-
Jeder Teil des Kapitalmarktes muss demnach unter lichen Aufsicht durch die zuständigen Landesbehörden
das entsprechende Dach des Kreditwesen-, Investment- zu unterstellen. Es ist mehr als fraglich, wie die Landes-
oder Versicherungsaufsichtsgesetzes gebracht werden. behörden mit den ungeeigneten Eingriffsbefugnissen des
Nicht nur der Vertrieb von Produkten des grauen Kapi- Gewerbeaufsichtsrechts eine effektive Überwachung der
talmarktes ist strengeren Vorschriften zu unterwerfen. freien Finanzanlagenvermittler hinbekommen sollen
Intransparente, unseriöse und hochriskante Produkte bzw. ob die zuständigen Landesbehörden personell und
dürfen erst gar nicht auf den Markt kommen. Zwielich- fachlich dazu überhaupt in der Lage sind.
tige, unseriöse Anbieter bzw. Emittenten solcher Pro-
dukte dürfen erst gar nicht am Marktgeschehen teilneh- Darüber hinaus hat die nun auch für Vermittler von
men, hier müssen Barrieren aufgebaut werden. Vermögensanlagen und geschlossenen Fonds in § 2 a
Deswegen fordern wir, als Zulassungs- und Kontroll- WpHG eingeführte Ausnahme zur Folge, dass die anleger-
stelle für Finanzinstrumente und zur Etablierung von schützenden Informations-, Beratungs- und Dokumenta-
Mindeststandards für Vermögensanlagen einen Finanz- tionspflichten einschließlich der Offenlegungspflicht von
markt-TÜV einzurichten. Provisionen – sogenannte Wohlverhaltenspflichten –
nicht direkt, sondern nur über eine Verordnung gelten
Und man sollte noch eine weitere Seriositätsschwelle
sollen, um ein – so wörtlich – „gleichwertiges Anleger-
einziehen: Emittenten von beispielsweise geschlossenen
schutzniveau“ herzustellen. Halten wir also fest, dass
Fonds müssen eine hohe Mindest- oder Anfangskapital-
weder klar ist, inwieweit die Wohlverhaltenspflichten in
ausstattung in Abhängigkeit von dem insgesamt benötig-
der freien Finanzanlagenvermittlung und -beratung
ten Kapital für die Anlage aufweisen, und Gesellschafts-
künftig gelten, noch klar ist, inwieweit deren Einhaltung
vertrag sowie Businessplan sind frühzeitig und
überprüft wird.
vollständig vorlegen. Dies wären sinnvolle Regelungen!
Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koali- Sollte am Ende des Gesetzgebungsverfahrens gleich-
(B) tion, klopfen Sie sich jetzt noch nicht auf die Schulter, wohl eine gewerberechtliche Regulierung der freien (D)
bringen Sie nach der Anhörung Ihre Aufgabe zu Ende, Finanzanlagenvermittlung gesetzlich fixiert werden,
und stoppen Sie Ihren Lauf nicht auf halber Strecke! Die wäre darauf zu achten, dass nicht die gleichen Ausnah-
Linke hilft Ihnen dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu metatbestände geschaffen werden wie im Rahmen der
verlieren: Ebnen Sie das Regulierungs- und Aufsichtsge- Regulierung der Versicherungsvermittlung. Insbeson-
fälle zwischen leidlich reguliertem und grauem Kapital- dere ist darauf Acht zu geben, dass von einer „Alte-
markt auf hohem Niveau vollständig ein, und sorgen Sie Hasen-Regelung“ – wie sie laut Presseberichten von
somit dafür, dass der graue Kapitalmarkt endlich den Regierungsfraktionen nunmehr angestrebt wird –
„weiß“ wird. soweit wie möglich Abstand genommen wird. Eine lang-
jährige Tätigkeit ist keine Garantie für eine angemes-
sene Qualifikation und würde gesetzgeberische Ver-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): säumnisse für die nächsten Jahre quasi fortbestehen
Sowohl im Jahr 2007, als auf Anregung der Grünen lassen.
im Finanzausschuss vereinbart wurde, sich die ge-
schlossenen Fonds in diesem Bereich noch einmal ge- Als einen zweiten Punkt möchte ich auf die Anbieter
nauer anzuschauen, als auch am Ende der letzten Legis- von Vermögensanlagen eingehen, die der Gesetzentwurf
laturperiode, als wir Grüne mit unserem Antrag ebenfalls adressiert. So wird jeder Anbieter künftig ne-
„Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches Anleger- ben dem Verkaufsprospekt auch ein Vermögensanlagen-
schutzniveau überwinden“ die drastischen Regulie- Informationsblatt zu erstellen haben. Das ist zu begrü-
rungsdefizite im grauen Kapitalmarkt zurück auf die ßen. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle unsere im
politische Agenda holten, war jeweils meine Hoffnung, Rahmen des Anlegerschutz- und Funktionsverbesse-
dass man zügiger diesen großen Problembereich des rungsgesetzes geäußerte Forderung bekräftigen, die we-
deutschen Finanzmarkts in Angriff nehmen würde. Doch sentlichen Vorgaben für eine Produktkurzinformation
kundenschädliche Regelungen sind offenbar langlebig. standardisiert und konkretisiert vorzuschreiben, damit
Gut, dass wir jetzt endlich im konkreten Gesetzgebungs- den Verpflichteten keine Spielräume gewährt werden,
verfahren sind. die die Vergleichbarkeit einzuschränken vermögen.
Doch der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellie- Darüber hinaus befürworten wir, dass der Gesetzent-
rung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla- wurf den Prüfungsumfang der BaFin hinsichtlich der
genrechts ist inhaltlich leider kein Grund zum Jubeln. Prospektprüfung auf Kohärenz erweitert. So werden
Das im Koalitionsvertrag versprochene konsistente Fi- Prospekte von Vermögensanlagen künftig nicht nur da-
nanzdienstleistungsrecht wird nicht erreicht. rauf kontrolliert, ob die Informationen vollständig sind,

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13105
Dr. Gerhard Schick
(A) sondern auch, ob sie schlüssig und widerspruchsfrei Berichterstattung: (C)
sind. Bedauerlich ist jedoch, dass die Bundesregierung Abgeordnete Ute Granold
sich dem Vorschlag einer Prüfung der inhaltlichen Rich- Christine Lambrecht
tigkeit der im Verkaufsprospekt enthaltenen Angaben Stephan Thomae
verschließt. Eine solche materielle Inhaltsprüfung Halina Wawzyniak
könnte nämlich durch die verpflichtende Erstellung ei- Ingrid Hönlinger
nes Wirtschaftsprüfergutachtens – sogenannter IDW-S4-
Standard – und dessen Hinterlegung und Offenlegung Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
bei der BaFin erreicht werden. Da dieses Modell sowohl ausschusses auf Drucksache 17/4516. Der Ausschuss
von der Branche als auch vom Bundesrat befürwortet empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
wird, hoffe ich, dass wir im Rahmen der anstehenden lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Beratungen diesen Punkt noch korrigieren können. Ent- Drucksache 17/2113. Wer stimmt für diese Beschluss-
scheidend wird sein, wo man bei diesem Modell die Haf- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
tung verortet, da nach geltender Rechtslage weder die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
BaFin noch ein Wirtschaftsprüfer dem Anleger gegen- der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
über für die Richtigkeit des Gutachtens haftet. Daher
Linken.
bietet sich die Schaffung einer spezialgesetzlichen Haf-
tungsnorm an. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Unentschuldbar ist in meinen Augen jedoch, dass Drucksache 17/2023. Wer stimmt für diese Beschluss-
man eine für die Steigerung des Anlegerschutzes maßge- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
bende Vorschrift des Diskussionsentwurfes im Referen- Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
tenentwurf vergeblich sucht. Der Diskussionsentwurf der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-
sah in § 16 Vermögensanlagengesetz-Entwurf noch die men von der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Plicht des Anbieters zur Mitteilung des Wertes der Ver- Die Grünen.
mögensanlage vor. Das sollte Anlegerinnen und Anle-
gern ermöglichen, einmal im Jahr einen Überblick über Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:2)
den Wert ihrer Kapitalanlage zu erhalten. Bedauer-
licherweise ist die Bundesregierung hier vor der Bran- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
che eingeknickt. Das muss dringend revidiert werden. richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
Jedenfalls kann das Abwarten auf die europäisch ein- der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
heitlichen Bewertungskriterien, deren Umsetzung kaum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
(B) vor Mitte 2014 zu erwarten ist, hier nicht als Argument (D)
Einrichtung einer Interparlamentarischen
gelten. Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: heits- und Verteidigungspolitik der Europäi-
schen Union
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6051 an die in der Tagesord- – Drucksachen 17/5903, 17/6140 –
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? – Dann ist so beschlossen. Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:1) Dietmar Nietan
Joachim Spatz
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dr. Diether Dehm
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Viola von Cramon-Taubadel
– zu dem Antrag der Abgeordneten Christine b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Lambrecht, Petra Crone, Dr. Peter Danckert, richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der schuss)
SPD
– zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gleichstellung eingetragener Lebenspart- Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weite-
nerschaften rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Für eine wirkungsvolle interparlamentari-
Höll, Jan Korte, Cornelia Möhring, weiterer sche Begleitung der Europäischen Außen-
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra-
ges von Lissabon
Öffnung der Ehe
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
– Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516 – Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen),

1) Anlage 7 2) Anlage 8
13106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und (C)
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Undine Kurth
Kriterien und Anforderungen für eine par- (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der
lamentarische Beteiligung an der Gemeinsa- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
men Außen- und Sicherheitspolitik der EU
Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon-
– Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137, vention 169 ratifizieren
17/6138 –
– Drucksache 17/5915 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Dr. Rolf Mützenich Entwicklung (f)
Joachim Spatz Auswärtiger Ausschuss
Wolfgang Gehrcke Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Kerstin Müller (Köln) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Zunächst Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angele- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
genheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo
Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Ein- Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
richtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- Kein Verbot von Koka-Blättern – Für die völ-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der kerrechtliche Anerkennung als schützens-
Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- werte Kultur der indigenen Völker im Anden-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6140, den Raum
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5903 anzunehmen. Wer stimmt für diese – Drucksache 17/6120 –
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Überweisungsvorschlag:
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Auswärtiger Ausschuss (f)
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
genstimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
und Enthaltung der SPD-Fraktion.
(B) Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über die Be- (D)
Anette Hübinger (CDU/CSU):
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Heute befassen wir uns mit zwei Anträgen, die den
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine wir-
Schutz und die Rechte indigener Völker zum Gegenstand
kungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäi-
haben.
schen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra-
ges von Lissabon“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Der Aufgabe, den Schutz und die Rechte indigener
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6137, den An- Völker auf unserer Welt zu stärken, sehr geehrte Kolle-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5389 abzu- ginnen und Kollegen der Fraktion der SPD und der Grü-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – nen, unterstützen wir als CDU/CSU-Fraktion genauso
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- vehement wie Sie. Ob diese Stärkung jedoch durch die
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- Ratifizierung der ILO-Konvention 169 und durch den
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstim- freien Zugang zu Koka, wie Sie es in ihren Anträgen for-
men der SPD und Enthaltung der Grünen angenommen. dern, erreicht werden kann, bleibt zu diskutieren.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Deutschland stärkt in der Zusammenarbeit mit seinen
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Partnerländern durch unterschiedlichste, zielgerichtete
Die Grünen mit dem Titel „Kriterien und Anforderungen Projekte und Programme die Rechte der Indigenen. Da-
für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsa- bei richtet sich das Bundesministerium für wirtschaftli-
men Außen- und Sicherheitspolitik der EU“. Der Aus- che Zusammenarbeit und Entwicklung nach den Vorga-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf ben der ILO-Konvention 169 und hat diese Richtlinien
Drucksache 17/6138, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ im Konzept „Zusammenarbeit mit indigenen Völkern in
Die Grünen auf Drucksache 17/5771 abzulehnen. Wer Lateinamerika und der Karibik“ festgeschrieben. Das
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt bedeutet: Bei allen entwicklungspolitischen Aktivitäten
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- wird geprüft, ob sie negative Auswirkungen auf indigene
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Völker haben könnten. Bei Vorhaben, die Indigene direkt
der Linken bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal- betreffen, werden diese bereits frühzeitig und umfassend
tung der SPD angenommen. in die Planung mit einbezogen. Denn wir wissen, dass
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: indigene Völker einen besonderen Beitrag zur weltwei-
ten kulturellen Vielfalt leisten. Dabei gilt es, insbeson-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin dere sowohl den Erfahrungsschatz als auch das natur-
Roth (Esslingen), Lothar Binding (Heidelberg), spezifische Wissen dieser Völker als Fundus für den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13107
Anette Hübinger
(A) Schutz der Biodiversität zu erhalten und zu nutzen. Da- können. Das haben Sie aber auch nicht getan. Unsere (C)
rin sind wir uns, so meine ich, alle einig. Solidarität mit den indigenen Völkern – und das auch
schon zu Zeiten von Rot-Grün – spiegelt sich in den Pro-
Auch aus diesen Gründen hatte sich Deutschland bei
jekten, Programmen und Handlungsrichtlinien der Bun-
der Ausarbeitung der ILO-Konvention 169 im Jahr 1989 desregierung wider. Diese entsprechen dem Geist der
für diese stark gemacht und durch seine Paraphierung Konvention.
gezeigt, welche Bedeutung wir dieser Konvention für
den Schutz und die Rechte indigener Völker zumessen, Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass
zumal es das bisher einzige internationale Vertragswerk diejenigen Staaten die Konvention ratifizieren, in deren
mit völkerrechtlichem Status ist, das die Rechte indige- Gebiete indigene Völker leben. Nur dadurch wird die
ner oder in Stammesgesellschaften lebender Bevölke- Kraft dieser Konvention erhöht. Da unterscheiden wir
rungsgruppen schützt. uns in unseren Politiken. Nicht die Anzahl der Unter-
schriften zählt, sondern wer und aus welchem Grund er
Die Forderung in Ihrem Antrag‚ Deutschland solle
unterschreibt, ist entscheidend. Derzeit haben 22 Län-
nun endlich auch ratifizieren, um zu zeigen, wie ernst
der der 183 Mitgliedstaaten ratifiziert, davon 15 latein-
wir es wirklich mit dem Schutz indigener Völker meinen,
amerikanische Länder: In Europa sind es Spanien, Nor-
ist eine rein populistische Forderung. Sie ist schnell ge-
wegen, die Niederlande und Dänemark, also vier
fordert, klingt gut und findet leicht öffentliche Unterstüt-
europäische Länder mit zum Teil autonomen Gebieten,
zung.
deren Situation sich von der in Deutschland lebende na-
Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch tionaler Minderheiten deutlich unterscheidet.
Deutschland würde allerdings an der heutigen Situation
Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit circa
indigener Völker in ihren Ländern rein gar nichts än-
350 Millionen Menschen, das sind circa 4 Prozent der
dern. Und das wissen Sie selbst auch. Dennoch möchte
Weltbevölkerung, Angehörige indigener Bevölkerungs-
ich gern noch einmal die Gründe dafür darlegen:
gruppen sind. Diese leben in mehr als 500 Gemeinschaf-
Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemein- ten und in mehr als 70 Ländern dieser Erde.
schaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staat-
Lateinamerika ist mit einem hohen Anteil Indigener
liche Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines
an der Gesamtbevölkerung – circa 10 Prozent – ein re-
Territoriums und als Gemeinschaften mit eigenen tradi-
gionaler Schwerpunkt der deutschen bilateralen Zusam-
tionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konvention
menarbeit zur Stärkung indigener Rechte. In Bolivien
hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von
gehören 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern
Grundrechten für die Angehörigen indigener Gruppen
an. Die nachhaltige Entwicklung der Länder Lateiname-
rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter anderem
(B) rikas wird also wesentlich davon abhängen, ob und wie (D)
das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Sprache und
die dort lebenden indigenen Völker mit eingebunden und
Kultur, das Recht auf traditionelles Land sowie die Nut-
gefördert werden. Deren Rolle bei der Lösung regiona-
zung der dort vorhandenen Ressourcen, das Recht auf
ler und globaler Probleme wird meines Erachtens im-
Selbstverwaltung und das Recht auf spezielle Konsulta-
mer noch unterschätzt. Insbesondere beim Erhalt der
tions- und Partizipationsverfahren, die Einfluss auf das
Biodiversität leisten Indigene aufgrund ihrer Lebens-
Territorium oder die Lebensweise von indigenen Grup-
weise einen unschätzbaren Beitrag.
pen haben. Die ILO-Konvention richtet sich vor allem
an die Länder, zu deren Bevölkerung in Stämmen le- Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unter-
bende Völker oder Eingeborene zählen. stützt vor allem die Bereiche Demokratieförderung,
Schutz und Management natürlicher Ressourcen, Kri-
Das trifft für Deutschland nicht zu. Bei uns leben na-
senprävention und Konfliktmanagement sowie Bildung.
tionale Minderheiten, wie die Friesen, Sorben, Sinti und
In Brasilien wurden zum Beispiel Indianergebiete aus-
Roma oder die Dänen, die deutsche Staatsbürger sind.
gewiesen und geschützt. In Bolivien wurde die dezen-
Alle genießen weitreichende Rechte, die von allen Seiten
trale Regierungsführung gestärkt und in Guatemala eine
anerkannt und gefördert werden. Wir haben seit Jahren
interkulturelle zweisprachige Erziehung aufgebaut.
in Zusammenarbeit mit den nationalen Minderheiten
eine sehr erfolgreiche Integrationspolitik, um die uns Auch auf internationaler Ebene wird die Bedeutung
viele beneiden. Die ILO-Konvention 169 verfolgt im Ge- indigener Völker zunehmend erkannt und anerkannt. So
gensatz dazu einen segregativen Ansatz, der für indigene gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche Gremien
Völker in den Ländern, die bereits die Konvention ratifi- und Resolutionen, die sich mit der Verbesserung der Si-
ziert haben, auch zielführend ist. tuation von indigenen Völkern befassen. Dies geschieht
auf die unterschiedlichste Weise – beispielsweise durch
Diese zwei genannten Punkte sind ausreichend, um zu
die Unterstützung regionaler Dachverbände indigener
verstehen, dass eine Ratifizierung nicht nur nicht nötig,
Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrnehmung ihrer
sondern für Deutschland auch nicht zweckdienlich ist.
Interessen gegenüber Regierungen und auf internatio-
Das wissen Sie genauso gut wie ich. Unter Rot-Grün, in
naler Ebene. Ein Beispiel ist das regionale Netzwerk
den Jahren 1999 bis 2005, haben Sie, als Sie die Mög-
„Indigene interkulturelle Universität“: Es bietet Post-
lichkeit zur Ratifikation hatten, nämlich genau aus die-
graduiertenstudiengänge zu interkultureller, zweispra-
sen Gründen nicht ratifiziert.
chiger Bildung und Medizin sowie zu Rechtspluralismus
Auch die Forderung‚ Deutschland solle aus Solidari- an. Auch die Stärkung der Rechte indigener Frauen ist
tätsgründen ratifizieren, hätten Sie sich selbst erfüllen Thema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit

Zu Protokoll gegebene Reden


13108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Anette Hübinger
(A) Lateinamerika. So kooperiert das BMZ auch mit der trag von Bolivien gestellt würde. Die CDU/CSU-Frak- (C)
COICA – Cordinadora de las Organizaciones Indigenas tion lehnt beide Anträge ab.
de la Cuenca Amazonica –, die die Interessen der indi-
genen Amazonasvölker vertritt, oder mit dem Zentrala- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU):
merikanischen Rat Indigener Völker, CICA.
Ist das Kauen von Kokablättern Tradition oder eine
In Lateinamerika haben, abgesehen von ganz weni- Droge? Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte
gen Ausnahmen, alle Länder das ILO-Übereinkommen Antrag zeigt, dass die Grünen das Kauen von Kokablät-
ratifiziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikani- tern lediglich als Tradition sehen, losgelöst von der da-
scher Länder erkennen die nationale Gesellschaft mitt- mit zusammenhängenden Drogenproblematik in Form
lerweile als multiethnisch oder multikulturell an und der Weiterverarbeitung von Kokablättern zu Kokain.
sprechen den indigenen Bevölkerungsgruppen entspre-
chende Rechte zu. Das sind ermutigende Signale. Den- Es ist richtig: Das Kauen von Kokablättern wird in
noch müssen wir die indigenen Völker und die Länder, in weiten Teilen der indigenen Bevölkerung Boliviens und
denen sie leben, weiter unterstützen. Eine Ratifizierung anderer Andenstaaten praktiziert und gilt nicht nur als
der ILO 169 durch Deutschland würde dahin gehend je- Symbol für Tradition, sondern auch als Mittel gegen
doch wenig bewegen. Schläfrigkeit und Höhenkrankheit. Entsprechend ist der
Vorstoß der bolivianischen Regierung unter Präsident
Und nun möchte ich noch etwas zu dem Antrag be- Evo Morales vom 12. März 2009 zu sehen, eine Ände-
züglich einer Legalisierung von Koka sagen: Die Blätter rung der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel
der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kultu- zu erreichen. Morales, selbst ehemaliger Kokabauer
rellen und religiösen Erbe und Brauchtum der indigenen und überzeugter Konsument, wollte mit seinem Antrag
Völker, unter anderem auch in Bolivien. Das ist unbe- auf Änderung von Art. 49 Abs. 2 e der UN-Einheitskon-
stritten. Deshalb ist man den Kompromiss eingegangen, vention über Betäubungsmittel von 1961 eine Ausnahme
dass Bolivien den Kokastrauch für traditionelle Zwecke für das Kauen von Kokablättern erzielen. Die Änderung
anbauen darf. Bis 2006 erlaubte das bolivianische Ge- sollte dabei nur für das Kauen des Kokablattes gelten,
setz eine jährliche Anbaufläche von 12 000 Hektar in während die Weiterverarbeitung zu Kokain nach wie vor
der Yungas-Region. Die tatsächliche Anbaufläche der verboten bleiben sollte. Dieser Änderungsantrag ist je-
Kokaplantagen lag jedoch um ein Vielfaches höher. In doch am Widerstand von 17 UN-Mitgliedstaaten ge-
diesem Zusammenhang muss man zur Kenntnis nehmen, scheitert.
dass Bolivien der drittgrößte Kokainproduzent der Welt
Auch Deutschland hat dem Antrag Boliviens zur Än-
ist.
derung der Drogenkonvention nicht zugestimmt. Aus-
(B)
2010 wurden 19 000 Tonnen Koka in Bolivien legal schlaggebend für die Haltung Deutschlands waren dro- (D)
verkauft. Dennoch will Bolivien die Fläche für den lega- genpolitische Erwägungen. Deutschland sieht in dem
len Kokaanbau auf 20 000 Hektar erweitern. Die interne Änderungsvorschlag Boliviens die Gefahr, dass die über
Nachfrage des Kokablattes ist mit dieser Fläche mehr Jahrzehnte entwickelten rechtlichen Instrumente zur Be-
als ausreichend gedeckt. Deutschland erkennt durchaus kämpfung der weltweiten Drogenproblematik beschä-
die kulturelle Bedeutung von Koka an. Dennoch erach- digt werden könnten. Diese Sorge ist nicht unberechtigt.
ten wir eine Legalisierung der Kokapflanze vor dem Im Zuge einer Legalisierung des Anbaus von Kokablät-
Hintergrund der riesigen Drogenproblematik derzeit tern zum traditionellen Kauen und für den medizini-
nicht für gangbar. schen und religiösen Einsatz würden nämlich automa-
tisch die Rahmenbedingungen für eine lukrative
Zur Begründung der gebotenen Legalisierung wird im Weiterverarbeitung zu Kokain begünstigt werden. Eine
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen das Urteil des Bun- Trennung des Anbaus von Kokablättern zum Kauen ei-
desverfassungsgerichts vom 9. März 1994 zur unter- nerseits und zur Weiterverarbeitung andererseits, wie im
schiedlichen strafrechtlichen Behandlung des Gebrauchs bolivianischen Antrag vorgeschlagen, ist in der Praxis
von Alkohol und Cannabis in Deutschland herangezo- aber nicht umsetzbar. Eine Ausnahmeregelung beim
gen. Es wurden in Anlehnung an das Bundesverfas- Kokaanbau würde außerdem einer Aufweichung der
sungsgerichtsurteil Rückschlüsse dergestalt gezogen, Konvention Tür und Tor öffnen und eine Grauzone beim
dass die Kokapflanze wie Alkohol eine Vielzahl von Ver- Kokaanbau schaffen.
wendungsmöglichkeiten hätte. Diese Parallele kann
meines Erachtens nicht gezogen werden. Zwar führt ex- Die traditionelle Bedeutung des Kokakauens für die
tensiver Alkoholmissbrauch zu schlimmen menschlichen indigene Bevölkerung Boliviens und weiterer Anden-
Einzelschicksalen. Aber der legale Zugang zu Alkohol staaten soll nicht verkannt werden. Die ILO-Konvention
fördert nicht die organisierte Kriminalität, wie dies der der Vereinten Nationen schützt die Rechte und Traditio-
Anbau von Koka wegen der Herstellungsmöglichkeit nen indigener Völker ausdrücklich. Die Gefahr eines
von Kokain zur Folge hat. Eine Folge, die Menschen, Missbrauchs ist aber nicht von der Hand zu weisen. Un-
Natur und letztendlich Staaten zerstört. ter dem Deckmantel des Brauchtumschutzes nämlich
würde einer kriminellen Industrie Tür und Tor geöffnet.
Dennoch hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, Ein Beispiel ist Mexiko, das unter den fortwährenden
eine mögliche Einberufung einer Staatenkonferenz zur Kämpfen rivalisierender Drogenkartelle leidet. Seit dem
umfassenden Diskussion des bolivianischen Anliegens Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón sind in Me-
wohlwollend zu prüfen, sofern ein entsprechender An- xiko bereits über 36 000 Menschen ums Leben gekom-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13109
Dr. Egon Jüttner
(A) men. Besonders betroffen ist der Norden des Landes, ratifiziert und umgesetzt werden. Der gemeinsame An- (C)
insbesondere die Stadt Ciudad de Juárez an der Grenze trag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Juárez gilt in nen, über den wir heute beraten, bietet dafür die parla-
dieser Hinsicht als gefährlichster Ort der Welt. mentarische Grundlage.
Drogenhandel ist in Bolivien zu einem wichtigen Laut Vereinten Nationen zählen rund 400 Millionen
Wirtschaftsfaktor geworden. Dies hat inzwischen die bo- Menschen in über 70 Ländern zu den indigenen Völkern.
livianische Regierung eingeräumt. Seit 2007 ist die An- Das sind mehr Menschen als die Einwohner der USA
baufläche für Kokablätter jährlich gewachsen. Laut und Deutschlands zusammen. Trotzdem sind die Lebens-
UNO werden auf rund 30 000 Hektar Fläche Kokablät- grundlagen und traditionellen Rechte indigener Völker
ter angebaut. Nur ein Bruchteil davon deckt den Bedarf vielerorts bedroht. Hinzu kommen vielfach Menschen-
zum traditionellen Kauen und für religiöse Rituale. Der rechtsverletzungen vonseiten der jeweiligen Regierun-
Großteil der Kokablätter wird in geheimen Labors zur gen.
Herstellung von Kokain verwendet. Bolivien ist nach Es geht um das Recht auf kulturadäquate und selbst-
Kolumbien der weltweit größte Produzent von Kokain. bestimmte Entwicklung. Dazu gehört unter anderem die
Die Verquickungen der Drogenmafia reichen dabei bis Anerkennung und praktische Berücksichtigung ihrer
ins Umfeld von Präsident Morales. Morales selbst tritt sprachlichen und kulturellen Besonderheiten. Das gilt
für die Legalisierung des Kauens der Kokapflanzen auch für ein Brauchtum, das seit Jahrtausenden Be-
nicht zuletzt auch deshalb ein, weil er als Anführer der standteil der Lebensverhältnisse von den indigenen
Organisation der Kokabauern in der Provinz Chapare Völkern in den Anden ist, nämlich die Blätter der
aktiv ist. Kokapflanzen zu konsumieren. Insofern bedarf es auch
Im Februar dieses Jahres wurde der ehemalige Poli- einer Toleranz gegenüber diesem Brauchtum, damit un-
zeigeneral Boliviens, Rene Sanabria, in Panama wegen nötige Konflikte vermieden werden. Der Antrag der
Drogenhandels festgenommen und nach Miami ausge- Grünen zeigt hier Wege auf, wie auf internationaler
liefert. Auch in der Vergangenheit wurden einige dem Ebene mit diesem Problem umzugehen ist. Eine interna-
Präsidenten nahestehende Personen wegen Drogenhan- tionale Untersuchung zu den gesundheitlichen Auswir-
dels verhaftet. Bereits 2008 hatte Morales die amerika- kungen des Kauens von Kokablättern sollten die Verein-
nische Drogenbekämpfungsbehörde des Landes verwie- ten Nationen einleiten, um weitere Erkenntnisse in
sen mit der Begründung, sie mische sich in die inneren dieser Frage zu erhalten. Es geht um die Verhinderung
Angelegenheiten Boliviens ein. von Diskriminierung von Menschen mit indigenem Hin-
tergrund und um garantierte gesellschaftliche und poli-
Angesichts der geschilderten Umstände halte ich die tische Beteiligungsrechte. Es geht um das Recht auf
(B) Entscheidung Deutschlands und 16 weiterer Staaten, (D)
Aufrechterhaltung der politischen, wirtschaftlichen und
den Antrag Boliviens zur Änderung der UN-Einheits- sozialen Systeme indigener Völker sowie den Zugang zu
konvention abzulehnen, für richtig. Vorrangiges Ziel der Land und Ressourcen – und deren Nutzung. Außerdem
Vereinten Nationen muss die Bekämpfung der internatio- geht es um die Bekämpfung der Armut und schlechter
nalen Drogenökonomie sein. Deutschland ist trotz sei- Lebensbedingungen, von denen Menschen aus indige-
ner Ablehnung des bolivianischen Antrags bemüht, kon- nen Völkern überproportional betroffen sind.
struktive Gespräche mit der bolivianischen Regierung
zu führen und gemeinsame Projekte zur Drogenbekämp- Gerade der letzte Punkt macht die Bedeutung der
fung zu intensivieren. Ich denke, dass dies der richtige Entwicklungszusammenarbeit mit und für indigene Völ-
Weg ist. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen kön- ker deutlich. Denn: Die Stärkung der Rechte indigener
nen wir daher nicht zustimmen. Völker und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen
stellen eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolg-
reiche Armutsbekämpfung dar. Vor allem in Ländern mit
Karin Roth (Esslingen) (SPD): hohem indigenen Bevölkerungsanteil lassen sich die
Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, hat im Millenniumsentwicklungsziele nur erreichen, wenn die
Jahr 1989 die ILO-Konvention 169 zu indigenen und in Potenziale indigener Völker genutzt und ihre spezifi-
Stämmen lebenden Völkern verabschiedet. Am 5. Sep- schen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden.
tember 1991 trat die Konvention in Kraft. Bis heute ist Außerdem ist die aktive Beteiligung aller Bevölke-
dies die einzige internationale Norm, die den Ureinwoh- rungsgruppen, einschließlich der indigenen, für die Ent-
nervölkern rechtsverbindlichen Schutz und eine Vielzahl wicklung demokratischer und multiethnischer Gesell-
von Grundrechten garantiert. Und bis heute – fast schaften unabdingbar. Dies stärkt die Zusammenarbeit
20 Jahre nach Inkrafttreten – hat die Bundesrepublik und den Dialog von Staat und Zivilgesellschaft und kann
Deutschland die Konvention 169 immer noch nicht rati- möglichen Konflikten vorbeugen oder hilft, diese fried-
fiziert. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen in allen lich auszutragen. Schließlich leisten indigene Völker
Bundestagsfraktionen, sollten und müssen wir gemein- dort, wo sie in unmittelbarer Nähe zu natürlichen Res-
sam ändern. Dies wäre Ausdruck der internationalen sourcen und biologischer Vielfalt leben und wirtschaf-
Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands als ten, dank ihres über Generationen überlieferten Wissens
führende Nation in Europa und auch als Mitglied des einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität.
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Zu dieser Ver-
antwortung und Glaubwürdigkeit gehört nämlich, dass Ein konkretes Beispiel dafür ist die Initiative zur Ret-
internationale Abkommen und Vereinbarungen national tung des Regenwaldes im Yasuni-Nationalpark in

Zu Protokoll gegebene Reden


13110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Karin Roth (Esslingen)


(A) Ecuador, bei deren Umsetzung die dort lebenden indige- rung im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit (C)
nen Völker eine wichtige Rolle spielen. In der vergange- und Entwicklung. Dies macht deutlich, dass der Schutz
nen Legislaturperiode hatten sich alle im Bundestag der Rechte indigener Völker schon längst nicht mehr als
vertretenen Parteien in einem gemeinsamen Antrag für rein innerstaatliches, nationales Anliegen betrachtet
eine Unterstützung der Initiative eingesetzt. Bundes- werden kann. Die Globalisierung hat Industrienationen,
minister Niebel will heute davon nichts mehr wissen. Die Schwellen- und Entwicklungsländer und somit auch die
Folgen sind klar: Wenn Deutschland als einer der wich- dort lebenden indigenen Völker näher denn je zusam-
tigsten Geber jetzt nicht zu seinem Wort steht, steht das mengebracht. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention
Projekt vor dem Aus, wird eine einmalige Tier- und 169 würde Deutschland seines besonderen internationa-
Pflanzenwelt für immer verloren gehen. Die SPD fordert len Gewichts und seiner Verantwortung für die Wahrung
deshalb, für das Regenwaldprojekt jährlich 40 Millionen der Menschenrechte Rechnung tragen. Offiziell erweckt
Euro in den Haushalt einzustellen. die Bundesregierung jedenfalls den Eindruck, dass sie
ganz im Sinne der ILO-Konvention 169 handelt. Aber es
Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 ist die Vo- fehlt die vertragliche Verpflichtung.
raussetzung dafür, dass indigene Völker ihr Recht be-
kommen und ihre Rechte gegenüber dem Staat einklagen Vor wenigen Tagen hat das Bundesministerium für
können. Sie ist die Grundlage zur Verbesserung der Le- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein
bens- und Arbeitsbedingungen sowie des Gesundheits- Folgekonzept zur menschenrechtsbasierten Entwick-
und Bildungsstandes der indigenen Völker. Sie verbietet lungspolitik vorgelegt. Dieses Konzept stellt die Achtung
jegliche Diskriminierung hinsichtlich des Arbeitsent- der Menschenrechte in allen Bereichen der wirtschaftli-
gelts, der ärztlichen und sozialen Betreuung, der sozia- chen Zusammenarbeit in den Mittelpunkt. Dies ist nicht
len Sicherheit und der Vereinigungsfreiheit. Chancen- neu, aber notwendig. Es baut im Wesentlichen auf dem
gleichheit und Gleichbehandlung von Männern und unter der sozialdemokratischen Entwicklungsministerin
Frauen werden ebenfalls festgeschrieben. Heidemarie Wieczorek-Zeul bereits im Jahr 2008 ent-
wickelten und anschließend in die Praxis umgesetzten
Ein wichtiger Fortschritt war die Erklärung der Ver- „Entwicklungspolitischen Aktionsplan für Menschen-
einten Nationen über die Rechte der indigenen Völker rechte“ auf.
vom September 2007, die von der VN-Generalversamm-
lung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet Insgesamt zwölfmal werden die Menschenrechte der
wurde. Deutschland hatte dieser Resolution nicht nur indigenen Völker und deren Einhaltung in dem Konzept
zugestimmt, sondern war im Vorfeld auch aktiv an ihrer erwähnt. Es wird kritisiert, dass indigene Völker in den
Ausarbeitung beteiligt. Deshalb wäre es nur folgerich- meisten Staaten vom politischen, wirtschaftlichen und
(B) tig, wenn Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifizie- kulturellen Leben weitgehend ausgeschlossen sind, dass (D)
ren würde. ihre fortgesetzte Ausgrenzung nicht nur ihre Entwick-
lungschancen beschränkt, sondern auch Konflikt-
Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht über die potenzial mit Auswirkungen auf die politische Stabilität
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen in sich birgt und dass die Ratifizierung der ILO-Konven-
vom August 2010 zu Recht festgestellt, dass Personen tion 169 Grundvoraussetzung für die aktive Partizipa-
mit indigenem Hintergrund politische und gesellschaftli- tion indigener Völker und die Verwirklichung ihrer Men-
che Teilhabe ganz oder teilweise verwehrt werde. Die schenrechte ist. Alles richtig. So weit, so gut. Aber was
Bundesregierung räumt ferner ein, dass aktive Partizi- folgt daraus? Um es mit Doktor Faust in Goethes gleich-
pation indigener Völker unabdingbar für die Verwirkli- namigem Werk zu sagen: „Die Botschaft hör’ ich wohl,
chung ihrer Menschenrechte sei und die ILO-Konven- allein mir fehlt der Glaube.“ Das kann die Koalition und
tion 169 das geeignete internationale Vertragswerk sei, die Bundesregierung jetzt ändern.
einen umfassenden Schutz dieser Rechte zu gewährleis-
ten. Im vorliegenden Antrag fordert die SPD-Fraktion ge-
meinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Trotz dieser richtigen Erkenntnisse ist die Bundesre-
gierung bislang nicht bereit, dem Deutschen Bundestag Erstens. Die Bundesregierung soll dem Deutschen
die ILO-Konvention 169 zur Ratifizierung vorzulegen, Bundestag die ILO-Konvention 169 umgehend zur Rati-
und dies, obwohl die auswärtige Politik der Bundesre- fizierung vorlegen. Das wäre ein wichtiges Signal an die
gierung massiven Einfluss auf die Lebensbedingungen internationale Staatengemeinschaft und Ausdruck der
indigener Völker auf der ganzen Welt hat. So greifen die Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands in
wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmen und der Welt.
die Außen-, Wirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Ent- Zweitens. Die Bundesregierung soll die Resolutionen
wicklungspolitik der Bundesregierung direkt oder indi- der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker
rekt in die Rechte indigener Völker ein. Beteiligungen in nationales Recht umsetzen und die entsprechenden in-
deutscher Firmen und Banken an Staudammbau- oder ternationalen Gremien mit ausreichenden Finanzmitteln
Öl-Pipeline-Projekten oder die Aktivitäten der staatli- unterstützen.
chen Durchführungsorganisationen sind Beispiele dafür.
Auch die Maßnahmen im Rahmen der neuen Roh- Drittens. Die Bundesregierung soll sich auf europäi-
stoffstrategie der Bundesregierung berühren in vielen scher Ebene und im Rahmen der Europäischen Initiative
Fällen die Interessen indigener Völker. Gestern war ge- für Demokratie und Menschenrechte stärker für die
nau dieses Thema Gegenstand einer öffentlichen Anhö- Rechte der indigenen Völker einsetzen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13111
Karin Roth (Esslingen)
(A) Viertens. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ge- krete Verbesserung der Lebenssituation von Indigenen (C)
meinsam mit der EU-Kommission die Rechte indigener nicht verbessert werden. Das Bundesministerium für
Völker in der Welthandelsorganisation, WTO, und im wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat
Rahmen des Übereinkommens über geistiges Eigentum, daher ein übersektorales Konzept mit dem Namen „Ent-
TRIPS, durchsetzt. wicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern in La-
teinamerika und der Karibik“ erarbeitet. Es werden in-
Wir fordern, fünftens, dass die Bundesregierung die tegrierte Vorhaben im Bereich der Armutsbekämpfung,
Bedeutung indigener Völker für die biologische Vielfalt der Regionalentwicklung oder Demokratieförderung un-
anerkennt und dem Deutschen Bundestag das Nagoya- terstützt und die Rechte und Interessen indigener Bevöl-
Protokoll für einen gerechten Ressourcenzugang zur Ra- kerungsgruppen gefördert.
tifizierung vorlegt.
Wie wir sehen, engagiert sich die Bundesregierung
Am 5. September 2011 ist der 20. Jahrestag des In- sehr für indigene Völker. Warum ratifiziert sie dann
krafttretens der ILO-Konvention 169. Das wäre genau nicht die ILO-Konvention 169?
der richtige Zeitpunkt, damit Deutschland als drittgröß-
ter Beitragszahler der ILO die Rechte indigener Völker Weil sie für Deutschland überflüssig ist und weil die
durch die Ratifizierung der Konvention endlich vollstän- behandelte Problematik auf Deutschland nicht zutrifft.
dig anerkennt. Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzu- Das Übereinkommen richtet sich ausnahmslos an frü-
stimmen und ein internationales Zeichen – gemeinsam here Kolonien, in denen heute indigene Bevölkerungs-
über die Fraktionsgrenzen hinweg – zu setzen. gruppen leben. In Brasilien sind das beispielsweise die
Kaingang, in Dänemark die Inuits. Deutschland ist kein
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): solches Land.
Kennen Sie Valentina Rosendo Cantú? Mit der ILO-Konvention 169 sollen für indigene
Valentina Rosendo Cantú wurde vor neun Jahren von Rechte der Gleichbehandlung und spezielle Beteili-
Soldaten vergewaltigt, in ihrem Dorf im Süden Mexikos. gungsrechte statuiert werden. Ihre soziale und kulturelle
Valentina Rosendo Cantú steht damit für eine Vielzahl Identität, ihre Bräuche und Überlieferungen und ihre
indigener Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Einrichtungen sollen durch das Übereinkommen aner-
Die Täter von Valentina Rosendo Cantú wurden bis kannt und geschützt werden.
heute nicht zur Rechenschaft gezogen. In Mexiko ist dies In Deutschland setzen wir uns – erfolgreich – seit
trauriger Alltag. Ungewöhnlich am Fall von Valentina Jahrzehnten für die Integration von hier lebenden Min-
Rosendo Cantú ist, dass er es bis vor den Interamerika- derheiten ein. Die Regelungen des Übereinkommens wi-
(B) nischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica dersprechen dem und haben insgesamt eine trennende (D)
schaffte – und die Richter diese und andere Vergewalti- Zielsetzung. Indigene Bevölkerungsgruppen erhalten se-
gungen im vergangenen Jahr als Folter gegen die indi- parate Rechte wie eigene Schulen und geschlossene
gene Bevölkerung beurteilten. Sie verpflichteten Me- Räume. Das ist für Staaten, in denen ein beachtlicher
xiko, die Verfahren von der Militärjustiz an zivile Bevölkerungsteil indigener Herkunft ist, sinnvoll, für
Gerichte zu übergeben und den Opfern Entschädigun- uns in Deutschland aber nicht. Wir sind dank unseres
gen zu zahlen. Grundgesetzes und unserer Entwicklung in der Gleich-
Ohne diesen Druck von außen würde Mexiko gegen behandlung von Minderheiten so weit, dass wir für sie
dieses Verbrechen nichts tun. Die dortigen Gerichte se- keine Sonderrechte brauchen. Wir leben die Gleichheit
hen keinen Handlungsbedarf, nicht in diesem Fall und vor Recht und Gesetz. Eine Trennung und Absonderung
auch nicht in den vielen anderen Fällen. Mexiko jedoch würde nicht helfen, sie wäre kontraproduktiv.
hat die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Solange das Übereinkommen ILO 169 auch auf die
Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Außen- und deutsche Bevölkerung angewendet werden könnte, muss
Entwicklungspolitik konsequent für die Verbesserung sich die Bundesregierung daher gegen die Ratifikation
der Lage indigener Bevölkerungsgruppen und die Wah- aussprechen. In dem Gebiet der Bundesrepublik
rung ihrer Rechte ein. Regierungsvertreter fordern die Deutschland leben keine Völker im Sinne des Abkom-
Einbindung der indigenen Bevölkerung in politische mens, und eine Anwendung der Konvention würde der
Prozesse und die zügige Umsetzung entsprechender Ver- hiesigen Integration von Minderheiten schaden.
fassungsvorschriften. Die Bundesregierung nutzt ihre Eine weitere Frage bei dem zurzeit debattierten An-
bilateralen Beziehungen zu Ländern mit indigener Be- trag lautet: Warum haben vorherige Regierungen die
völkerung, um sich für deren Interessen einzusetzen. Konvention nicht ratifiziert? Die Konvention steht schon
Deutschland setzt sich bei den Vereinten Nationen für seit 20 Jahren zur Ratifikation bereit. Die Antragsteller
die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen ein und un- hätten dafür genug Zeit gehabt, als sie selbst in Regie-
terstützt entsprechende Resolutionen und Erklärungen. rungsverantwortung standen. Ich kann es Ihnen erklä-
Das „Permanente Forum für Indigene Angelegenhei- ren: SPD und Bündnis 90/Die Grünen sahen in ihren Re-
ten“ wurde unter anderem durch das Engagement gierungszeiten genau die gleichen Probleme wie wir. So
Deutschlands eingesetzt. ergab eine Ratifizierbarkeitsprüfung unter der rot-grü-
nen Bundesregierung „äußerst gravierende Hemm-
Insbesondere in Ländern mit hohem indigenen Bevöl- nisse“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellte im
kerungsanteil können die Milleniumsziele ohne die kon- Juni 2006 einen Antrag zur Ratifikation der ILO-Kon-

Zu Protokoll gegebene Reden


13112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) vention 169. Zu der Zeit befand sie sich in der Opposi- digene voranzutreiben. Das ist ein Skandal. Denn es (C)
tion. Der Antrag wurde abgelehnt, auch mit den Stim- herrscht akuter politischer Handlungsbedarf.
men der SPD.
Wenn der Bau des Belo-Monte-Staudamms in Brasi-
Hier werden also ernsthafte und wichtige Themen zur lien das Leben von bis zu 40 000 Menschen konkret be-
Stimmungsmache genutzt. Es soll aussehen, als ob wir droht, dann ist dafür auch ein deutsches Unternehmen
uns nicht kümmern würden, als ob für uns Menschen- verantwortlich. Die Voith Hydro, ein Gemeinschaftsun-
rechtsverletzungen nicht von Belang wären, als ob wir ternehmen von Voith und Siemens, hat erst kürzlich ei-
andere Interessen über die von diskriminierten Bevölke- nen Vertrag über die Ausrüstung des mit dem Staudamm
rungsgruppen stellen würden. Solche Anträge werden zu verbundenen Wasserkraftwerks in Höhe von 443 Millio-
Recht „Schaufensteranträge“ genannt. Sie taugen zu nen Euro unterzeichnet und somit die Zerstörung der Le-
nichts anderem, als im Schaufenster ausgestellt zu wer- bensgrundlage von Tausenden Indigenen im Gebiet des
den und gut auszusehen. Ich empfinde dies im Hinblick Xingu-Flusses besiegelt.
auf ein solch bedeutendes und sensibles Thema als be-
schämend. Wenn in Kolumbien im Zuge des Kohleabbaus Indi-
gene vertrieben oder sogar ermordet werden, wenn im
Valentina Rosendo Cantú ist für mich eine Heldin. Grenzgebiet Catatumbo die Existenz der Motilon Bari
Obwohl Mexiko die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat, durch die mit dem Bergbau einhergehende Zerstörung des
hat sich der mexikanische Staat nicht für ihre Rechte Ökosystems und Vertreibungen bedroht ist, dann profitie-
eingesetzt. Valentina Rosendo Cantú hat sich jedoch ren davon auch deutsche Kraftwerksbetreiber. Schließ-
nicht mit dem himmelschreienden Unrecht abgefunden, lich hat Deutschland im Jahr 2009 17,9 Prozent der
das den Indigenen in Mexiko zugefügt wird. Sie hat den Kraftwerkskohle aus Kolumbien bezogen, die deutsche
Gang durch die Institutionen gewagt und gewonnen. An EnBW gar 30 Prozent. In den nächsten Jahren könnte
uns liegt es, Druck auszuüben und Hilfestellungen zu Kolumbien nach Prognosen des Vereins der deutschen
bieten. Die Einhaltung von Recht und Gesetz darf kein Kohleimporteure, dem Konzerne wie RWE, Thyssen-
Einzelfall bleiben; sie muss selbstverständlich werden. Krupp und Vattenfall angehören, sogar Spitzenreiter für
Dafür arbeiten wir in der Entwicklungspolitik. den atlantischen Steinkohlemarkt zu werden.

Niema Movassat (DIE LINKE): Auch wenn es positive Beispiele gibt wie in Botswana,
wo lokale Gerichte die Vertreibung von 5 000 Indigenen
Berührt es uns wirklich, wenn Jumma-Indigene in aus der Gruppe der San aus der Kalahari als verfas-
Bangladesch in einem Völkermordfeldzug ermordet, ge- sungswidrig erklärt haben, sodass diese nach jahrelan-
(B) foltert, vergewaltigt und ihre Siedlungen niedergebrannt gem Kampf nun endlich in ihre Ursprungsgebiete zu- (D)
werden? Wenn zahllose Yanomami- und Yekuana-Indi- rückkehren können, steht eines fest: Bei Verhandlungen
gene im Amazonas-Gebiet an von illegalen Goldgräbern um natürliche Ressourcen und Bodenschätze – Stichwort
eingeschleppten Krankheiten sterben? Oder wenn in Rohstoffstrategie –, beim Verkauf von Ländereien an
Kolumbien innerhalb von fünf Jahren mehr als tausend private Investoren – Stichwort Landgrabbing – oder bei
Indigene ermordet und Tausende aus ihrer Heimat ver- Handelsabkommen wie beispielsweise Assoziierungsab-
trieben werden, weil sie auf strategisch oder ökono- kommen zwischen lateinamerikanischen Ländern und
misch wichtigem Boden wohnen? der Europäischen Union werden die Rechte der indige-
Die Antwort aller deutschen Regierungen seit 1989 nen Gemeinschaften meistens übergangen.
ist: nein. Seither nämlich steht die Ratifizierung des
Dabei sind die Menschenrechte ausdrücklich kein
„Übereinkommens über eingeborene und in Stämmen le-
ortsgebundenes Konzept. Die deutsche Bundesregierung
bende Völker in unabhängigen Ländern“, die ILO-Kon-
kann also auch dann Verpflichtungen nach internationa-
vention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation,
lem Recht gegenüber indigenen Gemeinschaften einge-
aus. Dabei ist es das bisher einzige rechtsverbindliche
hen, wenn auf deutschem Staatsgebiet keine indigenen
Dokument der Vereinten Nationen zum Schutz und zur
Förderung indigener Gemeinschaften. Seit 22 Jahren Gruppen leben. Denn jeder Staat, der die ILO-Konven-
weigert sich Deutschland also, dieser Konvention beizu- tion Nr. 169 ratifiziert, stärkt die Rechte indigener Ge-
treten. meinschaften. Jeder Beitritt ist ein Beitrag, die Men-
schenrechte für die Indigenen durchzusetzen. Jeder
Das Europaparlament mahnte die Mitgliedstaaten Beitritt hilft außerdem, traditionelles Wissen, Erfindun-
der Europäischen Union mehrfach, das Übereinkommen gen und Praktiken indigener Gemeinschaften zu schüt-
zu unterzeichnen. Die deutsche Bundesregierung aber zen, Wissen also, das beispielsweise für den Erhalt und
verweigert eine Ratifizierung mit Hinweis auf die Prü- die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt relevant
fung der Rechtslage. Dass diese Begründung nur vorge- ist, wie Art. 8 der Biodiversitätskonvention richtig fest-
schoben ist, liegt auf der Hand. Zum einen fehlt das In- stellt. Denn die etwa 370 Millionen Menschen, die in
teresse und der politische Wille, sich des Themas 5 000 indigenen Gemeinschaften in über 70 Ländern auf
anzunehmen, zum anderen werden wirtschaftliche Nach- allen Kontinenten leben, stehen für den Erhalt kulturel-
teile für betroffene deutsche Unternehmen vor Ort, bei ler und ökologischer Vielfalt. Die Anerkennung der
Wirtschaftskooperationen oder der Vergabe von Her- Rechte indigener Gemeinschaften als nichtstaatliche
mes-Bürgschaften befürchtet. Zum Schutz deutscher Un- Kollektive gehört daher zu den großen Herausforderun-
ternehmen weigert man sich, endlich den Schutz für In- gen unserer Zeit.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13113
Niema Movassat
(A) Die positiven Entwicklungen seit Inkrafttreten der Rechte der indigenen Völker entsprechend der ILO- (C)
ILO-Konvention Nr. 169 sind enorm. Immer mehr indi- Konvention 169 berücksichtigen.
gene Organisationen schließen sich zusammen und bil-
den Netzwerke, um ihre Interessen zu vertreten. Ein be- Der entwicklungspolitische Dialog mit Repräsentan-
sonders positives Beispiel ist hierbei Bolivien, wo die ten indigener Völker muss intensiviert und ihre Partizi-
Wahl des ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas, pationsmöglichkeiten müssen auf nationaler wie auch
Evo Morales, unter anderem dazu geführt hat, das indi- internationaler Ebene sowohl politisch als auch finan-
gene Konzept des „Buen Vivir“ und der Rechte der Na- ziell unterstützt werden. Es muss endlich eine politische
tur in die Verfassung aufzunehmen. Die ILO-Konvention Entscheidung für den Schutz dieser Menschen sowie für
Nr. 169 wurde inzwischen von 22 Staaten ratifiziert. Es den Schutz der biologischen Vielfalt getroffen werden –
ist Zeit, dass die deutsche Bundesregierung den guten gerade in Zeiten des Klimawandels. Die Ausreden von-
seiten des Wirtschafts- und Innenministeriums, nur Län-
Beispielen folgt und ihrer Verantwortung gegenüber den
der, in denen indigene Völker leben, könnten die Kon-
indigenen Gemeinschaften gerecht wird.
vention ratifizieren, dürfen nicht länger gelten, ebenso
wenig die ignorante Forderung, dass es möglichst keine
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auswirkungen auf deutsche wirtschafts- und innenpoliti-
Bereits 2002 beschloss der Bundestag einen umfang- sche Belange geben darf. Die blutig niedergeschlagenen
reichen Menschenrechtsantrag, der die Bundesregie- Indigenenproteste gegen ein Freihandelsabkommen in
rung aufforderte, die Ratifizierung der ILO-Konvention Peru im Jahr 2009 haben erneut deutlich gemacht, wie
169 zu prüfen. Leider hat Deutschland die Konvention bedroht ihr Lebensraum ist und dass Indigenenrechte
der ILO bis heute nicht ratifiziert, obwohl sie als einzige nicht einfach Wirtschaftsinteressen geopfert werden
völkerrechtliche Norm die Rechte indigener Völker um- dürfen.
fassend und verbindlich festlegt. Jede Ratifizierung der ILO-Konvention 169 stellt ei-
nen wichtigen Beitrag zur Vertiefung des internationa-
Damals scheiterte eine Ratifizierung vor allem an den
len Menschenrechtsstandards für indigene Völker dar;
Bedenken des Wirtschafts- und des Innenministeriums.
gerade auch durch Länder, die selbst keine indigene Be-
Auch ein neuer Anlauf durch einen Antrag von Bünd-
völkerung auf ihrem Staatsgebiet aufweisen. Die Nieder-
nis 90/Die Grünen in der letzten Legislaturperiode
lande und Spanien haben es uns vorgemacht. Jetzt ist es
wurde durch die Stimmen der damaligen Regierungsko-
an Deutschland, die ILO-Konvention 169 endlich zu ra-
alition abgeblockt. Es ist daher sehr erfreulich, dass wir
tifizieren und damit auch seiner neuen außenpolitischen
jetzt gemeinsam mit der SPD einen Antrag einbringen
Verantwortung im UN-Sicherheitsrat gerecht zu werden.
können. Noch schöner wäre es, wenn daraus sogar ein
(B) interfraktioneller Antrag gemeinsam mit der Koalition Ein weiterer Antrag von uns Bündnisgrünen, der aber (D)
werden könnte. Kämen Signale aus den Koalitionsfrak- auch ein interfraktioneller Antrag werden könnte – wir
tionen, die in diese Richtung gehen, dann würden wir freuen uns da über die zustimmenden Signale der SPD –,
uns Gesprächen nicht verschließen und gegebenenfalls fordert, dass den indigenen Völkern im Andenraum auch
diesen Antrag zugunsten eines gemeinsamen Antrags zu- weiterhin die Möglichkeit gegeben wird, legal Kokablät-
rückziehen. ter anzubauen. Dieser Antrag veranschaulicht beispiel-
haft die Problematik um die kulturellen Rechte indigener
Als „Indigene“ werden weltweit circa 350 Millionen Völker. Die Blätter der Kokapflanze gehören seit Jahr-
Menschen bezeichnet. Sie leben in circa 70 verschiede- tausenden zum kulturell-religiösen Erbe und Brauchtum
nen Ländern – und viele von ihnen weitestgehend im dort. Auch zu medizinischen Zwecken werden die Blätter
Einklang mit der Natur. Viele ihrer angestammten Ge- gekaut, und Touristen, die an der Höhenkrankheit lei-
biete sind regelrechte Biodiversitäts-Hotspots. Ihr tradi- den, schätzen diese Pflanze ebenso. Trotzdem stehen Ko-
tionelles Wissen ist dabei unerlässlich für die Bewah- kablätter seit 1961 auf der Liste der verbotenen Betäu-
rung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt bungsmittel der Vereinten Nationen, weil sie mit
auf unserem Planeten. chemischen Mitteln zur gefährlichen Droge Kokain ver-
arbeitet werden können. 2009 hatte Bolivien deshalb bei
Die Berichte des UN-Sonderberichterstatters für die den Vereinten Nationen beantragt, das Anbauen von
Rechte indigener Völker, Rodolfo Stavenhagen, belegen, Kokablättern nicht zu unterbinden. Jedoch sollte dies
dass diese Menschen sowohl in ihren Grundrechten, nur im Inland geschehen und die Nutzung der Kokablät-
aber auch in ihren kulturellen Rechten in vielen Regio- ter nicht für den Export gestattet werden. Die Verarbei-
nen der Welt bedroht sind. Ihrer Lebensweise wird in zu- tung von Koka zu Kokain sollte weiterhin streng verbo-
nehmendem Maße durch Umweltverschmutzung und ten bleiben.
skrupellose Ausbeutung von Rohstoffen die Grundlage
entzogen. Verantwortlich sind nicht nur die Regierungen Auch in unserem Kulturkreis hat sich seit Jahrtausen-
der einzelnen Länder, sondern auch multinationale Un- den eine Droge etabliert: Alkohol. Das Bundesverfas-
ternehmen. Insofern sind auch die Regierungen der sungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 9. März
wohlhabenden Industriestaaten in der Verantwortung, 1994 den Alkoholkonsum in Deutschland damit gerecht-
zu handeln – und nicht nur Staaten, auf deren Territo- fertigt, dass Alkohol als Lebens- und Genussmittel eine
rium indigene Völker leben. Wir fordern, wie in unserem Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat; in Form
Antrag formuliert, Richtlinien für die Entwicklungszu- von Wein wird er auch im religiösen Kult verwendet.
sammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung, die die Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber auch mit der Tatsa-

Zu Protokoll gegebene Reden


13114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Thilo Hoppe
(A) che konfrontiert, dass er den Genuss von Alkohol wegen von uns vorgelegten Anträgen zustimmen. Ich bin auf die (C)
der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutsch- Beratungen in den Ausschüssen gespannt und hoffe,
land und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv un- dass wir zu einem Konsens finden.
terbinden kann. Genauso geht es den Menschen im An-
denraum. Daher brauchen wir die Anerkennung von
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kokablättern als schützenswerte Heilpflanze und Be-
standteil der Kultur der Indigenen in den Anden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5915 und 17/6120 an die in der Ta-
Wir begrüßen, dass das BMZ kürzlich ein neues Men- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
schenrechtskonzept vorgestellt hat, dass die Menschen- Sind sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist
rechte zum verbindlichen Leitprinzip der deutschen Ent- das so beschlossen.
wicklungszusammenarbeit machen soll. Wenn es der
Bundesregierung aber wirklich ernst damit ist, müsste Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich das von den Schrift-
sie jetzt im Kabinett beschließen, auch die Außenwirt- führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
schaftsförderung, die Agrar- und Handelspolitik und vor namentlichen Abstimmung über den Antrag zur Fort-
allem auch die neue Rohstoffstrategie kohärent an den setzung der deutschen Beteiligung an der internationalen
Menschenrechten in ihrer vollen Bandbreite – also auch Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt: abgegebene
unter Einbeziehung der wirtschaftlichen, sozialen und Stimmen 565, mit Ja haben gestimmt 489, mit Nein ha-
kulturellen Menschenrechte – auszurichten. Folgerich- ben gestimmt 66, Enthaltungen 10. Die Beschlussemp-
tig müssten die Koalitionsfraktionen auch beiden heute fehlung ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis Dr. Thomas Feist Michael Hennrich Andreas G. Lämmel


Abgegebene Stimmen: 565; Enak Ferlemann Jürgen Herrmann Dr. Norbert Lammert
davon Ingrid Fischbach Ansgar Heveling Katharina Landgraf
Hartwig Fischer (Göttingen) Ernst Hinsken Ulrich Lange
ja: 489
Dirk Fischer (Hamburg) Peter Hintze Dr. Max Lehmer
nein: 66 Axel E. Fischer (Karlsruhe- Christian Hirte Paul Lehrieder
enthalten: 10 Land) Robert Hochbaum Dr. Ursula von der Leyen
Dr. Maria Flachsbarth Karl Holmeier Ingbert Liebing
Ja Klaus-Peter Flosbach Franz-Josef Holzenkamp Matthias Lietz
Herbert Frankenhauser Joachim Hörster Dr. Carsten Linnemann
(B) CDU/CSU Dr. Hans-Peter Friedrich Anette Hübinger Patricia Lips (D)
(Hof) Thomas Jarzombek Dr. Jan-Marco Luczak
Ilse Aigner Michael Frieser Dieter Jasper Dr. Michael Luther
Peter Altmaier Erich G. Fritz Dr. Franz Josef Jung Karin Maag
Peter Aumer Dr. Michael Fuchs Dr. Egon Jüttner Dr. Thomas de Maizière
Dorothee Bär
Hans-Joachim Fuchtel Bartholomäus Kalb Hans-Georg von der Marwitz
Thomas Bareiß
Alexander Funk Hans-Werner Kammer Andreas Mattfeldt
Norbert Barthle
Ingo Gädechens Steffen Kampeter Stephan Mayer (Altötting)
Günter Baumann
Dr. Thomas Gebhart Alois Karl Dr. Michael Meister
Ernst-Reinhard Beck
Norbert Geis Bernhard Kaster Dr. Angela Merkel
(Reutlingen)
Manfred Behrens (Börde) Alois Gerig Siegfried Kauder (Villingen- Maria Michalk
Veronika Bellmann Eberhard Gienger Schwenningen) Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Christoph Bergner Michael Glos Volker Kauder Dr. Mathias Middelberg
Peter Beyer Josef Göppel Dr. Stefan Kaufmann Philipp Mißfelder
Steffen Bilger Peter Götz Roderich Kiesewetter Dietrich Monstadt
Clemens Binninger Dr. Wolfgang Götzer Eckart von Klaeden Marlene Mortler
Peter Bleser Ute Granold Ewa Klamt Dr. Gerd Müller
Dr. Maria Böhmer Reinhard Grindel Volkmar Klein Stefan Müller (Erlangen)
Wolfgang Bosbach Hermann Gröhe Jürgen Klimke Dr. Philipp Murmann
Norbert Brackmann Michael Grosse-Brömer Axel Knoerig Bernd Neumann (Bremen)
Klaus Brähmig Markus Grübel Jens Koeppen Michaela Noll
Michael Brand Manfred Grund Manfred Kolbe Dr. Georg Nüßlein
Dr. Reinhard Brandl Monika Grütters Dr. Rolf Koschorrek Franz Obermeier
Helmut Brandt Olav Gutting Hartmut Koschyk Eduard Oswald
Dr. Ralf Brauksiepe Florian Hahn Thomas Kossendey Dr. Michael Paul
Dr. Helge Braun Dr. Stephan Harbarth Michael Kretschmer Rita Pawelski
Heike Brehmer Jürgen Hardt Gunther Krichbaum Ulrich Petzold
Ralph Brinkhaus Gerda Hasselfeldt Dr. Günter Krings Dr. Joachim Pfeiffer
Cajus Caesar Dr. Matthias Heider Rüdiger Kruse Sibylle Pfeiffer
Gitta Connemann Helmut Heiderich Bettina Kudla Beatrix Philipp
Alexander Dobrindt Mechthild Heil Dr. Hermann Kues Ronald Pofalla
Thomas Dörflinger Ursula Heinen-Esser Dr. Karl A. Lamers Christoph Poland
Marie-Luise Dött Frank Heinrich (Heidelberg) Ruprecht Polenz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13115
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Eckhard Pols Dr. Matthias Zimmer Dr. Karl Lauterbach FDP (C)
Thomas Rachel Wolfgang Zöller Steffen-Claudio Lemme
Jens Ackermann
Dr. Peter Ramsauer Willi Zylajew Burkhard Lischka Christian Ahrendt
Eckhardt Rehberg Gabriele Lösekrug-Möller Christine Aschenberg-
Katherina Reiche (Potsdam) SPD Kirsten Lühmann Dugnus
Lothar Riebsamen Caren Marks
Ingrid Arndt-Brauer Daniel Bahr (Münster)
Josef Rief Katja Mast Florian Bernschneider
Rainer Arnold
Klaus Riegert Heinz-Joachim Barchmann Hilde Mattheis Sebastian Blumenthal
Dr. Heinz Riesenhuber Doris Barnett Petra Merkel (Berlin) Claudia Bögel
Johannes Röring Dr. Hans-Peter Bartels Ullrich Meßmer Nicole Bracht-Bendt
Dr. Norbert Röttgen Sören Bartol Dr. Matthias Miersch Klaus Breil
Dr. Christian Ruck Bärbel Bas Franz Müntefering Rainer Brüderle
Erwin Rüddel Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dr. Rolf Mützenich Angelika Brunkhorst
Albert Rupprecht (Weiden) Dirk Becker Dietmar Nietan Ernst Burgbacher
Anita Schäfer (Saalstadt) Gerd Bollmann Marco Buschmann
Thomas Oppermann
Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Brandner Sylvia Canel
Holger Ortel
Dr. Annette Schavan Willi Brase Helga Daub
Heinz Paula
Dr. Andreas Scheuer Bernhard Brinkmann Reiner Deutschmann
Johannes Pflug
Karl Schiewerling (Hildesheim) Dr. Bijan Djir-Sarai
Norbert Schindler Joachim Poß
Edelgard Bulmahn Dr. Wilhelm Priesmeier Patrick Döring
Tankred Schipanski Marco Bülow Mechthild Dyckmans
Christian Schmidt (Fürth) Florian Pronold
Ulla Burchardt Dr. Sascha Raabe Rainer Erdel
Patrick Schnieder Martin Burkert Jörg van Essen
Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Rawert
Petra Crone Stefan Rebmann Ulrike Flach
Nadine Schön (St. Wendel) Elvira Drobinski-Weiß Otto Fricke
Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Carola Reimann
Garrelt Duin Dr. Edmund Peter Geisen
Uwe Schummer Sönke Rix
Sebastian Edathy Dr. Wolfgang Gerhardt
Armin Schuster (Weil am René Röspel
Ingo Egloff Heinz Golombeck
Rhein) Siegmund Ehrmann Dr. Ernst Dieter Rossmann Joachim Günther (Plauen)
Detlef Seif Dr. h. c. Gernot Erler Karin Roth (Esslingen) Dr. Christel Happach-Kasan
Johannes Selle Petra Ernstberger Michael Roth (Heringen) Heinz-Peter Haustein
Reinhold Sendker Karin Evers-Meyer Marlene Rupprecht Manuel Höferlin
Dr. Patrick Sensburg Elke Ferner (Tuchenbach) Elke Hoff
Bernd Siebert Gabriele Fograscher Anton Schaaf Birgit Homburger
(B) Thomas Silberhorn Dagmar Freitag Axel Schäfer (Bochum) Dr. Werner Hoyer (D)
Johannes Singhammer Sigmar Gabriel Bernd Scheelen Heiner Kamp
Jens Spahn Michael Gerdes Marianne Schieder Michael Kauch
Carola Stauche Martin Gerster (Schwandorf) Dr. Lutz Knopek
Dr. Frank Steffel Ulrike Gottschalck Werner Schieder (Weiden) Pascal Kober
Erika Steinbach Angelika Graf (Rosenheim) Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Heinrich L. Kolb
Christian Freiherr von Stetten Kerstin Griese Silvia Schmidt (Eisleben) Sebastian Körber
Dieter Stier Michael Groschek Carsten Schneider (Erfurt) Holger Krestel
Gero Storjohann Michael Groß Ottmar Schreiner Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Stephan Stracke Hans-Joachim Hacker Swen Schulz (Spandau) Heinz Lanfermann
Max Straubinger Bettina Hagedorn Ewald Schurer Sibylle Laurischk
Karin Strenz Klaus Hagemann Frank Schwabe Harald Leibrecht
Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Hartmann Dr. Martin Schwanholz Sabine Leutheusser-
Lena Strothmann (Wackernheim) Rolf Schwanitz Schnarrenberger
Michael Stübgen Hubertus Heil (Peine) Stefan Schwartze Lars Lindemann
Dr. Peter Tauber Rolf Hempelmann Christian Lindner
Rita Schwarzelühr-Sutter
Antje Tillmann Dr. Barbara Hendricks Dr. Martin Lindner (Berlin)
Dr. Carsten Sieling
Dr. Hans-Peter Uhl Gustav Herzog Michael Link (Heilbronn)
Sonja Steffen
Arnold Vaatz Gabriele Hiller-Ohm Oliver Luksic
Peer Steinbrück
Volkmar Vogel (Kleinsaara) Frank Hofmann (Volkach) Horst Meierhofer
Stefanie Vogelsang Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. Eva Högl Patrick Meinhardt
Andrea Astrid Voßhoff Christoph Strässer
Christel Humme Gabriele Molitor
Dr. Johann Wadephul Josip Juratovic Kerstin Tack Jan Mücke
Marco Wanderwitz Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Wolfgang Thierse Petra Müller (Aachen)
Kai Wegner Johannes Kahrs Rüdiger Veit Burkhardt Müller-Sönksen
Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. h. c. Susanne Kastner Ute Vogt Dr. Martin Neumann
Peter Weiß (Emmendingen) Ulrich Kelber Dr. Marlies Volkmer (Lausitz)
Sabine Weiss (Wesel I) Hans-Ulrich Klose Andrea Wicklein Dirk Niebel
Ingo Wellenreuther Dr. Bärbel Kofler Heidemarie Wieczorek-Zeul Cornelia Pieper
Karl-Georg Wellmann Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Dieter Wiefelspütz Gisela Piltz
Peter Wichtel Fritz Rudolf Körper Uta Zapf Dr. Christiane Ratjen-
Klaus-Peter Willsch Angelika Krüger-Leißner Dagmar Ziegler Damerau
Elisabeth Winkelmeier- Ute Kumpf Manfred Zöllmer Dr. Birgit Reinemund
Becker Christian Lange (Backnang) Brigitte Zypries Dr. Peter Röhlinger
13116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Dr. Stefan Ruppert Thilo Hoppe DIE LINKE Ingrid Remmers (C)
Björn Sänger Katja Keul Paul Schäfer (Köln)
Jan van Aken
Frank Schäffler Memet Kilic Agnes Alpers Dr. Ilja Seifert
Christoph Schnurr Sven-Christian Kindler Dr. Dietmar Bartsch Kathrin Senger-Schäfer
Jimmy Schulz Ute Koczy Herbert Behrens Raju Sharma
Marina Schuster Tom Koenigs Karin Binder Dr. Petra Sitte
Dr. Erik Schweickert Oliver Krischer Matthias W. Birkwald Kersten Steinke
Werner Simmling Agnes Krumwiede Heidrun Bluhm Sabine Stüber
Judith Skudelny Stephan Kühn Steffen Bockhahn Alexander Süßmair
Dr. Hermann Otto Solms Markus Kurth Christine Buchholz Dr. Kirsten Tackmann
Joachim Spatz Undine Kurth (Quedlinburg) Eva Bulling-Schröter Frank Tempel
Torsten Staffeldt Tobias Lindner Dr. Martina Bunge Alexander Ulrich
Dr. Rainer Stinner Roland Claus Kathrin Vogler
Nicole Maisch
Stephan Thomae Sevim Dağdelen Johanna Voß
Agnes Malczak
Florian Toncar Dr. Diether Dehm Sahra Wagenknecht
Jerzy Montag
Serkan Tören Heidrun Dittrich Halina Wawzyniak
Kerstin Müller (Köln) Katrin Werner
Johannes Vogel Werner Dreibus
Ingrid Nestle Jörn Wunderlich
(Lüdenscheid) Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Konstantin von Notz Wolfgang Gehrcke
Dr. Daniel Volk Friedrich Ostendorff
Dr. Guido Westerwelle Nicole Gohlke BÜNDNIS 90/
Dr. Hermann Ott Diana Golze DIE GRÜNEN
Dr. Claudia Winterstein Brigitte Pothmer
Dr. Volker Wissing Annette Groth
Claudia Roth (Augsburg) Till Seiler
Dr. Gregor Gysi
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Krista Sager Hans-Christian Ströbele
Heike Hänsel
Manuel Sarrazin Dr. Rosemarie Hein
BÜNDNIS 90/ Elisabeth Scharfenberg Dr. Barbara Höll Enthalten
DIE GRÜNEN Andrej Hunko
Christine Scheel
Marieluise Beck (Bremen) Dr. Gerhard Schick Ulla Jelpke SPD
Volker Beck (Köln) Dr. Frithjof Schmidt Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping Klaus Barthel
Cornelia Behm Dorothea Steiner Petra Hinz (Essen)
Birgitt Bender Dr. Wolfgang Strengmann- Harald Koch
Jan Korte Waltraud Wolff
Viola von Cramon-Taubadel Kuhn (Wolmirstedt)
Ekin Deligöz Markus Tressel Caren Lay
Sabine Leidig
Katja Dörner Jürgen Trittin FDP
Ralph Lenkert
Harald Ebner Daniela Wagner
(B) Stefan Liebich Dr. h. c. Jürgen Koppelin (D)
Hans-Josef Fell Wolfgang Wieland Ulla Lötzer
Dr. Thomas Gambke Dr. Valerie Wilms Thomas Lutze
Kai Gehring BÜNDNIS 90/
Josef Philip Winkler Ulrich Maurer
Katrin Göring-Eckardt DIE GRÜNEN
Dorothee Menzner
Britta Haßelmann Cornelia Möhring Uwe Kekeritz
Bettina Herlitzius Nein Sylvia Kotting-Uhl
Niema Movassat
Priska Hinz (Herborn) Wolfgang Nešković Monika Lazar
CDU/CSU
Dr. Anton Hofreiter Jens Petermann Beate Müller-Gemmeke
Bärbel Höhn Wolfgang Börnsen Richard Pitterle Lisa Paus
Ingrid Hönlinger (Bönstrup) Yvonne Ploetz Dr. Harald Terpe

Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Belarus nach den Wahlen – Repressionen Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei-
beenden terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
– Drucksache 17/6144 – Für die Demokratisierung des Gewerkschafts-
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der rechts in der Türkei
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ – Drucksachen 17/1101, 17/2025 –
Die Grünen auf Drucksache 17/6144. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Berichterstattung:
Antrag ist einstimmig angenommen. Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
1) Anlage 10 Kerstin Müller (Köln)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13117

(A) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Minderheitenrechte und auch der Gewerkschaftsrechte, (C)
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute dem „Acquis communautaire“ der Europäischen Union
diskutieren, fordert die Bundesregierung auf, sich bila- voll und ganz anzunähern. Wir haben ein großes Inte-
teral und im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen für resse daran, dass die Türkei sich in Richtung Europa
freie gewerkschaftliche Betätigung und Garantie von orientiert. Wir möchten, dass die Türkei auf der Seite
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei Europas steht sowie eine klare und Kriterien orientierte
einzusetzen. Beitrittsperspektive zur Europäischen Union behält.
Konkret wird die Bundesregierung aufgefordert, sich Grundsätzlich gilt: Über die Betrachtung von Einzel-
gegen die Kriminalisierung legitimer Arbeitnehmerpro- aspekten dürfen wir nicht die herausragende strategi-
teste in der Türkei einzusetzen und die türkische Regie- sche Bedeutung der Türkei als Dialogpartner zum Islam,
rung zur Vorlage eines Beschäftigungsangebots an die als Energietransitland und als aufstrebende Wirtschafts-
Tekel-Mitarbeiter in Übereinstimmung mit international nation aus den Augen verlieren. Ihr Antrag, verehrte
anerkannten Arbeits- und Vereinigungsrechten zu drän- Kollegen von der Linken, greift zu kurz und wird deshalb
gen. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, ge- von uns abgelehnt.
genüber der türkischen Regierung die Polizeigewalt ge-
gen streikende Gewerkschaftsvertreter deutlich zu
kritisieren, die Demokratisierung des türkischen Ge- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU):
werkschaftsrechts nach den Konventionen der Interna- Defizite bei der Versammlungs- und Vereinigungsfrei-
tionalen Arbeitsorganisation als Voraussetzung für ei- heit der Gewerkschaften in der Türkei können nicht ge-
nen EU-Beitritt einzufordern sowie sich auf EU-Ebene leugnet werden. Die Rechte der Gewerkschaften sind
für eine ausführliche Hervorhebung der Lage der türki- ebenso wie die der Arbeitnehmer in nicht unerheblichem
schen Gewerkschaften in den Fortschrittsberichten der Maße eingeschränkt. Es wurden zwar einige Rechte, wie
EU-Kommission einzusetzen. beispielsweise das Recht zur Aushandlung von Tarifver-
trägen, auch im öffentlichen Bereich, gestärkt, doch sind
Der Antrag beinhaltet einige gerechtfertigte Kritik- die positiven Aspekte insgesamt eher bescheiden. Rechte
punkte. In der Tat kam die EU-Kommission in ihrem zur Gewerkschaftsbildung und zur Organisationsfreiheit
Fortschrittsbericht 2010 zu dem Ergebnis, dass das bleiben auch nach der letzten Verfassungsänderung
Land zwar Fortschritte bei der Erfüllung der EU-Bei- deutlich hinter internationalen Standards zurück. Die
trittskriterien gemacht hat, im Bereich der Grundrechte Einschränkungen bei der Vereinigungs- und Versamm-
jedoch noch mehr erreicht werden muss. Das Problem lungsfreiheit bilden nur einen kleinen Ausschnitt beste-
ist jedoch nicht allein auf die Frage des Gewerkschafts- hender Defizite. Auch Jahre nach der Aufnahme der Bei-
(B) rechts beschränkt. Auch Journalisten werden häufig trittsgespräche zwischen der Türkei und der EU sind auf (D)
strafrechtlich verfolgt und verurteilt, und der Druck auf etlichen Gebieten weiterhin spürbare Demokratiedefi-
die Medien untergräbt die Pressefreiheit. Nicht-muslimi- zite festzustellen. Dabei darf man nicht vergessen, dass
sche Religionsgemeinschaften und die Aleviten werden zwischen der Ratifizierung von Verträgen, der Verab-
weiterhin unangemessenen Beschränkungen unterwor- schiedung EU-konformer Gesetze und der Unterzeich-
fen. Die „demokratische Öffnung“, mit der insbeson- nung internationaler Konventionen einerseits und der
dere die Kurdenfrage angegangen werden soll, hat nur gesellschaftlichen Realität andererseits große Lücken
zu begrenzten Ergebnissen geführt. klaffen. Dies ist auch und gerade auf arbeitsmarktpoliti-
Gerade weil die Problematik sich nicht nur auf das schem Gebiet traurige Realität in der Türkei.
Gewerkschaftsrecht beschränkt, halten wir von der
Der Antrag der Linken beschränkt sich auf die Frage
Union es für nicht zielführend, einzelne Aspekte durch
der Demokratisierung des türkischen Gewerkschafts-
einen Antrag herauszugreifen. Wir lehnen es ab, einem
rechts. Betrachten wir doch einmal ein anderes sozial-
Antrag zuzustimmen, der sich ausschließlich um Ge-
und arbeitsmarktpolitisches Problem, nämlich das der
werkschaftsfreiheit dreht und andere Probleme wie Min-
Kinderarbeit, dann stellen wir eine deutliche Diskrepanz
derheitenschutz, die Rechte von Frauen oder den Schutz
von Christen in der Türkei nicht betrachtet. Es ist zudem zwischen Gesetzeslage und Realität fest. Auf dem Papier
nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, sich in ist die Türkei auf diesem Gebiet zwar den internationa-
diesem Maße und so detailliert, wie Sie es in Ihrem An- len Verpflichtungen nachgekommen. So hat sie bei-
trag tun, liebe Kollegen von der Linken, in die inneren spielsweise im Jahre 2001 die ILO-Konvention Nr. 182
Angelegenheiten eines Partnerstaats einzumischen. Da- über die schlimmste Form von Kinderarbeit ratifiziert
von ist unbenommen, dass deutsche Parlamentarier in und ist bereits 1992 dem von der ILO entworfenen Pro-
der Türkei regelmäßig Rechtsfragen stellen, Missstände gramm zur Abschaffung der Kinderarbeit IPEC bei-
anprangern und das Problem auf bilateraler Ebene im- getreten. In der Realität aber gibt es noch viele Formen
mer wieder ansprechen. von Kinderarbeit in der Türkei, vor allem bei der land-
wirtschaftlichen Saisonarbeit sowie in kleinen und mitt-
Gleichwohl halten wir von der Union es für ungemein leren Familienbetrieben. Zwar haben die Gewerkschaf-
wichtig, dass wir die Erfüllung und Einhaltung der ten bei der Identifizierung von Kinderarbeit in der
Kopenhagen-Kriterien, aber auch die außenpolitische Vergangenheit eine positive Rolle gespielt, ihr Organi-
Rolle der Türkei mit ihrer Wirkung auf Zypern/Nord- sationsgrad aber ist in den genannten Sektoren relativ
zypern kritisch beleuchten und begleiten. Wir ermutigen gering, wodurch ihren Einflussmöglichkeiten enge
unsere Partner, sich im Bereich der Menschenrechte, der Grenzen gesetzt sind.

Zu Protokoll gegebene Reden


13118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Egon Jüttner


(A) Diese und ähnlich gelagerte Probleme werden in dem ten. Gleichgültigkeit und Unwissenheit der Deutschen (C)
Antrag außer Acht gelassen, was unweigerlich zu einer über die Gülen-Bewegung führen zu fatalen Folgen.“
verkürzten Sichtweise führt. Die Benennung von Män-
geln bei der Presse- und Meinungsfreiheit beispiels- Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist mit
weise findet ebenso wenig Erwähnung wie die Offenle- der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Türkei
gung von Defiziten auf der Ebene der Religionsfreiheit eng verbunden. Eine isolierte Betrachtung, die sich le-
oder der Frauenrechte. Gerade im Zusammenhang mit diglich auf die EU-Konformität türkischer Gesetze be-
der Presse- und Meinungsfreiheit hat es in der Türkei in zieht, wird der Vielschichtigkeit der Probleme und He-
jüngster Zeit mitunter erschreckende Entwicklungen ge- rausforderungen nicht gerecht. Wir können deshalb dem
geben. Hier kommt auf die Gewerkschaften eine ent- Antrag der Linken nicht zustimmen.
scheidende Rolle zu als unabhängiger Eckpfeiler der
türkischen Gesellschaft. Die Verhaftungen kritisch ein- Uta Zapf (SPD):
gestellter Journalisten und Schriftsteller, wie sie gerade Es ist schon merkwürdig, wenn wir heute, am 9. Juni
wieder im März dieses Jahres stattfanden, sind äußerst 2011, über einen Antrag zur Türkei abstimmen, der mehr
besorgniserregend. Hier ist zu hoffen, dass die türki- als ein Jahr alt ist. Wir beschäftigen uns also einige Tage
schen Gewerkschaften ihrer zivilgesellschaftlichen Ver- vor einer wichtigen Wahl – der Wahl zur türkischen Na-
pflichtung nachkommen und sich für transparente Pro- tionalversammlung am 12. Juni 2011 – mit einem An-
zesse und die Einhaltung demokratischer Spielregeln trag, der einen Miniausschnitt türkischer Politik behan-
einsetzen. delt, noch dazu einem Antrag, der an Aktualität verloren
hat. Um nicht missverstanden zu werden: Gewerk-
Unerwähnt im Antrag der Linken bleibt auch, dass schaftsrechte, Mitbestimmung, Tarifrechte ebenso wie
aus Sicht der Regierung Erdogan unbequeme Journalis- Arbeitsbedingungen und soziale Rechte sind für uns So-
ten verhaftet werden oder dass die Regierung von dem zialdemokraten von hoher Wichtigkeit. Auch nachdem
kritischen Medienkonzern Dogan Holding angebliche gegenüber dem in diesem Antrag beschriebenen Zustand
Steuernachforderungen in astronomischer Höhe ver- leichte Verbesserungen eingetreten sind, bleibt für die
langt und andere zu dieser Holding gehörende Firmen Türkei auf diesem Gebiet noch viel Reformbedarf, ehe
wegen deren kritischer Berichterstattung keine staatli- sie hier internationalen Standards der ILO – der Inter-
chen Aufträge mehr erhalten. Dadurch sah sich die Do- nationalen Arbeitsorganisation – entspricht. Aber bei
gan-Gruppe zum Verkauf ihrer Tankstellenkette gezwun- den bevorstehenden Wahlen steht mehr auf dem Spiel.
gen. Hier sind die Gewerkschaften aufgefordert, ihrer
gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Die spannende Frage ist doch: Wird die Türkei nach
diesen Wahlen den Weg zur weiteren Demokratisierung
(B) Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, wel- gehen? Wird, wenn die AKP von Premier Erdoğan eine (D)
che Richtung die Türkei unter einer zu erwartenden wei- verfassungsgebende Mehrheit im Parlament erreicht,
teren Regierung Erdogan einschlägt. Einerseits gibt sich eine Präsidialverfassung ohne Referendum – also ohne
die Türkei unter der Regierung Erdogan wirtschaftlich Mitsprache des Volkssouveräns – durch das Parlament
als Musterknabe, andererseits sind nationalistische gepeitscht? Oder wird die Türkei, nachdem sich die Op-
Töne und Alleingänge festzustellen, die unsere beson- positionspartei CHP neu formiert hat, zu einer parla-
dere Wachsamkeit erfordern. mentarischen Demokratie mit Kompromissen und Aus-
gleich in der Gesellschaft werden? Viele Reformen
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, in dessen Zusam-
stehen noch aus. An oberster Stelle gilt es, endlich wahre
menhang die türkischen Gewerkschaften künftig beson-
Pressefreiheit herzustellen. Wahre Meinungsfreiheit, die
ders gefordert sind. Dies ist die schleichende Unter-
auch vor den Gerichten standhält, ist noch nicht er-
wanderung der Wirtschaft und sämtlicher staatlicher reicht, das Vertrauen in Rechtsstaat und Justiz noch im-
Organisationen durch die Fethullah-Gülen-Bewegung. mer mangelhaft. Wie wird nach der Wahl mit dem längst
Diese Bedrohung, die sich vor allem auf die öffentliche nicht gelösten Kurdenproblem umgegangen? Wer demo-
Verwaltung und das Erziehungswesen sowie die Polizei kratische Repräsentanz aller Bevölkerungsgruppen will,
und langsam auch auf das Militär erstreckt, wird in dem darf nicht ständig unliebsame Parteien im kurdischen
Antrag der Linken leider nicht erwähnt. Es zeichnet sich Gebiet verbieten, sondern muss im Gegenteil die hohe
nämlich ab, dass die regierungstreue Fethullah-Gülen- Hürde von 10 Prozent für den Einzug in die Nationalver-
Bewegung beziehungsweise ihr gleichnamiger Anführer sammlung senken.
die regierungskritische Dogan-Gruppe als größten Me-
dienkonzern der Türkei ablösen wird. Der ehemalige Die Wahlkampagne war eine Schlammschlacht, die
stellvertretende Direktor der nachrichtendienstlichen einer Demokratie unwürdig ist. Es ist nur zu hoffen, dass
Abteilung der türkischen Polizei, Hanefi Avci, schreibt nach der Wahl ein zivilisierter Umgang der Parteien
in seiner Autobiografie, ich zitiere, „dass die Fethullah- einkehrt. Viele in der zivilen Gesellschaft der Türkei sind
Bewegung die türkische Polizei unter ihre Kontrolle ge- der Machtkämpfe müde. Sie hoffen auf eine prosperie-
bracht hat“. Avci wurde kurz nach Erscheinen seines rende, tolerante, demokratische Entwicklung in ihrem
Buches festgenommen. Ganz bewusst mache ich auch Land. Das türkische Selbstbewusstsein ist gestiegen.
auf den Einfluss dieser Bewegung in Deutschland auf- Viele in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders dieje-
merksam und zitiere hier die Menschenrechtsaktivistin nigen, die beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg genie-
Serap Cileli mit den Worten: „Die Gülen-Bewegung ist ßen und die bisherigen Reformen begrüßen, wollen nicht
eine Glaubensgemeinschaft mit missionarischen Absich- mehr mit ihrer Politikentwicklung vom Schielen auf den

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13119
Uta Zapf
(A) EU-Beitritt abhängig sein. „Wir machen unsere Refor- beachtlichen Modernisierungsprozess hinter sich. Klar (C)
men für uns, nicht für die EU“, ist ein oft gehörter Satz. ist aber auch: Es gibt noch sehr viel zu tun. Auf vielen
Die Kränkung durch die Haltung bestimmter EU-Län- Feldern sind noch lange nicht die demokratischen Stan-
der, die nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anbieten, dards erreicht, wie wir sie fordern und wie sie für mo-
sitzt tief. Die Türken und die Türkei haben sich von Eu- derne Demokratien selbstverständlich sind, sei es im
ropa entfernt. Nur noch 30 Prozent der Türken sind in Justizsystem oder bei den Menschenrechten. So werden
Umfragen pro EU – in früheren Jahren waren es circa Misshandlungen von Personen in Polizeigewahrsam im-
70 Prozent. mer wieder öffentlich. Ebenso bedarf die Umsetzung von
Minderheitenrechten für Kurden und Aleviten neuer Im-
Die neue türkische Außenpolitik – „Null Probleme pulse. Hinsichtlich der Durchsetzung der zivilen Kon-
mit den Nachbarländern“ – führt zu einer Annäherung trolle des Militärs zeigen die derzeit laufenden Gerichts-
an Staaten wie Iran, Irak, Syrien und andere Länder des verfahren und Verhaftungen im Zusammenhang mit aus
Mittleren Ostens, aber auch gleichzeitig zu Verwerfun- der jüngeren Vergangenheit stammenden Putschplänen,
gen mit Israel. Dies muss die Europäer und die USA an- dass die türkische Demokratie weiterhin große Anstren-
gesichts der Veränderungen und Risiken durch den ara- gungen bei der politischen Entmachtung des Militärs zu
bischen Frühling alarmieren. Es muss in unserem leisten hat. Und auch im Bereich des Gewerkschafts-
Interesse sein, dass die Außenpolitiken nicht zu sehr rechts gibt es ohne Zweifel noch viel zu tun.
auseinanderdriften. Die Türkei ist NATO-Mitglied und
damit relevanter Sicherheitspartner, sie ist durch ihre Über all das muss mit der türkischen Regierung
geopolitische Lage von ausschlaggebender Wichtigkeit. ernsthaft geredet werden. Und es wird geredet! Die Bun-
Dies trifft auf die arabischen Länder ebenso zu wie auf desregierung mahnt einen nicht nachlassenden Reform-
den Kaukasus. Sie könnte hilfreich sein beim Lösen vie- prozess bei jeder Gelegenheit an, und zwar auf allen Ge-
ler Konflikte in der Region. Wir sollten die Türkei ermu- bieten. Der vorliegende Antrag fordert also lediglich
tigen, zur Lösung des Konfliktes um Berg-Karabach bei- etwas, das schon längst Usus im Verhältnis zwischen der
zutragen und gleichzeitig das eigene Verhältnis zu EU und Deutschland zur Türkei ist.
Armenien zu klären.
Aber bei allem müssen wir die Verhältnismäßigkeit
Ein „Modell für die arabische Welt“, wie manche der Mittel wahren. Die Türkei hat in den letzten Jahren,
hoffen, wird die Türkei nur werden, wenn sie ihre inne- trotz mancher Rückschritte, insgesamt gezeigt, wie re-
ren demokratischen Reformen weitertreibt und gleich- formbereit und -fähig sie ist. Es ist der falsche Weg,
zeitig hohe Verantwortung zeigt in einer Region im Um- wenn jetzt der Deutsche Bundestag sich hinstellt und in
bruch. Gewerkschaftsrechte sind ein Minibaustein auf einem offiziellen Beschluss den Zeigefinger hebt und der
Türkei sagt, wie sie ihr Gewerkschaftsrecht zu gestalten
(B) dieser riesigen Baustelle. Die SPD enthält sich zum An- (D)
trag – wie in den Ausschüssen. Eine adäquate Türkei- hat. Auch auf EU-Ebene steht es dem Deutschen Bun-
Diskussion wird erst im Lichte der Ergebnisse der Wah- destag nicht gut zu Gesicht, der Kommission vorzu-
len möglich sein. Ob Europa die Türkei auf dem wichti- schreiben, welche Punkte bei den Beitrittsverhandlun-
gen Weg in die volle Demokratie begleiten kann, wird gen wie zu gewichten sind. Es ist nicht angemessen, zum
davon abhängen, ob wir die Türkei endlich als willkom- jetzigen Zeitpunkt die Beitrittsverhandlungen, die ergeb-
menen Partner behandeln oder ob einige Länder, wie nisoffen sein müssen, mit Anträgen aus einem nationa-
Deutschland, Frankreich und Österreich, mit ihrer Aus- len Parlament zu beeinflussen und zu versuchen, zu steu-
grenzungsstrategie fortfahren. ern. Dass die Linke dies versucht, sagt übrigens einiges
über deren Europahaltung und das Europaverständnis
aus. Abgesehen davon greift der Antrag zu kurz. Wie
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
kommt die Linke eigentlich dazu, sich nur auf ein einzi-
Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, dass der vorlie- ges Thema zu konzentrieren? Wie gesagt, die Türkei
gende Antrag im Auswärtigen Ausschuss beraten wurde. muss noch viele Reformen im gesamten Sozialbereich
Jetzt kommt er wieder ins Plenum zur abschließenden anstoßen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb der
Beratung. Selbst der Zeitablauf sorgte nicht dafür, dass Deutsche Bundestag jetzt und heute die Reform des Ge-
er besser und unterstützenswerter geworden wäre. Die werkschaftsrechts derart hervorheben und einfordern
Türkei ist ein sehr wichtiger Partner Deutschlands und sollte. Der Antrag tut geradezu so, als sei die Lage der
der Europäischen Union sowohl in wirtschaftlicher, kul- Gewerkschaften der schlimmste Missstand und das
tureller als auch in militärisch-strategischer Hinsicht. dringlichste Problem in der Türkei. Es ist aber eines von
Die EU und Deutschland arbeiten deshalb schon seit vielen.
längerem mit der Türkei in den verschiedensten Berei-
chen eng zusammen. Wir haben deshalb ein großes Inte- Einer der wichtigsten Gründe allerdings, den Antrag
resse daran, dass die Türkei bei der Demokratisierung abzulehnen, ist sein Unterton. Der Linken scheint es
und bei Menschenrechten weiter vorankommt. Und die vordergründig darum zu gehen, die Demokratisierung
Türkei muss ein eigens Interesse an diesen Fortschritten des Gewerkschaftsrechts voranzubringen. In dem An-
haben. Dies wird durch die seit 2005 laufenden Beitritts- trag sind aber die Vorgänge um die Privatisierung des
verhandlungen mit der EU verstärkt. Wir sind uns auch Tabakkonzerns Tekel der Dreh- und Angelpunkt der Kri-
alle einig, dass die Türkei nur dann eine Beitrittspers- tik. Es soll so, meines Erachtens durchaus bewusst, die
pektive hat, wenn sie die sehr hohen Standards der Ko- Privatisierung von Staatskonzernen als Quell allen
penhagener Kriterien erfüllt. Nicht zuletzt wegen einer Übels und eigentlicher Grund für soziale Verwerfungen
solchen Beitrittsperspektive hat die Türkei bereits einen dargestellt werden. Unterschwellig kann und soll man

Zu Protokoll gegebene Reden


13120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Patrick Kurth (Kyffhäuser)


(A) herauslesen, dass die Verstaatlichung von Unternehmen men der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf (C)
bzw. die Nichtprivatisierung eine Lösung des Problems EU-Ebene die Demokratisierung des Gewerkschafts-
wären. Erst die Übernahme durch einen kapitalistischen rechts nach den Konventionen der ILO als Vorausset-
Konzern – auch noch aus den USA – hätte demnach die zung für einen EU-Beitritt einzufordern.
Konflikte hervorgerufen, so die Lesart. Worauf der An-
trag aber überhaupt nicht eingeht, sind die Hinter- Letzte Woche, am 3. Juni 2011, fand in Ankara der
gründe der Privatisierung, ob und inwiefern diese nütz- Prozess gegen 111 Gewerkschafter statt. Auf der Ankla-
lich bzw. unumgänglich waren. Dieser Duktus des gebank sitzen aktuelle und ehemalige Vorsitzende meh-
Antrags ist für uns nicht akzeptabel. Es ist keineswegs rerer Branchengewerkschaften, unter ihnen der Präsi-
die Privatisierung von Betrieben an sich, die ein Pro- dent der Nahrungsmittelgewerkschaft TEKGIDA IS,
blem darstellt. Aber der vorliegende Antrag will genau Mustafa Türkel. Sie waren an einer Aktion in Ankara zur
dies implizieren. Die Linke benutzt den Antrag also, die Unterstützung von 12 000 Arbeiterinnen und Arbeitern
Problematik vor den Karren ihrer Sozialismusfantasien am 1. April 2010 beteiligt. Ihnen drohen nun Haftstrafen
zu spannen. von bis zu fünf Jahren.
Schließlich ist der Antrag hinsichtlich einer seiner Das alles scheint offensichtlich kein Problem für die
wichtigsten Forderungen überholt. Bereits seit dem letz- CDU/CSU und FDP zu sein, wenn man sich ihre Ausfüh-
ten Jahr finden wieder Großdemonstrationen der Ge- rungen zu unserem Antrag aus der ersten Beratung an-
werkschaften am 1. Mai auf dem Taksim-Platz in Istan- schaut. Bei der CDU/CSU vor allem deshalb, weil es ja
bul und auch an vielen anderen Orten des Landes statt, auch in anderen Bereichen gravierende Defizite gibt.
friedlich und ohne Repressionen. Ein weiteres Zeichen Und die würden in unserem Antrag nicht berücksichtigt.
dafür, dass die Türkei auf einem guten Weg ist und jetzt Das war das Argument, um unsere Initiative zur Verbes-
konstruktiv auf diesem umfassenden Reformweg weiter serung der rechtlichen und in deren Folge auch zur ver-
begleitet werden muss. Der vorliegende Antrag jeden- besserten Durchsetzung sozialer Rechte abzulehnen.
falls ist überholt und nicht geeignet, die Türkei auf die- Wie instrumentell CDU/CSU mit Menschenrechten um-
sem eingeschlagenen Weg der Reformen voranzubrin- gehen, wird am Antrag zum Schutz des Klosters Mor
gen. Gabriel von 2009 deutlich. In dem damaligen Antrag ist
ganz im Sinne des Vorwurfs des Kollegen Dr. Wolfgang
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Götzer aus der ersten Beratung am 25. März 2010
Vom 15. Dezember 2009 bis 2. März 2010 kämpften – Plenarprotokoll 17/34 – gegen den heute zu beschlie-
rund 12 000 Arbeiterinnen und Arbeiter des ehemals ßenden Antrag meiner Fraktion ein einzelnes Problem
staatlichen türkischen Tabak- und Alkoholmonopols aufgegriffen worden, ohne die Lage der Türkei insge-
(B)
Tekel sowie deren Familien landesweit um ihre Arbeits- samt zu beleuchten. Da schien eine isolierte Behandlung (D)
plätze und Zukunft. Tausende kamen in die türkische eines Aspektes sehr wohl völlig ausreichend. Nur hier
Hauptstadt Ankara, um gegen ihre drohende Entlassung ging es vermeintlich um die Religionsfreiheit. Und die
im Zuge der Privatisierung oder Überführung in den liegt den Konservativen eben mehr am Herzen. Wenn es
rechtlosen Leiharbeiterstatus 4/C. zu protestieren. Unter um Religionsfreiheit geht, dann sind mit einem Mal Sie,
Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasser- meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die
werfern versuchte die Polizei, ihren Widerstand zu bre- scheinbar größten Menschenrechtsverteidiger. Geht es
chen. Die entlassenen Tekel-Arbeiter fordern eine Wei- um Arbeitnehmerrechte, ist von Ihnen keine Hilfe zu er-
terbeschäftigung im öffentlichen Dienst, wie es ihnen als warten.
Staatsbedienstete nach türkischem Arbeitsrecht zusteht. Als in der Türkei die Verhaftungswelle gegen Journa-
Dem ist die türkische Regierung bis heute nicht nachge-
listinnen und Journalisten schwappte, gab es seitens der
kommen. Auch angemessene Abfindungen wurden nicht
Bundesregierung wenigstens noch Bekundungen von
gezahlt. Im Gegenteil. Ein Solidaritätskonto der entlas-
Besorgnis. Nicht einmal so lau fällt der Protest hinsicht-
senen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer Familien
lich der Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeitern
im Wert von 30 000 Euro wurde auf Weisung des türki-
aus, die ihre gewerkschaftlichen Rechte in Anspruch
schen Innenministeriums eingefroren.
nehmen, um sich vor der Willkür der Unternehmens-
Die Forderungen unseres Antrages sind immer noch bosse zu schützen. Dass Sie von der FDP nicht im Ge-
aktuell. Denn obwohl die Türkei das Abkommen der In- ringsten daran interessiert sind, dass die türkische Re-
ternationalen Arbeitsorganisation, ILO, über das Recht gierung aufgefordert wird, internationale Standards bei
auf Vereinigung und kollektive Tarifverträge unterzeich- den sozial- und arbeitsrechtlichen Normen einzuführen
net hat, werden gewerkschaftliche Rechte durch Ge- bzw. einzuhalten, wundert nun vermutlich niemanden.
setze, die vielfach noch auf die Militärdiktatur zurückge- Die Rede meines Kollegen Serkan Tören in der ersten
hen, erheblich eingeschränkt. Die Linke. fordert deshalb Beratung war geradezu eine Offenbarung in dieser Hin-
die Bundesregierung auf, darauf zu drängen, dass die sicht. So wie die Kolleginnen und Kollegen von FDP in
türkische Regierung ein Beschäftigungsangebot den Te- Deutschland den Unternehmen als ihrer ureigenen
kel-Arbeiterinnen und -Arbeitern in Übereinstimmung Klientel Steuergeschenke verteilt, will sie auch deutsche
mit den bei der ILO verankerten und international aner- Unternehmen in der Türkei nicht mit international bin-
kannten Arbeits- und Vereinigungsrechten für Arbeit- denden sozialen und arbeitsrechtlichen Standards „gän-
nehmerinnen und Arbeitnehmer vorlegt. Eine weitere geln“, die deren Profit schmälern würden. Ganz nach
zentrale Forderung an die Bundesregierung ist, im Rah- dem Motto: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13121
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) aus.“ Da zeigt sich eben wieder, wes Geistes Kind die Erdogan die Zweidrittelmehrheit bei den Wahlen am (C)
FDP ist. Sie ist schlicht eine Klientelpartei. 12. Juni erreichen. Damit könnte er eine neue Verfas-
sung im Alleingang schreiben. Da verwundert es kaum,
Dass das Vorgehen der türkischen Regierung gegen
dass auch mit allen zur Verfügung stehenden Maßnah-
die Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeiter nicht nur der tür-
men versucht wird, die Konkurrenz, ist sie schon nicht
kischen Gesetzgebung, sondern auch dem Übereinkom-
komplett auszuschalten, so doch zumindest weitestge-
men der Internationalen Arbeitsorganisation wider-
hend zu behindern oder kriminalisieren. So hatte die
spricht, stört offenbar weder die Regierungsfraktionen
oberste Wahlbehörde YSK im April 2011 etliche unab-
noch die Bundesregierung. Das ist skandalös und be-
hängige Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlbünd-
weist einmal mehr wie heuchlerisch sie mit den Men-
nisses „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“
schenrechten umgehen. Die Durchsetzung von sozialen
nicht zur Wahl zugelassen. Nach Protesten im In- und
und Arbeitsrechten sind bei ihnen schlecht aufgehoben.
Ausland wurde diese Entscheidung zurückgenommen.
Heuchlerisch ist die Behauptung seitens meines Doch die Repression geht weiter. Kritische Journalistin-
FDP-Kollegen Serkan Tören, der Deutsche Bundestag nen und Journalisten werden verhaftet, kriminalisiert
könne nicht die türkische Regierung zur Einhaltung bzw. und strafrechtlich verfolgt. Große Bedenken hinsichtlich
Anwendung sozial- und arbeitsrechtlicher Normen auf- der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität
fordern. Zum einen wird das in unserem Antrag nicht ge- der Justiz bleiben weiterhin bestehen. Insbesondere mit
fordert – wir fordern die Bundesregierung auf, sich dies- den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sor-
bezüglich im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit gen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisie-
der Türkei endlich zu engagieren –, zum anderen schien rung der Türkei nicht von der Hand zu weisen. Die un-
dies aber in anderen Fällen für die FDP kein Problem zu eingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das
sein. Während im Antrag zum Schutz des Klosters Mor Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen
Gabriel darauf hingewiesen wurde, dass Vertreterinnen werden nicht gewährleistet. Umso wichtiger ist es, dass
und Vertreter der Bundesregierung und des Deutschen die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden
Bundestages in den vergangenen Jahren immer wieder Möglichkeiten nutzt, die wirtschaftliche Zusammenar-
auf die Probleme des Klosters aufmerksam gemacht und beit mit der Einhaltung bzw. Einführung international
diese auch in Gesprächen mit der türkischen Führung verpflichtender sozial- und arbeitsrechtlicher Normen
verdeutlicht haben, wird den türkischen Arbeiterinnen zu verknüpfen. Genau das fordert die Linke in dem An-
und Arbeiter dieses Privileg nicht zuteil. Umso mehr ist trag „Für die Demokratisierung des Gewerkschafts-
es zu begrüßen, dass Vertreterinnen und Vertreter der rechts in der Türkei“. Ich hoffe, dass die Linke nicht die
Gewerkschaften Verdi, IG Metall und Gewerkschaft einzige Partei im Bundestag ist, die die Rechte von Ar-
Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, beim Prozess in beiterinnen und Arbeiter verteidigt und unterstützt.
(B) (D)
Ankara letzte Woche vor Ort waren.
Dass es hier eben nicht um ein isoliertes Problem Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geht, zeigt der aktuell erwähnte Prozess und zeigt auch, NEN):
dass eine solche Verfolgung in der Türkei überhaupt In drei Tagen wird in der Türkei ein neues Parlament
möglich ist. Von Unabhängigkeit der Justiz, die meinem gewählt. Obwohl mit einem Machtwechsel in Ankara
Kollegen in seiner Rede zur ersten Lesung so wichtig nicht zu rechnen ist, bleiben die Wahlen und die Aus-
war, ist doch hier offensichtlich kaum was zu spüren. Die einandersetzungen um die Zukunft der Türkei hochspan-
von 111 Angeklagten anwesenden circa 80 sind teilweise nend.
mit unzulässigen Fragen, wie nach der Religionszuge-
hörigkeit, konfrontiert worden. Des Weiteren wurden je- Seit neun Jahren regiert die AKP, die Partei von Mi-
dem der Angeklagten der gesetzliche Paragraf, der den nisterpräsident Erdogan, alleine. Sie hat in den ersten
Verstoß gegen das Versammlungsrecht ahndet, verlesen. Jahren ihrer Regierungszeit große und wichtige Refor-
Einige von ihnen sind mit angeblichen Beweisfotos kon- men auf den Weg gebracht, die die Grundlagen der heu-
frontiert worden. Die Verhandlung war nach circa tigen Fortschritte der Türkei in Richtung Demokratie
9 Stunden zu Ende und wurde auf Oktober vertagt. Ge- und Rechtsstaatlichkeit waren. Eine besonders wichtige
gen die nichtanwesenden Angeklagten ist zwecks Fest- Komponente in dieser Reformdynamik war die Perspek-
stellung der Personalien und Vernehmung Haftbefehl er- tive für die Türkei, Mitgliedsstaat der EU zu werden.
lassen worden.
Die aktuelle Lage und der Stand der Beitrittsverhand-
Im Zuge der Verweigerung von sozial- und arbeits-
lungen geben aber Anlass zur Sorge; denn wir beobach-
rechtlichen Normen werden auch solche Demokratie-
ten eine beunruhigende Stagnation in den Beitrittsver-
defizite offenbar wie ungerechtfertigte Gerichtsverfahren,
handlungen der EU mit der Türkei, die auch die bisher
Einschüchterung und Polizeigewalt, wie sie gegenüber
erzielten Erfolge und Fortschritte gefährden könnte. Aus
den demonstrierenden Arbeiterinnen und Arbeitern am
diesem Grund haben wir im März dieses Jahres einen
1. April 2010 stattfand.
Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem explizi-
Was die derzeitige Regierung und der Ministerpräsi- ten Anliegen, die „Beitrittsverhandlungen mit der Tür-
dent Recep Tayyip Erdogan von einer echten Demokra- kei wiederbeleben“ zu wollen. Aus Sorge um Menschen-
tisierung halten, zeigen sie im aktuellen Wahlkampf we- und Minderheitenrechte in der Türkei ebenso wie aus
gen der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag Sorge um den sozialen Frieden in diesem Land fordern
mehr als deutlich. Mit aller Macht und allen Mitteln will wir die Bundesregierung in diesem Antrag auf, der sich

Zu Protokoll gegebene Reden


13122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Claudia Roth (Augsburg)


(A) etablierenden Stagnation mit neuen außen- und europa- Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und (C)
politischen Initiativen zu begegnen. der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nicht nur die Lage der gewerkschaftlichen Rechte Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts
und generell die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Ar- verbessern
beitnehmern sind meilenweit von den ILO-Standards
und den Gemeinschaftswerten der EU entfernt. Auch die – Drucksachen 17/4041, 17/5562 –
aktuellen Festnahmen von renommierten Journalisten Berichterstattung:
oder Schikanen und die juristische Verfolgung von Me- Abgeordneter Patrick Döring
dienvertretern machen deutlich, wie dringend notwen-
dig eine neue Dynamik und die Intensivierung der da- Peter Wichtel (CDU/CSU):
mals begonnenen Reformen in der Türkei sind.
Bereits vor wenigen Monaten haben wir an dieser
Die türkische Justiz braucht eine Generalsanierung Stelle vor dem Hintergrund des vorliegenden und eines
in Sachen Rechtsstaatlichkeit, um endlich Schluss damit weiteren Antrags ausführlich über die Reiserechte in der
zu machen, dass jeder Verdächtige unmittelbar und Bundesrepublik gesprochen. Auch heute noch gilt unver-
quasi prophylaktisch in Haft genommen werden kann ändert, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und
und manchmal sogar Jahre im Gefängnis verbringen Bürger mit einer ebenso nachhaltigen wie verantwor-
muss, bevor seine Schuld rechtlich bewiesen ist. Bei sol- tungsbewussten Verbraucherpolitik begleitet. Das deut-
chen Fragen sind wir parteiisch, parteiisch für Men- sche Reiserecht gewährt unbestritten ein hohes Maß an
schen- und Bürgerrechte und für umfassende und vorbe- Schutz und reicht nicht nur im europäischen Vergleich
haltlose Pressefreiheit. Die EU steht auch im eigenen deutlich über den geltenden Standard hinaus. Dieses
Interesse in der Pflicht, die Beitrittsverhandlungen im hohe Niveau des Verbraucherschutzes werden wir nicht
Namen dieser fundamentalen Rechte der Menschen in nur in Zukunft weiter halten; wir wollen die verbrau-
der Türkei zu führen. Nur eine glaubwürdige Beitritts- cherfreundlichen Strukturen bei Bedarf auch weiter ver-
perspektive kann den nötigen Druck und das günstige bessern und punktuell ausbauen.
Klima schaffen, um die türkische Innen- und Rechtspoli-
Gerade weil das Reiserecht und eine an den Bedürf-
tik demokratisch und rechtsstaatlich zu gestalten und zu
nissen der Bürgerinnen und Bürger orientierte Verbrau-
stabilisieren.
cherpolitik aber einen hohen Stellenwert haben muss,
Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgver- hat mich die bisher geführte Debatte verwundert und ir-
sprechenden Türkei-Politik in Deutschland. Deshalb ritiert. Die Oppositionsparteien haben es versäumt, sich
setzen wir uns für das Ende der eingetretenen Blockade mit nachvollziehbaren und gut gemeinten Absichten für
(B) bei den Beitrittsverhandlungen ein. So besteht die einen möglichen Ausbau der bewährten gesetzlichen (D)
Chance, dass die Türkei alle politischen und wirtschaft- Rahmenbedingungen einzusetzen. Die Aussprache war
lichen Kopenhagen-Kriterien erfüllt und die daraus ab- stattdessen immer wieder von unnötigem Aktionismus,
zuleitenden Konsequenzen in Reformschritte umsetzt. nicht nachvollziehbaren Forderungen und mangelnden
Sachzusammenhängen durchzogen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke greift viele rich-
tige und wichtige Punkte im Bereich der Gewerkschafts- Ein Beispiel hierfür ist die Kritik an der Bundesregie-
rechte in der Türkei auf und thematisiert zu Recht die rung bezüglich des Krisenmanagements nach dem Aus-
Verantwortung und Verpflichtung der deutschen Wirt- bruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull. Zum ei-
schaft in der Türkei und in allen Unternehmen, die in nen betone ich an dieser Stelle wie in anderen Debatten
beiden Ländern arbeiten. Dennoch werden wir uns ent- zuvor gerne erneut, dass im vergangenen Jahr auf natio-
halten, weil der Antrag detaillierte Erwartungen formu- naler und internationaler Ebene zeitnah und in enger
liert, die nur innerhalb der Türkei verwirklicht und um- Abstimmung mit den am Luftverkehr Beteiligten die not-
gesetzt werden können. wendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Lage ge-
schaffen wurden. Zum anderen waren auch die Rechte
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der gestrandeten Flugpassagiere durch die Fluggast-
rechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu jeder Zeit ge-
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
deckt. Luftfahrtunternehmen waren und sind noch im-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
mer verpflichtet, im Fall eines wegen Vulkanasche
Drucksache 17/2025, den Antrag der Fraktion Die Linke
annullierten Fluges Unterstützungsleistungen wie die
auf Drucksache 17/1101 abzulehnen. Wer stimmt für
Erstattung des Flugpreises anzubieten. Eine ebenso in
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
der Verordnung festgeschriebene Informationspflicht
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
schreibt Fluggesellschaften zudem vor, die Reisenden
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
von den Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in
Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenom-
Kenntnis zu setzen. Die Hilfs- und Informationsangebote
men.
an Flughäfen vor diesem Hintergrund als unzureichend
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: zu beschreiben und dies sogar der Bundesregierung als
mangelndes Krisenmanagement anzulasten, ist schlicht
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zusammenhanglos und nicht nachvollziehbar.
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag Auch die parteiübergreifende Forderung der Opposi-
der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, tion nach der Einführung einer wirksamen Schlichtungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13123
Peter Wichtel
(A) stelle macht nur bedingt Sinn, da die Bundesregierung Dass sich die Bundesregierung und auch die CDU/ (C)
dieses Vorhaben nicht nur im Koalitionsvertrag festge- CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bei Bedarf für
legt, sondern bereits umgesetzt hat. Mit der Schlich- eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedin-
tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, söp, ist gungen des Reiserechtes engagieren, belegen die jüngs-
die Realisierung einer unabhängigen und verkehrsträ- ten Beratungen in den parlamentarischen Gremien zur
gerübergreifenden Schiedsstelle bereits im Dezember Fluggastrechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Nicht
des Jahres 2009 gelungen. Die erfolgreiche Arbeit der erst seit Veröffentlichung des Berichtes der EU-Kommis-
Einrichtung ist ein weiterer Beleg für das hohe Niveau sion zu den Entwicklungen und Erfahrungen mit der
des Verbraucherschutzes in der Bundesrepublik und das Verordnung setzt sich die Bundesregierung nachhaltig
Engagement der Bundesregierung, dieses Niveau zu hal- für deren zeitnahe Überarbeitung ein. Nach der bisheri-
ten und weiter zu verbessern. gen Anwendung der Verordnung bestehen noch offene
Fragen und rechtliche Unklarheiten, die nur durch eine
Der Ruf nach einer verpflichtenden Beteiligung der Überarbeitung durch den Verordnungsgeber umfassend
Fluggesellschaften an der bestehenden Schlichtungs- und verbindlich geklärt werden können.
stelle für den öffentlichen Personenverkehr ist ebenso
unbegründet. Nachdem die Luftfahrtunternehmen sich Wichtig ist uns dabei allerdings, dass die Verbesse-
grundsätzlich für die Teilnahme an Schlichtungsverfah- rungen nicht pauschal und unverbindlich, sondern so
ren ausgesprochen haben, ist dies durchaus auch in ei- präzise und rechtssicher wie möglich gestaltet werden.
ner eigenen Schlichtungsstelle denkbar. Letztendlich So werden die kurzfristigen Maßnahmen des von der
muss beachtet werden, dass es in der Luftfahrtbranche EU-Kommission vorgeschlagenen Zwölf-Punkte-Planes
im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern wie der die bestehende Rechtsunsicherheit nicht nachhaltig aus-
Schiene einen deutlich intensiveren Wettbewerb gibt. räumen können. Auch der Ansatz, die Verpflichtungen
Die Bundesregierung arbeitet gegenwärtig mit Nach- der Mitgliedstaaten ohne Mitwirkung des Europäischen
druck daran, die Einbeziehung der Luftverkehrsträger Rates und des EU-Parlamentes festzusetzen, betrachten
in eine Schlichtung zu finalisieren. Entscheidend ist wir als keine optimale Lösung. Sichere, verlässliche und
schließlich weniger, wo, sondern vielmehr dass auch rechtsverbindliche Regelungen kann alleine der EU-
Flugpassagiere ihre Anliegen so zeitnah und kosten- Verordnungsgeber treffen.
günstig wie möglich im Rahmen einer außergerichtli- Auch inhaltlich müssen die Maßnahmen stimmig sein
chen Schlichtung prüfen lassen können. und eine klare Verbesserung des Reiseschutzes darstel-
Letztendlich hat mich aber insbesondere ein weiterer len. Das ist im Fall des Vorhabens, das Bewusstsein der
in der Plenardebatte angesprochener Punkt verwundert. Reisenden für ihre Rechte durch Informationskampa-
(B) So wurde dem der Dienst- und Fachaufsicht der Bundes- gnen in Zusammenarbeit mit den Verbraucherschutznet- (D)
regierung unterstehenden Luftfahrt-Bundesamt man- zen zu schärfen, offensichtlich gegeben. Die Umsetzung
gelnder Einsatz für behinderte Flugreisende seit dem dieses Punktes wird von uns dementsprechend befürwor-
Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor- tet und unterstützt. Die vorgeschlagene Förderung der
geworfen. Eine Lektüre des jüngsten Berichtes der Euro- Veröffentlichung verhängter Sanktionen betrachten wir
päischen Kommission über die Anwendung und Ergeb- dagegen kritisch. Für Maßnahmen wie eine schwarze
Liste, die auch in der Debatte bezüglich des vorliegen-
nisse der Verordnung über die Rechte von behinderten
den Antrages gefordert wird, gibt es schlicht keine recht-
Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter
liche Grundlage. Zudem würde die Veröffentlichung von
Mobilität verdeutlicht, dass diese Kritik absolut haltlos
Daten einen Eingriff in die wirtschaftliche Tätigkeit der
und unbegründet ist. Der Bericht unterstreicht, dass sich
Unternehmen darstellen.
die Vorschriften der im Jahr 2008 in Kraft getretenen
Verordnung weitgehend bewährt haben. Zwar ist die Meine Ausführungen verdeutlichen, dass wir uns,
Auslegung der Verordnung in den Mitgliedstaaten noch wann immer wir mögliche Verbesserungen im Reise-
nicht komplett harmonisiert; die große Mehrheit der recht erkennen, mit Nachdruck dafür einsetzen werden.
europaweit betroffenen Passagiere hat aber die notwen- Diese Verbesserungen sehen wir aber insbesondere im
digen Betreuungsleistungen erhalten, und es sind nur vorliegenden Antrag nicht. Bereits in der ersten Lesung
wenige einzelfallbezogene Probleme aufgetreten. In der vor wenigen Monaten habe ich betont, dass es für die ge-
Bundesrepublik hat das Luftfahrt-Bundesamt als natio- forderte Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luft-
nale Durchsetzungsstelle seit Inkrafttreten der Verord- verkehrs keine gesetzliche Grundlage gibt. Auch ein
nung keine systematischen oder strukturellen Defizite Sachzusammenhang zwischen der geforderten Daten-
bei der Umsetzung feststellen können. erhebung und der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung
ist nicht gegeben. Es ist nicht Aufgabe der amtlichen
Die erwähnten Punkte verdeutlichen, dass die De- Verkehrsstatistik, Daten für die Überwachung von Pas-
batte seitens der Opposition teilweise unsachgemäß und sagierrechten zu erfassen. Die im Antrag formulierte
an der eigentlichen Thematik vorbei geführt wird. Ein Aufnahme der Verspätungstatbestände in das Verkehrs-
Fokus auf das Wesentliche – das ist die mögliche punk- statistikgesetz, VerkStatG, wäre schlicht sachfremd.
tuelle Verbesserung der bewährten gesetzlichen Rah-
menbedingungen – würde nicht nur der Aussprache be- Auch die Rolle des Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, die
züglich des vorliegenden Antrages guttun. Insbesondere im Antrag scheinbar missinterpretiert wird, sollte in die-
das Reiserecht der Bürgerinnen und Bürger kann letzt- sem Zusammenhang noch einmal unterstrichen werden.
endlich von einem konstruktiven Austausch profitieren. Das LBA ist kein rechtsdurchsetzendes Organ für Flug-

Zu Protokoll gegebene Reden


13124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Peter Wichtel
(A) gäste und auch nicht im zivilrechtlichen Interesse tätig. Aber auch Ansprüche, die die Fluggastrechteverord- (C)
Die Geltendmachung und Durchsetzung zivilrechtlicher nung schon jetzt beinhaltet, werden laut EU-Kommis-
Ausgleichsansprüche gegenüber der Luftfahrtindustrie sion nicht ordnungsgemäß von den Luftfahrtunterneh-
im Interesse der betroffenen Fluggäste ist keinesfalls men umgesetzt, wie der Anspruch auf Umbuchung bei
Aufgabe der Behörde. Ein Sachzusammenhang zwischen nächster Gelegenheit und unter vergleichbaren Reisebe-
der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhe- dingungen, wenn ein vereinbarter Reiseweg geändert
bung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs ist, wurde, und der Anspruch auf Betreuung bei Wartezeiten.
um dies erneut deutlich zu betonen, nach wie vor nicht Nationale Durchsetzungsstellen bearbeiten die Be-
gegeben. schwerden nicht schnell und effizient genug, und weil
die Entscheidungen der nationalen Durchsetzungsstel-
Abschließend betrachtet hebe ich erneut hervor, dass len nicht verbindlich sind, werden sie von Luftfahrtun-
die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Bür- ternehmen nicht immer befolgt oder von Gerichten nicht
gerinnen und Bürger mit einer umsichtigen Verbrau- immer anerkannt.
cherpolitik nachkommt. Die gesetzlichen Rahmen-
bedingungen haben sich bewährt und werden, wenn es Laut Kommission fehlt es zudem an einer Überwa-
erforderlich ist, punktuell ausgebaut und weiterentwi- chung, Erfassung und Veröffentlichung von Informatio-
ckelt. Forderungen, mit denen das hohe Niveau des Ver- nen über das Verhalten der Unternehmen und über das
braucherschutzes nicht verbessert werden kann und weit Niveau der Verbraucherzufriedenheit.
über das Ziel eines angemessenen Reiseschutzes hinaus-
Die EU-Kommission hält eine öffentliche Bericht-
schießen, werden unsere Unterstützung dagegen nicht
erstattung über Sanktionen und das Verhalten der Luft-
finden. Den vorliegenden Antrag lehnen wir nicht zuletzt
fahrtunternehmen für eine wichtige Bedingung für die
vor diesem Hintergrund ab.
korrekte Anwendung der Verordnung. Aus diesem Grund
wird die Kommission die Herausgabe und Veröffentli-
Ulrike Gottschalck (SPD): chung der notwendigen Daten durch die Luftfahrtunter-
Die Europäische Kommission hat im April dieses nehmen auch unterstützen. Die Luftfahrtunternehmen
Jahres dem Europäischen Parlament und dem Rat eine sollen den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Infor-
Mitteilung vorgelegt, mit der sie eine Auswertung der mationen zum Beispiel über Pünktlichkeit, die Zahl der
Fluggastrechteverordnung der EU (Nr. 261/2004) vor- von Störungen betroffenen Flüge und die angewendeten
nimmt. In dieser Bestandsaufnahme nennt sie Verbesse- Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte übermitteln,
rungen bei der Anwendung der Verordnung, erläutert die diese dann veröffentlichen sollen.
verbleibende Hindernisse und schlägt Maßnahmen vor,
die eine weiter verbesserte Anwendung dieser Verord- Diese Transparenz zur besseren Überwachung der
(B) nung ermöglichen könnten. Passagierrechte halten wir ebenfalls für notwendig. Die (D)
Veröffentlichung dieser Daten sollte jedoch nicht nur
Koordiniert mit der derzeit laufenden Überarbeitung empfohlen, sondern über das Verkehrsstatistikgesetz von
der Pauschalreiserichtlinie (90/314/EWG) wird die EU- der Bundesregierung auch verbindlich erlassen werden.
Kommission in diesem Jahr eine Folgenabschätzung der Die betroffenen Unternehmen sollten zur Herausgabe
Fluggastrechteverordnung einleiten. Ziel ist, im Jahr der notwendigen relevanten Daten verpflichtet werden.
2012 Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Flug-
Hinsichtlich dieses Anliegens unterstützen wir den
gastrechte vorzulegen.
vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Nach Informationen der EU-Kommission ist die Zahl
Die Bundesregierung besitzt gegenwärtig keine ver-
der Fluggäste seit dem Jahr 2000 um rund 35 Prozent
lässlichen Zahlen zu Annullierungen, Verspätungen, He-
gestiegen; auch die Zahl der Fluggastbeschwerden ist in
rabstufungen oder Nichtbeförderungen von Personen-
den letzten Jahren angestiegen.
transporten. Diese Zahlen sind aber für eine effektive
Aufgrund des wachsenden Flugverkehrs ist nach In- Durchsetzung von Fahrgast- und Passagierrechten er-
formationen der EU-Kommission die Qualität des Flug- forderlich. Die im Antrag vorgeschlagenen §§ 12 und 18
verkehrs für die Passagiere gesunken. Die Kommission des Verkehrsstatistikgesetzes reichen allerdings nicht
nennt als Gründe vermeidbare Verspätungen durch aus, um die in diesem Antrag formulierte Forderung um-
Überlastungen im Luftraum und auf Flughäfen, unzurei- zusetzen. § 12 befasst sich mit der Luftverkehrsstatistik,
chende Alternativplanungen bei extremen Schlecht- und § 18 bezieht sich auf die Personenbeförderungssta-
wetterlagen und strengere Sicherheitsmaßnahmen, aber tistik auf Schienenstrecken. Um auch den Busbereich
auch größere Flughäfen mit langen Wegen, Schwierig- und die Schiffsreisen mit einzubeziehen, müssten die
keiten beim Gepäcktransfer und damit verbundene §§ 3 und 17 ebenfalls entsprechend angepasst werden.
höhere Risiken für die Fluggäste, Anschlussflüge zu ver- In der Begründung dieses Antrags wird umfangreich
passen. Auch Geschäftspraktiken von Luftfahrtunter- auf die Flugbeförderung eingegangen. Alle anderen Ver-
nehmen zulasten von Flugpassagieren, die erst nach kehrsträger werden in einem, nämlich dem letzten Satz
Verabschiedung der Fluggastrechteverordnung in Er- zusammengefasst: „Gleiches gilt auch für die anderen
scheinung getreten sind, können sich für die Passagiere sektorspezifischen Regelungen.“
als ebenso kostspielig erweisen wie Annullierung oder
große Verspätung von Flügen. Nach Meinung der Kom- Die Passagiere der anderen Verkehrsträger wie
mission ist möglicherweise eine Anpassung der Flug- Bahn, Bus und Schiff haben aber für uns eine gleichran-
gastrechteverordnung an diese Tatsachen notwendig. gige Bedeutung wie die Passagiere im Luftverkehr.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13125
Ulrike Gottschalck
(A) Diese Bedeutung spiegelt sich übrigens auf EU-Ebene ordnen und an die Flugsicherung melden müssen, wird (C)
auch in den Verordnungen für die Passagiere der übri- in Europa jede einzelne Abweichung vom geplanten
gen Verkehrsträger wider. Flugablauf minutengenau erfasst. Vor diesem Hinter-
grung erschließt es sich mir nicht, warum wir darüber
Im Dezember 2009 trat die Verordnung über die hinaus noch eine weitere, rein nationale Statistik brau-
Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Kraft; chen sollten.
2010 verabschiedeten Rat und Parlament eine Verord-
nung über die Fahrgastrechte im See- und Binnen- Ich gebe allerdings zu: Wirft man einen ersten, flüch-
schiffsverkehr und 2011 eine Verordnung über die Fahr- tigen Blick in diese Daten, so könnte man den Eindruck
gastrechte im Busverkehr. Auch diese Verordnungen erhalten, die Anzahl der Verspätungen und Annullierun-
beinhalten für die Fahrgäste, wie die Verordnung für die gen hätte in den vergangenen Jahren dramatisch zuge-
Fluggäste, das Recht auf Information, Erstattung, Ände- nommen. Lag die durchschnittliche Verspätung aller in
rung des Reisewegs, Betreuung während der Wartezei- Europa startenden und landenden Flüge im Jahr 2009
ten und unter bestimmten Bedingungen Ausgleichszah- noch bei zehn Minuten, so schnellte sie binnen eines
lungen. Jahres um 40 Prozent nach oben. Da die Fluggesell-
Außer dem Luftverkehr müssen auch die anderen Ver- schaften nach Angaben von Eurocontrol 2010 für jede
kehrsträger in dem vorliegenden Antrag entsprechend zweite Verspätung verantwortlich waren, wäre es nun
ihrer Bedeutung umfangreicher behandelt werden. Zu einfach, ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, wie
den im vorliegenden Antrag genannten Parametern es vonseiten der Opposition auch gerne und häufig ge-
könnten noch weitere hinzugefügt werden, wie zum Bei- tan wird. Völlig unberücksichtigt bleiben bei einer solch
spiel die Anzahl der Beschwerden und die Anzahl und simplen Betrachtungsweise jedoch die durchaus kom-
Höhe der Entschädigungen. plexen Wirkungszusammenhänge.

Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Be- Denn die nähere Analyse der Daten zeigt, dass ein
richt an das Europäische Parlament und den Rat über wesentlicher Teil der Verspätungen, die den Fluggesell-
die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 über die Rechte von schaften zugerechnet werden, Folgeverspätungen sind.
behinderten Flugreisenden und Flugreisende mit einge- Dabei wird allerdings nicht danach unterschieden, wel-
schränkter Mobilität vom April dieses Jahres, dass jeder chen Grund die ursprüngliche Verspätung hat. Es kön-
sechste europäische Bürger unter einer Behinderung lei- nen sowohl endogene Faktoren, etwa Verzögerungen im
det. Die immer älter werdende europäische Bevölkerung Betriebsablauf oder technische Probleme am Flugzeuge
führt zu einer steten Zunahme der Zahl von Flugreisen- auf die die Fluggesellschaften mehr oder minder direk-
den, die aufgrund einer Behinderung oder einge- ten Einfluss haben, wie auch exogene Faktoren sein. Für
(B) schränkter Mobilität spezieller Hilfe bedürfen. das Jahr 2010 sind hier insbesondere die massiven Ar- (D)
beitskampfmaßnahmen der Fluglotsen in Europa und
Angesichts dieser Tatsache kommt mir die Behand- das schlechte Wetter zu Beginn und zum Ende des Jahres
lung dieser Bevölkerungsgruppe in dem vorliegenden 2010 zu nennen. Folglich müssen die in Deutschland
Antrag viel zu kurz; sie wird nur in einem Halbsatz er- dargestellten Verspätungen weder zwangsläufig hier
wähnt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass das entstanden sein, noch in der Verantwortung der Flugge-
Luftfahrt-Bundesamt, LBA, auch die Durchsetzung der sellschaften liegen.
Rechte von Fluggästen mit eingeschränkter Mobilität
gewährleisten soll. Würde man, wie im Antrag gefordert, nun eine wei-
tere Differenzierung anstreben, würden sich für die Luft-
Abschließend kann ich sagen, dass der Antrag die verkehrswirtschaft zusätzliche Informationspflichten
richtige Stoßrichtung hat. Er muss aber noch überarbei- ergeben, die sicherlich nicht dem Ziel des Bürokratieab-
tet und um wichtige Punkte ergänzt werden. Die SPD- baus dienen.
Fraktion wird sich daher enthalten.
Darüber hinaus sei angemerkt, dass über 90 Prozent
Patrick Döring (FDP): aller Flüge in Deutschland verzögerungsfrei ihr Ziel er-
Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/ reichten – bei rund 1,7 Millionen gewerblichen Flügen
Die Grünen mag den redlichen Ansatz verfolgen, die und circa 160 Millionen beförderten Passagieren im
Durchsetzung der Rechte von Reisenden in Deutschland Jahr eine aus meiner Sicht durchaus beeindruckende
zu verbessern. Doch wie bei so vielem gilt auch hier: Leistung.
Der Teufel steckt im Detail. Lassen Sie mich daher nur
Der zweite Punkte der aus Sicht der FDP-Bundes-
kurz auf zwei kleine, jedoch nicht minder wichtige
tagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet werden
Punkte eingehen.
sollte, ist die Durchsetzung der Verbraucherrechte. Wie
Der erste Punkt ist die Datenbasis. Entgegen der An- im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP ver-
nahme meines geschätzen Kollegen Tressel haben wir einbart, werden wir hierzu eine unabhängige und ver-
mit der Deutschen Flugsicherung, DFS, und dem Cen- kehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle einrichten.
tral Office for Delay Analysis, CODA, einer Abteilung Derzeit finden noch letzte Abstimmungsgespräche zwi-
von Eurocontrol, längst Institutionen, die uns Monat für schen den verschiedenen Facheben statt, doch ich bin
Monat umfangsreichstes Datenmaterial zur Verfügung zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr einen kon-
stellen. Auf Grundlage der Meldungen von Piloten, die sensfähigen Vorschlag auf den Tisch legen werden, der
jede Verspätung einer von 76 möglichen Ursachen zu- allen Interessen gerecht wird – denen der Verbraucher

Zu Protokoll gegebene Reden


13126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Patrick Döring
(A) und denen der Industrie. Einen Schlichtungszwang leh- Mobilität muss ökologisch, sozial gerecht, barriere- (C)
nen wir jedoch ab. frei und demokratisch sein. Mit der Evaluation von Be-
schwerden im Luftverkehrsbereich beschreiten wir den
Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst richtigen Weg.
nach schlanken und praxisnahen Lösungen zu suchen,
um die berechtigten Verbraucherinteressen durchzuset-
zen, anstatt durch einen weiteren Wust an Daten und In- Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
formationen Bürger wie auch Wirtschaft zusätzlich zu Passend zur gestrigen Debatte in den Ausschüssen
belasten. über die Mitteilung der Europäischen Kommission zur
Fluggastrechteverordnung haben wir heute diesen An-
trag im Plenum. Wenn Sie mich fragen: Das war eine
Herbert Behrens (DIE LINKE): schallende Ohrfeige für die Bundesregierung. Selten
Die Linke im Bundestag unterstützt den Antrag der habe ich in einem offiziellen Papier der EU-Kommission
Grünen. Wir sehen ihn als Ergänzung zu unserem eige- so deutliche Kritik gelesen. Das will ich Ihnen auch an
nen Antrag „Fluggastrechte stärken“. Die fehlende einigen Punkten verdeutlichen. Sanktionen seien „nicht
Durchsetzung von Passagierrechten im Luftverkehr wirksam, verhältnismäßig und abschreckend genug“.
stellt immer noch ein Problem dar, das gelöst werden Die Durchsetzung erfolge „zu komplex, zu langsam oder
muss. In der Koalitionsvereinbarung der Bundesregie- praktisch gar nicht“, heißt es wenig später. Die nationa-
rung war noch die Rede von einer „Einrichtung einer len Durchsetzungsstellen seien „nicht in der Lage, eine
unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die immer größer werdende Zahl von Beschwerden inner-
Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff“. Sie exis- halb einer angemessenen Frist ordnungsgemäß zu bear-
tiert bis heute nur auf dem Papier, obgleich täglich Hun- beiten“. Deshalb werden beispielsweise kollektive
derte von Passagieren Anspruch auf Entschädigung, Rechtsmittel und Schlichtungsstellen gefordert. Auch
Ausgleich oder sonstige Leistungen haben. dieser Antrag von uns lag Ihnen bereits vor.

Das Luftfahrt-Bundesamt ist in Deutschland offizielle Aber das ist ja noch lange nicht genug: In Antworten
Durchsetzungs- und Beschwerdestelle für die Rechte der auf zahlreiche Kleine Anfragen stellte die Bundesregie-
Fluggäste. Nach unserer Auffassung kommt das Amt sei- rung erstaunlicherweise fest, dass Parameter wie Ver-
ner Aufgabe nicht genügend nach. Beschwerden nimmt spätungen, Annullierungen und Nichtbeförderung gar
das LBA zwar entgegen, aber nachgewiesene Verstöße nicht erhoben würden. Die Zahlen sind sehr wohl vor-
werden selten ordnungsrechtlich gegenüber den Unter- handen und werden bisher allein aus betriebswirtschaft-
nehmen verfolgt. lichen Gründen erhoben. So hat jede Airline, jeder Flug-
hafen und auch die Deutsche Flugsicherung diese
(B) Auch im Fall des Vulkanausbruchs Eyjafjallajökull Daten. Selbst die Auskunft erteilende Behörde, das LBA, (D)
2010 sind die europäischen und deutschen Fluggesell- hat Statistiken, die beispielsweise Piloten einsehen kön-
schaften ihren Zahlungsverpflichtungen nur zögernd nen.
und nicht zufriedenstellend nachgekommen. Klagen zum
Beispiel gegen Air Berlin sind anhängig. Ein Passagier, Das Problem: Das LBA bewertet lediglich die einge-
der ein Problem mit einem konkreten Flug hat, ist heute henden Beschwerden. Dabei wissen wir doch alle: Die
in Deutschland der Willkür der Fluggesellschaften aus- Beschwerden bilden nur einen Bruchteil des Problems.
geliefert, weil Beschwerden abgewiesen werden und ge- Denn: Welcher Fluggast kennt die Funktion des LBA?
rechtfertigte Ansprüche eingeklagt werden müssen. So Nur 23 Prozent der Passagiere haben überhaupt einmal
stellt sich die Linke Mobilität nicht vor. Gerechtigkeit von der Fluggastrechteverordnung“ gehört. Wer von de-
und Teilhabe müssen auch in der Mitte der Gesellschaft nen wendet sich bei einem Problem an das LBA? 86 Pro-
möglich sein. Es kann nicht angehen, dass man bei Flug- zent der Passagiere geben an, durch die Fluggesell-
buchungen eine Rechtsschutzversicherung mit abschlie- schaften nicht informiert zu werden. Wir alle haben das
ßen muss. schon einmal erfahren. Was schlägt die Europäische
Kommission neben einer besseren Aufklärung der Flug-
Selbstverständlich ist eine genaue statistische Erhe- passagiere vor? Ich zitiere einmal wieder aus meiner
bung der Verspätungen, Annullierungen, Fälle der Nicht- Lieblingslektüre der vergangen Tage:
beförderung und Herabstufung im Hinblick auf die Flug- Die Verordnung würde größere Wirkung erzielen,
gastrechteverordnungen dringend erforderlich. Die wenn die Luftfahrtunternehmen (unter Einhaltung
Ergebnisse dieser Evaluation sollten regelmäßig offen- der Richtlinie 95/46/EG) den nationalen Durchset-
gelegt werden. Allerdings reicht eine solche Evaluierung zungsstellen mehr Informationen übermitteln wür-
allein bei weitem nicht aus. Die Linke fordert die Einfüh- den, die für die Veröffentlichung von Informationen
rung einer verbindlichen, unabhängigen und verkehrs- bezüglich zum Beispiel Pünktlichkeit, Zahl der von
trägerübergreifenden Schlichtungsstelle. Eine Anbin- Störungen betroffenen Flüge und angewendeten
dung an die bestehende Schiedsstelle öffentlicher Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte hilfreich
Personenverkehr ist denkbar, da oft mehrere Verkehrs- sind.
träger Gegenstand einer Beschwerde sind. Eine Schlich-
tungsstelle, die allein von den Fluggesellschaften finan- Wir haben deshalb die laut Bundesregierung angeb-
ziert und getragen wird, für deren Tätigwerden der lich „nicht erhobenen“ Daten akquiriert und für
Fluggast erst einmal 50 Euro Eigenbeteiligung zahlen Deutschland auswerten lassen. Dabei sind wir auf eine
muss, lehnen wir ab. Dimension gestoßen, die zeigt, wie groß die Diskrepanz

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13127
Markus Tressel
(A) zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
die Verbraucherinnen und Verbraucher ist. So sehr die Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
einzelnen Verordnungen auch zu kritisieren sind, das Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Problem liegt keineswegs auf europäischer Ebene. Das Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5562, den An-
Problem sind die Durchsetzungsstellen; in Deutschland trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
also das LBA und damit eine Behörde des Verkehrs- sache 17/4041 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
ministeriums. schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
Solange hier keine offiziellen Daten gegenüber ent- alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der
sprechenden Tatbeständen, wie Verspätungen und An- Grünen und Enthaltung der SPD angenommen.
nullierungen etc., vorliegen, die die Probleme in der
Umsetzung der einzelnen Verordnungen verdeutlichen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
wird hier auch kein Problembewusstsein entstehen. Eine Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Evaluation dieser Daten ist letztlich der nächste Schritt Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
in einer konsequenten Rechtsdurchsetzung. Bislang gilt Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
beim BMVBS die Devise: keine Rechtsgrundlage für Sta- der SPD
tistiken, keine Daten, kein Problem. Aus den Antworten,
Alphabetisierung und Grundbildung in
die wir bislang erhalten haben, kann man nur eines fol-
Deutschland fördern
gern: Die Bundesregierung und allen voran Staatssekre-
tär Mücke und Minister Ramsauer scheren sich nicht um – Drucksache 17/5914 –
Verbraucherrechte im Reisebereich. Einzig im Verbrau- Überweisungsvorschlag:
cherministerium ist noch ein zartes Aufbegehren vor- Ausschuss für Bildung, Forschung und
handen, welches regelmäßig von Ramsauer und Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss
Leutheusser-Schnarrenberger im Keim erstickt wird. Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Rechtsdurchsetzung wird nicht allein durch Sta- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
tistiken besser. Die bestehenden Probleme zwischen Entwicklung
Norm und Praxis werden jedoch offensichtlich. Das wol- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
len wir mit dem vorliegenden Antrag ändern. Eine Eva-
luation mit entsprechenden Lösungsansätzen darf man
von den Fachbehörden durchaus erwarten. Die Passivi- Florian Hahn (CDU/CSU):
(B) tät, die die Antworten der Bundesregierung zeigen, ist Lassen sie mich zunächst auf die neuen und überaus (D)
absolut unangemessen. positiven Zahlen der Bundesagentur für Arbeit einge-
hen, die letzte Woche erst veröffentlicht worden sind.
Die ungenaue oder irreführende Information der Die Arbeitslosigkeit sinkt, und das konstant und rapide
Fluggäste durch Vertragsbedingungen der Luft- seit dem Regierungsantritt von Angela Merkel: bundes-
fahrtunternehmen, durch deren allgemeine Infor- weit auf 7 Prozent mit weiter sinkender Tendenz und in
mationen in Werbung und Presseerklärungen und meinem Wahlkreis München-Land sogar auf unter
durch spezifische Angaben in ihren Antworten auf 3 Prozent. Das bedeutet fast Vollbeschäftigung. Das ist,
Fluggastansprüche wie ich finde, sehr erfreulich.

– lieber Herr Ramsauer – Bildung ist das wichtigste Kulturgut und die zentrale
wirtschaftliche Ressource unseres Landes. Da darf es
stellt ein erhebliches Übel dar, das in jedem Fall nicht sein, dass fast 90 000 junge Menschen die Schule
geahndet werden sollte, auch wenn keine entspre- ohne Abschluss verlassen. Lesen und Schreiben sind
chenden Beschwerden eingelegt wurden. heute und künftig elementare Fähigkeiten, deren Be-
herrschung Voraussetzung für die Gestaltung der eige-
Herr Ramsauer, Sie sollten sich einmal überlegen, ob nen Biografie ist. Nur so ist es möglich, am öffentlichen
Sie und Ihre Behörde weiter an Ihrer Lobbypolitik fest- Leben teilzunehmen. Gerade deshalb sind die veröffent-
halten wollen. Die Rechtsdurchsetzung ist nationale An- lichten Zahlen des „Level-One Survey“-Forschungs-
gelegenheit und nicht die der EU. projekts der Universität Hamburg, das vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung mit
Der vorliegende Antrag bedeutet letztlich nur eine 1,3 Millionen Euro gefördert wurde, so ernüchternd.
Anpassung der Rechtslage an den ohnehin zu erfüllen- Fast 7,5 Millionen Menschen werden in Deutschland
den Anspruch. Selten bedeutet ein Antrag so wenig dem funktionalen Analphabetismus zugerechnet. Das
Mehraufwand für Behörden bei so viel mehr Erfolg. entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevöl-
Man könnte also von einer optimalen Kosten-Nutzen- kerung. Funktional bedeutet in diesem Sinne, dass Men-
Bilanz sprechen. Die Beschlussempfehlung, diesen An- schen zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht je-
trag abzulehnen, ist nicht nachvollziehbar. Wenn in den doch zusammenhängende, auch kürzere Texte wie zum
Ausschüssen Kolleginnen und Kollegen der Koalition Beispiel eine schriftliche Arbeitsanweisung verstehen
das Gleiche beklagen, jetzt aber gegen unseren Antrag können. Die Studie wurde im Rahmen der Weltalphabe-
stimmen, ist das noch unverständlicher. Reisende wür- tisierungsdekade der Vereinten Nationen erstellt mit der
den Ihnen eine Zustimmung danken. Zielrichtung, die tatsächliche Größenordnung des An-

Zu Protokoll gegebene Reden


13128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Florian Hahn
(A) alphabetismus in Deutschland wissenschaftlich zu er- rung. So hat die Bundesregierung 2006 durch das (C)
mitteln. BMBF seine Förderung neu ausgestaltet und in einem
Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur
Ziel der Dekade der Vereinten Nationen ist es, die An- Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ ge-
zahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und bündelt. Mit einer Fördersumme von rund 30 Millionen
schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Men- Euro (2007 bis 2012) werden insgesamt 24 Verbund-
schen eine Grundbildung zu ermöglichen. Für Industrie- vorhaben mit über 100 Einzelprojekten gefördert. Wir
länder wie Deutschland bedeutet dies in Anbetracht des werden also weiterhin verstärkt das Thema Alphabeti-
demografischen Wandels und damit sinkender Erwerbs- sierung und Grundbildung in die Öffentlichkeit hinein-
tätiger, vorhandene Bildungsbenachteiligungen früh- tragen und präventiv vorgehen.
zeitig zu erkennen und abzubauen. Analphabetismus ist
aber auch immer im Kontext gesellschaftlicher Bedin- Wir empfehlen, den Antrag der SPD an den Aus-
gungen zu verstehen. Es ist daher kein individuell ver- schuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgen-
schuldetes, sondern ein gesellschaftliches Problem, des- abschätzung zu überweisen.
sen Lösung auch von der Gesellschaft bewältigt werden
muss. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
Mit der erschreckend hohen Zahl funktionaler An- Lesen und Schreiben können, ist grundlegend. Denn
alphabeten in unserem Land dürfen wir uns nicht abfin- es bedeutet, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich ihr
den. Ansätze zur Lösung des Problems gibt es viele; nicht verschließen zu müssen. Oft gehen mit Analphabe-
zahlreiche Vorhaben zur Stärkung der Alphabetisierung tismus Isolation, Nicht-verstanden Werden und
und Verbesserung der Grundbildung in Deutschland mangelndes Selbstbewusstsein einher. Neuste Studien
wurden bereits auf den Weg gebracht. Deutlich wird bei beziffern die Zahl der Analphabeten, die keine zusam-
der Bekämpfung des Analphabetismus aber auch, dass menhängenden Texte lesen oder schreiben können, in
durch die Kulturhoheit der Länder gerade diese ganz Deutschland auf 7,5 Millionen. 2 Millionen von ihnen
besonders gefordert werden, da die Kompetenzen des können sogar nur einzelne Wörter schreiben. Das Ziel
Bundes hier nur sehr eingeschränkt sind. Dennoch ver- von Alphabetisierung und Grundbildung ist daher unter
sucht die Bundesregierung im engen Schulterschluss mit dem Gesichtspunkt von Arbeitsmarktintegration und
den Bundesländern, das ihr Mögliche auf den Weg zu Gesellschaftsintegration gleichermaßen bedeutend.
bringen. Dafür möchte ich Frau Ministerin Schavan an In Ihrem Antrag wenden Sie sich dieser sehr wichti-
dieser Stelle herzlich danken. gen – in der öffentlichen Diskussion oft vernachlässigten –
Wichtig ist es, es erst gar nicht zum Analphabetismus Frage zu, was wir grundsätzlich auch nur begrüßen kön-
(B) kommen zu lassen: Daher ist der erste Ansatz, den die nen. Jedoch hält Ihr Antrag leider wenig Überraschen- (D)
Bundesregierung in Angriff genommen hat, bereits im des bereit. Und werte Kollegen der SPD-Fraktion, Sie
Rahmen der frühkindlichen Erziehung Defizite rechtzei- begeben sich mit Ihrem Antrag keinesfalls auf politi-
tig zu erkennen und zu beheben, bevor diese sich dann sches Terrain, das die Bundesregierung bisher vernach-
verfestigen und zu späterem Analphabetismus führen, so lässigt hätte.
immanent wichtig. Damit werden die Möglichkeiten der Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregie-
Prävention vor Schulbeginn thematisiert sowie gute Bil- rung hat das Thema Alphabetisierung und Grundbil-
dung, Erziehung und Betreuung in den Kindertagesein- dung bereits seit längerem auf ihrer Agenda. Erste An-
richtungen so früh wie möglich bundesweit zur Verfü- sätze in die richtige Richtung haben wir bereits in der
gung gestellt, um die Chancen aller Kinder auf Großen Koalition gesetzt, sogar mit Ihnen gemeinsam.
erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem zu erhöhen. Die jetzige christlich-liberale Bundesregierung hat die-
Jedes Kind soll von Anfang an faire Chancen haben. sen Weg nicht nur fortgeführt, sondern ihr Engagement
Dort aber, wo es im frühkindlichen Bereich schon zu weiter ausgebaut.
spät ist, ist die Anstrengung umso schwieriger und he- Alphabetisierung und Grundbildung werden mit ei-
rausfordernder für alle Beteiligten. Aber auch hier set- nem ganzheitlichen Ansatz erfolgreich gefördert. Das
zen wir an. So ist zu begrüßen, dass sich zur nationalen BMBF stellt in der sogenannten Alphabetisierungsde-
Umsetzung der Ziele der Weltalphabetisierungsdekade kade rund 50 Millionen Euro für lösungsorientierte Pro-
die wichtigsten Akteure der Alphabetisierungsarbeit in jekte zur Verfügung. Davon werden allein 35 Millionen
einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben. Euro für den Förderschwerpunkt „Forschung und Ent-
Dies sind neben dem BMBF die Deutsche UNESCO- wicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung“ auf-
Kommission, der Deutsche Volkshochschul-Verband, gewendet, da wir in Zukunft durch die frühkindliche Bil-
der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung dung Analphabetismus vermeiden wollen.
e. V., der Verlag Ernst Klett Sprachen, die GEW und die
Stiftung Lesen. Die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses In diesem Zusammenhang möchte ich einige konkrete
haben auf mehreren vom BMBF geförderten Fachtagun- Beispiele benennen:
gen eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, in denen
die wichtigsten Aufgaben für die Alphabetisierungs- Um Kinder bereits in der sensiblen Prägungsphase zu
arbeit definiert wurden. fördern, hat die Bundesregierung zum einen das Projekt
„Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ gemein-
Im Rahmen seiner Zuständigkeit engagiert sich das sam mit der Stiftung Lesen ins Leben gerufen. Mit dem
BMBF schon seit Jahrzehnten im Bereich Alphabetisie- Programm erhalten Eltern kostenlos Lesebücher und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13129
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) sollen zum Vorlesen und die Kinder selbst später zum phabetisierung und Grundbildung in Deutschland be- (C)
Lesen ermutigt werden. reits mit großem Engagement zugewandt. Fortschritte in
die richtige Richtung sollten daher nicht durch wieder
Zum anderen stellt die Bundesregierung mit dem Pro- neue Projekte, Programme und föderale Abstimmungs-
gramm „Offensive Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas prozesse ausgebremst werden. Aus diesem Grund wer-
Sprache & Integration“ bis zum Jahr 2014 rund den wir Ihrem Antrag auch nicht zustimmen können.
400 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 4 000 Kitas
können mit diesen Mitteln zusätzliches qualifiziertes Ich fordere Sie daher auf, lieber gemeinsam mit uns
Personal finanzieren, um den Bereich Sprachförderung den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und abseits von
und Integration weiterzuentwickeln. Parlamenten und Verwaltungen die Gesellschaft zu
mehr gegenseitiger Unterstützung zu bewegen und im
Neben der frühkindlichen Bildung und Leseförderung gesellschaftlichen Konsens Alphabetisierung und
der Kinder im Schulalter liegt ein weiterer Schwerpunkt Grundbildung in Deutschland nachhaltig zu erreichen.
bei Menschen im erwerbsfähigen Alter, die unter soge-
nanntem funktionalen Analphabetismus leiden. Immer-
hin sind zwar 57 Prozent dieser Analphabeten in die Ar- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
beitswelt integriert. Sie arbeiten jedoch meistens Mit unserem Antrag „Alphabetisierung und Grund-
unterhalb ihrer fachlichen Qualifikation bzw. persönli- bildung in Deutschland fördern“ wollen wir einen Bei-
chen Befähigung. Unser Ziel ist es daher, den bisher vom trag dazu leisten, dass endlich ein bildungspolitisches
Erwerbsleben ausgeschlossenen Menschen die Möglich- Tabu aufgebrochen wird, das viel zu lange in Deutsch-
keit zu geben, Sprache zu beherrschen, einen Job zu er- land gegolten hat, nämlich das Tabu, dass Analphabetis-
lernen und diesem auch nachzugehen. Die unter ihrer mus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fer-
Qualifikation tätigen Personen wollen wir durch ge- nen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen,
zielte Förderungen besser in die Arbeitswelt integrieren. hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaf-
So eröffnen wir ihnen die Chance auf eine adäquate Be- ten und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland.
schäftigung, schaffen Motivation und Selbstbestätigung. Dieses Tabu war und ist nicht gut für die Betroffenen,
und es war und ist nicht gut für die Gesellschaft insge-
Werte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie fordern
samt. Experten, Fachverbände und Wissenschaftler sind
mit Ihrem Antrag die Bundesregierung nun unter ande-
bekanntlich Jahre lang von geschätzten 4 Millionen pri-
rem auf, gemeinsam mit den Ländern und den Kommu-
mären und funktionalen Analphabeten in Deutschland
nen ein „Grundbildungspaket“ zu vereinbaren. Die Idee
ausgegangen, eine Zahl, die für sich schon schlimm ge-
ist gut, aber nicht neu und Ihre Forderung damit über-
nug war. Aber sie hat in der Vergangenheit keine bil-
holt. Die Bundesregierung hat diesen Ansatz bereits im
(B) Frühjahr dieses Jahres aufgegriffen und gemeinsam mit dungspolitische Bewegung ausgelöst, wie sie beispiels- (D)
weise der sogenannte PISA-Schock erzeugen konnte.
den Ländern ein breites gesellschaftliches Bündnis erar-
Über die Gründe sollten sich alle Beteiligten parteiüber-
beitet. An diesem Bündnis werden auch Unternehmens-
greifend, ohne Schuldzuweisungen, aber selbstkritisch
verbände, Kammern, Gewerkschaften und Volkshoch-
und lernfähig noch einmal austauschen.
schulverbände beteiligt.
Was die weiteren Forderungen angeht, erscheinen Immerhin hat sich die damalige Bundesregierung
diese ebenfalls weder zielführend noch erforderlich. Ich 2003 zusammen mit den Akteuren der Alphabetisie-
deutete es bereits an: Um die Alphabetisierung und rungsarbeit auf die nationale Umsetzung der Weltalpha-
Grundbildung nachhaltig und umfassend zu fördern, betisierungsdekade verpflichtet, die als Ziel hatte, bis
müssen wir uns verdeutlichen, welche Maßnahmen ziel- 2012 die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend le-
führend und wahrhaftig erfolgversprechend sind. Ein- sen und schreiben können, weltweit zu halbieren und je-
fach den Geldhahn aufzudrehen oder unzählige, nicht dem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Statt
zielorientierte Einzelmaßnahmen frei nach dem Gieß- uns über eine Halbierung freuen zu können, erfahren wir
kannenprinzip zu fördern, wird es mit uns nicht geben. jetzt durch neue wissenschaftliche Studien im Jahr 2011,
dass die Zahl der funktionalen Analphabeten in
Doch neben all den Forschungs- und Fördervorha- Deutschland in Wirklichkeit fast doppelt so hoch ist wie
ben dürfen wir eines nicht vergessen: Teilhabe an Ge- ursprünglich angenommen, nämlich 7,5 Millionen. Das
sellschaft und Erwerbsleben wird uns darüber hinaus muss uns alle erst recht schockieren und zu gemeinsa-
nur mit einem breiten gesellschaftlichen Engagement men neuen Anstrengungen veranlassen, zumal wir eine
gelingen. Es ist also auch unerlässlich, dass sich die Kanzlerin haben, die die „Bildungsrepublik“ ausgeru-
Bürgerinnen und Bürger gegenseitig unterstützen, in- fen hat.
dem sie Neugier und den Lernwillen in einer Vorbild-
funktion an die Kinder – auch aus den bildungsfernen Was ist nun die neu festgestellte und offensichtlich
Elternhäusern – weitergeben. Hier sollten alle Akteure schon länger vorhandene reale Ausgangslage, mit der
aus Gesellschaft, Politik, Bildungswesen und Wirtschaft wir uns in Deutschland tabulos befassen müssen? Die
Hand in Hand arbeiten. Studie „leo – Level-One Survey“ hat 2010 im Auftrag
des BMBF die Größenordnung des Analphabetismus un-
Durch größere Sensibilität im Umgang mit Analpha- ter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und
betismus können wir dazu beitragen, dass wir Betroffene 64 Jahren untersucht. Die Ergebnisse der Studie wurden
in unsere gesellschaftliche Mitte holen und nicht an den Anfang dieses Jahres vorgestellt. Danach betrifft der
Rand verdrängen. Die Bundesregierung hat sich der Al- Analphabetismus im engeren Sinne mehr als 4 Prozent

Zu Protokoll gegebene Reden


13130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 18 bis uns engagieren. Ich sage noch einmal: Parteiübergrei- (C)
64 Jahren. Das entspricht einer Größenordnung von fend aufwachen, aufpassen und uns engagieren, gemein-
2,3 Millionen Menschen, die zwar einzelne Wörter le- sam mit Parlament und Regierung in Bund und Ländern,
send verstehen bzw. schreiben können, nicht jedoch mit den Sozialpartnern und Verbänden sowie mit den
ganze Sätze. 300 000 Menschen davon können noch Betroffenen und ihren Initiativen. Alphabetisierung ist
nicht einmal ihren Namen schreiben. eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits von politischen
Ideologien und verfassungsrechtlichen Zuständigkei-
Aber auch der funktionale Analphabetismus weist ein ten. Denn im Prinzip dürften wir uns alle einig sein, dass
beängstigend hohes Ausmaß auf und betrifft kumuliert hier Entscheidendes getan werden muss. Wir dürfen das
14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. 7,5 Mil- Thema nicht immer wieder an den Rand drängen bzw.
lionen Menschen in Deutschland können danach zwar vergessen und verdrängen, nur weil die Menschen, die
einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusam- es betrifft, keine Lobby haben, auf sich aufmerksam zu
menhängende – auch kürzere – Texte. Die Betroffenen machen.
sind damit nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Le-
ben oder am Arbeitsleben angemessen teilzunehmen; sie Herr Spiewak von der Wochenzeitung „Die Zeit“, die
können schriftliche Arbeitsanweisungen nicht verstehen, sich als einzige überregional bedeutsame Zeitung inten-
schon gar nicht Zeitungen und Bücher lesen. siv mit der Alpha-Level-Studie auseinandergesetzt hat,
Drei Sachverhalte wollen wir aus dieser Studie be- hat recht: Wir dürfen nicht länger wegschauen! Grund-
sonders herausstellen: Der erste besondere Sachverhalt bildung bzw. Alphabetisierung ist eine elementare Auf-
ist, dass von den funktionalen Analphabeten knapp gabe der Bildungspolitik, ein persönlicher existenzieller
57 Prozent erwerbstätig sind und nur 17 Prozent ar- Bedarf und eine gesellschaftlich existenzielle Notwen-
beitslos. Dieser Fakt hat sicherlich nicht nur mich über- digkeit, wenn wir nicht ganze Bevölkerungsgruppen aus
rascht, sondern wirft allgemein viele Fragen auf: Wie dem gesellschaftlichen bzw. aus dem Erwerbsleben
sollen wir uns vorstellen, dass mehrere Millionen Men- nachhaltig auszuschließen wollen. Wir alle zusammen
schen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, keine zu- müssen deshalb das Thema mit Nachdruck auf die
sammenhängende Texte lesen können? Wie kommen Agenda bringen.
diese Menschen trotzdem einigermaßen klar? Welche Es ist hohe Zeit, mit einem „ALPHA-Grundbildungs-
„Überlebensstrategien“ haben sie entwickelt? Hier pakt“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie
wird noch viel wissenschaftliche Aufklärung, aber auch allen gesellschaftlichen Kräften die Anzahl der funktio-
persönliches Verständnis und persönliche Einfühlung nalen Analphabeten in Deutschland so schnell es geht zu
von uns allen zu leisten sein. halbieren. Wir brauchen deutlich mehr Alphabetisie-
(B) Ein zweiter besonderer Sachverhalt ist in unseren Au- rungskurse, mehr Angebote berufsbegleitender Grund- (D)
gen, dass etwa 20 Prozent der funktionalen Analphabe- bildung und mehr soziale Begleitung der Betroffenen.
ten 18 bis 29 Jahre alt sind. Junge Menschen, die vor Wir brauchen eine zielgruppenorientierte Medienkam-
kurzem die Schule verlassen haben, können danach pagne, eine „ALPHA-Offensive“, damit Analphabetis-
keine Bedienungsanleitung, keine Zeitung lesen oder mus entstigmatisiert wird und die Betroffenen ermutigt
keine Formulare ausfüllen. Folglich können sie auch werden, aus ihrer Anonymität herauszutreten und Kurse
nur sehr eingeschränkt mit dem Internet umgehen, wel- zu besuchen. Hierbei brauchen wir nicht nur die Mas-
ches für die junge Generation besonders hohen Stellen- senmedien – wie Fernsehen und Radio –, sondern auch
wert hat. Wie abgeschnitten müssen sie dadurch von die Hilfe der Familien, der Vereine und der Nachbar-
wichtigen Kommunikations- und Teilhabeprozessen schaft, um Brücken zu bauen. Ebenso setzen wir uns ein
sein? für einen Ausbau des Berufsbildes „Alphabetisierungs-
und Grundbildungspädagoge“.
Als dritter Sachverhalt erscheint uns besonders be-
merkenswert, dass nur 19,3 Prozent der funktionalen Am Ende meiner Rede möchte ich großen Respekt und
Analphabeten keinen Schulabschluss haben. Ein großer Anerkennung an die Betroffenen aussprechen, die die
Teil der funktionalen Analphabeten hat also Texte lesen Scham überwunden haben und sich zu erkennen gege-
und schreiben gelernt, einen Bildungsabschluss ge- ben sowie den Kampf gegen den Analphabetismus auf-
macht, diese vorhandenen mehr oder weniger ausgebil- genommen haben. Für ihren Mut zu diesem Schritt be-
deten Fähigkeiten im Laufe der Zeit aber wieder ver- wundere ich sie. Ich wünsche mir noch mehr solche
lernt. mutigen Menschen und ebenso viele Helfer in ihrem
Umfeld, die ihnen diesen schweren Schritt erleichtern.
Dies alles muss uns „wachrütteln“! Dieser „ALPHA-
Schock“ darf nicht ohne Antwort bleiben. Es kann nicht Darüber hinaus möchte ich meinen herzlichen Dank
sein, dass der PISA-Schock vor circa zehn Jahren wie an alle Träger und Akteure der Alphabetisierungsarbeit
ein Blitz durch die Republik gegangen ist und unendli- aussprechen. Sie leisten mit knappen Ressourcen – sei es
che Diskussionen über bzw. Konsequenzen für unser in Kursen oder in der Entwicklung von Lernportalen
Schulsystem ausgelöst hat, während das katastrophale etc. – Pionierarbeit. Pionierarbeit, die helfen kann,
Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland direkt diese Art des „Bildungsnotstands“ in unserem Land zu
nach Veröffentlichung der Studie gerade einmal in überwinden. Dass dies jetzt endlich mit einem umfang-
13 Zeitungsartikeln Erwähnung gefunden hat und dann reichen politischen Programm auch wirklich nachhaltig
die Ergebnisse der Studie ins Nichts zu verpuffen dro- und erfolgreich geschieht, das ist allerdings die Aufgabe
hen, wenn wir nicht politisch aufwachen, aufpassen und von uns als Parlamentarier und Regierung, denn sonst

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13131
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) sind die vielen betroffenen Menschen einmal mehr im Standards für die Aus- und Weiterbildung von Kursleite- (C)
Tabu allein gelassen. Das haben sie allerdings wahrlich rinnen und Kursleitern sowie die Berufsausbildung zum
nicht verdient. Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen sind
Instrumente, um eine hohe und vergleichbare Qualität
Oliver Kaczmarek (SPD): der Grundbildungsangebote zu gewährleisten. Dazu ge-
Die hohe Zahl von 7,5 Millionen funktionalen An- hört auch, die bestehenden Kurse in enger Zusammenar-
alphabeten in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht beit mit den Trägerorganisationen laufend zu evaluieren
eine besondere Mahnung, die uns die Forscher der und zu verbessern.
LEO-Studie am Ende der Weltalphabetisierungsdekade Für die Schulen gelten in Zusammenarbeit mit den
der Vereinten Nationen mit auf den Weg geben. Denn Le- Bundesländern ebenso ehrgeizige Ziele: Wir müssen es
sen und Schreiben sind nicht nur Grundtechniken. Die schaffen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die
Forscher der PISA-Studie beschreiben beispielsweise ohne die grundlegendsten Lese- und Schreibkenntnisse
Lesekompetenz vielschichtiger. Sie schreiben: die Schule verlassen, gegebenenfalls auch mittels För-
Lesekompetenz wird im Sinne einer Basiskompetenz derangeboten außerhalb der Regelschulzeit deutlich zu
verstanden, von der angenommen wird, dass sie in verringern.
modernen Gesellschaften für eine befriedigende Le-
bensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Drittens. Mit Analphabetismus verbinden sich nicht
Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesell- selten weitere Probleme bei den Betroffenen. Deshalb
schaftlichen Leben notwendig ist. muss in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Kommu-
nen und der Bundesagentur für Arbeit sichergestellt
Insofern müssen wir die Herausforderung grundle- werden, dass Alphabetisierungskurse sozialpädagogisch
gend verstehen. Alphabetisierung und Grundbildung begleitet werden, um die Probleme umfassend lösen zu
sind Aufgaben, die an konkreten Lebenssituationen von können.
Menschen anknüpfen und die sie umfassend in die Lage
versetzen müssen, auf eigenen Beinen am Leben der Ge- Viertens. Wir brauchen ein dicht gestaffeltes Netz von
sellschaft umfassend teilhaben zu können. Beratungs- und Informationseinrichtungen. Vor Ort
müssen die Betroffenen auf eine flächendeckende und
Deshalb fordert die SPD-Fraktion auch einen umfas- niedrigschwellige Bildungsberatung mit spezifischen
senden Grundbildungspakt, den der Bund mit den Län- Kenntnissen zurückgreifen können. Diese soll unter-
dern und Kommunen abschließen sollte. Sein Ziel muss stützt werden durch eine bundesweite Service-, Bera-
sein, die Zahl der funktionalen Analphabeten in einem tungs- und Informationsstelle. Sie kann helfen, bundes-
übersichtlichen Zeitraum zu halbieren. Diese nationale weite Kampagnen zu starten, damit Betroffene ermutigt (D)
(B) Aufgabe muss der Bund ressortübergreifend angehen.
werden, aus der Anonymität herauszutreten und einen
Und er muss Länder und Kommunen angemessen dabei Alphabetisierungskurs zu besuchen.
unterstützen. Deshalb fordern wir bei einem Ausbau der
Kursplätze auf bis zu 100 000 die Beteiligung des Bun- Im Übrigen sollten auch Behörden und Politik stärker
des mit mindestens 20 Millionen Euro an den Kosten. für das Thema sensibilisiert werden. Unserer Meinung
nach gehört auch die Aufnahme des Themenbereichs
Der Grundbildungspakt bildet das Dach für alle Akti-
„Funktionaler Analphabetismus“ in die Nationale
vitäten. Er umfasst jedoch nicht alle Aufgaben, sondern
Bildungsberichterstattung zu den Maßnahmen, die ei-
ermöglicht die Verständigung darüber, Aktivitäten auf
nerseits öffentlich sensibilisieren und andererseits not-
allen Ebenen und bei allen Akteuren anzustoßen. Wir se-
wendiges Wissen für Administration und Politik kontinu-
hen hier als SPD-Fraktion fünf wesentliche Aufgaben-
ierlich bereitstellen können.
felder:
Erstens. Wir brauchen wirksame Instrumente, um An- Fünftens. Die Städte und Gemeinden müssen gezielt
alphabetismus in den Betrieben und Verwaltungen dis- unterstützt werden beim Aufbau von Alphabetisierungs-
kriminierungsfrei erkennen zu können und Grundbil- und Grundbildungsnetzwerken. Deshalb ist es beson-
dung zu fördern. Hier sind natürlich insbesondere die ders wichtig, die gezielte Arbeit in besonders betroffe-
Sozialpartner in den Betrieben zu unterstützen, An- nen Stadtteilen zu erleichtern, zum Beispiel, indem das
alphabetismus im Betrieb zu erkennen. Die Herausfor- bewährte Programm „Soziale Stadt“ um den Bereich
derung stellt sich aber ebenso für die Behörden, die für der Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse ergänzt
den Umgang mit Analphabetismus zu sensibilisieren und erneuert wird.
sind. Deshalb fordern wir unter anderem auch, dass die
Sicherlich können im Rahmen dieser Debatte Lö-
Bundesagentur für Arbeit Alphabetisierung und Grund-
sungsansätze nur umrissen werden. Uns ist jedoch be-
bildung als Voraussetzung für die Integration in den Ar-
sonders wichtig, dass wir nun endlich in einen intensi-
beitsmarkt versteht und entsprechende Maßnahmen för-
ven Dialog mit den Akteuren der Alphabetisierung und
dert.
Grundbildung eintreten, um etwas für die Betroffenen zu
Zweitens. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis erreichen. Denn wir können und wir wollen es uns vor
von Qualität in der Grundbildung und Vereinbarungen allem nicht leisten, dass 7,5 Millionen Menschen auf-
über Standards und nutzerorientierte Zertifikate. Rah- grund von funktionalem Analphabetismus von vollstän-
mencurriculum, ein System von Zertifikaten, das Lern- diger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen blei-
fortschritte arbeitsweltbezogen dokumentieren kann, ben.

Zu Protokoll gegebene Reden


13132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Sylvia Canel (FDP): sultieren oft aus Versäumnissen in der frühen Kindheit. (C)
Bereits im Jahr 2000 wurde auf dem Weltbildungs- Die PISA-Ergebnisse haben gezeigt, dass viel zu viele
forum in Dakar das UNESCO-Programm „Bildung für Schüler große Probleme mit dem Lesen und Verstehen
alle“ auf den Weg gebracht. Eines der sechs bis zum von Texten haben. Vorlesen in der Kindheit ist daher ein
Jahr 2015 zu erreichenden Bildungsziele ist die Halbie- wichtiger Impuls bei der Entwicklung von Lese- und
rung der Analphabetenrate weltweit. Im Zuge der 2003 Sprachfähigkeiten und der Konzentrationsfähigkeit.
ausgerufenen Weltalphabetisierungsdekade, die dieses
Dass ein Projekt aus meinem Wahlkreis – Family
Ziel befördern soll, wurde für Deutschland mit der
Literacy, FLY, des Landesinstituts für Lehrerbildung und
Level-One-Studie – leo – dieses Jahr erstmals belast-
Schulentwicklung in Hamburg – den UNESCO-Alpha-
bares Zahlenmaterial zur Größenordnung des funktio-
betisierungspreis 2010 erhalten hat, freut mich beson-
nalen Analphabetismus vorgelegt.
ders; denn hier wird die gesamte Familie in den Prozess
Diese jüngsten empirischen Befunde machen darauf einbezogen, und die Eltern werden darin gestärkt, den
aufmerksam, dass die Zahl derjenigen, die nur ein rudi- Schriftspracherwerb ihrer Kinder früh zu unterstützen.
mentäres Textverständnis – funktionaler Analphabetis-
mus – aufweisen, bei 14,5 Prozent – 7,5 Millionen Men- Zudem fördert das Bundesministerium für Bildung
schen – der erwerbsfähigen Bevölkerung liegt. Der und Forschung das Internetportal iCHANCE, mit wel-
größte Teil, 32,6 Prozent der Betroffenen, befindet sich chem vor allem junge Erwachsene angesprochen und
in den Alterskohorten der 50- bis 64-Jährigen. Beunru- informiert werden. Internetangebote bieten durch die
higend sind jedoch vor allem die 20 Prozent der funktio- Interaktivität in sozialen Netzwerken vielfältige Mög-
nalen Analphabeten im Alter zwischen 18 und 29 Jah- lichkeiten zur Information, zur Bewusstseinsbildung und
ren. zum Abbau von Vorurteilen. Es ist nicht einfach, sich mit
seinen Lese- und Rechtschreibschwächen zu offenbaren.
Der Antrag der SPD greift also ein Thema auf, das Daher müssen wir ein offenes und unterstützendes
durchaus von bildungspolitischer und ökonomischer Re- Klima in unserer Gesellschaft schaffen.
levanz ist.
Die SPD weist im vorliegenden Antrag weiter darauf
67 Prozent der funktionalen Analphabeten verfügen hin, dass gerade die kommunal getragenen Volkshoch-
über keinen oder einen unteren Bildungsabschluss. Psy- schulen als „Reparaturwerkstatt“ im Bereich des An-
cho-organische Beeinträchtigungen oder Analphabetis- alphabetismus tätig sind. Sicherlich wäre es wünschens-
mus durch fehlende Praxis erklären die weiteren 23 Pro- wert, das Kursangebot auszuweiten und den
zent. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen für Qualifikationsgrad der Kursleiter noch weiter zu stei-
das aufgeführte Phänomen vor allem bei den Defiziten gern. Doch diesbezüglich stehen zunächst einmal Kom-
(B) im Bereich der allgemeinschulischen Bildung gesucht munen und Länder in der Pflicht. (D)
werden sollten.
Jedes Jahr verlassen fast 65 000 Jugendliche die Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
Schule ohne Abschluss, häufig gerade aufgrund man- Analphabetismus ist trotz der vermeintlich guten Schul-
gelnder Schreib- und Lesekompetenzen. Lesen und bildung in Deutschland seit Jahren ein bekanntes Pro-
Schreiben sind der Schlüssel zum lebenslangen Lernen, blem. Nun weist die LEO-Studie der Uni Hamburg nach,
Grundbildung die Voraussetzung für gesellschaftliche dass es weit größer ist als bisher angenommen. In der Öf-
und berufliche Teilhabe. fentlichkeit wird es allerdings oft noch als Randthema be-
trachtet. Der SPD-Antrag nimmt die Studie zum Anlass,
Es muss leider festgehalten werden, dass die Abbre- um einen „Grundbildungspakt“ von Bund, Ländern und
cherquote der SPD-geführten Bundesländer Berlin – von Kommunen zu fordern und eine lange Liste von Maßnah-
9,9 Prozent auf 11,5 Prozent –, Brandenburg – 11,7 Pro- men, die ihr geeignet scheinen, die Zahl der Betroffenen in
zent auf 13 Prozent – und Mecklenburg-Vorpommern Deutschland zu halbieren.
– 12,1 Prozent auf 16,8 Prozent – in den vergangenen
Jahren auf ein trauriges Rekordniveau gestiegen sind, Auffällig ist, dass in Veröffentlichungen wenig da-
während sich die Bildungsinvestitionen von Baden- rüber zu finden ist, warum die Zahl der funktionalen An-
Württemberg – 6,3 Prozent auf 5,6 Prozent –, Bayern alphabeten mit 7,5 Millionen betroffenen Menschen in
– 7,2 Prozent auf 6,4 Prozent – und Hessen – 8,1 Prozent der erwachsenen deutschsprachigen Bevölkerung so
auf 7 Prozent – auszahlen. Da der Kampf gegen den An- hoch ist und warum es noch einmal mehr als 13 Millio-
alphabetismus vor allem in der Schule gewonnen oder nen Menschen sind, die nur fehlerhaft lesen und schrei-
verloren wird, ist diese zweigeteilte Entwicklung durch- ben können. Nicht erklärt werden kann auch, warum es
aus beachtenswert. deutlich mehr Männer als Frauen unter den Betroffenen
gibt.
Schließlich sei noch einmal an das Engagement der
Bundesregierung erinnert, welche mit 26 Millionen Wenngleich der Anteil der betroffenen Menschen
Euro jährlich das Programm „Lesestart – Drei Meilen- ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten, die
steine für das Lesen“ der Stiftung Lesen fördert. Hierbei keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss und/
soll vor allem durch ein niedrigschwelliges Angebot die oder einen Migrationshintergrund haben, besonders
Lesebegeisterung bei Kindern innerhalb der Familien hoch ist, muss auch die Frage gestellt werden, warum
geweckt werden; denn wer früh und regelmäßig liest, hat Analphabetismus auch bei Menschen mit höherem
später bessere Chancen. Schlechte Schulleistungen re- Schulabschluss in beträchtlichem Maße auftritt?

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13133
Dr. Rosemarie Hein
(A) Wenn aber diese Ursachen nicht hinreichend klar über die Jobcenter zur Verfügung stellt, aber die Bundes- (C)
sind, wird es schwer, wirksame und nachhaltige Gegen- agentur für Arbeit die Nachfrage des Bundesverbandes
strategien zu finden. Es gibt offensichtlich noch einen Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach der Mög-
erheblichen Forschungsbedarf. lichkeit der Finanzierung von Alphabetisierungskursen
verneint hat. Es sei nicht Aufgabe der Grundsicherung für
Der Antrag der SPD allerdings zielt zunächst darauf, Arbeitslose. Ja was denn nun? Nachhilfe bei schlechten
die Symptome zu bekämpfen. Das ist ehrenwert und not- Lernleistungen in der Schule – ja, Förderung der Alphabe-
wendig. Einige Dinge kommen mir dabei allerdings zu tisierung für eine bessere Vermittlung am Arbeitsmarkt –
kurz, bzw. ich würde sie ob ihrer Angemessenheit infrage nein? Die Logik muss mir einer erklären!
stellen.
Ein zweiter Kritikpunkt am SPD-Antrag: Wer An-
Die erste und offensichtlich wichtigste Ursache liegt alphabeten den Schritt zum Lesen- und Schreibenlernen
in der Qualität der Schulbildung und der starken Abhän- erleichtern will, braucht niedrigschwellige Angebote,
gigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Situation die nicht stigmatisieren, die zugänglich und einladend
in den Familien. Wir wissen seit der ersten PISA-Studie, sind, auch wenn sich die Betroffenen nur wenig am ge-
dass die Lesefähigkeit der Schulabgängerinnen und sellschaftlichen Leben beteiligen (können). Sie müssen
Schulabgänger zu wünschen übrig lässt. Damals wurde vielleicht auch über Umwege an die potenziellen Schüle-
mehr als 22 Prozent der Jugendlichen bescheinigt, nur rinnen und Schüler gebracht werden.
schlecht lesen zu können. Die damals 15-Jährigen sind
heute 25. Viele von ihnen dürften sich heute unter den Die Forderung, Menschen mit geringer Grundbil-
13 Prozent der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen dung im Betrieb ausfindig zu machen, halte ich auch bei
wiederfinden, die als funktionale Analphabeten gelten besten Absichten eher für schwierig. Vielmehr sehe ich
müssen. hier eine große Gefahr von Stigmatisierung, die dann
wieder zur Perfektionierung von Meidverhalten führen
Wer nicht lesen und schreiben kann, ist in den Mög- kann, aus Angst sich zu outen oder bloßgestellt zu wer-
lichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben den, möglicherweise die Arbeit zu verlieren.
stark eingeschränkt, findet schwerer eine Arbeit, hat da-
mit weniger Einkommen, kann den eigenen Kindern Für sehr richtig und wichtig halten wir dagegen den
nicht so gut helfen usf. So setzt sich ein Teufelskreis in Aufbau eines öffentlich finanzierten Systems der Bil-
Gang, aus dem ganze Familien nicht mehr herauskom- dungsberatung, in dem geschultes Personal tätig ist und
men. PISA 2009 bescheinigte noch immer 18 Prozent ebenso praktische wie psychologische Hilfe leicht und
schlechte Leserinnen und Leser. In den vergangenen gebührenfrei gegeben werden kann.
zehn Jahren ist in Schule und Gesellschaft zu wenig pas-
(B) siert, um hier Abhilfe zu schaffen. Wenn es diesen Zu- Überhaupt muss es ein Recht auf solche, auch nach- (D)
sammenhang zwischen der Qualität der Lesefähigkeit, holende Angebote der Grundbildung geben, und sie
die in der Schule erworben wird, und der Zahl der An- müssen öffentlich finanziert werden. Die grundlegende
alphabeten gibt – und alles spricht dafür –, dann besteht Beherrschung der Kulturtechniken ist eine wichtige Vo-
die Gefahr, dass sich der Teufelskreis fortsetzt. Wenn An- raussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie darf kei-
alphabetismus in der Zukunft verringert werden soll, nem Menschen verwehrt werden.
dann darf man nicht nur die Symptome des eingetrete- Die Probleme des Analphabetismus sind lange be-
nen Analphabetismus bekämpfen, sondern muss dort an- kannt. Abhilfe ist hier nicht in einem einmaligen Kraft-
setzen, wo ein Großteil der Ursachen liegt: in der akt und in kurzen Zeiträumen zu schaffen. Wenn man
Schule! aber nicht dort anfängt, wo die Hauptursache des Pro-
Dazu aber gibt es gerade einmal einen Punkt unter blems liegt, in der Schule und der sozialen Absicherung
insgesamt 21 im Antrag der SPD. Hier aber muss man von Menschen, wird es größer und auf künftige Genera-
vor allem ansetzen, wenn Analphabetismus in der Zu- tionen vererbt.
kunft spürbar verringert werden soll. Sonst hangelt man
sich auch künftig von Hilfsprogramm zu Hilfsprogramm. Petra Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Wir brauchen mehr Qualität in Schule, die ausfinan-
ziert werden muss, und ausreichendes und gut ausgebil- Mit der aktuellen leo-Level-One-Studie liegen nun
detes pädagogisches Personal auf allen Bildungsebe- endlich zum ersten Mal nationale, belastbare und diffe-
nen. Ich verweise auf unsere diesbezüglichen Anträge. renzierte Daten zur Literalität im Level-One-Bereich vor,
dem untersten Kompetenzniveau im Lesen und Schrei-
Hinzu kommt das dringende Erfordernis, die soziale Si- ben. Die Ergebnisse der Studie, die uns seit Anfang März
tuation der Familien zu verbessern. Geringes Einkommen vorliegen sind erschreckend: Die Zahl der funktionalen
in sozial benachteiligten Familien beschneidet auch die Analphabeten in Deutschland ist doppelt so hoch wie
Möglichkeiten, Bildungs- und Kulturangebote überhaupt bisher angenommen. Bislang waren Experten von insge-
in Anspruch zu nehmen. Zwar sucht die Bundesregierung samt vier Millionen funktionalen Analphabeten ausge-
nun über das Bildungs- und Teilhabepaket, dem zumindes- gangen, in der Realität sind es jedoch 7,5 Millionen!
tens für Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken, aber 7,5 Millionen Menschen, deren schriftsprachliche Kom-
der gesamte Ansatz bleibt unbefriedigend und reicht auch petenzen nicht ausreichen, um beispielsweise einfache
in der Summe nicht aus. Pikant ist in diesem Zusammen- Texte zu verstehen oder zu verschriftlichen. 7,5 Millio-
hang, dass der Bund in diesem Paket Mittel für Nachhilfe nen Menschen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen,

Zu Protokoll gegebene Reden


13134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Petra Hinz (Herborn)


(A) sozialen Leben und an der Arbeitswelt massiv einge- lieber vorlesen lassen, als sie eigenständig zu bearbei- (C)
schränkt ist, deren Lebensqualität tagtäglich darunter ten.
leidet. Zwar sind 57 Prozent der Betroffen erwerbstätig,
doch häufig in sehr schlecht bezahlten Jobs. Ihr Arbeits- In der Schule hat sich in letzten Jahren in Bezug auf
leben ist geprägt von inneren Ängsten sowie vom Zwang individuelle Förderung Vieles verbessert – die schwa-
zu vertuschen und vorzutäuschen. chen Schüler werden besser unterstützt, die Klassen sind
kleiner. Dennoch schafft es unser Bildungssystem offen-
Das Problem des Analphabetismus ist in Deutschland bar immer noch nicht, allen Kindern und Jugendlichen
lange Zeit nicht ausreichend im öffentlichen Bewusst- ein Mindestmaß an Bildung zu vermitteln. Professor
sein gewesen. Ich begrüße es deshalb außerordentlich, Grotlüschen, die die leo-Level-One-Studie durchgeführt
dass dieses Thema nun im Bundestag zur Diskussion hat, bemängelt, dass es allein den Grundschulen über-
steht und die SPD mit ihrem Antrag viele wichtige lassen wird, sich um die Basis des Lesens und Schrei-
Punkte zur Verbesserung der Situation aufzeigt. bens zu kümmern. Das sei ein falscher Ansatz, da einige
Kinder langsamer lernen und auch in der weiterführen-
Die aktuelle Erkenntnisse belegen das Ausmaß des den Schule Unterstützung benötigen.
Analphabetismus, die Dringlichkeit einer besseren Al-
phabetisierung und damit auch der Grundbildung in Wir Grüne fordern seit Langem, die Lehreraus- und -
Deutschland. Dies betrifft zum einen den primären An- fortbildung so zu reformieren, dass die zukünftigen Leh-
alphabetismus, bei dem Menschen aus verschiedensten rerinnen und Lehrer Bildungsbenachteiligung besser er-
Gründen nicht in der Lage sind, sich Schriftsprache an- kennen und abbauen können. Der nationale Bildungsbe-
zueignen, zum anderen die bereits erwähnte, weitaus richt hat den Abbau von Chancenungleichheit als eine
größere Gruppe, der funktionalen Analphabeten. Kernaufgabe für unser Bildungssystem eindrücklich be-
stätigt. Eine individuelle Bildungsplanung für jedes
Wenn man sich die Zahlen nach Altersgruppen diffe- Kind ist notwendig, um Defizite in der Lese- und Recht-
renziert ansieht, besteht ebenfalls kein Grund zur Ent- schreibung frühzeitig zu erkennen. Hier ist zum einen
warnung. Zwar ist die Zahl der funktionalen Analphabe- eine stärkere Vernetzung der Sonderpädagogik mit der
ten bei der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen am allgemeinen Pädagogik und eine größere Vernetzung
höchsten, doch finden sich auch bei den 18- bis 29-Jäh- vor Ort zwischen den Einrichtungen, die Grundbil-
rigen fast 20 Prozent wieder. Auffällig ist weiterhin, dass dungskurse anbieten, und den allgemeinen und berufli-
über 60 Prozent der funktionalen Analphabeten männ- chen Schulen vonnöten. Die Sprachförderung, nicht nur
lich sind. für Kinder mit Migrationshintergrund, muss über die ge-
samte Bildungsbiografie systematisch fortgesetzt wer-
Angesichts der immer höheren Anforderungen auf den. Aber nicht nur die Schule muss den Förderbedarf (D)
(B)
dem Arbeitsmarkt werden die beruflichen Möglichkeiten erkennen, auch das familiäre Umfeld kann etwas tun.
dieser Menschen immer geringer und ihre Perspektivlo- Durch regelmäßiges Vorlesen und das Beschäftigen mit
sigkeit wächst. Hier haben die Erwachsenenbildung und Büchern können Eltern schon im Kleinkindalter wich-
die Volkshochschulen auch in Zukunft eine wichtige tige Grundlagen legen.
Funktion. Notwendig ist es, die bereits 2003 von der vom
Bundesbildungsministerium geförderten Tagung ge- Wir brauchen eine politische und gesellschaftliche
meinsam mit den wichtigsten Akteuren der Alphabetisie- Kraftanstrengung um die Zahl der funktionalen An-
rungsarbeit formulierten „Bernburger Thesen“ mit vol- alphabeten zu senken. Die Länder sollten sicherstellen,
ler Kraft umzusetzen und die bisher eingeleiteten dass in allen Regionen ausreichend Plätze für Alphabe-
Maßnahmen zu evaluieren. tisierungskurse zu Verfügung stehen, die Bundesregie-
rung fordern wir auf, ihre Alphabetisierungsprogramme
Ein besonderer Handlungsauftrag für die Politik liegt zu intensivieren, Lehrer- und Lehrerinnen, Betriebe und
in der erschreckenden Tatsache, dass die meisten dieser Ehrenamtliche in Vereinen müssen auf das Problem hin-
funktionalen Analphabeten in Deutschland eine Schule gewiesen werden und ermutigt werden, einzugreifen.
besucht haben und dort offenbar Lesen und Schreiben Deutschland hat auch im Rahmen der Weltalphabetisie-
nur unzureichend gelernt oder später wieder verlernt rungsdekade der Vereinten Nationen einen wichtigen
haben. Wissenschaftler bestätigen den Verdacht, dass Beitrag zu leisten. Ziel der Dekade (2003 bis 2012) ist
viele der späteren Analphabeten in der Schulzeit nur es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend le-
schlecht, aber zumindest hinreichend, lesen und schrei- sen und schreiben können, weltweit zu halbieren.
ben können, dass diese Fähigkeit nach dem Verlassen
der Schule jedoch verkümmert, wenn sie nicht gepflegt Der von der Bundesregierung angekündigte Grund-
wird. bildungspakt kommt reichlich spät und ist in seiner Aus-
gestaltung ähnlich unkonkret und unverbindlich, wie der
Um dem Entgegenzusteuern ist eine Bewusstseinsbil- Ausbildungspakt. Die Zahlen über die Risikogruppe von
dung in allen Bereichen des menschlichen Lebens von- Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlässt,
nöten, um betroffene Personen zu ermutigen, sich dem sind seit vielen Jahren bekannt und liegt mit 7,5 Prozent
Problem zu stellen. Insbesondere den Kolleginnen und auf einem nicht zu akzeptierenden Level. Auch bei der
Kollegen und Vorgesetzten im Betrieb fällt dabei eine Lesekompetenzvermittlung in der weiterführenden
wichtige Aufgabe zu. Aber auch in anderen Bereichen Schule gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf,
gilt es aufmerksam zu sein: So steigt beispielsweise die das haben die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre ein-
Anzahl derjenigen, die sich die Fragen zur Fahrprüfung drücklich bewiesen. Die Schülerinnen und Schüler in

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13135
Petra Hinz (Herborn)
(A) den weiterführenden Schulen werden häufig bei einer Steigerung auf 10,6 Millionen Euro vorgesehen. In An- (C)
Leseschwäche nicht ausreichend gefördert und drohen betracht der angespannten Haushaltslage meine ich,
im weiteren Bildungsverlauf abgehängt zu werden. Es dass wir uns hier mehr als großzügig erweisen. Somit
fehlt vielerorts an dem Bewusstsein, dass nicht alle Kin- halten wir den Antrag der SPD-Fraktion für reichlich
der diese Kompetenzen bereits in der Grundschule er- übertrieben, hier noch mehr Forschungsgelder zu inves-
worben haben. Doch die Nationale Qualifizierungsiniti- tieren.
ative hat bisher leider zu keinen Verbesserungen geführt
und ist auch in anderen Bereichen eine Enttäuschung: Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt in mir den
Wie der Umsetzungsbericht „Aufstieg durch Bildung“ Eindruck, dass die Realitäten nicht erkannt werden
zeigt, ist nach zwei Jahren erschreckend wenig passiert. wollen. Ein „Fortpflanzungsmedizingesetz“ zu fordern
Es werden Bestandsaufnahmen gemacht, Listen ausge- geht an der Realität vorbei, denn dafür sind die rechtli-
füllt, aber mehr passiert nicht. chen Regelungen bereits im Embryonenschutzgesetz
aufgeführt, und Fragen der regenerativen Medizin sind
Wir fordern, dass Bund und Länder endlich initiativ ausführlich in vier weiteren Gesetzen geregelt und zwar
werden um gemeinsam Programme zur Bekämpfung des im Arzneimittelgesetz, im Medizinproduktegesetz, im
Analphabetismus zu erarbeiten und umzusetzen. Für ein Transplantationsgesetz und im Transfusionsgesetz. Seit
westliches Industrieland wie Deutschland sollte der Ab- 1997 gibt es das ELSA-Programm zur Erforschung ethi-
bau von Bildungsbenachteiligung und die Bekämpfung scher, rechtlicher und sozialer Aspekte in den Lebens-
und Prävention von Analphabetismus ein Kernanliegen wissenschaften.
sein.
Warum verlangt hier die SPD-Fraktion erneut ein Be-
gleitprogramm? Sie kritisieren, dass es zu viele kommer-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zielle Nabelschnurblutbanken gibt. Auch das entspricht
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nicht den Tatsachen. Es sind gerade mal drei kommer-
Drucksache 17/5914 an die in der Tagesordnung aufge- zielle. Fünf öffentliche und drei öffentlich-private Na-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- belschnurblutbanken zeigen ein anderes Bild. Die nicht
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- kommerziellen befinden sich vor allem an Unikliniken.
sen. Geld zu investieren, um eine öffentliche Nabelschnur-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: blutbank zu schaffen, wäre somit verschleudertes Kapi-
tal.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Ihr Antrag enthält zu viele Forderungen und Prüfun-
(B) und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gen, die einerseits schon längst erfüllt sind und somit (D)
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, nicht mehr aktuell und andererseits auch entbehrlich
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter sind. Hierzu zählt beispielsweise die Einrichtung eines
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zentrums für klinische Studien in der regenerativen Me-
der SPD dizin. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass die
klinischen Studien dezentral und multizentrisch durch-
Adulte Stammzellforschung ausweiten, For- zuführen sind, und zwar dort, wo die entsprechenden
schung in der regenerativen Medizin voran- fachlichen Kompetenzen und die Rahmenbedingungen
bringen und Deutschlands Spitzenposition vorhanden sind.
ausbauen
Im Übrigen wurde von verschiedenen Gremien be-
– Drucksachen 17/908, 17/3618 – reits bestätigt, dass die derzeitigen Mittel, die der Bund
Berichterstattung: zur Verfügung stellt, den Anforderungen im vollem Um-
Abgeordnete Eberhard Gienger fang gerecht werden. Dies könnte die Opposition zur
René Röspel Kenntnis nehmen. Wir sind auf dem Laufenden. Sollten
Dr. Martin Neumann (Lausitz) sich Veränderungen im Bereich der adulten Stammzell-
Dr. Petra Sitte forschung ergeben, werden wir uns entsprechend bera-
Priska Hinz (Herborn) ten. Seien Sie versichert, dass auch wir große Hoffnung
auf diese Forschung setzen, birgt sie doch das Potenzial,
Menschen mit Behinderungen und/oder schweren
Eberhard Gienger (CDU/CSU): Krankheiten zu therapieren.
Die adulte Stammzellforschung und die regenerative
Medizin befinden sich zum überwiegenden Teil noch in
der Grundlagenforschung. Bis es zu einer Anwendung Dr. Thomas Feist (CDU/CSU):
im klinischen Bereich kommt, ist es noch ein weiter Weg. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion, Drucksa-
Die Bundesregierung hat die Potenziale der adulten che 17/908, hat zum Ziel, die Forschung mit adulten
Stammzellforschung zweifelsohne längst erkannt. So hat Stammzellen und die regenerative Forschung weiter
das Bundesministerium für Bildung und Forschung die auszuweiten und insbesondere den Wissenstransfer in
finanziellen Mittel zur Förderung sukzessive erhöht. Im die Wirtschaft zu verbessern. Die positive Einschätzung
Jahr 2005 ist die Stammzellforschung mit 1,4 Millionen der Potentiale der adulten Stammzellen und der regene-
Euro, 2009 mit 4,8 Millionen Euro, 2010 mit 9,1 Millio- rativen Forschung, die diesem Antrag zugrunde liegt,
nen Euro gefördert worden. Für 2011 ist eine weitere teile ich.
13136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Thomas Feist


(A) Bevor man jedoch Maßnahmen zur Erreichung be- für die regenerative Medizin von erheblicher Bedeutung (C)
stimmter Ziele formuliert, ist es unabdingbar, den aktu- sind, sodass ein gesondertes Begleitprogramm zu ethi-
ellen Istzustand richtig darzustellen, weil man sonst zu schen, rechtlichen und sozialen Aspekten und Verfahren
falschen Schlussfolgerungen gelangt. Der vorliegende der regenerativen Medizin, wie es im Antrag gefordert
Antrag gibt jedoch kein zutreffendes Bild der Förde- wird, aus Sicht meiner Fraktion als nicht notwendig er-
rungsrealität im Bereich der Stammzellforschung und scheint.
der regenerativen Medizin wieder. Die in ihm formulier-
ten Forderungen sind in weiten Teilen bereits erfüllt Darüber hinaus sind die Maßnahmen des Biotechno-
oder entbehrlich. Aus diesem Grund ist der Antrag abzu- logieprogramms zu berücksichtigen, die im vorliegen-
lehnen. Dies möchte ich an einigen Punkten deutlich den Antrag nicht erwähnt werden. Seit dem Jahr 2000
machen. wurden bis heute rund 100 Millionen Euro investiert, um
anwendungsorientierte Projekte zu fördern, die Wissen-
Die Erhaltung der Gesundheit ist eine der größten schaft, Kliniken, Behörden und Wirtschaft zusammen-
Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. Die bringen.
regenerative Medizin lässt auf effiziente Therapiean-
sätze hoffen, auch für bislang schwer oder gar nicht zu Mithilfe dieser Förderung sind in den letzen Jahren
behandelnde Krankheiten. Dabei spielt das Verständnis mehrere akademische Einrichtungen entstanden, die
der Zell-, Gewebs- und Organfunktionen sowie die Nut- sich durch eine ausgezeichnete Infrastruktur auszeich-
zung der körpereigenen, natürlichen Selbstheilungs- nen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Heteroge-
kräfte eine entscheidende Rolle. Hierin liegt ein wichti- nität der Forschungsthemen im weiten Feld der regene-
ger Paradigmenwechsel von der symptomatischen rativen Medizin der richtige Ansatz, um sicherzustellen,
Behandlung hin zu einer Ursachenbehebung. Die dass die notwendigen klinischen Studien dezentral dort
Stammzellforschung als Grundlagenwissenschaft der re- durchgeführt werden, wo die Experten angesiedelt sind.
generativen Medizin spielt in diesem Zusammenhang Das im Antrag geforderte Zentrum für klinische Studien
eine wichtige Rolle. würde deshalb eben nicht zur Erleichterung von For-
schungsprojekten beitragen und ist als nicht zielführen-
Auch wenn sich die regenerative Medizin noch über- des Instrument abzulehnen.
wiegend im Bereich der Grundlagenforschung bewegt,
gibt es erste Anwendungen, zum Beispiel bei der Rege- Da mit den Forschungen im Bereich der regenerati-
neration von Haut oder Knorpel sowie bei der Behand- ven Medizin schnell auch große Erwartungen der betrof-
lung von Herzinfarkten, die sich bereits im klinischen fenen Patienten auf mögliche Heilmethoden verbunden
Einsatz befinden. sind, ist ein translationaler Forschungsansatz von ent-
scheidender Bedeutung. Das bedeutet, dass universi-
(B) Aus diesem Grund spielt die regenerative Medizin täre, außeruniversitäre und private Partner zusammen (D)
eine wichtige Rolle in der Forschungsförderung des daran arbeiten sollten, dass Forschungsergebnisse
Bundes. Bereits 1999 wurden erste Fördermaßnahmen schneller in Innovationen am Markt und in die Gesell-
bekannt gemacht. Im Rahmen des Gesundheitsfor- schaft überführt und damit für den Endanwender nutz-
schungsprogrammes sind zudem verschiedene Maß- bar gemacht werden. Um die Möglichkeiten der regene-
nahmen auf den Weg gebracht worden. Im Zuge des rativen Forschung für die klinische Praxis zu erschließen,
Förderschwerpunktes „Biologischer Ersatz von Organ- wurden von 2006 bis 2011 zwei Translationszentren mit
funktionen“ wurden 32 Vorhaben bis zum Jahr 2005 mit jeweils 20 Millionen Euro gefördert: das Berlin-Bran-
knapp 10 Millionen Euro gefördert. Im Herbst 2005 denburger Center für Regenerative Therapien, BCRT,
starteten zehn interdisziplinäre Verbünde der themati- und das Translationszentrum für regenerative Medizin,
schen Folgemaßnahme „Zellbasierte, regenerative Me- TRM, der Universität Leipzig. Von 2009 bis 2011 wird
dizin“, die mit insgesamt etwa 12 Millionen Euro geför- darüber hinaus die Arbeit des Referenz- und Translations-
dert werden und 46 Teilprojekte beinhalten. Daneben zentrums für kardiale Stammzelltherapie mit rund 3,4 Mil-
werden in dem Förderschwerpunkt „Gewinnung pluri- lionen Euro unterstützt.
bzw. multipotenter Stammzellen“ gegenwärtig 51 Vorha-
ben bis zum Jahr 2013 mit ungefähr 15 Millionen Euro Als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises
gefördert. Leipzig II, in dem das TRM der Universität Leipzig liegt,
freut es mich besonders, dass das Konzept des TRM
Insgesamt haben sich die Ausgaben für die Stamm-
nach einer Evaluation im Jahr 2010 überzeugt hat und
zellforschung seit 2005 fast verachtfacht. Beliefen sich
weiterentwickelt werden konnte. Ziel des TRM und des
die finanziellen Zuwendungen 2005 noch auf 1,4 Millio-
translationalen Ansatzes ist es, dazu beizutragen, die
nen Euro, sind sie auf 10,6 Millionen Euro in diesem
Potenziale von Methoden und Verfahren für die regene-
Jahr gestiegen. Die christlich-liberale Bundesregierung
rative Medizin näher zu validieren und für die therapeu-
hat die Fördersumme seit 2009 also innerhalb von zwei
tische Anwendung zu erschließen. Das TRM setzt gleich-
Jahren mehr als verdoppelt.
zeitig auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, indem
Mit jährlich rund 4 Millionen Euro wird seit 1997 Forscher, Ingenieure und Kliniker aus- und weitergebil-
systematisch die Erforschung ethischer, rechtlicher und det werden, um ihnen die Entwicklung, Evaluation und
sozialer Aspekte in den Lebenswissenschaften gefördert. Anwendung von regenerationsbasierten Therapie- und
Die konkrete Auswahl der jeweiligen Themen erfolgt da- Diagnoseverfahren zu ermöglichen. Dies ist der richtige
bei wissenschaftsgetrieben durch die jeweiligen Antrag- Weg. Das sehen auch die Experten so: In den nächsten
steller. Hier werden bereits Projekte gefördert, die auch vier Jahren erhält das TRM in einer zweiten Förder-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13137
Dr. Thomas Feist
(A) phase weitere 15 Millionen Euro vom Bundesministe- Wissenschaftlern bringt der Truck auf seiner Tour durch (C)
rium für Bildung und Forschung, um diesen Ansatz kon- Deutschland die Forschung in der modernen Biotechno-
sequent weiterzuverfolgen. logie direkt zu den Menschen vor Ort. In Leipzig war der
Truck bereits, und ich habe ein sehr positives Feedback
Dazu möchte ich den Forscherinnen und Forschern junger Menschen dazu erhalten. Im Juni hält der Truck
aus Leipzig recht herzlich gratulieren. Zu Gratulationen unter anderem in Düsseldorf, Hamburg und Dresden.
gibt es auch noch aus einem weiteren aktuellen Grund Ich kann Ihnen einen Besuch nur empfehlen, um sich ein
Anlass: Für das Großprojekt „Sirius“ erhält das TRM Bild von dem zu machen, was es bereits gibt.
bis 2014 1,65 Millionen Euro vom Bundesministerium
für Bildung und Forschung. Mit zwei Kooperationspart- Meine Ausführungen zur Forschungsförderung, Un-
nern aus den USA wird das Ziel verfolgt, unter Anwen- terstützung der Unternehmen, Informationskampagnen
dung von neuronalen Stammzellen das Zeitfenster für der Öffentlichkeit und insbesondere zum konkreten Bei-
eine erfolgreiche Behandlung von Hirninfarkten deut- spiel des TRM in Leipzig machten Ihnen hoffentlich
lich zu vergrößern. Diese Beispiele zeigen die überaus deutlich, dass die Forderungen des vorliegenden SPD-
positive Entwicklung des TRM. Sie zeigen, wie wichtig Antrages bereits in großem Maße erfüllt sind. Die For-
der Bundesregierung die effektive Unterstützung von in- schung im Bereich der regenerativen Medizin in
novativen Konzepten im Bereich der regenerativen Me- Deutschland befindet sich auf einem sehr guten Weg.
dizin ist. Das Beispiel TRM Leipzig zeigt auch, dass die
Forschungsförderung des Bundes hervorragend funktio- René Röspel (SPD):
niert und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- Dank einer guten Forschungspolitik seit 1998 ist
lern bei der Suche nach neuen Behandlungsmethoden Deutschland als Land mit vielen innovativen Forscherin-
auf Grundlage der regenerativen Medizin die notwendi- nen und Forschern für die Zukunft der medizinischen
gen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Forschung und Versorgung gut aufgestellt. Wir verfügen
Zusätzlich zu den Wissenschaftlern stehen die Unter- über hervorragende Forschungsstrukturen und ein
nehmer und die Öffentlichkeit im Blick unseres Förder- – trotz gefährlicher Operationen und Eingriffe der
interesses. Durch verschiedene Fördermaßnahmen wur- schwarz-gelben Bundesregierung – stabiles, solidarisch
den und werden vor allem kleine und mittlere finanziertes Gesundheitssystem.
Unternehmen bei Forschungs- und Entwicklungsprojek- Wir dürfen uns aber nicht auf den Meriten ausruhen,
ten in der regenerativen Medizin vom Bundesministe- deren Ursprung in den politischen Entscheidungen der
rium für Bildung und Forschung gefördert, zum Bei- Vergangenheit liegt. Vielmehr müssen wir von parla-
spiel: die Förderinitiative „Tissue Engineering“ mit mentarischer Seite immer wieder aktiv Themen aufgrei-
(B) 35 Millionen Euro in den Jahren 2000 bis 2009, die För- fen, wenn wir unseren Forschungsfortschritt ausbauen (D)
derinitiative „Regenerationstechnologien“ mit 15 Millio- und die Chancen Deutschlands in hoch innovativen Wis-
nen Euro in den Jahren 2008 bis 2012, die Maßnahme senschaftsfeldern sichern wollen.
„Biotechnologie BioChance“, die verschiedene Förder-
maßnahmen unter dem Dach von „KMU-innovativ“ Die regenerative Medizin wird seit einigen Jahren als
vereint. In den bisherigen sechs Runden wurden seit Schlagwort genutzt, wenn Beispiele für neue Ansätze
1999 über 200 Zuwendungen ausgesprochen mit einer moderner Medizin genannt werden. Klar ist: Nicht jeder
Gesamtsumme von circa 90 Millionen Euro. Plan der Forscher von heute wird morgen oder über-
morgen Realität werden. Bekannt ist aber auch: Schon
Wir brauchen den Antrag der SPD-Fraktion nicht, heute kann die medizinische Wissenschaft Großes leis-
denn wir unternehmen bereits alles dafür, Deutschlands ten, was aber nur verzögert seinen Weg in die medizini-
Spitzenposition in der biomedizinischen Forschung sche Praxis findet.
nachhaltig zu sichern.
Insbesondere durch die Nutzung von Stammzellen
Um die Öffentlichkeit und insbesondere Schülerinnen konnten in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt
und Schüler über Biotechnologie zu informieren und zu werden. Der Hype um die embryonalen Stammzellen ist
begeistern, stellt das Bundesministerium für Bildung abgeflacht, die Nutzung von adulten Stammzellen, von
und Forschung Informationen auf vielfältigsten Wegen Stammzellen aus der Nabelschnur oder auch von repro-
zur Verfügung: als Filme, in Ausstellungen, durch Bro- grammierten Zellen hingegen hat in der Forschung
schüren. Als besonders lohnenswert möchte ich das In- stark zugenommen.
ternetportal biotechnologie.de erwähnen, welches die
Wir haben in Deutschland frühzeitig den Fokus der
internetaffine Jugend besonders anspricht. Ergänzend
Forschungsförderung auf diese – ethisch unumstritte-
zur virtuellen Welt nutzen wir die vielfältigen Möglich- nen – Zellen gelegt. Die von uns geforderte und von der
keiten interaktiver Begeisterung junger Menschen für
Bundesregierung zu Recht in den Ausschussberatungen
biotechnologische Forschungsthemen. Weil das tatsäch-
angeführte Anhebung der Haushaltsmittel für diese For-
liche Erleben und Anfassen das Verständnis für kom- schungsfelder von 1,5 Millionen Euro in 2005 auf
plexe Zusammenhänge in hohem Maße fördert, bin ich
10,6 Millionen Euro in 2011 setzt deshalb einen erfolg-
besonders vom „BioTruck“ überzeugt, der im Rahmen
reichen Weg fort.
der Initiative „BIOTechnikum. Leben erforschen – Zu-
kunft gestalten“ des Bundesministeriums für Bildung Geld allein hilft der Forschung jedoch nur bis zur
und Forschung als mobile Ausstellungs- und Erlebnis- Schwelle der kommerziellen Verwertung. Daher haben
welt durch die Republik tourt. Begleitet von erfahrenen wir unter anderem auf den Regelungsbedarf hinsichtlich

Zu Protokoll gegebene Reden


13138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

René Röspel
(A) der Erstattungsfähigkeit von Anwendungen der regene- Klar ist: Wir streiten in der Förderung der ethisch un- (C)
rativen Medizin hingewiesen. Leider hat die Bundesre- problematischen Stammzellforschung und der regenera-
gierung und haben auch die Regierungsfraktionen die- tiven Medizin nicht über den politisch richtigen Weg,
sen Punkt in den Beratungen weitgehend ignoriert. sondern darüber, wie wir ein gutes Forschungsförder-
konzept weiter voranbringen können.
Unsere Forderung zur Einrichtung einer Nationalen
Nabelschnurblutbank hätte neue Impulse für die For- Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
schung erbringen können. Leider verwies die Bundesre- frage unserer Fraktion zum Thema Stammzellforschung,
gierung hier nur auf die hochdynamische Landschaft di- die wir gemeinsam mit den Grünen eingebracht haben,
verser Nabelschnurblutbanken, die bereits etabliert zeigt: Wir sind auf einem guten Weg, die Bundesregie-
seien. Wie wichtig aber ein koordiniertes Vorgehen nicht rung hat viele Akzente richtig gesetzt. Die umfassenden
nur für die Forscher, sondern vor allem für mögliche Informationen in der Antwort auf die Kleine Anfrage
Patienten ist, wird schlicht nicht berücksichtigt. waren und sind übrigens ein positives Beispiel für den
Umgang der Regierung mit dem parlamentarischen
Wie auch bei unserer Debatte im Forschungsaus- Fragerecht. Dafür herzlichen Dank!
schuss zum Regelungsbedarf bei Biobanken zeigt sich,
dass die Regierung offensichtlich überall dort, wo sich Mit unserem Antrag wollten wir erreichen, dass das
forschungspolitisch Dinge hochdynamisch entwickeln, Thema Stammzellforschung und regenerative Medizin
vor Regelungen zurückscheut. nicht unter den Tisch fällt. Dies ist uns gelungen. Wir ha-
ben Vorschläge unterbreitet, wie wir gemeinsam die Er-
Daher mein Hinweis an die Bundesregierung: Rege- folgsgeschichte fortschreiben können. Wir bedauern
lungen für dynamische Forschungsfelder müssen For- sehr, dass die Regierungsfraktionen diesen Impuls nicht
schung und Innovation nicht behindern; vielmehr kön- aufgenommen und verstärkt haben. Mein Appell zum
nen sie Strukturen bieten, Erfolge sichern und eine Schluss: Auch wenn Sie heute unseren Antrag ablehnen,
bestehende Dynamik zielführend kanalisieren. Hierzu so nehmen Sie sich bitte unsere Vorschläge zu Herzen
brauchen wir natürlich kluge Regelungen, und dies ist und entwickeln Sie die hilfreichen Regelungen und För-
fraglos eine Herausforderung für jede Bundesregierung. dermaßnahmen für die Stammzellforschung und regene-
rative Medizin weiter – im Sinne der gemeinsamen
In den Ausschussberatungen hat die Fraktion der Sache, die wir in den Ausschussberatungen so klar er-
CDU/CSU betont, dass wir uns in den Zielen unseres kennen und feststellen konnten.
Antrages einig seien. Die Kritik an unserem Antrag, die
als Begründung für die ablehnende Haltung der Regie-
Dr. Peter Röhlinger (FDP):
(B) rungsfraktion herhalten musste, wirkte hingegen sehr (D)
vorgeschoben. Der Tenor lautete: Alles in bester Ord- Die Stammzellforschung ist mit großen Hoffnungen
nung, wir brauchen keine Veränderungen in Förderpra- verbunden. Mithilfe von Stammzellen werden neue The-
xis und Regelungswerken. rapien für neurodegenerative Erkrankungen, für Diabe-
tes oder auch für Krebserkrankungen entwickelt.
Mit dieser Feststellung unterscheidet sich die CDU/ Stammzellen werden teilweise als medizinische Wunder-
CSU massiv von den Einschätzungen der Expertinnen waffen der Zukunft bezeichnet, als die Basis für nach-
und Experten, die in der Forschung und – frühen – Pra- wachsende Ersatzteile des menschlichen Körpers von A
xis der regenerativen Medizin tätig sind. Um es in den wie Auge (bei Hornhäuten funktioniert das schon recht
Worten der Überschrift unseres Antrages zu sagen: Wir gut) bis Z wie Zahn (einem japanischen Forscher ist es
wollten Deutschlands Spitzenposition ausbauen und uns gelungen, einen Mäusezahn zu züchten). Gerade bei der
nicht mit der Einschätzung begnügen, dass heute alles Forschung mit adulten Stammzellen hat es in den letzten
schön und gut sei. zehn Jahren große Fortschritte gegeben.
Besonders überrascht hat uns, dass die FDP die Kri- Wir Liberalen teilen die positive Einschätzung der
tik der CDU/CSU an unserem Antrag weitgehend über- Potenziale, die die regenerative Medizin bietet – nicht
nommen hat. Im September 2006 hatte die FDP-Frak- nur im Bereich der Gesundheitsforschung, sondern auch
tion noch einen Antrag „Forschung auf dem Gebiet der bei biotechnischen Verfahren, die die SPD in ihrem An-
Regenerativen Medizin stärken“ in das parlamentari- trag nicht erwähnt.
sche Verfahren eingebracht. Dieser Antrag enthielt eine
Reihe von Forderungen, die zum Teil auch in unserem Wenn man liest, was die SPD in diesem Antrag for-
Antrag enthalten sind, der heute zur Schlussberatung dert, hat man den Eindruck, die Bundesregierung habe
ansteht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die dieses Thema bisher sträflich vernachlässigt. Das Ge-
FDP auch bei diesem Thema als Regierungsfraktion von genteil ist der Fall. Viele der Forderungen sind erfüllt.
ihren alten Forderungen aus Oppositionszeiten verab- Regenerative Medizin ist ein wichtiges Thema der For-
schiedet hat. schungsförderung in Gesundheitsforschung und Bio-
technologie. Die Standardisierung von Herstellungspro-
Während die Regierungsfraktionen ohne gute Gründe zessen im Bereich der regenerativen Medizin wird von
unsere Initiative abgelehnt haben, haben die Grünen der Bundesregierung gefördert. Die ethischen, rechtli-
und Linken unseren Antrag unterstützt. Bei dieser Gele- chen und sozialen Aspekte werden berücksichtigt. Es
genheit möchte ich den Kolleginnen und Kollegen für gibt, vor allem an Universitätskliniken, eine Reihe von
ihre Unterstützung danken. nicht kommerziellen Nabelschnurblutbanken. Der Da-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13139
Dr. Peter Röhlinger
(A) tenschutz ist im Rahmen der bestehenden Bundes- und nicht länger nur Wunschdenken bleibt. Zu den ersten drei (C)
Landesgesetze geregelt. Teams mit deutscher Beteiligung, die von einem interna-
tionalen Gutachtergremium für eine Förderung ausge-
Ihr Antrag enthält auch mehrere Aspekte, die einem wählt wurden, gehört neben einem Team an der Univer-
Liberalen sehr gut gefallen. Sie wollen kleine und mitt- sität Bonn und einem Team an der TU München auch ein
lere Unternehmen, KMU, in die Forschungsförderung Team vom Universitätsklinikum Jena.
einbeziehen – sehr gut. Sie unterstützen die Validie-
rungsförderung, also den Wissenstransfer zwischen For- Das Uniklinikum Jena praktiziert die Förderung von
schung und Unternehmen bei der Entwicklung von inno- Nachwuchswissenschaftlern bereits seit Jahren. Kürz-
vativen Therapien und Produkten in der regenerativen lich wurden zum achten Mal junge Forscher ausgezeich-
Medizin – auch sehr gut. Sie wollen bei der Jugend Inte- net, am „8. Tag der Nachwuchswissenschaftler“ im
resse an diesem Forschungsfeld wecken – das ist sehr Forschungszentrum Lobeda. An diesem Wettbewerb be-
wichtig. Diese Aspekte sind aber nicht auf das Thema teiligten sich diesmal insgesamt 16 junge Mediziner,
Stammzellforschung begrenzt, sondern sie betreffen alle Biologen, Biochemiker und Biotechnologen, die ihre
Forschungsbereiche. Es handelt sich um Rahmenbedin- Forschungsergebnisse vorstellten. Jenaer Firmen haben
gungen, um ein forschungsfreundliches Klima, das es zu dafür Preise gestiftet. Einen der Preise erhielt eine junge
fördern gilt, unabhängig vom Thema. Forscherin, die an der Klinik für Innere Medizin ihre
Diplomarbeit auf dem Gebiet der Stammzellforschung
Einen Teil der Forderungen in diesem Antrag lehnen vorstellte. Sie sehen: Firmen, Nachwuchsförderung,
wir ab. Wir wollen zum Beispiel kein Zentrum für klini- Stammzellforschung – auch in Jena ist das alles versam-
sche Studien, sondern wir wollen, dass solche Studien melt. Dass ich mich darüber sehr freue, muss ich sicher
dort durchgeführt werden, wo fachliche Kompetenz und nicht extra betonen.
gute Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Dort
werden solche Studien dann auch gefördert, zum Bei-
spiel in Rostock, im Rostocker „Referenz- und Transla- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
tionszentrum für kardiale Stammzelltherapie“, einem Die Debatte über die Forschung mit adulten Stamm-
der fünf Schwerpunktzentren für regenerative Medizin in zellen kommt gerade recht zu den aktuellen Beratungen
Deutschland. Hier werden Stammzelltherapien für Herz- über den zukünftigen Umgang mit der Organspende in
krankheiten erforscht und auch bereits angewandt. Hier Deutschland. Der Gesundheitsausschuss führt dazu zwei
gibt es ein Zusammenwirken von grundlegender, ange- umfangreiche Anhörungen durch; die erste zu techni-
wandter und klinischer Forschung an Stammzellen mit schen und organisatorischen Aspekten der Organspende
dem Ziel, die wissenschaftlichen und die klinischen Er- fand gerade gestern statt. Während dort der Frage nach-
(B) kenntnisse in standardisierte, qualitätsgesicherte Thera- gegangen wurde, wie Patienten besseren Zugang zu pas- (D)
pien umzusetzen. Fast 150 Patienten mit Herzinfarkt senden Spenderorganen bekommen, geht es hier darum,
wurden in den letzten zehn Jahren behandelt. Mithilfe den Erfolg von Transplantationen mithilfe der For-
von Stammzellen ist Muskelgewebe, das durch den In- schung zu adulten Stammzellen deutlich zu verbessern.
farkt verloren gegangen war, wieder nachgewachsen. Denn eine bestimmte Art adulter Stammzellen hilft nach-
Der Herzchirurg Professor Steinhoff und sein Team sind gewiesenermaßen dabei, Abwehrreaktionen des Körpers
auf diesem Gebiet weltweit führend. Das Rostocker Zen- gegen ein neues, fremdes Organ abzuschwächen. Diese
trum wird vom Bund, BMBF, vom Land Mecklenburg- mesenchymalen Stammzellen, die aus dem Knochen-
Vorpommern und von der Wirtschaft gefördert. Dieser mark oder Nabelschnurblut von Neugeborenen gewon-
Weg ist vielversprechend, so soll es weitergehen. nen werden, können die sonst üblichen Medikamente er-
setzen, die das Immunsystem unterdrücken, aber leider
Wenn wir Ihren Antrag ablehnen, dann also nicht, auch gefährliche Nebenwirkungen haben.
weil wir gegen Stammzellforschung wären – das sind wir
natürlich nicht – , sondern weil die Forderungen in Ih- Von der Forschung an und mit adulten Stammzellen
rem Antrag zu einem guten Teil bereits erfüllt sind. Die, ist die Zukunft der regenerativen Medizin insgesamt ab-
die nicht erfüllt sind, unterstützen wir nicht. hängig. In der Erprobung sind Therapien für infarktge-
schädigte Herzen, bei denen kardiale Stammzellen in
Dass die Stammzellforschung auf einem guten Weg ist, das abgestorbene Herzmuskelgewebe injiziert werden,
möchte ich Ihnen zum Schluss noch an einem anderen oder für die Regeneration der Leber bei Leberfibrose,
kleinen Beispiel illustrieren. Das Bundesministerium für die ansonsten nur durch Transplantation überwunden
Bildung und Forschung unterstützt auf diesem Gebiet werden kann. Große Fortschritte gibt es inzwischen
auch die Kooperation von deutschen Wissenschaftlern auch beim Aufbau von zerstörtem Gewebe beispiels-
mit Kollegen in kalifornischen Forschungseinrichtungen weise der Luftröhre und der Harnblase mithilfe des so-
mit insgesamt bis zu 12 Millionen Euro. Die deutschen genannten Tissue Engineering. Dabei wird Gewebe au-
Forscher können sich seit diesem Jahr an Ausschreibun- ßerhalb des menschlichen Körpers auf Basis von
gen des kalifornischen Instituts für Regenerative Medi- adulten Stammzellen aufgebaut, die eine Zellbildung an-
zin, CIRM, beteiligen, eine auf Stammzellforschung spe- regen und zur Ausdifferenzierung in unterschiedliche
zialisierte Einrichtung zur Forschungsförderung. Im Zelltypen eingeschränkt fähig sind.
Rahmen von deutsch-amerikanischen Projekten sollen
vielversprechende Ergebnisse der grundlegenden Stamm- In der Grundlagenforschung liegt der Schwerpunkt
zellforschung für eine medizinische Anwendung weiter- auf Verfahren, die adulte Stammzellen so reprogrammie-
entwickelt werden, damit die Therapie mit Stammzellen ren können, dass sie wie die umstrittenen embryonalen

Zu Protokoll gegebene Reden


13140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Dr. Petra Sitte


(A) Stammzellen zu wirklich pluripotenten Zellen und damit sicherheit explizit ins Auge gefasst werden, was nicht (C)
zum Ausgangspunkt für unterschiedliche Zelltypen wer- nur die zuletzt genannten Ergebnisse nahelegen. Aus der
den. Im Prinzip ist die Behandlung mit reprogrammier- Therapieforschung ist bekannt, dass Stammzellen auch
ten adulten Stammzellen bei allen Erkrankungen denk- Krebs erzeugen können. Es gibt anfängliche hoffnungs-
bar, bei denen es zur Degeneration bzw. zum Absterben volle Ansätze in den USA und in Deutschland, dieses
von Zellen kommt. Dazu zählen Herzinfarkt, Parkinson, Risiko zu umgehen.
Diabetes, Knorpeldegeneration oder Alzheimer. Insofern kann Frau Schavan bei der Forschung zur
Doch den anfänglichen Erfolgen in der Therapie ste- regenerativen Medizin und zu adulten Stammzellen ru-
hen bislang vergleichsweise eingeschränkte Möglichkei- hig noch eine Schippe drauflegen.
ten zur Gewinnung von adulten Stammzellen gegenüber.
Abhilfe könnte hier eine öffentliche Nabelschnurblut- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bank leisten, die gegenüber den bereits bestehenden oft NEN):
kleineren Nabelschnurblutbanken einheitliche Stan- Bündnis 90/Die Grünen setzen sich schon seit vielen
dards in Bezug auf die Charakterisierung der gewonne- Jahren bei der Stammzellforschung für eine Stärkung al-
nen Produkte, die Sicherung ihrer Qualität sowie den ternativer Ansätze zur embryonalen Stammzellfor-
Datenschutz der Spenderinnen und Spender entwickelt. schung, zum Beispiel der adulten Stammzellforschung,
Solange die Bestände der öffentlich geförderten Einrich- ein. Dieser Ansatz ist ethisch unbedenklich und auch im
tungen nicht gemeinsam erfasst werden und Gewinnung Sinne einer „Ethik des Heilens“ erfolgreicher als die
und Lagerung nicht systematisch untersucht und geprüft embryonale Stammzellforschung mit ihren tumorauslö-
werden, werden der Forschung Steine in den Weg gelegt, senden Risikopotenzialen. In diesem Sinne begrüßen wir
die vermeidbar wären. Das Anliegen des vorliegenden den Antrag der SPD „Adulte Stammzellforschung aus-
Antrags, dies zu ändern, findet unsere ausdrückliche weiten, Forschung in der regenerativen Medizin voran-
Unterstützung. bringen und Deutschlands Spitzenpositionen aus-
bauen“, der heute zur Debatte steht. In dem Antrag wird
Ich will auch ergänzen, dass zur Frage des Daten- unter anderem eine stärkere Förderung der adulten
schutzes, die in diesem Antrag von März 2010 noch vor- Stammzellforschung mit öffentlichen Mitteln sowie die
sichtig als Prüfauftrag formuliert wird, inzwischen eine Schaffung einer deutschen Nabelschnurdatenbank ge-
Reihe von Vorschlägen vorliegt, die unter dem Stichwort fordert. Weiterhin enthält der Antrag diverse Prüfauf-
„Humanbiobanken für die Forschung“ erst jüngst in ei- träge an die Regierung hinsichtlich weiter gehender
ner Anhörung des Forschungsausschusses diskutiert Maßnahmen, mit denen die adulte Stammzellforschung
worden sind. Daran anzuknüpfen, sollte der Bundes- gefördert werden könnte, zum Beispiel mittels eines
regierung daher leichtfallen. Fortpflanzungsmedizingesetzes oder der Einrichtung ei- (D)
(B)
Neben der Gewinnung der adulten Stammzellen nes Zentrums für klinische Studien im Bereich der rege-
nerativen Medizin.
braucht auch ihre Erforschung insgesamt eine breitere
Förderung. Insofern ist auch dieses Anliegen des vorlie- Der Bundestag beschloss in der letzten Wahlperiode
genden Antrags richtig. Derzeit ist nämlich noch nicht auf Basis eines interfraktionellen Antrags eine Verschie-
abzusehen, ob und wann eine Stammzelltherapie für bung des Stichtages im Stammzellgesetz und damit eine
weitere der erwähnten Erkrankungen tatsächlich eta- Erweiterung der Möglichkeiten, mit embryonalen
bliert sein und zur Verfügung stehen wird. Nur bei der Stammzellen zu forschen. Eine Mehrzahl der grünen Ab-
Behandlung von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs kön- geordneten hatte sich bei der Änderung des Stammzell-
nen wir derzeit von Standardtherapien sprechen, mit de- gesetzes in der letzten Wahlperiode nicht nur aus ethi-
nen beispielsweise Blutkrebs überwunden werden kann. schen, sondern auch aus forschungspolitischen Gründen
gegen eine Verschiebung des Stichtages eingesetzt. Unter
Demgegenüber wird das Potenzial adulter Stamm- anderem zeigte sich schon damals, dass die viel größeren
zellen, sich auch zu anderen Gewebetypen zu entwi- Potenziale in der adulten Stammzellforschung stecken
ckeln, noch höchst widersprüchlich eingeschätzt. Wie und die embryonale Stammzellforschung keine Erfolge
aus dem Vierten Stammzellbericht der Bundesregierung vorzuzeigen hatte. Dieser Trend hat sich in den letzten
vom Februar dieses Jahres hervorgeht, haben sich bei Jahren noch verstärkt. Er zeigt sich – zum Glück – auch
einem Teil der erforschten alternativen Verfahren zur in der Zahl der mit Bundesmitteln geförderten Projekte,
Gewinnung von pluripotenten Stammzellen noch keine wie die Antwort der Regierung auf eine gemeinsam von
Erfolge eingestellt. Für den gleichnamigen Förder- SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestellten Kleinen An-
schwerpunkt hat das BMBF für den Zeitraum von 2008 frage beweist. So wird die adulte Stammzellforschung
bis 2013 15,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. An- bzw. die Forschung mit anderen als embryonalen Stamm-
fang dieses Jahres haben zudem Forschungsergebnisse zellen derzeit mit 72,8 Millionen Euro gefördert, im Ver-
die Stammzellszene aufgeschreckt, nach denen repro- gleich dazu fließen 3,8 Millionen Euro in die embryonale
grammierte Zellen häufiger genetische Schädigungen Stammzellforschung.
aufwiesen als die ursprünglichen Zellen.
Anscheinend lässt sich die Schwerpunktsetzung bei
Solche Rückschläge, die in der Wissenschaft normal der Förderung der Stammzellforschung durch die Regie-
sind, zeigen, dass verstärkte Bemühungen und Förder- rung jedoch nicht auf Einsicht, sondern wohl eher auf
mittel für die Weiterentwicklung des Potenzials adulter die Antragslage aus der Forschungsszene zurückzufüh-
Stammzellen nötig sind. Dabei sollte auch die Erfor- ren. Denn bei der eigens von der Regierung im Februar
schung von Risiken und Standards für die Patienten- anberaumten Fragestunde zum letzten Stammzellbericht

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13141
Priska Hinz (Herborn)
(A) – die bei den Abgeordneten mehr Fragen als Antworten Biobanken, die am 25. Mai im Forschungsausschuss (C)
zurückließ – betonte der damalige Gesundheitsminister stattfand, mehrere Experten eine gesetzliche Regelung,
Rösler auch noch nach mehrmaligem Nachfragen, dass unter anderem Professor Dr. Kollek vom Deutschen
„die Bundesregierung ausdrücklich keine Präferenz für Ethikrat sowie Dr. Weichert vom Unabhängigen
ein bestimmtes Forschungsthema bei der Stammzellfor- Zentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein. Selbst der
schung“ habe. Es werde dahin gehend keine strategi- von der SPD benannte Sachverständige Professor
sche Ausrichtung der Regierung geben. Dr. Dabrock sprach sich für eine gesetzliche Regelung
aus, auch um das Vertrauen der Probanden und Öffent-
Unklar blieb auch, warum der Gesundheitsminister lichkeit in Biobanken stärken zu können.
statt der Forschungsministerin den Bericht vorstellte.
Schließlich befindet sich die embryonale Stammzellfor- Unverständlich und problematisch ist die Forderung
schung wie sowohl bei der Fragestunde im Februar als der SPD an die Regierung, zu prüfen, inwiefern ein Fort-
auch in der Antwort der Regierung auf die Kleine An- pflanzungsmedizingesetz die Bedingungen für die rege-
frage bestätigt auf dem Niveau der Grundlagenfor- nerative Medizin fördern könnte. Ein Fortpflanzungsme-
schung. Ein therapeutischer Nutzen embryonaler dizingesetz würde vor allem Bereiche wie die Lagerung
Stammzellen ist nicht in Sicht. von IVF-Embryonen, die Präimplantationsdiagnostik
oder die Nutzung von Keimzellen betreffen, und dies wie-
Einen schlanken Fuß macht sich die Bundesregierung derum wäre dann nicht eine Stärkung der adulten
bei der Frage, ob sie die Patentierung von embryonalen Stammzellforschung, sondern würde vermutlich eher
Stammzellen gutheißt. Auf entsprechende Fragen antwor- eine Ausweitung der embryonalen Stammzellforschung
tet sie ausweichend bis gar nicht. So behauptet sie zum andeuten.
Beispiel, dass ihr „keine Kenntnisse“ darüber vorliegen,
ob bei mit Bundesmitteln geförderten embryonalen
Stammzellprojekten Patente beim Europäischen Patent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
amt beantragt wurden. Dabei sagte der Stammzellforscher Wir kommen zur Abstimmung.
Oliver Brüstle, dessen Patentantrag auf embryonale Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
Stammzellen derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
verhandelt wird, unter anderem in der Zeitschrift „Der fehlung auf Drucksache 17/3618, den Antrag der Frak-
Spiegel“ am 11. November 2009, dass seine Forschung tion der SPD auf Drucksache 17/908 abzulehnen. Wer
genehmigt und gefördert werde und er sogar nachweisen stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
müsse, dass er sich um den Patentschutz kümmere. men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Wir kritisieren auch, dass von der Regierung embryo-
(B) nale Stammzellprojekte genehmigt werden, die der toxi- Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. (D)
kologischen Prüfung von Pharmastoffen dienen. Diese Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
Projekte sind aus unserer Sicht alles andere als „alterna-
tivlos und hochrangig“, wie im Stammzellgesetz gefor- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
dert. Die Antwort der Regierung auf unsere Kleine An- Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weite-
frage, wie sie diese Genehmigung begründet, ist mehr als rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
unzureichend bis ärgerlich: „Die wesentlichen Begrün- Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit be-
dungselemente für die vom RKI erteilten Genehmigun- kämpfen
gen sind dem Stammzellregister des RKI zu entnehmen“.
Dort heißt es dann lapidar zu einem genehmigten Projekt – Drucksache 17/5759 –
– Professor Hengstler, Uni Dortmund – in diesem ethisch Überweisungsvorschlag:
sehr umstrittenen Bereich, dass der Vorteil der Nutzung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
die höhere Reinheit, besssere Standardisierung und die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
mögliche unbebegrenzte Nutzung der Zellen für toxikolo- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
gische Tests sei und dass sich dies „voraussichtlich nur Entwicklung
unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt“. Aus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
unserer Sicht gibt es derzeit keinen akuten Handlungsbe- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
darf im Bereich der adulten Stammzellforschung. Die in Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge,
dem Antrag genannten Forderungen sind dementspre- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
chend auch relativ unkonkret formuliert. LINKE
Sinnvoll ist sicherlich die Forderung, datenschutz- Verbot der Einfuhr, des Handels und der Ver-
rechtliche Erfordernisse bei der Einrichtung einer Na- wendung von Steinprodukten, die durch aus-
belschnurblutbank zu prüfen. Aus grüner Sicht wollen beuterische Kinderarbeit hergestellt wurden
wir generell eine rechtliche Regelung von Biobanken,
wozu auch Nabelschnurblutbanken gehören würden. – Drucksache 17/5803 –
Die Regierungskoalition weigert sich jedoch, dieses Überweisungsvorschlag:
wichtige Thema zu regeln. Leider hat sich selbst die SPD Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)
noch nicht festlegen können, ob sie eine gesetzliche Re- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gelung bei Biobanken will, sondern sie hat nur „Prüfbe- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
darf“ angekündigt. Dabei forderten bei der Anhörung zu Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
13142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Ute Granold (CDU/CSU): ten Staaten der Erde stehen vor kaum überwindbaren (C)
In drei Tagen – am 12. Juni 2011 – begehen wir den Problemen. Beispiel Bangladesch: Das bitterarme Land
Internationalen Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert hat zwar bereits vor zehn Jahren die ILO-Konvention
den Jahrestag der Verabschiedung der ILO-Konvention 182 unterzeichnet, für wirksame Kontrollen fehlt jedoch
182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung schlicht das Geld. Die langfristige Lösung des Problems
der Kinderarbeit beschlossen wurden. – auch da sind wir uns einig – kann deshalb nur in nach-
haltigem Wirtschaftswachstum liegen, das zu sozialem
Die Bundesrepublik Deutschland gehört seit Jahren Fortschritt, zu universeller Bildung und somit letztlich
zu den Vorreitern im internationalen Kampf gegen Kin- auch zur Linderung von Armut führt.
derarbeit. Wir haben die UN-Kinderrechtskonvention
am 26. Januar 1990 unterzeichnet, ebenso die bereits er- Wir haben uns mit dem Thema Kinderarbeit in dieser
wähnten ILO-Konventionen 138 und 182. Innerhalb der Legislaturperiode bereits mehrfach beschäftigt. Es war
Bundesrepublik haben wir schon lange vor der Unter- diese Bundesregierung, die mit ihrem Kabinettsbe-
zeichnung dieser Dokumente erforderliche Maßnahmen schluss vom 6. März 2011 die Rücknahme der deutschen
beschlossen, um Kinderarbeit in unserem Land zu ver- Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention
hindern. Dazu zählen die Ratifizierung des Jugendar- eingeleitet hat. Diese schließt neben vielen anderen Kin-
beitsschutzgesetzes und der Kinderarbeitsschutzverord- derrechten auch das Verbot von Kinderarbeit mit ein.
nung.
Wenige Monate zuvor, am 9. Juli 2010, hat der Bun-
Nach Angaben der ILO ist die Zahl der arbeitenden desrat einen „Entschließungsantrag zur Verhinderung
Kinder weltweit in den Jahren 2004 bis 2008 um 3 Pro- des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer
zent zurückgegangen. Dies gilt aber leider nicht für alle Kinderarbeit“ beschlossen. Die Bundesregierung hat in
Regionen. In Asien und Südamerika geht die Kinderar- ihrer Stellungnahme verdeutlicht, dass sie das politische
beit zwar zurück. In Afrika, insbesondere südlich der Sa- Ziel, durch Kinderarbeit hergestellte Produkte nicht zu
hara, nimmt sie hingegen weiter zu. Weltweit sind noch vertreiben und nicht zu nutzen, ausdrücklich unterstützt.
immer 215 Millionen Minderjährige in Kinderarbeit ge-
fangen, 115 Millionen davon setzen regelmäßig ihre Ge- Obwohl wir uns seit Jahren auf allen politischen Ebe-
sundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel. 69 Prozent der nen für dieses Ziel einsetzen, gibt es derzeit noch keine
Kinder sind in der Landwirtschaft beschäftigt, 22 Pro- rechtliche Handhabe, die den Import von Waren aus
zent im Dienstleistungsgewerbe und 9 Prozent in der In- ausbeuterischer Kinderarbeit unterbinden könnte. Dies
dustrie. Besonders skandalös sind die Ergebnisse einer liegt – und diese Erkenntnis gehört zur Ehrlichkeit die-
Untersuchung von UNICEF, wonach vier von fünf Kin- ser Debatte mit dazu – in allererster Linie an den Ent-
dern für ihre Arbeit keinerlei Lohn erhalten. wicklungsländern selbst. Sie sperren sich seit Jahren ve-
(B) hement – zum Beispiel gegen Änderungen der WTO- (D)
193 Staaten haben die UN-Menschenrechtskonven- Vorschriften –, wohlwissend, dass diese nur im Konsens
tion gezeichnet, mehr als jede andere UN-Konvention umgesetzt werden können.
bislang. In Art. 32 definiert sie Kinderarbeit als Tätig-
keiten, die – ich zitiere – „Gefahren mit sich bringen, die Der Antrag, mit dem wir uns heute befassen, setzt
die Erziehung des Kindes behindern, die Gesundheit des sich umfassender als der erwähnte Entschließungsan-
Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittli- trag des Bundesrates mit dem Thema Kinderarbeit aus-
che oder soziale Entwicklung schädigen.“ einander. Jedoch ist die christlich-liberale Koalition bei
der Bekämpfung der Kinderarbeit – entgegen den Aus-
Die bereits erwähnte ILO-Konvention 182 verbietet sagen des hier zu behandelnden Antrags – auf einem gu-
die schlimmsten Formen von Kinderarbeit und mahnt ten Weg.
unverzügliche Maßnahmen zu deren Beseitigung an.
Dazu zählen gemäß Art. 3 Satz 4 der Konvention zu- Wir haben uns im Koalitionsvertrag nicht nur aus-
nächst – Zitat – „alle Formen von Arbeit, die ihrer Natur drücklich zur Stärkung der Kinderrechte bekannt, son-
nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie ver- dern uns auch verpflichtet, weltweit für die Abschaffung
richtet werden, voraussichtlich für die Gesundheit, die unmenschlicher Behandlungen einzutreten. Dazu gehört
Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich explizit auch Kinderarbeit und der Einsatz von Kinder-
sind.“ Zu diesen schlimmsten Formen der Kinderarbeit soldaten. In der Globalisierung sehen wir insgesamt
zählen unter anderem Sklaverei, Schuldknechtschaft, eine Chance, Menschenrechten weltweit zur Durchset-
Leibeigenschaft, die Zwangs- und Pflichtrekrutierung zung zu verhelfen. Unsere auswärtige Kultur- und Bil-
von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten, dungspolitik begreifen wir als Beitrag zum Menschen-
der Einsatz von Kindern im Drogenhandel sowie das He- rechtsschutz. Ich sage es noch einmal: Diesen selbst
ranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zur auferlegten Verpflichtungen ist die Bundesregierung bis-
Prostitution. Art. 2 definiert Kinder als Personen, die das lang in vollem Umfang nachgekommen. Lassen Sie mich
18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. einige Beispiele des deutschen Engagements in Erinne-
rung rufen:
Ich denke, wir sind uns – über alle Fraktionsgrenzen
hinweg – einig, dass die Hauptursache für Kinderarbeit Zunächst unterstützt die Bundesregierung aktiv das
in der bitteren Armut der Eltern zu finden ist. Ich kann Ziel, Produkte, die durch Kinderarbeit hergestellt wur-
mir nicht vorstellen, dass Kinder von ihren Eltern zur den, nicht länger zu verkaufen oder zu nutzen. Deshalb
Arbeit geschickt würden, wenn nicht äußerste materielle fördert Deutschland das sogenannte International Pro-
Not sie dazu zwingen würde. Die Regierungen der ärms- gramme on the Elimination of Child Labour der ILO,

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13143
Ute Granold
(A) das sich diesem Ziel verschrieben hat. Seit den 1990er Verantwortung als mündige Verbraucher gerecht wer- (C)
Jahren sind rund 54 Millionen Euro geflossen. den.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die
auch zu einem verstärkten Engagement auf europäi- Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung von
scher Ebene auf. Sie verkennen dabei, dass wir dort be- Kinderarbeit auf einem guten Weg befindet. Die Bundes-
reits seit Jahren handelspolitische Anreize für von Kin- regierung setzt sich auf bilateraler, europäischer und in-
derarbeit besonders betroffene Länder setzen. Das ternationaler Ebene für eine stärkere Verankerung der
allgemeine Präferenzsystem APS+ gewährt Handels- UN-Kinderrechtskonvention und der Übereinkommen
partnern besonders attraktive Zollvergünstigungen, 138 und 182 ein. Innerhalb der Bundesrepublik ergrei-
wenn 27 internationale Übereinkommen, darunter die fen Länder und Kommunen sowie Unternehmen und
ILO-Übereinkommen 138 und 182, ratifiziert und auch Bürger vermehrt Maßnahmen, um Produkte, die auch
umgesetzt werden. durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ächten. Auf die-
sem Weg machen wir weiter.
Weiter setzen wir die Entwicklungszusammenarbeit
als wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Kinderar-
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
beit ein. Wir haben die Einhaltung der Kernarbeitsnor-
men zu einem wichtigen Parameter für die Entscheidung Am Sonntag ist der Internationale Tag gegen Kinder-
über die Förderung von Entwicklungsprojekten im Aus- arbeit. Wie wichtig und dringend nötig es ist, die inter-
land gemacht. Auch fördert die Bundesrepublik direkt nationale Aufmerksamkeit auf das Problem der weltwei-
Projekte, die notwendige wirtschaftliche Alternativen ten Kinderarbeit zu richten, machen die Zahlen in
für die in Kinderarbeit gefangenen Minderjährigen und erschreckender Art und Weise deutlich: Rund 215 Mil-
ihre Familien schaffen. lionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren müssen nach
Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation arbei-
Schließlich setzt sich die Bundesregierung im Rah- ten, mehr als die Hälfte von ihnen unter Bedingungen,
men der internationalen Zusammenarbeit seit Jahren die ihrer Gesundheit und weiteren Entwicklung schaden.
mit Nachdruck für eine Verankerung der Kernarbeits- Sie werden ausgebeutet, ihrer Rechte und ihrer Kindheit
normen – etwa auch in der Arbeit der WTO – ein. Dazu beraubt. Millionen Kinder auf der ganzen Welt müssen
zählen insbesondere die für die Bekämpfung der Kinder- unter extremen Bedingungen den ganzen Tag schwer
arbeit relevanten Übereinkommen 138 und 182. schuften, viele von ihnen können keine Schule besuchen,
und die, die eine besuchen, sind häufig zu ausgelaugt
Auch haben viele Länder und Kommunen hierzulande von der Arbeit, um dem Unterricht folgen zu können.
bereits Initiativen ergriffen, um den Vertrieb von Pro- Ohne Schulbildung haben sie aber auch in ihrem späte-
(B) dukten, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ver- ren Leben wenig Chancen auf eine Beschäftigung, die es (D)
hindern. Seit der Änderung des Vergaberechts am ihnen ermöglicht, aus der Armut auszubrechen. Damit
24. April 2009 können Länder und Gemeinden in ihren sind und bleiben sie gefangen im Teufelskreislauf der
Ausschreibungen einfordern, dass die Maßgaben der Armut.
ILO-Kernarbeitsnormen bei der Herstellung von Pro-
dukten, die für den Export nach Deutschland bestimmt Die Frage ist, was wir nun tun können, um diesen
sind, eingehalten werden müssen. Teufelskreis zu durchbrechen und Kinder vor ausbeute-
rischer Kinderarbeit zu bewahren. Eine Antwort wäre
Zurück zum Antrag der Fraktion Die Linke. Sie for- vielleicht, wir verbieten einfach die Einfuhr von Produk-
dern, die Bewilligung öffentlicher Kredite und weiterer ten, die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, oder
Fördermittel für deutsche Unternehmen an die Auflage boykottieren diese und damit wird dann alles gut. Das
zu knüpfen, dass die ILO-Konvention 182 in der gesam- hört sich gut an, und bestimmt würden dem auch die
ten Lieferkette verbindlich eingehalten wird. Ich bin da meisten, die man so spontan auf der Straße zu dem
sehr skeptisch. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass auch die Thema befragt, ohne Weiteres zustimmen. Aber leider ist
deutsche Wirtschaft beim Thema Kinderarbeit nicht aus es so einfach nicht. Es gibt nun mal für die komplexen
der Verantwortung entlassen werden darf. Wahr ist aber Problemstellungen auf dieser Welt in der Regel keine so
auch, dass deutsche Unternehmen gerade in den letzten simplen Lösungen. Denn was passiert dann mit den Kin-
Jahren ein sehr viel stärkeres Problem- und Verantwor- dern? Wovon leben sie und ihre Familien? Die meisten
tungsbewusstsein entwickelt haben. Nicht nur ich bin dieser Kinder müssen arbeiten, weil das Einkommen der
dieser Auffassung, sie findet sich auch in der Entschlie- Eltern nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. Die Kin-
ßung des Bundesrates vom 9. Juli 2010, die Sie in Ihrem der sind gezwungen, ihren Beitrag am Familieneinkom-
Antrag ja ausdrücklich unterstützen. Es gibt zahlreiche men heranzuschaffen.
Beispiele für freiwillige Selbstverpflichtungen der deut-
schen Wirtschaft, die die Bekämpfung von Kinderarbeit Allein die Einbringung eines Gesetzentwurfes in
zum Inhalt haben. Amerika in den 90er-Jahren, der die Einfuhr von Waren,
die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, verbieten
Mir ist wichtig, das gestiegene Verantwortungsbe- sollte, hat in Bangladesch dazu geführt, dass circa
wusstsein der deutschen Öffentlichkeit im Umgang mit 50 000 Kinder entlassen wurden und damit mehr oder
dem Thema Kinderarbeit zu betonen. So beobachten wir weniger über Nacht auf der Straße standen. Die meisten
in den vergangenen Jahren verstärkt, dass sich Bürger von ihnen mussten dann so schnell wie möglich eine
vor dem Einkauf zunehmend über die Art und Weise der neue Arbeit finden, und nicht wenige von ihnen landeten
Herstellung von Produkten informieren und somit ihrer in der Prostitution. Sicherlich haben solche Gesetze so-

Zu Protokoll gegebene Reden


13144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Sabine Weiss (Wesel I)


(A) wie die Berichterstattung darüber dazu beigetragen, die zwar nicht schön, aber günstig. Und: Eine Kommune (C)
Öffentlichkeit in den Industrie-, Schwellen- und Ent- müsse sparen, außerdem komme es der Kommune nicht
wicklungsländern für die Problematik zu sensibilisieren zugute, wenn sie auf Produkte aus Kinderarbeit ver-
und auch das eine oder andere Umdenken anzustoßen. zichte – Zynismus pur. Man mag es kaum glauben, dass
Die unmittelbaren Konsequenzen für die Kinder und so im letzten Jahr in einem deutschen Kreistag von ei-
ihre Familien waren aber erst einmal dramatisch; denn nem Landrat argumentiert wurde. Die öffentliche Empö-
sie wurden in noch größeres Elend gestürzt. Die gesetz- rung war groß – zu Recht. Viele Zeitungen berichteten.
lichen Einfuhrverbote in den USA zeigen zudem auch Wen es interessiert, der kann es nachlesen. Als der
kaum praktische Wirkungen, sodass allein durch Sank- Druck zu groß wurde, lenkte der Kreistag ein.
tionen Kinderarbeit nicht wirksam bekämpft wird.
Ich gehe davon aus, dass niemand unter uns – frak-
Es gibt für die Bekämpfung der Kinderarbeit keine tionsübergreifend – sich dieser Argumentation ange-
einfachen Lösungen. Wer die weltweite ausbeuterische schlossen hätte. Aber es zeigt doch, dass noch ein gutes
Kinderarbeit beenden will, der muss Alternativen zur Stück Arbeit an Bewusstseinsschärfung nötig ist, damit
Kinderarbeit für die Familien schaffen. Sanktionen so in Zukunft weder in Politik noch Gesellschaft argu-
– wie Boykotte oder Einfuhrverbote – beseitigen nicht mentiert wird.
die sozialen Ursachen der Kinderarbeit. Allein mit ei-
nem Einfuhrverbot ist es nicht getan. Schlimmer noch: Heute findet der 14. Kinder- und Jugendhilfetag in
Es kann tendenziell die Lage der Kinder sogar ver- Stuttgart statt. Das Deutsche Institut für Menschen-
schlechtern, weil sie dann im schlimmsten Fall gezwun- rechte fordert zu Recht, dass die Menschenrechte von
gen sind, noch ausbeuterischere Arbeiten zu verrichten, Kindern – auch in Deutschland – umfassend beachtet
oder weil sie und ihre Familien Hunger leiden müssen. werden.
Auch Hilfsorganisationen wie beispielsweise UNICEF
vertreten den Standpunkt, dass Einfuhrverbote allein zu In wenigen Tagen am 12. Juni jährt sich wieder der
kurz greifen. Internationale Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert den
Jahrestag der Verabschiedung des ILO-Abkommens
Dauerhaft kann die ausbeuterische Kinderarbeit nur Nr. 182 gegen Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass
besiegt werden, wenn wir die sozialen Ursachen dafür in wir heute hier nicht nur an die kinderunwürdigen Ver-
den Griff bekommen, sprich: Wir müssen das Problem hältnisse in vielen Teilen der Welt erinnern, sondern
an der Wurzel packen. Denn nur wenn sich die wirt- auch neue Wege suchen, wie wir selbst daran mitwirken
schaftliche Situation der Familien so nachhaltig verbes- können, dass Kinderarbeit nicht nur nicht gefördert,
sert, dass die Familien auch ohne den Beitrag der Kin- sondern auch bekämpft werden kann. UNICEF schätzt,
der über die Runden kommen können, werden die Kinder dass weltweit über 150 Millionen Kinder unter 15 Jahren
(B) nicht mehr arbeiten müssen. Deswegen ist die nachhal- hart arbeiten müssen – zum Teil unter schwierigsten, (D)
tige Bekämpfung der Armut in all ihren furchtbaren Aus- sklavischen und gesundheitsschädlichen Bedingungen.
prägungen und mit all ihren Konsequenzen für mich das
zentrale Mittel, um ausbeuterische Kinderarbeit dauer- Die Bestrebungen, die Kinderarbeit einzudämmen,
haft zu beenden. haben sich verschiedene internationale Konventionen
und Richtlinien zum Ziel gesetzt. Dazu zählen insbeson-
Einfuhrverbote und Boykotte mögen sich zwar gut an- dere die Konventionen der Internationalen Arbeitsorga-
hören und unser Gewissen hier erleichtern, werden aber nisation – ILO – und deren Konvention 138 zum Verbot
die entsetzliche Ausbeutung von Kindern in Entwick- der Erwerbstätigkeit unter einem bestimmten Mindestal-
lungs- und Schwellenländern nicht stoppen können. Kin- ter und Konvention 182, die die schlimmsten Formen
derarbeit lässt sich leider nicht so einfach und quasi der Kinderarbeit unterbinden soll.
über Nacht beenden. Nur durch ein Bündel von Maßnah-
men wie konsequente Armutsbekämpfung, Bildung, Auf- Daneben hat Deutschland unter anderem die OECD-
bau von Sozialsystemen usw. wird die ausbeuterische Leitsätze für multinationale Unternehmen unterzeich-
Kinderarbeit in den Griff zu bekommen sein. net. Sie stellen für multinationale Unternehmen einen
Ich bin froh, dass das Bundesministerium für wirt- Verhaltenskodex dar. Im Rahmen der Leitsätze haben die
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sich nicht Unternehmen zur Beseitigung der Kinderarbeit beizu-
nur intensiv und konsequent dafür einsetzt, die weltweite tragen. In diesen Tagen wird die Revision der Leitsätze
ausbeuterische Kinderarbeit zurückzudrängen, sondern beraten und abgeschlossen. Die Leitsätze sind wichtig,
auch den sozialen Ursachen, die zur Ausbeutung von leider sind sie zu unverbindlich, überwiegt das Soft Law
Millionen von Kindern führen, den Kampf angesagt hat. mit zu vielen Soll-Vorschriften. Auch die ILO war an der
Das Ministerium packt damit das Problem von der Wur- Überarbeitung der Leitsätze beteiligt, um die Kern-
zel her an, wohingegen die Forderungen in Ihren Anträ- arbeitsnormen zu implementieren, zu denen eben auch
gen nach einem generellen Einfuhrverbot lediglich dazu der Verzicht auf Kinderarbeit zählt.
dienen können, den Konsumenten ein vermeintlich gutes Zum Kampf gegen Kinderarbeit bedarf es auf allen
Gewissen zu suggerieren, ohne dass sich die Situation politischen Ebenen Maßnahmen zur Verwirklichung der
der Kinder verbessert. ILO-Konvention Nr. 182. Deshalb ist ein Individualbe-
schwerdeverfahren auch so wichtig. Recht haben reicht
Christoph Strässer (SPD): eben alleine nicht aus. Rechte müssen auch durchsetz-
Ein „entscheidender Wettbewerbsvorteil“ sei Kinder- bar sein. Hier ist der Menschenrechtsrat weiter gefor-
arbeit wegen der günstigen Löhne. Kinderarbeit sei dert.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13145
Christoph Strässer
(A) Viele Kinder arbeiten in Wirtschaftsbereichen, die arbeit möglich wären. Insofern wollen wir auch ergeb- (C)
Produkte für den Export herstellen. Trotz ansteigenden nisoffen über die beiden Anträge im Ausschuss diskutie-
Verantwortungsbewusstseins bei den Verbrauchern ist ren.
eine Kontrolle bzw. Identifizierung von aus Kinderarbeit
hergestellten Produkten nur eingeschränkt möglich. Gleichwohl möchte ich vorab schon einmal anmer-
Vielfach muss man sich an – einigen wenigen – privaten ken, dass die Anträge – wie so oft – überziehen und nicht
Initiativen orientieren, die entsprechende Informationen die Bemühungen und Erfolge deutscher Menschen-
oder Zertifizierungen zur Verfügung stellen. Das ist rechts- und Entwicklungspolitik aufzeigen. Die Bundes-
nicht ausreichend. Deshalb hat der Bundesrat auf Initia- regierung arbeitet seit 1972 mit der ILO im Rahmen der
tive der SPD-geführten Länder Rheinland-Pfalz, Bre- technischen Hilfe zusammen. Das BMZ hat mit 55 Mil-
men, später hinzutretend auch Berlin und Brandenburg lionen Euro seit Anfang der 90er-Jahre Programme zur
zu Recht eine Initiative zur Verhinderung des Marktzu- Abschaffung der Kinderarbeit unterstützt und gehört zu
gangs von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit den größten Gebern. Die Bundesregierung setzt sich für
gestartet. Insofern ist auch das Anliegen der Anträge, die Verankerung der Kernarbeitsnormen auch in ande-
über die wir heute debattieren, berechtigt, übernehmen ren Übereinkommen ein. In informellen Arbeitskreisen
sie doch wichtige Passagen aus der Entschließung des zwischen WTO und ILO wird die Möglichkeit einer Ein-
Bundesrates. beziehung von Sozialstandards besprochen. Aber auch
auf kommunaler Ebene gibt es immer häufiger Bestre-
Die wichtigste Ursache von Kinderarbeit ist Armut. bungen, Produkte aus Kinderarbeit zu meiden. Mit der
Das wichtigste Instrument ist deshalb die Armuts- Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-
bekämpfung in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig kung 2009 können öffentliche Auftraggeber an Auftrag-
gehört dazu die Förderung der Schul- und Berufsausbil- nehmer und bei Ausschreibungen zusätzliche Anforde-
dung. In diesem Zusammenhang gibt es in einigen Län- rungen stellen, die nicht nur die Wirtschaftlichkeit des
dern, wie zum Beispiel Mexiko und Brasilien, Sozialpro- Angebots, sondern auch ethische und soziale Aspekte
gramme, die Familien Sozialleistungen gewähren, wenn betreffen. Der öffentliche Auftraggeber kann die Vorga-
Kinder Schulen besuchen. Die Programme sind erfolg- ben der Einhaltung der ILO-Normen auf die gesamte
reich und sollten auf weitere Länder übertragen werden. Lieferkette bis ins Ursprungsland erstrecken. Trotz be-
rechtigter kritischer Betrachtung der Situation beleuch-
Gleichzeitig muss die Bewusstseinsbildung und Ver- tet der Antrag „Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit
antwortung in Wirtschaft und Gesellschaft der Industrie- bekämpfen“ all diese Bemühungen nicht. Darauf wird in
länder verstärkt werden. Wir begrüßen privatwirtschaft- den Ausschussberatungen noch einzugehen sein.
liche Initiativen fair gehandelter Produkte. Verbraucher
(B) (D)
sollten in die Lage versetzt werden, bewusste Kaufent-
Karin Roth (Esslingen) (SPD):
scheidungen treffen zu können. Das erfordert verstärkt
die Kennzeichnung gehandelter Waren durch die Wirt- Am 12. Juni 2011 ist der Internationale Tag gegen
schaft. In einigen Bereichen wie im Kaffee-, Kakao- und Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass wir heute über
Textilsektor gibt es bereits einige Verhaltenskodizes, die dieses Thema im Deutschen Bundestag diskutieren. Um
sukzessive ausgebaut werden müssen. Komplementär es deutlich zu sagen: Kinderarbeit ist ein Verbrechen
kann man über Importverbote nachdenken. Gleich vor- und nichts anderes als eine besonders subtile Form von
weg sollte man aber wissen, dass nach bisherigen Erfah- Gewalt gegen Kinder.
rungen Importverbote alleine nicht dazu beigetragen
haben, Kinderarbeit zu verringern. Entsprechende Ge- Mit den ILO-Konventionen 138 und 182 wird Kinder-
setze in den USA haben wenig Wirkung gezeigt. Es ist arbeit deshalb weltweit geächtet. Auch Deutschland hat
dabei zu bedenken, dass ein Boykott auch dazu führen diese Konventionen ratifiziert und damit nicht nur natio-
kann, dass die betroffenen Familien noch ärmer werden, nale Verantwortung übernommen, sondern ist damit
die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder in Pro- auch die Verpflichtung eingegangen, sich weltweit für
duktionsbereichen, die keine Waren für den Export die Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Dennoch
herstellen, weiter arbeiten müssen. Deshalb sollten Im- arbeiten nach aktuellen Schätzungen der Internationa-
portverbote immer durch Sozialprogramme begleitet len Arbeitsorganisation, ILO, weltweit 215 Millionen
werden. Das Problem darf nicht nur verlagert werden. Kinder Tag für Tag – davon rund 115 Millionen unter ge-
fährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. 53 Millio-
Gleichwohl hat die EU bisher keine Importverbote nen dieser Kinder sind jünger als 14 Jahre.
gegenüber Drittstaaten, die Produkte aus Kinderarbeit
exportieren, erwogen. Die Niederlande hatten 2008 ei- Besonders schlimme Formen der Kinderarbeit gibt es
nen Vorstoß unternommen, der abgelehnt wurde. WTO- beispielsweise im Bereich der Natursteinherstellung –
rechtliche Bedenken spielen dabei eine große Rolle. Ein vor allem in Indien. Die so hergestellten Steinprodukte
solches Verbot könnte gegen das Allgemeine Zoll- und finden sich dann in unserem Alltag wieder, sei es in den
Handelsabkommen – GATT – verstoßen. Eine Änderung Fußgängerzonen oder als Grabsteine auf den Fried-
des WTO-Regelwerks ist wohl nicht sonderlich aus- höfen. Klar: Niemand möchte auf Pflastersteinen gehen,
sichtsreich, da die entsprechenden Exportländer dem die in ausbeuterischer Kinderarbeit in Indien oder
nicht zustimmen würden. Gleichwohl sollte die Bundes- China zugehauen wurden. Trotzdem passiert dies Tag
regierung ergebnisoffen prüfen, ob und wie Marktzu- für Tag überall im Land. Das müsste nicht sein, wenn
gangssperren zur Bekämpfung ausbeuterischer Kinder- sich die öffentlichen Aufraggeber ihrer zentralen Markt-
13146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Karin Roth (Esslingen)


(A) position bewusst wären und diese auch entsprechend ist. Deshalb sollte das Vergaberecht hier eindeutige Re- (C)
nutzen würden. gelungen vorsehen, auch mit dem Hinweis, dass die
ILO-Konventionen 138 und 182 dazu verpflichten.
Die Ursachen für Kinderarbeit gerade in Indien,
Bangladesch, Nepal und vielen anderen asiatischen In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichtige
Ländern sind jedoch vielschichtig und beruhen wesent- gemeinsame Initiative der damaligen SPD-Minister
lich auf dem dortigen Kastenwesen und der existenziel- Heidemarie Wieczorek-Zeul und Olaf Scholz mit dem
len Armut der Familien in der untersten Kaste. Oft wer- Deutschen Städtetag vom September 2009 erinnern. Mit
den die Kinder aus Armutsfamilien zur Kinderarbeit einem Leitfaden für die „Berücksichtigung sozialer Be-
geschickt, damit die Familie überhaupt überleben kann. lange im Vergaberecht“ wurden die Einkäufer vor Ort
Es entsteht ein Teufelskreis der Armut. Den arbeitenden praxisnah unterstützt. Die schwarz-gelbe Bundesregie-
Kindern wird Schulbildung vorenthalten und sie erlei- rung lässt leider die Kommunen in dieser Frage alleine.
den durch die schwere Arbeit körperliche und geistige Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in unser Nach-
Schäden, mit der Folge, dass sich ihre Chancen, ihren barland. So werden die Niederlande bis zum Jahr 2012
Lebensunterhalt später durch reguläre Arbeit zu bestrei- die gesamte öffentliche Beschaffung nach sozialen und
ten, drastisch verschlechtern und sie in Armut verhar- ökologischen Gesichtspunkten ausrichten.
ren.
Ich fordere deshalb, dass die Bundesregierung end-
Ich erwarte vom Schwellenland Indien, dass es bereit lich Vorschläge auf den Tisch legt, damit soziale und
ist, die Kinderarbeit im Land zu unterbinden, indem es ökologische Mindeststandards bei der Vergabe ange-
die Kinder in die Schulen schickt und die Dumpinglöhne wendet werden. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
verhindert. Auch in Deutschland und in Europa können durch Bund, Länder und Kommunen ist öffentlich zu ma-
wir dazu beitragen, die Kinderarbeit zu bekämpfen. Die chen, ob die ILO-Konventionen zur Bekämpfung von
öffentlichen Auftraggeber von Bund, Ländern und Kom- Kinderarbeit im Ursprungsland und entlang der Liefer-
munen sind in der Pflicht, alles zu tun, um indirekt die kette eingehalten wurden. Ich fordere die Bundesregie-
Arbeit von Kindern zu vermeiden. Nicht nur die Anbie- rung auf, sich dafür einzusetzen, dass die ILO-Konven-
terseite, sondern vor allem die Nachfrage nach Gütern tion 182 auch von den noch fehlenden zehn Staaten,
ist entscheidend. darunter vor allem Indien, ratifiziert wird.
Jahr für Jahr gibt die öffentliche Hand in Deutsch- Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung deutlich
land rund 360 Milliarden Euro für die Beschaffung von stärker als bisher dafür einsetzt, dass die ILO-Kern-
Produkten und Dienstleistungen aus. Das entspricht arbeitsnormen und damit auch die ILO-Konventionen
(B) etwa 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Über die 138 und 182 zur Bekämpfung der Kinderarbeit im Rah- (D)
Hälfte davon entfällt auf Städte, Gemeinde und Land- men der Doha-Runde der Welthandelsorganisation,
kreise, was diese zum bedeutendsten öffentlichen Auf- WTO, umgesetzt werden. Ich erwarte zudem, dass die
traggeber macht. Sie bilden damit eine enorme Nachfra- Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission in
gemacht. Als Großverbraucher können sie ihre allen Verhandlungen zu internationalen Handelsabkom-
Marktstellung zu einer Umorientierung nutzen, indem men – gerade aktuell mit Indien – nachdrücklich auf der
sie als verantwortungsvolle Akteure agieren, die soziale Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards besteht.
und ökologische Anliegen in öffentlichen Ausschreibun- Dies wäre ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der
gen integrieren. Kinderarbeit in der indischen Natursteinindustrie.
Die Reform des deutschen Vergaberechts hat größere
Das Europäische Parlament hat bereits wichtige Vor-
Spielräume geschaffen, um soziale und ökologische An-
schläge zu mehr Fairness in der künftigen EU-Han-
forderungen in öffentliche Ausschreibungen zu integrie-
delspolitik gemacht. Dazu hatte auch die SPD-
ren – ein wichtiger Schritt für den Umwelt- und Klima-
Bundestagsfraktion im Ausschuss für wirtschaftliche
schutz und eine soziale Gestaltung der Globalisierung.
Zusammenarbeit und Entwicklung einen Antrag einge-
Es geht darum, Rechtssicherheit für öffentliche Auftrag-
bracht, mit dem die Bundesregierung und die EU-Kom-
geber zu schaffen, die keine Gegenstände einkaufen wol-
mission dabei unterstützt werden sollten. Diesen Antrag
len, die beispielsweise von Kindern unter ausbeuteri-
hat die schwarz-gelbe Koalition – vermutlich aus rein
schen Bedingungen hergestellt wurden.
parteitaktischem Kalkül – leider abgelehnt.
Die Berücksichtigung sozialer, ökologischer und in-
novativer Kriterien ist bei der Neufassung der öffent- Ich darf daran erinnern, dass die Bundesregierung
lichen Beschaffungsordnung allerdings nur als „Kann- vor zwei Wochen, am 25. Mai 2011, die neuen OECD-
Vorschrift“ in das Vergaberecht aufgenommen worden. Leitlinien für weltweite unternehmerische Verantwor-
Umso wichtiger ist es jetzt, darauf hinzuwirken, dass tung, bei denen es genau um diese Themen – die Sorg-
diese Kann-Kriterien in der Vergabepraxis auch wirk- faltspflicht entlang der Lieferkette, die Bekämpfung von
lich angewandt werden. Kinderarbeit und die Wahrung der Menschenrechte –
geht, mit verhandelt und unterzeichnet hat. Und ich gehe
Die Praxis sieht leider anders aus: Allzu oft bleiben davon aus, dass die Standards, die die Bundesregierung
die sozialen und ökologischen Folgen des öffentlichen für die Privatwirtschaft setzt, erst recht für die öffent-
Einkaufs in den Produktionsketten außer Betracht, so- liche Hand und deren Vergabe- und Beschaffungsverfah-
lange das entscheidende Kriterium das billigste Angebot ren gelten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13147
Karin Roth (Esslingen)
(A) Transparenz ist ein zentraler Schlüssel für faire Ar- Da wir uns an unseren Taten, nicht an unseren Worten (C)
beitsbedingungen und Voraussetzung für die Bekämp- messen lassen wollen, haben wir im März letzten Jahres
fung der weltweiten Kinderarbeit. Wir brauchen endlich einen eigenen Antrag mit dem Titel „Menschenrechte
ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte weltweit schützen“ verabschiedet. Unter anderem haben
Produktions- und Lieferkette. Vorbild kann die interna- wir die Bundesregierung darin aufgefordert, sich für die
tionale Initiative für Transparenz in der Rohstoffindus- Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Diesem An-
trie, EITI, sein. Dies schafft mehr Sicherheit für Unter- liegen kommt sie erfolgreich nach, indem sie die Ursa-
nehmen und Beschäftigte und sorgt für mehr Vertrauen chen der Kinderarbeit, die vor allen Dingen in der Ar-
bei Endabnehmern und Verbrauchern. Hier kann mut der Eltern begründet liegen, entschieden bekämpft.
Deutschland weltweit eine wichtige Vorreiterrolle ein- In ihren Vorhaben der staatlichen bilateralen Entwick-
nehmen. Dabei sollte die Kompetenz der Durchfüh- lungszusammenarbeit beispielsweise bekämpft die deut-
rungsorganisation für Entwicklungspolitik GIZ genutzt sche Entwicklungszusammenarbeit die Kinderarbeit, in-
werden. Diese Investition lohnt sich allemal und könnte dem sie wirtschaftliche Alternativen für Kinder und ihre
von deutschen Unternehmen in allen Branchen genutzt Familien ermöglicht. Ebenfalls wichtig ist die Unterstüt-
werden. zung multilateraler Initiativen und die partnerschaftli-
che Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Im Rah-
men des Public-Privat-Partnership-Programms fördert
Pascal Kober (FDP):
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Unterneh-
Ohne Zweifel ist Kinderarbeit ein Problem von höchs- men bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhal-
ter menschenrechtlicher Brisanz. Häufig findet sie un- tenskodizes, so etwa im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor.
sichtbar statt, wird also statistisch nur unzureichend er- Neben zahlreichen anderen Aspekten bezwecken diese
fasst. Ihr Ausmaß muss daher geschätzt werden. Wie Kodizes immer auch die Vermeidung von Kinderarbeit.
Frau Dr. Schmieg vom Bundesministerium für wirt- Außerdem fördert die Bundesregierung aktiv den fairen
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Aus- Handel, denn dieser garantiert eine Herstellung ohne
schuss für Menschenrechte berichtete, gibt die ILO, die ausbeuterische Arbeit und eine gerechte Entlohnung der
Internationale Arbeitsorganisation, an, dass weltweit Produzenten in Entwicklungsländern. Erst ein gerechter
215 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren arbei- Lohn oder wirtschaftliche Alternativen für die von Kin-
ten. Nach Schätzungen von UNICEF sind es sogar derarbeit betroffenen Familien ermöglicht es diesen
218 Millionen Kinder. Laut der ILO sind 115 Millionen Menschen, ihre Kinder zur Schule zu schicken und ein
Kinder gezwungen, einer gefährlichen oder einer ihre Leben ohne Armut zu führen. Ferner setzt sich die Bun-
Entwicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Mil- desregierung in ihrer internationalen Zusammenarbeit
(B) lionen Kinder müssen gar Zwangsarbeit leisten oder be- für eine Verankerung der Kernarbeitsnormen, in erster (D)
finden sich aufgrund von Schuldknechtschaft in einer Linie der Übereinkommen 138 und 182, auch in der Ar-
modernen Form von Sklaverei, um die Schulden ihrer El- beit anderer internationaler Organisationen ein. Auf die
tern abzuarbeiten. Vor allem das subsaharische Afrika Einhaltung dieser ILO-Kernarbeitsnormen wird auch
ist von Kinderarbeit betroffen – dort muss jedes dritte bei Projekten der bilateralen Entwicklungszusammenar-
Kind arbeiten. beit gepocht.
Bundesentwicklungsminister Niebel hat Recht, wenn So sehr ich Ihr Anliegen, liebe Kolleginnen und Kol-
er betont, dass man ein Land nicht von außen entwickeln legen der Linken, unterstütze, so muss ich dennoch fest-
kann. Nachhaltige Entwicklung gelingt nur, wenn sich stellen, dass Ihre Anträge dem bestehenden Problem der
ein Land selbst entwickelt. Natürlich wissen wir alle, Kinderarbeit nicht gerecht werden. Denn ein Großteil
dass ein gutes Bildungsniveau hierfür unabdingbar ist. der darin enthaltenen Forderungen werden, wie soeben
Wenn wir uns vor Augen führen, wie viele Millionen Kin- dargelegt, seitens der Bundesregierung bereits erfüllt
der tagtäglich einer Arbeit nachgehen müssen, anstatt und sind damit obsolet. Andere Forderungen wiederum
eine Schule zu besuchen, dann werden auch die gesamt- zeugen davon, dass Sie das komplexe Problem der Kin-
gesellschaftlichen Folgen von Kinderarbeit deutlich. derarbeit offensichtlich noch nicht ganz erfasst haben.
Denn Bildung braucht Zeit, die man während der Arbeit Daher greifen Ihre Konzepte zu kurz, wenn es darum
nicht hat. Und ohne Bildung keine Entwicklung. geht, Kinderarbeit wirkungsvoll zu bekämpfen. Eine Ana-
lyse der Hintergründe von Kinderarbeit zeigt auf, dass
Das in den vorliegenden Anträgen der Linken ver- Verbote allein nicht weiterführen. Stattdessen müssen wir
folgte Anliegen, Kinderarbeit zu bekämpfen und den die Gesamtsituation der Familien berücksichtigen und
Handel mit Produkten, die unter solch unmenschlichen mehrere Rahmenbedingungen gleichzeitig angehen. Wie
Bedingungen hergestellt worden sind, zu unterbinden, ich soeben dargelegt habe, ist die Bundesregierung vor
ist natürlich richtig. Selbstverständlich verfolgt auch die allem in ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
FDP dieses Ziel. Auf Seite 126 unseres Koalitionsvertra- bereits dabei, genau dies umzusetzen.
ges verpflichten wir uns dazu, Kinderarbeit zu ächten
und international zu verbieten. Der Vertrag bleibt je- Ich möchte Ihnen noch deutlich machen, dass es auch
doch dort nicht stehen, sondern nennt auch die Mittel, ohne das von Ihnen geforderte gesetzliche Verbot von
mit denen wir dieses Ziel erreichen wollen. Dazu zählen Steinprodukten aus Kinderarbeit schon heute möglich
Zertifizierungsmaßnahmen und Initiativen verantwor- ist, etwas dagegen zu tun. Die Stadt Reutlingen geht hier
tungsvoller Unternehmensführung. mit gutem Beispiel voran. Auf Beschluss des Verwal-

Zu Protokoll gegebene Reden


13148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

Pascal Kober
(A) tungsausschusses verzichtet sie seit einigen Jahren bei Umsetzung ergriffen werden. Den Worten müssen auch (C)
öffentlichen Anschaffungen auf alle Produkte, bei deren international wirksame Taten folgen. Kinderhandels-
Herstellung ausbeuterische Kinderarbeit involviert war. ringe nach und in Deutschland müssen zerschlagen und
Das betrifft beispielsweise Sportartikel wie Fußbälle, die Täter müssen härter bestraft werden.
aber auch Holzprodukte und eben auch Pflastersteine.
Die Linke fordert, vor allem die Ursachen für ausbeu-
Derzeit ist Reutlingen bestrebt, vor allem die interkom-
terische Kinderarbeit stärker zu bekämpfen. Dies bedeu-
munale Kooperation bei öffentlichen Ausschreibungen
tet, deutlich mehr Mittel zur weltweiten Armutsbekämp-
und Beschaffungen zu vertiefen. Dies würde einen noch
fung zur Verfügung zu stellen. Deutschland hat die
größeren Anreiz für die Anbieter darstellen, im Herstel-
vereinbarte Zusage, 0,7 Prozent seines Bruttoinlands-
lungsprozess auf ausbeuterische Kinderarbeit zu ver-
produkts für die Entwicklungszusammenarbeit auszuge-
zichten. Anhand hoffnungsvoller Beispiele wie der Stadt
ben, bis heute nicht eingehalten. Dies ist schon unter
Reutlingen können wir sehen, dass wir auch ohne Ihre
Rot-Grün und Schwarz-Rot so gewesen und hat sich un-
Anträge gegen Kinderarbeit vorgehen können.
ter Schwarz-Gelb nicht geändert. Deutschland muss
endlich seine internationalen Verpflichtungen erfüllen.
Katrin Werner (DIE LINKE): Sonntagsreden eines vermeintlich mitfühlenden Libera-
Kinder sind unsere Zukunft und bedürfen des beson- lismus sind dafür kein Ersatz!
deren Schutzes. Die Internationale Arbeitsorganisation,
Die Linke unterstützt den mehrheitlichen Beschluss
ILO, schätzt, dass weltweit zwischen 126 und 165 Milli-
des Bundesrates vom 9. Juli 2010, den Marktzugang von
onen Kinder unter sklavenähnlichen Bedingungen scho-
Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhin-
nungslos ausgebeutet werden. Die Länder des Südens
dern. Die Bundesregierung muss sich in der WTO und
sind besonders stark betroffen. Die Ursache ist meist
auf EU-Ebene umgehend für ein diesbezügliches Im-
Massenarmut, die dazu führt, dass Eltern die Arbeits-
portverbot einsetzen. Falls dies nicht gelingt, müssen zu-
kraft ihrer Kinder verkaufen müssen. Die Kinder schuf-
mindest künftig die Herstellungsbedingungen von im-
ten oftmals unter extrem ausbeuterischen Bedingungen
portierten Gütern lückenlos dokumentiert werden. Pro-
zu Hungerlöhnen oder unentgeltlich in der Plantagen-
dukte, die durch ausbeuterische Kinderarbeit gewonnen
wirtschaft, in Steinbrüchen, in der Sexindustrie oder in
werden, müssen von den Verbraucherinnen und Ver-
reichen Privathaushalten, um die Schulden ihrer Eltern
brauchern auch klar als solche erkannt werden können.
abzuarbeiten und den Lebensunterhalt für ihre Familien
Sie sollen wissen, unter welchen Bedingungen Produkte
zu verdienen. Das ist nichts anderes als Sklaverei. In-
hergestellt werden, bevor sie auf den EU-Binnenmarkt
folge der globalen Waren- und Handelsströme gelangen
gelangen. Unseren Konsumentinnen und Konsumenten
(B) allerdings zahlreiche Produkte, die mittels ausbeuteri- muss bewusst werden, ob die schicke Goldkette mit den (D)
scher Kinderarbeit hergestellt werden, auch in die EU
kleinen Händen von Kindern gefertigt wurde. In Burkina
und die Bundesrepublik. Allein zwei Drittel aller in
Faso arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in
Deutschland aufgestellten Grabsteine stammen aus In-
Goldminen. Rund 70 Prozent sind unter 15 Jahre alt;
dien. Dort arbeiten circa 150 000 Kinder in häufig le-
schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwa-
bensgefährlichen Steinbrüchen.
schen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Unsere
Importgeschäfte dieser Art sind ein Skandal, der un- Gesellschaft stigmatisiert bislang meist die Schwächsten
verzüglich beendet werden muss. Wir können unsere To- und betreibt gern Sündenbocksuche. Stattdessen gehö-
ten nicht mit Grabsteinen ehren, deren Herstellung ren die Verursacher, profitgierige Großkonzerne und de-
sämtlichen moralisch-ethischen Standards widerspricht ren Zwischenhändler, an den Pranger. Sie fördern mit
und das Leben von Kindern gefährdet. Diese ausbeuteri- ihrem Preisdumping ausbeuterische Kinderarbeit in den
sche und schwere körperliche Arbeit führt häufig zu ärmsten Ländern. Dem kann mit einer Kennzeichnungs-
Knochenbrüchen an Armen und Beinen, Taubheit, pflicht ein Riegel vorgeschoben werden. Ich bin mir si-
Blindheit, Atemwegsproblemen und Hauterkrankungen cher, dass sich das Kaufverhalten der Bevölkerung da-
oder schlimmstenfalls zum Tod. durch ändern wird. Wenn ausbeuterische Kinderarbeit
durch die Verbraucherinnen und Verbraucher geächtet
Ebenso wenig dürfen wir verdrängen, dass auch bei wird, ist sie für Firmen auch nicht mehr lukrativ. Erfah-
uns Kinder unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten rungen aus anderen Bereichen wie mit Fair-Trade-Pro-
müssen. Ich denke hierbei insbesondere an Kinder, die dukten oder Zertifikaten über eine ökologische Anbau-
von skrupellosen Menschenfängern als Sexsklavinnen weise belegen dies.
und Sexsklaven nach Deutschland verschleppt werden.
Es geht aber nicht nur darum, mit effektiveren Pro-
Die Bundesrepublik hat bereits im Jahr 2002 die ILO- duktions- und Handelskontrollen zu verhindern, dass
Konvention 182 über das Verbot der schlimmsten For- künftig Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu
men von Kinderarbeit ratifiziert. Dies verlangt ein akti- uns gelangen. Wir müssen uns auch mit den in Deutsch-
ves Vorgehen der Bundesregierung gegen Arbeitsver- land bereits vorhandenen Produkten auseinandersetzen.
sklavung und Schuldknechtschaft von Kindern, gegen Dies betrifft konkret indische Grabsteine auf deutschen
Kinderhandel, gegen Prostitution und Kinderpornogra- Friedhöfen, aber auch Natursteine oder Fensterplatten
fie und gegen Kindersoldaten. Allerdings nützt das beste aus Marmor für den Eigenheimbau, die nachweislich
internationale Abkommen zum Schutz von Kindern durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden.
nichts, solange nicht effektive Maßnahmen zu seiner Friedhofssatzungen von Kommunen in Bayern und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13149
Katrin Werner
(A) Rheinland-Pfalz, die das Aufstellen betreffender Grab- dingbar. Bildung stellt das Zentrum jeder Präventions- (C)
steine verbieten, wurden nach erfolgreichen Klagen von strategie dar; denn nur Bildung wirkt nachhaltig. Es ist
Steinmetzbetrieben für unwirksam erklärt. Dies zeigt, das zentrale Mittel, um den Teufelskreis der Armut zu
dass das Problem auf kommunalpolitischer Ebene nicht durchbrechen und Kindern Alternativen und Leben-
gelöst werden kann und der nationale Gesetzgeber ge- schancen aufzuweisen. Zudem verhindert kostenlose Bil-
fordert ist. Die Bundesregierung muss daher sofort ein dung, dass Kinder dazu genötigt werden, zu arbeiten,
gesetzliches Verbot für die Einfuhr, den Handel und die um ihren Schulbesuch oder den ihrer Geschwister zu fi-
Verwendung von Steinprodukten aus ausbeuterischer nanzieren.
Kinderarbeit erlassen. Der weltweite Schutz der Kinder-
rechte muss Vorrang haben vor den Profitinteressen von Der Zugang zu Bildung, das möchte ich noch einmal
Unternehmen. Ich denke, hierüber sollte über Fraktions- ausdrücklich betonen, sollte jedem Kind, gleich welcher
grenzen hinweg Einigkeit bestehen. Nationalität, welcher sozialen Herkunft oder welchen Ge-
schlechts, ohne Barrieren möglich sein. Als Basis für er-
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): folgreiche Prävention gilt die Unterstützung der Familien
durch Stipendien für den Schulbesuch und Kleinkredite.
Wir begehen am 12. Juni den Internationalen Tag ge-
Auch die erfolgreiche Entlassung von Kindern aus aus-
gen Kinderarbeit, und ich muss erneut mit Erschrecken
feststellen, dass die Zahl der arbeitenden Kinder im ver- beuterischen Arbeitsverhältnissen bedarf unterstützen-
gangenen Jahrzehnt, entgegen den Bemühungen der in- der Maßnahmen, um den Wegfall des Einkommens abzu-
ternationalen Gemeinschaft, gestiegen ist. Dass Kinder- federn. Eine erfolgreiche Prävention hilft nicht nur,
arbeit immer noch ein massives internationales Problem Kinderarbeit auszumerzen, sondern wirkt sich laut ILO
darstellt, darüber besteht offensichtlich ein breiter Kon- auch positiv auf die Entwicklungsperspektiven des jewei-
sens. ligen Landes aus.

Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, schätzt Nationale Gesetze bilden das Rückgrat jeder Maß-
die Zahl der arbeitenden Kinder zwischen 5 und 14 Jah- nahme gegen Kinderarbeit. Arbeit von Kindern unter
ren auf circa 215 Millionen weltweit. Dies ist eine Stei- zwölf Jahren muss generell verboten sein. Wir dürfen die
gerung von 19 Millionen Kindern in nur einem Jahr- vielen staatlichen Sonderregelungen, trotz Ratifizierung
zehnt. Das Verbot von Kinderarbeit alleine hat seine der ILO-Konvention 138, beim Mindestalter für Beschäf-
Wirkung somit verfehlt. Daher begrüße ich den Antrag tigung nicht akzeptieren. Außerdem sind wir verpflichtet,
der Fraktion Die Linke. Jedoch greift dieser zu kurz. Es die Zivilgesellschaft bei ihrer Arbeit gegen Kinderarbeit
bedarf wesentlich mehr als einem reinen Importverbot zu unterstützen. Diese soziale Mobilisierung ist notwen-
(B) für Produkte, die nachweislich durch Kinderarbeit her- dig, um nicht nur die Regierungen, sondern auch die Be- (D)
gestellt wurden. Hierdurch alleine lässt sich das Pro- völkerung für den Kampf gegen Kinderarbeit zu gewin-
blem nicht effektiv bekämpfen. Denn laut UNICEF sind nen. Zur Absicherung all dieser Maßnahmen bedarf es
nur circa 5 Prozent der arbeitenden Kinder in der Ex- internationaler Abkommen. Wir müssen dafür sorgen,
portindustrie tätig. Heute weiß man, dass das Verbot von dass die Prinzipien der UN- und ILO-Konventionen end-
Kinderarbeit oder Handelsboykotte ihre Wirkung ver- lich Realität werden. Internationale CSR-Richtlinien für
fehlt haben. Entgegen allen Erwartungen hat sich die die Wirtschaft sind eine weitere Voraussetzung für die
Zahl der ausgebeuteten Kinder nicht verringert. Eine Eindämmung von Kinderarbeit.
politische Intervention ohne ein dazugehöriges Maß-
nahmenpaket zur Beseitigung der Ursachen von Kinder- Es liegt an uns, die nationalen Bemühungen der Län-
arbeit in den Ursprungsländern ist unzureichend oder der zu unterstützen. Ich plädiere dafür, dass wir die
gar unverantwortlich. Länder des Nordens zur Bereitstellung von Entwick-
lungshilfegeldern auf Grundlage der 20/20-Initiative
Am Beispiel der UNICEF-Studie aus Nepal kann man
verpflichten, zur Sicherung der Grundbedürfnisse armer
erkennen, wohin eine undurchdachte politische Maß-
Kinder und deren Familien beizutragen. In diesem Punkt
nahme führen kann. Dort führte der weltweite Handels-
boykott gegen geknüpfte Teppiche dazu, dass alle Kin- weist auch Deutschland noch ein deutliches Optimie-
der, zumeist Mädchen, entlassen wurden. Viele dieser rungspotenzial auf. Darum sollten wir dafür sorgen, dass
jungen Mädchen wurden in die Prostitution gedrängt. all diese Maßnahmen koordiniert durchgeführt werden,
Dieses schreckliche Beispiel macht deutlich, wie wichtig um einen Erfolg im Kampf gegen die Kinderarbeit zu ga-
ein Maßnahmenpaket mit verschiedenen Vorgehenswei- rantieren. Diese geschickte Kombination aus selektiven
sen ist, um Kinderarbeit effektiv zu bekämpfen. Denn die Verboten und staatlichen Familienhilfen bewirkt, dass
in einem Land bestehende Armut und die dadurch er- eine Volkswirtschaft, die auf Kinderarbeit setzt, nachhal-
möglichte Ausbeutung ist die eigentliche Wurzel des tig verändert wird.
Problems. Zu jeder umfassenden Strategie gegen Kin-
Die Ausrottung der Kinderarbeit ist ein langfristiges
derarbeit gehören daher die drei Säulen von Prävention,
Entlassung aus der unwürdigen Arbeit und Rehabilita- internationales Ziel, welches von uns konkrete Maßnah-
tion. men erfordert, die weit über die übliche Symbolpolitik
hinausreichen müssen. Ich fordere die Bundesregierung
Das Recht auf kostenlose Bildung nach Art. 28 der daher auf, sich international für eine Verbesserung der
Kinderrechtskonvention ist für die Prävention unab- Situation einzusetzen.
13150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (C)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf destages auf morgen, Freitag, den 10. Juni 2011,
den Drucksachen 17/5759 und 17/5803 an die in der Ta- 8.30 Uhr, ein.
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Sitzung ist geschlossen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen. (Schluss: 20.52 Uhr)
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13151

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Barrierefreier Tou-
entschuldigt bis rismus für alle (Tagesordnungspunkt 12)
Abgeordnete(r) einschließlich

Marlene Mortler (CDU/CSU): Barrierefreiheit ist


Dr. Danckert, Peter SPD 09.06.2011 eine Grundvoraussetzung für die selbstbestimmte und
gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinde-
Friedhoff, Paul K. FDP 09.06.2011 rungen am gesellschaftlichen Leben. Diesen Satz kön-
nen wir bestimmt alle dick unterstreichen. Und trotz-
Gleicke, Iris SPD 09.06.2011 dem: Barrierefreies Reisen für alle ist und bleibt unser
großes, noch unerreichtes Ziel. Dazu gehört die Zugäng-
Goldmann, Hans- FDP 09.06.2011 lichkeit von Gebäuden, öffentlichen Einrichtungen und
Michael Verkehrsmitteln. Denn wir wollen, dass möglichst alle
Menschen selbstständig reisen können. Wer verbirgt sich
Gruß, Miriam FDP 09.06.2011 hinter „alle“? Wir meinen Gehbehinderte und Rollstuhl-
fahrer, Gehörlose, Sehbehinderte, Blinde und Menschen
Gunkel, Wolfgang SPD 09.06.2011
mit anderen Sinneseinschränkungen oder mit Lern- oder
Höger, Inge DIE LINKE 09.06.2011 geistiger Behinderung.
Barrierefreie Angebote kommen nicht nur Menschen
Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ 09.06.2011 mit dauerhaften Behinderungen zugute, sondern ebenso
DIE GRÜNEN Familien mit kleinen Kindern und Kinderwagen, Men-
schen mit vorübergehend eingeschränkter Mobilität so-
Kopp, Gudrun FDP 09.06.2011 wie älteren Menschen. Angesichts des demografischen
Wandels wird dieser Aspekt noch weiter an Bedeutung
Kramme, Anette SPD 09.06.2011
gewinnen. Denn der Anteil älterer Menschen in unserem
(B) Kressl, Nicolette SPD 09.06.2011 Land wird zahlenmäßig stark wachsen. (D)
Viele Tourismusanbieter und Verkehrsunternehmen
Dr. Lotter, Erwin FDP 09.06.2011 haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend auf mo-
bilitätseingeschränkte Gäste eingestellt und beispielhafte
Möller, Kornelia DIE LINKE 09.06.2011 Angebote geschaffen. Viele Tourismusverbände und die
Deutsche Zentrale für Tourismus weisen auf solche An-
Nahles, Andrea SPD 09.06.2011 gebote hin. Das heißt wir beginnen nicht bei „null“.
Nink, Manfred SPD 09.06.2011 Eine gute Arbeit leistet auch die Nationale Koordinie-
rungsstelle Tourismus für alle, NatKo. Sie legt großen
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 09.06.2011 Wert auf eine durchgehend barrierefreie touristische Ser-
DIE GRÜNEN vicekette: von der Information und Buchung über die
Anreise, Unterkunft bis zu Freizeit- und Kulturangebo-
Özoğuz, Aydan SPD 09.06.2011 ten am Zielort. Gerade für Menschen mit Behinderungen
ist eine detaillierte Reiseplanung mit verlässlichen Infor-
Reichenbach, Gerold SPD 09.06.2011 mationen unverzichtbar. Wir setzen uns dafür ein, dass
die Bundesregierung Projekte der NatKo auch weiterhin
Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 09.06.2011
fördert und die NatKo bei ihrer Arbeit intensiv unter-
Schlecht, Michael DIE LINKE 09.06.2011 stützt und begleitet.
Besonders hervorheben möchte ich auch die Arbeits-
Thönnes, Franz SPD 09.06.2011 gemeinschaft Barrierefreie Reiseziele in Deutschland, ein
Verbund von Städten und Tourismusregionen, die ihre
Widmann-Mauz, CDU/CSU 09.06.2011 Angebote gemeinsam vermarkten und sich mit ihren Er-
Annette fahrungen für die Weiterentwicklung des barrierefreien
Tourismus in ganz Deutschland einsetzen. Auch meine
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 09.06.2011 Heimat, das Fränkische Seenland, ist eine dieser Regio-
nen mit Vorbildcharakter, ja sie gehört sogar zu den sechs
Gründungsmitgliedern der Arbeitsgemeinschaft.
Vielerorts ist die Zugänglichkeit von Freizeit- und
Kultureinrichtungen deutlich verbessert worden. Auch
13152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Nationalparks und Naturparke richten sich auf behinderte Umbau der Bahnhöfe in meinem Wahlkreis eingesetzt. (C)
Gäste ein. Dennoch haben Menschen mit Behinderungen Am Ende zählen aber nur das Ganze und die Realität.
es nach wie vor nicht einfach, wenn sie ihre Reisen planen
und durchführen. Trotz vielfältiger Investitionen und In- Dies gilt auch für die Forderung, dass in allen Zügen
formationen gibt es immer noch Handlungsbedarf bei den eine fahrzeuggebundene Ein- und Ausstiegstechnik vor-
einzelnen Verkehrsträgern, touristischen Leistungsanbie- handen sein soll. Das teile ich. Eine Umrüstung aller jet-
tern, im Gastgewerbe, bei der Vernetzung, Koordinierung zigen Züge ist aber finanziell nicht zu stemmen. Bei den
und Vermarktung bestehender Angebote und trotz geziel- nächsten Zuggenerationen, die voraussichtlich in weni-
ter Qualifizierung auch noch bei Mitarbeiterinnen und gen Jahren zum Einsatz kommen werden, sind solche Ein-
Mitarbeitern. stiegshilfen dann ganz selbstverständlich. Das ist doch
auch eine gute Botschaft.
Die Bundesregierung hat sich in ihren Tourismuspoli-
Seit dem März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskon-
tischen Leitlinien im Dezember 2008 zum umfassenden
vention auch für Deutschland verbindlich. Diese Konven-
Ausbau der Barrierefreiheit bekannt und in den letzten
tion und der zur Umsetzung von der Bundesregierung
Jahren auch mehrere Untersuchungen in Auftrag gege-
entwickelte nationale Aktionsplan sollte auch in Land-
ben. Dabei wurden die große wirtschaftliche Bedeutung
kreisen und Kommunen beachtet und ernst genommen
und die enormen Potenziale dieses Marktsegmentes
werden. Fragen Sie doch einmal vor Ort nach, was in Ih-
deutlich. So werden jährlich circa 2,5 Milliarden Euro
ren Kommunen zur Umsetzung getan wird. In meinem
Umsatz durch Urlaube von behinderten Menschen er-
Landkreis ist das vorbildlich. Alle Akteure ziehen an ei-
wirtschaftet.
nem Strang. Hier ist das Bewusstsein unten angekom-
Wir wollen, dass Barrierefreiheit zu einem Qualitäts- men.
merkmal des Deutschlandtourismus wird. Hier gibt es
Dabei geht es nicht immer nur um neue Gesetze, Ver-
bereits viele gute beispielhafte Ansätze in ganz Deutsch-
ordnungen, Regulierungen und teure Investitionen. Häu-
land, die wir weiter ausbauen müssen.
fig ist schon sehr viel mit einer klaren und gut lesbaren
Die Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und Kennzeichnung und einer deutlich sichtbaren Ausschil-
kommunaler Ebene sowie bei den Leistungsanbietern ha- derung der vorhandenen Möglichkeiten geholfen. Immer
ben ihre Verantwortung erkannt und arbeiten an der Um- wieder zeigt sich, dass erst eine Einbindung von behin-
setzung der vielfältigen Verbesserungsmöglichkeiten. Wir derten Menschen und ihrer Interessenverbände Schwach-
erleben in jeder Sitzung des Tourismusausschusses, dass stellen vor Ort auch in kleinen, aber entscheidenden De-
jeder Fraktion dieses Thema eine Herzensangelegenheit tails aufdeckt, die man nur aus eigener Erfahrung
ist. Darüber freue ich mich sehr. Das sage ich auch aus ei- erkennen kann. Deshalb ist die Funktion der Behinderten-
(B) gener Erfahrung. beauftragten zum Beispiel in meinem Landkreis ein gro- (D)
ßer Gewinn für alle, im Sinne eines barrierefreien Touris-
Ich bin mit meinem Zwillingsbruder aufgewachsen, mus für alle.
und wir beide waren schwer an Kinderlähmung erkrankt.
Ich hatte Glück und die Erkrankung war eines Tages ein- Wir werden uns in den Ausschussberatungen intensi-
fach wieder weg. Was geblieben ist, ist der Einblick in ver mit dem Antrag und den einzelnen Forderungen be-
die Situation und die Sorge, wie ich helfen und unterstüt- schäftigen. Ich bin mir sicher, dass wir in vielen Punkten
zen kann. Geblieben ist auch das Bedürfnis, meinen Bei- und Zielen eine große Übereinstimmung haben. Ich
trag für Verbesserungen zu leisten. Geprägt durch meine glaube auch, dass wir dabei zum Ergebnis kommen wer-
eigene Kindheit kann ich mich viel intensiver in die den, dass oftmals die Weichen bereits richtig gestellt
Lage von behinderten Menschen hineinversetzen. sind. Lassen Sie uns diese Fragen realistisch angehen,
vorhandene Initiativen weiter unterstützen und stärken
Der vorliegende Antrag der SPD spricht viele richtige und gemeinsam für mehr Barrierfreiheit für alle kämp-
Punkte an. Wir hätten uns aber auch eine stärkere Würdi- fen.
gung der umfangreichen Anstrengungen und Ergebnisse
gewünscht, die wir doch alle täglich selbst im Alltag er-
leben. Es zeigt sich wieder einmal, dass man es sich in Christian Hirte (CDU/CSU): Als Mitglied im Um-
der Opposition sehr leicht machen kann mit Forderun- weltausschuss muss ich gestehen: Nach all den hekti-
gen, ohne sich gleichzeitig wirklich ernsthaft Gedanken schen und aufgeregten Debatten dieser Tage freue ich
um die Finanzierung zu machen. mich, dass wir jetzt über ein Thema reden, bei dem es im
Grunde etwas ruhiger zugeht und bei dem wir über alle
Beispielsweise ignoriert die Forderung nach einer um- Parteigrenzen hinweg immer sehr sachorientiert und oft
fassenden Barrierefreiheit im Bahnverkehr, dass die gemeinsam Ziele verfolgen. Bei vielleicht keinem ande-
Deutsche Bahn AG bereits seit längerem intensiv daran ren Thema tun wir das so intensiv wie bei der Frage des
arbeitet: Von insgesamt 5 700 Bahnhöfen sind bisher barrierefreien Tourismus. Ich bin seit jetzt ziemlich ge-
2 000 Bahnhöfe barrierefrei umgebaut, pro Jahr kommen nau drei Jahren im Bundestag und auch Mitglied im Tou-
weitere 100 Bahnhöfe dazu. Aus lokaler oder touristi- rismusausschuss, und ich kann mich eigentlich an keine
scher Sicht kann man sich sicherlich manchmal eine an- touristische Initiative erinnern, bei der wir nicht ganz be-
dere Priorität der Maßnahmen im Einzelfall vorstellen. sonders auch darauf hingewiesen hätten, dass Barriere-
Auch ich wünschte mir, dass es viel schneller ginge. Aber freiheit bei den Angeboten zu berücksichtigen sei. Ich
man muss auch die finanziellen Grenzen realistisch se- denke da nur an den Antrag aus dem letzten Jahr, den
hen. Ich habe mich selbst immer wieder für den zügigen Kulturtourismus zu fördern, oder auch an unsere Initiati-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13153

(A) ven im Rahmen der Lutherdekade. Oder denken Sie an Ich will damit nicht sagen, dass alles super und per- (C)
die Expertenanhörungen in unserem Ausschuss: Immer fekt läuft, aber mitunter legen wir vielleicht auch einen
wieder adressieren Abgeordnete aller Fraktionen an die Aktionismus an den Tag, der gar nicht angebracht ist,
Vertreter, bei Barrierefreiheit weiter voranzugehen. Das weil alle Beteiligten sich in der Praxis und im Alltag
zeigt doch, dass bei uns allen das Thema angekommen längst auch praktikable Lösungen ausgedacht haben. Wir
ist. wollen immer Bürokratieabbau, aber gleichzeitig fallen
uns immer wieder tausend Dinge ein, bei denen der Staat
Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es ge- handeln soll, bei denen neue Gesetze hermüssen, die
winnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erle- dann natürlich auch wieder kontrolliert werden müssen.
ben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht uns Manchmal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend,
alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir die auf die Kreativität und die Intelligenz der Menschen in
Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem der Praxis zu vertrauen.
Kinderwagen. Als Vater zweier kleiner Kinder kann ich
davon ein Lied singen. Wir werden alle aber auch ir- Dann fordern Sie zum Beispiel, die Regierung solle
gendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hö- sich gegenüber den Ländern einsetzen, dass Kommunen
ren schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren Wege zu Haltestellen und Taxiständen barrierefrei hal-
auf. Die demografische Entwicklung kommt hinzu und ten. Ich bin sehr für barrierefreie Wege überall. Aber das
macht uns deutlich, dass das Thema immer mehr an ist am Ende nicht mein Verständnis von Politik. Der
Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird. Bund soll an die Länder herantreten, die an ihre Kom-
munen, und dann soll was passieren? Föderalismus und
Deshalb finde ich es im Grunde auch begrüßenswert, kommunale Selbstverwaltung sehen für mich anders aus.
wenn wir nun einen konkreten Antrag diskutieren, der Im Übrigen gibt es doch vor Ort in den Kommunen zum
sich mit dem Thema auseinandersetzt. Denn uns allen ist Beispiel Behindertenbeauftragte, die genau diese Dinge
klar, dass es immer noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt im Blick haben, viel besser, als wir das hier vom grünen
deshalb – ich habe es erwähnt –, weil die Zahl der Be- Tisch aus je haben können. Mir ist kein Bauprojekt be-
troffenen größer wird. kannt, bei dem man in den letzten Jahren bei Um- oder
Ich muss allerdings auch sagen: Mein erster Eindruck Neubau nicht genau auf diese Barrierefreiheiten geachtet
beim Lesen Ihres Antrages, liebe Kollegen von der SPD, hat.
war: Das ist ein Steinbruch von allem, was man sich so Dann fordern Sie zum Beispiel die Abstimmung
wünscht und wie man sich die Welt gern zurechtzim- „zwischen allen Akteuren aus Betroffenengruppen, Poli-
mern möchte. Vor ungefähr einem Jahr gab es aus der tik, Tourismuswirtschaft und Verkehrsunternehmen“ –
Fraktion der SPD eine Kleine Anfrage zum Thema „Her- im Idealfall durch Runde Tische. Da muss ich doch sa- (D)
(B) stellung umfassender Barrierefreiheit“. Dort haben Sie
gen: Einbindung ist ja richtig und wichtig. Dafür haben
einen Schwerpunkt bei Fragen zum Bauen und Wohnen wir Anhörungen, Stellungnahmen usw. Aber wir sollten
gelegt. Deshalb kommen diese Aspekte wahrscheinlich auch die Kirche im Dorf lassen und Runde Tische nicht
auch nicht ganz zufällig jetzt hier recht prominent vor. zur neuen Allzweckwaffe erklären. Was ist denn dann
Ich will aber gleich an dieser Stelle sagen: Ich halte es am Ende eigentlich noch die Aufgabe eines Parlaments?
für etwas überambitioniert, was Sie alles gern durchge- Die Regierung moderiert Runde Tische, und das Parla-
setzt hätten. Wir werden dann im Ausschuss genügend ment steht noch bei der Einladung auf dem Briefbogen?
Zeit haben, im Einzelnen Ihre Punkte zu beleuchten. Das ist einer der Punkte, bei denen Sie doch übers Ziel
Deshalb will ich es auf wenige Bemerkungen begrenzen. hinausschießen in Ihrem Antrag.
Sie haben einige Forderungen bezüglich des barriere- Aber zurück zur Barrierefreiheit. Denken Sie doch
freien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die An- gerade im Bereich des Bahnverkehrs an die Sonderpro-
gebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice gramme im Rahmen des Konjunkturpaketes. Sie müssen
ausbauen. Ich muss Ihnen sagen, meine Privatempirie ist nur einmal hier in Berlin schauen, an wie vielen Stellen
eine andere. Wir beurteilen ja immer Politik und Bedarf gerade S- und U-Bahnhöfe mit Aufzügen versehen wer-
nach dem, was an uns herangetragen wird und was wir den. Zeit wird es ja auch, aber in diesem Umfang mög-
so im Alltag erleben. Daher will ich Ihnen gern von einer lich wurde es erst dank des Anstoßes der Bundesregie-
Zusammenkunft in meinem Wahlkreis in der letzten Wo- rung und des Bundestags. Gerade für diese Beispiele
che berichten. Es ging um einen barrierefreien Weg zu möchte ich auch gern einmal Danke sagen an dieser
einem Bahnhof in meiner Heimatstadt Bad Salzungen. Stelle, dass das auf den Weg gebracht werden konnte.
Seit vielen Jahren wird dort auf eine Lösung gedrängt;
die Bahn wird jetzt bis 2013 einen Aufzug bauen. Das Jeder von uns hat sicher weitere Beispiele aus dem ei-
würde ich mir auch gern schneller denken, aber immer- genen Wahlkreis, bei dem Bahnhöfe im Rahmen des
hin, nun geht es endlich los. Unter anderem wurde auch Konjunkturpaketes ein Stück barrierefreier gemacht
gefordert, die Bahn solle mit mehr Personal beim Um- wurden. Wie gesagt, nichts, was nicht auch noch besser
steigen helfen. Viele Politiker haben diskutiert und la- werden könnte. Aber alles auf einmal, alles möglichst
mentiert, und am Ende stand die Behindertenbeauftragte ganz schnell geht eben leider auch nicht. Denn wir haben
des Landkreises auf und sagte: „Seien wir doch froh, auch noch ein paar andere Aufgaben, vor denen wir ste-
dass es nun endlich losgeht. Im Übrigen hat die Bahn hen, in die wir investieren müssen. Den Haushalt wollen
bisher immer für jeden ein Hilfsangebot bieten können, wir auch noch konsolidieren. Deshalb muss alles eben
wenn man sich vorher angemeldet hat.“ auch mit dem nötigen Augenmaß geschehen.
13154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Barrierefreiheit ist aber mehr als nur ebenerdiger Zu- Die SPD-Fraktion hat ein umfassendes Positions- (C)
gang und breite Wege für Rollstühle. Wir dürfen dann papier mit Menschen mit Behinderungen und ihren Ver-
auch nicht andere Einschränkungen vergessen: Sehbe- einen und Verbänden erarbeitet, um Barrieren im tägli-
hinderungen oder Hörgeschädigte. Ich will ganz offen chen Leben und in den Köpfen einzureißen.
sagen, dass ich mir insgesamt mehr Vorbildprojekte
Heute debattieren wir über barrierefreien Tourismus.
wünschen würde für wirklich umfassende Barrierefrei-
Wie kann Deutschland zum Reiseland für alle werden?
heit. Im Tourismus würde das auch heißen, wir müssen
Wie erreichen wir es, dass alle Menschen, ob alt oder
die gesamte Leistungskette in den Blick nehmen, so wie
jung, körperlich oder geistig eingeschränkt oder nicht,
es die Bundesregierung in ihren „Tourismuspolitischen
Urlaub in Deutschland machen können? Auf diese Fra-
Leitlinien“ 2009 benannt hat. Sie haben die Leistungs-
gen müssen wir Antworten geben. Die Herausforderun-
kette in Ihrem Antrag auch erwähnt. Wir müssten also
gen sind gewaltig. Wir packen sie an und zeigen mit un-
anfangen bei den Internetseiten, die barrierefrei sein
serer parlamentarischen Initiative Lösungswege auf.
müssten, über Ankunftsorte wie Bahnhöfe, Hotels, Mu-
seen, Beschilderungen, Gehwege, Ausstellungsräume Urlaub in Deutschland wird immer beliebter, und der
und und und. Sie sehen, das ist eine wirkliche Mammut- Tourismus bleibt Wirtschaftsmotor. Die aktuellen Zahlen
aufgabe. Deshalb gilt hier noch mehr: Nicht alles geht, des ersten Quartals 2011 machen das deutlich: 5,5 Pro-
nicht alles kann sofort passieren. zent mehr Gästeankünfte und über 3 Prozent Zuwachs an
Übernachtungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Gerade der Tourismus lebt von Erfahrungen toller Aber viele Menschen, die gerne Urlaub machen würden,
Best-Practice-Beispiele. Vielleicht schaffen wir es ja, in können es nicht, weil ihnen Wege oder Gebäude ver-
diesem Bereich eines wirklich umfassenden barriere- sperrt sind, sie nicht in die Bahn kommen oder sich auf
freien Tourismus einige Best-Practice-Beispiele auf den Plätzen und Bahnhöfen nicht orientieren können. Ich
Weg zu bringen: Vorbilder schaffen, Modelle entwi- spreche von den rund 8 Millionen Menschen mit Behin-
ckeln, die mit ihrem Erfolg dann andere anstecken kön- derungen in Deutschland – aber auch aus dem Ausland –
nen. „Wegweisende Modellprojekte fördern“ schreiben und von Senioren und Kindern, die vor den unterschied-
Sie am Ende Ihres Antrages. Das fände ich zum Beispiel lichsten Barrieren stehen.
spannend.
Wir haben die Aufgabe, allen Menschen zu ermögli-
Ich war am Montag gerade auf der Wartburg; dort chen, in unserem Land Urlaub zu machen. Das gibt auch
wurde verkündet, dass 2017 im Jubiläumsjahr der Refor- die seit 2009 für Deutschland geltende UN-Behinderten-
mation eine nationale Ausstellung auf der Wartburg rechtskonvention vor. Sie ist ein Meilenstein auf dem
stattfinden wird. Auch in Berlin und Wittenberg wird es Weg, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigte
(B) Ausstellungen geben. Auch Torgau zum Beispiel wird Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die (D)
eine wichtige Rolle spielen, und viele andere Orte auch. UN-Konvention zeigt gewaltigen Handlungsbedarf für
den Tourismus auf. Um die Art. 9 und 30 der Konven-
Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir im Rahmen der tion zu erfüllen und allen Menschen barrierefreien Zu-
vielen Projekte in der Lutherdekade – hier gibt der Bund gang und die Teilhabe an Kultur, Erholung und Freizeit
auch jährlich 5 Millionen Euro – genau solche Projekte zu gewähren, müssen wir mehr als bisher leisten.
herausstellen: Ausstellungen, die zum Beispiel auch für
Seh- und Hörgeschädigte barrierefrei sind, Wege von Die vielen positiven Beispiele, die es schon gibt, ge-
den Bahnhöfen in die Museen und Ausstellungsorte, die ben die Richtung vor. Vor einem Monat wurde der barrie-
von allen Barrieren frei sind? So ein großes und langfris- refreie Naturerlebnisraum des Nationalparks Eifel eröff-
tiges Ereignis wie die Lutherdekade wäre vielleicht ein net. Unter Mithilfe der Nationalen Koordinationsstelle
tolles Vorzeigeprojekt wie vielleicht auch die vielen Kul- Tourismus für Alle, NatKo, wurde ein 4 Kilometer langer
tureinrichtungen, die unter anderem vom Bund gefördert barrierefreier Rundwanderweg geschaffen: mit geringen
werden. Vielleicht kann es gelingen, dort einmal exem- Steigungen, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind, Leit-
plarisch an ein, zwei Beispielen solche vollumfassende streifen für blinde Menschen und Schulungen für Wald-
Barrierefreiheit zu entwickeln. führer. Auch Vorabinformationen sind für die Betroffe-
nen wichtig. In meinem Wahlkreis Lübeck gibt es dazu
Der Antrag enthält einige Punkte, die ich wirklich seit letzter Woche einen Behindertenwegweiser, der
spannend finde, bei denen eine Diskussion lohnt. Ich online Piktogramme und weitere Informationen über
glaube aber, dass Sie an vielen Stellen zu viel zu schnell Barrierefreiheit zu allen öffentlichen Einrichtungen be-
einfordern und auch manches unausgegoren ist. Beim reithält. Davon profitieren Ortsansässige und Touristen
Ziel Barrierefreiheit sind wir uns sicher völlig einig. gleichermaßen. Solche Anstrengungen brauchen wir flä-
Lassen Sie uns die Diskussion im Ausschuss nutzen, die chendeckend in der gesamten touristischen Servicekette.
Punkte einzeln durchzusprechen. Dafür müssen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam
mit der Tourismuswirtschaft und den Verkehrsunterneh-
men sorgen.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist sehr bedauerlich,
dass wir unsere Reden zu diesem wichtigen Tagesord- Das Potenzial eines barrierefreien Deutschlandtouris-
nungspunkt heute wegen der fortgeschrittenen Zeit zu mus ist längst bekannt. Die 2003 unter Rot-Grün vorge-
Protokoll geben müssen. Barrierefreiheit muss uns alle stellte Leitstudie zeigt, dass mit dem Abbau von Barrie-
interessieren; denn jeder und jede von uns kann von ei- ren im Deutschlandtourismus fast 5 Milliarden Euro
ner zur nächsten Minute hierauf angewiesen sein. zusätzlicher Umsatz möglich sind. Rund 90 000 Voll-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13155

(A) zeitarbeitsplätze könnten damit geschaffen werden. Das AG muss ihre Bahnhöfe generell barrierefrei umbauen. (C)
Potenzial wird infolge des demografischen Wandels In allen Zügen muss fahrzeuggebundene Ein- und Aus-
noch deutlich wachsen. Denn ältere Menschen mit Mo- stiegstechnik vorhanden sein. Auch Dienstleistungen
bilitäts-, Seh- oder Hörproblemen profitieren ebenfalls wie Fahrkartenkauf oder Reisebuchungen müssen barri-
von gut erreichbaren Hotels und Gaststätten, Museen erefrei angeboten werden. Die Anbieter von barriere-
und barrierefreien Verkehrsmitteln. freiem Tourismus benötigen ein effektives Marketing.
Menschen mit Behinderungen müssen gute Informatio-
Leider hinkt die Bundesregierung – wie in so vielen nen finden, wo sie ihren Bedürfnissen entsprechend am
wichtigen politischen Fragen – hinterher. Der Nationale besten Urlaub machen können. Deshalb setzen wir uns
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts- für ein bundesweit qualitätsgeprüftes Gütesiegel „Barri-
konvention ist bis heute nicht verabschiedet, obwohl er erefreier Tourismus für alle“ ein und fordern eine stär-
bereits im März dieses Jahres vorliegen sollte. Der Ent- kere Vermarktung durch die Deutsche Zentrale für Tou-
wurf des Aktionsplans lässt nicht viel Gutes hoffen für rismus.
die Betroffenen, schon gar nicht im Bereich Tourismus.
Dazu verliert der Entwurf gerade einmal neun magere Der Einsatz für einen barrierefreien Tourismus in un-
Sätze. serem Land lohnt sich. Denn Barrierefreiheit ist für
10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für
Die Bundesregierung verweist auf die Arbeit der Na- über 30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komforta-
tionalen Koordinationsstelle Tourismus für alle. Gleich- bel. Diese Erkenntnis muss zum Maßstab der Förderung
zeitig lässt sie diese wichtige Institution für barriere- von barrierefreiem Tourismus werden.
freien Tourismus offenbar am langen Arm verhungern.
So wurden Projektanträge, auf die die NatKo angewie-
sen ist, seit Herbst letzten Jahres weder bewilligt noch Jens Ackermann (FDP): In Deutschland leben
abgelehnt. 8,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Diese
Menschen gehören in die Mitte unserer Gesellschaft,
Die SPD-Fraktion hat schon im Mai dieses Jahres ihr und ihre aktive Teilhabe am Leben in unserem Land hat
umfassendes Positionspapier vorgelegt, das im Gegen- für uns oberste Priorität. Es ist für uns eine absolute
satz zum Aktionsplan der Bundesregierung konkrete Selbstverständlichkeit.
Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte von Men-
schen mit Behinderungen vorsieht. Wir machen Nägel Daher freue ich mich, heute zum Thema barrierefreier
mit Köpfen und legen heute mit unserem Antrag einen Tourismus sprechen zu dürfen. Schon im Koalitionsver-
Maßnahmenkatalog vor, um touristische Angebote für trag haben wir klargestellt: „Wir treten für eine tatsächli-
alle Menschen nutzbar zu machen. che Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am
(B) gesellschaftlichen Leben ein. Unser Ziel ist, die Rah- (D)
Wir brauchen einen vom Bund koordinierten Master- menbedingungen für Menschen mit und ohne Behinde-
plan für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit rungen positiv zu gestalten. Voraussetzung hierfür ist un-
mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden. ter anderem die Barrierefreiheit in allen Bereichen.“
Dabei ist die Einbindung der Betroffenen bzw. ihrer Ver- Aber nicht nur daran kann man erkennen, wie wichtig
bände unerlässlich. Die NatKo wollen wir zu einer ent- dieses Thema schon früh für uns war und auch weiterhin
sprechenden Kompetenzstelle ausbauen. Wir wollen zu- ist.
dem mehr Verbindlichkeit, um barrierefreies Bauen zu
gewährleisten. So sollte auch bei der Inneneinrichtung Deshalb ist es auch nur konsequent, dass wir die Be-
Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Generell muss rücksichtigung der Barrierefreiheit bei allen Projekten
die Einhaltung durch unabhängige Stellen kontrolliert und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet
werden; denn Planungen werden oft verändert. der Tourismuspolitik im Arbeitsprogramm des Beauf-
tragten der Bundesregierung für den Tourismus, dem
Um schon von vornherein dafür zu sensibilisieren, Kollegen und Parlamentarischen Staatssekretär Ernst
sollte Barrierefreiheit Grundlage der Ausbildung von Burgbacher, verankert haben. Das Signal ist klar: Der
Architekten, Ingenieuren und Handwerkern werden. Bei Bundesregierung ist dieses Thema ernst und wichtig. Sie
Großveranstaltungen wie Messen und Kongressen hat zudem in zwei Studien aus den vergangenen Jahren
kommt es darauf an, nicht nur den eigentlichen bauli- die ökonomische Bedeutung des barrierefreien Touris-
chen und den Servicebereich barrierefrei zu gestalten, mus für alle in Deutschland untersucht und Erfolgsfakto-
sondern auch das Umfeld von der An- und Abreise bis ren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung
zur Unterkunft. Wir müssen die Länder ins Boot holen, herausgearbeitet.
um zu erreichen, dass auch bestehende Gaststätten barri-
erefrei werden. Um Gastwirte, Hotelbetriebe und andere Zu erwähnen ist aber auch die Arbeitsgemeinschaft
touristische Anbieter beim barrierefreien Umbau zu un- „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“. Sie hat von
terstützen, fordern wir ein entsprechendes Programm der 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint
KfW. und engagiert sich für die Entwicklung von Angeboten
für behinderte Gäste in den Regionen.
Um die Anreize für die Wirtschaft zu erhöhen, muss
Barrierefreiheit zu einem Vergabekriterium für Förder- Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Ver-
mittel des Bundes bestimmt werden. Zudem sind mehr marktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienst-
Anstrengungen und Verbindlichkeit für Barrierefreiheit leistungen durch geeignete Projekte fördern. Dabei geht
im Schienenfernverkehr und ÖPNV notwendig. Die DB es unter anderem um Fragen der Kennzeichnung, der
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(A) Entwicklung von Qualitätskriterien, der Schulung von sam mit den Ländern für geeignete Rahmenbedingungen (C)
Mitarbeitern entlang der gesamten touristischen Service- für die Entwicklung der Tourismuswirtschaft zu sorgen.
kette und der geeigneten Vermarktung. Die Bundesregierung kann vielfach nur Anstöße geben,
umsetzen müssen die Maßnahmen dann aber die Akteure
Es ist bereits deutlich geworden, aber ich will es in den Ländern, Städten, Regionen und Gemeinden.
nochmals betonen: Das Thema liegt uns am Herzen, es
ist wichtig. Gerade deshalb ist es bedauerlich, dass der Gemeinsam mit den Ländern wurde auch schon viel
hier vorliegende Antrag der SPD nicht nur positiv zu be- erreicht. Dennoch stehen wir zum Beispiel der konkreten
trachten ist. So möchte die SPD – wie so oft – mit staat- Forderung kritisch gegenüber, wonach die Aufnahme
lichen Sanktionen und Zwang ihre Ziele erreichen. Das von Barrierefreiheitskriterien in die Denkmalschutzge-
kann und darf nicht unser Anspruch sein. Wir als Libe- setze der Länder von der Bundesregierung geprüft wer-
rale setzen auf die Eigenverantwortung der Menschen – den sollte. Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, dass dies
auch der Tourismuswirtschaft. Jedem kleinen Gastwirt einen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder bedeuten
ist doch klar, dass er keinen Nachteil davon hat, wenn er würde, was sowohl verfassungsrechtliche als auch ange-
auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älte- sichts der Zielsetzungen der Behindertenpolitik beunru-
ren und Behinderten eingeht. higende Probleme nach sich ziehen kann. Zu all diesen
Punkten weise ich auf den Nationalen Aktionsplan als
Dennoch ist es unbestritten, dass öffentliche Bereiche Leitlinie hin. Dieser wird eine umfassende Umsetzung
zukünftig mindestens barrierearm sein müssen. So for- der UN-Behindertenrechtskonvention darstellen. Wir er-
dern wir auch, bei den Bundesländern dafür zu werben,
warten ihn schon im Sommer dieses Jahres, und er wird
dass die Zielsetzung Barrierearmut bei Bestandsbauten
die Grundlage weiterer Handlungsschritte auch und ge-
und Barrierefreiheit bei Neubauten verwirklicht wird.
rade im touristischen Bereich sein.
Denn der öffentliche Bereich kann und muss Beispiel für
den privaten wirtschaftlichen Sektor sein. Daher sind wir Ich denke, wir alle in diesem hohen Hause sind uns
im privaten Bereich auch für weichere Kriterien und darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzei-
Richtlinien. Besser fänden wir es, Anreize zu schaffen. chen des Tourismus in Deutschland werden sollte und
Wichtig dabei ist aber auch der konsequente Wechsel vor allem werden kann. Dieses Ziel können wir aber nur
vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf um- gemeinsam erreichen. In diesem Sinne empfehle ich den
fassende gesellschaftliche Teilhabe. Denn wirkliche Be- Antragstellern, anstatt für übereilte Normierungsbedarfe
dürfnisse können nicht über den Kopf der Menschen mit sich lieber für Anwendung der schon bereits vorhande-
Behinderungen konkretisiert werden. nen Regelung sowie für die Weiterführung der gesell-
So spielen bei der Umsetzung von Barrierefreiheit die schaftlichen Diskussion stark zu machen.
(B) (D)
im Bundesgleichstellungsgesetz verankerten Zielverein-
barungen eine große Rolle. Behindertenverbände kön- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das Thema Barriere-
nen mit Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft da- freiheit könnte – nein: sollte! – eines der Leitthemen je-
rin die Ziele zur Herstellung von Barrierefreiheit der Regierungspolitik für die nächsten Jahre sein. Es be-
vereinbaren. Schon im Jahr 2005 hat der DEHOGA mit trifft alle Lebensbereiche, also auch jedes einzelne
den Behindertenverbänden eine entsprechende Zielver- Ministerium. Barrierefreiheit im touristischen Bereich
einbarung zur Erfassung, Bewertung und Darstellung – also in der gesamten touristischen Kette – ist ein wich-
barrierefreier Angebote im Gastgewerbe unterzeichnet. tiger Teilbereich einer solchen auf Langfristigkeit ange-
legten Politik. Die UN-Behindertenrechtskonvention
Barrierefreiheit wird auch bei der Hotelklassifizie-
verpflichtete die Politik ja eigentlich sogar dazu. Leider
rung thematisiert. Bereits 1999 wurde die Nationale Ko-
nimmt die Bundesregierung diese Menschenrechtskon-
ordinationsstelle Tourismus für Alle e. V. – die soge-
vention nicht ernst. Insofern könnte der vorliegende
nannte NatKo – gegründet. Im Rahmen einer
Projektförderung durch das Bundesministerium für Ge- SPD-Antrag hilfreich sein, ein Stückchen voranzukom-
sundheit und zum Teil auch durch das Bundesministe- men. Immerhin gibt es ja Tourismuspolitische Leitlinien
rium für Wirtschaft und Technologie steht sie Reisever- der Bundesregierung. Sie wurden in der vergangenen
anstaltern, Verkehrsunternehmen, Tourismusregionen, Wahlperiode erarbeitet und verabschiedet. Aber auch
Hoteliers und weiteren Anbietern als Ansprechpartner ihre eigenen Dokumente nimmt die Regierung nicht
und Berater zur Verfügung, um die Gestaltung barriere- ernst. So muss mit Bedauern konstatiert werden, dass
freier Angebote zu unterstützen. Beide Angebote bieten auch diese Leitlinien, in denen Barrierefreiheit als tou-
so eine gute Grundlage, Wünsche und Bedürfnisse zu er- ristisches Markenzeichen verstanden wird, das große Po-
fassen und deren Umsetzung gemeinsam voranzubrin- tenzen – und einen Nutzen-für-alle-Effekt – in sich birgt,
gen. bis heute nicht viel mehr als Augenauswischerei waren.
Immerhin hatte die Linke bereits am 24. September 2008
Problematisch sehe ich aber im Antrag auch die For- einen Antrag „Barrierefreier Tourismus für alle in
derung nach Initiativen, die in die Kompetenz der Län- Deutschland“, Drucksache 16/10317, in den Bundestag
der fallen. Die konkrete Planung, Ausgestaltung, Ent- eingebracht. Um dem etwas entgegenzusetzen, schob die
wicklung und unmittelbare Förderung des Tourismus damalige Koalition aus CDU/CSU und SPD, am 4. März
liegen nämlich generell in der Verantwortung der Bun- 2009 ihren Antrag „Barrierefreien Tourismus weiter för-
desländer auf der Basis der allgemein bekannten Subsi- dern“, Drucksache 16/12101, hinterher. Inhaltlich unter-
diarität. Der Bund übernimmt nur die Aufgabe, gemein- schieden sich die beiden Anträge kaum.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13157

(A) Was passierte dann damit? Der Antrag der Linken die Linke grundsätzlich. Wir sollten aber bei der Bera- (C)
wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP tung in den Ausschüssen schauen, wie wir ihn an der ei-
abgelehnt. Auf meinen Vorschlag, einen gemeinsamen nen oder anderen Stelle noch verbessern können. So feh-
Antrag zu erarbeiten, antwortete die SPD: „Ein gemein- len zum Beispiel bei Ihnen ebenfalls die Fernlinien- und
samer Antrag mit der Fraktion Die Linke werde aus Reisebusse sowie die Taxen und Schiffe. Wenn wir über
praktischen Gründen nicht für zielführend gehalten.“ – den Schienenpersonenverkehr sprechen, müssen wir be-
nachzulesen in der Beschlussempfehlung vom 14. Mai achten, dass nicht mehr alle Bahnhöfe und Züge der
2009, Drucksache 16/13046. Wir stimmten dem Koali- Deutschen Bahn AG unterstehen. Für die Linke hat bar-
tionsantrag trotzdem zu, während die FDP sich der rierefreier Tourismus neben der wirtschaftspolitischen
Stimme enthielt, unter anderem mit der Begründung: Dimension vor allem eine menschenrechtliche und soziale
„Die NatKo (Nationale Koordinierungsstelle für Barrie- Dimension. Wir wollen, auch mit Blick auf die UN-
refreien Tourismus) sei mit ihrem Etat beim Gesund- Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1948, die UN-
heitsministerium angesiedelt. Die Fraktion der FDP ver- Behindertenrechtskonvention – insbesondere Art. 30 –
trete seit langem die Auffassung, dass Haushaltstitel, die und den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation,
den Tourismus beträfen, mit in den Haushalt des Wirt- „Tourismus für alle“ in die alltägliche Praxis überführen.
schaftsministeriums aufgenommen werden müssten.“ – Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in
siehe oben genannte Beschlussempfehlung. Nun also ein ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr,
Antrag der SPD. Vergleicht man diesen mit den beiden beim Einkaufen, bei Theater-, Sport- oder anderen Frei-
Anträgen aus der vorherigen Wahlperiode, stellt man zeitveranstaltungen, schaffte neue, moderne Arbeits-
– obwohl es keine Quellenhinweise gibt – große, teil- plätze – auch für Menschen mit Behinderungen – und ist
weise wörtliche Übereinstimmungen fest. Das finde ich nachhaltig innovativ. Wir müssen mehr zur Förderung
einerseits – inhaltlich – gut, andererseits wird damit auch des sozialen Tourismus tun, in Deutschland und auch in-
das Problem deutlich: Es wird mehr geredet als getan. ternational. Auch dies ist ein guter Grund für eine Mit-
Die Bundesregierung nimmt weder den Beschluss des gliedschaft unseres Landes in der Internationalen Orga-
Bundestages aus dem Jahr 2009 noch ihre eigenen Tou- nisation für Sozialen Tourismus, OITS, wie es die Linke
rismuspolitischen Leitlinien noch ihre in der Koalitions- mit ihrem Antrag zu Beginn dieses Jahres vorgeschlagen
vereinbarung erklärten Ziele hinsichtlich der Umsetzung hat. Die Diskussion des vorliegenden SPD-Antrags
der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung sollte uns – allen im Tourismus Engagierten – Anlass für
des barrierefreien Tourismus ernst. Dazu hier nur zwei eine wirkliche Überführung der vielen bekannten Vor-
aktuelle Beispiele: schläge ins Alltagsleben sein.
Erstens. Die NatKo ist immer noch im Bundeshaus-
(B) halt des Gesundheitsministeriums angesiedelt, obwohl Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der (D)
dieses und das Wirtschaftsministerium von FDP-Minis- wesentlichste Aspekt des Reisens ist die Mobilität. Für
tern geführt werden. Auch bekommt die NatKo von Jahr viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Die An-
zu Jahr weniger Geld, obwohl angesichts der von ihr er- und Abreise mit der Bahn, die Fahrt mit dem Auto oder
warteten Arbeit deutlich mehr gebraucht würde. der Flug gehören zu fast jedem Urlaub dazu. Eine Reise
ohne einen Ortswechsel ist schlicht und ergreifend nicht
Zweitens. In der vor wenigen Tagen veröffentlichten möglich. Für circa 20 Millionen Menschen mit einge-
Verordnung der Bundesregierung über das neue Berufs- schränkter Mobilität in Deutschland ist genau dies aber
bild der Tourismuskauffrau/des Tourismuskaufmannes nach wie vor mit enormen Hindernissen verbunden. Ich
steht wieder nichts zum Thema barrierefreier Tourismus spreche hier nicht nur über die körperliche Bewegungs-
als Ausbildungsinhalt. Als besonders beratungsresistent einschränkung; auch Einschränkungen beim Hören und
gebärden sich seit jeher die Bundesbau- und Verkehrs- Sehen, Allergien und viele weitere Beeinträchtigungen
minister. Schon die vielen SPD-Minister von 1998 bis können die Mobilität erschweren. Dabei spielen nicht
2009 haben sich hinsichtlich ihres Engagements für die nur die eigenen körperlichen Voraussetzungen eine
Schaffung von Barrierefreiheit nicht mit Ruhm bekle- Rolle, sondern auch die Frage, wie viel Mobilität uns un-
ckert. Bundesminister Ramsauer von der CSU will nun sere Umwelt überhaupt ermöglicht.
anscheinend all seine Vorgänger noch übertreffen: Barrie-
refreiheit ist bei ihm weder bei Fernbuslinien ein Thema Die Antwort fällt ernüchternd aus: Der touristische
noch stört ihn die Tatsache, dass es in Deutschland fast Alltag in Deutschland zeigt, dass fast 50 Prozent aller
keine barrierefreien Taxen gibt. Aber genau an diesen Menschen mit eingeschränkter Mobilität die Wahl ihres
Stellen – und auch in Bezug auf Reisebusse – wären im Reiseziels nicht nur von eigenen Wünschen und Vorstel-
Personenbeförderungsgesetz entsprechende, verbindli- lungen abhängig machen können, sondern die Wahl auf-
che Regelungen vonnöten. Aber dieser Bauminister hat grund unzureichender Angebote eingeschränkt wird. Da-
auch keine Übersicht über bestehende Barrieren in sei- mit wird all diesen Menschen die freie Entscheidung,
nem Verantwortungsbereich oder von ihm geförderte wohin die Reise denn gehen soll, deutlich erschwert.
UNESCO-Welterbestätten. Veränderungen im Bundes- Dieser Zustand ist nicht in unserem Sinne. Hier gilt es,
baugesetz, in Förderrichtlinien oder bei KfW-Förderpro- schnell zu handeln und Rahmenbedingungen zu schaf-
grammen? Fehlanzeige! Hier, liebe Kollegin Marlene fen, die allen Menschen eine Reiseentscheidung unab-
Mortler und lieber Kollege Ernst Hinsken, empfehle ich hängig von Einschränkungen in ihrer Mobilität ermög-
Ihnen, ihrem Parteifreund Nachhilfeunterricht zu geben. licht. Deshalb stellen wir uns hinter den Antrag der SPD-
Vielleicht hülfe es ja? Den Antrag der SPD unterstützt Fraktion.
13158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Der Antrag ist äußerst umfassend. Er greift viele Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutsch- (C)
Punkte auf und zeigt damit, wie umfassend das Thema land wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination
behandelt werden muss. Genau hier hat der Antrag aber zu positionieren. Der demografische Wandel findet nicht
auch einige kleine Schwächen. Ein Zuschussprogramm nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des barriere-
der KfW ist nie sektorspezifisch, sprich: es kann sich freien Tourismus können wir für Deutschland im euro-
nicht explizit und exklusiv an touristische Betriebe wen- päischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungs-
den. Bei jeder finanziellen Forderung sollte man auch merkmal schaffen und damit auch internationale,
sagen, wie sie sich gegenfinanzieren lässt oder wo dafür mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig
gespart werden sollte. Gerade wenn es sich an die Län- kann ein barrierefreier Deutschlandtourismus als Indika-
der richtet, also keine Bundeskompetenzen betrifft, sto- tor für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltig-
ßen wir da auf Probleme. keit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des
21. Jahrhunderts dienen.
Es gibt noch einen ganz anderen Aspekt, der neben
Ich fasse zusammen: Der Ausbau eines nachhaltigen,
der sozialen Gerechtigkeit für den Abbau von Barrieren
barrierefreien Tourismus ist heute schon das Recht jedes
im Tourismus spricht. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist
Betroffenen sowie gleichzeitig eine Notwendigkeit und
ein Ausbau des barrierefreien Tourismus unumgänglich.
enorme ökonomische Chance für die Tourismusindustrie
Der Tourismus steht in den nächsten Jahrzehnten vor gro- in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im
ßen Herausforderungen; so viel ist sicher. Neben Klima- Endeffekt allen zugute. Die Nationale Koordinations-
änderungen wird dem demografischen Wandel der be- stelle Tourismus für Alle, NatKo, bringt den gesell-
deutendste Einfluss auf den Tourismus von morgen schaftlichen Gewinn mit dem Satz „Für 10 Prozent
attestiert. Der Durchschnitt der Touristen wird immer äl- zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich, für
ter, dabei sinkt gleichzeitig die Mobilität. Im Jahr 2020 100 Prozent komfortabel“ auf den Punkt. Hierbei han-
wird die Zahl der Urlaubsreisenden in Deutschland zwi- delt es sich nur um die aktuellen Zahlen; die Tendenz ist
schen 65 und 75 auf über 40 Prozent steigen. Es wird sogar, wie gezeigt, steigend. Unsere Aufgabe ist es jetzt,
deutlich, dass in Zukunft viele Reisende besondere Be- die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismus-
dingungen im Hinblick auf Barrierefreiheit an die Desti- industrie diesen notwendigen Umbau möglichst schnell
nation ihrer Wahl stellen werden. Die Weichenstellung, zu ermöglichen.
wie das Reiseland Deutschland mit diesen Veränderun-
gen auf der Nachfrageseite umgeht, muss jedoch schon
heute erfolgen. Anlage 3

(B) Wie kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Zu Protokoll gegebene Reden (D)
Anstieg der Zahl älterer Reisender mit ganz anderen Be-
dürfnissen als heute vorbereiten? Neben einer zielgrup- zur Beratung:
pengerechten Ansprache und auf Senioren abgestimmten – Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des
Angeboten wird auch hier die Barrierefreiheit eine be- Infektionsschutzgesetzes und weiterer Ge-
deutende Rolle spielen, um den Senioren von morgen setze
Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren.
Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb an- – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
spruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination Anträgen:
sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer In- – Besserer Schutz vor Krankenhausinfekti-
frastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme onen durch mehr Fachpersonal für Hy-
sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden. giene und Prävention
Fernreisen und Anfahrten mit dem eigenen Pkw wer- – Krankenhausinfektionen vermeiden –
den mit zunehmendem Alter immer beschwerlicher, wes- Tödliche und gefährliche Keime bekämp-
halb die Erreichbarkeit von Destinationen mit dem öf- fen
fentlichen Nahverkehr sichergestellt werden muss. Im – Prävention gegen Krankenhausinfektio-
barrierefreien Tourismus geht es aber nicht nur um die nen verbessern
Mobilität. Das komplette touristische Produkt muss nach-
haltig und barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle (Tagesordnungspunkt 13 a und b)
Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchfüh-
rung mit ein. Dazu gehören unter anderem lesbare Reise- Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Die Ehec-Ausbrü-
informationen, Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine che führen derzeit zu einer erheblichen Belastungsprobe
adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles unseres Gesundheitssystems. Aber entgegen mancher
mehr. Wenn hier vorausschauend gehandelt wird, kann Unkenrufe und Besserwisserei zeigt sich: Wir haben ein
ein großer Wachstumsmarkt erschlossen werden, der im sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem. Eine Vielzahl
Moment noch zu einem erheblichen Teil brachliegt. von Instituten, Forschungseinrichtungen und Wissen-
Schätzungen gehen von einem Potenzial, von einer tou- schaftlern arbeitet mit den Gesundheitsbehörden von
ristischen Wertschöpfung in Höhe von 5 Milliarden Euro Bund und Ländern zusammen, um Infektionswege of-
und rund 90 000 Stellen aus, die geschaffen werden kön- fenzulegen und die Quelle zu lokalisieren. Und ange-
nen. sichts der Vielfalt der Produkte und Produzenten, von of-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13159

(A) fenen Grenzen und freiem Warenverkehr kann das schon Die rechtliche Bedeutung der Empfehlungen, die so- (C)
zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen werden. wohl von der KRINKO- als auch der ART-Kommission
Gleichzeitig leisten Ärzte und Pflegekräfte gerade in erstellt werden, sind für die Leiterinnen und Leiter von
Krankenhäusern Großartiges, um den Erkrankten zu hel- Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtun-
fen. Ihnen zollen wir Dank und Anerkennung für ihren gen, aber auch in ambulanten Praxen unmittelbar gel-
Einsatz für die Patientinnen und Patienten! tend. Der verbesserte Infektionsschutz erstreckt sich da-
mit deutlich über den stationären Bereich hinaus.
Unsäglich hingegen ist es, wenn durch die unproduk-
tive Besserwisserei unser Gesundheitssystem grundsätz- Im Gegenzug wird bei der vertragsärztlichen Versor-
lich infrage gestellt oder gar das Leid von Menschen vor gung eine Vergütungsregelung für die Sanierung von
den eigenen politischen Karren gespannt wird. Das ist in MRSA-besiedelten Patienten und für die diagnostische
der Sache kontraproduktiv und politisch schäbig. Untersuchung von Risikopatienten geschaffen. Das ist
gerechtfertigt, weil MRSA besonders häufig vorkommt
Das ändert nichts an der Dramatik der Ereignisse. und bereits bei Hautkontakt übertragen werden kann.
Menschen sind gestorben. Infektionskrankheiten, auch Mittelfristig ist so auch eine Reduzierung der MRSA-Be-
mit tödlichen Folgen, wird es immer geben. Auch das ist siedlung in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen
– im wahrsten Sinne des Wortes – menschlich. Aber wir zu erwarten. Aber auch Krankenhäuser werden entlastet,
müssen alles tun, um unser gutes Gesundheitssystem denn die meisten Krankenhausaufenthalte sind ja keine
noch besser zu machen. Und das machen wir in der Notaufnahmen, sondern geplante Eingriffe nach einer
christlich-liberalen Koalition an vielen Stellen. Die Än- Überweisung. Die Länder wiederum werden verpflichtet,
derungen im Infektionsschutzgesetz sind dafür ein gutes Hygieneverordnungen zu erlassen. Entsprechende Rege-
Beispiel. lungen gibt es derzeit leider nur bei weniger als der
Hälfte der Länder. Diese Verordnungen richten sich wie-
Pläne für einen verbesserten Umgang mit der Gefahr
derum an eine Bandbreite medizinischer Einrichtungen,
von Infektionskrankheiten gibt es schon lange, schon vor
und zwar mit inhaltlichen Kriterien von der Bauart und
den jüngsten Ehec-Fällen. Insbesondere die multiresis-
Ausstattung über Personalfragen bis hin zu Strukturen
tenten Erreger sind eine eher stille, aber dafür besonders
und Methoden der Infektionserkennung und -dokumenta-
verheerende Bedrohung. Vor allem im medizinischen
tion.
Bereich selbst – von Ambulanzen über Krankenhäuser
bis hin zu Pflegeheimen – ist die Ansteckungsgefahr be- Und schließlich halte ich auch die Beteiligung des
sonders groß, da sich hier jeden Tag Kranke und Ge- Gemeinsamen Bundesausschusses als Selbstverwal-
sunde, frisch Operierte und Besucher von draußen be- tungsgremium für einen entscheidenden Schritt. Der
gegnen. Etwa 400 000 bis 600 000 Patientinnen und GBA wird insbesondere verpflichtet, in seinen Richtli-
(B) Patienten – exakte Zahlen zu nennen, ist gar nicht mög- (D)
nien zur Sicherung der Hygienequalität geeignete Indi-
lich – erkranken in Deutschland jährlich an sogenannten katoren zur Vergleichbarkeit der Einrichtungen zu be-
Krankenhausinfektionen. Und etwa 7 500 bis 15 000 stimmen. So ist gewährleistet, dass sich im Vergleich
sterben daran. Nicht alle Infektionen und Todesfälle auch regionale Besonderheiten widerspiegeln – etwa
können auch mit dem besten Willen, den besten Geset- eine besonders hohe Fluktuation in der Einrichtung oder
zen und dem besten Einsatz von Ärzten und Pflegekräf- eine Bevölkerungsstruktur, bei der ein statistisch signifi-
ten verhindert werden. Aber dem Teil, der vermeidbar kantes Auftreten von Risikogruppen festzustellen ist.
ist, muss unsere ganze Aufmerksamkeit gelten. Denn erst diese Vergleichbarkeit sorgt für die notwen-
dige Transparenz und Aussagekraft bei der Bewertung
Der Beschluss, den der Deutsche Bundestag heute mit einer Einrichtung.
der Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer
Regelungen fassen wird, zeigt, dass es so ist: Das hoch Auch der Gesetzgebungsprozess hat zu einem weite-
renommierte Robert-Koch-Institut wird weiter gestärkt. ren Feinschliff und zu weiteren Verbesserungen der Ge-
Zur bewährten Kommission für Krankenhaushygiene setzesvorlage geführt. Auf einige Punkte will ich beson-
und Infektionsprävention, KRINKO, die sich ja um be- ders eingehen: erstens auf die Frist, die den Ländern zur
trieblich-organisatorische und baulich-funktionelle Fra- Verfügung steht, um eine Hygieneverordnung zu erlas-
gen in Krankenhäusern und anderen medizinischen Ein- sen. Ursprünglich war eine solche Frist nicht vorgese-
richtungen kümmert, erhält das RKI ein weiteres hen. Zwar wird es sich kein Land leisten können, untätig
Standbein. Eine Kommission „Antiinfektiva, Resistenz zu sein. Aber so wird nochmals der Handlungsbedarf un-
und Therapie“, ART, wird allgemeine Grundsätze im terstrichen, und die Länder haben mit dem Stichtag
Bereich der Diagnostik und Therapie, insbesondere bei 31. März 2012 auch hinreichend Zeit.
Infektionen mit resistenten Krankheitserregern erstel-
Zweitens. Dass das Aufstellen von Hygieneplänen
len. Das ist ein wichtiger und logischer Schritt, denn
auch für Arztpraxen, Zahnarztpraxen und Praxen sonsti-
Ärztinnen und Ärzte benötigen für ihr Engagement auch
ger humanmedizinischer Heilberufe gilt, ist ebenfalls ein
klare und wissenschaftlich abgesicherte Leitlinien. Die
gutes Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses.
Sitzungen erfolgen im Beisein des RKI selbst, aber auch
im Beisein von Vertretern des Bundesministeriums für Drittens – das ist für die medizinischen Einrichtungen
Gesundheit, der obersten Landesgesundheitsbehörden besonders wichtig –: Eine weitere Übergangsfrist bis
und des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizin- Ende 2016 sorgt dafür, dass medizinische Einrichtungen
produkte. Das gewährleistet eine noch bessere Abstim- genügend Zeit bekommen, das notwendige Hygiene-
mung. fachpersonal auch wirklich aufbauen zu können. Denn
13160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) insbesondere Fachärzte im Bereich Hygiene, Infektions- zur Infektionsbehandlung. Auch die Länder haben in (C)
epidemiologie und Umweltmedizin, aber auch Mikro- Krankenhausgesetzen und teilweise in Krankenhaushy-
biologen oder Virologen werden noch nicht so bald in gieneverordnungen spezifische Regelungen getroffen.
ausreichender Zahl auf dem Arbeitsmarkt sein. Wir spre- Daneben hat die Bundesregierung weitere Maßnahmen
chen immer vom Fachkräftemangel, oft aufgrund der de- getroffen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern zu
mografischen Entwicklung. Hier haben wir einen echten verbessern. Dazu gehören zum Beispiel die „AKTION
Vorgeschmack, und dem werden wir begegnen – alleine Saubere Hände“, die Deutsche Antibiotika-Resistenz-
schon deswegen, weil Hygienefachkräfte durch das Ge- strategie und das Krankenhaus-Infektions-Surveillance-
setz eine neue, größere Bedeutung gewinnen. Weitere System (KISS). All dies sind notwendige und sinnvolle
Verbesserungen des Gesetzgebungsprozesses betreffen Maßnahmen, die schon heute für eine bessere Kranken-
die stetige Weiterentwicklung der RKI-Veröffentlichun- haushygiene sorgen.
gen sowie die Evaluation der heute zu verabschiedenden
Trotzdem haben wir in Deutschland immer noch eine
Maßnahmen bis Ende 2014 in einer förmlichen Unter-
viel zu hohe Infektionsrate. Folgende Zahlen verdeutli-
richtung durch die Bundesregierung.
chen das eindrücklich: Nach Schätzungen infizieren sich
Mit dem uns nun vorliegenden Gesetzentwurf und den jährlich zwischen 400 000 und 600 000 Patientinnen und
Änderungsanträgen sorgen wir für bessere Hygienestan- Patienten in deutschen Krankenhäusern, bis zu 40 000
dards – sowohl im engeren Sinn in den Gesundheitsein- sterben daran. Im Vergleich dazu lag die Zahl der Ver-
richtungen als auch im weiteren Sinn bei der Resistenz- kehrstoten in Deutschland im Jahr 2010 bei 3 657. Das
prävention. Unsere Debatten im Bundestag sind in der Risiko, an einer Krankenhausinfektion zu sterben, ist
Regel ja geprägt vom Bemühen, der Kostenentwicklung also rund zehnmal höher als das Risiko, im Straßenver-
Herr zu werden und einen gerechten Ausgleich zwischen kehr tödlich zu verunglücken.
Leistungsempfängern und Hauptfinanzierern, zwischen Dabei liegt das Grundproblem der hohen Infektions-
Gesunden und Kranken, aber auch zwischen Arm und raten in Deutschland nicht an einem Mangel an geeigne-
Reich herzustellen. Mit dem heutigen Beschluss lösen ten Vorschriften und Empfehlungen. Es mangelt auch
wir zwar die Kostenfrage nicht, verschaffen aber etwas nicht an entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnis-
Luft. Denn die beste Kostendämpfung ist immer noch die sen. Nein, es ist vor allem ein Problem der unzureichen-
Infektionsvermeidung. den Umsetzung. Bei Einhaltung der bekannten Hygiene-
Aber lassen Sie mich darum abschließend noch eine regeln ließen sich viele Infektionen vermeiden.
Anmerkung machen – zum Alltag in Kliniken und Arzt- Entscheidend sind dabei die ganz alltäglichen Dinge wie
praxen, aber auch mit Blick auf die Eigenverantwortung regelmäßiges Waschen und Desinfizieren der Hände.
Wir müssen eine Hygienekultur etablieren, die dem me-
(B) der Patientinnen und Patienten: Auch das beste Gesetz (D)
kann die zahlreichen Desinfektionsmaßnahmen bis hin dizinischen Personal in Fleisch und Blut übergeht. Denn
zum einfachen Händewaschen nicht ersetzen. Und kein für die Patienten gilt: Bessere Krankenhaushygiene ist
Gesetz der Welt kann den verantwortungsbewussten und unter Umständen lebensrettend. Aber die Patienten kön-
auch disziplinierten Umgang der Patienten etwa bei der nen sich nicht selber schützen. Sie sind auf die berufli-
Einnahme von Antibiotika erzwingen. Das geht nur, che Routine, Sorgfalt und Verantwortung der im Kran-
wenn auch das entsprechende Bewusstsein – nicht zu- kenhaus Tätigen angewiesen. Dies müssen wir noch
letzt das Verantwortungsbewusstsein – vorhanden ist. mehr ins Bewusstsein der Menschen rufen.
Aber mit dem vorliegenden Gesetz haben wir die Struk- Deshalb werden wir mit dem vorliegenden Gesetz da-
turen und die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheits- für sorgen, dass die bestehenden Empfehlungen und Vor-
systems so verbessert, dass die Grundlage für dieses Be- schriften zur Hygiene besser beachtet und umgesetzt
wusstsein bei den Verantwortungsträgern entscheidend werden. Wir werden auch dafür sorgen, dass der ratio-
gestärkt wird. Das zeigt: Die Gesundheitspolitik ist bei nale Einsatz von Antibiotika gefördert wird. Ich freue
uns in guten Händen. mich, dass diese Lösung grundsätzlich von allen Fraktio-
nen in diesem Haus mitgetragen wird.
Stephan Stracke (CDU/CSU): Ganz Deutschland Nun fordert die Opposition weitere bundeseinheitli-
redet momentan über Ehec. Die Quelle des Erregers che Vorgaben. Dies halte ich für nicht gerechtfertigt.
konnte trotz intensiver Bemühungen bisher nicht gefun- Denn eines ist klar: Die Verantwortung für die Kranken-
den werden. Dies zeigt: Keime und Bakterien sind tü- häuser liegt bei den Bundesländern, und dort sollte sie
ckisch, denn wir können sie nicht sehen. Sie sind der un- auch grundsätzlich verbleiben. Wir wahren mit unserem
sichtbare Feind, dem wir uns entschlossen stellen Gesetz die Balance zwischen dem, was bundeseinheit-
müssen. Dies gilt ganz besonders auch für Krankenhaus- lich notwendig ist, und dem, was sinnvollerweise von
infektionen. Denn jede Infektion bedeutet persönliches den Ländern in eigener Verantwortung ausgefüllt werden
Leid für die Patienten und ihre Angehörigen. Daher sind muss. Wir geben den Rahmen vor. Dieser ist sachgerecht
der christlich-liberalen Koalition der Erhalt und die stete und ausreichend.
Verbesserung der Hygienesituation an unseren Kranken-
häusern ein so wichtiges Anliegen. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält als sogenann-
tes Omnibusgesetz noch weitere Regelungen. Eine da-
Dabei ist es nicht so, dass Deutschland bisher nichts von betrifft im Bereich der Pflege die Anpassung der
getan hätte. Im Gegenteil: Das Infektionsschutzgesetz Transparenzvereinbarungen nach § 115 SGB XI. Dies ist
des Bundes enthält bereits heute sachgerechte Verfahren inhaltlich zunächst die Aufgabe der Selbstverwaltung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13161

(A) Allerdings hat sich gezeigt, dass die bisherigen gesetzli- ren. Sie haben getrauert, und sie haben eine Selbsthilfe- (C)
chen Rahmenbedingungen einen Schwachpunkt aufwei- gruppe für MRSA-Opfer und Angehörige gegründet.
sen: Durch die für Änderungen geforderte Einstimmig- Diese Selbsthilfegruppe hat enormen Zuspruch, und ihre
keit konnten zwei kleine Vereinbarungspartner bis zum Veranstaltungen erhalten großen öffentlichen Zulauf.
Schluss eine Einigung blockieren. Mit der Möglichkeit, Die beiden Duisburger Damen haben mich – lange bevor
die Schiedsstelle anzurufen, schaffen wir nun einen dau- ich in den Bundestag gewählt wurde – in ihre Selbsthil-
erhaften Konfliktlösungsmechanismus zur Klärung von fegruppe eingeladen. Die Tragik, das Leid und die Hilf-
Streitpunkten, die von den Vereinbarungspartnern auf losigkeit der Betroffenen, aber auch die Energie der
dem Verhandlungswege nicht zu lösen sind. Überlebenden, MRSA und den ihn unterstützenden Um-
ständen in unserem Gesundheitssystem den Kampf an-
Dies ist aber unter Umständen nur ein erster Schritt. zusagen, haben mich sehr beeindruckt. Diesen Mut und
Denn ich sage es hier ganz deutlich: Wir haben die klare diesen Einsatz habe ich mir immer wieder in Erinnerung
Erwartungshaltung, dass die Vereinbarungspartner bei gerufen, wenn wir die Verbesserung der Krankenhaus-
der Weiterentwicklung der Transparenzvereinbarungen hygiene oder wie es nun heißt, die Änderung des Infek-
jetzt möglichst schnell zu tragfähigen Lösungen kom- tionsschutzgesetzes beraten haben.
men. Insbesondere bei der Frage der Stichprobenaus-
wahl und der Bewertungssystematik gibt es dringenden Ausdrücklich danke ich allen Kolleginnen und Kolle-
Änderungsbedarf. Ich fordere daher, dass diese Punkte gen im Ausschuss für Gesundheit, dass wir uns zu die-
jetzt zügig angegangen und gelöst werden. Denn es geht sem Thema mit der nötigen Sorgfalt und der notwendi-
hier um die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. gen Sachlichkeit intensiv auseinandergesetzt haben.
Diese haben das Recht und das Bedürfnis, sich über die Geholfen hat dabei, dass wir uns grundsätzlich darin ei-
Qualität der Pflegeeinrichtungen zu informieren. Sinn- nig waren, welches Ziel wir erreichen wollten. Dass es
voll ist das aber nur, wenn die veröffentlichten Ergeb- dorthin unterschiedliche Wege gibt, die mit unterschied-
nisse auch aussagekräftig sind. Darum geht es. Jetzt ist licher Geschwindigkeit begangen werden können, da-
die Selbstverwaltung gefordert, zu zeigen, dass sie fähig rauf komme ich gleich zurück.
ist, gute Lösungen für die Pflegebedürftigen und ihre
Es hat auch geholfen, dass sich alle Fraktionen und
Angehörigen zu finden. Ihre eigenen Interessen haben
die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesländer im
zwingend dahinter zurückzustehen. Die Politik wird die
Bundesrat mit zahlreichen fachlichen Beiträgen kon-
Entwicklung genau beobachten. Sollte es zu keiner ver-
struktiv an der Beratung beteiligt haben.
nünftigen Lösung kommen, werde ich mich für klare ge-
setzliche Vorgaben einsetzen. Ich danke auch den Expertinnen und Experten, die
sich an den Beratungen und insbesondere an der Anhö-
Das vorliegende Gesetz zur Änderung des Infektions-
(B) rung beteiligt haben. Ich bin noch nicht allzu lange da- (D)
schutzgesetzes macht klar: Wir, die christlich-liberale
bei, aber diese war fachlich und inhaltlich eine der bes-
Koalition, stellen den Menschen in den Mittelpunkt un-
ten und interessantesten, an denen ich bisher teilnehmen
seres politischen Handelns. Das zeigt sich auch bei unse-
durfte.
ren weiteren Vorhaben:
Im Herbst des vergangenen Jahres hat die SPD-Bun-
Erstens haben wir ein Versorgungsgesetz auf den Weg
destagsfraktion der Koalition und der Bundesregierung
gebracht, das auch in Zukunft die ärztliche Versorgung
hier an dieser Stelle angeboten, gemeinsam die Kranken-
gerade im ländlichen Raum gewährleistet und die Be-
haushygiene in Deutschland zu verbessern. Wir haben
dürfnisse und Interessen vom Patienten her definiert.
kurz darauf einen Vorschlag unterbreitet, der im Aus-
Zweitens werden wir ein Patientenrechtegesetz erar- schuss von allen Fraktionen begrüßt wurde: einheitliche
beiten, das Transparenz über die bereits heute bestehen- Hygieneverordnungen für alle Bundesländer und ausrei-
den, umfangreichen Rechte der Patientinnen und Patien- chend Hygienefachpersonal in Krankenhäusern. Im End-
ten herstellt und die tatsächliche Durchsetzung dieser ergebnis – und das sage ich heute mit großem Bedauern –
Rechte erleichtert. ist es der Bundesregierung nicht gelungen, diese Steilvor-
lage an inhaltlicher Einigkeit und politischem Willen in
Drittens werden wir eine Reform der Pflegeversiche- ein Gesetz umzusetzen, das auch die Zustimmung aller
rung angehen, die die Demenz und die pflegenden Ange- findet. Nicht mehr und nicht weniger hätten die Betroffe-
hörigen in das Zentrum stellt und eine generationenge- nen verdient. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung,
rechte Finanzierung auf den Weg bringt. den in der Folge die Koalitionsfraktionen übernommen
Das ist unser Ansatz und unser Verständnis von richti- haben, erfüllt gerade einmal die Mindestanforderungen
ger Gesundheitspolitik. Ich lade alle dazu ein, uns hier- an eine wirkliche Verbesserung des Infektionsschutzes.
bei zu begleiten und zu unterstützen. Er bleibt in vielen Punkten hinter dem kleinsten gemein-
samen Nenner zurück.
Bärbel Bas (SPD): Bevor ich mich dem Gesetzent- Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Bundes-
wurf und den Anträgen widme, möchte ich mich bei regierung immer zwei Schritte vorangeht und dann
zwei alten Damen bedanken, zwei alten Damen aus mei- ängstlich anderthalb Schritte zurückzuckt. Sie wollen
ner Heimatstadt Duisburg, die ich für ihre Energie und den Bundesländern Krankenhaushygieneverordnungen
ihren Einsatz bewundere. Die beiden Damen sind Wit- vorschreiben. Sie sagen aber nicht deutlich, welche kon-
wen. Sie haben ihre Männer durch eine Infektion im kreten qualitativen und quantitativen Mindeststandards
Krankenhaus, ausgelöst durch den MRSA-Keim, verlo- diese enthalten sollen. Sie scheuen auch davor zurück,
13162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) bundeseinheitliche Vorgaben zu machen. Sie erklären ei- lungen, aus denen man höchstens mit viel gutem Willen (C)
nerseits die Empfehlungen der KRINKO für verbindlich ableiten kann, dass irgendwoher neues Fachpersonal
und trauen sich andererseits nicht, bei Hygienemängeln kommen soll.
wirkungsvolle finanzielle Sanktionen zuzulassen. Wir
wissen alle, dass längst nicht alle Empfehlungen der Herr Minister, die Maßnahmen Ihres Gesetzentwurfes
KRINKO den aktuellen Forschungsstand widerspie- haben aus unserer Sicht zu wenig Substanz, um einen
geln. Ihre Überarbeitung braucht Zeit und Engagement deutlichen Schritt nach vorne für bessere Hygienebedin-
von guten Hygienikern und Mikrobiologen. Wir hätten gungen in unserem Land zu schaffen. Etwas mehr Mut
uns daher gewünscht, dass in Ihrem Gesetzentwurf auch ihrerseits, und wir könnten ihrem Gesetz zustimmen. So
etwas dazu stehen würde, wie man diese zur Mitarbeit in werden wir uns enthalten, um in der Krankenhaushygi-
der KRINKO und nun auch der ART-Kommission ge- ene wenigstens einen kleinen Schritt voranzukommen.
winnen kann. Denn immerhin enthält Ihr Gesetzentwurf eine Evalua-
tionsklausel – den besten Artikel des ganzen Gesetzes.
Sie schaffen eine Abrechnungsziffer für eine fragwür- So ist sichergestellt, dass wir uns schon bald wieder mit
dige ambulante MRE-Sanierung vor einer Krankenhaus- dem Thema beschäftigen können. Dann hoffentlich mit
einweisung, lassen es aber an klaren Vorschriften für die einer Bundesregierung, die eine solche Einigkeit in der
ambulante Nachbehandlung von MRE-Patienten man- Sache auch in einen wahren Fortschritt umzusetzen
geln. In der Anhörung wurde es uns deutlich gesagt: weiß.
Wenn eine im Krankenhaus begonnene MRE-Sanierung
Ich nenne Ihnen heute schon die Maßnahmen, die wir
nach der Entlassung vom Hausarzt oder von einem Arzt
dann zu entscheiden haben: mehr Fachpersonal, verbind-
im Pflegeheim nicht weitergeführt wird, weil dieser sie
liche Eingangsscreenings und Nachbehandlung, restrik-
nicht abrechnen kann, dann hätte man sich auch den
tiver Antibiotikaeinsatz in der Human- und der Veteri-
Aufwand im Krankenhaus sparen können. Eine solche
närmedizin, qualitätsorientierte Vergütung und vor allem
Verschwendung von knappen Mitteln können wir uns
noch mehr Transparenz.
nicht leisten.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent-
Überhaupt machen Sie einen großen Bogen um das wurf auch deshalb nicht zustimmen können, weil die
Thema die Hygiene in der ambulanten und stationären Bundesregierung der Versuchung nicht widerstehen
Pflege. Sie fordern den Gemeinsamen Bundesausschuss konnte, diesen Entwurf zu einem Omnibus zu machen.
auf, Indikatoren zur Qualitätssicherung zu entwerfen, Die Verbesserung des Infektionsschutzes muss somit da-
scheuen aber davor zurück, die Ergebnisse dieser Indika- für herhalten, Nachbesserungen aufzunehmen, die die
toren in den jeweiligen Einrichtungen für die Patientin- Bundesregierung versäumt hat, schon vorher zu regeln.
(B) nen und Patienten aktuell, nachvollziehbar und transpa- Wir glauben nicht, dass Sie mit Ihren Vorschlägen zur (D)
rent zugänglich zu machen. Naheliegend wäre es auch Schiedsstelle bei den Pflegetransparenzvereinbarungen
gewesen, wenn Sie diese Indikatoren zum Gegenstand und dem eigenständigen Prüfrecht der PKV in der Pflege
der Vergütungsverhandlungen zwischen Krankenhäu- das gewünschte Ziel erreichen werden. Ihre Kopfpau-
sern und Krankenkassen machen würden. Erfüllt ein schale samt sogenanntem Sozialausgleich wird auch
Krankenhaus die Anforderungen gut oder hat sogar be- nicht dadurch besser, dass Sie jetzt bei erstbester Gele-
sondere Erfolge vorzuweisen, dann könnte es dafür auch genheit schon wieder nachjustieren müssen. Hätten Sie
besser bezahlt werden. Das wiederum würde Anreize beim Infektionsschutz so viel Einsatz gezeigt, wie Sie es
schaffen, neue Wege zu gehen und die Abläufe zu ver- bei den Versuchen, die U1/U2-Umlage umzugestalten,
bessern. Aber es findet sich kein Wort über qualitätsori- an den Tag legen, wäre mein Fazit heute vielleicht etwas
entierte Vergütung in ihrem Entwurf. besser ausgefallen. So bleibt mir nur übrig, der vertanen
Ein Thema ist mir persönlich besonders wichtig: Die Chance nachzutrauern. Wir hätten viel mehr erreichen
Eingangsscreenings. Sie sind international das erfolg- können, hätten Sie den Mut dazu gehabt. Wir hätten
reichste Instrument zur Bekämpfung der MRE-Epide- gerne jeder noch so kleinen Verbesserung zugestimmt,
mie. Sie sind das Mittel der Wahl für jede ernst zu neh- aber in der Summe haben Sie es uns unmöglich gemacht.
mende Anti-MRE-Strategie. Dort, wo in Deutschland Unser Angebot, an der Sache orientiert die Kranken-
bereits Patienten bei der Aufnahme auf MRE gescreent haushygiene in Deutschland voranzubringen, steht wei-
werden, sinken die Infektionszahlen und sparen die Kli- terhin. Das bin ich nicht nur den beiden alten Damen aus
niken Geld. In der Anhörung schwärmte uns der Vertre- Duisburg schuldig, sondern allen, die immer noch unnö-
ter vom MRSA-net Münster geradezu vor, wie erfolg- tig leiden.
reich unsere niederländischen Nachbarn mit ihrer
rigorosen Umsetzung von Screenings sind. Und Ihr Ge- Jens Ackermann (FDP): Heute ist ein guter Tag für
setzentwurf? Mit keinem Wort erwähnen Sie dort Ein- die Patienten in Deutschland, es ist ein wichtiger Tag für
gangsscreenings. die Angehörigen, die Arbeitgeber und die Solidar-
gemeinschaft. Denn wir werden heute endlich konkret
Auch um eine weitere Kernfrage drückt sich der Ent- damit beginnen, die Hygiene in Krankenhäusern und an-
wurf der Bundesregierung herum: Wie viele Hygiene- deren medizinischen Einrichtungen zu verbessern.
fachkräfte brauchen wir, um eine wirksame MRE-Strate-
gie zu entwickeln und umzusetzen? Wo und wie sollen Wer ins Krankenhaus geht oder wer eine andere medi-
diese ausgebildet werden, und wie werden sie bezahlt? zinische Einrichtung aufsucht, möchte Hilfe. Es geht
Hier belassen Sie es bei schwammigen Übergangsrege- dann in erster Linie darum, aufgrund von Krankheiten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13163

(A) fachlich gut versorgt zu werden, Leiden zu verringern handlungsassoziierten“ Krankheitserregern. Besonders (C)
oder ganz zu beheben. Aber eines möchten diese Men- schlimm ist, dass wir hier mit stillem Leid konfrontiert
schen nicht: Kränker das Krankenhaus verlassen, als sie sind. Denn die betroffenen Patienten haben nicht die
hineingegangen sind. Natürlich sind die deutschen Kran- Lobby, die sie bräuchten – bislang. Deshalb ist es gut,
kenhäuser gut – keine Frage. Die Leistungen sind um- dass die Initiative zur Verbesserung der Hygiene in me-
fangreich und professionell. Doch bei allen positiven dizinischen Einrichtungen auch direkt von den Abgeord-
Nachrichten im Zusammenhang mit der medizinischen neten selbst ausgegangen ist.
Versorgung in Deutschland gibt es eben einen Bereich,
der den Menschen und uns Politikern immer wieder Sor- Mit den folgenden Maßnahmen wollen wir Hygiene
gen bereitet hat: Die Infektion mit multiresistenten Kei- verbessern und Leid verringern:
men. Denn bislang mangelt es an der Umsetzung von Zum einen wollen wir die Zahl der nosokomialen In-
notwendigen Hygienestandards für Krankenhäuser und fektionen, insbesondere jene mit resistenten Erregern,
Pflegeheime. durch eine bessere Einhaltung von Hygieneregeln, eine
sachgerechte Verordnung von Antibiotika sowie durch
Studien zu Infektionen mit MRE gibt es viele. Eine
die Berücksichtigung von sektorenübergreifenden Prä-
lässt vermuten, dass in Deutschland fast zehnmal so
ventionsansätzen senken.
viele Menschen durch mangelnde Krankenhaushygiene
sterben, als im Straßenverkehr. Die Rede ist von 40 000 Das heißt, dass wir letztlich Qualität und Transparenz
Toten, Fälle, die womöglich vermeidbar wären. Doch an der Hygiene in medizinischen Einrichtungen stärken
dieser Stelle muss gesagt werden, dass es keine abschlie- möchten.
ßend genauen Zahlen gibt, dass wir hier im Nebel sto-
chern. Doch dieser Missstand soll künftig behoben wer- Deshalb fordern wir letztlich auch und gerade klare,
den: Durch eine Meldepflicht wollen wir endlich verbindliche Zuständigkeiten.
Klarheit über das Auftreten nosokomialer Infektionen Da die Behandlung von Infektionen mit MRE also na-
schaffen. hezu unmöglich, langwierig ist und generell mit erheb-
Dass eine Verbesserung der mangelhaften Situation lichen Problemen einhergeht, sind Prävention und Hy-
möglich ist, zeigen die Niederlande: Während in giene so wichtig.
Deutschland die gefährliche Keim-Mutante MRSA über Unsere Lösungsansätze im Kampf gegen multiresis-
20 Prozent aller isolierten Keime dieser Art ausmacht, tente Erreger sehen dabei zunächst eine Verpflichtung
ist der Anteil in unserem Nachbarland unter 1 Prozent. der Länder zum Erlass von Rechtsverordnungen vor.
Dieser Vergleich macht deutlich, dass wir Nachholbedarf Diese sollen beispielsweise Regelungen umfassen zur
(B) haben, dass wir handeln müssen. Es macht deutlich, dass personellen Ausstattung der Krankenhäuser mit Hy- (D)
wir deshalb richtig daran tun, die Hygiene in Deutsch- gienefachkräften, aber auch Schulungen des Personals
land zu verbessern. Wir brauchen die Änderung des In- oder hygienische Mindestanforderungen an Bau, Aus-
fektionenschutzgesetzes. stattung und Betrieb der Einrichtungen sind hier zu nen-
Ich glaube, dass wir in diesem Punkt unbestreitbar nen.
alle einer Meinung sind – und dies ist ja gerade in Sa- Uns war im Übrigen wichtig, dass den Ländern eine
chen Gesundheitspolitik nicht immer der Fall. Alleine Frist gesetzt wird, denn wir wollen schnell und zügig,
dieser Umstand zeigt uns aber auch: Die Koalitionsfrak- dass gewisse Hygienestandards bundesweit erreicht wer-
tionen greifen die Sorgen und Nöte der Menschen auf. den, denn eine MRE-Infektion ist in München genauso
Wir wissen, wo jahrelang wichtige Impulse ausgeblieben gefährlich wie in Berlin oder Hamburg.
sind und geben endlich Antworten auf die dringende
Frage, wie wir die Hygiene im Land verbessern können. Künftig wird die sogenannte „Kommission für Kran-
kenhaushygiene und Infektionsprävention“ – kurz
Die Infektionen mit gefährlichen Keimen führen zu KRINKO – beim Robert-Koch-Institut Empfehlungen
unerträglichem Leid für die Betroffenen und verur- und Richtlinien zur Infektionshygiene erarbeiten. Dabei
sachen erhebliche ökonomische Belastungen für die So- war es uns vonseiten der FDP ein klares Anliegen, dass
lidargemeinschaft der Versicherten und den deutschen diese Empfehlungen kontinuierlich weiterentwickelt wer-
Arbeitsmarkt. Das muss aber nicht so sein, das ist ver- den und dass diese Empfehlungen auch veröffentlicht
meidbar. Mit dem Gesetz wollen wir nun konkret dieses werden müssen. Denn eines ist klar: Wir wollen im
Leid vermindern, Infektionen mit solchen multiresisten- Kampf gegen die Keime auf dem aktuellsten Stand sein,
ten Keimen reduzieren und Tod vermeiden. Damit uns wir wollen nicht veraltete Empfehlungen, sondern mit
dies gelingen kann, müssen wir den Anfängen wehren. neuesten Erkenntnissen den Menschen helfen.
Denn besonders tragisch bei Infektionen mit multiresis-
tenten Keimen ist die Tatsache, dass diese nahezu unbe- Zwischen der Multiresistenz und der Verschreibung
handelbar sind. Wer infiziert ist, leidet – und das oft über von Antibiotika besteht ein signifikanter Zusammen-
Jahre – oder stirbt. hang. Wir wollen diese unglückselige Spirale durchbre-
chen. Deshalb wird beim RKI die „Kommission Anti-
Viele Menschen haben die Keime auf der Haut, doch infektiva, Resistenz und Therapie“ – kurz ART –
zur Gefahr werden sie erst bei den Kranken und Schwa- eingerichtet. Ihre Aufgabe: Die Erstellung von Empfeh-
chen. Ein weiteres Problem ist eine Zunahme antimikro- lungen mit allgemeinen Grundsätzen für Diagnostik und
bieller Resistenzen bei bestimmten, insbesondere „be- antimikrobielle Therapie.
13164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Und wir brauchen Daten über das bundesweite Auf- tionen weiter unnötig zu. Aber Sie ignorieren solche Er- (C)
treten von MRE, ein Lagebild, um eben konkret Zunah- kenntnisse. Wir fordern auch, den wahnsinnigen
men von MRE-Fällen in einzelnen Regionen frühzeitig Personalabbau in den Kliniken zu stoppen und umzukeh-
zu erkennen, um entsprechend zu handeln zu können. ren.
An all diesen unterschiedlichen Punkten wird eines Jedem Bürger ist klar, dass die permanente Kürzung
deutlich: Mit dem von uns angestoßenen Gesetz haben von Personal in den Krankenhäusern die hygienischen
wir die Gefahren erkannt und für unterschiedliche He- Bedingungen verschlechtert hat. Ohne genügend und gut
rausforderungen entsprechende Antworten gefunden, qualifiziertes Personal gibt es keine gute Gesundheits-
um die Hygiene in Krankenhäusern und medizinischen versorgung. Das sollte auch in der Regierung ankom-
Einrichtungen zu verbessern. Wir sind sicher, dass wir men.
mit den von uns angestoßenen Maßnahmen gewiss Er-
folg haben werden. Doch wir wollen auch hier sicher- Ich hoffe auch, dass diese und künftige Regierungen
gehen. Deshalb werden die von uns eingeleiteten Maß- begriffen haben, dass dieses Thema nicht mit einem Ge-
nahmen rückwirkend vom RKI und unabhängigen setz geregelt sein wird. Wir müssen zeitnah neue Er-
Sachverständigen evaluiert. Abschließend bleibt festzu- kenntnisse zur Krankenhaushygiene einbinden, wie zum
halten, dass uns im Gesundheitswesen oft sogenannte Beispiel aus dem Greifswalder Projekt, das sektoren-
Scheininnovationen begegnen. übergreifend eine ganze Region betrachtet.

Ich bin sicher, dass die Regierungsfraktionen hier In- Sie nutzen dieses Gesetz als trojanisches Pferd für
novatives für Deutschland vorgelegt haben, um künftig sachfremde Gesetzesänderungen. Verwerflich ist, dass
MRE zu verringern und den Menschen tausendfach Leid Sie ermöglichen, dass sensibelste persönliche Daten
zu ersparen. Die vorangegangenen Diskussionen haben weiter an private Abrechungsstellen gehen. Sie setzen
gezeigt, dass es immer noch an einzelnen Stellschrauben sich damit über ein Urteil des Bundessozialgerichts hin-
zwischen den Fraktionen unterschiedliche Bewertungen weg. Das ist schlicht ein datenschutzrechtlicher Skandal,
gibt, doch es ist zudem deutlich geworden, dass es keine den Sie so nebenbei verabschieden wollen.
offene Ablehnung gibt. Dies zeigt, dass dieses Thema Wegen benannter Versäumnisse und falscher Rege-
generell unverzichtbar ist, dass es die Menschen über lungen können wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen und
Parteigrenzen hinweg berührt und – das hoffe ich nun werden uns enthalten.
natürlich – dass es auch erfolgreich sein wird.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Gut, dass das Ge- Wir sollen heute einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
(B) setz zur Krankenhaushygiene endlich kommt. Ich kann rung beschließen, der das weitverbreitete Problem der (D)
es Ihnen aus den anderen Fraktionen aber auch heute multiresistenten Erreger und gefährlichen Krankenhaus-
nicht ersparen: Dieser Gesetzentwurf kommt mindestens infektionen endlich angehen will. Nachdem es im ver-
zwei Jahre zu spät oder – um es drastisch zu sagen –: bis gangenen Sommer an einem Mainzer Klinikum Todes-
zu 80 000 Tote zu spät. fälle von Säuglingen gegeben hatte, bei denen der
Alles, was wir heute wissen, war spätestens im Januar Verdacht der Nichtbeachtung von Hygienevorschriften
2009 nach der Anhörung zu unserem Antrag in der letz- im Raume stand, forderten die Kollegin Flach und der
ten Legislaturperiode bekannt. Alles, was nun in dem Kollege Spahn flugs wirksame bundeseinheitliche Rege-
Gesetzentwurf und in den Anträgen der Fraktionen steht, lungen zur Hygiene in stationären Einrichtungen.
hätte ebenso vor zwei Jahren eingebracht werden kön- Gemessen daran ist der Gesetzentwurf, der heute be-
nen. Die Linke hatte wie ein Rufer in der Wüste als ein- schlossen werden soll, nur ein Placebo. Denn bei genauer
zige Fraktion einen Antrag vorgelegt. Es war verantwor- Betrachtung entpuppen sich die Vorschläge der Koalition
tungslos von allen anderen Fraktionen, unseren Antrag als allenfalls halbherzig. Ich kann mir beispielsweise
vom Tisch zu wischen und nichts Eigenes vorzulegen. nicht erklären, warum darauf verzichtet wird, das zu re-
Ich weiß, dass Sie keine Lust haben, das zu hören. geln, was der Bund ohne Weiteres regeln könnte. Statt-
Aber ich bringe das hier noch einmal ein, weil ich in- dessen belässt man es bei ein paar unkonkreten Vorgaben,
ständig hoffe, dass Sie künftig Themen oder Anträge der Gründung einer neuen Kommission und allgemeinen
nicht schon deshalb für Blödsinn und nebensächlich er- Aufforderungen an die Länder und verzichtet darauf, sich
klären, weil sie von der Linken kommen. Das kann näm- wirkungsvoll um das Problem der zu häufigen Antibioti-
lich Menschen das Leben kosten. kaverschreibungen zu kümmern. Der Gesetzentwurf ist
dadurch gekennzeichnet, dass er in den entschiedenen
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung Fragen die Verantwortung wieder auf die Länder ab-
geht in die richtige Richtung. Es wäre aber mehr zum schiebt. Die Länder werden verpflichtet, Krankenhaushy-
Schutz vor Krankenhauskeimen nötig und möglich ge- gieneverordnungen zu erlassen. Was aber in diesen Ver-
wesen. ordnungen drinstehen soll, bleibt wieder deren Ermessen
überlassen.
So fordert die Linke, die Antibiotikaverwendung in
der landwirtschaftlichen Tierhaltung auf das wirklich Das Gesetz, das Sie uns heute als umfassende bundes-
medizinisch erforderliche Maß zu beschränken. Gerade weite Lösung verkaufen, ist bei genauerem Hinsehen
jetzt bei Ehec sehen wir erneut, wie wichtig das ist. An- doch wieder nur der gute alte Flickenteppich. Sie halten
sonsten nimmt die Zahl resistenter Keime und der Muta- es noch nicht einmal für nötig, die Länder an einen Tisch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13165

(A) zu holen und ein gemeinsames Vorgehen in dieser Frage All die hier genannten Kritikpunkte haben wir Grü- (C)
zu verabreden. Noch besser wäre es, wenn Sie die Ge- nen in unserem Antrag aufgezeigt. Sie haben keinen da-
setzgebungskompetenz des Bundes im Bereich des In- von angenommen. Ich bezweifle, dass Ihr Gesetz in der
fektionsschutzes wirklich ausgenutzt hätten, anstatt sich Praxis wirklich zu nachhaltigen Veränderungen führen
hinter den Ländern zu verstecken. Warum schreiben Sie wird. Es bekämpft weder die zentralen Ursachen des
nicht selbst konkrete Maßnahmen im Gesetz fest? Wa- Problems noch wird es dazu führen, dass die Länder das
rum verpflichten Sie nicht einfach – wie wir Grünen das Problem einheitlich angehen. Sie gaukeln der Öffentlich-
in unserem Antrag fordern – stationäre Einrichtungen keit vor, dass Sie mit diesem Gesetz wirksame Maßnah-
per Gesetz, Risikopatienten vor der Aufnahme auf resis- men gegen Krankenhausinfektionen und multiresistente
tente Erreger zu testen? Der Nutzen solcher Maßnahmen Erreger ergreifen. Doch das tun Sie nicht wirklich.
ist vielfach belegt; die Niederlande machen es uns vor.
Selbst die Expertenkommission des Robert-Koch-Insti-
tuts fordert ein solches Screening. Und trotzdem sucht Anlage 4
man diese Maßnahmen in Ihrem Gesetzesvorschlag ver-
gebens. Zu Protokoll gegebene Reden

Auf der anderen Seite führen Sie eine Abrechnungs- zur Beratung des Antrags: Wirksamen Ver-
möglichkeit für niedergelassene Ärzte ein, die der gesetz- braucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen
lichen Krankenversicherung zusätzliche Kosten beschert (Tagesordnungspunkt 14)
– ohne zu wissen, ob die abgerechneten Maßnahmen das
Problem wirksam lösen können. Ich weiß nicht, was der Mechthild Heil (CDU/CSU): Nanotechnologien sind
Grund dafür ist, dass Sie an dieser Stelle plötzlich eine die Zukunftstechnologie! Die vielfältigen Bereiche, in
solche Entschlusskraft an den Tage legen, während Sie denen Nanostoffe eingesetzt werden können, verspre-
bei anderen Maßnahmen im Vagen bleiben. An der Wirk- chen Lösungen für viele Herausforderungen unserer
samkeit dieser neuen Abrechnungsmöglichkeit kann es Zeit. Nanostoffe können uns helfen, Ressourcenknapp-
nicht liegen, denn die ist, um es vorsichtig auszudrücken, heit, Umweltverschmutzung und Krankheiten besser in
umstritten. den Griff zu bekommen. Die Partikel, die im Verhältnis
zu einem Fußball so winzig sind wie der Fußball im Ver-
Absolut mager sind auch Ihre Vorschläge zum Um-
hältnis zur Erdkugel, versprechen Großes.
gang mit Antibiotika. Die Einrichtung einer neuen Kom-
mission beim Robert-Koch-Institut, die Empfehlungen Medizinische Instrumente können durch die Mini-
für die Praxis ausarbeitet, kann sinnvoll sein. Aber doch partikel besser keimfrei gehalten werde, ebenso wie die
(B) nur als ein Baustein unter vielen. Wir sehen bei der Kom- Kleidung von medizinischem Personal oder von Land- (D)
mission für Krankenhaushygiene seit Jahren, wie wenig wirten, die mit Pestiziden arbeiten. Wandfarbe, die mit
selbst sinnvolle Empfehlungen in der Praxis beachtet Nanopartikeln angereichert ist, verhindert Schimmelbil-
werden. Was macht Sie so sicher, dass das in Sachen An- dung im Innenraum und Algenwachstum an Fassaden.
tibiotika anders sein wird? Auch Ihr Vorschlag, ein Mo- Im Kosmetikbereich werden die Partikel in Sonnencre-
nitoring für den Antibiotikaverbrauch einzuführen, bleibt mes gemischt, weil sie die Haut besser vor UV-Licht
nichts weiter als ein halbherziger Versuch. Es erfasst schützen als herkömmliche Sonnenschutzmittel. Auch in
nämlich nur die Verordnungszahlen in stationären Ein- der Zahnpasta schaffen sie einen Mehrwert. Sie können
richtungen – dabei erfolgen die meisten unnötigen Anti- angegriffenen Zahnschmelz wieder aufbauen, weil sie
biotikaverschreibungen im ambulanten Bereich. vom chemischen Aufbau her identisch sind. Sehr viel-
versprechend ist auch die Forschung zur Effizienzver-
Uns reichen Ihre Vorschläge bei weitem nicht aus. besserung im Energiebereich. Solarzellen auf Basis or-
Das Problem der falschen Antibiotikavergabe muss auf ganischer Halbleiter könnten sehr viel leistungsfähiger
allen Ebenen angegangen werden. Übrigens auch in der werden, sodass sie Wirkungsgrade wie andere erneuer-
Tiermast. Dort haben wir ebenfalls mit multiresistenten bare Energieformen erreichen.
Erregern zu kämpfen, die dann von Mensch zu Mensch
übertragen werden können. Das Problem wird bei Ihnen Mir ist bewusst, dass wir noch nicht alles über Nano-
überhaupt nicht erwähnt – geschweige denn, dass Sie stoffe wissen. Forscher müssen noch herausfinden, wie
hierzu irgendwelche Maßnahmen ergreifen. sich Nanostoffe im Detail verhalten: Wie verhalten sich
diese winzigen Partikel, wenn sie physikalischen, chemi-
Natürlich macht man sich mit einer restriktiveren An- schen oder biologischen Prozessen in der Umwelt ausge-
tibiotikapolitik bei der pharmazeutischen Industrie und setzt sind? Dies zu wissen, ist umso wichtiger, je näher
in der industriellen Tiermast nicht gerade beliebt. Aber Nanoprodukte an den Körper des Menschen herankom-
gerade aus den Niederlanden wissen wir, dass dies der men: von Oberflächenbeschichtungen über Textilien und
Schlüssel zu geringen Infektions- und Resistenzraten ist. Kosmetika bis hin zu Lebensmitteln. Auch die Auswir-
Im europäischen Vergleich sind die Länder, in denen An- kungen auf das Ökosystem müssen weiter untersucht
tibiotika frei verkäuflich sind, auch diejenigen, die mit werden.
hohen Resistenzraten zu kämpfen haben. Einen etwas
breiteren Ansatz hätten wir uns von der Bundesregierung Aber wir sollten uns hier nicht von Angst leiten las-
daher schon gewünscht – zumal auch die Deutsche Anti- sen. Angst ist ein schlechter Ratgeber, da sie die Sicht
biotika-Resistenzstrategie bislang noch keine wirkliche auf die Chancen dieser segensreichen Technologie ver-
Wirkung entfaltet hat. stellt. Nur weil unser Wissen über die Wirkungsweise
13166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) von Nanostoffen noch nicht umfassend ist, ist es zu früh, und sicheren Nutzung der Nanotechnologie weiter vo- (C)
ihren Einsatz umfassend infrage zu stellen und wegzure- ran. Die Risiken für Mensch und Umwelt werden weiter
glementieren. Wieder einmal ist für die Linke die einzige erforscht, und die intensive Kommunikation und der
Antwort, das einzige Allheilmittel: mehr Staat. Ich plä- Dialog mit der Öffentlichkeit werden weiter ausgebaut.
diere hier dafür, im Rahmen der bereits bestehenden ge-
setzlichen Strukturen zu handeln, diese zu nutzen und Darüber hinaus will die Bundesregierung insbeson-
gegebenenfalls auszubauen. dere die Rahmenbedingungen für die Nanotechnologie
verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh-
Bisher regeln die gesetzlichen Vorschriften sinnvoller- men in Deutschland sichern. Deutschland hat in diesem
weise die einzelnen Produktgruppen. So müssten zum Bereich weltweit eine Spitzenposition und wird diese
Beispiel Lebensmittel, die nanotechnisch hergestellt wur- durch internationale Kooperationen weiter ausbauen.
den, den allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vorschrif- 63 000 Mitarbeiter arbeiten hier, und der Umsatz der
ten entsprechen. Sie dürfen die Gesundheit von Verbrau- deutschen Unternehmen betrug 2007 bereits circa
cherinnen und Verbrauchern nicht gefährden. Nach 33 Milliarden Euro. Und er wächst weiter. Für Nanopro-
meinem derzeitigen Wissensstand werden Lebensmittel in dukte wird im Jahr 2015 insgesamt ein Weltmarktvolu-
Deutschland bisher nicht nanotechnisch hergestellt. Ent- men von 1,5 bis 3 Billionen Euro prognostiziert.
sprechende Regelungen gibt es für Lebensmittelzusatz-
Was die Einführung eines branchenübergreifenden
stoffe, Lebensmittelkontaktmaterialien, Kosmetik und
Nanoproduktregisters anbelangt: Dieses befindet sich
technische Arbeitsmittel sowie Verbraucherprodukte.
sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene
Ich bin auch der Meinung, dass wir weiter forschen schon seit längerem im Gespräch. Es erscheint mir der-
müssen, um besser zu verstehen, wie der Mensch auf zeit allerdings sinnvoller, weiterhin jeweils sektor- bzw.
Nanomaterialien reagiert. In diesem Zusammenhang produktbezogen zusätzliche Meldepflichten zu prüfen,
will ich auf die Risikobewertung des Bundesamtes für anstatt einen übergreifenden Ansatz in Form eines um-
Risikobewertung und des Umweltbundesamtes kurz fassenden Nanomelderegisters voranzutreiben.
eingehen: Beide Institute sprechen nicht von „ernst zu Wir werden als Gesetzgeber darauf achten, dass Risi-
nehmenden Befunden hinsichtlich krebserregender ken und Chancen dieser Technologie ausgewogen disku-
Wirkungen“, wie es die Linke darstellt, sondern von tiert und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die
möglicherweise krebsauslösenden Wirkungen einiger Potenziale, die die Nanotechnik birgt, gilt es zu entwi-
Nanomaterialien. Wahr ist eben: Die derzeit vorlie- ckeln, zum Vorteil von uns Menschen.
genden Daten reichen nicht aus, um diese Materialien als
„potenziell krebserzeugend für den Menschen“ ein-
(B) zustufen. Carola Stauche (CDU/CSU): Wir beraten heute ei- (D)
nen Antrag, der sich der Überschrift nach mit dem
Erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang auch: Thema Verbraucherschutz beschäftigt. Das ist modern,
Wissenschaftler hegen große Hoffnungen, mit Nanoteil- das kommt gut an. Wenn sich ein solcher Antrag dann
chen in Zukunft Krebszellen zu besiegen. Recht weit ist auch noch inhaltlich komplett mit der Überschrift
man bereits jetzt im Einsatz von winzigen Eisenoxidteil- deckte, wäre das wünschenswert, ist aber, wie wir am
chen, die als Kontrastmittel bei der Kernspintomografie Beispiel des vorliegenden Antrags sehen, nicht unbe-
benutzt werden. Leberschäden, aber auch Herz- oder dingt notwendig. Gespickt mit der üblichen Kapitalis-
Lymphfunktionen können auf diese Weise hochsensibel muskritik, Unterstellungen und Halbwahrheiten scheint
untersucht werden. der Antrag vor allem eines im Sinn zu haben – den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern Angst zu machen. Der
Wir von der Union lassen deshalb die Ideologie außen
Antrag geht zwar kurz auf die Chancen ein, die durch die
vor und setzen lieber auf Wissenschaft und Forschung.
Nanotechnologien entstehen, aber in der Hauptsache
Für 2011 stellen das Bundesforschungsministerium und
werden mögliche Risiken aufgezählt, die es durch die
andere Ressorts auf Bundesebene circa 230 Millionen
Bundesregierung zu regulieren gilt. Verstehen Sie mich
Euro für die Forschung und Risikoanalyse sowie weitere
bitte nicht falsch: Weder die CDU/CSU- und die FDP-
circa 170 Millionen Euro für die Grundlagen- und Be-
Bundestagsfraktionen noch die Bundesregierung möch-
gleitforschung zur Verfügung. Auch die chemische In-
ten Verbraucherinnen und Verbraucher in Gefahr brin-
dustrie erforscht mögliche Risiken von Nanoprodukten
gen. Bereits der ressortübergreifende „Aktionsplan Na-
intensiv, denn sie verspricht sich enormes Wachstums-
notechnologie 2015“ zeigt, dass die Gefahren, aber vor
potenzial von dieser Technologie. Der Vorwurf der Lin-
allem die Potenziale, die in den Nanotechnologien ste-
ken, die Förderungen der Produzenten von Nanoproduk-
cken, von uns erkannt werden.
ten seien hauptsächlich kostensenkend und würden
kaum der Erforschung der Risiken für Mensch, Umwelt Ich möchte einige Schwerpunkte des „Aktionsplans
und Klima dienen, geht damit ins Leere. 2015“ noch einmal kurz vorstellen. In Anbetracht des
hier diskutierten Antrags sind diese von Interesse, zeigen
Ein Großteil der Forderungen, die die Linken in ihrem sie uns doch, dass wir uns der Erwartungen, die Verbrau-
Antrag vom 25. Mai stellen, läuft ins Leere, da die Bun- cherinnen und Verbraucher an uns stellen, durchaus be-
desregierung diese bereits in ihrem Aktionsplan Nano- wusst sind.
technologie 2015, der schon am 12. Januar 2011 vom
Kabinett verabschiedet wurde, festgeschrieben hat. Der Der Aktionsplan möchte die Forschung fördern und
Aktionsplan treibt die Erforschung einer nachhaltigen den Technologietransfer intensivieren; weiterhin soll die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13167

(A) Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland gesi- darfsgruppengerechte Informationsangebote in den neuen (C)
chert werden. Einen Schwerpunkt bildet die Erforschung und traditionellen Medien. All diese Angebote sollen
der Risiken, welche durch Nanotechnologien entstehen helfen, die komplexen wissenschaftlichen Inhalte für die
können; das soll einen sicheren und verantwortlichen interessierte Öffentlichkeit zu übermitteln.
Umgang mit diesen Zukunftstechnologien gewährleis-
ten. Jedoch wird hier nicht – wie in Ihrem Antrag – auf Die Bundesregierung arbeitet bereits auf europäischer
die vollständige staatliche Kontrolle gesetzt. Vielmehr Ebene daran, Regulierungsmöglichkeiten zu definieren,
sind wir der Auffassung, dass auch die Unternehmen ein welche den Bedürfnissen der Verbraucher entgegenkom-
Interesse daran haben, möglichst früh eine Nutzen- und men und gleichzeitig den Innovationsprozess nicht be-
Risikoabschätzung neuer technologischer Anwendungen hindern. Eine Aufforderung durch die Linke ist dafür
vorzunehmen. Nicht ein Unternehmen möchte nur an- nicht notwendig. Bereits vorhandene und somit umge-
satzweise in den Verdacht geraten, ein Produkt zu ver- hend zur Verfügung stehende Regulierungselemente
treiben, welches eine Gefahr für Leib und Leben dar- werden bereits verantwortungsbewusst weiterentwickelt.
stellt. So setzt der „Aktionsplan 2015“ hinsichtlich der So werden etwa das europäische Chemikalienregister
Risikoforschung auf gemeinsame Forschungs-pro- REACH, die allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vor-
gramme mit der Industrie, etwa das Programm Nano schriften und die ab 2013 geltende umfassende Kenn-
Care. Hier werden die Auswirkungen bei der Herstel- zeichnungspflicht für Kosmetika, Zulassungsrichtlinien
lung, Verarbeitung und Anwendung von synthetischen für Futtermittel, Pflanzenschutzmittel und Arzneimittel
Nanomaterialien untersucht. NanoNature untersucht den und Medizinprodukte bearbeitet. Diese Verteilung er-
Eintrag, die Verteilung, den Verbleib und die Wirkung möglicht eine der Breite der Technologie angemessene,
von synthetischen Nanopartikeln und Nanomaterialien individuelle und tiefgreifende Berücksichtigung aller
in der Umwelt und entwickelt dazu angepasste Messme- Bereiche nanotechnologischer Materialien.
thoden. Die Strategie der Bundesregierung beinhaltet auch,
Natürlich beschäftigt sich der „Aktionsplan 2015“ die führende Rolle Deutschlands als Innovationsstandort
auch mit Produkten, welche Nanomaterialien enthalten, durch den Ausbau internationaler Kooperationen und die
mit denen Verbraucher und Berufstätige im täglichen Le- Steigerung der Attraktivität zu sichern. So beteiligt sich
ben Kontakt haben. Diese Produkte werden durch ein be- die Bundesregierung auf europäischer Ebene an der Mit-
sonderes Forschungsprogramm begleitet. Früher durch- gestaltung der Förderprogramme des 8. Forschungsrah-
geführte Begleitforschungsprojekte haben gezeigt, dass menprogramms und an der Diskussion über Regulie-
die Konzentration auf die Nanoskaligkeit von Partikeln rungsprozesse und innovationsfreundliche Rahmenbe-
dingungen der Nanotechnologien.
(B) allein keine Rückschlüsse auf mögliche Risiken zulässt. (D)
Fragen hinsichtlich des Arbeits-, Umwelt- und des Ver- Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass
braucherschutzes richten sich daher zukünftig verstärkt durch die Bundesregierung 230 Millionen Euro für die
auf Langzeitstudien und Einzelfallanalysen, die durch die Forschungsförderung und Risikoanalyse ausgegeben
Ressortforschungseinrichtungen des BMELV-Geschäfts- werden und 170 Millionen Euro für die Grundlagen- und
bereichs wie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Begleitforschung an den außeruniversitären Forschungs-
Arbeitsmedizin, das Umweltbundesamt und das Bundes- instituten bereitgestellt werden. Die nationale Wissen-
institut für Risikobewertung, die Bundesanstalt für Mate- schaftsförderung im Bereich Nanotechnologie orientiert
rialforschung und die Physikalisch-Technische Bundes- sich projektbezogen an den von der Bundesregierung de-
anstalt durchgeführt und koordiniert werden. finierten Bedarfsfeldern. Die begleitenden Risikovor-
Ein weiterer wichtiger Punkt wird durch den „Ak- sorge- und Risikomanagementmaßnahmen befassen sich
tionsplan 2015“ aufgenommen, der sich von den Vorstel- mit den Fragen des Umwelt-, Arbeits- und Verbraucher-
lungen der Antragsteller weit unterscheidet. Das hat aber schutzes. Genauso wenig wie die Verbraucherinnen und
Verbraucher benötigt die Regierungskoalition die Bevor-
mehr mit Politikverständnis zu tun. Wir sind der Mei-
mundung durch die Linke.
nung, Verbraucherinnen und Verbraucher müssen nicht
bevormundet werden, wie die Linke das tut. Wir sind der
Meinung, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Immer noch ge-
geklärt werden müssen und dann selbst entscheiden sol- ben Nanoteilchen viele Rätsel auf. Immer noch sind Un-
len, was gut oder eben schlecht für sie ist. Dadurch grei- tersuchungsmethoden und Regulierung zu wenig weiter-
fen sie aktiv in das Marktgeschehen ein und entwickeln entwickelt. Immer noch sind Chancen und Risiken für
mit ihrer Nachfrage das Angebot. Das im Aktionsplan Mensch und Umwelt nicht hinreichend abgeklärt. Die
gesetzte Ziel ist es, die Ergebnisse von Grundlagenfor- vielen Rätsel und Unklarheiten führen dazu, dass die
schung, Informationen zum Technologietransfer und das Verbraucherin und der Verbraucher in zunehmendem
Fazit begleitender Studien durch Dialogmaßnahmen ei- Maße verwirrt und ratlos bleiben und die vielen neuen
nem möglichst umfassenden Interessentenkreis transpa- Produkte, die mit den Vorteilen von Nanotechnologie
rent zu vermitteln und sich darüber auszutauschen. Es werben, nicht einschätzen können. Für den Verbraucher
gibt verschiedene Angebote, die den Bürgerdialog zum ist es immer noch kaum ersichtlich, ob ein Produkt mit-
Thema Nanotechnologien fördern sollen. So etwa im be- tels Nanotechnologie hergestellt wurde oder Nanomate-
reits erwähnten Programm NanoCare, durch mobile rialien enthält. Den vermeintlichen Vorteil sowie die
Wissenschaftsausstellungen wie den NanoTruck und be- eventuellen Risiken kann er nicht einschätzen.
13168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Verbraucherschutz und Verbraucheraufklärung bei gen der Nutzen von Nanoteilchen vorrangig aufseiten (C)
verbrauchernahen Nanoprodukten müssen ernst genom- der Hersteller zu finden ist. Eine proaktive Kommunika-
men werden. Dazu brauchen wir schnellstmöglich ein tion der Chancen und unmittelbaren Vorteile ist daher
staatliches öffentliches Produkteregister. Bisher verweist notwendig. Verbraucher wollen drei Kernfragen beant-
das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft wortet wissen: Warum Nanotechnologie? Wer wird da-
und Verbraucherschutz auf die Datenbank „A Nanotech- von profitieren? Was habe ich davon, bei welchem Ri-
nology Consumer Products Inventory“, die ein Projekt siko? – Zweitens brauchen die Verbraucher verlässliche
des Woodrow Wilson International Center for Scholars Informationen darüber, ob gesundheitliche Schäden dro-
ist. Diese sehr umfassende Datenbank ist nur in engli- hen, wenn das Produkt mit Nanopartikelen verwendet
scher Sprache vorhanden und nicht für jeden Verbrau- wird. Nanomaterialien sind in Bezug auf ihre gesund-
cher zur Information geeignet. Auch der Bund für Um- heitlichen Wirkungen umstritten. Die Warnung des Bun-
welt und Naturschutz sammelt auf seiner Website desinstituts für Risikobewertung, BfR, auf die Verwen-
Produkte mit Nanoteilchen, kann aber nur Produkte in dung von nanoskaligem Silber oder nanoskaligen
die Datenbank aufnehmen, bei denen der Hersteller auf Silberverbindungen in Lebensmitteln und Produkten des
die Verwendung von Nanomaterialien hinweist und täglichen Bedarfs zu verzichten, bis die Datenlage eine
kennzeichnet. Diese informative Sammlung kann aber abschließende gesundheitliche Risikobewertung zulässt
nicht ein staatliches Register ersetzen. und die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Produk-
Das Produkteregister, welches unter Beteiligung der ten sichergestellt werden kann, ist ernst zu nehmen.
Verbraucherverbände errichtet werden soll, muss Infor- Transparenz bei der Risikoregulierung ist aus Verbrau-
mationen über den Hersteller oder Importeur, die Identi- chersicht zwingend notwendig, um Vertrauen in Nanoin-
tät des Produktes sowie weitere Informationen über die novationen zu erringen.
im Produkt enthaltenen Nanomaterialen sammeln. Alle
Produkte, die auf dem Markt sind oder auf den Markt Akzeptanzunterstützend ist die Beteiligung von Ver-
kommen wollen, müssen an eine öffentliche Stelle ge- brauchern mit Verbraucherkonferenzen oder über ein
meldet und dort registriert werden. Damit der Verbrau- Citizen Forum, Bürgerforum. In England hat die Food
cher sich wirklich informieren kann, müssen alle Infor- Standards Agency ein Bürgerforum zu „Nanotechnology
mationen in allgemein verständlicher Form aufbereitet and Food“ durchführen lassen. Ziel war es, die Einstel-
werden. lungen der Verbraucherinnen und Verbraucher zum Ein-
satz von Nanotechnologie bei Lebensmitteln nachvoll-
Schon 2006 forderten die Teilnehmer der Verbraucher- ziehen zu können, um Informationen zu verbessern. Im
konferenz Nanotechnologie des Bundesinstituts für Risi- Ergebnis zu dem Bürgerforum wurde festgestellt, dass
(B) kobewertung: eine verständliche Kennzeichnung, klare die Verbraucher eine große Skepsis empfinden bezüglich (D)
Definitionen, Begrifflichkeiten und Standards sowie der Frage, wem Nanotechnologie bei Lebensmitteln
mehr Forschung zu potenziellen Risiken. Fünf Jahre spä- wirklich nützt. Die Beteiligten vermuteten, dass mehr
ter sind wir nicht viel weiter gekommen. Es gibt bisher Vorteile für die Hersteller vorhanden sind und der Ver-
keine Kennzeichnung von Nanobestandteilen. Die erste braucher eher die Nachteile zu tragen hat, sei es durch
verpflichtende Kennzeichnung innerhalb der Europäi- erhöhte Lebensmittelpreise, niedrigere Qualität oder er-
schen Union kommt 2013 für Kosmetika. Die EU-Parla- höhte Gesundheitsrisiken. Die dauerhafte Akzeptanz
mentarier beraten derzeit in zweiter Lesung eine EU-Ver- von Nanoprodukten bei den Verbrauchern wird stark da-
ordnung, nach der technisch hergestellte Nanomaterialien
von abhängen, inwieweit vermutete Potenziale für
in Lebensmitteln gekennzeichnet werden sollen. Dem-
Mensch und Umwelt und mögliche Risiken bestätigt
nach sollen Lebensmittelproduzenten, die Partikel in na-
bzw. widerlegt werden können.
noskaligen Abmessungen zusetzen, verpflichtet werden,
in der Liste der Inhaltsstoffe den Zusatz „(nano)“ hinzu- Auf Antrag der Oppositionsfraktionen wird der Aus-
zufügen. schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
Wir fordern eine generelle und sichtbare Kennzeich- schutz im Oktober dieses Jahres eine öffentliche Anhö-
nung von Nanostoffen in sämtlichen verbrauchernahen rung zum Thema Nanotechnologien durchführen. Mit
Produkten. Das bedeutet, dass auch bei Lebensmittelver- der Unterstützung der Experten erwarten wir einen wei-
packungen, Wasch- und Haushaltmitteln, Medizinpro- teren Erkenntnisgewinn, der dann auch die Bundesregie-
dukten, Arzneimitteln, Kleidung usw. ein Hinweis auf rung zum Handeln führen wird.
Nanopartikel vorgeschrieben werden muss. Die Verbrau-
cherin/der Verbraucher braucht diese Kennzeichnung, René Röspel (SPD): Im aktuellen Science-Maga-
um ihre/seine Kaufentscheidung in Abwägung der Vor- zine findet sich ein Artikel mit dem Titel „DNA Nano-
und Nachteile treffen zu können. technology Grows Up“. Frei übersetzen könnte man dies
Neben der Kennzeichnung, dass Nanostoffe enthalten auch mit: Die DNA-Nanotechnologie wird erwachsen.
sind, brauchen sie mindestens zwei weitere Informatio- In der DNA-Nanotechnologie, einer Untergruppe der
nen um eine bewusste Konsumentscheidung treffen zu Nanotechnologien, ordnen Wissenschaftlerinnen und
können, erstens die Information, welchen Mehrwert die- Wissenschaftler DNA-Moleküle neu und entwerfen so
ses Produkt verspricht. Verbraucher erkennen oft wenig Strukturen. Bekannt sind zum Beispiel die nanometer-
Vorteile und haben den Verdacht, dass bei vielerlei An- kleinen Smileys. Dies amüsiert die Betrachter, eine An-
wendungen speziell bei Lebensmitteln und -verpackun- wendung für diese Technik fehlte aber lange Zeit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13169

(A) In dem zitierten Artikel wird nun beschrieben, wie in- tige Grundlagenforschung vollkommen unter den Tisch, (C)
nerhalb der letzten zwanzig Jahre aus dieser zu Beginn die sich eben nicht per se einem Thema zuordnen lässt.
nicht ernstgenommenen Technologie langsam reale Pro- Auf dem letzten Leibniz-Abend berichtete ein Wissen-
dukte entstehen. So werden damit heute Strukturen von schaftler zum Beispiel über die Entwicklung einer neuen
Proteinen abgebildet und das Innenleben von Zellen Klebetechnik. Obwohl die Forschung auf ganz andere
nachvollzogen. Für die nahe Zukunft erwartet man au- Bereiche abzielte, wird diese Erkenntnis heute im Ge-
ßerdem weitere Anwendungen im Medizinbereich. sundheitsbereich eingesetzt. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen der Linken, diese Entwicklung wäre nach Ihren
An diesem Teilbereich zeigt sich exemplarisch, wie
Überlegungen vielleicht nie entstanden. Anwendungsbe-
aus der Nanotechnologie-Grundlagenforschung mittler-
zug in der Forschung ist wichtig. Dies erzielen wir aber
weile Anwendungen und Produkte entstehen. Als For-
nur, wenn wir den Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schungspolitiker werde ich mich in meiner Rede aber auf
schaftlern in der Grundlagenforschung die nötigen Frei-
den Forschungsteil des hier vorliegenden Linken-An-
heiten und Mittel zukommen lassen. Die starke Regle-
trags konzentrieren.
mentierung im Antrag der Linken halte ich deshalb für
Die Chancen der Nanotechnologie sind in Deutsch- eher kontraproduktiv.
land früh erkannt worden. Bereits mit Beginn der 90er-
Eine Reihe von Forderungen aus dem Linken-Antrag
Jahre förderte das Bundesministerium für Bildung und
wie zum Beispiel ein öffentliches Register für Nanopro-
Forschung die Nanotechnologie. Heute steht Deutsch-
dukte oder -materialien ist nachvollziehbar und unter-
land mit circa 400 Millionen Euro im Jahr bei den öf-
stützenswert, aber eben auch nicht neu. Um sichere Pro-
fentlichen Forschungsförderungen weltweit auf Platz
dukte zu erhalten, müssen wir weiter kontinuierlich in
vier, hinter den USA, China und Russland.
die Forschung investieren. Insbesondere für die Grund-
Uns war aber von vornherein klar, dass diese neue lagenforschung ist die staatliche Unterstützung unab-
Technologie nur Akzeptanz erfahren kann, wenn transpa- dingbar. Wir als Sozialdemokraten werden dies auch
rent und nachvollziehbar Chancen und Risiken untersucht weiterhin fördern und einfordern.
und thematisiert werden. Unter sozialdemokratischer Re-
gierungsbeteiligung haben wir 2009 beschlossen, dass bis Dr. Erik Schweickert (FDP): Der deutsche Physiker
2012 10 Prozent der Bundesförderung für Nanotechnolo- Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gesagt:
gien in die Sicherheitsforschung fließen sollen. Mit einem
aktuellen Anteil von über 6 Prozent ist diese Forderung Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wich-
noch nicht erreicht. Wir liegen im internationalen Ver- tig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht.
gleich aber selbst mit dem aktuellen Prozentsatz klar an Dabei konnte auch er nicht ahnen, wie klein die Dinge
(B) der Spitze. Richtig ist, worauf auch die Linken in ihrem werden, die die Menschen heute für wichtig halten. Und (D)
Antrag verweisen, dass wir im Bereich der Nanowissen- wir halten die Nanotechnologie für eminent wichtig.
schaften immer noch über große Wissensdefizite verfü-
gen. Insbesondere die Sicherheitsforschung muss deshalb Bis heute gibt es keine Anhaltspunkte, dass die Nano-
kontinuierlich gefördert bzw. ausgebaut werden. technologie gesundheitsschädlich ist. Und wenn Sie da-
von sprechen, die Erforschung und Bewertung technisch
Notwendig ist auch, endlich eine Einigung auf eine bewusst erzeugter Nanostoffe sei bisher stark vernach-
gemeinsame Definition für Nanomaterialien zu errei- lässigt worden, so ist das schlichtweg falsch. Es gibt
chen. Insbesondere zur Etablierung einheitlicher Stan- zahlreiche Studien die belegen, dass die Forschung ge-
dards und Messmethoden sowie zur Umsetzung von rade nicht vernachlässigt worden ist. Sie beziehen sich
Richtlinien ist dies unabdingbar. Wenn man sich die be- doch sogar selbst auf eine Studie des Bundesamtes für
reits existierenden Definitionen der ISO, der OECD oder Risikobewertung. Eine weitere Studie der Universität
der EU-Kosmetikverordnung anschaut, fällt auf, dass Manchester, auf die sich im Übrigen auch das Umwelt-
dort fast immer von einer Partikelgröße zwischen 1 bis bundesamt beruft, betont bezüglich einer konkreten Ge-
100 Nanometern gesprochen wird. Die im Antrag der fährdung von Produkten mit Nanostoffen, dass die Mor-
Linken geforderten 0,5 bis 300 Nanometer erscheinen phologie und nicht die Größe eine entscheidende Rolle
mir zur Etablierung einer einheitlichen Definition des- spiele. Trotzdem fordern Sie umfassende Regulierungs-
halb wenig hilfreich. Hier ist aber die Bundesregierung in maßnahmen und Auflagen bezüglich der Verwendung
der Bringschuld, einen Bundestagsbeschluss umzusetzen. von Nanomaterialien: Ein Register zur Erfassung und
Die Forderung, eine einheitliche Definition voranzubrin- Regulierung von Nanostoffen sowie die Kenntlichma-
gen, haben wir bereits in unserem Antrag 16/12695 ge- chung von Produkten, die Nanopartikel enthalten.
stellt.
Zu Ihrem ersten Punkt:
Die Forderung der Linken nach einer stärkeren Priori-
sierung der Forschungsförderung auf die Themen Klima, Ihre geforderte Erfassung von Nanostoffen in einer
Energie und Gesundheit mag erst einmal einleuchten. Art Register ist in meinen Augen übertriebener Bürokra-
Wir halten die Einteilung aber für nicht praktikabel. tismus. Bei Ihrer Überlegung, ein eigenständiges Regis-
Nicht eindeutig abgrenzbare Bereiche wie „Klima“ oder ter für Nanostoffe zu schaffen, ist wohl in Vergessenheit
„Gesundheit“ mit fließenden Übergängen in andere The- geraten, dass wir bereits eine europäische Chemikalien-
men mit einer starren Mindestquote zu versehen macht richtline REACH haben, die auch die Nanopartikel er-
keinen Sinn. Außerdem fällt bei der starren Einteilung fasst. Nach dieser Verordnung muss bereits jetzt schon
der Linken auf jeweils 25 Prozent der Mittel die so wich- jeder Stoff bei der Europäischen Chemikalienagentur
13170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) – ECHA – registriert werden. Und in Art. 1 – Ziel und nologien. Das Streben nach Fortschritt und Innovation (C)
Geltungsbereich – der Verordnung wird auch ausgeführt, macht auch den Standort Deutschland aus, macht ihn at-
dass den Bestimmungen der REACH-VO das Vorsorge- traktiv und schafft Arbeitsplätze. Wenn man aber jeder
prinzip zugrunde liegt. Mit einer weiteren Erfassung von vielversprechenden, neuartigen Technologie Steine in
Daten kämen wir zu einer Doppelung zahlreicher, bereits den Weg gelegt und ihr den Saft abgedreht hätte, so wie
bestehender stoff- und produktrechtlicher Regelungen. Sie es heute versuchen, dann würden wir heute noch in
Darüber gelten bereits schon jetzt die allgemeinen und Höhlen leben und nicht die Vorzüge unseres modernen
spezifischen Anforderungen des Lebensmittel- und Fut- Lebens genießen.
termittelgesetzbuches auch im Hinblick auf die poten-
zielle Anwendung nanoskaliger Materialien und Verfah- Ein Produktregister ist schon deshalb obsolet, da es
ren unter Einsatz der Nanotechnologie sowie andere für gefährliche Produkte schon Register wie zum Bei-
Regelungen im sektoralen Produktrecht der EU, wie spiel RAPEX gibt. Und dabei ist es dann unerheblich, ob
zum Beispiel die EU-Kosmetikverordnung. ein Produkt Nanomaterialien beinhaltet oder nicht.
Zu Ihrem zweiten Punkt:
Karin Binder (DIE LINKE): Verbraucherschutz
Meinen Sie denn allen Ernstes, dass man die Unsi- kommt bei der Nanotechnologie derzeit nicht vor. Das ist
cherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher mittels die Erkenntnis aus der Antwort der Bundesregierung vom
einer Kennzeichnungspflicht von Nanoprodukten aus 5. Mai 2011 auf unsere Kleine Anfrage zu diesem Thema.
der Welt schaffen kann? Es ist die fatale Folge einer einseitigen und fehlgeleiteten
Eine Kennzeichnungspflicht kann auch irreführend Förderpolitik der Bundesregierung. Zunächst standen die
sein. Ich sehe in einer solchen Pflicht sogar das Potenzial Verbraucherinnen und Verbraucher der Technologie auf-
einer aktiven Verunsicherung der Verbraucherinnen und geschlossen gegenüber. Aber die Skepsis nimmt zu – und
Verbraucher; ein Schüren von Ängsten, es handle sich das aus gutem Grund: Informationsmangel und fehlende
um ein Produkt, welches Gefahrenpotenzial berge, vor Hinweise für Verbraucherinnen und Verbraucher machen
dem man durch spezifische Kennzeichnung warnen zu Recht misstrauisch. Die Hersteller reagieren auf ihre
müsse. Weise: Sie verschleiern Nanobestandteile in Lebensmit-
teln und Bedarfsgegenständen.
Ich kann Ihre Vorsicht zwar teilweise nachvollziehen,
Ihre Argumente sind aber pure Zukunftsangst. Die Nano- Um es deutlich zu sagen: Verbraucherinnen und Ver-
technologie bietet für Wissenschaft und Wirtschaft zahl- braucher erwarten zu Recht, dass Behörden und Indus-
reiche Einsatzmöglichkeiten und nimmt somit einen ho- trie die Fragen nach den Risiken der Nanotechnologie
beantworten können. Der Gesetzgeber muss eine Kennt-
(B) hen Stellenwert ein. Denn wir genießen bereits heute (D)
einen Zusatznutzen durch Nanomaterialien: zum Bei- lichmachung aller nanobehafteten Produkte sicherstel-
spiel UV-Schutz in Sonnencreme und Kosmetika, wir len. Der Zusatznutzen und die Unbedenklichkeit müssen
haben einen Zusatznutzen durch schmutzresistente Tex- belegt werden und in verständlicher Weise erläutert sein.
tilien, leistungsfähigere Computer, kratzfeste Brillenglä- Dabei reicht ein kleiner Hinweis auf der Verpackungs-
ser, effizientere Wärmedämmung und einen Zusatznut- rückseite nicht aus.
zen in der Medizin, zum Beispiel bei zahnärztlichen Derzeit findet eine gesetzliche Regulierung der Nano-
Füllungsmaterialien. Mithilfe der Nanotechnologie sind technologie nur auf EU-Ebene statt. Die Bundesregierung
uns bereits heute große Fortschritte – sei es in der Medi- ist weitgehend untätig. Hinzu kommt: Die in Brüssel auf-
zin oder im Bereich der modernen Lack- oder Kunst- gegriffenen Teilbereiche erfassen die gesundheitlichen
stoffe – gelungen und wir tanzen daher nicht mehr auf und umweltbezogenen Risiken nur unzureichend. Die
der Stelle. Und da muss ich Sie schon fragen: Erklären Bundesregierung muss deshalb auch auf nationaler Ebene
Sie mir doch einmal, wie Sie zu der Vermutung kom- eine generelle Regelung und Kontrolle der Nanotechnolo-
men, Nanostoffe hätten eine „entzündliche, krebserre- gie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips umsetzen. Nur
gende und fortpflanzungsgefährdende Wirkung“. Ich so kann den offenkundigen Risiken gegenüber Mensch
gebe Ihnen die Antwort: Genau das Gegenteil ist der und Umwelt angemessen begegnet und nur so können un-
Fall. Mithilfe der Nanotechnologie können für die Hei- berechtigte Ängste abgebaut werden. Klare gesetzliche
lung von Krebs schon große Fortschritte erreicht wer- Vorgaben würden auch betriebswirtschaftliche Risiken
den. Auch Ihre Behauptung, die Bürger seien nicht aus- der Unternehmen mindern, die sich mit Nanotechnologien
reichend informiert, ist schlichtweg falsch. Eine Studie befassen. Voraussetzung wäre, die Förderstruktur zuguns-
der Verbraucherzentrale Bundesverband, vzbv, hat ge- ten von Vorsorge und Verbraucherschutz neu zu struktu-
zeigt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr rieren.
gut informiert sind. Hier heißt es wörtlich:
Die Ergebnisse waren für das Forschungsteam Die Durchsetzung von Verbraucherschutz bei Nano-
überraschend, denn sie zeigen einen unerwartet ho- stoffen ist dennoch schwierig, schon allein deshalb, weil
hen Wissensstand. es bisher keine anerkannte Definition des Begriffs Nano-
technologie gibt. Sowohl über die Größe als auch über
Wir als FDP sind eine Fortschrittspartei. Wir dürfen die Nanoeffekte besteht keine Einigkeit. Die Folge: Dem
uns daher nicht in der Gegenwart, im erreichten Wohl- Gesetzgeber wird die Festlegung eines Regulierungsrah-
stand gemütlich einrichten und Fortschritt ablehnen. Wir mens erschwert. Auch führt die bisherige sehr einge-
brauchen die Bereitschaft für Fortschritt und neue Tech- grenzte und willkürliche Definition bei Unternehmen zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13171

(A) „Regulierungsflucht“ auf Kosten der Verbraucherinnen tragen, wenn sie mit dem menschlichen Körper in Be- (C)
und Verbraucher. Ich frage: Wie soll ein Nanoprodukt si- rührung kommen oder in die Umwelt gelangen, ist der-
cher sein, wenn man nicht einmal sicher ist, was „Nano“ zeit nicht absehbar. Zur Verbreitung, Giftigkeit und
eigentlich ist? Umweltwirkung der unterschiedlichen Nanostoffe liegen
kaum Erkenntnisse vor. Derzeit gibt es erstzunehmende
Die Linke sagt: Die Bestimmung eines Materials als
Befunde zu entzündlichen, krebserregenden und fort-
Nanostoff darf nicht allein über die Größe erfolgen. Ent-
pflanzungsgefährdenden Wirkungen beim Menschen. Im
scheidend ist vielmehr, unter welchen Bedingungen ein
Ökosystem sind Störungen bei Kleinstlebewesen und im
nanotechnischer Effekt erzielt wird. Neben einem Grö-
Pflanzenwachstum nachgewiesen. Manche Nanostoffe
ßenraster von etwa 0,5 bis 300 Nanometern müssen
sind daher für die breite Verwendung bei Lebensmitteln
nanotypische Wirkungsweisen in die Betrachtung einbe-
und Bedarfsgegenständen ungeeignet. Bedenklich ist in
zogen werden. Das sind gegenüber der natürlichen Stoff-
diesem Zusammenhang, dass die Industrie mögliche Ri-
form vor allem stark veränderte physikalische, chemi-
siken in der öffentlichen Kommunikation herunterspielt.
sche und biologische Eigenschaften sowie elektrische,
Das kann nicht das Ziel der Nanostrategie sein.
optische und katalytische Effekte.
Weist ein Stoff mindestens eine dieser nanospezifi- Wenn der Bund Steuermittel in Milliardenhöhe zur
schen Eigenschaften auf, muss er behördlich erfasst und Förderung der Nanotechnologie ausschüttet, müssen
eingeordnet werden. Jedes Material im nanoskaligen Be- mögliche Folgen der Technologie ernsthaft in die Be-
reich, das bewusst künstlich, technisch erzeugt wird, trachtungen einbezogen werden. Das hat die Bundesre-
muss eine unabhängige gesundheits- und umweltbezo- gierung bisher weitestgehend vernachlässigt. Mit unse-
gene Risikobewertung durchlaufen, bevor es als Roh- rem Antrag wollen wir die Nanoinitiative des Bundes im
stoff oder Produkt auf den Markt gelangen darf. Die In- Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher befördern.
formationen zu erfassten und bewerteten Stoffen müssen
öffentlich zugänglich sein. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Nanotechnologie ist eine komplexe und in ihrem An-
Ohne Frage: Die Nanotechnologie bietet in manchen
wendungsbereich vielfältigst einsetzbare Technologie.
Bereichen gute wirtschaftliche Chancen für Unterneh-
Die Erwartungen und bisherigen Einsatzgebiete vor al-
men in Deutschland. Sie kann industrielle Prozesse er-
lem in der Medizin lassen nach dem bisherigen Kennt-
leichtern und Verfahren verbessern. Produkte können
nisstand auf eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten
weiterentwickelt und mit neuen Eigenschaften versehen
schließen. Nanotechnologie wird aber auch in einer Viel-
werden. Ein wichtiger Nutzen ergibt sich in der Medizin,
zahl von verbrauchernahen Produkten eingesetzt, ohne
wo die Diagnose und Therapie sowie das hygienische
(B) Umfeld verbessert werden können. Für Verbraucherin- dass die Konsumentinnen und Konsumenten dies immer (D)
wahrnehmen.
nen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert bisher
begrenzt. Ob ein nanospezifischer Zusatznutzen bei Le- Bisher sind Verbraucherinnen und Verbraucher aufge-
bensmitteln und Bedarfsgegenständen in einem vernünf- schlossen gegenüber dieser neuen Technologie. Doch es
tigen Verhältnis zu möglichen Risiken und Mehrkosten mehren sich kritische Stimmen von Fachleuten, unter
stehen wird, ist derzeit völlig offen. anderem auch der NanoKommission des Bundestages.
Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den Denn wir wissen bis heute noch zu wenig über Risiken
Versprechungen vorbei. Vorrangig werden die Förder- und Folgen für Mensch und Natur. Das Prinzip des vor-
mittel von der Industrie bei der Verbesserung vorhande- sorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutzes wird beim
ner Verfahren, Prozesse und Produkte eingesetzt. Haupt- Umgang mit nanoskaligen Stoffen sträflich vernachläs-
interesse der Unternehmen an der Nanoförderung ist sigt, obwohl es eindeutige Hinweise auf Gesundheitsge-
meist die Kostensenkung in der Produktion. Wichtige fahren und Umweltschäden gibt.
gesellschaftliche Fragestellungen wie Energie- und Kli- Eine aktuelle Studie der Universität Koblenz zeigt,
maschutz sowie Ressourcen- und Umweltschonung tre- dass Nanopartikel im Wasser, eingebracht durch Son-
ten in den Hintergrund und haben einen verschwindend nenmilch, Wasserflöhe töten können. Studien des BfR
geringen Anteil an der Förderung. haben ebenfalls deutliche Hinweise erbracht, dass Nano-
Die Erforschung und Bewertung von gesundheitli- silber zu krankhaften Veränderungen in Leber und
chen und umweltbezogenen Risiken, die von Nanostof- Lunge führen kann. Hier besteht weiterhin die Gefahr,
fen ausgehen können, sind bisher sträflich vernachlässigt dass die großflächige Verbreitung von Nanosilber resis-
worden. Der Gesetzgeber ist derzeit gar nicht in der tente Keime entstehen lässt und damit Silber als wirk-
Lage, wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Um- same Waffe gegen antibiotikaresistente Keime für die
weltvorsorge zu treffen, da es keine ausreichende Daten- Medizin verloren geht.
basis gibt. Viele Ergebnisse von Untersuchungen zu Ri-
Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher
siken, die mit Fördergeldern der Nanoinitiative des
schützen. Daher benötigen wir eine ausführliche Risiko-
Bundes finanziert wurden, sind nicht relevant, da sie
bewertung zu den Folgen und Risiken des Einsatzes von
durch die Unternehmen vorrangig zur Abschätzung be-
Nanotechnologie in allen Bereichen – Produkt für Pro-
triebswirtschaftlicher Risiken vorgenommen wurden.
dukt und Material für Material. Wo Gesundheitsgefahren
Zu welchen ungewollten Effekten Nanostoffe durch drohen, wie beim genannten Nanosilber, plädieren wir
ihre geringe Größe und die hohe Reaktionsfähigkeit bei- für ein Verbot in verbrauchernahen Produkten, bis Klar-
13172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) heit über die Unbedenklichkeit besteht. Hierzu gehört Anlage 5 (C)
ebenfalls eine umfassende verbraucherfreundliche
Zu Protokoll gegebene Reden
Kennzeichnungspflicht aller nanohaltigen Produkte,
welche wir bis heute nicht haben. Dies nimmt den Ver- zur Beratung:
brauchern und Verbraucherinnen die Wahlmöglichkeit,
auf Produkte mit Nanoteilchen zu verzichten. – Entwurf eines Gesetzes zur Vereinbarkeit
von Pflege und Beruf
Wir schließen uns der Forderung der NanoKommis-
sion und der Linken an, den Dialog über Nano, seine – Antrag: Vereinbarkeit von Pflege, Familie
Anwendungsbereiche, Potenziale, aber auch Risiken mit und Beruf verbessern – Pflegende Bezugs-
der Gesellschaft stärker zu fördern. Die Verbraucherin- personen wirksam entlasten und unterstüt-
nen und Verbraucher wünschen sich Aufklärung und zen
Entscheidungsmöglichkeiten, welche sie bisher nur un- – Antrag: Bezahlte Pflegezeit einführen – Or-
ter größtem Aufwand wahrnehmen können. Deshalb ganisation der Pflege sicherstellen
brauchen wir ein europaweites, öffentlich einsehbares
Produktregister, in dem alle Produkte und Studien hierzu (Tagesordnungspunkt 15 a bis c)
umfassend dargestellt sind. Hierzu gehört, wie auch von
der Linken vorgeschlagen, eine Definition zu Nanoteil- Paul Lehrieder (CDU/CSU): Pflegebedürftigkeit ist
chen. Bis heute gibt es hierzu nur Vorschläge oder von ein Thema, das im Alltag gern verdrängt wird. Zwar ist
Unternehmen willkürlich festgelegte Definitionen. sich jeder bewusst, dass die Eltern wohl irgendwann ein-
mal auf Hilfe angewiesen sein werden, aber meist setzt
Die bisherige Förderpraxis der Bundesregierung im Be- man sich erst dann ernsthaft mit dem Thema Pflege aus-
reich Nanotechnologie vernachlässigt den Bereich Risiko- einander, wenn der Ernstfall eintritt und ein Angehöriger
und Begleitforschung. Dies hat auch der Vorsitzende der plötzlich zum Pflegefall wird: Ein Unfall, ein Schlagan-
NanoKommission Catenhusen scharf kritisiert. Wir fordern fall, eine schwere Krankheit oder eben das Alter können
die Bundesregierung auf, den Umwelt- und Verbraucher- der Grund dafür sein, dass Menschen pflegebedürftig
schutz und die Risikoforschung zu einem Schwerpunkt ih- werden. Meist liegt der Wunsch nahe, die Pflege seines
rer Forschungsförderung im Bereich Nanotechnologie zu Angehörigen selbst leisten zu können, ohne finanzielle
machen. und berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Zudem
Der im Antrag eingebrachte Vorschlag, mindestens entspricht es auch fast immer dem dringenden Wunsch
25 Prozent der jährlichen Fördermittel für Nanotechno- der Pflegebedürftigen, in vertrauter Umgebung gepflegt
logie aus dem Bundeshaushalt in die Bereiche Energie zu werden.
(B) und Klimaschutz sowie Ressourcen- und Umweltscho- (D)
Mit dem heute in erster Lesung beratenen Modell der
nung fließen zu lassen, ist ein richtiger Ansatz, die gro- Familienpflegezeit kommen wir dem im Koalitionsver-
ßen Potenziale der Hightechtechnologie zu nutzen. trag verankerten Ziel der Vereinbarkeit von Pflege und
Gleichzeitig gehört hierzu eine begleitende Risikofor- Beruf nach. Pflegende Angehörige haben zukünftig die
schung, die ebenfalls einen wesentlich größeren Anteil Möglichkeit, ihre Arbeitszeit über einen Zeitraum von
in der Förderpraxis der Bundesregierung als bisher er- maximal zwei Jahren auf bis zu 50 Prozent zu reduzie-
halten muss. ren, ihr Gehalt wird in dieser Zeit auf 75 Prozent des
Die Einsatzgebiete der Nanotechnologie werden in letzten Bruttoeinkommens gekürzt.
den unterschiedlichsten rechtlichen Bereichen geregelt.
Nach der zweijährigen Familienpflegezeit werden die
Dementsprechend unübersichtlich ist, ob und – wenn
Beschäftigten dann wieder voll arbeiten, beziehen in die-
ja – in welcher Form bestehende Regelungen Nanomate-
sem Fall aber weiterhin 75 Prozent des Gehalts – so
rialien bereits umfassen oder nicht. Hier muss Klarheit
lange, bis das persönliche Zeitkonto im Unternehmen
für alle, Produzenten und Verbraucher, geschaffen wer- wieder ausgeglichen ist. Während dieser Jahre zahlt der
den. Wir plädieren für eine gemeinsame Regelung auf
Arbeitgeber die Beiträge zur Rentenversicherung auf der
europäischer Ebene.
Basis des abgesenkten Arbeitsentgeltes. Für die ge-
Der von der EU-Kommission vorgeschlagene „inte- leistete Pflege überweist die Pflegeversicherung der
grierte, sichere und verantwortungsvolle Ansatz“ zur Rentenversicherung zusätzlich eine Pflegezeitvergütung.
Nanotechnologie, bisher nur auf dem Papier, und der
Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die
Ansatz eines freiwilligen „Verhaltenskodex“ sind defini-
Leistungen der Pflegeversicherung zur gesetzlichen
tiv nicht ausreichend für einen umfassenden Umwelt-
Rente bewirken somit zusammen den ungeschmälerten
und Verbraucherschutz. Hier muss sich die Bundesregie-
Erhalt der Rentenansprüche. Diese Ansprüche steigen
rung in Brüssel für verbindliche rechtliche Regelungen
mit der Höhe der Pflegestufe des Angehörigen. Damit
einsetzen, die die Konsumentinnen und Konsumenten
erhalten pflegende Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
schützen und der Industrie klare Vorgaben geben. Der
mer trotz Ausübung der Pflege die Rentenansprüche
Antrag der Linken fordert eine nationale Regelung der
etwa auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Perso-
Nanotechnologie. Sinnvoller ist eine Regelung auf euro-
nen mit geringem Einkommen werden sogar besser ge-
päischer Ebene, zum Beispiel durch eine Erweiterung
stellt.
der Chemikalienrichtlinie REACH. Die Bundesregie-
rung ist hier gefordert, sich für eine Erweiterung von So trägt das Modell der Familienpflegezeit zur Ver-
REACH auf europäischer Ebene einzusetzen. ringerung der Altersarmut bei, die oftmals gerade bei
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13173

(A) Frauen Folge einer Pflegeauszeit ist. Berufstätigen wird schen auf 3,27 Millionen Menschen zu rechnen. Auch (C)
somit ermöglicht, Arbeit und Pflege besser in Einklang die Zahl der demenziell erkrankten Menschen steigt.
zu bringen, ohne dass ihnen daraus später Nachteile er-
wachsen. Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzent-
wurf aus dem Hause Schröder, der viel verspricht, aber
Dass im Bereich der Pflege ein solches Modell ge- nichts hält. Warum ist das so?
braucht wird, verdeutlichen die folgenden Zahlen: Rund
2,3 Millionen Menschen sind in Deutschland auf Pflege Die Bundesfamilienministerin hat bereits im vergan-
angewiesen. Etwa 1,5 Millionen werden zu Hause ver- genen Jahr groß angekündigt, pflegende Angehörige
sorgt, gut eine Million allein durch Angehörige, der Rest besser zu unterstützen und zu entlasten.
durch ambulante Dienste. In den nächsten Jahrzehnten Doch nun legt sie im „Jahr der Pflege“ einen mehr als
wird die Zahl der Pflegebedürftigen merklich steigen. dürftigen Gesetzentwurf vor. Eine Entlastung für pfle-
Die Notwendigkeit für die Familienpflegezeit ist gerade gende und betreuende Angehörige wird damit in der Pra-
angesichts der demografischen Entwicklung in unserem xis nicht erreicht. Im Gegenteil: Die schwarz-gelbe Bun-
Land groß, und dies ist auch der Bevölkerung bewusst: desregierung verlagert die Verantwortung für Pflege in
Die Bereitschaft und das Interesse sind vorhanden. Denn den privaten Bereich.
die überwiegende Mehrheit der Berufstätigen möchte
ihre Angehörigen so weit wie möglich selbst betreuen – Ein schwerer „Konstruktionsfehler“ ist der fehlende
was auch von den Pflegebedürftigen so gewünscht wird –, Rechtsanspruch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
stößt aber häufig auf große Schwierigkeiten. Schon mer. Die Ministerin schlägt ein Arbeitszeitmodell vor,
heute gibt es die Möglichkeit einer halbjährigen Freistel- bei dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem
lung. Aber diese Freistellung ist unbezahlt; viele Arbeitgeber freiwillig eine zweijährige Freistellungs-
fürchteten daher die finanziellen und beruflichen Folgen. phase vereinbaren können. Hat Bundesministerin Schröder
noch Ende vergangenen Jahres vollmundig einen
Die vom Kabinett im März beschlossene Familien- Rechtsanspruch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
pflegezeit gibt den Menschen Zeit für die Übernahme mer auf Familienpflegezeit angekündigt, findet sich ein
von Verantwortung im Pflegefall, ohne dass sie ihre Er- solcher Anspruch in dem nun vorliegenden Gesetzent-
werbstätigkeit aufgeben müssen. Damit ist es uns gelun- wurf nicht mehr. Sie ist eingeknickt vor der FDP und der
gen, ein modernes Modell zu entwickeln, von dem alle Wirtschaft. Deshalb ist das Gesetz nur eine reine Mogel-
profitieren: die pflegebedürftigen Angehörigen, die im packung. Das haben bereits zahlreiche Sozialverbände
vertrauten Umfeld verbleiben können, die pflegenden scharf kritisiert.
Beschäftigten, die finanziell abgesichert sind und auch
Sehr problematisch ist zudem die von Bundesministe-
(B) während der Pflegezeit den Kontakt zum Unternehmen rin Schröder geplante Versicherungspflicht für pflegende (D)
wahren können, und eben auch die Unternehmen –
schließlich gelingt der Erhalt qualifizierter Mitarbeite- Angehörige, die das geplante Familienpflegezeitmodell
rinnen und Mitarbeiter. Sie haben Planungssicherheit in Anspruch nehmen wollen. Ich sage klar: Das ist ein
und keinen finanziellen Mehraufwand. weiterer Schritt in Richtung Individualisierung und Pri-
vatisierung des Pflegerisikos. In der Regel wird der Ar-
Wir sind überzeugt, dass das von uns vorgestellte Mo- beitnehmer oder die Arbeitnehmerin die Versicherung
dell der Familienpflegezeit – ähnlich wie die Altersteil- auf eigene Kosten abschließen müssen.
zeit – ein Erfolgsmodell wird; denn die Familienpflege-
zeit ist nach einem ähnlichen Muster organisiert. Hier Weitere Punkte sind problematisch: Reduzieren die
hat es geklappt, weil die Betriebe und die Beschäftigten Pflegenden nach diesem Modell die Arbeitsstunden,
ein Interesse daran hatten. müssen sie alleine die finanziellen Lasten schultern.
Überwiegend sind es Frauen, die Pflege im häuslichen
Dieses Interesse und der Bedarf sind auch bei der der Bereich leisten. Nehmen sie dieses Modell in Anspruch,
Pflege vorhanden: Die meisten Menschen wollen die Be- dann verschlechtert sich ihre finanzielle Situation noch
treuung ihrer betagten Eltern oder krebskranker An- mehr. Denn Frauen sind wesentlich häufiger als Männer
gehöriger nicht vollständig anderen überlassen. Tatsache in Teilzeit oder im Niedriglohnsektor beschäftigt und
ist jedoch, dass es für Arbeitnehmerinnen und Arbeit- verdienen im Durchschnitt ein Viertel weniger als Män-
nehmer, die einen Angehörigen pflegen, nicht leicht ist, ner.
Beruf und Pflege zu vereinbaren. Mit der Familienpfle-
gezeit haben wir im „Jahr der Pflege“ diesem Problem Welche Verkäuferin im Einzelhandel oder welche Er-
Rechnung getragen. Die betroffenen Arbeitnehmerinnen zieherin kann sich einen Verzicht auf das ohnehin be-
und Arbeitnehmer werden Ihnen für Ihre Zustimmung scheidene Einkommen leisten? Dieses Gesetz geht an
zum vorliegenden Gesetzentwurf danken. der Lebenswirklichkeit der meisten Frauen vorbei, Frau
Ministerin.
Caren Marks (SPD): Eine bessere Unterstützung Auch verfestigt dieser Gesetzentwurf das konserva-
von Menschen mit Betreuungs- und Pflegebedarf sowie tive Leitbild einer Pflege, in der Frauen weiter die
eine stärkere Entlastung von pflegenden Angehörigen Hauptlast tragen sollen. Die Pflegearbeit muss dringend
sind wichtige Zukunftsthemen. Angesichts der steigen- besser zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Wer
den Zahlen von Menschen mit Betreuungs- und Pflege- die bisherige Arbeit der Ministerin Schröder kennt, wun-
bedarf werden sie immer drängender. Bis zum Jahr 2030 dert sich nicht, dass sie bei der Lösung dieser Frage kei-
ist mit einem Anstieg von heute 2,37 Millionen Men- nerlei Ambitionen hat.
13174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Die SPD will älteren Menschen ein menschenwürdi- ruf reichen nicht aus. Ulla Schmidt hat ganz richtig das (C)
ges Altern ermöglichen und dafür sorgen, dass Angehö- Pflegezeitgesetz mit dem gesetzlichen Anspruch auf
rige nicht aufgrund von Pflegearbeit aus dem Beruf aus- zehn Tage bezahlte Pflegezeit bei Eintreten eines akuten
steigen. Wir brauchen deshalb vor allem eine Stärkung Pflegefalles und sechs Monate unbezahlte Pflegezeit auf
der pflegerischen Infrastruktur und der professionellen den Weg gebracht. Doch jetzt brauchen wir mit Blick in
Pflege. Angehörige brauchen zudem flexible Zeitmo- die Zukunft deutlich mehr Maßnahmen. Die Betroffenen
delle, um pflegebedürftigen Menschen Zuwendung zu brauchen flexible Lösungen für ihre individuellen pfle-
schenken und Pflege zu organisieren. gerischen und beruflichen Herausforderungen.
Die SPD hat bereits in der letzten Legislaturperiode Auch die Kolleginnen und Kollegen, die heute in der
deutliche Verbesserungen für betroffene Familienange- Regierungsverantwortung stehen, nehmen sich des The-
hörige durch eine umfassende Pflegereform und das neu mas an – das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung
eingeführte Pflegezeitgesetz erreicht. Dieses Gesetz ent- und als Überschrift geeignet, Beifall zu bekommen.
hält klare und verbindliche Regelungen, auf die sich Aber was bleibt von den vollmundigen Versprechungen
die Menschen verlassen können. Dafür hat sich insbe- der Ministerin? Ein fehlender Rechtsanspruch und jede
sondere die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Menge Kleingedrucktes. Ein groß angekündigtes Projekt
Schmidt eingesetzt. soll in nur 30 Minuten debattiert werden und geht – da
spät angesetzt – letztendlich zu Protokoll. Das hat etwas
Das Pflegezeitgesetz würde pflegende Angehörige von Wegducken und wird dem Thema ganz und gar
noch besser unterstützen, wenn der darin vereinbarte nicht gerecht. Etwas mehr Ernsthaftigkeit und Leiden-
10-tägige Freistellungsanspruch auch wie das Kinder- schaft wären wünschenswert gewesen.
krankengeld bezahlt würde. Aber ein solcher Anspruch
auf bezahlte Freistellung von der Arbeit im akuten Pfle- Wir Sozialdemokraten wollen soziale Gerechtigkeit
gefall ist in der Großen Koalition am Widerstand der unter realistischen Bedingungen – das unterscheidet uns
CDU/CSU gescheitert. Die SPD wird diese Forderung in von den anderen Parteien. Wir nehmen deshalb nicht
Regierungsverantwortung umsetzen, denn die meisten hin, dass Arbeitnehmer einseitig belastet werden. Wir
Menschen können sich eine 10-tägige unbezahlte Pflege- wollen nicht, dass sie das Risiko ihrer ohnehin schon
zeit nicht leisten. schweren Aufgaben unter finanziellen Einbußen alleine
tragen. Die Versicherungsbranche lacht sich ins Fäust-
Für die Entlastung und Unterstützung von pflegebe- chen und die Arbeitgeber lehnen sich entspannt zurück.
dürftigen Menschen und ihren Angehörigen ist eine ent- Zudem ist die starre Zeitregelung im Vorschlag der Bun-
sprechende Pflegeinfrastruktur außerordentlich wichtig. desregierung eher hinderlich und kommt, wenn über-
Hier hat die Pflegereform 2008 große Fortschritte ge- haupt, nur für sehr wenige Arbeitnehmer infrage. Ich
(B) bracht. Dabei nenne ich nur die Verbesserung der Ange- (D)
rate der Regierungskoalition, mit den großen Wohl-
bote für Menschen mit Demenz, den Aufbau von Pflege- fahrtsverbänden, mit Kirchen und mit den Betroffenen
stützpunkten und die Einführung des Rechtsanspruchs zu sprechen. Unisono wird das Gesetz als zu kurzsichtig
auf Pflegeberatung. abgelehnt, denn es fördert keine bessere Vereinbarkeit
Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter- von Pflege und Beruf, nein, ohne Rechtsanspruch liegt
nimmt nichts, um diese Strukturen nachhaltig zu stärken. vor uns bestenfalls ein Papiertiger.
Von einem FDP-geführten Bundesgesundheitsministe- Wichtig und richtig ist der Vorschlag der Grünen. Sie
rium, das muss ich an dieser Stelle sagen, erwarte ich wollen den Kreis der Berechtigten auch auf Nichtver-
auch nichts. wandte ausweiten. Denn das entspricht unserer heutigen
Die SPD hingegen will weitere Verbesserungen für Realität. Wie oft wohnen die Kinder einfach nicht in der
Pflegebedürftige und pflegende Angehörige: Wir for- Nähe? Wie oft sind Pflegebedürftige alleinstehend? Ge-
dern ein Rückkehrrecht von Arbeitnehmerinnen und Ar- nauso könnten dann der Nachbar oder Freunde diese
beitnehmern auf einen Vollzeitarbeitsplatz bei Arbeits- Menschen versorgen. Außerdem darf die Vereinbarkeit
zeitreduzierung wegen der Übernahme von familiärer von Pflege und Beruf nicht mehr ein reines Frauenpro-
Verantwortung. blem sein, nicht das Problem von Töchtern und Schwie-
gertöchtern. Kaum haben sie die Hürden der Vereinbar-
Menschen mit Pflegebedarf und pflegende Angehö- keit von Beruf und Familie gemeistert, werden sie – häufig
rige brauchen Zeit, Geld und Infrastruktur. Sie brauchen im nahtlosen Übergang – mit der nächsten Hürde, der
keine schwarz-gelbe Bundesregierung, die wirkungs- Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, konfrontiert.
lose Gesetze vorlegt. Von den vollmundigen Ankündi-
gungen letzten Herbst ist nichts übrig geblieben. Auch unterstütze ich die Forderung der Grünen, eine
unabhängige und individuelle Beratung für Pflegebe-
dürftige und Pflegende sicherzustellen. Denn oft liegt
Petra Crone (SPD): 2 Millionen Menschen sind der-
die Überforderung von Pflegenden auch daran, dass sie
zeit in Deutschland pflegebedürftig. 70 Prozent von ih- keine Informationen über ihnen zustehende Leistungen
nen werden zu Hause gepflegt. 75 Prozent der Pflegen- haben. Pflegestützpunkte benötigen wir flächendeckend
den sind weiblich und zwei Drittel stehen mitten im als zentral gelegene und allseits bekannte Anlaufstellen.
Berufsleben. Und noch eine Zahl: Im Jahr 2020 wird es
3 Millionen Pflegebedürftige geben. Diese Zahlen haben Die Linke hat ebenfalls einen interessanten Vorschlag
es in sich. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Die bishe- vorgelegt, der zwar in die richtige Richtung zeigt, mir
rigen Regelungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Be- aber aufgrund der Beschränkung auf einen einzelnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13175

(A) Punkt zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht um- dazu verpflichten, dieses neue Arbeitszeitmodell auch (C)
fassend genug erscheint. anzubieten. Das muss jeder Betrieb selber entscheiden.
Dies war für uns Liberale in der Debatte um dieses neue
Ich fordere alle Kollegen und Kolleginnen auf, statt Gesetz entscheidend. Ein Rechtsanspruch wäre mit der
dieses vorgelegte Gesetz zu beschließen, Möglichkeiten FDP nicht zu machen gewesen.
für Arbeitnehmer zu schaffen, kurzfristig und ohne große
finanzielle Verluste Pflege zu organisieren, die sie dann Es gibt jetzt schon gute flexible und freiwillige Ver-
womöglich selbst oder teilweise übernehmen können. einbarungen, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus-
reichend und bedarfsgerecht sind. Vor allem kleine und
Lassen Sie uns ebenso die Voraussetzung für eine an- mittelständische Unternehmen sind hier häufig sehr of-
gemessene Sterbebegleitung schaffen. fen und flexibel, wenn bei Mitarbeitern plötzlich ein
Und vor allem lassen Sie uns den Pflegebedürftigen Pflegefall auftritt. Ein Rechtsanspruch könnte auch ge-
– sofern es ihren Wünschen entspricht – so lange wie rade Frauen bei der Jobsuche benachteiligen, weil Ar-
möglich zu einem Aufenthalt in ihren eigenen Wohnun- beitgeber von vornherein Ausfallzeiten einprogrammie-
gen verhelfen. Dafür braucht es Investitionen vor allem ren würden. Denn Pflege von Angehörigen wird immer
in barrierefreien Wohnraum, gute Beratung und eine aus- noch – und ich sage hier: bedauerlicherweise – vor allem
reichende Infrastruktur von Hilfsangeboten vor Ort. Da- von Frauen übernommen. Die FDP-Fraktion ist deshalb
mit schaffen wir eine echte Wahlmöglichkeit für meh- zufrieden mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf,
rere Generationen und halten am Prinzip ambulant vor weil er auf freiwillige Vereinbarungen in den Betrieben
stationär fest. setzt.
Ich bin sicher, dass die Wirtschaft von der neuen Pfle-
Nicole Bracht-Bendt (FDP): Nur 5 Prozent der gezeitregelung Gebrauch macht. Die Wirtschaft weiß
Deutschen wollen ins Pflegeheim. Gut jeder zweite 18- ganz genau, dass familienfreundliche Angebote bei den
bis 70-Jährige möchte zu Hause gepflegt werden, sollte Mitarbeitern ganz oben auf dem Wunschzettel stehen.
er im Alter auf Unterstützung angewiesen sein. Laut ei- Im Wettbewerb um Fachkräfte wird dies künftig sicher-
ner Forsa-Studie möchte jeder Dritte dann durch Ange- lich eine wichtige Rolle spielen. Familienfreundlich
hörige betreut werden. 18 Prozent durch eine Pflege- heißt nicht nur flexible Arbeitszeiten für junge Eltern,
kraft. sondern auch Spielraum und Flexibilität für pflegende
Beschäftigte.
Gleichzeitig ist die Bereitschaft, eine nahestehende
Person im Ernstfall zu Hause zu pflegen, laut Umfrage Das Familienpflegezeitgesetz ist außerdem ein wich-
relativ hoch. 44 Prozent der Befragten würden sich in je- tiger Schritt bei der Neuausrichtung der Pflege. In
(B) dem Fall um einen Pflegebedürftigen kümmern. Viele Deutschland beziehen heute 2,25 Millionen Menschen (D)
fürchten aber, dass dies aus Zeitmangel und beruflichen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mehr als
Gründen nicht möglich wäre. Das Ergebnis dieser Um- 1,5 Millionen Menschen werden zu Hause versorgt. Ein
frage zeigt, dass die Koalition mit dem Gesetz zur besse- Großteil der anfallenden Pflege- und Betreuungsaufga-
ren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege genau das ver- ben wird heute in den Familien geleistet. Von den 25- bis
folgt, was die Menschen wollen. Wer einmal einen 49-jährigen Berufstätigen haben 22 Prozent einen oder
Angehörigen daheim gepflegt hat, weiß, wie schwierig mehrere Pflegebedürftige zu versorgen. Und weitere
der Spagat zwischen Beruf und Pflege ist. Bislang ist das 30 Prozent der Beschäftigten gehen davon aus, dass die-
oft gar nicht machbar. In vielen Fällen müssen die pfle- ser Fall innerhalb der nächsten zehn Jahre eintreffen
genden Angehörigen kündigen. Die Rückkehr in den Be- wird. Das ergab eine Umfrage des Instituts für Demo-
ruf später ist häufig schwierig. Das neue Gesetz ist ein skopie Allensbach. Dieselbe Umfrage ergab allerdings
wichtiger Schritt für die Vereinbarkeit von Familie und auch: Für 79 Prozent lassen sich Beruf und Pflege nicht
Beruf. Wenn Beschäftigte ihre Arbeitszeit auf bis zu gut vereinbaren. Genau hier setzt das Modell der Fami-
50 Prozent reduzieren können – und das bei einem Ge- lienpflegezeit an. Mit dem Gesetz kommen wir unserem
halt von 75 Prozent des Bruttoeinkommens – ist das in- Ziel der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf
novativ und zeitgemäß. Arbeitgeber, die ihren Beschäf- ein großes Stück näher.
tigten während der Familienpflegezeit das Arbeitsentgelt
aufstocken, erhalten diese Vorschussleistung durch ein Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Da rufen
zinsloses Bundesdarlehen des Bundesamts für Familie die wechselnden Gesundheitsminister der FDP 2011
und zivilgesellschaftliche Aufgaben refinanziert. Das ist vollmundig zum Jahr der Pflege auf, um dann still und
eine unbürokratische Lösung. leise zu erklären: ist nicht, geht nicht, schaffen wir nicht.
Die Begründung lautet: Der Ausstieg aus der Atomener-
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt dieses Ge- gie bindet alle Kräfte. Doch die Bürgerinnen und Bürger
setz. In einer Zeit des demografischen Wandels ist es un- wissen: Pflegereformen werden nicht im Umweltminis-
verzichtbar, neue Wege zu beschreiten. Die Politik ist in terium beschlossen. Der Grund liegt woanders. Sie strei-
der Pflicht, gerade den Männern und Frauen den Rücken ten wie die Kesselflicker über Eckpunkte und Details.
zu stärken, die aufopferungsvoll Familienangehörige Währenddessen geht der Pflegenotstand munter weiter.
pflegen. Wir wollen eine Politik, die dem pflegebedürfti-
gen Menschen den Wunsch erfüllt, zu Hause in den eige- Auch bei der Familienpflegezeit braucht das Gesund-
nen vier Wänden zu bleiben anstatt in einem Pflegeheim. heitsministerium Amtshilfe aus dem Ministerium für Fa-
Dennoch können und wollen wir keinen Arbeitgeber milien, Senioren, Frauen und Jugend. Der Berg kreißte
13176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) und gebar eine Maus. Der Gesetzentwurf zeigt deutlich: von Anfang an unterfinanzierte soziale Pflegeversiche- (C)
Ihnen geht es nicht um die Verbesserung der Situation rung ist auszubauen, und die Verteilung der Pflege- und
der Pflegebedürftigen oder ihrer Angehörigen, Ihnen Assistenzaufgaben zwischen Staat und Familie zuguns-
geht es einzig und allein um ihr Klientel. Das Gesetz för- ten einer stärkeren öffentlichen Verantwortung zu ver-
dert die Arbeitgeber, nicht die pflegenden Angehörige – schieben.
das sind meist Frauen. Und eine schöne private Fami-
lienpflegezeitversicherung haben Sie auch noch im An- Das Gesetz bringt keine wirkliche Verbesserung, son-
gebot für die angeschlagene Assekuranz. dern weicht bestehende Regelungen auf. Bereits heute
können Beschäftigte nach dem Gesetz zur Verbesserung
Das Gesetz löst weder das Problem der Vereinbarkeit der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler
von Pflege und Beruf noch das der sozialen Ungleichheit Arbeitszeiten Arbeitszeitkonten für Pflege in Anspruch
von Versorgungschancen. Nach wie vor wünschen sich nehmen. Die Linke setzt auf professionelle Pflege und
viele Menschen, bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit in begleitende Angebote zur Unterstützung Angehöriger.
ihrer vertrauen Umgebung bleiben zu können. Das be- Damit wird die pflegerische Versorgung von Angehöri-
deutet aber nicht, unbedingt von ihren Angehörigen ge- gen gewährleistet. Wir fordern eine sechswöchige be-
pflegt zu werden. Der Gesetzentwurf setzt allein auf die zahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, die der Organisation
Bereitschaft der Angehörigen. Die soziale Pflegeversi- der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung
cherung wird außen vor gelassen, statt sie zukunftsfest dient. Darüber hinaus sind die Leistungen der sozialen
zu machen. Die Schwachpunkte: Sie bieten pflegenden Pflegeversicherung anzuheben.
Angehörigen keinen Rechtsanspruch auf bezahlte Pfle-
gezeit. Angestellte müssen mit ihrem Arbeitgeber über Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
eine freiwillige und individuelle Vereinbarung verhan- NEN): Mehr Schein als Sein. Unter diesem Motto
deln. Ja wo leben Sie denn? Wie soll das in kleinen und kommt nicht nur das von der Bundesregierung so voll-
mittleren Unternehmen funktionieren? mundig angekündigte „Jahr der Pflege 2011“ daher.
Ein weiterer Schwachpunkt: Zu Beginn der Familien- Auch der uns vorliegende Gesetzentwurf zur Familien-
pflegezeit wird festgelegt, wie lange diese dauern soll. pflegezeit steht ganz in diesem Zeichen. Einen Rechts-
Auch das ist weltfremd, denn Pflege ist nicht planbar. anspruch auf diese Familienpflegezeit wird es nicht
Was ist, wenn die Pflege länger als 24 Monate dauert? geben. Stattdessen mutiert der ohnehin stark verbesse-
Frau Schröder setzt auf den „fliegenden Wechsel“. Da rungswürdige Versuch zur Vereinbarkeit von Pflege und
muss dann eben das nächste Familienmitglied Familien- Beruf zu einem zahnlosen Tiger. Wenn der Arbeitgeber
pflegezeit beantragen. Ob das realistisch ist, bezweifeln die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht als oberstes
Ziel seiner Firmenphilosophie sieht, dann muss er nicht
(B) wir entschieden. (D)
handeln. Es bleibt jedem freiwillig überlassen. Unver-
Wir wissen seit der Affäre Guttenberg, dass Schwarz- bindlicher geht’s nimmer. Den Pflegenden in diesem
Gelb es mit der wissenschaftlichen Redlichkeit nicht Lande nutzt dieses Gesetz damit überhaupt nichts, wenn
allzu genau nimmt. Frau Schröder bezieht sich auf Un- der Arbeitgeber nicht mitspielt. Wie naiv aber ist es, an-
tersuchungen, nach denen die Lebenserwartung der Pfle- zunehmen, dass die Mehrheit der Arbeitgeber nun frei-
gebedürftigen unter 24 Monaten liegt. Wie sollen wir das willig die Familienpflegezeit anbieten? Da nutzen auch
verstehen? Setzen Sie auf „biologische Lösungen“? Aus die im Gesetz vorgesehenen KfW-Darlehen als Anreiz
anderen Untersuchungen ist bekannt, dass Pflege viel nichts. Es ist schon ein starkes Stück, wenn sich der Par-
länger dauert. In diesen Fällen lassen Sie die pflegenden lamentarische Staatssekretär, Herr Kues, in der Frage-
Angehörigen im Regen stehen. Sie sind noch dazu ver- stunde am 6. April erdreistet zu sagen, dass doch eine
antwortlich ihrem Arbeitgeber gegenüber und haften für Art von Rechtsanspruch bestehe – allein wenn Arbeitge-
das erhaltende Gehalt. Familienpflege nach Ihrer Fasson ber und Beschäftigte eine Vereinbarung über eine Fa-
geht zulasten der Frauen. Menschen, die schon in Teil- milienpflegezeit treffen. Wortwörtlich Herr Kues – ich
zeit arbeiten – das sind meist Frauen – können ihre Ar- zitiere –: „Das ist eine bestimmte Art von Rechtsan-
beitszeit aus finanziellen Gründen nicht noch weiter re- spruch.“ Solche Vereinbarungen oder Aushandlungen
duzieren. Apropos Frauen: Der Gesetzentwurf lässt ein zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren bereits
vorsintflutliches Frauen- und Menschenbild erkennen. vor dem Amtsantritt von Schwarz-Gelb und vor diesem
Sie arbeiten mit dem schlechten Gewissen nahestehen- Gesetz möglich. Diesen Spielraum haben einzelne Un-
der Menschen nach dem Motto: Wer einen Angehörigen ternehmen auch vorher schon genutzt. Dafür brauchen
in ein Heim „abschiebt“ ist eine Rabentochter. wir kein Gesetz. Wir brauchen auch keine vollmundigen
Ankündigungen in den Medien zur Entlastung pflegen-
Sie wollen den Vorrang der häuslichen Pflege stärken, der Angehöriger, wenn diese dann doch die Hauptlast
damit dauerhafte Einsparungen in der sozialen Pflege- tragen müssen.
versicherung erzielt werden. Das sagen sie klipp und
klar. Die Frauen bleiben auf der Strecke, sie sollen neben Frau Ministerin Schröder, Sie sind nicht die Ministe-
Job und Familie mal eben noch ehrenamtlich pflegen. rin für Unternehmensberatung. Sie sind auch nicht
Damit verlagern Sie die Pflege in das private Lebensum- Ministerin für wohlklingende, aber nichtsnutzige
feld. Wir sehen das anders: Pflege und die Betreuung al- Appelle. Sondern Sie haben als Ministerin die Aufgabe,
ter oder kranker Menschen, die ohne Hilfe die Anforde- für die Bürgerinnen und Bürger, die die verantwortungs-
rungen des Alltags nicht mehr bewältigen können, sind volle Pflege eines Angehörigen übernehmen, konkrete
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir fordern: Die Unterstützung und Entlastung zu erwirken. Auf die kön-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13177

(A) nen sie allerdings lange warten: Denn wer, bitte schön, pflegephase wieder auffüllen. Das Ausfallrisiko deckt (C)
kann schon auf 25 Prozent seines Gehaltes verzichten? eine Familienpflegezeitversicherung ab, die mit der Ver-
Und das auch noch bis zu vier Jahre lang: maximal zwei einbarung einer Familienpflegezeit abgeschlossen wer-
Jahre für die Pflegezeit und dann weitere zwei Jahre, in den muss. Diese Regelungen werden vielen Menschen in
denen die Beschäftigten gleichsam den KfW-Kredit zu- Deutschland – pflegebedürftigen genauso wie pflegen-
rückzahlen müssen. Der Arbeitnehmer, und zwar nur der den – das Leben erleichtern. Schon heute werden ja
Arbeitnehmer, trägt das volle Risiko: Er muss sich in mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen – gut
dieser ganzen Zeit gegen den Ausfall einer möglichen 1,6 Millionen Menschen – zu Hause versorgt.
Rückzahlung pflichtversichern. Freuen wird sich dage-
gen die Versicherungswirtschaft. Für die tut sich ein völ- Drittens. Neben der Entlastung der pflegenden Be-
lig neues Geschäftsfeld auf. Wir sind schon sehr ge- schäftigten hat unser Vorschlag weitere wichtige Vor-
spannt, welche Policen und Beiträge hier angeboten teile:
werden. Denn der Gesetzentwurf lässt völlig offen, wie Zum einen: Das Modell ist auch für die Wirtschaft
viel eine solche Prämie kosten soll, und setzt damit den hoch attraktiv. Wir greifen damit die Interessen der Un-
Versicherungsunternehmen kaum Grenzen. Aber Ver- ternehmen auf, Beschäftigte in Zeiten des Fachkräfte-
braucherschutz ist ja ohnehin nicht die Stärke dieser Re- mangels in den Betrieben zu halten. Bereits jetzt haben
gierung. Dieses Gesetz ist ein einziger familienpoliti- demografische Entwicklungen zur Folge, dass jedes
scher Fehlschlag. dritte Unternehmen Rekrutierungsprobleme hat. Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern Zeit für Verantwortung zu
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun- ermöglichen, zahlt sich im Wettbewerb um die besten
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Köpfe und die qualifiziertesten Kräfte aus.
Erstens. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine Antwort Zum anderen: Die Familienpflegezeit ist ein wichti-
auf die Bedürfnisse vieler Menschen in Deutschland: Wir ges Instrument beim Kampf gegen die Altersarmut. Die
wissen, dass kranke und ältere Menschen so lange wie Pflegenden können Verantwortung für ihre Angehörigen
möglich zuhause bei der Familie bleiben wollen. Wir wis- übernehmen, ohne ihre Arbeitsstelle und Rentenansprü-
sen, dass viele Menschen ihre betagten Angehörigen che zu verlieren. Das hilft gerade Beziehern geringer
gerne zuhause pflegen möchten. Wir wissen, dass diese Einkommen. Denn während der Familienpflegezeit be-
Menschen dabei große Opfer bringen. Wir wissen, dass kommen Arbeitnehmer Rentenpunkte für ihren Arbeits-
die meisten dieser Menschen berufstätig sind, dass sie ihr lohn und für die mit der Familienpflegezeit erweiterte
Einkommen brauchen und dass es mit Mitte, Ende 50 der Lohnzahlung. Zusätzlich bekommen sie noch Renten-
sichere Weg in die Arbeitslosigkeit wäre, länger oder punkte durch die Leistungen der Pflegeversicherung zur
(B) ganz aus dem Beruf auszusteigen. Rente der pflegenden Angehörigen. Im Ergebnis ist das (D)
gerade bei Arbeitnehmern in den unteren Einkommens-
Weil wir all das wissen, wollen Union und FDP Men-
gruppen mehr, als sie in dieser Zeit im Angestelltenver-
schen mit der Doppelbelastung Pflege und Beruf nicht
hältnis bekämen.
allein lassen. Menschen, die ein Leben lang viel geleistet
haben, verdienen einen würdigen Lebensabend. Men- Mit der Familienpflegezeit verhindern wir also, dass
schen, die ihren Angehörigen einen würdigen Lebens- die pflegenden Angehörigen von heute die Sozialfälle
abend schenken, verdienen unsere Unterstützung. Des- von morgen werden, deren Rente dann wiederum auf
halb brauchen wir die Familienpflegezeit. Kosten der Steuerzahler aufgestockt werden muss.
Zweitens. Rund 90 Prozent der Bevölkerung halten es Einen weiteren Vorteil möchte ich noch erwähnen:
für „sehr wichtig“ oder „wichtig“, dass es Berufstätigen Die Familienpflegezeit ist besonders für diejenigen ein
erleichtert wird, Angehörige zu pflegen. Genau hier setzt attraktives Angebot, die einen Vollzeitjob mit der Pflege
unser Gesetzentwurf an. Die Familienpflegezeit schafft eines Angehörigen vereinbaren müssen. Das sind vor al-
die Voraussetzungen dafür, dass Menschen endlich die lem Männer, weil Frauen in der relevanten Altersgruppe
Chance bekommen, Beruf und die Pflege eines Angehö- viel häufiger Teilzeit arbeiten. Insofern trägt die Fami-
rigen zu vereinbaren. Ich skizziere kurz die wichtigsten lienpflegezeit dazu bei, dass die Vereinbarkeit von
Eckpunkte des Gesetzentwurfs: Pflege und Beruf nicht länger nur als Aufgabe von
Frauen wahrgenommen wird.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer können eine Reduzie-
rung der wöchentlichen Arbeitszeit für die Dauer von Viertens. Mit der Familienpflegezeit schaffen wir also
höchstens zwei Jahren zur häuslichen Pflege eines Ange- ein innovatives Modell, das die Bedürfnisse der Men-
hörigen vereinbaren. Pflegende Angehörige können ihre schen trifft und das die Bürgerinnen und Bürger entlas-
Arbeitszeit in der Pflegephase zwei Jahre lang auf bei- tet, ohne die Sozialsysteme zusätzlich zu belasten.
spielsweise 50 Prozent reduzieren, erhalten aber den- Ich bin überzeugt: Die Familienpflegezeit wird eine
noch 75 Prozent ihres Gehalts. Anschließend arbeiten Erfolgsgeschichte – so wie die Altersteilzeit. Auch da-
die Beschäftigten in der sogenannten Nachpflegephase rauf gab es keinen Rechtsanspruch. Trotzdem wurde sie
wieder so viel wie vor der Pflegephase, erhalten aber dankbar in Anspruch genommen. Nach wenigen Jahren
zwei Jahre nur 75 Prozent ihres Gehalts, bis die Zeitdif- waren es über 100 000 Fälle.
ferenz nachgearbeitet ist. Die Entgeltaufstockung erfolgt
zulasten eines Wertguthabens, das die Beschäftigten Wir brauchen machbare und vor allem konkrete Lö-
nach Beendigung der Familienpflegezeit in der Nach- sungen für die vielen pflegenden und pflegebedürftigen
13178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Menschen in Deutschland. Heute sind es etwa 2,38 Mil- tarischen Beratungen haben wir uns auf einige Änderun- (C)
lionen Menschen, die als Pflegebedürftige Leistungen gen des Gesetzentwurfes geeinigt:
aus der Pflegeversicherung beziehen. Nach derzeitigen
Die Erweiterung der Ausnahmeregelung für Müllver-
Hochrechnungen werden es in 20 Jahren mehr als
brennungsanlagen – § 2 „Anwendungsbereich“ – sieht
3,2 Millionen, bis zum Jahr 2050 sogar über 4,3 Mil-
einen Verzicht auf das Heizwertkriterium zur Abgren-
lionen sein.
zung von Siedlungsabfällen vor. Die Änderung von
Wenn Sie wie ich der Meinung sind, dass wir die Fol- Abs. 5 Nr. 3 setzt die Bereichsausnahme für Anlagen zur
gen dieser Entwicklung nicht allein den Sozialkassen Verbrennung von gefährlichen Abfällen oder Siedlungs-
aufbürden können, und wenn Sie wie ich der Meinung abfällen aus der Emissionshandelsrichtlinie unmittelbar
sind, dass es richtig ist, Menschen zu unterstützen, die in deutsches Recht um. Nach der Änderung obliegt es
sich Zeit für Verantwortung nehmen wollen, dann stim- nunmehr im Zweifel den für die Erteilung der Emissi-
men Sie für unseren Gesetzentwurf. onsgenehmigung zuständigen Landesbehörden, aus dem
Kreis der Abfallverbrennungsanlagen diejenigen Anla-
gen festzulegen, deren Hauptzweck auf die Verbrennung
Anlage 6 von gefährlichen Abfällen oder Siedlungsabfällen ge-
richtet ist. Mit der Einführung einer Härtefallregelung
Zu Protokoll gegebene Reden bei der kostenlosen Zuteilung – § 9 „Zuteilung von kos-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur tenlosen Berechtigungen an Anlagenbetreiber“ – knüp-
Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fort- fen wir an die bestehende Härtefallregelung im ZuG
entwicklung des Emissionshandels (Tagesord- 2012 an.
nungspunkt 17) In der dritten Handelsperiode werden die Zuteilungs-
regeln durch den Beschluss 2011/278/EU der Kommis-
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Die Novelle sion vom 27. April 2011 zur Festlegung EU-weiter
zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, TEHG, ist Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kosten-
ein großer Fortschritt in unseren Bemühungen beim Kli- losen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß
maschutz. Wir schaffen damit die Grundlagen für die eu- Art. 10 a der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen
ropaweite Weiterentwicklung des Emissionshandels. Parlaments und des Rates, ABl. L 130 vom 17. Mai
2011, Seite 1, europarechtlich determiniert. Dabei ist
Neu ist, dass wir zukünftig nicht mehr 27 verschie- nicht auszuschließen, dass ein Anlagenbetreiber in ei-
dene Allokationspläne haben werden. Die einzelnen na- nem atypischen Sonderfall nach den nationalen Zutei-
tionalen Regelungen werden dahin gehend harmonisiert, lungsregeln zur Umsetzung dieses Beschlusses eine Zu-
(B) dass die Emissionsberichterstattung, die Versteigerung (D)
teilung erhalten würde, die so gering ist, dass dadurch
und insbesondere die Regelungen für die Zuteilung der auch unter Berücksichtigung der Zeitdauer seit Einfüh-
Emissionszertifikate europaweit einheitlich erfolgen. rung des EU-Emissionshandels eine verfassungsrecht-
Damit erreichen wir ein noch stärker einheitliches Vor- lich unverhältnismäßige Härte entstünde. Nach den eu-
gehen beim Klimaschutz und gleiche Wettbewerbsbe- ropäischen Grundrechten und dem europäischen Grund-
dingungen in der Europäischen Union. Neu ist auch, satz der Verhältnismäßigkeit hätte der Anlagenbetreiber
dass ab dem kommenden Jahr der Luftverkehr und ab unter diesen Voraussetzungen einen Anspruch auf eine
2013 weitere emissionsintensive Industriebranchen und Aufstockung der Zuteilung auf ein Niveau, durch das
Treibhausgase in den Emissionshandel einbezogen wer- eine unverhältnismäßige Härte vermieden wird.
den. Damit werden ab 2013 in Deutschland 2 000 Anla-
gen und 200 Fluggesellschaften am Emissionshandel Die Rechtsverordnung – § 10 Rechtsverordnung über
teilnehmen. Worüber ich mich besonders freue, ist, dass Zuteilungsregeln – bedarf jetzt der Zustimmung des
die Versteigerungserlöse in den Energie- und Klima- Bundestages und entspricht damit der Regelung in § 65
fonds einfließen und damit die Umsetzung des Energie- Abs. 5 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in der Fas-
konzeptes sowie unsere Bemühungen beim Klimaschutz sung des Europarechtsanpassungsgesetzes Erneuerbare
unterstützen helfen. Die TEHG-Novelle ist ein Bekennt- Energien.
nis zu einem engagierten Klimaschutz und zum Indus- Für die Benutzung elektronischer Formatvorlagen
triestandort gleichermaßen. Der Beitrag zum Klima- – § 23 „Elektronische Kommunikation“ – ist zukünftig
schutz wird neben der 100-prozentigen Versteigerung die Übermittlung zusätzlicher Dokumente als Ergänzung
durch die Absenkung der Gesamtmenge an Berechtigun- der Formatvorlagen unter Beachtung von Formvorschrif-
gen deutlich. Das Bekenntnis zum Industriestandort ten möglich. Die Ergänzung trägt dem Umstand Rech-
kommt dadurch zum Ausdruck, dass Industriebranchen, nung, dass es in Einzelfällen erforderlich sein kann, nicht
die in einem intensiven internationalen Wettbewerb ste- von einem Formular erfasste Angaben zu übermitteln
hen, von der Versteigerung ausgenommen sind. Außer- oder klarstellend das Anliegen zu erläutern. Mit der vor-
dem haben wir Entlastungen für kleine und mittlere Un- geschlagenen Öffnung wird die Möglichkeit für die Be-
ternehmen vorgesehen. Deren Anlagen stoßen im treiber zwar an die Nutzung der elektronischen Format-
Vergleich zur Gesamtmenge geringe Mengen an CO2 vorlagen gekoppelt, aber als deren Ergänzung erlaubt.
aus; dennoch werden sie durch die Kosten des Emissi-
onshandels im Verhältnis zu ihrer Emissionsmenge über- Mit der Einbeziehung von Weiterverarbeitungsanla-
proportional belastet. Das haben wir in entsprechenden gen der Stahlindustrie – § 24 „Einheitliche Anlage“ – in
Regelungen berücksichtigt. Als Ergebnis der parlamen- die einheitliche Anlage wird die Rechtslage aus der Han-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13179

(A) delsperiode 2008 bis 2012 mit dem erweiterten Anwen- es nicht gelingt, den globalen Klimawandel in Grenzen (C)
dungsbereich in der Handelsperiode 2013 bis 2020 fort- zu halten, wird das weitreichende Folgen für die Natur
geführt. als unsere Lebensgrundlage und damit für unsere Gesell-
schaft und unser Wirtschaften haben. Eine erfolgverspre-
Umfangreiche Änderungen haben wir auch bei den chende Klimapolitik braucht deshalb zwei Säulen: Ers-
Kleinemittenten vorgenommen – § 27 „Befreiung für tens die Vermeidung von Treibhausgasen und zweitens
Kleinemittenten“. Durch die Erweiterung der Kleinanla- die Anpassung an die Folgen des Klimawandels, die
genregelung werden jetzt alle Effizienzverbesserungen schon heute nicht mehr vermeidbar sind. Der Emissions-
der Kleinanlagen anteilig auf den zu zahlenden Aus- handel ist dabei ein zentrales Instrument zur Reduzie-
gleichsbetrag angerechnet. Die geänderte Fassung von rung von Treibhausgasen, die den Motor für den Klima-
§ 27 Abs. 3 stellt sicher, dass bei der Selbstverpflichtung wandel darstellen.
zur Minderung des anlagenspezifischen Emissionswer-
tes die tatsächlich erbrachten Minderungsleistungen an- Die Bundesregierung hat am 16. Februar 2011 auf der
teilig auf den Ausgleichsbetrag angerechnet werden. Die Grundlage der reformierten europäischen Richtlinie zum
Änderung trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die Emissionshandel die Novelle des Treibhausgas-Emis-
administrativen Kosten des Emissionshandels auch für sionshandelsgesetzes beschlossen. Diese Entscheidung
Kleinanlagen mit einer Befreiung nach § 27 im Verhält- dient der Weiterentwicklung des Emissionshandels für
nis zur produzierten Emissionsmenge überproportional die bevorstehende Handelsperiode 2013 bis 2020 und
hoch sind. setzt zugleich die europäische Richtlinie in nationales
Recht um.
Um den Anwendungsbereich der Erleichterungen für
Kleinanlagen auf dem Gebiet der Berichterstattung zu Die Novelle stellt einen wesentlichen Fortschritt für
erweitern, wird die Höchstschwelle aus § 27 Abs. 5 Satz 1 den Klimaschutz dar: Ab dem Jahr 2013 gibt es damit
von 15 000 auf 20 000 heraufgesetzt. Diese Kleinanla- ein einheitliches EU-Emissionshandelssystem und nicht
gen decken weiterhin nur einen sehr geringen Anteil der wie bisher 27 Einzelsysteme. Erstmals wird eine gesamt-
Treibhausgasemissionen in Deutschland ab. Gerade die europäische Obergrenze für die Emissionsmenge festge-
Kosten für die Emissionsberichterstattung stehen bei legt. Die Harmonisierung des Emissionshandelssystems
diesen Anlagen in einem ungünstigeren Verhältnis zu trägt ganz wesentlich dazu bei, dass Wettbewerbsverzer-
den erzielten Emissionsminderungen als bei größeren rungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten beseitigt
Anlagen. Die Anforderungen an die Emissionsberichter- werden können.
stattung werden deshalb vereinfacht. Auf diese Weise Ab 2013 werden in Deutschland 2 000 Anlagen am
werden sie vom bürokratischen Aufwand, den das Emis- Emissionshandel teilnehmen. Bisher waren es in
(B) sionshandelssystem mit sich bringt, entlastet. Außerdem Deutschland nur 1 665 Anlagen. (D)
haben wir klargestellt, dass ein Anlagenbetreiber, der
nach Überschreiten der Emissionsschwelle für Kleinan- Ich sehe es als Erfolg der Politik, dass ab 2012 auch
lagen wieder der Pflicht zur Abgabe von Emissionsbe- der Luftverkehr und ab 2013 weitere emissionsintensive
rechtigungen unterliegt, eine Zuteilung kostenloser Be- Industriebranchen in den Emissionshandel einbezogen
rechtigungen nach § 9 erhält. werden.
Eine Änderung haben wir auch bei den „Bußgeldvor- In keinem anderen Sektor steigen die Emissionen so
schriften – § 32 „Bußgeldvorschriften“ – vorgenommen. schnell an wie im Luftverkehr. Die Treibhausgasemissio-
Hier ist jetzt geregelt, dass ordnungswidrig handelt, wer nen aus dem Flugverkehr haben sich seit 1990 in Europa
eine in Abs. 1 bezeichnete Handlung fahrlässig begeht. fast verdoppelt. Ab 2012 fallen alle Flüge, die von euro-
Für fahrlässig begangene Handlungen ist im angepassten päischen Flughäfen abgewickelt werden, unter das Emis-
Abs. 3 eine wesentlich geringere Geldbuße vorgesehen sionshandelsrecht der Europäischen Union. Hier ist es
als bei vorsätzlicher Begehungsweise. nach meiner Auffassung richtig, am Verursacherprinzip
festzuhalten: Europa sollte sich nicht durch die Drohun-
Ich teile die Einschätzung von Bundesumweltminister gen Chinas, bei Einführung des Emissionshandels im
Dr. Röttgen, der den Emissionshandel als das zentrale Flugverkehr Zwangsabgaben für europäische Fluggesell-
Instrument zur Reduzierung von Treibhausgasen be- schaften einzuführen, vom richtigen Weg abbringen las-
zeichnet hat. Nicht nur, dass wir Treibhausgasemissio- sen. Hier kann und muss Europa als Vorbild vorangehen.
nen reduzieren; durch die Vereinheitlichung erreichen Ich teile die Auffassung von Klimaschutzkommissarin
wir gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa, und un- Hedegaard, dass es bei der beschlossenen europäischen
sere Unternehmen werden zur Entwicklung neuer und Gesetzgebung zum Flugverkehr keinen Rückzieher ge-
besserer Technologien angehalten – das sage ich auch ben darf.
vor dem Hintergrund, dass andere Länder genau verfol-
gen, wie wir in Europa den Emissionshandel regeln und Neben dem Flugverkehr gibt es aber auch andere
wie unsere Unternehmen mit den veränderten Rahmen- Wirtschaftsbereiche, die eventuell in den Emissionshan-
bedingungen umgehen. Das europäische Emissionshan- del einzubeziehen sind. Hier sind die Landwirtschaft und
delssystem hat Vorbildcharakter. der Straßen- und Schiffsverkehr zu nennen.
Die Regierung in Neuseeland will zum Beispiel die
Josef Göppel (CDU/CSU): Wir sind Zeugen eines Landwirtschaft ab 2015 in den Emissionshandel einbe-
sich wandelnden Weltklimas. Mit dem Klima ändern ziehen. Viele Landwirte erhoffen sich daraus sogar Ein-
sich die Lebensbedingungen auch in Deutschland. Wenn nahmen.
13180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Die internationale Seeschifffahrt ist genauso wie der Frank Schwabe (SPD): Thema der heutigen Diskus- (C)
Flugverkehr ein stark wachsender Sektor. Eine aktuelle sion ist die Weiterentwicklung des Emissionshandels.
Studie des Öko-Instituts hat gezeigt, dass die Einbin- Die Emissionshandelsrichtlinie der EU wurde geändert
dung des Seeverkehrs in das europäische Emissionshan- und muss nun in nationales Recht umgesetzt werden. Der
delssystem problemlos vollzogen werden könnte. Da- Emissionshandel wird ab 2013 europaweit stärker har-
rüber hinaus bin ich der festen Überzeugung, dass mehr monisiert. Das betrifft vor allem die Regeln für die kos-
Klimaschutz im Straßenverkehr notwendig und möglich tenlose Zuteilung der Emissionszertifikate und für die
ist. Der Emissionshandel kann die effizienteste Form Versteigerung. Bisher konnten die 27 Mitgliedstaaten je-
sein, die verschiedenen Emissionen des Verkehrs- und weils eigene Regeln für die kostenlose Zuteilung festle-
Transportsektors einheitlich zu behandeln. gen. Für die Zeit ab 2013 werden für alle Mitgliedstaaten
einheitliche EU-Zuteilungsregeln Grundlage für die Zu-
Der zukünftige Erfolg des europäischen Emissions- teilung sein. Für die Produktion von Strom wird es ab
handelssystems steht und fällt mit dem Wert der Zertifi- 2013 keine kostenlosen Emissionszertifikate mehr ge-
kate. Ich habe große Sorge, dass es mit der Beibehaltung ben. Kraftwerksbetreiber müssen also die benötigten
des 20-Prozent-Minderungszieles zu einem Preisverfall Emissionszertifikate ersteigern. Eine Begründung für
bei den Zertifikaten kommt. Mit dem Erreichen des Anhebungen der Strompreise ist dies jedoch nicht, da die
20-Prozent-Zieles verlieren die Zertifikate an Wert. Kraftwerksbetreiber bereits seit 2005 die Preise der
Emissionszertifikate an die Stromkunden weitergeben,
Der Bundesrat hat sich mit der Novelle des Treib- auch wenn sie diese Zertifikate kostenlos erhalten haben.
hausgas-Emissionshandelsgesetzes ebenfalls befasst. Dennoch ist absehbar, dass ab 2013 die Stromversorger
Die Änderungsanträge der Regierungsfraktionen zum die Preise erhöhen und den Emissionshandel als Grund
Entwurf vom Februar 2011 tragen den Wünschen des angeben werden. Höhere Strompreise dürfen nicht dafür
Bundesrates in weiten Teilen Rechnung. Das betrifft ins- sorgen, dass energieintensive Unternehmen aus Deutsch-
besondere die Entlastung für kleinere und mittlere Un- land abwandern und in Weltregionen ziehen, in denen es
ternehmen; denn gerade kleine Anlagen mit geringen keine oder sehr wenig Klimaschutzpolitik gibt, und dort
Emissionen würden von den Verwaltungskosten des die gleichen Produkte herstellen, wahrscheinlich mit ei-
Emissionshandels im Verhältnis zu ihren Emissionsmen- nem höheren CO2-Ausstoß als hierzulande. Damit ist we-
gen überdurchschnittlich belastet. Mit der Kleinanlagen- der dem Klimaschutz noch den Arbeitsplätzen gedient.
regelung werden zukünftig alle Effizienzverbesserun-
gen anteilig auf den zu zahlenden Ausgleichsbetrag Wie dringend entschlossenes Handeln im Klima-
angerechnet. Zudem wird es eine Härtefallregelung bei schutz ist, zeigen die neuesten Zahlen der Internationa-
der kostenlosen Zuteilung für Zertifikate geben. len Energieagentur. Laut Internationaler Energieagentur
(B) sind die Kohlendioxidemissionen im Jahr 2010 auf ein (D)
Mit einer erweiterten Ausnahmeregelung für Müll- Rekordhoch gestiegen und lagen sogar um 5 Prozent hö-
verbrennungsanlagen – konkret dem Verzicht von Heiz- her als im bisherigen Rekordjahr 2008. Weltweit wurden
wertkriterien zur Abgrenzung von Siedlungsabfällen – im vergangenen Jahr 30,6 Gigatonnen Kohlendioxid
kommen die Änderungsanträge der Regierungsfraktio- ausgestoßen. Diese Entwicklung ist alarmierend. Viele
nen ebenfalls den Bundesländern entgegen. Experten haben nun große Sorge, dass das Ziel der Erd-
erwärmung um weniger als 2 Grad gegenüber dem Wert
Es könnte allerdings sein, dass die Kommission die des Jahres 1990 nicht erreicht werden kann, wenn die
Ausnahmen nicht als ausreichende Umsetzung der euro- Emissionen in Zukunft genauso rasant steigen werden.
päischen ETS-Richtlinie akzeptiert. Beim Vollzug des Um das 2-Grad-Ziel noch zu erreichen, dürfen im Jahr
Emissionshandels in Deutschland wird die Aufgabenver- 2020 nicht mehr als 32 Gigatonnen CO2 ausgestoßen
teilung zwischen Bund und Ländern eindeutig geregelt. werden. Das bedeutet, dass die Emissionen in den kom-
Die Landesbehörden werden für die Emissionsgenehmi- menden 10 Jahren langsamer steigen müssten als zwi-
gungen zuständig sein. Den gesamten Bereich der Emis- schen 2009 und 2010. Klimapolitik ist wichtiger denn je.
sionsüberwachung übernimmt zukünftig das Umwelt- Alle Techniken für den Klimaschutz sind vorhanden,
bundesamt. wirtschaftlich ist Klimaschutz ein Erfolgsmodell. Wir
müssen nur handeln, und zwar schnell!
Der Forderung des Bundesrates nach einer Beteili-
gung der Länder an den Versteigerungserlösen können Doch das scheinen nicht alle hier im Bundestag so zu
wir nicht nachkommen. sehen. Thomas Bareiß, der Koordinator für Energiepoli-
tik der CDU/CSU-Fraktion, erklärte diesen Montag, dass
Die Weiterentwicklung des europäischen Emissions- die Klimaschutzziele, die sich Deutschland gesetzt hat,
handels stellt einen wesentlichen Fortschritt dar und infrage zu stellen seien. Diese Aussage zeigt die Konfu-
schafft ein vorbildliches System zur Treibhausgasredu- sion, die in der CDU herrscht. Nach der dramatischen
zierung. Niederlage der gesamten Fachpolitiker der Union in der
Atomfrage kommt jetzt der dreiste Angriff auf die Kli-
Zugleich werden Wettbewerbsverzerrungen zwi- mapolitik. Richtig ist das genaue Gegenteil. Der Aus-
schen den Mitgliedstaaten, die durch unterschiedliche stieg aus der Atomtechnologie gekoppelt mit den richti-
Zuteilungsregelungen entstehen konnten, beseitigt. Mit gen Anreizen für den Ausbau der erneuerbaren Energien
den Erlösen aus dem Emissionshandel werden weitere und mehr Energieeffizienz macht gerade ein Mehr an
Klimaschutzmaßnahmen finanziert. Klimaschutz möglich. Deshalb macht das nationale 40-Pro-
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(A) zent-CO2-Minderungsziel weiterhin großen Sinn. Da- den Emissionshandel verursachten Strompreisanstieg, (C)
rüber hinaus muss das 30-Prozent-Ziel in der EU endlich betroffene Industriebranchen einführen. Diese Kompen-
durchgesetzt werden. Umweltminister Röttgen hat sich sation sollte gemäß der ETS-Richtlinie nur dann gewährt
dazu mehrfach positioniert. Die CDU muss ihre Position werden, wenn sie erforderlich und verhältnismäßig ist.
auch hier klären. In dem Beschluss „Neue Energie“ von SPD-Vorstand
und Parteirat wurde beschlossen, dass wir für energiein-
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch die gemein- tensive Unternehmen, die vor allem Strom benötigen, ei-
same Sitzung des Umweltausschusses mit dem Umwelt- nen Ausgleich unter eng gefassten Voraussetzungen aus
ausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel er- den Einnahmen des Emissionshandels ab 2013 prüfen
wähnen. Schwerpunkt war die europäische Klimapolitik. werden. Um Beihilfen dieser Art zu ermöglichen, muss
Diese gemeinsame Sitzung war sehr wichtig, und ich auf EU-Ebene zuerst der Rahmen für Umweltschutzbei-
denke, dass wir als Umweltausschuss ein wichtiges Si- hilfen geändert werden. Die EU-Kommission wertet zur-
gnal für das 30-Prozent-Ziel setzen konnten. Es ist gut, zeit die Eingaben des Konsultationsprozesses für staatli-
dass der ENVI, der Umweltausschuss der Europäischen che Beihilfen im Emissionshandel aus. Bis Ende des
Parlaments, sich einen Tag später für das 30-Prozent- Jahres möchte die EU-Kommission eine Regelung tref-
Ziel ausgesprochen hat; ein Votum, dem sich das Plenum fen, wie diese Beihilfen ausgestaltet werden können.
des Europäischen Parlaments hoffentlich anschließen Wichtig wird dabei, dass denen geholfen wird, die an-
wird. sonsten den Wirtschaftsstandort Deutschland verlassen
Jedoch legt die Novelle des TEHG, über die wir heute würden. Es kann jedoch nicht sein, dass Emissionshan-
reden, zurzeit nur die Grundlagen für einen Emissions- delsgelder für alle mit der Gießkanne ausgeschüttet
handel für das 20-Prozent-Ziel der EU. Das TEHG regelt werden. Für einen eng gefassten Kreis an betroffenen
die Grundlagen der Zuteilung. Weitere Details werden in Unternehmen sollte die Differenz zwischen dem Durch-
der Zuteilungsverordnung geregelt, die das BMU gerade schnittspreis der Emissionsberechtigungen der jetzigen
erarbeitet. Das TEHG setzt die geänderte Emissionshan- Zuteilungsperiode und dem durchschnittlichen Preis der
delsrichtlinie um. Insoweit hatte die Bundesregierung Zertifikate in der nächsten Handelsperiode erstattet wer-
geringen Gestaltungsspielraum, da die Richtlinie die Än- den.
derungen des Emissionshandels sehr detailreich geregelt Weitere wichtige Themen im TEHG sind der Umgang
hat. Nicht allen Regelungen, mit denen die Bundesregie- mit Abfallverbrennungsanlagen, die Diskussion, ob Raum
rung die Richtlinie umgesetzt hat, können wir zustim- für eine Härtefallregelung besteht, wie mit Zünd- und
men. Die Koalition hat Änderungsanträge zum TEHG Stützfeuerung umzugehen ist und wie die Regelung für
vorgelegt. In diesen Änderungen werden Punkte er- Kleinemittenten verbessert werden kann. Die Koalition
(B) wähnt, denen wir zustimmen können, jedoch auch fal- hat in ihrem Änderungsantrag beschlossen, das Kriterium (D)
sche Regelungen angeführt. Aus diesen Gründen können des durchschnittlichen Heizwertes der eingesetzten Ab-
wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, sondern wer- fälle abzuschaffen. Damit werden auch Ersatzbrennstoff-
den uns enthalten. kraftwerke aus dem Emissionshandel ausgenommen. Nun
Von großer Wichtigkeit ist die Verwendung der Erlöse kann man trefflich darüber diskutieren, ob 13 000 Kilo-
des Emissionshandels. Im TEHG wird geregelt, dass die joule pro Kilogramm Abfall der einzig richtige Grenzwert
Einnahmen aus dem Emissionshandel dem Bund zuste- ist. Es kann jedoch nicht sein, dass jeglicher Einsatz von
hen. Weitergehende Vorgaben macht das TEHG nicht. Es Ersatzbrennstoffen in den entsprechenden Anlagen ausge-
gelten jedoch die Bestimmungen der EU-Emissionshan- nommen wird, da es auch hier Mitnahme- und Vertei-
delsrichtlinie, dass „diese Einkünfte verwendet werden lungseffekte gibt. Ersatzbrennstoffe sind kommerzielle
sollten, um den Klimawandel in der EU und in Drittlän- Brennstoffe. Sie sind auf dem Markt käuflich zu erwerben
dern zu bekämpfen.“ Aus den Einnahmen des Emissions- und haben einen gewissen Heizwert und werden zum Bei-
handels sollen nach aktuellen Vorstellungen sowohl aus spiel in Zementwerken eingesetzt, wo sie andere Brenn-
der Koalition als auch der SPD neben nationalen und in- stoffe ersetzen. Sie werden auch in spezifischen Anlagen
ternationalen Klimaschutzprojekten unter anderem auch eingesetzt, in denen sie andere Brennstoffe ersetzen. Von
Projekte der Gebäudesanierung, des Marktanreizpro- daher sollten Ersatzbrennstoffanlagen anders behandelt
gramms, der Elektromobilität und der Kompensation werden als Abfallverbrennungsanlagen.
möglicher Strompreiserhöhungen für die energieinten-
Auch die Regelung für Kleinanlagen ist der Koalition
sive Industrie finanziert werden. Ab 2012 wird auch der
Luftverkehr in den Emissionshandel einbezogen und soll nicht gelungen. Zwar wird die Berechnungsformel für
einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Wenn der Luft- den Ausgleichsbetrag anders gestaltet. Dies führt jedoch
verkehr in dieser Weise verpflichtet wird, so sollten auch nicht dazu, dass nun eine brauchbare Kleinanlagenrege-
Lösungen für mehr Klimaschutz im Luftverkehr unter- lung vorliegen würde. Im Übrigen war es der Sachver-
stützt werden. ständige, den die FDP für die Anhörung zum TEHG ge-
laden hatte, der meinte, dass die Kleinanlagenregelung
Mit den Erlösen sollen auch mögliche Strompreiser- zu streichen sei. Sie würde den Anlagenbetreibern kei-
höhungen ausgeglichen werden, die die Wettbewerbsfä- nen wirklichen Vorteil bringen, schaffe aber zusätzliche
higkeit der energieintensiven Industrie bedrohen könn- Bürokratie und schwäche das generelle System, so die-
ten. Nach Art. 10 a Abs. 6 der ETS-Richtlinie können ser Sachverständige in der Anhörung. Die eigentliche
die Mitgliedstaaten finanzielle Ausgleichsmaßnahmen Hoffnung, die einige Industrievertreter hatten, war, dass
für von Carbon Leakage, also vom nachweislich durch sich kleine Emittenten ganz und gar ohne kostenträch-
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(A) tige Ersatzmaßnahmen vom Treibhausgas-Emissions- men wir ab 2013 ein einheitliches EU-Emissionshandels- (C)
handels-Gesetz befreien lassen können. Das war von system und nicht 27 Einzelsysteme wie bisher. Umso
vornherein eine Illusion. Solch eine Regelung hätte die wichtiger war es uns, der FDP in dieser Bundesregierung,
EU-Kommission niemals akzeptiert. Die Kommission auch bei diesem Gesetz sorgfältig darauf zu achten, dass
hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie gegebenen- einheitliche Spielregeln für den Emissionshandel nicht zu
falls die Gleichwertigkeit streng und eher restriktiv prü- Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten
fen würde. Die von der Bundesregierung hierzu recht führen. Dies haben wir genauso erreicht, wie wir bei den
kreativ entwickelten gleichwertigen Maßnahmen führen Beratungen über die hier vorliegenden Änderungsanträge
dennoch nicht zu einer sinnvollen Regelung. des Regierungsentwurfs dafür gesorgt haben, dass Ar-
beitsplätze im industriellen Mittelstand entlastet werden.
Im Gegensatz dazu unterstützen wir, dass nun die Zünd- Bei den Regeln für den Emissionshandel ab 2013 haben
und Stützfeuerung erwähnt ist. Auch begrüßen wir, dass in wir die Bürokratie für mittelständische Unternehmen
der elektronischen Kommunikation nun die Übermittlung deutlich abgebaut. Die vereinfachte Kleinanlagenrege-
zusätzlicher Dokumente als Ergänzung der Formatvorla- lung wurde ausgeweitet und eine Härtefallregelung bei
gen erlaubt ist. Ansonsten kann man an jeder Änderungen wirtschaftlicher Überforderung eingeführt. Weiterhin
der Bundesregierung erkennen, welcher Lobbyist sie ein- können integrierte Unternehmen, zum Beispiel in der
gebracht hat. Die Bundesregierung hat nun in § 9 eine Här- Stahlindustrie, mehrere Anlagen zu einer zusammenfas-
tefallregelung eingefügt. Zwar kann man argumentieren, sen, was den Verwaltungsaufwand verringert. Die For-
dass Konstellationen denkbar sind, in denen eine beson- mularvorgaben für die Unternehmen sind flexibler gere-
dere Härte auftreten kann. Auch aus dem Verfassungs- gelt worden.
grundsatz der Verhältnismäßigkeit könnte man eine Härte-
fallregelung herleiten. Ich bin jedoch sehr skeptisch, ob die Um die umfangreichen Lobbyversuche abzuwehren,
Kommission das genauso sieht. Die Kommission hat sich bis zu welchem Heizwert die Mitverbrennung von Abfall
eher dahin gehend geäußert, dass die Decision abschlie- emissionshandelsfrei ist, haben wir uns entschlossen, das
ßend ist und kein Raum für eine Härtefallregelung besteht. Heizwertkriterium ganz zu streichen. Die Abgrenzung
Interessant sind die Änderungen, die Sie einführen muss- im Gesetz zwischen emissionshandelspflichtigen und
ten, weil Sie Ihren eigenen Zeitplan nicht einhalten konn- emissionshandelsfreien Anlagen folgt jetzt exakt der
ten. Wegen der missratenen Kleinanlagenregelung hat das EU-Richtlinie. Die Verbrennung von Siedlungsabfällen
BMWi das TEHG monatelang aufgehalten, sodass es erst und giftigen Abfällen unterliegt dem Emissionshandel
dieses Frühjahr ins Kabinett kam. Nun werden die beiden nicht. Für die Verbrennung von Gewerbeabfall sind da-
Fristen nicht eingehalten, die in der Richtlinie festgelegt gegen Emissionsrechte erforderlich. Insgesamt haben
worden sind. Das hätte nicht passieren dürfen. Es darf nicht wir erhebliche Entlastungen vor allem für kleine und (D)
(B)
sein, dass die Folgen der schwarz-gelben Streitereien auf mittlere Unternehmen erwirkt. Denn gerade solche An-
dem Rücken der deutschen Wirtschaft ausgetragen wer- lagen mit geringen Emissionen werden von den adminis-
den. Die Wirtschaft muss nun in kürzester Zeit ziemlich trativen Kosten des Emissionshandels im Verhältnis zu
komplexe Zuteilungsanträge stellen, die für die nächsten ihrer Emissionsmenge überproportional belastet.
sieben Jahre regeln, wer wie viele Zertifikate erhält. Dies
ist ein unzumutbarer Zustand. Wer sich einmal mit den Wir sind zuversichtlich, dass das Gesetz auch auf der
Guidances und den Zuteilungsregeln beschäftigt hat, weiß, Länderebene positiv aufgenommen wird.
wie kompliziert diese sind und wovon ich spreche.
Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wie sie wis-
wir dem Änderungsantrag der Koalition nicht zustim- sen, ist über die eigentlichen Kernpunkte dessen, was wir
men können. Bei der eigentlichen Gesetzesnovelle wer- heute beraten, bereits 2008 auf europäischer Ebene ent-
den wir uns enthalten. schieden worden. Die positive Nachricht war seinerzeit
die Versteigerung der Emisisonsrechte an die Stromwirt-
schaft ab 2013. Damit wird endlich die Praxis beendet
Michael Kauch (FDP): Das heute abschließend zu werden, die wertvollen Zertifikate an die Energiekon-
beratende Gesetz dient der Fortentwicklung des Emis- zerne zu verschenken. Das bringt denen schließlich jedes
sionshandels für künftige Handelsperioden in der EU. Jahr Milliarden an Extraprofiten ein.
Mit der Vorlage setzen wir die Emissionshandelsrichtli-
nie eins zu eins in deutsches Recht um. Es hat sich viel Die schlechte Nachricht bestand 2008 darin, dass es
bewegt auf der europäischen Ebene in den vergangenen im Industriesektor bei der weitgehend kostenlosen Zutei-
drei Jahren seit der letzten Fassung des TEHG: Ab dem lung bleiben soll, auch wenn diese jetzt wenigstens euro-
kommenden Jahr bezieht die Richtlinie den Luftverkehr paweit harmonisiert stattfindet. Über die Produkt-
und ab 2013 weitere emissionsintensive Industriebran- Benchmarks werden viel zu viele Branchen mit kosten-
chen in den Emissionshandel ein. 200 Fluggesellschaften losen Zertifikaten beschenkt, also nicht nur die, die im
werden künftig am Emissionshandel teilnehmen. Dies ist internationalen Wettbewerb mit energieintensiv herge-
für uns ein Schritt hin zu einem sektorübergreifenden stellten Produkten stehen, sondern auch viele, die eine
Kohlenstoffmarkt. Ein solch umfassender CO2-Markt solche Unterstützung eigentlich gar nicht brauchen.
wäre aus klimapolitischer und aus wirtschaftspolitischer
Sicht sinnvoll; denn die Klimaziele werden wirksam und Die Koalition hat jetzt noch eine Härtefallregelung
zu geringstmöglichen Kosten erreicht. Außerdem bekom- ins Gesetz geschrieben. Ich frage mich, wofür? Die
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(A) Benchmarks federn doch schon jetzt fast jegliche um- Noch ein Wort zu den steuerlichen Auswirkungen der (C)
weltpolitische Lenkungswirkung ab. künftigen Versteigerung. Dies war ja auch ein Thema der
Stellungnahme des Bundesrates.
Zusätzlich wollen Union und FDP für die Industrie
noch indirekte Effekte des Emissionshandels kompen- Die kommunalen Spitzenverbände sehen, dass mit der
sieren. Es geht um Milliarden an Ausgleichzahlungen geplanten Versteigerung von CO2-Zertifikaten dem Bund
für emissionshandelsbedingte Strompreiserhöhungen für Mehreinnahmen in Milliardenhöhe zufließen werden. Da
die Unternehmen. Da sind wir der Meinung, dass diese diese Mehreinnahmen des Bundes bei den Unternehmen
nur einem sehr engen Kreis zugutekommen sollen, wirk- spiegelbildlich als Betriebsausgaben zu Buche schlügen,
lichen Härtefällen. Das Gros der Gelder sollte lieber würden im Gegenzug die steuerlichen Bemessungs-
dazu verwandt werden, die Energiewende bei ärmeren grundlagen der Ertragsteuern in entsprechender Größen-
Haushalten abzufedern. Zudem sollten die Mittel für die relation sinken, so die Verbände. Die Kommunen seien
energetische Gebäudesanierung weiter aufgestockt wer- über die Gewerbesteuer in besonders dramatischer Weise
den. Denn diese wird ansonsten für Mieterinnen und von den daraus unmittelbar resultierenden Steuerausfäl-
Mieter unbezahlbar. len betroffen.

In der TEHG-Novelle sollen in Deutschland Kleinan- Nun hat die Bundesregierung einer ähnlichen Argu-
lagen unter 25 000 Tonnen CO2-Emissionen im Jahr mentation des Bundesrates in ihrer Gegenäußerung be-
vom Emissionshandel befreit werden, wenn sie entweder gründet, aber eher knapp und ohne Zahlenmaterial,
eine Kompensationssumme zahlen oder wenn ihre An- widersprochen. So seien die Mehreinnahmen für zusätz-
lage eine spezifische CO2-Minderung von mindestens liche gesamtstaatliche Klimaschutzausgaben vorgese-
1,74 Prozent im Jahr erbringt. Spezifisch heißt aber, dass hen. Vor allem aber müssten die steuerlichen Gesamtef-
sie bei Produktionsausdehnung absolut mehr ausstoßen fekte des Emissionshandels seit seiner Einführung 2005
können – trotz Einsparung je Produkt. Wir meinen, da- gesehen werden. Tatsächlich werden mit der Versteige-
mit wird das Prinzip der festen Obergrenze für Emissio- rung nur jene leistungslos erzielten Extraprofite be-
nen, des berühmten „Deckels“ beim Emissionshandel, schnitten, die die Energieversorger durch die bislang
durchbrochen. Das lehnen wir ab. kostenlose Vergabe der Emissionsrechte erzielt haben.
Die Kommunen haben an diesen Gewinnen mit zusätzli-
Der BDE und andere setzten sich bei der Anhörung chen Steuereinahmen partizipiert. Jetzt wird eigentlich
mit Stellungnahmen dafür ein, Ersatzbrennstoff-Kraft- nur der „Normalzustand“ wieder hergestellt.
werke, EBS-Kraftwerke, weiterhin als Abfallanlagen zu
behandeln, also weiterhin vom Emissionshandel zu be- Für uns ist aber noch nicht ganz klar, wie die Netto-
(B) freien. Auch der Bundesrat plädierte dafür. Wir denken wirkungen tatsächlich aussehen. Darum fordern wir die (D)
jedoch, dies wäre eine Besserstellung gegenüber den Bundesregierung auf, hier einmal eine Bilanz mit kon-
emissionshandelspflichtigen Anlagen der Stromerzeu- kreten Zahlen vorzulegen.
gung. Schließlich ist der Hauptzweck von Ersatzbrenn-
stoff-Kraftwerken offensichtlich die Produktion von Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
Strom und Wärme und eben nicht die Abfallentsorgung. diskutierten heute über die Weiterentwicklung eines zen-
Der Name Ersatzbrennstoff-Kraftwerk deutet schon da- tralen Instruments des Klimaschutzes. Es geht um das
rauf hin. Die Einbeziehung der Abfallentsorgung in den europäische System zur Begrenzung von Treibhausgas-
Emissionshandel ist also richtig. emissionen und zum Handel mit Emissionszertifikaten.
Gerade vor dem Hintergrund der Energiewende, die wir
Ab nächstes Jahr wird der Flugverkehr in den Emis- in Deutschland wollen, mit dem beschleunigten Ausstieg
sionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen aus der Atomkraft und dem Umstieg auf erneuerbare
wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Allerdings ist Energien kommt dem Emissionshandel eine bedeutende
es wenig ermutigend: Die zugeteilte Gesamtmenge wird Rolle zu. Denn er verhindert, dass Atomausstieg und
im Jahr 2020 nur 95 Prozent des Durchschnitts der Jahre Klimaschutz gegeneinander ausgespielt und dass alte ge-
2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klimaschutz fährliche Atomkraftwerke einfach durch neue klima-
sieht anders aus. schädliche Kohlekraftwerke ersetzt werden. Deshalb
sollte unser gemeinsames Ziel sein, den Emissionshan-
Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte
del weiter zu stärken und bestehende Schlupflöcher zu
versteigert werden. Ferner ignoriert das System die indi-
schließen.
rekten Effekte des Flugverkehrs, wie NOx und Wasser-
dampf, die die Treibhauswirkung je Tonne ausgestoße- Die vorliegende Novelle des Treibhausgas-Emis-
nen CO2 um den Faktor 2 bis 4 erhöhen. Gerade wurde sionshandelsgesetzes ist auf diesem Weg ein wichtiger
ja eine Studie veröffentlicht, die eine Klimawirksamkeit Schritt nach vorn. Sie setzt europäische Richtlinien in
von mindestens Faktor 2 in Bezug auf die in der Höhe deutsches Recht um und bringt dabei vor allem drei Ver-
ausgestoßene CO2-Menge nahelegt. besserungen:
Auch die Verzahnung des Flugverkehrs mit dem EU- Erstens wird das bisherige Nebeneinander von 30 na-
Emissionshandel sowie mit CDM und JI wird dazu füh- tionalen Emissionshandelssystemen mit eigenen Regeln
ren, dass der Flugverkehr fast ungezügelt weiter wach- und Emissionsobergrenzen in ein gemeinsames europäi-
sen kann. Auch darum lehnt die Linke dieses Gesetz ab. sches System überführt. Damit entstehen gleiche und
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(A) faire Bedingungen. Und damit entfällt für die Mitglied- Anlage 7 (C)
staaten die Versuchung, der eigenen Wirtschaft bei der
Festlegung der nationalen Regeln Standortvorteile zulas- Zu Protokoll gegebene Reden
ten des Klimaschutzes zu verschaffen. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Zweitens werden die Emissionszertifikate für die Ener- Berichts zu den Anträgen:
giewirtschaft ab 2013 zu 100 Prozent versteigert und – Gleichstellung eingetragener Lebenspart-
nicht mehr kostenlos zugeteilt. Das ist ein großer Fort- nerschaften
schritt. Denn dadurch werden die Kosten klimaschäd-
licher Kraftwerke für Betreiber und Investoren deutlich – Öffnung der Ehe
spürbarer. Und es ist endlich Schluss mit einer beispiel- (Tagesordnungspunkt 19)
losen Abzocke, die den Stromkonzernen in den letzten
Jahren Milliarden auf Kosten der Verbraucher einge-
bracht hat. Für die Zertifikate, die sie kostenlos beka- Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute ab-
men, haben die Stromversorger ihren Kunden nämlich schließend über zwei Anträge zu gleichgeschlechtlichen
den vollen Börsenpreis berechnet. Das war ein Skandal. Partnerschaften. Der Antrag der SPD zielt darauf ab, ein-
Das haben wir immer kritisiert. Und 2013 ist endlich getragene Partnerschaften in rechtlicher Hinsicht voll-
Schluss damit. ständig mit der Ehe gleichzustellen. Das betrifft insbe-
sondere das Steuer- und Adoptionsrecht. Die Fraktion
Drittens wird ab 2012 der Flugverkehr neu in den Die Linke geht sogar noch einen Schritt weiter und will
Emissionshandel einbezogen. Damit gibt es zum ersten das Institut der Ehe, das der Verbindung von Mann und
Mal echte Klimaschutzvorgaben für diese wichtige und Frau vorbehalten ist, auch für gleichgeschlechtliche
schnell wachsende Emissionsquelle. Paare öffnen.
Das sind wesentliche Verbesserungen, die aus den Ich habe bereits in der ersten Lesung dieser Anträge
Änderungen der europäischen Emissionshandelsricht- vor ziemlich genau einem Jahr angeregt, dass auch Sie,
linie folgen und die wir Grüne voll unterstützen. Dane- verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ein-
ben gibt es in der vorliegenden Gesetzesnovelle aber mal innehalten und positiv zur Kenntnis nehmen, was in
auch Regelungen, die wir ablehnen. Dazu gehört die von diesem Bereich in den vergangenen zehn Jahren für eine
CDU/CSU und FDP vorgeschlagene Vorschrift zur Mit- einzelne, relativ kleine Bevölkerungsgruppe erreicht
verbrennung von Abfällen, die missbrauchsanfällig ist wurde: die Schaffung eines zivilrechtlichen Instituts, das
und zu einer Ausweitung der fragwürdigen Praxis der diese Form des Zusammenlebens rechtlich absichert,
Mitverbrennung von Abfällen in fossilen Kraftwerken und die inzwischen fast vollständige rechtliche Gleich-
(B) führen kann. Dazu zählt die sogenannte Härtefallrege- stellung mit der Ehe. (D)
lung, die klare, objektive Kriterien vermissen lässt und
im Ergebnis lobbystarke Unternehmen gegenüber ihren Jetzt hat die christlich-liberale Koalition, wie im Ko-
Mitbewerbern bevorzugt. Und dazu gehört die in ihrem alitionsvertrag auch vereinbart, die vollständige Gleich-
Anwendungsbereich erweiterte Kleinanlagenregelung, stellung im öffentlichen Dienstrecht auf den Weg ge-
die wenig für den Bürokratieabbau leistet, aber das Emis- bracht. Auch hier wird es also bald keine Unterschiede
mehr geben. Diese entsprechende Forderung im SPD-
sionshandelssystem insgesamt schwächt. Durch diese
Antrag hat sich somit erübrigt. Es verbleiben im Wesent-
Regelungen werden neue Ausnahmetatbestände und
lichen nur noch zwei Bereiche, bei denen es Differenzie-
Schlupflöcher geschaffen. Deshalb können wir Grüne
rungen zwischen der Ehe und einer eingetragenen Part-
dem Gesetzentwurf als Ganzem nicht zustimmen.
nerschaft gibt: in Teilen des Steuerrechts und bei der
Lassen sie mich zum Schluss noch einen Blick nach gemeinsamen Fremdkindadoption, die weiterhin Ehe-
vorn werfen. Trotz der Verbesserungen, die ich eingangs paaren vorbehalten ist.
erwähnt habe, ist der europäische Emissionshandel alles
Erlauben Sie mir zunächst einige kurze Anmerkungen
andere als perfekt. Wir müssen deshalb auf europäischer
zum Steuerrecht: Im Bereich der Erbschaft-, Schenkung-
Ebene zu weiteren Verbesserungen kommen. Das gilt
und Grunderwerbsteuer haben wir bereits eine Gleich-
zum Beispiel für die Reform der Anrechnung von Kli-
stellung vollzogen. Unterschiede gibt es somit nur noch
maschutzprojekten außerhalb Europas, die einge-
beim Einkommensteuerrecht und hier speziell beim Ehe-
schränkt und an höhere ökologische Standards geknüpft
gattensplitting. Nach dem Willen der SPD sollen künftig
werden muss. Das gilt für die weitgehend kostenlose Zu-
auch eingetragene Lebenspartnerschaften die Möglich-
teilung von Emissionszertifikaten an Industrie und Flug-
keit des Splittings erhalten. Diese Forderung lehnen wir
gesellschaften, an deren Stelle mehr Versteigerung treten
jedoch entschieden ab.
muss. Und es gilt für die dringend notwendige Absen-
kung der Emissionsobergrenze für 2020, die unverzicht- Bereits in der ersten Beratung vor einem Jahr hatte
bar ist, um die europäischen und deutschen Klima- ich meine Verwunderung darüber zum Ausdruck ge-
schutzziele zu erreichen. Wir brauchen ein ehrgeizigeres bracht, dass ausgerechnet jene die Ausweitung des Ehe-
Klimaschutzziel in der EU: 30 Prozent Emissionsminde- gattensplittings auf eingetragene Lebenspartnerschaften
rung bis 2020. Und dieses Ziel muss sich in einer deut- fordern, die in dieser Regelung seit eh und je einen ana-
lich niedrigeren Emissionsobergrenze des Emissions- chronistischen Fehlanreiz sehen, der Frauen von der Er-
handelssystems niederschlagen. Lassen sie uns dafür werbstätigkeit abhalte, sie auf die Rolle der Hausfrau re-
gemeinsam als Deutscher Bundestag eintreten! duziere und daher abgeschafft gehöre. Man kann es nur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13185

(A) als paradox bezeichnen, wenn jetzt entgegen langjähri- – so auch die Aussage der Experten – gerade nicht um (C)
gen Forderungen nicht die Abschaffung, sondern viel- das Kindeswohl, das im Adoptionsrecht der zentrale und
mehr die Ausweitung dieser Reglung gefordert wird. alleinige Maßstab ist, sondern einzig um die Interessen
Leider ist es den Antragstellern auch in den Ausschuss- der Erwachsenen. Das halte ich für im höchsten Maße
beratungen nicht gelungen, diesen Widerspruch aufzu- problematisch. Eine Politik, die darauf abzielt, beste-
klären. hende Diskriminierungen abzubauen, darf niemals auf
dem Rücken von Kindern ausgetragen werden. Ich
Unabhängig davon muss aber auch von Ihnen, sehr ge- hoffe, dass wir in Zukunft zumindest in diesem Punkt
ehrten Kolleginnen und Kollegen der Opposition, zur Einigkeit erzielen können.
Kenntnis genommen werden, dass die deutsche Rechts-
ordnung den verschiedenen Formen des familiären Nun wird teilweise unter Verweis auf Entwicklungen
Zusammenlebens eben gerade nicht wertneutral gegen- in der Rechtsprechung argumentiert, eine Angleichung
übersteht. Der Verfassungsgeber hat vielmehr eine auch im Bereich des Adoptionsrechts sei nicht nur zuläs-
Grundentscheidung zugunsten der Ehe als Leitbild des sig, sondern sogar verfassungsrechtlich geboten. Dan-
familiären Zusammenlebens getroffen, indem er über kenswerterweise konnten die Experten auch diesbezüg-
Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz diese unter den besonderen lich für Klarheit sorgen und einige Missverständnisse,
verfassungsrechtlichen Schutz gestellt hat. Ob wir wollen die dieser Argumentation ganz offensichtlich zugrunde
oder nicht, als Gesetzgeber haben wir die damit verbun- liegen, beseitigen:
denen Grenzen unseres Gestaltungsspielraums zu respek-
tieren. Das Ehegattensplitting als steuerliches Privileg ist Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den be-
Ausdruck der gezielten staatlichen Förderung ebendieser sonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Rechtsord-
speziellen Form des Zusammenlebens, das als solches nung hat daher eine Unterscheidung zwischen Ehe und
auch weiterhin verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. eingetragener Lebenspartnerschaft zu machen, wenn es
um die Elternschaft für Kinder geht. Eine Differenzierung
Unabhängig davon plädiere ich dafür, das geltende ist – so auch die in Bezug genommenen gerichtlichen Ent-
System im Steuerrecht, das als Ausdruck der steuerlichen scheidungen – immer dann zulässig, wenn es sachliche
Leistungsgleichheit bestimmte zivilrechtliche Einstands- Gründe gibt, die eine Ungleichbehandlung von Ehe und
pflichten steuerlich freistellt, systematisch zu überprüfen eingetragener Lebenspartnerschaft rechtfertigen. Und
und gegebenenfalls neu auszutarieren. Meines Erachtens eben einen solchen sachlichen Grund stellt das Kindes-
darf sich die Überprüfung jedoch nicht auf das Verhältnis wohl dar. Anders gesagt: Die Interessen der von einer
von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft be- Adoption betroffenen Kinder rechtfertigen es, dass nur
schränken, sondern sollte vielmehr alle Unterhaltspflich- Ehepartner die Möglichkeit haben, ein fremdes Kind ge-
(B) ten, die aus einer familiären Beziehung resultieren, be- meinsam zu adoptieren. (D)
inhalten. In diesem Sinne plädiert die CDU in ihrem
Grundsatzprogramm dafür, zu prüfen, ob und, wenn ja, Anders als bei Gleichstellungen in jenen Bereichen,
wie das Ehegattensplitting zu einem Familiensplitting die ausschließlich die Rechtsbeziehungen zwischen den
weiterentwickelt werden kann. Hier sind wir also schon erwachsenen Partnern selbst betreffen, also zum Beispiel
einen entscheidenden Schritt weiter als die Kolleginnen das öffentliche Dienstrecht, sind im Adoptionsrecht die
und Kollegen der anderen Fraktionen bzw. Parteien. Rechte Dritter, nämlich der Kinder, tangiert. Dies wird in
Kurzfristige und so weitreichende Änderungen zuguns- der Diskussion leider allzu oft vergessen. Es muss daher
ten lediglich einer einzelnen Gruppe innerhalb des gelten- an dieser Stelle nochmals an den Sinn und Zweck von
den Einkommensteuersystems, wie dies vorliegend mit Fremdkindadoptionen erinnert werden: Die Adoption ist
der Forderung nach einer Ausweitung des Ehegattensplit- eine mögliche Hilfe für bereits geborene Kinder, die aus
tings auf eingetragene Lebenspartnerschaften geschehen unterschiedlichen Gründen Eltern und Familie verloren
soll, lehnen wir hingegen ab. haben und für die deshalb eine neue Familie gesucht
werden muss. Hingegen ist Adoption keine Maßnahme
Gleiches gilt für den Bereich des Adoptionsrechts. zur Heilung der Kinderlosigkeit von kinderlosen Paaren.
Die Forderung der SPD, die Möglichkeit, gemeinsam ein Genauso wenig begründet das Adoptionsrecht einen
fremdes Kind zu adoptieren, auch eingetragenen Le- Rechtsanspruch auf Elternschaft.
benspartnerschaften zu ermöglichen, lehnen wir aus
Gründen des Kindeswohls ab. In der Anhörung haben die Experten aus der Adop-
tionspraxis und der Kinderpsychologie, die auch Mitglie-
Es trifft sich in diesem Zusammenhang gut, dass wir der des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesjustizmi-
gerade in dieser Woche im Rechtsausschuss zur Frage nisteriums bei der Untersuchung der Lebenssituation von
des Adoptionsrechts eine, wie ich denke, sehr interes- Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wa-
sante und aufschlussreiche Anhörung durchgeführt ha- ren, zu Recht darauf hingewiesen, dass die betroffenen
ben, die uns wertvolle Erkenntnisse geliefert hat. Der Kinder, über die wir heute reden, bereits mit der – aus kin-
vorliegende Antrag geht bekanntlich davon aus, eine ge- despsychologischer Sicht – schwierigen Situation leben
meinsame Fremdkindadoption laufe den Interessen der müssen, ihre leiblichen Eltern in Gänze verloren zu ha-
betroffenen Kinder nicht zuwider und sei zudem sogar ben. Deshalb benötigen diese Kinder ein Umfeld, das
verfassungsrechtlich geboten. Diese Behauptung wurde nicht noch in seiner Besonderheit eine zweite, zusätzliche
jedoch von den Experten aus verschiedenen wissen- Herausforderung oder Belastung für sie darstellt. Gerade
schaftlichen Disziplinen klar und überzeugend wider- das wäre aber die unvermeidbare Folge einer gemeinsa-
legt. Den Befürwortern einer Gesetzesänderung geht es men Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, weil
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(A) Kinder aus diesen Familien häufiger Stigmatisierungen getragene Lebenspartnerschaft begründen kann, wenn er (C)
erfahren und Opfer von Mobbing werden. Diesen Ein- sich zuvor im Wege der sogenannten großen Lösung einer
wand halte ich für zentral. medizinischen Geschlechtsumwandlung unterzogen und
infolgedessen auch personenstandsrechtlich das Ge-
Der Staat hat gegenüber den betroffenen Kindern eine schlecht gewechselt hat. Explizit nicht beanstandet hat
Schutzpflicht. Sofern wir als Gesetzgeber nicht mit Si- das Gericht hingegen, dass die Ehe grundsätzlich ver-
cherheit ausschließen können, dass eine Fremdkind- schiedengeschlechtlichen Paaren und die eingetragene
adoption dem Wohl der betroffenen Kinder zuwiderliefe, Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlichen Paaren vor-
müssen wir im Zweifel von Gesetzesänderungen abse- behalten ist, wobei wiederum alleine auf die personen-
hen, die den rechtlichen Status der Kinder ändern und in- standsrechtliche Geschlechtszugehörigkeit abgestellt wird.
sofern einen Eingriff in deren Freiheitsrechte darstellen Insofern bleibt es also dabei: Eine Öffnung der Ehe für
würden. Auch darauf haben die Experten zu Recht hin- gleichgeschlechtliche Beziehungen wäre evident verfas-
gewiesen. Eine Gesetzesänderung darf es – wenn über- sungswidrig. Ich denke, dass damit alles gesagt ist.
haupt – nur auf Grundlage wirklich belastbarer Erkennt-
nisse über die familiäre und soziale Lebenssituation der Aus vorgenannten Gründen lehnen wir die beiden
betroffenen Kinder geben. Diesem Anspruch werden je- heute zur Abstimmung stehenden Anträge ab.
doch weder die vom Bundesjustizministerium in Auftrag
gegebene Studie noch etwaige Untersuchungen aus dem Johannes Kahrs (SPD): Wir debattieren hier über
Ausland gerecht. Auch das wurde in der Anhörung deut- die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner-
lich. schaften mit der Ehe. Das Institut selbst haben wir in der
Die Union lehnt vor diesem Hintergrund jede weiter letzten rot-grünen Koalition beschlossen. Damals schei-
gehende Gleichstellung im Bereich des Adoptionsrechts terte eine vollkommene Gleichstellung am Widerstand
ab. der schwarz-gelben Länder im Bundesrat. In der Großen
Koalition konnten wir Sozialdemokraten der CDU/CSU
Wie ich bereits in der ersten Beratung ausgeführt habe, unter anderem das Antidiskriminierungsgesetz abringen.
halten wir die Forderung der Fraktion Die Linke, die Ehe Wir als SPD sagen: Unser Ziel ist die völlige Gleichstel-
für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, alleine schon lung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe, da gleiche
aus verfassungsrechtlichen Gründen für völlig abwegig. Pflichten auch gleiche Rechte bedeuten. Mein eigener
Offensichtlich gibt es hier bei den Oppositionsparteien ei- Landesverband in Hamburg hat überdies beschlossen,
nen regelrechten Profilierungswettbewerb. Eine einfache die Öffnung der Ehe anzustreben, womit mit einem
Lektüre der Gesetze und einschlägigen gerichtlichen Ent- Schlag sämtliche Ungleichbehandlungen und Ungerech-
scheidungen würde aber helfen. So hat das Bundesverfas- tigkeiten beseitigt wären.
(B) sungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2002 (D)
ganz eindeutig und missverständlich festgestellt, – ich zi- Die Gleichstellung ist in vielen Bereichen noch nicht
tiere: vollendet. Das liegt in erster Linie am Widerstand der
CDU/CSU. Da die Union so gerne ihre Familienfreund-
Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des ge- lichkeit herausstreicht, möchte ich besonders einen As-
sellschaftlichen Wandels und der damit einherge- pekt des Themas behandeln, nämlich die ausstehende
henden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung Gleichstellung der Lebenspartnerschaften im Adoptions-
bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung recht.
bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung ei-
nes Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer ange- Bereits heute leben in jeder achten eingetragenen Le-
legten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf benspartnerschaft Kinder. Neben den leiblichen Kindern
freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates … eines der Partner aus einer früheren Beziehung, für die
in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partner- es die Möglichkeit der Stiefkindadoption gibt, handelt es
schaft zueinander stehen … und über die Ausgestal- sich dabei auch oft um Adoptiv- oder Pflegekinder eines
tung ihres Zusammenlebens frei entscheiden kön- der beiden Partner. Den Kindern der letztgenannten
nen. Gruppe verwehren CDU und CSU wesentliche Rechte.
Sie sollen weder Unterhaltsansprüche gegenüber beiden
Mit anderen Worten: Die Ehe ist von Verfassung we- Elternteilen haben noch von beiden Eltern erben dürfen.
gen der Beziehung von Frau und Mann vorbehalten. Und
da sich auch diesbezüglich in den Ausschussberatungen Hunderte Kinder sollen nach dem Willen von CDU/
das eine oder andere Missverständnis offenbart hat, er- CSU schlechter behandelt werden als andere, weil ihre
laube ich mir abschließend eine kurze Anmerkung zur Eltern nicht ins Schema althergebrachter Konventionen
sogenannten Transsexuellenentscheidung des Bundes- passen. Um ihren Eltern klarzumachen, dass sie Bürger
verfassungsgerichts, die in diesem Zusammenhang von zweiter Klasse sind, enthält die Union Kindern wesentli-
einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen wurde. che Rechte vor. Die Schutzbedürftigsten der Gesell-
schaft müssen für konservative Symbolpolitik auf recht-
Das Gericht hat in besagter Entscheidung lediglich die liche Absicherung verzichten. Dies geht jedenfalls aus
geltende Fassung des Transsexuellengesetzes insofern für den Argumenten der Kollegen von CDU/CSU in den Be-
verfassungswidrig erklärt, als ein Transsexueller, der die ratungen des Rechtsausschusses zum vorliegenden An-
gesetzlichen Voraussetzungen für einen Geschlechter- trag der SPD-Bundestagsfraktion hervor. Dort heißt es,
wechsel erfüllt, zur rechtlichen Absicherung seiner „namentlich eine Volladoption durch Lebenspartner
gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nur dann eine ein- komme nicht in Betracht“.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13187

(A) Die rechtliche Schlechterstellung von Kindern wird genen Lebenspartnerschaften in den letzten Jahren gege- (C)
mit atemberaubender Dreistigkeit mit dem Kindeswohl ben hat und die aufgrund des schwarz-gelben Koalitions-
begründet. Vor einem Jahr wurde hier ebenfalls ein An- vertrages noch geplant seien, aufgezählt. So weit, so gut,
trag über die Gleichstellung eingetragener Lebenspart- liebe Kollegen von der Union. Nur: Musste all dies denn
nerschaften beraten. Damals agitierte die Kollegin nicht gegen Ihren erbitterten Widerstand erkämpft wer-
Granold von der CDU vehement gegen jede Anglei- den? Waren es nicht im Wesentlichen der Europäische
chung im Adoptionsrecht. Ich zitiere: „Vieles spricht da- Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht, die Sie
für, dass Kinder von gleichgeschlechtlichen Ehen“ – ja, zu etwas zwingen mussten, was sämtliche anderen Frak-
Frau Granold verwendete tatsächlich das Wort Ehe – tionen im Bundestag schon lange gefordert hatten? Sie
„häufiger Stigmatisierungen erfahren als andere.“ befinden sich auf dem Gebiet der Gleichstellung schon
seit Jahren in einem Rückzugsgefecht. Die Zeit arbeitet
Es mag sein, dass dem so ist. Nur: Woran liegt es gegen Sie. Begreifen Sie endlich, dass diese Schlacht
denn, wenn diese Kinder stigmatisiert werden? An den verloren ist. Sie können Ihre Position nicht halten.
Vorurteilen in Teilen der Bevölkerung. Und wer schürt
diese Vorurteile? Nicht zuletzt die CDU und die CSU. Zu den Kollegen der FDP kann man nur sagen: Wir
Diese Partei hat es immer abgelehnt, Schwulen und Les- wissen ja, dass Sie in der Sache voll und ganz auf unse-
ben die gleichen Rechte zuzugestehen wie anderen Bür- rer Seite stehen. Dementsprechend hätten Sie sich ruhig
gern dieses Landes. Wenn es in den letzten Jahren homo- einmal einen Ruck geben und dem Koalitionspartner, der
phobe Äußerungen von Politikern gab, dann konnte man sowohl hier im Parlament als auch in der Gesellschaft in
sicher sein, dass diejenigen der Union angehörten. Mit der Minderheit ist, Paroli bieten können. Leider sind Sie
jeder dieser Äußerungen trugen und tragen Sie, liebe dann doch eingeknickt. Ihr Einwand, eine Gleichstellung
Kollegen von CDU und CSU, dazu bei, dass sich Vorur- von Ehe und Lebenspartnerschaft sei nur durch eine Ver-
teile bilden und verfestigen. Am Ende stellen sie sich fassungsänderung machbar, ist Augenwischerei. Eine
dann hin und nehmen Kindern, die aufgrund Ihres Ver- Änderung von Art. 6 des Grundgesetzes ist durch eine
haltens erst stigmatisiert werden, auch noch die Hälfte einfache Mehrheit machbar, die Sie hier im Bundestag
ihrer rechtlichen Absicherung weg. Das noch mit dem sofort fänden. In dieser Sache hätte ich nicht das ge-
Kindeswohl zu begründen, ist nicht mehr bloß dreist, es ringste Problem damit, mit der FDP zusammenzuarbei-
ist zynisch. ten. Aber leider geht es Ihnen hier wie aktuell in allen
anderen Politikfeldern: Sie geben jede Ihrer Positionen
Eine Adoption wird nur Paaren gestattet, die vorher preis, solange Sie sich damit an der Macht halten kön-
intensiv behördlich überprüft wurden. Es gibt aus Sicht nen.
der Wissenschaft keinen Anhaltspunkt dafür, dass zwei
(B) Frauen oder zwei Männer schlechtere Eltern sind als ein Ich habe bereits in meiner letzten Rede zu diesem (D)
heterosexuelles Paar. Auch weiß man aus zahlreichen Thema meine Zuversicht ausgedrückt, dass man in zehn
Studien, dass Kindern mit gleichgeschlechtlichen Eltern Jahren über die heutige Haltung der Union nur noch
aus dieser Tatsache keine psychischen und sozialen milde lächeln wird. Ich bin weiterhin zuversichtlich. Die
Schäden entstehen. Sehr wohl weiß man, dass adoptierte Gleichstellung wird kommen. CDU und CSU können
Kinder überdurchschnittlich häufig in wohlhabenderen diesen Kampf nicht gewinnen. Glückauf!
Haushalten aufwachsen. Vor allem sind adoptierte Kin-
der stets Wunschkinder. Stigmatisierungen und Hänse- Stephan Thomae (FDP): Die Liberalen setzen sich
leien durch vorurteilsbelastete Mitmenschen können al- seit jeher dafür ein, dass alle Menschen ihre Lebensent-
lein kein Grund sein, eine Adoption zu verweigern; denn würfe frei verwirklichen können. Dazu gehört auch die
dann müsste man konsequent jeden Lebensumstand der sexuelle Orientierung. Niemandem darf aufgrund seiner
Adoptiveltern auf ein „Stigmatisierungspotenzial“ hin sexuellen Orientierung ein Nachteil entstehen.
untersuchen. Kinder könnten beispielsweise auch für die
Herkunft ihrer Eltern gehänselt werden. Dennoch würde Für uns gilt ein klarer Grundsatz: Wer gleiche Pflich-
es doch niemandem einfallen, den Rassismus der einen ten hat, verdient auch gleiche Rechte. Lebenspartner-
zum Adoptionshindernis für die anderen zu machen. Sie, schaften müssen mit der Ehe gleichgestellt werden. Die-
liebe Kollegen von der Union, machen aber genau das. ses Ziel haben wir fest im Auge, und wir nähern uns ihm
Weil es Homophobie gibt – nicht zuletzt dank Ihnen – kontinuierlich an. Dabei verstellen wir uns nicht politi-
müssen deren Opfer auf Rechte verzichten. Es wäre zum schen Realitäten, sondern setzen das um, was politisch
Lachen, wenn es nicht zulasten von Kindern ginge. machbar ist.
Abgesehen vom Adoptionsrecht steht die Gleichstel- Mit dem am 14. Dezember 2010 in Kraft getretenen
lung von Ehe und Lebenspartnerschaften weiterhin in Jahressteuergesetz 2010 haben wir die eingetragenen Le-
vielen anderen Rechtsbereichen aus. Steuer-, Soldaten- benspartner mit Ehegatten bei Grunderwerbsteuer und
und Beamtenrecht sind hier zu nennen. Auch hier versu- Erbschaftsteuer gleichgestellt. In Kürze werden wir auch
chen Sie, auf dem Rücken einer Minderheit das, was von das Gesetzgebungsverfahren zur Gleichstellung im Be-
Ihrem konservativen Markenkern noch übrig ist, zu ret- amten-, Soldaten- und Richterrecht umsetzen. Aus Sicht
ten. der FDP muss dann die Gleichstellung bei der Einkom-
mensteuer folgen.
Die Unionskollegen im Rechtsausschuss haben in ih-
rer Stellungnahme die vielen Verbesserungen, die es im Wir setzen uns zudem für die gesellschaftliche
Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung der eingetra- Gleichstellung von Lesben und Schwulen ein. Sabine
13188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Leutheusser-Schnarrenberger setzt das langjährige Pro- sind verpartnerte lesbische oder schwule Paare immer (C)
jekt der FDP um: die Magnus-Hirschfeld-Stiftung des noch nicht gleichgestellt. Das gemeinsame Adoptions-
Bundes. Im Bundeshaushalt 2011 sind bis zu 15 Milli- recht bleibt ihnen versagt, obwohl dies eklatant dem
onen Euro für die Errichtung der Stiftung vorgesehen. Kindeswohl widerspricht, wie die Sachverständigen am
Diese soll durch Bildung und Forschung die Diskrimi- 6. Juni 2011 mehrheitlich in der öffentlichen Anhörung
nierung von Homosexuellen bekämpfen. Die Magnus- im Rechtsausschuss bestätigten.
Hirschfeld-Stiftung ist ein Projekt, das seit dem Jahr
2000 vom Bundestag versprochen wurde, aber von den In den Bundesländern gibt es unterschiedliche
rot-grünen und schwarz-roten Vorgängerregierungen Rechtslagen bezüglich der Verpartnerung. So müssen
nicht umgesetzt wurde. zum Beispiel in Thüringen und Sachsen Verpartnerte hö-
here Gebühren für den Bund fürs Leben entrichten.
Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass der An- Auch im Beamtenrecht und in den Versorgungswerken
trag der SPD einige sehr gute Ansätze enthält. werden sie unterschiedlich behandelt. Einzig der rot-rote
So fordert auch die FDP für eingetragene Lebenspart- Senat von Berlin hat bislang die Gleichstellung von Ehe
nerschaften ein volles Adoptionsrecht – wie bei Ehegat- und Lebenspartnerschaft soweit möglich vollständig und
ten. rückwirkend vollzogen.

Die Anhörung im Rechtsausschuss vom 6. Juni 2011 Dennoch, das Manko bleibt. Es bleibt ein Flickentep-
zu diesem Thema hat uns in unserer Auffassung bestä- pich rechtlicher Regelungen auf Bundes-, Landes- und
tigt, dass kein sachlich gerechtfertigter Grund für eine kommunaler Ebene.
Differenzierung zwischen Eheleuten und eingetragenen
Lebenspartnerschaften besteht. Allerdings muss man an Die Linke will diesen Flickenteppich nicht weiter
dieser Stelle auch nicht weiter drum herumreden, dass ausbessern. Was gleich ist, muss gleich behandelt wer-
die Union einen anderen Standpunkt vertritt und deshalb den. Deshalb fordert die Fraktion Die Linke, konsequent
eine entsprechende Regelung mit der Union derzeit nicht heterosexuelle und schwule sowie lesbische Paare, die
realisierbar ist. Hier wäre es aber ein sinnvoller Schritt, ihre Beziehung durch den Bund fürs Leben auf eine
zumindest das revidierte Europäische Abkommen über rechtliche Grundlage stellen wollen, gleichzustellen.
die Adoption von Kindern vom 27. November 2008 zu Deshalb fordern wir die Öffnung der Ehe. Dies ist mit
zeichnen. Dafür wird sich die FDP einsetzen. dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsge-
richt stellte im Jahre 2009 klar, dass der besondere
Die SPD muss sich bei allen guten Ansätzen aber fra- Schutz des Grundgesetzes dem Zusammenleben mit
gen lassen, warum sie ihre jetzt vorgebrachten Ideen Kindern gilt, unabhängig von der Familienform. Eine
(B) nicht schon im Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz Privilegierung der Ehe, weil aus ihr Kinder hervorgehen (D)
von 2005 umgesetzt hat. Damals war die SPD selbst in können, ist verfassungsrechtlich in erster Linie Gegen-
Regierungsverantwortung und hat sich nur zur Stief- stand des Grundrechtsschutzes der Familie und nicht auf
kindadoption durchringen können. Maximalforderun- verheiratete Eltern beschränkt. Damit hat das höchste
gen wie die der Linken nach einer Öffnung der Ehe für deutsche Gericht der gesellschaftlichen Realität sehr
alle Lebensformen wären wohl nur über eine Verfas- deutlich Rechnung getragen. Wir sollten dies nun auch
sungsänderung umsetzbar. Das ist unrealistisch. als Gesetzgeber tun. In Norwegen, Portugal, Spanien,
In Deutschland haben wir uns für einen anderen Weg Schweden, Belgien, den Niederlanden und Island haben
entschieden. Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft wir in Europa bereits die Ehe für Lesben und Schwule.
haben wir ein eigenes Rechtsinstitut geschaffen. Dies Meine Damen und Herren von der SPD, die SPD-ge-
wurde und wird von der Mehrheit der Fraktionen im führten Bundesländer Brandenburg und Berlin haben
Deutschen Bundestag unterstützt und vom Verfassungs- eine Bundesratsinitiative zur Öffnung der Ehe vorgelegt.
gericht abgesichert. Wir wollen nun unseren eingeschla- Die Lesben und Schwulen in der SPD, die Schwusos,
genen Weg fortsetzen und die rechtliche Gleichstellung fordern die Öffnung der Ehe. Schließen Sie sich als
von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe Fraktion dieser Forderung an.
Schritt für Schritt auf einfachgesetzlicher Ebene errei-
chen. Die Öffnung der Ehe kann am Ende dieses Prozes- Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü-
ses stehen. nen, Sie scheinen noch uneins zu sein. Wollten Sie in der
letzten Legislaturperiode noch die Öffnung der Ehe, so
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Im August dieses machte einer Ihrer Abgeordneten im Rechtsausschuss
Jahres können wir auf zehn Jahre Lebenspartnerschaft- deutlich, dass er dies nicht für geboten hält. Das ist eine
gesetz zurückblicken. Seitdem ist die Akzeptanz der inkonsequente Haltung.
sexuellen Vielfalt in der Gesellschaft gestiegen. Damals
Es gibt auch in unserem Land noch Homophobie.
wollte der Gesetzgeber mit dem formulierten Ziel der
Doch so wie die Einführung des Rechtsinstituts der Le-
„Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtli-
benspartnerschaft vor zehn Jahren die gesellschaftliche
cher Gemeinschaften“ ein eigenständiges Rechtsinstitut
Akzeptanz gegenüber der sexuellen Vielfalt wesentlich
für Lesben und Schwule schaffen. Dieses Ziel ist leider
erhöht hat, wird die Öffnung der Ehe ein weiterer wichti-
nicht erreicht worden.
ger Meilenstein sein, um die Würde aller Menschen un-
Die Verpartnerung ist weiter eine Ehe zweiter Klasse. abhängig von ihrer sexuellen Identität und Orientierung
Im Beamtenrecht, im Steuerrecht und im Adoptionsrecht zu wahren. Seien Sie mutig!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13189

(A) Die Bevölkerung ist weiter als Sie denken. Nach einer fortgesetzte Diskriminierung, wenn das Institut der Ehe (C)
Emnid-Studie befürworten 66 Prozent der Befragten nicht allen Paaren offensteht. Das Eingehen einer einge-
eine rechtliche Gleichstellung homosexueller Partner- tragenen Lebenspartnerschaft bedeutet immer auch ein
schaften mit der Ehe. Lassen Sie uns diese vollziehen, Outing gegenüber Behörden und zum Beispiel Arbeitge-
indem wir die Ehe für alle Menschen öffnen. bern. Solange die gesellschaftliche – aber im Hinblick
etwa auf kirchliche Arbeitgeber, auch rechtliche – Dis-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kriminierung nicht beseitigt ist, wird es deswegen auch
Heute liegen zwei Anträge vor, die die rechtliche Si- Menschen geben, die aus Angst vor Benachteiligung
tuation von homosexuellen Paaren mit der von hetero- darauf verzichten, eine rechtliche Absicherung ihrer
sexuellen Eheleuten gleichstellen wollen. Dieses Ziel Partnerschaft vorzunehmen. Dies stellt aus meiner Sicht
verfolgt meine Fraktion seit 1990 – wir werden des- einen unzumutbaren Eingriff in die persönliche Lebens-
wegen beiden Anträgen zustimmen. Ich freue mich ins- gestaltung und damit in den Schutzbereich des Art. 2 un-
besondere, dass die SPD-Fraktion in ihrem Antrag ein seres Grundgesetzes dar.
klares Bekenntnis für die vollständige Gleichstellung der
Gerade die SPD-Fraktion argumentiert mit verfas-
eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe ablegt.
sungsrechtlichen Bedenken bei der Forderung nach der
Aus unserer gemeinsamen Regierungszeit habe ich in
Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare. Sie
dieser Frage noch schwierige Diskussionen mit SPD-
verkennt dabei, dass das Bundesverfassungsgericht im
Spitzenpolitikern in Erinnerung. Daher begrüße ich die
Jahr 1993, als es sich zuletzt mit dieser Frage beschäftigt
Klarstellung, die dieser Antrag für die zukünftige Zu-
sammenarbeit mit sich bringt. hat, vor allem darauf verwiesen hat, dass die Beschwer-
deführer nicht substanziiert vorgetragen hätten, dass sich
Die Gleichstellung ist politisch, aber auch verfas- der Ehebegriff gewandelt habe. Heute – 17 Jahre später –
sungsrechtlich geboten. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Wandel evident. Laut einer repräsentativen
hat in zwei Grundsatzentscheidungen deutlich gemacht, Studie des Meinungsforschungsinstituts Infratest für die
dass eine Ungleichbehandlung und Diskriminierung Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem April dieses Jahres fin-
nicht zu rechtfertigen ist. Die schwarz-gelbe Koalition den 60,3 Prozent der Deutschen es richtig, Ehen zwi-
ignoriert die Entscheidungen jedoch und verweigert die schen zwei Frauen oder zwei Männern zuzulassen. Fragt
Umsetzung. Erst in der gestrigen Sitzung des Innenaus- man die Menschen, so wissen sie häufig gar nicht, dass
schusses wurde beispielsweise die von meiner Fraktion das Institut der Ehe nicht für lesbische und schwule
beantragte Gleichstellung im Beamtenrecht erneut von Paare offensteht. Der Volksmund spricht ohnehin seit der
der Koalitionsmehrheit vertagt. Anderthalb Jahre nach Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft von
(B) dem Gerichtsentscheid schaffen Sie von der Koalition es der „Homoehe“. (D)
nicht, wenigstens diesen relativ kleinen Schritt zu gehen.
Die dramatischen Ungerechtigkeiten bei der Einkom- Zudem gibt es bereits mindestens eine Ehe mit gleich-
mensteuer und beim Adoptionsrecht vertagen Sie. Aber geschlechtlichen Partnern – vom Deutschen Bundestag
für beide Themen gibt es aktuell Vorlagen beim Bundes- selbst genehmigt. Aufgrund der Änderung des Trans-
verfassungsgericht. Meine Prophezeiung: Noch vor sexuellengesetzes vom 19. Juni 2009 gibt es jetzt in
Ende dieser Legislaturperiode werden Sie erneut zwei Deutschland Ehen, in denen zwei Frauen bzw. zwei
kräftige Ohrfeigen aus Karlsruhe erhalten. Frau Justiz- Männer miteinander verheiratet sind. Das Bundesverfas-
ministerin, ist es Ihnen nicht peinlich, sehenden Auges sungsgericht hatte diese Variante im Vorfeld explizit als
und trotz besseren Wissens an verfassungswidrigen Re- mögliche Lösung genannt.
gelungen festzuhalten? Meine Damen und Herren von
der FDP, wo ist Ihr Engagement für Bürgerrechte? Ent- Nicht zuletzt zeigt auch die internationale Rechtsent-
scheidungen des Verfassungsgerichtes nachzuvollziehen wicklung, dass die Öffnung der Ehe für Schwule und
ist keine Politik – das ist ihre und unsere gemeinsame Lesben in den demokratischen Staaten eher die Regel
Pflicht! Wir werden Sie deswegen weiterhin mit Anträ- denn die Ausnahme ist. Die Niederlande, Belgien,
gen und Gesetzentwürfen konfrontieren, in denen wir Schweden, Norwegen – aber auch Südafrika, Mexiko-
Schritt für Schritt die Gleichstellung der eingetragenen Stadt oder Argentinien – sie alle haben die Ehe für lesbi-
Lebenspartnerschaft mit der Ehe ermöglichen. Herr sche und schwule Paare geöffnet. Selbst die katholischen
Rösler hat auf dem FDP-Parteitag vollmundig verspro- Staaten Portugal und Spanien stehen hier vornan. Dabei
chen, die FDP werde jetzt liefern. Lesben und Schwule gibt es auch juristische Beispiele in den nordischen Staa-
warten darauf: beim Adoptionsrecht, Beamten- und ten, in denen die Rechtsentwicklung ähnlich wie in
Steuerrecht. Oder wollte die FDP umsatteln und einen Deutschland verlief: zunächst eine eingetragene Lebens-
Pizzalieferservice eröffnen? partnerschaft mit geringeren Rechten und Pflichten,
dann die schrittweise Gleichstellung und schließlich
Das politische Ziel von Bündnis 90/Die Grünen bleibt trotz der erfolgten Gleichstellung die Öffnung der Ehe.
die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare,
wie wir dies bereits in der letzten Legislaturperiode be- Die gesellschaftliche Akzeptanz ist vorhanden, recht-
antragt haben. Die Öffnung der Ehe bleibt unser Ziel, liche Bedenken können ausgeräumt werden. Es ist an der
selbst wenn wir eines – hoffentlich nahen – Tages die Zeit, ein gemeinsames Rechtsinstitut für alle Paare zu
vollständige Gleichstellung der eingetragenen Lebens- schaffen und die Öffnung der Ehe für Schwule und Les-
partnerschaft erreicht haben. Denn natürlich besteht eine ben zu beschließen.
13190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Anlage 8 Die parlamentarische Kontrolle dieser Politikbereiche (C)


muss dabei federführend durch die nationalen Parla-
Zu Protokoll gegebene Reden mente erfolgen. Denn auch wenn die Rechte des Euro-
zur Beratung: päischen Parlaments durch den Vertrag von Lissabon
weiter gestärkt wurden, gehören GASP und GSVP wei-
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem terhin zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten.
Antrag: Einrichtung einer Interparlamenta- Anders als die SPD, die eine nah an den „Strukturen und
rischen Konferenz zur Gemeinsamen Au- Arbeitsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments an-
ßen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsa- gegliederte interparlamentarischen Struktur“ möchte, se-
men Sicherheits- und Verteidigungspolitik hen wir das Europäische Parlament – noch – nicht in der
der Europäischen Union Lage, die parlamentarische Kontrolle hier federführend
auszuüben.
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Anträgen: Im Sinne einer starken Stellung des Europäischen
Parlaments fordern die Grünen, dass die Gesamtzahl der
– Für eine wirkungsvolle interparlamen- Delegationsmitglieder des EP nicht weniger als ein Drit-
tarische Begleitung der Europäischen tel der Gesamtzahl der Mitglieder der Konferenz be-
Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste trage. Auch dies lehnen wir ab. Stattdessen schlagen wir
des Vertrages von Lissabon vor, die Mitgliedszahl proportional an den Schlüssel der
– Kriterien und Anforderungen für eine Parlamentarischen Versammlung des Europarats anzu-
parlamentarische Beteiligung an der Ge- lehnen. Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen
meinsamen Außen- und Sicherheitspoli- Parlaments sollte die Anzahl der Vertreter des größten
tik der EU Mitgliedslandes nicht übersteigen, um auch hier die Fe-
derführung der nationalen Parlamente weiter deutlich zu
(Tagesordnungspunkt 20 a und b) machen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass unser Antrag Brüssel
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Seit dem Ver- als Tagungsort vorsieht. Allerdings sollten die Tagungen
trag von Maastricht ist in Sachen der Gemeinsamen Au- nicht im Europaparlament stattfinden. Denn nur so do-
ßen- und Sicherheitspolitik, GASP, viel passiert. Als kumentieren wir die Unabhängigkeit des Gremiums und
Meilensteine auf dem Weg zu einer kollektiven europäi- den intergouvernementalen Charakter von GASP und
schen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gel- ESVP.
ten – um nur einige herauszugreifen – die Gründung der
(B) ESVP 1999, der Stabilitätspakt für Südosteuropa 1999, Das Gremium sollte – wie im Antrag steht – jährlich (D)
die vollzogenen Erweiterungsrunden und die Definition zweimal tagen, wobei anzudenken wäre, auch die Mög-
strategischer Leitlinien durch die Europäische Sicher- lichkeit von „Ad-hoc-Treffen“ nach Bedarf einzurichten.
heitsstrategie 2003. So könnte weiter sichergestellt werden, dass das Gre-
mium kein zahnloser Tiger bleibt, sondern die unabhän-
Die jüngsten Vorgänge um den Libyen-Einsatz zeigen gige parlamentarische Begleitung von GASP und GSVP
jedoch, wie weit Europa noch von einem konsolidierten gewährleistet.
und abgestimmten Vorgehen entfernt ist. Die gemein-
same europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidi- Anlass der hier diskutierten Anträge ist unter anderem
gungspolitik ist ein zartes Pflänzchen, das wir mit den die Auflösung der WEU. Lassen Sie mich deshalb die
heute hier zu diskutierenden Anträgen wieder aufgreifen Gelegenheit nutzen, einige grundlegende Anmerkungen
und stärken wollen. zur Zukunft der GSVP zu machen.

Im Mai dieses Jahres hat die WEU ihre Tätigkeit be- Was wir auf europäischer Ebene in den nächsten Jah-
endet. Das bedeutet auch das Ende der Parlamentarier- ren brauchen, sind mutige Schritte gestalterischer Poli-
versammlung der WEU. Wir von der Union halten eine tik – als Antwort auf neuartige Bedrohungen und als
parlamentarische Kontrolle der GASP und der GSVP Konsequenz der Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns
durch ein europäisches Gremium aus Vertretern nationa- immer noch in Atem hält.
ler Parlamente und des Europäischen Parlaments jedoch Im Koalitionsvertrag von 2009 wird als langfristiges
auch nach dem Ende der WEU für zwingend notwendig. Ziel der Aufbau einer europäischen Armee unter voller
Die langfristige Übergabe von Souveränitätsrechten parlamentarischer Kontrolle genannt. Dies wäre nicht
macht die parlamentarische Begleitung dieses Prozesses nur ein sichtbares Zeichen der Stärkung der GSVP, son-
umso wichtiger. dern ist angesichts schrumpfender europäischer Verteidi-
gungsbudgets der nächste logische Schritt. Denn unter
Der von uns eingebrachte Antrag spricht sich deshalb
dem Druck der Wirtschafts- und Finanzkrise sind in al-
für die Einrichtung einer Interparlamentarischen Konfe-
len Staaten der EU die Anteile für Verteidigungsausga-
renz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
ben zurückgegangen. Eine Umkehr dieses Trends ist in
bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
den nächsten Jahren nicht zu erwarten.
der Europäischen Union aus, welche die Vernetzung der
wichtigsten Akteure der Außen- und Sicherheitspolitik Demgegenüber finden sich stetig steigende Anforde-
der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und rungen an den Verteidigungsbereich. Wir können sagen,
des Europäischen Parlamentes sicherstellt. die Zeit voll ausgerüsteter Armeen in Europa gehört der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13191

(A) Vergangenheit an. Wollen wir, dass die EU handlungsfä- doch nicht erst seit den Ereignissen der vergangenen Mo- (C)
hig und wirksam ihre eigene Sicherheit und ihre Interes- nate in der arabischen Welt, insbesondere in Libyen.
sen stärken kann, braucht es europäische Streitkräfte. Es
geht uns darum, dass wir alles daran setzen, nationale Fä- Die Europäische Union hat mit der Integration der
higkeiten besser zu bündeln und eine zweckmäßige Auf- „Westeuropäischen Union“, WEU, 1998 den Grundstein
gabenteilung unter den Partnern zu erreichen – die für ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungs-
GENT-Initiative zielt hier in die richtige Richtung. Es gilt politik gelegt. Die WEU selbst verlor jedoch damit ein-
also, bisher Erreichtes in der wechselseitigen Zusammen- hergehend schon an Bedeutung. Mit dem im Jahr 2009
arbeit zu vertiefen. Mir kommt es zudem darauf an, die geschlossenen Vertrag von Lissabon wurde schließlich
Rollenspezialisierung, das heißt Zuordnung bestimmter das endgültige Ende der WEU zum Ende Juni dieses
Fähigkeiten zu einzelnen Ländern, intensiv voranzutrei- Jahres beschlossen. Die Parlamentarische Versammlung
ben. Die von unseren Partnern Frankreich und Großbri- der WEU, deren Aufgabe darin bestehen sollte, als inter-
tannien unlängst im November 2010 vereinbarte Vertie- parlamentarisches Gremium die Gemeinsame Sicher-
fung weiterer sicherheitspolitischer Zusammenarbeit in heits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union
konkreten Rüstungsprojekten ist ein berechtigter Warnruf zu kontrollieren, wird damit ebenso beendet.
an alle EU-Mitgliedstaaten für mehr Gemeinsame Der Vertrag von Lissabon eröffnet wiederum neue
Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU. Es muss Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit im
gerade im Interesse Deutschlands liegen, dass wir keine Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-
EU der 2, sondern auch in der Außen- und Sicherheits- tik der Europäischen Union – GASP. Die Gemeinsame
politik eine EU möglichst der 27 haben. Dabei geht es Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Gemeinsame
um Werte und Interessen, um Glaubwürdigkeit und erst Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind zwar fest im
in zweiter Linie um die notwendige Kosteneffizienz. Bereich der Kernkompetenzen der EU-Mitgliedstaaten
Eine europäische Armee ist kein Selbstzweck, sie verankert. Auch die parlamentarische Kontrolle über
dient der gemeinsamen europäischen Sicherheitsvor- diese Politikbereiche wird von den nationalen Parlamen-
sorge. Dazu muss sie auf einer Risikoanalyse fußen und ten ausgeübt. Das Europäische Parlament wird dabei le-
klare Aussagen zur transatlantischen Partnerschaft ein- diglich im Rahmen von Informations- und Anhörungs-
schließlich der Zusammenarbeit mit der NATO treffen. rechten beteiligt. Der intergouvernementale Charakter
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt
Das Ziel einer europäischen Armee ist notwendig und insofern erhalten.
hilfreich: Notwendig, um Europas strategische Bedeu-
tung als Wohlfahrts-, Kultur- und Wissenschaftsregion, Die Koalitionsfraktionen sind sich einig, dass eine
(B) aber auch als Vorkämpfer für Menschenrechte weltweit politische Begleitung und Kontrolle der GASP und (D)
zu erhalten. Hilfreich, weil dieses Ziel einer gemeinsa- GSVP auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten und des
men besonders ideellen Anstrengung Europas nach Europäischen Parlaments in einem gemeinsamen Gre-
Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion dienen mium erforderlich ist. Übrigens herrscht in diesem Punkt
kann. Europa braucht Visionen, die sich in Ziele umset- auch Übereinstimmung mit den Oppositionsfraktionen
zen lassen und die Jugend begeistern. Die europäische von SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, die ebenfalls
Armee ist heute noch Vision, aber ein erreichbares und eigene Anträge eingebracht haben, genauso wie die
erstrebenswertes Ziel. CDU/CSU-Fraktion zusammen mit der FDP. Eine solche
Aufgabe sollte eine Interparlamentarische Konferenz zur
Zugleich besteht die Chance, die zivilen, krisenprä- Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge-
ventiven Fähigkeiten der EU noch besser mit ihren mili- meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
tärischen Fähigkeiten im Sinne einer umfassenden Si- Europäischen Union übernehmen. Diese würde gewähr-
cherheitsvorsorge zu verknüpfen. Gemeinsame Werte leisten, dass alle wichtigen Informationen und Institutio-
brauchen mehr als nur eine gemeinsame militärische nen dieser Politikfelder zusammengeführt und eine koor-
Verteidigungsidentität. Aber ohne eine europäische Ar- dinierte Politik betrieben werden könnten. Der ebenfalls
mee, schlagkräftig, einsatzbereit, innovativ und vom durch den Lissabonner Vertrag neu geschaffene Europäi-
europäischen „Staatsbürger“ in Uniform geprägt, wäre sche Auswärtige Dienst, EAD, soll dabei im Wege von
die Europäische Union weniger glaubwürdig. Es geht Anhörungen ebenso mit einbezogen werden wie die Eu-
um den Beweis, diese Werte zu erhalten, und um die Be- ropäische Kommission, der Rat und das Politische und
reitschaft, sie glaubhaft zu verteidigen. Sicherheitspolitische Komitee, PSK.
Wie wir im EU-Ausschuss festgestellt haben, liegen
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Deutschland die Vorstellungen der einzelnen Fraktionen im Hinblick
und die Europäische Union sind wichtige Akteure in der auf dieses Ziel recht nahe beieinander. Auch was die Un-
Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Verteidigungs- abhängigkeit dieser Einrichtung, ihren Tagungsort Brüs-
politik. Verantwortungsvolles Handeln in Europa, aber sel und ihre fachliche Kompetenz betrifft, herrscht vom
auch in allen anderen Regionen dieser Welt bedarf einer Grundsatz her eine große interfraktionelle Übereinstim-
gemeinsamen, strategisch fundierten und abgestimmten mung. Lediglich in den Fragen der personellen Zusam-
Vorgehensweise mit seinen Partnern und Verbündeten. mensetzung und des Vorsitzes gehen die einzelnen Mei-
Dies ist erforderlich für ein gedeihliches Zusammenleben nungen noch auseinander. Ich bin aber zuversichtlich,
in Sicherheit und Frieden. Diese Erkenntnis haben wir je- dass Sie für unsere Positionen auch zugänglich sind.
13192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) So sehen auch wir als CDU/CSU durchaus die Not- Bedauern darf sie sich offiziell nicht als „Außenministe- (C)
wendigkeit, die hier in Rede stehende Politik auch auf rin der EU“ bezeichnen, was ausgerechnet von unseren
europäischer Ebene zu etablieren und gerade im Bereich Freunden des Vereinigten Königreiches verhindert
der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine europäi- wurde. Aber der Titel ist vielleicht mehr eine Formalität,
sche Handlungsfähigkeit mehr und mehr herzustellen. denn als Hohe Vertreterin ist sie zugleich Vizepräsiden-
Allerdings wollen wir auch nicht die Befugnisse, die der tin der Europäischen Kommission, Vorsitzende des Ra-
Vertrag von Lissabon im Bereich der Gemeinsamen Au- tes für Auswärtige Angelegenheiten und Außenbeauf-
ßen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher- tragte des Europäischen Rates und konzentriert somit
heits- und Verteidigungspolitik den Mitgliedstaaten ein- durchaus wesentlich mehr Kompetenzen unter einem
räumt, unterlaufen. Eine „gleiche Augenhöhe“ bei der Dach, als dies vorher der Fall war.
Delegationsstärke von Europäischem Parlament und
Mitgliedstaaten, die sich in „einem angemessenen Ver- Seit dem 1. Januar 2011 steht Catherine Ashton nun
hältnis“ zueinander verhalten sollen, widerspricht ein- auch dem neugeschaffenen Europäischen Auswärtigen
deutig dem Sinn und Zweck der Lissabonner Regelun- Dienst, EAD, als Quasi-EU-Außenministerium zur Seite.
gen. Ebenso steht die Forderung nach einer mindestens Auch dies ist eine fundamentale und positive Neuerung,
zu einem Drittel von Vertretern des Europäischen Parla- die mittel- und langfristig dazu beitragen wird, das Stim-
ments besetzten Gremiums dem vertraglich festgelegten mengewicht der EU in der Welt zu verstärken. Vorausset-
Kompetenzgefüge auf diesem Gebiet entgegen. Aus die- zung dafür ist aber, dass auch die Regierungen der
sem Grund halten wir eine Entsendung von Vertretern EU-Mitgliedstaaten sich dem Ziel eines einheitlichen, ko-
des Europäischen Parlaments in einer Stärke entspre- härenten und wirksamen außen- und sicherheitspoliti-
chend der Anzahl der Vertreter des größten Mitgliedstaa- schen Handelns der EU verschreiben. Denn formal be-
tes für richtig. Die nationalen Delegationen sollten sich trachtet ist der EAD und mit ihm die Position der Hohen
am Schlüssel der Parlamentarischen Versammlung des Vertreterin natürlich „nur“ eine neue Institution im Orga-
Europarats orientieren. In diesem Punkt besteht ja be- nisationsaufbau der EU. Wenn es jedoch in den kommen-
reits breiter Konsens. Damit würde die deutsche Delega- den Jahren gelänge, ihn als Dienst im Dienste aller
tion 18 Mitglieder umfassen. EU-Institutionen aufzubauen, könnte er auch als neues,
identifikationsstiftendes Element einer Europäischen
Bei der Frage, wie der Vorsitz einer solchen Interpar- Union betrachtet werden, die endlich im 21. Jahrhundert
lamentarischen Konferenz ausgestaltet sein sollte, finden angekommen ist: als echtes Gemeinschaftsprodukt der
wir hingegen denselben Widerspruch wie bei den Vor- Europäischen Kommission, des Rates der EU und auch
stellungen zur Delegationsstärke des Europäischen Par- des Europäischen Parlamentes. Ausschlaggebend hierfür
laments. Eine bipartite Besetzung des Vorsitzes mit Ver- ist maßgeblich der aufrichtige politische Wille der Mit-
(B) tretern aus dem Europäischen Parlament und den gliedstaaten. (D)
nationalen Parlamenten verkennt erneut die Zuteilung Damit auch wir als Vertreterinnen und Vertreter der
von Kompetenzen. So fordern wir an dieser Stelle kon- nationalen Parlamente entsprechend unserer landesge-
sequenterweise eine Besetzung durch Vertreter derjeni- mäßen Kompetenzen im geltenden Verfassungsrahmen
gen nationalen Parlamente, die jeweils zu den Troika- adäquat beteiligt werden, schlägt Ihnen die SPD-Bun-
Ländern innerhalb der EU-Ratspräsidentschaften gehö- destagsfraktion mit dem vorliegenden Antrag „Für eine
ren. wirkungsvolle interparlamentarische Begleitung der Eu-
Die nun endlich angestoßene Debatte zur Gemeinsa- ropäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des
men Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Vertrages von Lissabon“ eine neue Struktur zur parla-
Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen mentarischen Kontrolle der GASP/GSVP vor, die darauf
Union ist der erste Grundstein auf dem Weg zur Einrich- abzielt die alte parlamentarische Versammlung der WEU
tung einer Interparlamentarischen Konferenz. Lassen Sie zu ersetzen. Übergeordnetes Ziel der SPD ist und bleibt
uns eine gemeinsame Lösung für dieses wichtige Thema es, eine Stärkung der parlamentarischen Beteiligungs-
finden. Ich hoffe, dass ich Sie bereits mit unseren guten rechte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
Argumenten überzeugen konnte. zu bewirken.
Wichtig ist mir in diesem Kontext eine Feststellung,
Dietmar Nietan (SPD): „Völker, die nicht die Gabe mit der ich auf das eingangs erwähnte Zitat von Jean
der Voraussicht haben, sind dem Untergang geweiht.“ Monnet zurückkomme: Wenn wir uns dem Thema Euro-
Dieses Zitat stammt von Jean Monnet, einem der wichti- päische Außenpolitik mit Voraussicht und Verstand zu-
gen Gründerväter der Europäischen Union, und es ist wenden und wir der EU aufrichtig mehr Gewicht in der
heute so richtig wie vor 40 Jahren. Welt verleihen wollen, müssen wir in der Außenpolitik
aufhören, zuerst in nationalen Kategorien zu denken, be-
Das Themenfeld der Außen- und Sicherheitspolitik vor wir uns mit den Interessen von und Auswirkungen
liegt nach wie vor in der hauptsächlichen Zuständigkeit auf Europa befassen. Wir brauchen eine „Europäisierung
der EU-Mitgliedstaaten, ihrer Regierungen und Parla- der Außen- und Sicherheitspolitik“, nicht im verfas-
mente. Daran hat auch der Vertrag von Lissabon nichts sungsrechtlichen Sinne, sondern im Sinne eines Paradig-
geändert, auch wenn er mit Art. 18 endlich einen Hohen menwechsel im Denken. Deutschlands Außenpolitik
Vertreter bzw. eine Hohe Vertreterin für die Außen- und wird auch weiterhin von nationalen Interessen bestimmt
Sicherheitspolitik vorsieht. Seit dem 1. Dezember 2009 werden, aber unser internationales Handeln lässt sich
ist dies die Britin Catherine Ashton. Zu meinem tiefen schon lange nicht mehr von Europa lösen. Außenpoliti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13193

(A) sche Entscheidungen, wie jüngst die deutsche Enthal- Unser Vorschlag zur Schaffung einer neuen interpar- (C)
tung im UN-Sicherheitsrat bei der Libyen-Resolution lamentarischen Konferenz bedeutet jedoch nicht, dass
1973, haben dies wohl allen deutlich vor Augen geführt. wir eine weitere Entscheidungsebene oder gar eine neue,
Als überzeugter Transatlantiker sind für mich die Aus- eigenständige Institution schaffen wollen. Wir wollen
wirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis auch keine Kompetenzen des Deutschen Bundestages in
schon an sich verheerend genug gewesen, die gleichzei- der Außen- und Sicherheitspolitik „durch die Hintertür“
tige Abwendung von unseren europäischen Partnern nach Brüssel transferieren. Aber wir sind fest davon
Frankreich, Großbritannien und Portugal macht diese überzeugt, dass eine nah an den Strukturen und Arbeits-
Entscheidung für mich weiterhin zu einem der größten möglichkeiten des EP angegliederte interparlamentari-
strategischen Fehler, die eine Bundesregierung in der sche Struktur sowohl zu effektiveren „Kontrollmöglich-
deutschen Außenpolitik seit 1949 jemals begangen hat. keiten“ der GASP/GSVP durch die Parlamente in den
Mitgliedstaaten führt als auch am besten dazu geeignet
Diese in meinen Augen notwendige und unausweich- ist, im Geiste des Vertrages von Lissabon zu einer Euro-
liche fortschreitende Europäisierung der Außen- und päisierung der Außen- und Sicherheitspolitik beizutra-
Sicherheitspolitik muss sich daher auch in den zu eta- gen.
blierenden parlamentarischen Kontrollstrukturen wie-
derfinden, die sich für uns an zwei entscheidenden Punk- Unsere Vorschläge lassen sich konkret in folgende
ten manifestieren: Punkte aufteilen:
Erstens. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten. Die
Erstens. Die neue interparlamentarische Struktur muss von EP und nationalen Parlamenten gemeinsam wahrzu-
auf die formellen und informellen Kontroll- und Einfluss- nehmende parlamentarische Kontrolle der GASP/GSVP
möglichkeiten des Europäischen Parlamentes gegenüber muss sich – bis auf die Ausnahme der Entsendung, Fi-
der EU-Kommission, der Hohen Vertreterin und dem nanzierung und Mandatierung bzw. Strukturierung mili-
EAD zurückgreifen können, um wirklich europäisch, das tärischer Operationen – auf alle Bereiche der EU-Außen-
heißt kooperativ gegenüber den Institutionen der EU und und Sicherheitspolitik beziehen. Der Parlamentsvorbe-
den Mitgliedstaaten agieren zu können. halt bei Einsätzen der Bundeswehr darf durch die GASP/
Zweitens. Deshalb muss die zu erarbeitende neue in- GSVP jedoch nicht ausgehöhlt werden!
terparlamentarische Struktur sicherstellen, dass sich die Zweitens. Die Zusammensetzung. Wir schlagen eine
Abgeordneten des EP und der nationalen Parlamente auf Interparlamentarische GASP/GSVP-Konferenz vor, die
gleicher Augenhöhe begegnen. sich aus den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschuss
(AFET), seines Unterausschusses für Sicherheit und
(B) Eine neue interparlamentarische Kontrollstruktur muss Verteidigung (SEDE) und des Menschenrechtsausschuss (D)
den oben genannten Kriterien einer „Europäisierung“ ge- (DROI) des EP auf der einen und Delegierten der natio-
recht werden. Ziel muss es sein, die Parlamentarier, die nalen Parlamenten auf der anderen Seite zusammensetzt.
auf der nationalen Ebene in die Entscheidungsfindung in Parlamente der Staaten, die durch die Erweiterungs-
den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs- oder Nachbarschaftspolitik mit der EU in einer besonde-
politik eingebunden sind, mit denen für diese Bereiche ren Beziehung stehen, können Beobachter zur Interpar-
zuständigen Abgeordneten des Europäischen Parlamen- lamentarischen GASP/GSVP-Konferenz entsenden.
tes zusammenzubringen.
Die Zahl der Delegierten aus den nationalen Parla-
Ziel ist eine neue Allianz der EU-Parlamentarier und menten sollte sich an der Größe anderer, bereits vorhan-
der Abgeordneten der Parlamente der Mitgliedstaaten. dender interparlamentarischer Versammlungen – wie
Ein solches Bündnis ermöglicht auch uns als Abgeord- zum Beispiel der zum Europarat – orientieren und sollte
neten des Bundestages die Nutzbarmachung der Mög- in einem angemessener Verhältnis zur Anzahl der Mit-
lichkeiten des europäischen Parlamentes. glieder aus dem EP stehen. Die Delegierten aus den na-
tionalen Parlamenten sollten sich aus den Mitgliedern
Denn täuschen Sie sich bitte nicht, nicht alle nationa- folgender Parlamentsausschüsse zusammensetzen: Aus-
len Abgeordneten haben in den Bereichen der Außen- wärtiger Ausschuss, Verteidigungsausschuss, Menschen-
und Sicherheitspolitik vergleichbare Kontroll- und Ein- rechtsausschuss, Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
flussmöglichkeiten wie wir deutschen Bundestagsabge- menarbeit und Entwicklung sowie Ausschuss für die
ordneten. Deshalb sollten wir als Parlamentarier jetzt die Angelegenheiten der Europäischen Union beziehungs-
Chance nutzen, gemeinsam für eine neue Allianz aus na- weise deren Äquivalenten.
tionalen und europäischen Abgeordneten einzutreten.
Dies eröffnet uns doch die einmalige Chance, die Rolle Drittens: Die Arbeitsweise. Die Interparlamentarische
der Parlamente im Prozess der Europäisierung der Au- GASP/GSVP-Konferenz sollte halbjährlich tagen. Der
ßen- und Sicherheitspolitik langfristig zu stärken. ständige Tagungsort soll das EP in Brüssel sein. Bei ent-
sprechenden dringlichen Anlässen kann die Interparla-
Schließlich hat gerade der Verfassungskonvent in der mentarische GASP/GSVP-Konferenz auch ad-hoc einbe-
Zeit vor Lissabon sehr deutlich gezeigt, dass eine Stär- rufen werden. Die Federführung sollte beim AFET des
kung der parlamentarischen Ebene innerhalb der EU-Po- EP und beim Auswärtigen Ausschuss des nationalen Par-
litiken viel effizienter und zielgerichteter die Europäi- laments der aktuellen Ratspräsidentschaft liegen. Ange-
sche Integration voranbringen kann als die Regierungen gliedert an den AFET soll ein eigenständiges, ständiges
der Mitgliedstaaten alleine. Sekretariat der Interparlamentarischen GASP/GSVP-
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(A) Konferenz in Brüssel eingerichtet werden. Auf der Ar- EU-Ebene hat maßgeblich dazu beigetragen, die Euro- (C)
beitsebene soll es einen ständigen Austausch mit den päische Union im Bereich der internationalen Konflikt-
Sekretariaten der Auswärtigen Ausschüsse der Mitglied- verhütung und Krisenbewältigung als maßgeblichen Ak-
staaten geben, die als federführendes Sekretariat die teur zu etablieren.
Kommunikation mit den Sekretariaten der anderen einbe-
zogenen Fachausschüsse der nationalen Parlamente Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon haben
sicherstellen. Die Interparlamentarische GASP/GSVP- sich große Fortschritte in den Politikbereichen GASP
Konferenz soll das Recht erhalten, von der Hohen Vertre- und GSVP ergeben. Neben der Schaffung des Amtes der
terin jederzeit Berichte zur GASP/GSVP einfordern zu Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik und
können. dem Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes hat
vor allem die Etablierung der wechselseitigen Beistands-
Die Kooperation des Europäischen Parlaments und klausel im EU-Vertragswerk einen großen Schritt in
der nationalen Parlamente ist in unseren Augen schon Richtung Integration im Bereich der Außen-, Sicher-
jetzt unerlässlich. Die bisherigen Verhandlungen über heits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union
die Einrichtung einer solchen Konferenz haben deutlich bewirkt.
gemacht, dass sich in einigen Mitgliedstaaten Parla-
mentsfraktionen bereits jetzt in einer Art „prophylakti- Wir begrüßen diese Entwicklung ausdrücklich. Sie ist
schen Containments“ gegen eine stärkere Einbeziehung Grundlage dafür, dass das außen- und sicherheitspoliti-
des EP bei der parlamentarischen Kontrolle der GASP/ sche Engagement der EU auch in Zukunft weiter wach-
GSVP aussprechen. Deshalb muss sich der Deutsche sen kann. Die Rolle der EU als internationaler Akteur
Bundestag zügig und deutlich gegen solche Formen der wird sowohl aus qualitativer als auch quantitativer Sicht
parlamentarischen Renationalisierung der Außen- und weiter steigen. Um den Integrationsprozess in dem hoch-
Sicherheitspolitik positionieren! sensiblen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik
schrittweise gestalten zu können, ist es angebracht, sich
In Art. 9 und 10 des Protokolls zum Lissabon-Vertrag rechtzeitig darüber Gedanken zu machen, wie die Ent-
über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU heißt wicklungen mit den Bürgern rückgekoppelt werden kön-
es ausdrücklich: Das EP und die nationalen Parlamente nen, geht es letztlich doch um die Perzeption elementa-
legen gemeinsam fest, wie eine effiziente und regelmä- rer Sicherheitsbedürfnisse.
ßige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten inner-
halb der Union gestaltet und gefördert werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen noch – teilweise we-
(Art. 9) … Sie – die Konferenz der Europa-Ausschüsse – sentliche – Unterschiede bei der Definition dessen, was
kann auch interparlamentarische Konferenzen zu Ein- in Europa als Sicherheitsinteresse zu gelten hat und wel-
che Mittel zur Deckung dieser Interessen vonnöten sind.
(B) zelthemen organisieren, insbesondere zur Erörterung Daher muss parallel zu den sich vollziehenden Schritten (D)
von Fragen der GASP einschließlich der GSVP. Die Bei-
träge der Konferenz binden nicht die nationalen Parla- der Integration ein politischer Prozess in Gang gesetzt
mente und greifen ihrem Standpunkt nicht vor. (Art. 10) werden, der am Ende ein gesamteuropäisches Sicher-
heitsbewusstsein schafft. Dabei muss die Bevölkerung
Ganz im Geiste dieser Artikel des Protokolls zum Ver- mitgenommen werden. Erst wenn es uns gelingt, ge-
trag von Lissabon über die Rolle der nationalen Parla- meinsame sicherheitspolitische Interessen politisch zu
mente in der EU setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion definieren, und diese auch von der Bevölkerung wahrge-
für eine enge Abstimmung des Deutschen Bundestages nommen und akzeptiert werden, kann Europa sein Po-
und seiner Gremien mit dem EP ein, um so möglichst zu tenzial in der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und
einer gemeinsamen Position in allen Fragen der Einrich- Verteidigungspolitik komplett entfalten.
tung einer Interparlamentarischen GASP/GSVP-Konfe-
renz zu gelangen. So wünschenswert die fortschreitende Integration im
Bereich der GASP ist, stellt sich für uns als FDP gleich-
Es liegt an uns Bundestagsabgeordneten, Deutschland wohl die Frage, wie die Beteiligung der nationalen Par-
zu einem Vorreiter, nicht zu einem Hemmschuh auf dem lamente an diesem bedeutenden Prozess gewährleistet
Weg zu einer zukunftsweisenden, gemeinsamen europäi- werden kann. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
schen Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Lassen politik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-
Sie uns gemeinsam den Weg der Europäisierung der par- gungspolitik der Europäischen Union gehören auch nach
lamentarischen Kontrolle der GASP beschreiten. So wa- dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zu den
gen wir ein großes Stück Voraussicht. Jean Monnet wäre Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten. Wenn sich die
stolz auf uns! nationalen Regierungen in Brüssel im Sinne der fort-
schreitenden Integration im Bereich der GASP – sinn-
Joachim Spatz (FDP): Die Europäische Union ist vollerweise – auf weitergehende Maßnahmen verständi-
im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auf viel- gen, die mindestens indirekt Auswirkungen auf die
fältige Art und Weise aktiv. Einer breiten Öffentlichkeit nationale Außen- und Sicherheitspolitik haben, ist aus
ist dieses Engagement spätestens seit dem Beginn der unserer Sicht eine intensive parlamentarische Begleitung
Antipirateriemission ATALANTA am Horn von Afrika durch die nationalen Parlamente dringend erforderlich.
im Dezember 2008 bekannt. Allerdings stellen die mili- Die im vorliegenden Antrag von CDU/CSU und FDP
tärischen EU-Missionen nur einen kleinen Ausschnitt skizzierte Interparlamentarische Konferenz ist ein erster
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. wichtiger Schritt hierfür. Die parlamentarische Beglei-
Der Aufbau ziviler und militärischer Kapazitäten auf tung der GASP und GSVP ist nach den neuen Vertrags-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13195

(A) bestimmungen nicht auf das Europäische Parlament der Europäischen Union, der europäischen Gemeinsa- (C)
übergegangen. Vielmehr wurde eine bewusste Entschei- men Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, und der Ge-
dung dahingehend getroffen, dass beide Materien als meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
zwischenstaatliche Aufgabe wahrzunehmen sind und in GSVP, umgehen.
maßgeblicher Verantwortung der Mitgliedstaaten ver-
bleiben. Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo bei- Woher kommt Ihre Angst vor den kritischen Blicken
spielsweise für Auslandseinsätze der Bundeswehr auch der Öffentlichkeit und einer Kontrolle der bisherigen Ar-
weiterhin die konstitutive Zustimmung des Deutschen kanpolitik in außenpolitischen Fragen? Meine Kollegin-
Bundestages erforderlich bleibt. Der Schlüssel liegt mei- nen und Kollegen von der SPD und Bündnis 90/Die
ner Ansicht nach in der ebenenübergreifenden Vernet- Grünen, ich frage Sie: Worauf gründet die von Ihnen ge-
zung der parlamentarischen Akteure im Bereich der Au- teilte Notwendigkeit, mit demokratischen Nebelbomben
ßen- und Sicherheitspolitik. Wir benötigen diese parla- und inhaltsleeren Worthülsen die Struktur- und Demo-
mentarische Dimension im Bereich der GASP und kratiedefizite des Lissabonner Vertrages im Bereich der
GSVP. Sie ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass GASP gemeinsam mit der Regierungskoalition beibehal-
eine tiefgreifende Integration des bislang nicht verge- ten zu wollen? Die Erklärung ist einfach: Die europäi-
meinschafteten Politikfeldes gelingen kann. Diese wird sche Sicherheitspolitik nahm seit ihren modernen Anfän-
umso effizienter, je stärker nationale Parlamente und das gen eine bis heute nachwirkende Sonderentwicklung als
Europäische Parlament miteinander verknüpft werden. rein intergouvernementale Zusammenarbeit der Mit-
Unser Ziel ist es daher, die wichtigsten parlamentari- gliedstaaten ein. Sie steht als Eindämmung konkurrie-
schen Akteure der nationalen Parlamente mit den Kolle- render und als gefährlich empfundener alternativer Ge-
gen aus dem Europäischen Parlament in einer Interparla- sellschaftsvorstellungen für die Restauration im Innern
mentarischen Konferenz zu vernetzen. Wir sind der Europas. Nach außen begründet sie dagegen die militäri-
sche Komponente zur Durchsetzung ihrer wirtschafts-
Überzeugung, dass das Gremium in seiner Zusammen-
politischen Interessen. An diesem Zustand wollen Sie
setzung die Vielfalt der nationalen Parlamente wider-
nichts ändern, was auch die Anträge der SPD und der
spiegeln sollte, und schlagen vor, dass die Mitglieder-
Grünen nicht anders als die der CDU/CSU- und FDP-
zahl sich proportional am Schlüssel der Parlamen-
Fraktionen beweisen.
tarischen Versammlung des Europarates orientiert. Die
Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments Die derzeitige rechtliche Form der GASP und GSVP
sollte dabei der Anzahl der Mitglieder des größten Mit- ist geschaffen worden, um die politische Verantwortung
gliedslandes entsprechen. Bei der Besetzung der Delega- zu verschleiern und dabei ohne die Notwendigkeit einer
tionen sollten die beteiligten Parlamente unserer Ansicht innerstaatlichen Umsetzung im Einklang mit nationalem
nach frei sein, um zu gewährleisten, dass den Themen Recht die Mitgliedstaaten dennoch zu binden. Im Unter- (D)
(B) entsprechend wechselnde Mitgliedschaften möglich
schied zum Gemeinschaftsrecht besteht auch keine ge-
sind. So schaffen wir ein hinreichendes Maß an Flexibi- richtliche Überprüfungsinstanz, da sich die Zuständig-
lität, das dazu geeignet ist, die thematische Bandbreite keit des EuGH nicht auf Fragen der GASP und GSVP
der GASP und GSVP zu reflektieren. erstreckt. Die Mitgliedstaaten haben auch keine Zustän-
digkeit des IGH hierfür anerkannt. Diese Immunität ist
Nachdem die Parlamentspräsidenten im Frühjahr un- kein Zufall, sondern Leitmotiv, um eine weitestgehende
ter belgischem Vorsitz das Thema erstmals diskutiert ha- Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten, die Vertragsbe-
ben, wird es im nächsten Jahr nun Aufgabe des polni- stimmungen nach Gusto interpretieren zu können, ohne
schen Parlamentspräsidenten sein, eine Einigung über dabei ein Verfahren befürchten zu müssen.
Ausgestaltung und Etablierung der Interparlamentari-
schen Konferenz zu erzielen. Ich bin der Überzeugung, Der von der Linksfraktion als erster in den Deutschen
dass wir mit dem vorliegenden Antrag eine sehr gelun- Bundestag Anfang April eingebrachte Antrag zur wirk-
gene Grundlage für die weiteren Verhandlungen vorge- samen Kontrolle der GASP und GSVP hat die Heilige
legt haben; wir werden aktiv bei unseren europäischen Allianz des Stillschweigens über die GASP aufge-
Nachbarn für unseren Vorschlag und die damit verbun- scheucht und sichtbar ins Unbehagen gestürzt. Wider-
denen Vorstellungen werben. sprüche zwischen basisdemokratischen Lippenbekennt-
nissen und dem Unwillen, eine effektive Kontrolle der
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Bezug auf die eu- Auslandseinsätze, der Kriegstreiberei und der Militari-
ropäische Außenpolitik gilt den deutschen Regierungen sierung der EU zu gewährleisten, traten unmissverständ-
die Geheimhaltung als ein Vorzeichen des Erfolges, die lich an die Oberfläche. Es ist kein Zufall, dass die SPD
Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit dagegen als in ihrem Antrag explizit „die Entsendung, Finanzierung
ein Vorzeichen des Verderbens. So schmücken sich die und Mandatierung bzw. Strukturierung militärischer
politischen Eliten in Europa gerne mit dem „Volkswil- Operationen“ von der parlamentarischen Kontrolle aus-
len“, wenn es ihren Interessen entspricht, und empfinden nehmen will. Was bleibt denn dann noch übrig, was kon-
bürgerliches Engagement als unverträglich mit der De- trolliert werden könnte? Nicht anders die Grünen: Alles
mokratie, wo sie als herrschende politische Klasse in- soll beim alten bleiben; es soll lediglich ein zusätzlicher
frage gestellt werden. Escort-Service zur Konferenz der Europa-Ausschüsse,
COSAC, eingerichtet werden. Meine Kolleginnen und
Es überrascht mich nicht, wie in diesem Haus die eta- Kollegen in der Grünen-Fraktion wissen natürlich, dass
blierten Parteien von CDU/CSU und FDP über die SPD diese gemäß ihrer Geschäftsordnung lediglich zum Zwe-
bis hin zu Bündnis 90/Die Grünen mit dem Kernthema cke regelmäßigen Meinungsaustausches eingerichtet
13196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) wurden und nicht einer effektiven Kontrolle dienen sol- dennoch eine Lösung des Problems nicht ernsthaft ange- (C)
len. hen. Deshalb werden wir auch ihre Anträge alle ableh-
nen. Denn um eine wirksame parlamentarische Kon-
Es ist irritierend. Während Sie in Ihren Anträgen zur trolle zu gewährleisten, brauchen wir schlicht und
GASP das Hohelied auf den Parlamentarismus in der EU ergreifend eine Komplettrevision der europäischen Ver-
anstimmen, haben Sie – aus Sicht der Linksfraktion in träge. Und ich hoffe, dass Sie dies baldmöglichst erken-
skandalöser Weise – alles unternommen, um eine Be- nen und sich nicht auf ewig diesen notwendigen Ver-
schäftigung mit der parlamentarischen Kontrolle von tragsänderungen verschließen werden.
GASP und GSVP von der Öffentlichkeit fernzuhalten.
Statt eine möglichst breite Debatte über die zukünftige
Ausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik im Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bundestag zu erreichten, überwiesen die Grünen und die NEN): Der Deutsche Bundestag verpasst heute seine
SPD ihre sehr wichtigen Vorschläge zur Einrichtung ei- Chance, zu einem für Europa durchaus wichtigen
ner „parlamentarischen Begleitung der GASP“ im ver- Thema, der Außen und Sicherheitspolitik, der möglichen
einfachten Verfahren, also ohne Debatte, an die Aus- Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz, mit
schüsse, damit diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. So gut wie alle
tagen können. unsere europäischen Nachbarn sind uns hier meilenweit
voraus, weil sie fristgerecht national abgestimmte Vor-
Heute haben Sie, meine Damen und Herren von der schläge eingereicht haben. Bei uns erfolgt die Positions-
CDU/CSU und FDP sowie SPD und Bündnis 90/Die bestimmung über das Niederstimmen der Oppositions-
Grünen, dem Vorgang noch eins draufgesetzt, insofern anträge und Durchsetzen der Koalitionsmeinung. Eine
sie der GASP so großes Gewicht beimessen, dass Sie zu- national abgestimmte Position sieht anders aus. Dabei
nächst eine Debatte nach Mitternacht anberaumten, ver- haben wir mit unserem starken Parlamentsvorbehalt in
mutlich um eine möglichst breite Öffentlichkeit herzu- Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik das größte In-
stellen, und sich schließlich einigten, das Thema als teresse daran, die Art und Weise der Zusammenarbeit
Protokollnotiz in den Drucksachenarchiven zu begraben. der Parlamente mitzugestalten. Aber durch die bornierte
Eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Ich und provinzielle Haltung einiger Kollegeninnen und
konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, meine Da- Kollegen der Koalition, die sich leider gegen die Ver-
men und Herren von der SPD und den Grünen: Ihnen nünftigen durchgesetzt haben, wurde eine gemeinsame
fällt von sich aus zum Thema Kontrolle der GASP nicht deutsche Position verhindert. Bundestagspräsident
viel ein, wohl deshalb haben Sie stichpunktartig von un- Lammert musste ohne eine gesamtdeutsche Position zur
serem Antrag abzuschreiben versucht, jedoch vergessen, Konferenz der Parlamentspräsidenten fahren. Warum ha-
dass unsere Forderung zur Einrichtung einer Interparla- ben Sie von der Koalition denn die Mediationsbemühun-
(B) mentarischen Versammlung nicht im luftleeren Raum gen Ihres eigenen Kollegen Polenz torpediert? Wir hat- (D)
steht, sondern erst dann eine effektive Kontrollinstanz ten doch fast eine Einigung – bis auf zwei kleinere
wird, wenn sie mit konkreten Befugnissen ausgestattet Punkte, und da ging es um Posten und Bürokratie.
wird.
Mit dem viel zu späten Reagieren auf eine auf euro-
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD und päischer Ebene längst stattfindende Debatte, gefolgt von
den Grünen, Sie wissen ganz genau, dass die bestehen- einem hektischen Rumgemurkse seitens der Koalition,
den EU-Verträge keine Kontrollrechte für das Europäi- die unabgestimmt ihre Meinung zur einzig gültigen ma-
sche Parlament in Bezug auf die GASP vorsehen. In die- chen wollte, hat sich der Bundestag ein schlechtes Zeug-
sem Bereich können die einzelstaatlichen Parlamente nis für seine Europafähigkeit ausgestellt. Unsere Brüsse-
auch nicht mitreden. Wohl in Kenntnis dieser Tatsache ler Kolleginnen und Kollegen, aber auch die anderen
fordert die SPD in ihrem Antrag die „Nutzbarmachung nationalen Parlamente, werden daraus ihre eigenen
der Möglichkeiten des Europäischen Parlaments für die Schlüsse ziehen. Sie, meine Damen und Herren von der
nationalen Parlamentarier“. Nur welche? Sie wissen bes- Koalition, waren nicht imstande, über ihren eigenen
ser als ich, dass sich der Einfluss des Europäischen Par- Schatten zu springen und sich ernsthaft um einen inter-
laments auf die GASP in der Zustimmung zur Ernen- fraktionellen Antrag zu einer Interparlamentarischen
nung des Hohen Vertreters und einer einmal im Jahr Konferenz zu bemühen. Zu sicher waren Sie sich wohl,
gegebenenfalls stattfindenden Aussprache über Anfra- dass wir Ihren antieuropäischen Kurs nicht mittragen wür-
gen und Empfehlungen an den Rat erschöpfen. den. Ihr Antrag ist eine Rolle rückwärts in der so dringend
erforderlichen Europäisierung der Außen- und Sicher-
Was die vorliegenden Anträge angeht, setzten die Ko- heitspolitik und wird der Aufforderung des Lissabonner
alitionsfraktionen wie auch Grüne und SPD leider ihren Vertrages nicht gerecht. Dabei braucht die Außen-, Si-
europapolitischen Grundfehler, die Zustimmung zum cherheits- und Verteidigungspolitik der EU mehr Gemein-
Vertrag von Lissabon, fort. Während sich ja im ökono- samkeiten.
mischen Bereich mittlerweile die Erkenntnis durchsetzt
– EZB-Präsident Trichet ist da nur das jüngste Beispiel –, Wir setzen bei der möglichen Einsetzung einer inter-
dass der Vertrag von Lissabon einfach nur großer Mist parlamentarischen Konferenz auf eine praktikable und
ist, sind Sie im Bereich der GASP und GSVP leider noch kosteneffiziente Lösung in Zusammenarbeit mit dem Eu-
nicht so weit. Obwohl ich sagen muss, alleine Ihre An- ropaparlament, vor dem wir – anders als Sie – keine Angst
träge weisen ja daraufhin, dass auch nach Ihrer Auffas- haben. Unser Reformvorschlag setzt auf ein Mehr an eu-
sung mit dem Vertrag von Lissabon in diesen Bereichen ropäischer Integration und eine Beteiligung des EU-Parla-
große Demokratiedefizite bestehen bleiben, wollen sie ments als gleichwertiger Partner. Wir wollen ein kleines
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13197

(A) und effizientes Gremium, bei dem die Fragen der Propor- schlechtszugehörigkeit“ sowie den Antrag der Fraktion (C)
tionalität in Anlehnung an den Europaratsschlüssel ge- Die Linke „Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle,
wahrt werden, aber gleichzeitig bessere und zügigere Ent- Transgender und Intersexuelle gewährleisten – Transse-
scheidungen getroffen werden können. Ich will an dieser xuellengesetz aufheben“.
Stelle auch darauf hinweisen, dass unser Vorschlag mit
den Brüsseler Kolleginnen und Kollegen der grünen EP- Das geltende Transsexuellengesetz, TSG, ist inzwi-
Fraktion abgestimmt ist. Er stößt auch auf große Sympa- schen mehr als dreißig Jahre alt. Es entspricht nicht mehr
thie bei wichtigen Kolleginnen und Kollegen der CDU- in jeder Hinsicht aktuellen medizinisch-wissenschaftli-
Fraktion im Europaparlament, wie zum Beispiel Elmar chen Erkenntnissen. Außerdem hat das Bundesverfas-
Brok. Und er lehnt sich im Wesentlichen an den belgi- sungsgericht in mehreren Entscheidungen, zuletzt in sei-
schen Entwurf an, bis auf den Entsendeschlüssel natür- nem Beschluss vom 11. Januar dieses Jahres, die Unver-
lich. Dieser ist ja auch im Ergebnis bei der Konferenz der einbarkeit einiger Vorschriften des Transsexuellengeset-
Präsidenten weiter als Verhandlungsgrundlage herausge- zes mit dem in Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit
kommen. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz verankerten Grundsatz des
Rechts auf freie Selbstbestimmung in Verbindung mit
Sie wollen zur Organisation einer solchen Interparla- der allgemeinen Menschenwürde erklärt. Eine erste Än-
mentarischen Konferenz das WEU-Sekretariat erhalten. derung haben wir bereits im Jahre 2009 vorgenommen,
Aber die WEU hat sich nicht umsonst überlebt. Die von als wir auf das in § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG enthaltenen Er-
Ihnen vorgeschlagene Einrichtung eines separaten, ei- fordernis der Ehelosigkeit verzichtet haben. Außerdem
genständigen Sekretariats ist nichts weiter als die Fort- hat das Bundesinnenministerium 2009 einen Entwurf zur
führung der alten Bürokratie, die im Juni dieses Jahres Reform des Transsexuellenrechts vorgelegt, der jedoch
nicht ohne Grund aufgelöst werden soll. Die FDP ist aufgrund der sich zum Ende neigenden Legislaturpe-
doch angeblich für Entbürokratisierung? Alles nur Ge- riode nicht mehr in das Gesetzgebungsverfahren einge-
rede, wenn’s konkret wird. Sie wollen hier einen Schein- bracht werden konnte.
toten wiederbeleben. Da liegt es nahe, anzunehmen, dass
es Ihnen im Kern eigentlich nur darum geht, Pfründe und Zusammen mit der Bundesregierung beabsichtigen
Posten zu sichern. Uns geht es um die Stärkung und Nut- wir, das Transsexuellengesetz in der laufenden Wahlpe-
zung der bestehenden parlamentarischen Rechte. Europa riode gemäß den im Koalitionsvertrag enthaltenen Fest-
hat bereits eine Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und legungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas-
Verteidigungspolitik. Wir wollen uns als Parlament da- sungsgerichts sowie die neueren medizinischen Erkennt-
ran beteiligen. Das geht nur, wenn wir Mittel und Wege nisse und gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen.
finden, die diesen Prozess fruchtbar und gewinnbringend Die erforderlichen Änderungen des Transsexuellenge-
für alle zu gestalten. setzes, die auch den Beschluss des Bundesverfassungs-
(B) (D)
gerichts vom 11. Januar 2011 berücksichtigen, sollen
Wäre das große deutsche Parlament mit einer derarti-
durch ein Reformgesetz, TSRRG, umgesetzt werden. Ein
gen Position zur Konferenz der Präsidenten im April ge-
entsprechender Gesetzentwurf befindet sich derzeit in
fahren, wäre das sicherlich ein Signal an die anderen ge-
wesen. Diese Chance wurde verpasst. Aber auch die der Vorbereitung. Insgesamt bedarf das Vorhaben auf-
heutige Debatte und die vorliegenden Anträge zeigen, grund der familienrechtlichen Auswirkungen einer be-
dass wir noch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom sonderen Abstimmung und sorgfältigen Prüfung. Hier
Nutzen und von den Synergieeffekten mit Europa haben. darf sprichwörtlich nichts übers Knie gebrochen werden.
Wir hätten das letzte Jahr für eine Debatte darüber nut- Im Interesse einer verfassungsrechtlichen Grundsät-
zen sollen, statt in Klüngelrunden Europa gestalten zu zen dauerhaft entsprechenden Lösung wäre es nicht för-
wollen. So kommen wir in Europa bestimmt nicht voran. derlich, das Transsexuellengesetz durch den von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetz-
entwurf abzulösen oder die im Antrag der Fraktion Die
Anlage 9 Linke vorgesehenen Eckpunkte in vollem Umfang in das
Zu Protokoll gegebene Reden Transsexuellengesetz zu übernehmen. Im Einzelnen
sprechen folgende Punkte gegen eine Zustimmung zu
zur Beratung: dem Gesetzentwurf beziehungsweise dem Antrag:
– Entwurf eines Gesetzes über die Änderung Entwurf eines ÄVFGG der Fraktion Bündnis 90/Die
der Vornamen und die Feststellung der Ge- Grünen:
schlechtszugehörigkeit (ÄVFGG)
Erstens. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Ver-
– Antrag: Sexuelle Menschenrechte für Trans- lagerung der Zuständigkeit für die Entscheidung über die
sexuelle, Transgender und Intersexuelle ge- Vornamensänderung und die Geschlechtsänderung von
währleisten – Transsexuellengesetz aufheben den Amtsgerichten auf die Standesämter (§§ 1 und 3 des
Entwurfs) hat offensichtlich den Zweck, die Wahl der
(Tagesordnungspunkt 23 a und b) Vornamen und der Geschlechtszugehörigkeit lediglich
von der Abgabe einer familienrechtlichen Erklärung ab-
Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir beraten heute über hängig zu machen. Bei einer Vornamensänderung nach
einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- dem Transsexuellengesetz handelt es sich bisher – und
nen mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes über die Än- nach meiner Auffassung auch zu Recht – um eine der öf-
derung der Vornamen und die Feststellung der Ge- fentlich-rechtlichen Namensänderung vergleichbaren
13198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Entscheidung, für die in den Ländern die Ordnungsämter Antrag der Fraktion Die Linke: (C)
der Gemeinden oder Landkreise zuständig sind. Soweit
Erstens. Eine Einbeziehung von Transgendern und In-
Transsexuellen eine Vornamensänderung quasi durch
tersexuellen in einen Gesetzentwurf erscheint mir pro-
Abgabe einer Erklärung gegenüber dem Standesamt ein-
blematisch, da es sich um verschiedene Gruppen von
geräumt würde, wären nichttranssexuelle Personen be-
Betroffenen handelt. Während Transsexuelle sich dem
nachteiligt, weil diese ihre Namensänderung nur bei
anderen als ihrem biologischen Geschlecht angehörend
Vorliegen eines wichtigen Grundes im Rahmen eines
fühlen, umfasst der Begriff „Intersexualität“ eine Viel-
Verwaltungsverfahrens durchsetzen können. Diese Un-
zahl biologisch-somatisch gegebener Uneindeutigkeiten
gleichbehandlung verstieße gegen Art. 3 Grundgesetz.
oder Mehrdeutigkeiten der Geschlechtszugehörigkeit.
Zweitens. Die Entscheidung über die Geschlechtszu-
Die ohnehin schwierige persönliche Lage der Trans-
gehörigkeit sollte wegen der damit verbundenen Auswir-
sexuellen und ihre Probleme mit dem rechtlichen Ver-
kungen auf die Rechtsposition des Betroffenen und sei-
fahrensablauf für einen Vornamens- oder Geschlechts-
ner Angehörigen weiterhin in einem gerichtlichen
wechsel sollten – auch nach Ansicht vieler Betroffener
Verfahren erfolgen. Dies dient letztlich dem Schutz des
und auf diesem Gebiet tätiger Sachverständiger – nicht
Betroffenen selbst und seiner Angehörigen.
mit der ganz anders gearteten Situation Intersexueller
Drittens. Der Gesetzentwurf räumt dem Standesamt vermischt werden. Dies würde auch den Interessen und
keinerlei Ermessen ein und ordnet nach Antragszugang Zielvorstellungen beider Betroffenengruppen zuwider-
die Registeränderung als gebundene Entscheidung ohne laufen.
weitere Sachverhaltsaufklärung oder behördliche Prü-
Zweitens. Die Eintragung der Geschlechtszugehörig-
fung an. Das Standesamt soll offensichtlich weder die
keiten „intersexuell“ und „transgender“ ist sowohl aus
Vorlage weiterer Unterlagen verlangen noch eine Ableh-
verfassungsrechtlichen als auch aus gesellschaftspoliti-
nung des Antrags vornehmen können. Diese Verfahrens-
schen Gründen problematisch. Das Grundgesetz und die
vorgaben würden im standesamtlichen Verfahren zu er-
übrige Rechtsordnung gehen nur von zwei Geschlech-
heblichen Verwerfungen führen, weil bei anderen
tern aus. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Men-
Personenstandsfällen zu Recht eine Sachverhaltsaufklä-
schen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift
rung stattfindet und die Beurkundung nur nach Vorlage
und seiner selbst bewusst wird. Hierzu gehört, dass der
entsprechender Urkunden und Nachweise durch den An-
Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal ei-
tragsteller erfolgt. Als Grundlage für eine Beurkundung
genverantwortlich gestalten kann. Nach BVerfGE 49,
im Personenstandsregister ist dieses Verfahren meines
286, 298 gebieten Menschenwürde und das Grundrecht
Erachtens nach nicht erstrebenswert. Auch hier wird die
auf freie Persönlichkeitsentfaltung daher, den Personen-
Schutzfunktion einer Antragsprüfung zugunsten der An-
(B) stand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem (D)
tragsteller verkannt.
er nach seiner psychischen und physischen Konstitution
Viertens. Nach dem Gesetzentwurf reicht das indivi- zugehört. Dabei gehen unsere Rechtsordnung und unser
duelle Empfinden des Betroffenen, dass die bisherigen soziales Leben im Grundsatz von dem Prinzip aus, dass
Vornamen oder der bisherige Geschlechtseintrag nicht jeder Mensch entweder männlichen oder weiblichen Ge-
seinem Geschlechtsempfinden entspricht, für die ent- schlechts ist. Eine Notwendigkeit der Schaffung eines
sprechende Registeränderung aus. Ein Nachweis über quasi dritten Geschlechtes sehe ich nicht und halte dies
das Bestehen oder die Unumkehrbarkeit des transsexuel- auch nicht für wünschenswert.
len Empfindens – zum Beispiel psychotherapeutisches
Drittens. Speziell im Hinblick auf eine gesetzliche
oder fachärztliches Zeugnis, Bescheinigungen, Bera-
Verfahrensregelung für intersexuelle Kinder ist zu be-
tungsschein etc. – wird nicht verlangt. Dies erscheint im
merken, dass nach der deutschen Rechtsordnung jeder
Hinblick auf die gravierenden Auswirkungen eines Per-
Mensch dem männlichen oder dem weiblichen Ge-
sonenstandswechsels nicht sachgerecht. Auch hier fehlt
schlecht zugeordnet werden kann. Die Frage, ob es dane-
es an der notwendigen Schutzfunktion zugunsten des
ben noch eine dritte Form gibt, die gesellschaftliche An-
Antragstellers.
erkennung und in unserer Rechtsordnung Berück-
Fünftens. Der Gesetzentwurf sieht keine Beschrän- sichtigung finden sollte, kann nur aus gesellschafts- und
kung hinsichtlich eines erneuten Vornamens- oder Ge- gesundheitspolitischer Sicht beurteilt werden. An dieser
schlechtswechsels vor. Der demgemäß mehrfach mögli- Stelle sei auf das Diskursverfahren Intersexualität des
che Wechsel der Vornamen und der Geschlechts- Deutschen Ethikrates verwiesen. Im Auftrag der Bun-
zugehörigkeit führt zu einem erheblichen Verwaltungs- desregierung erarbeitet der Deutsche Ethikrat derzeit
aufwand und einer Besserstellung gegenüber nichttrans- eine Stellungnahme zur Situation von Menschen mit In-
sexuellen Personen, die an ihre familienrechtlichen Er- tersexualität. Erst gestern hat hier eine öffentliche Anhö-
klärungen in der Regel gebunden sind. Eine solche rung stattgefunden. Die Ergebnisse dieses Diskursver-
Beliebigkeit ist nicht hinnehmbar. fahrens müssen abgewartet werden. Erst dann können
Überlegungen auf gesicherter Grundlage zu einer gesetz-
Sechstens. Der Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit
lichen Regelung führen.
des gleitenden Übergangs von der Ehe in die Lebens-
partnerschaft und umgekehrt auf Antrag vor, ohne die Viertens. In dem Antrag werden als „Transgender“
versorgungsrechtlichen Auswirkungen eines solchen Personen bezeichnet, die sich nicht in den Kategorien
Wechsels zu regeln. Eine solche Regelung verstößt in männlich oder weiblich wiederfinden. Der Begriff
eklatanter Weise gegen Art. 6 Grundgesetz. Transgender wird aber seit den 1980er-Jahren fast aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13199

(A) schließlich als genderpolitischer Oberbegriff gebraucht, Deshalb schlage ich vor, dass wir die Bezeichnung (C)
der insbesondere Transsexuelle umfasst. In dieser Hin- des Gesetzes ändern. Bei einer Novellierung sollten wir
sicht ist bereits der betroffene Personenkreis durch den den Titel von „Gesetz zur Änderung der Vornamen und
Antrag nicht eindeutig bezeichnet und in dieser Form die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in beson-
keiner gesetzlichen Verfahrensregelung zugänglich. deren Fällen“ in „Transidentitätsgesetz“ ändern.

Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü- Die Betroffenen leiden unter gesellschaftlicher Aus-
nen und von der Linken, lassen Sie mich eines noch ab- grenzung, fühlen sich anders, sind psychischen Belas-
schließend sagen: Uns allen ist klar, dass das Transsexu- tungen ausgesetzt. Das ist schon schlimm genug. Des-
ellengesetz in seiner jetzigen Form die Betroffenen halb sollten wir als Gesetzgeber die rechtlichen Hürden,
benachteiligt und ihnen nicht gerecht wird. Nicht um- damit ein Transsexueller oder eine Transsexuelle in dem
sonst hat das Bundesverfassungsgericht in seinem letz- von ihm bzw. ihr empfundenen Geschlecht leben kann,
ten Beschluss die Anwendung von § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 nicht höher hängen, als unbedingt nötig.
TSG bis auf weiteres ausgesetzt. Die Bundesregierung Wir sollten das Verfahren zur Vornamensänderung
wird deshalb noch in dieser Legislaturperiode einen Ent- straffen. Derzeit muss ein Antragsteller mindestens seit
wurf für ein Reformgesetz des Transsexuellengesetzes drei Jahren in dem anderen Geschlecht, dem er sich zu-
vorlegen, der den Vorgaben des Bundesverfassungsge- gehörig fühlt, leben, und es muss mit hoher Wahrschein-
richts entsprechen wird. Bis dahin sollten Sie Ihre An- lichkeit angenommen werden, dass sich das Zugehörig-
träge beziehungsweise Gesetzesvorlagen ruhen lassen. keitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr
ändert. Es sind zwei medizinische Gutachten erforder-
lich; ich meine, ein Gutachten des behandelnden Arztes
Gabriele Fograscher (SPD): Wir beraten heute,
reicht aus. Auch kann im Verfahren auf den Vertreter des
2011, in erster Lesung einen Gesetzentwurf über die Än-
öffentlichen Interesses durchaus verzichtet werden.
derung der Vornamen und die Feststellung der Ge-
Diese hohen Hürden sind eine große psychische Belas-
schlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen. Hinter dem
tung für die Antragsteller und führen dazu, dass sich die
Titel verbirgt sich die Novellierung des Transsexuellen-
Verfahren bis zu zwei Jahre hinziehen können.
gesetzes. Leider sind wir seit 2009 nicht zu einer längst
überfälligen Lösung gekommen. Bisher heißt es in § 1 Abs. 1 TSG, dass die innere
Überzeugung eines Transsexuellen oder einer Transse-
Das Transexuellengesetz ist gut 30 Jahre alt und ent- xuellen fortdauernd und unumkehrbar sein muss, um den
spricht weder der Lebenswirklichkeit von Transsexuel- Vornamen ändern zu können. Im neuen Gesetz sollte
len noch dem Stand der Wissenschaft. Zudem hat das „fortdauernd“ bestehen bleiben, aber „unumkehrbar“?
(B) Bundesverfassungsgericht in inzwischen sechs Entschei- Das kann weder der oder die Betroffene noch ein ärztli- (D)
dungen einzelne Vorschriften des Transsexuellengeset- ches Gutachten feststellen.
zes für verfassungswidrig erklärt.
Wir sollten das unnötig komplizierte Verfahren für die
Weil hier enorme Rechtsunsicherheit besteht, ist es Vornamensänderung vereinfachen und auf Doppel- oder
dringend geboten, dass dieses Gesetz überarbeitet wird, Mehrfachbegutachtungen verzichten.
besser noch durch ein ganz neues Gesetz ersetzt wird. Vorstellbar ist für uns, die Vornamensänderung durch
Unser Ziel ist es, das Leben und den Alltag der Betroffe- die nach Landesrecht für das Personenstandswesen zu-
nen zu erleichtern. ständigen Behörden vornehmen zu lassen, also dem
Bereits in der vergangenen Wahlperiode haben wir in- Standesamt.
tensive Gespräche mit dem damaligen Koalitionspartner Voraussetzung für eine Personenstandsänderung, also
geführt. Doch leider kam es dabei zu keiner Einigung, der Wechsel von männlich zu weiblich oder von weib-
und außer einer dürren Antwort der Bundesregierung auf lich zu männlich, ist derzeit die Durchführung einer ge-
eine schriftliche Anfrage von mir, liegt uns bislang schlechtsangleichenden Operation. Das ist nicht mehr
nichts aus den Koalitionsfraktionen vor. zeitgemäß.
Ich selbst habe, auch in dieser Wahlperiode, Gesprä- Die Autoren des Transsexuellengesetzes gingen da-
che mit Betroffenen geführt. Sie haben ihr Unverständ- mals davon aus, dass die Vornamensänderung, also die
nis über dieses veraltete, teils verfassungswidrige Gesetz sogenannte kleine Lösung, nur ein Durchgangsstadium
zum Ausdruck gebracht, ebenso wie ihre Verzweiflung, sei und es Ziel aller Transsexuellen sei, die „große Lö-
dass die Bundesregierung auf diesem Gebiet, trotz der sung“, also die Personenstandsänderung und die ge-
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, völlig schlechtsangleichende Operation, zu erreichen.
untätig ist. Diese Annahme ist falsch, denn, so eine fachwissen-
schaftliche Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft
Transsexuelle Menschen haben das Gefühl, im fal-
für Sexualforschung, etwa 20 bis 30 Prozent der Trans-
schen Körper zu leben. Transsexualität ist aber keine
sexuellen wollen keine geschlechtsangleichende Opera-
Krankheit. Die Ursachen sind unklar, und den typischen
tion.
Transsexuellen gibt es nicht. Auch ist die Bezeichnung
Transsexualität falsch; denn diese Menschen haben kein Diese Regelung in § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG hat das
Problem mit ihrer Sexualität, sie haben ein Problem mit Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig einge-
ihrer Identität. stuft.
13200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Dazu heißt es in der Pressemitteilung des Bundesver- ich für wenig hilfreich. Ihr Antrag geht glatt am Ziel vor- (C)
fassungsgerichts zum Beschluss vom 11. Januar 2011: bei. Sie beschäftigen sich vorrangig mit der Frage, wie
intersexuelle Menschen und Transgender in Deutschland
„Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit dieser Vorausset- behandelt werden sollten. Das ist eine wichtige Frage,
zung das berechtigte Anliegen, auszuschließen, dass und ich würde mich sehr freuen, wenn wir auch an dieser
rechtlich dem männlichen Geschlecht zugehörige Perso- Stelle Fortschritte erzielen können. Aber Ihre Vorschläge
nen Kinder gebären oder rechtlich dem weiblichen Ge- für das Personenstandsrecht halte ich an dieser Stelle für
schlecht zugehörige Personen Kinder zeugen, weil dies absolut unbrauchbar, ja geradezu unsinnig.
dem Geschlechtsverständnis widerspräche und weitrei-
chende Folgen für die Rechtsordnung hätte. Diese So fordern Sie die Eintragungsmöglichkeit „Trans-
Gründe vermögen aber im Rahmen der gebotenen Ab- gender“ für Personenstandsregister. Soll das bedeuten,
wägung die erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigung der dass in ein Geburtenregister für einen Säugling die Ein-
Betroffenen nicht zu rechtfertigen, weil dem Recht der tragung „Transgender“ gewählt werden kann? Wieso
Transsexuellen auf sexuelle Selbstbestimmung unter möchten Sie, dass die sozial gelebte Geschlechtsidentität
Wahrung ihrer körperlichen Unversehrtheit größeres Ge- im Personenstandsregister erfasst werden soll? Wieso
wicht beizumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass halten Sie es überhaupt für erforderlich, das soziale Ge-
die Fälle des Auseinanderfallens von rechtlicher Ge- schlecht einer Person zu erfassen? Meine Damen und
schlechtszuordnung und Erzeuger- beziehungsweise Ge- Herren von der Linken, Ihre Regelungswut stößt mir als
bärendenrolle angesichts der kleinen Gruppe transsexu- Liberalem immer wieder sauer auf. Aber das geht nun
eller Menschen nur selten vorkommen werden.“ Auf wirklich zu weit. Mit solchen Regelungen beflügeln Sie
diese Regelung können und müssen wir bei einer Novel- nur die Diskriminierung von Menschen, indem Sie ihr
lierung verzichten. Sozialverhalten aktenkundig machen. Das Sozialverhal-
Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Gesetzent- ten von Menschen – dazu gehört auch deren sozial ge-
wurf, dass sowohl die Vornamensänderung als auch die lebtes Geschlecht – geht den Staat zunächst einmal über-
Personenstandsänderung bei den Standesämtern angesie- haupt nichts an. An der Stelle mischen Sie sich in die
delt werden soll. Ich halte diese Regelung für die Perso- Privatsphäre anderer Menschen ein. Das finde ich uner-
nenstandsänderung nicht für sinnvoll, und das sehen hört!
auch viele Betroffene selbst so. Auch der Gesetzentwurf der Grünen ist mehr gut ge-
Eine Personenstandsänderung bringt viele weitere meint als gut gemacht. So fordern Sie, dass die §§ 1591
Verwaltungsakte und Rechtsfolgen mit sich, wie das und 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuches geändert wer-
Umschreiben von Zeugnissen und Urkunden. den. Aus Vätern und Müttern werden dann Elternteile.
(B) Das BGB macht die Unterscheidung von Vater und Mut- (D)
Deshalb halten wir es für angemessen, dass diese Än- ter nicht grundlos. Art. 6 Abs. 4 des Grundgesetzes lau-
derungen weiterhin vom zuständigen Gericht vorgenom- tet: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die
men werden. Fürsorge der Gemeinschaft.“ Liebe Grüne, das Grundge-
Dies würde die Ernsthaftigkeit des Anliegens unter- setz ist eindeutig. Hier steht Mutter und nicht Elternteil!
streichen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion und ich als Wie möchten Sie, liebe Kollegen der Grünen, den Müt-
Berichterstatterin sind bereit, auf Grundlage des vorge- tern in diesem Land erklären, dass sie keines besonderen
legten Gesetzentwurfes der Grünen zu prüfen, ob wir Schutzes mehr bedürfen, weil sie mittlerweile nurmehr
nicht zu einer gemeinsamen Neugestaltung eines Trans- Elternteile sind?
identitätsgesetzes kommen können. Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Ver-
Noch ein paar Worte zum Antrag der Linksfraktion. trag das Ziel gesetzt, das Transsexuellengesetz auf eine
moderne, zeitgemäße Grundlage zu stellen, und dieses
Die Vorschläge gehen weit über die vom Bundesver- Ziel werden wir auch erreichen. Wir wollen, dass trans-
fassungsgericht als erforderlich angesehenen Neurege- idente Menschen ihre Geschlechtszugehörigkeit oder ih-
lungen hinaus. Zum Beispiel würde die Einstufung in ren Vornamen möglichst unbürokratisch ändern können.
drei Merkmale, nämlich männlich, weiblich und interse- Sie sollen ein freies und selbstbestimmtes Leben führen
xuell große Widerstände hervorrufen. Der Vorschlag ist dürfen und sollten dabei nicht mit unnötigen bürokrati-
nicht mehrheitsfähig. schen Hürden konfrontiert werden. Ihre Privatsphäre
Im Interesse der Betroffenen, die zwar nur eine kleine muss ebenso geschützt werden wie ihre Lebensum-
Gruppe der Bevölkerung sind, aber einen großen Lei- stände. Hier sollte man beim Transsexuellengesetz die
densdruck haben, und aufgrund der Entscheidungen des Hebel ansetzen, anstatt sich in sinnlosen Spielereien an
Bundesverfassungsgerichts, sollten wir uns ernsthaft be- Personenstandsregistern zu ergehen. Wenn ich mir ihre
mühen, zu Lösungen zu kommen. Anträge anschaue, habe ich den Eindruck, dass die lie-
ben Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei und
den Grünen transidente Menschen in ihren Werbeblock
Manuel Höferlin (FDP): Mit großem Interesse habe für ein anderes Weltbild eingebaut haben, weil es sich so
ich zur Kenntnis genommen, dass nach den Grünen nun leichter verkaufen lässt. Mit der FDP-Bundestagsfrak-
auch die Linke sich mit der Thematik der Änderung der tion werden Sie das nicht machen können.
Vornamen und der Feststellung der Geschlechtszugehö-
rigkeit in besonderen Fällen befasst. Was Sie da aller- Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in die Debatte
dings fabrizieren, liebe Kollegen von der Linken, halte um ein modernes Transsexuellengesetz einbringen. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13201

(A) möchten, dass die Sorgen und Probleme dieser Men- zeitgemäße Grundlage stellen, um den betroffenen Men- (C)
schen ernst genommen werden. Wir möchten, dass sie schen ein freies und selbstbestimmtes Leben zu ermögli-
sich nicht Gedanken über den Fortbestand ihrer Lebens- chen.“ Die Betroffenen warten bislang vergebens. Die
partnerschaft oder Ehe machen müssen. Wir möchten, Linke begrüßt den Gesetzentwurf der Grünen. Aller-
dass sie sich nicht operativen Maßnahmen unterwerfen dings geht unser Antrag, der Ihnen hier vorliegt, weiter.
müssen, um in dem für sie richtigen Geschlecht zu leben. Wir wollen das Transsexuellengesetz aufheben. Wir
Das sind die zentralen Punkte für ein modernes und zeit- wollen das Personenstands- und Vornamensrecht und die
gemäßes Transsexuellengesetz. Die Anträge, die wir hier dementsprechenden Verwaltungsvorschriften dahin ge-
heute beraten, verfehlen diese Ziele ganz klar. Daher hend reformieren, dass Transsexuelle, Intersexuelle und
würde ich es sehr begrüßen, wenn die Antragsteller sie Transgender im Recht berücksichtigt sind. Ihre sexuellen
zurückziehen würden. Menschenrechte sind im Recht nicht berücksichtigt. Wir
fordern keine Operation an Intersexuellen vor der Ein-
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Man setzte den willigungsfähigkeit. Wir fordern umfangreiche Unter-
Transsexuellengutachter Herrn Dr. A. vom medizini- stützung für Transsexuelle, Transgender und Intersexu-
schen Dienst der Krankenkasse auf mich an. Nachdem elle. Wir fordern die Erweiterung der Möglichkeiten des
der vorherige medizinische Gutachter meiner Kranken- Geschlechtseintrags, damit Transsexuelle, Intersexuelle
kasse sich wohl mit der Sachlage überfordert fühlte, war und Transgender berücksichtigt werden.
nun Herr Dr. A. für mich zuständig. Er rief mich unver-
mittelt eines Nachmittags an und begann, mir Fragen zu
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
stellen: Wie lange ich mich schon als Frau fühlen würde,
ob ich belegen könne, wie mein Alltag aussehe. Zu- Sehr geehrte Kolleg_innen, es gibt mehr Geschlechter,
nächst antwortete ich ganz freundlich, ich war ja froh, als unsere Schulweisheit sich träumt. Wir wissen heute,
wenn nun Bewegung in die Sache kam. Aber nach und dass es Menschen gibt, die sich im falschen Körper ge-
nach wurde mir klar, dass da offenbar wieder jemand boren fühlen, die dem anderen biologischen Geschlecht
keine Zeile von dem gelesen oder verstanden hatte be- angehören wollen. Es gibt aber auch Menschen, die sich
ziehungsweise nicht verstehen wollte, was in meinen gar nicht in die Schubladen von Mann und Frau einsor-
Unterlagen stand.“ tieren können und wollen. Es gibt eine Vielfalt von Ge-
schlechtern, Lebensformen und Identitäten in unserem
So berichtete die Intersexuelle Christiane Völling in Land – aber das Gesetz kennt nur zwei zulässige.
ihrem erschreckenden Erfahrungsbericht über ihren Ver-
such, ihr Geschlecht anerkennen zu lassen. Thomas Das bestehende Transsexuellenrecht beruht auf der
Angst vor Uneindeutigkeit. „Was bist du eigentlich“ – ist
(B) Völling stellte im Alter von 49 Jahren fest, dass er ei- (D)
gentlich früher weibliche Geschlechtsmerkmale besaß, eine Frage, die Transsexuelle oder Transgender oft hö-
ihm diese jedoch ohne sein Wissen entfernt wurden. Bei ren. Für viele Menschen ist es offenbar unerträglich,
dem Versuch, diese Geschlechtsmerkmale wiederher- wenn offizielles Geschlecht und das Aussehen oder der
stellen zu lassen und nun ihr Geschlecht auch als weibli- Körper eines Menschen vermeintlich nicht zueinander
ches anerkennen zu lassen, musste sie das Verfahren des passen. Zu viele Geschlechterklischees und -vorurteile
Transsexuellengesetzes durchlaufen, um als weiblich an- hängen an dieser Einschätzung. Viele Menschen reagie-
erkannt und den Vornamen Thomas in Christiane verän- ren unbeholfen, weil sie ihr eigenes Verhalten davon ab-
dern zu dürfen. hängig machen, welches Geschlecht das Gegenüber hat.
Uneindeutigkeit nimmt ihnen das Gefühl von Sicherheit,
So wie Christiane Völling erging und ergeht es noch welches im geübten Umgang mit Klischees begründet
vielen Intersexuellen. Ihnen ist schreckliches Leid wie-
ist.
derfahren. Bei ihrem Versuch, sich rechtlich anerkennen
zu lassen, scheitern sie häufig am Recht und an den Ver- Das bestehende Transsexuellenrecht versucht, diese
fahrensvorschriften. Das Recht kennt keine Intersexuel- Geschlechterordnung zu zementieren. Der Gesetzgeber
len. Aber auch Transsexuelle verzweifeln oftmals an anerkennt zwar, dass Menschen ihr Geschlecht ändern
dem für sie geschaffenen Transsexuellengesetz. Medizi- können, aber nur, wenn hochdotierte Gutachter bestäti-
nische Gutachter verschleppen die Begutachtung, Ge- gen, dass der Leidensdruck der Betroffenen hoch genug
richte ziehen Verfahren in die Länge, Krankenkassen be- ist, und, nach dem Wortlaut des gültigen Gesetztes, nur,
willigen die notwendigen operativen Maßnahmen zur wenn die Geschlechtsumwandlung vollständig vollzo-
Geschlechtsangleichung nicht. Das Transsexuellenge-
gen wird – inklusive umfangreicher geschlechtsanglei-
setz ist drei Jahrzehnte alt. Es wurde mehrfach vom Bun-
chender Operationen und Hormonbehandlungen. So soll
desverfassungsgericht für nicht verfassungskonform er-
sichergestellt werden, dass am Grundsatz der zwei Ge-
klärt.
schlechter festgehalten werden kann. Damit ignoriert das
Im Koalitionsvertrag heißt es: „Das geltende Trans- Gesetz die gesellschaftliche Wirklichkeit – das kann auf
sexuellengesetz ist in seinen wesentlichen Grundzügen Dauer nicht gelingen. Und es widerspricht der Bezie-
inzwischen fast dreißig Jahre alt. Es entspricht nicht hung von Bürger und Staat in einer freiheitlichen Gesell-
mehr in jeder Hinsicht aktuellen medizinisch-wissen- schaft. Der Bürger oder die Bürgerin müssen es sich
schaftlichen Erkenntnissen. Wir werden das Transsexu- nicht gefallen lassen, dass der Staat in ihre Freiheits-
ellengesetz deshalb unter Berücksichtigung der Recht- rechte eingreift, ohne dass dies der Schutz wichtiger
sprechung des Bundesverfassungsgerichts auf eine neue Rechtsgüter anderer erfordert.
13202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Unser Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, be- hat, derart auf eine Opposition einzuschlagen, lässt (C)
endet diese Praxis. Denn die Aufgabe des Gesetzgebers Schwäche erkennen.
kann es nicht sein, die Rechte von Minderheiten zu be-
schneiden, um der Mehrheit irritierende Fragen oder Was die belarussische Gesellschaft braucht, ist Ver-
Momente zu ersparen. Nach Art. 2 des Grundgesetzes söhnung, Versöhnung mit sich selbst und mit den Anfor-
sind alle Menschen frei darin, ihre Persönlichkeit zu ent- derungen der modernen Welt. Die gegenwärtigen Zu-
falten. Art. 1 unseres Grundgesetzes schützt die Würde stände sind nicht kompatibel mit diesen Anforderungen.
des Menschen in seiner Individualität, wie er sich selbst Die Vorwürfe einer Verschwörung von außen sind ab-
begreift. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Ent- surd. Niemand innerhalb der Europäischen Union ver-
scheidung im Januar dieses Jahres zum wiederholten schwört sich gegen Belarus und niemand hat Interesse an
Male deutlich gemacht, dass auch die Geschlechtszuge- chaotischen Zuständen. Vielmehr sind wir interessiert an
hörigkeit inbegriffen ist. Das Gericht hat in diesem Ur- einem geordneten Übergang in die europäische Moderne
teil zudem entschieden, dass der Passus des Gesetzes, und die europäische Normalität.
der die zwangsweise operative Geschlechtsänderung
vorschreibt, nicht notwendig ist, um vor dem Gesetz als Wir wissen, dass die Bundeskanzlerin kürzlich in
dem anderen Geschlecht zugehörig zu gelten. Deauville mit dem russischen Ministerpräsidenten
Medwedjew auch über Belarus gesprochen hat. Dem
Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts haben Vernehmen nach hat es keine Differenzen gegeben.
wir in unserem Gesetzentwurf bereits vorweggenommen Russland ist an der guten Beziehung zu Deutschland und
und berücksichtigt. Wir wollen die Änderung des Vorna- zur Europäischen Union interessiert. Dieses Interesse ist
mens und der Geschlechtszugehörigkeit nur vom erklär- sowohl politisch als auch ökonomisch motiviert. Für uns
ten Willen der Betroffenen abhängig machen. Eine medi- ist das Verhalten Moskaus ein Indikator, wie ernst die
zinische Überprüfung entfällt. Wir gestehen den europäischen Werte von Russland genommen werden.
Menschen mit diesem Entwurf die Selbstbestimmung
über sich und ihr Leben zu. „In dubio pro libertate“ – im Belarus ist in einer schweren strukturellen Krise.
Zweifel für die Freiheit. Wir wollen damit erreichen, dass Diese Krise ist nicht mit einzelnen Krediten zu lösen.
sich der Staat aus der Privatsphäre des Menschen, aus Wir haben schon in der Vergangenheit gesehen, dass
seiner geschlechtlichen Selbstbestimmung, zurückzieht Kredite nur zeitweise helfen. In kurzer Zeit ist das Land
und geben das Primat dem wahren Geschlechtsempfin- wieder am selben schwierigen Punkt angelangt, hat aber
den, über das nur das Individuum Auskunft geben kann. jetzt noch mehr Schulden und muss noch mehr Zinsen
bezahlen. Das Land bedarf struktureller Reformen im
Die Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum wirtschaftlichen und politischen Bereich. Die belarussi-
(B) Ziel gesetzt, eigene Vorschläge für die Reform des sche Gesellschaft bringt alle Voraussetzungen hierfür (D)
Transsexuellenrechts zu machen. Zur Halbzeit ihrer Re- mit, nämlich gut ausgebildete, motivierte und diszipli-
gierungszeit liegt kein Entwurf vor. Wir wollen mit un- nierte Bürger und eine gut vorgebildete junge Genera-
serem Gesetzentwurf die notwendige Debatte in Gang tion. Die Nachbarn von Belarus haben vorgemacht, wie
bringen. Die Fraktion der Linken hat diese Einladung es geht. Insbesondere Polen ist ein ausgezeichnetes Bei-
bereits angenommen und heute einen Antrag vorgelegt, spiel der Transformation eines Landes von einem stali-
der in vielen Punkten in dieselbe Richtung tendiert. Ich nistischen System hin zu einer marktwirtschaftlichen
hoffe auf eine konstruktive Debatte in den zuständigen Demokratie. Die baltischen Staaten sind auf dem glei-
Ausschüssen – im Interesse der betroffenen Menschen. chen Weg und die Ukraine ist im Begriff, sich auf diesen
Weg zu machen. Wir wünschen uns, dass wir auch Bela-
rus unterstützen können, diesen Weg zu gehen. Die Si-
Anlage 10 tuation im Lande verschärft sich rapide und zeigt sich in
einer galoppierenden Geldentwertung und ersten Anzei-
Zu Protokoll gegebene Reden chen einer Versorgungsknappheit.
zur Beratung des Antrags: Belarus nach den Wir wollen Belarus helfen, aus dieser Abwärtsspirale
Wahlen – Repressionen beenden (Zusatztages- herauszukommen. Dazu müssen wir das Gespräch su-
ordnungspunkt 16) chen. Wenn es hilft, auch auf diskreten Wegen. Es ist al-
lerdings nicht vorstellbar, dass substanzielle Gespräche
Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Wir sind einig und Verhandlungen geführt werden, solange die Straf-
in der Verurteilung der Vorgänge im Zusammenhang mit urteile gegen die Oppositionellen vollzogen werden. Es
der Wahl im Dezember 2010. Zu den Wahlen selbst hat ist also an der belarussischen Regierung, die Vorausset-
die OSZE das Erforderliche gesagt. Das brutale Vorge- zungen für eine Normalisierung zu schaffen. Im Herbst
hen der Polizei am Wahlabend gegen Demonstranten ist vergangenen Jahres waren wir schon viel weiter. Die Eu-
ebenso unangemessen wie abstoßend. Das gilt erst recht ropäische Union hatte Belarus einen konkreten Fahrplan
für die Verurteilung oppositioneller Politiker zu hohen vorgelegt. Die Außenminister Polens und Deutschlands
Zuchthausstrafen. Dieses Vorgehen der belarussischen hatten im November in Minsk konkrete Vorschläge für
Regierung hat etwas der europäischen Moderne Ins-Ge- eine Unterstützung des Landes vorgelegt. Sofern Belarus
sicht-Schlagendes. Wir interpretieren dieses nicht als die Voraussetzungen hierfür schafft, sind wir und die Eu-
Zeichen der Stärke. Die belarussische Opposition war ropäische Union bereit, diesen Weg wieder einzuschla-
weder stark noch besonders gut organisiert. Wer es nötig gen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13203

(A) Uta Zapf (SPD): Es ist erfreulich, dass es uns gelun- Hatte Präsident Lukaschenko noch vor den Wahlen (C)
gen ist, einen überfraktionellen Antrag zwischen CDU/ die Löhne erhöht, so musste jetzt die Währung abgewer-
CSU, FDP und SPD, Bündnis 90/Die Grünen einzubrin- tet werden. Die Verschlechterung des Lebensstandards
gen. Es ist ja noch nicht lange her, da ist es nicht gelun- nimmt dramatische Formen an. Die Preise steigen, die
gen, fast wortgleiche Anträge unter einen Hut zu brin- Lebensmittel werden knapp. Die Inflation wird auf 33
gen. Warum nach so kurzer Zeit eine neue Resolution? bis 39 Prozent für 2011 geschätzt. Es gibt Kleindemon-
strationen vor Tankstellen und Autokorsos gegen stei-
Zwei Gründe: Auf der bevorstehenden Jahrestagung gende Benzinpreise, Salz und Zucker sind Mangelware,
der Parlamentarischen Versammlung der OSZE wird es in den Supermärkten gähnen leere Regale.
eine Belarus-Debatte geben. Zu dieser Debatte ruft die
deutsche Delegation mit einer Resolution auf, die von Und wie reagiert der Despot? Er droht dem Premier-
der Delegation verfasst wurde. Ein Beschluss des Bun- minister und dem Notenbankchef mit Entlassung, wenn
destages stärkt der deutschen Delegation den Rücken die Preise weiter steigen. Er verfolgt Medien, die über
und verleiht unserem Anliegen Gewicht. Das Europäi- die wirtschaftliche Situation berichten, weil sie Panik-
sche Parlament und die Parlamentarische Versammlung käufe provozierten. Er fordert mehr Disziplin von Arbei-
des Europarates haben sich auch mehrfach zu Wort ge- tern und Angestellten, sie sollen arbeiten und nicht wäh-
meldet. Dies zeigt, wie sehr die europäischen Staaten an rend der Arbeitszeit Hamsterkäufe machen. Beamten
Belarus und einer demokratischen Entwicklung dieses droht er Prügel an. Dies klingt nach Kabarett, ist aber
Landes interessiert sind. bitterer Ernst. Belarus braucht dringend neue Kredite,
die die Eurasian Economic Community geben will – ge-
Jetzt zu diesem Zeitpunkt stehen die Menschenrechte gen Verkauf des Tafelsilbers Staatsbesitz. Auch der IWF
im Vordergrund. Wir verfolgen jeden Tag mit Entsetzen soll Kredite geben.
neue Nachrichten von Schandurteilen, Repression, Ver-
folgung und Foltervorwürfen. Die so wichtige Mission Die Situation in Belarus erscheint ausweglos. Sowohl
der OSZE ist rausgeworfen worden aus Belarus, das die politische wie die wirtschaftliche Lage bröckeln.
Büro ist geschlossen. Täglich wird die Repression auf Ein Grund dafür ist die Abwendung von Europa, die
Menschenrechtsgruppen und freie Presse erhöht. Angst Lukaschenko mit seinen Repressionen zementiert und
und Schrecken sollen um sich greifen. mit denen er sich in eine Sackgasse manövriert hat. Ich
bin der Ansicht, dass das demokratische Europa der rich-
Viele der Angeklagten nach den niedergeknüppelten tige Rahmen für Belarus ist. Dafür wäre aber eine nach-
Demonstrationen vom 19. Dezember 2010 sind zu hohen haltige Wende in der Politik des Landes notwendig. Bis-
Haftstrafen verurteilt worden, die Präsidentschaftskandi- her hat Lukaschenko jeden Dialog nach den Wahlen
(B) daten Sannikow und Statkevich zum Beispiel zu fünf (D)
zurückgewiesen und verhindert. Um der Menschen wil-
und sechs Jahren schwerer Haft, ihre Unterstützer im len sind wir zum Dialog bereit. Wir fordern daher die so-
Wahlkampf ebenso. Was haben sie getan? Sie haben ih- fortige Freilassung aller politischen Gefangenen.
ren Unmut über gefälschte Wahlen in einer spontanen
friedlichen Demonstration Ausdruck verliehen. In den
Augen des autoritären Regimes ist dies „Aufruf zum Dr. Peter Röhlinger (FDP): Ich freue mich, dass wir
Aufruhr, zum Umsturz des Regimes“. hier einen interfraktionellen Antrag einbringen, um die
unhaltbaren politischen Zustände in Belarus zu themati-
Die angeblichen Angriffe auf das Parlamentsgebäude sieren; er zeigt unsere Geschlossenheit gegenüber
waren vermutlich Provokationen, wie man auch auf Vi- Alexander Lukaschenko; er sendet ein deutliches Signal
deoaufnahmen feststellen konnte. Eine neutrale Untersu- der Entschlossenheit an die Adresse Minsk.
chung lässt Präsident Lukaschenko nicht zu. Er verhöhnt
die OSZE, deren Grundsätze er beim Gipfel in Astana Wir erinnern uns: Vor knapp einem halben Jahr – am
Anfang Dezember 2010 feierlich bekräftigt und unter- 19. Dezember 2010 – war die Präsidentschaftswahl in
schrieben hat. Er erklärt ihre Arbeit für erfolgreich been- Belarus. Statt einer fairen und freien Wahl gab es eine
det; dies nach gefälschten Wahlen, während fast die durch Manipulation entschiedene Wahl und einen von
komplette Opposition im Gefängnis sitzt, während Men- Gewalt begleiteten Wahlnachgang. Die Protestdemon-
schenrechtsgruppen mit Razzien und Verhaftungen über- strationen führten zu Hunderten von Festnahmen; in von
zogen werden und die freie Presse zunehmend unter Willkür statt Gerechtigkeit geprägten, geradezu grotes-
Druck gesetzt wird. ken Schauprozessen wurden und werden nach wie vor
zum Teil jahrelange Haftstrafen verhängt.
Rechtsstaatlichkeit ist Fehlanzeige. Hatte Lukaschenko
früher zynisch darauf hingewiesen, die Justiz hielte sich Durch Gespräche mit Menschen aus Belarus in Berlin
ja an – völlig inakzeptable – Gesetze, hält heute kein Ge- konnte ich mir in den vergangenen Wochen und Mona-
richt, keine Polizei die vorgeschriebenen Verfahren ein. ten ein Bild von der Situation aus der Sicht der Betroffe-
Willkürherrschaft breitet sich aus. Es gibt zunehmend nen machen. Die Beschreibungen der gewaltsamen
Berichte von Folterpraktiken in den Gefängnissen. Wir Übergriffe vonseiten der Sicherheitskräfte und der bruta-
werden nicht aufhören, die Freilassung der politischen len Methoden des KGB, der in Belarus bezeichnender-
Gefangenen zu fordern. Die politische Situation ist am weise übrigens immer noch so heißt, in den Gefängnis-
Boden. Aber auch die ökonomische Lage ist im Sink- sen wurden unter anderem von Alexander Milinkiewicz
flug. bestätigt.
13204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) Das Regime macht auch nicht davor halt, aufgrund macht, allerdings unter der Bedingung privater Investi- (C)
absurder Anschuldigungen brutal gegen prominente Dis- tionen in Belarus. Das heißt, Lukaschenko müsste sein
sidenten vorzugehen. Dies betrifft auch einige der Präsi- Einverständnis geben, dass die letzten Filetstücke der
dentschaftskandidaten der Opposition. Besonderes scho- belarussischen Wirtschaft – wie beispielsweise Trakto-
ckierend ist der Fall von Andrej Sannikow, dem renfabriken und Ölpipelines – von russischen Investoren
populärsten Präsidentschaftsbewerber der Opposition. gekauft werden könnten. Dies ist auch nicht im Interesse
Er wurde noch am Abend der Demonstration gegen die Lukaschenkos. Denn auch wenn Lukaschenko dem Zer-
Wahlfälschung krankenhausreif geschlagen und festge- fall der UdSSR nachtrauert und insgeheim von einem
nommen. Ihm wie auch vielen anderen wurde angemes- Staatenbund von Belarus und Russland unter seiner Re-
sene ärztliche Versorgung verweigert. Das erinnert an gentschaft träumt, ist ihm mittlerweile klargeworden,
stalinistische Methoden. Inzwischen wurde Sannikow zu dass der Kreml seine eigenen Ziele verfolgt. Daher will
fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach Redaktions- sich Minsk nicht von Moskau vereinnahmen lassen.
schluss unseres Antrags sind übrigens schon wieder zwei Bleibt also die Alternative des Geldes aus dem Wes-
Journalisten verhaftet worden, und es ist derzeit kein ten. Belarus hat einen Kreditantrag an den Internationa-
Ende der Repression absehbar. len Währungsfonds in Höhe von über 8 Milliarden Euro
Wir verurteilen entschieden das absolut unverhältnis- gestellt. Dies ist nun der Moment, in dem Alexander
mäßige Vorgehen der Regierung gegen die Demonstran- Lukaschenko Zugeständnisse machen muss, wenn er
ten. Am Werk war und ist eine klassische Unterdrü- sich nicht Russland ausliefern will.
ckungsmaschinerie aus längst vergangener Zeit. Daher muss Deutschland jetzt gemeinsam mit seinen
Während sich in Nordafrika eine Bewegung hin zur De- Partnern beim IWF darauf hinwirken, dass dem Regime
mokratie und politischen Teilhabe der Bevölkerung in Minsk kein frisches Geld zur Verfügung gestellt wird
Bahn bricht, haben wir hier in Europa noch einen ana- ohne knallharte Auflagen. Ich betone also noch einmal:
chronistisch agierenden Despoten, der es immer wieder keine neuen IWF-Kredite, solange Lukaschenko keine
versteht, mit zum Teil ungeheuerlich brutalen Methoden eindeutig nachprüfbaren Reformen hinsichtlich der
seinen Machterhalt zu sichern. Wahrung der Menschenrechte zulässt. Er hat die Wahl:
Will er das Geld des Westens, muss er die Zügel locker
Es gibt zwei wichtige Verträge, die Belarus unter-
lassen; nimmt er den Kredit von Russland, wird er die
schrieben hat, in denen es sich zur Einhaltung der grund-
„Kronjuwelen“ der belarussischen Wirtschaft verkaufen
legenden Bürger- und Menschenrechte verpflichtet hat: müssen.
Zum einen ist Belarus Mitglied in der OSZE. Zum ande-
ren hat Minsk den UN-Zivilpakt unterschrieben. Aber Leider hat sich Lukaschenko in den vergangenen Jah-
(B) Lukaschenko hat diese Verträge trotzdem x-fach gebro- ren stets als Meister des Taktierens und des politischen (D)
chen. In Belarus gibt es keine Wahrung der Menschen- Pokerns entpuppt. Lange ist es ihm gelungen, durch
rechte und keine Einhaltung der Presse-, Meinungs- oder wechselseitige Annäherungsavancen eine Art Schaukel-
Versammlungsfreiheit. Kritiker werden eingeschüchtert, stuhlpolitik zwischen der EU und Moskau zu verfolgen,
Verhaftungen ohne vorherige Anklageerhebung sind an nur um im letzten Moment eine erneute Kehrtwende zu
der Tagesordnung. vollziehen.
Für uns stellt sich die Frage: Welche Hebel können Diesmal steht das Regime jedoch wirtschaftlich derart
wir jetzt ansetzen, um der Forderung nach wirklich mit dem Rücken zur Wand, dass er zu ernsthaften Ent-
nachprüfbaren Verbesserungen hinsichtlich der Men- scheidungen gezwungen scheint. Der Moment der Wahr-
schenrechte in Belarus Nachdruck zu verleihen? Das heit scheint gekommen. Solange nicht klar ist, für wel-
geht nur, wie so oft, übers Geld. Lukaschenko hat sich chen Kurs der Machthaber in Minsk sich entscheidet,
im Zuge der Wahl die Loyalität von Sicherheitskräften müssen Deutschland und die EU ihre Haltung weiterhin
und Beamten durch großzügige Gehaltserhöhungen er- deutlich machen.
kauft. Diese finanziellen Wohltaten sind ein wesentlicher
Der Antrag, den wir heute debattieren, ist dazu ein ge-
Grund für die Inflation in Belarus. Neben einer unzu-
eignetes Mittel der politischen Kommunikation. Er sen-
mutbaren Menschenrechtssituation herrscht in Belarus det ein deutliches Signal der Geschlossenheit der deut-
auch eine desolate Wirtschaftslage mit steigenden Ener- schen Politik an Lukaschenko. Es bleibt zu hoffen, dass
giepreisen und ebenso steigenden Staatsschulden. Die er die Zeichen der Zeit endlich versteht und sich im Inte-
Währung wurde kürzlich massiv abgewertet: Der weiß- resse der belarussischen Bürger für die längst überfälli-
russische Rubel verlor im Vergleich zum amerikanischen gen politischen Reformen entscheidet.
Dollar mehr als ein Drittel seines Werts. Lukaschenko
geht also das Geld aus, und er braucht dringend Geld
und Kredite. Endlich hat die internationale Staatenge- Stefan Liebich (DIE LINKE): Seit unserer letzten
meinschaft einen Hebel. Erst wenn Minsk den Forderun- Debatte über die Situation in Belarus nach den Wahlen
gen nach spürbaren Reformen eindeutig nachgekommen vom Dezember 2010 haben sich in den entscheidenden
ist, darf der Geldhahn aufgedreht werden. Kritikpunkten gegenüber der belarussischen Politik
keine nennenswert positiven Entwicklungen ergeben.
Es stellt sich für den Präsidenten nun die Frage, wel- Dass die Anklagepunkte gegenüber den aus unserer
chen Preis er in Form von Zugeständnissen für die Kre- Sicht politisch motiviert verurteilten demokratischen
dite zu zahlen bereit ist. Russland hat am Wochenende Kräften teilweise herabgestuft wurden oder dass die Be-
ein Kreditangebot von über 3,15 Milliarden Dollar ge- hörden in Visafragen teilweise mit der OSZE kooperier-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13205

(A) ten, kann die nach wie vor kritikwürdige Gesamtsitua- sche Regierung zu nehmen und zugleich die Bevölke- (C)
tion nicht relativieren. rung von Schaden freizuhalten.
Im Kern bleibt es dabei, dass friedlich demonstrie- Lassen Sie mich zum Schluss eine generell kritische
rende demokratische Kräfte politisch motivierter Straf- Bemerkung machen. Ich kann Ihnen die Verfahrenskritik
verfolgung ausgesetzt sind, dass ehemalige Präsident- nicht ersparen. Seit Monaten besteht hier im Hause
schaftskandidaten zu Gefängnisstrafen verurteilt große Einigkeit in der Kritik am Agieren der
wurden, dass Angst vor dem Verlust des Arbeits- oder Lukaschenko-Administration, in der Unterstützung der
Studienplatzes bei Anhängern oppositioneller Kräfte be- politisch Verfolgten und in dem Einfordern rechtsstaatli-
steht. Die Linke fordert die Freilassung der nach den De- cher und Menschenrechtsstandards. Es bleibt absurd, die
zemberwahlen politisch motiviert Verhafteten und Ver- Linksfraktion dennoch aus gemeinsamen Anträgen he-
urteilten. rauszuhalten. Das ist kein Vorbild für demokratisches
parlamentarisches Agieren, das ist kein Dienst an den
Ich bedaure, dass sich auch in einigen weiteren Fra- Betroffenen, das ist kein Beitrag für ein angemessenes
gen keine konstruktive Lösung ergeben hat. Das OSZE- Auftreten des Deutschen Bundestages in internationalen
Büro in Minsk hätte, wie die Entwicklungen der letzten Fragen. Die Ausgrenzung der Linken bleibt kleinkarier-
Monate und die noch relevanten Fragen seines Arbeits- tes und peinliches Agieren der Konservativen und ein
gegenstandes zeigen, durchaus weiter sinnvolle Arbeit Duckmäusertum bei Sozialdemokraten und Grünen, die
im Interesse des Landes und im Interesse guter interna- dieses unwürdige Spiel wieder und wieder mitmachen.
tionaler Zusammenarbeit leisten können. Dass die wei-
tere Arbeit durch die belarussische Seite nicht ermög- Dessen ungeachtet geht es uns um die Sache, um die
licht wurde, ist bedauerlich und wirft ein fragwürdiges Freiheit von Demokratinnen und Demokraten in Bela-
Licht auf die dahinter stehenden Intentionen. rus. Deshalb stimmen wir dem vorliegenden Antrag zu.
Einige schwierige Punkte im Dialog sind noch hinzu-
gekommen. Die Vorwürfe über Folter und erniedrigende Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
Behandlung in KGB-Gefängnissen müssen untersucht GRÜNEN): Die Situation in Belarus ist weiterhin un-
werden. Und eine ungehinderte Arbeit des nach dem fassbar dramatisch, und deswegen ist es wichtig, dass
Moskauer Mechanismus ausgewählten OSZE-Experten wir uns im Deutschen Bundestag erneut mit dem Thema
ist unbedingt erforderlich. befassen.

Ich betone noch einmal, dass Deutschland aus unserer Am vergangenen Freitag traf ich Dr. Irina
Sicht ein Interesse an guter Kooperation mit Belarus hat. Bogdanowa, für deren Bruder Andrej Sannikow ich die
(B) Dieses große Land gehört zu Europa, ist Nachbar der Patenschaft übernommen habe. Frau Bogdanowa hatte (D)
Europäischen Union, Wirtschaftspartner und könnte eine sich bis zum 19. Dezember 2010 aus der Politik heraus-
Brücke hin zu Russland bilden. Die Menschen in Bela- gehalten. Sie war auch von ihrem Bruder Andrej zu ih-
rus haben ein Recht auf ihre eigenen Entscheidungen rem eigenen Schutz herausgehalten worden. Durch die
über die Entwicklungen in ihrem Land. Die müssen sie Ereignisse des 19. Dezember wurde sie jedoch plötzlich
aber auch frei treffen können. In diesem Zusammenhang hineinkatapultiert in die Solidaritätsarbeit. Seitdem en-
ist leider klar, dass Belarus derzeit die Standards der gagiert sie sich intensiv für die zahlreichen politischen
OSZE, die es wiederholt anerkannt hat, selbst im Lande Häftlinge, unter denen sich auch ihr Bruder befindet.
nicht verwirklicht. Nach etwas hoffnungsvollen Ent-
wicklungen im Vorfeld der Wahlen sind hier leider pro- Sie beklagt sich, dass bei zivilgesellschaftlichen Grup-
blematische Rückschritte zu verzeichnen. Die Linksfrak- pen die versprochen EU-Finanzhilfen nicht greifen. Das
tion ist solidarisch mit jenen, die sich gegen Repression gilt insbesondere auch für die Gruppen, die nicht in Bela-
richten, die um politische Freiheiten ringen und sich da- rus, sondern im Ausland politische Arbeit machen. Hier
bei auf anerkannte internationale Standards berufen kön- müssen wir und hier muss die EU das Angebot an Hilfs-
nen. geldern deutlich verbessern. Eine schnellere, unbürokra-
tische und effektivere Vergabe von Mitteln scheint drin-
Zu Ihrem Antrag: Er ist stark in der Kritik und formu- gend notwendig.
liert ein wenig Interesse am Dialog. Letzteres ist uns
aber auch sehr wichtig. Durch eine zugeschlagene Tür Die Schicksale der einzelnen Gefangenen, die sie mir
verhandelt es sich schlecht. Ein kleines Problem besteht geschildert hat, sind kaum zu fassen. Zum Teil sitzen
in der Formulierung am Ende des Feststellungsteils des blutjunge Menschen in Tbc- und HIV-verseuchten
vorliegenden Antrages, in dem auch auf die EU verwie- Zuchthäusern und Lagern des Lukaschenko-Regimes
sen wird. Wir sollten uns doch darüber einig sein, dass ein. Dort werden sie erniedrigt und gequält. Einer von
wir von anderen Staaten zwar viel erwarten können, aber ihnen ist der erst 21 Jahre alte Mikita Lichawid. Er
nur das konsequent einfordern sollten, was sie auch wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, nur weil er
rechtlich anerkannt haben. Und das betrifft eben die sein Recht auf gewaltlose Demonstration wahrgenom-
OSZE-Standards und nicht die der EU. men hat. Gelandet ist er im Lager in Novopolotsk. Die
Stadt ist Standort einer Erdölraffinerie und die Gefäng-
Schließlich bleiben wir bei unserer skeptischen Hal- nisinsassen leiden – wie die Bewohner – unter den gifti-
tung zu Sanktionen, die im letzten Bundestagsbeschluss gen Dämpfen der Fabrik. Der junge Nikita Lichawid
als Option enthalten waren. Wir sehen darin keinen sinn- weigert sich bis heute, sich schuldig im Sinne der An-
vollen Beitrag, gleichermaßen Einfluss auf die belarussi- klage zu bekennen. Mutig beharrt er darauf, nur von sei-
13206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011

(A) nen Grundrechten Demonstrations- und Versammlungs- Es könne keine Normalisierung der Beziehungen (C)
freiheit Gebrauch gemacht zu haben. Wegen dieser zwischen Deutschland und Weißrussland geben, so-
Haltung wird er von der Anstaltsleitung und den Wärtern lange Oppositionelle im Gefängnis säßen oder unter
schikaniert. Er landete bereits zweimal in Einzelhaft, Hausarrest gestellt würden und solange in Belarus
einmal für zehn, einmal für fünfzehn Tage. Auch seinen eklatante Menschenrechtsverletzungen an der Ta-
21. Geburtstag musste er in einer Einzelzelle verbringen. gesordnung seien.
Seine Mutter durfte ihn in den vergangenen drei Mona-
ten ein einziges Mal besuchen und war erschüttert über Dies muss die Prämisse unserer Politik sein, und wir
seinen schlechten körperlichen Zustand. dürfen hier keinen Millimeter nachgeben. Das sind wir
den politischen Gefangenen und ihren Angehörigen
Leider ist Nikita Lichawid kein Einzelfall. Wir wissen
schuldig.
von Andrej Sannikow, Ales Michalewitsch und anderen
Häftlingen, die misshandelt und gefoltert wurden. Ich möchte an dieser Stelle nicht die aktuell immer
Dmitry Bandarenka, einem engen Mitarbeiter von dramatischer werdende wirtschaftliche Lage Weißruss-
Andrej Sannikow, wird trotz mehrfacher Bandscheiben- lands außer Acht lassen. Die brenzlige finanzielle Ent-
vorfälle die medizinische Versorgung verweigert. Ihm wicklung, die rasende Inflation und der drohende Staats-
droht, für immer gelähmt zu sein. Es ist zu befürchten, bankrott bringen nun Alexander Lukaschenko dazu, den
dass diese Schicksale nur die Spitze des Eisbergs zeigen, IWF um Kredite zu bitten. Auch wenn der IWF nicht ex-
immerhin schmoren seit dem 19. Dezember immer noch
plizit politisch, sondern ökonomisch ausgerichtet ist, ist
mehr als 30 Oppositionelle in Haft, unter ihnen fünf Prä-
es kaum vorstellbar, dass wir einen Diktator, der bru-
sidentschaftskandidaten, die zu Haftstrafen zwischen
talste Menschenrechtsverletzungen begeht, mit Steuer-
zwei und sechs Jahren verurteilt wurden.
geldern stützen. Aber auch unter ökonomischen
Deswegen muss weiterhin gelten: Die Freilassung der Gesichtspunkten erscheint eine Mittelvergabe an
politischen Häftlinge muss die Vorbedingung für jegli- Lukaschenko vollkommen absurd. Schließlich hatte die-
che Überlegung zur Wiederaufnahme eines Dialogs mit ser im Vorfeld der Wahlen die Mindestlöhne um 50 Pro-
dem autoritären Regime in Minsk sein. Der Westen muss zent heraufgesetzt und die Gehälter der Staatsdiener
hier standhaft bleiben. Das fordern auch die Inhaftierten drastisch erhöht. Das bedeutet nicht nur, dass jegliches
selbst; denn sie wollen nicht von Lukaschenko als Gei- Geld, das Lukaschenko in die Hand gegeben wird, allein
seln beziehungsweise als Verhandlungsmasse miss- der Stabilisierung seines diktatorischen Regimes dient,
braucht werden. sondern auch, dass ein derartiges Verteilen von Wahlge-
Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Forderung in schenken das genaue Gegenteil einer soliden Haushalts-
(B) unserem gemeinsamen Antrag auch in dieser Klarheit politik darstellt, die ein wichtiges Kriterium für die (D)
formuliert hätten. Schließlich entspricht diese Haltung Mittelvergabe des IWF bildet. Deutschland sollte sich
auch der der Bundesregierung. So forderte Regierungs- innerhalb des IWF einer Vergabe von Mitteln so lang
sprecher Steffen Seibert am 14. Mai 2011 im Namen der entgegenstellen, bis neben der Erfüllung der ökonomi-
Bundesregierung die sofortige Freilassung aller Gefan- schen Erfordernisse politische Freiheiten wieder einge-
genen und stellte anschließend klar – ich zitiere –: führt werden und die Häftlinge freigekommen sind.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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